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German Pages 224 Year 2015
Toni Tholen Männlichkeiten in der Literatur
Lettre
Toni Tholen (Prof. Dr. phil.) lehrt Literaturwissenschaft und -didaktik an der Universität Hildesheim. Er forscht insbesondere zu Männlichkeiten, zur Literatur sowie zur Literatur- und Kulturheorie vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
Toni Tholen
Männlichkeiten in der Literatur Konzepte und Praktiken zwischen Wandel und Beharrung
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Inhalt
Vorwort | 7 Männlichkeiten in der Literatur Überlegungen zu einer männlichkeitssensiblen Literaturwissenschaft | 11
Literarische Männlichkeiten und Emotionen Perspektiven für die Forschung | 27
‚Krise der Männlichkeit‘ Zur Konzeptualisierung eines häufig verwendeten Topos | 45
Männerbilder im Wandel? Beobachtungen zur Literatur des beginnenden 21. Jahrhunderts | 51
Familienmännlichkeit und künstlerisch-literarische Arbeit | 79 Vaterschaft und Autorschaft Zur Bestimmung eines prekären Verhältnisses in der Gegenwartsliteratur am Beispiel von Durs Grünbeins Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen | 101
Vom Lieben, Sorgen und Schreiben Zur Konfiguration von Männlichkeit in Karl Ove Knausgårds autobiographischem Roman Lieben | 123
Homosozialität – Agonaler Code – Aggressive Selbstexklusion Konstruktionen von Männlichkeit in der Literatur um 1968 | 143
Zur Konstruktion von Männlichkeit in W.G. Sebalds Roman Austerlitz | 155 Männerbilder in der Literatur von Frauen und die Perspektive männlicher Leser | 165
Liebeserklärung eines Ehemannes André Gorz’ Brief an D. | 177
Körper-Sprache und die Suche nach einer anderen Männlichkeit Zur ästhetischen Praxis Roland Barthes‘ | 195
Nachweise | 217
Vorwort
Die Männlichkeitsforschung steckt auch hierzulande nicht mehr in den Kinderschuhen. Sie hat sich innerhalb verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen mittlerweile zu einem sichtbaren Feld innerhalb der Gender Studies entwickelt.1 Dabei resultieren die leitenden Fragestellungen aus einem anhaltenden transdisziplinären Interesse am männlichen Geschlecht, an seinen gesellschaftlichen Rollenbildern genauso wie an seinen kulturellen Repräsentationsformen und nicht zuletzt an konkreten Lebenspraktiken von Männern. Dieses Interesse kulminiert schon seit Jahren in der Rede von der „Krise des Mannes“ bzw. von der „Krise der Männlichkeit“. Damit ist zweierlei angesprochen: Zum einen das Brüchigwerden traditioneller Vorstellungen vom „starken“, herrschenden Geschlecht, das sich in den vielen Formen ‚hegemonialer Männlichkeit‘ (Connell) verkörpert, zum anderen die möglichen Konsequenzen und Implikationen der Krise. Führt sie zu einem Wandel der Konzepte und Praktiken von – heteronormativer – Männlichkeit oder resultiert aus ihr nichts anderes als die Rückkehr zu einer Wiederherstellung überkommener Formen männlicher Dominanz? Diese Fragen nach Wandel und Beharrung ‚männlicher Existenzweisen‘2 stellen sich gegenwärtig in forcierter Weise
1 | Vgl. dazu Horlacher/Schötz/Schwanebeck (2015). 2 | Ich verwende den Begriff der männlichen Existenzweisen im Anschluss an Andrea Maihofer. In ihrem Buch Geschlecht als Existenzweise definiert sie: „‚Geschlecht‘ ist [...] eine komplexe Verbindung verschiedener historisch entstandener Denk- und Gefühlsweisen, Körperpraxen und –formen sowie gesellschaftlicher Verhältnisse und Institutionen, eben eine historisch bestimmte Art und Weise zu existieren.“ (Maihofer 1995: 85) Maihofer wendet ihre zentrale methodische Kategorie – unter Rückgriff auf Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung und
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und verlangen nach einer Beantwortung aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und Blickwinkeln. Die im vorliegenden Band versammelten Aufsätze bearbeiten diese Fragen aus literaturwissenschaftlicher Sicht. Sie betreiben die literaturwissenschaftliche Analyse von Männlichkeit sowohl systematisch als auch historisch. In systematischer Perspektive werden grundlegende Analysedimensionen des Zugriffs auf Konfigurationen von Männlichkeit in literarischen Texten erläutert. In historischer Perspektive behandeln sie Texte von den späten 1960er Jahren bis zur Gegenwart. Ein größerer Komplex beschäftigt sich mit der Frage nach dem Wandlungs- und Beharrungspotenzial von Männlichkeit im Zusammenhang von Autorschaft, Poetik und familialer Existenz. Der vor allem auch in der Soziologie beobachtete Einstellungswechsel im Verhältnis von männlicher Berufs- und familiärer Sorgearbeit ist da dabei ein zentraler Befund3, der in der Literatur der letzten Jahrzehnte einerseits aufgenommen und literarisch produktiv verhandelt wird, andererseits im ästhetischen Medium aber auch zur kreativen Neuvermessung des geschlechtlich markierten Feldes von Arbeit, Liebes- und Sorgebeziehungen führt. Das unverkennbare utopische Potenzial im Hinblick auf eine andere männliche Existenzweise, dessen Herausarbeitung die einzelnen Studien dieses Buches sich zu einer wesentlichen Aufgabe machen, situiert sich aber in einer komplexen Textur von Männlichkeitsnarrationen4, in denen Ambivalenzen, Gewalt, Widersprüche, Rückfälle und Brüche aller Art an der Tagesordnung sind und oft auch offen ausgesprochen werden. Andererseits lassen sich in der Literatur vermehrt auch Figurationen von Männlichkeit auffinden, die nicht hegemoniale, sondern viel eher marginalisierte Männlichkeit ästhetisch modellieren. Hier geht es dann nicht vornehmlich um die literarische Verhandlung von Krisen der Männlichkeit, sondern um die narrative Darstellung eines fortdauernden Zustandes der Exklusion männlicher Individuen bzw. eines dauerhaften, irreversiblen Lebens am Rande. Auch für solche männliche Existenzauf Foucaults späte Schriften zur Selbstsorge – auch auf das moderne männliche Subjekt an (vgl. Maihofer 1995: 109ff.). 3 | Vgl. dazu insbesondere die Untersuchung von König (2012). Ein instruktiver Überblick zum Thema findet sich auch in Scholz (2012: 69-134). 4 | Auf die Narrativität von literarischen Männlichkeiten hat mit Nachdruck Walter Erhart aufmerksam gemacht. Vgl. dazu Erhart (2001).
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weisen schärft die Literatur auf dem Hintergrund der historischen, politischen und sozialen Fehlentwicklungen und Verwerfungen der letzten Jahrzehnte den Blick. Das Buch ist eine Zusammenstellung von Aufsätzen, die in der Mehrzahl in den letzten Jahren an sehr unterschiedlichen Orten schon einmal publiziert worden sind. Die Aufsätze sind z.T. überarbeitet und an die Erfordernisse einer Buchpublikation angepasst worden.5 Danken möchte ich neben den vielen Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen, die durch ihre Arbeiten zur Männlichkeit meinen Horizont stetig erweitert haben, dem transcript Verlag für seine Bereitschaft, die zuvor sehr verstreut publizierten Aufsätze in einem Band und d.h. an einem Ort zu versammeln. Danken möchte ich schließlich auch Markus Böhm, der die Texte für den Druck sehr engagiert eingerichtet hat.
L iter atur Erhart, Walter (2001): Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit, München. Horlacher, Stefan/Schötz, Bettina/Schwanebeck, Wieland (Hg.) (2015): Männlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart, Weimar [im Druck]. König, Tomke (2012): Familie heißt Arbeit teilen. Transformationen der symbolischen Geschlechterordnung, Konstanz. Maihofer, Andrea (1995): Geschlecht als Existenzweise. Macht, Moral, Recht und Geschlechterdifferenz, Frankfurt a.M. Scholz, Sylka (2012): Männlichkeitssoziologie. Studien aus den sozialen Feldern Arbeit, Politik und Militär in Deutschland, Münster. 5 | Wo sich zu große Wiederholungen und folglich Redundanzen ergeben hätten, sind sie entsprechend gekürzt worden. Da, wo Kürzungen der Logik der Gedankenführung geschadet hätten, habe ich Wiederholungen, die für Leserinnen und Leser entstehen, wenn sie das Buch ganz zur Kenntnis nehmen, in Kauf genommen. Die gelegentlich wiederholte Behandlung von bestimmten Autorinnen und Autoren und ihren Büchern wird aber auch dadurch gerechtfertigt, dass unterschiedliche Fragestellungen auch zu unterschiedlichen Erkenntnissen bzw. zu Erweiterungen der Betrachtungsweise geführt haben.
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Männlichkeiten in der Literatur Überlegungen zu einer männlichkeitssensiblen Literaturwissenschaft
1. D ie V ielgestaltigkeit von M ännlichkeit In der Männlichkeitsforschung herrscht weitgehend Einigkeit darüber, Männlichkeit nicht als wesenhaft und unveränderlich zu denken, sondern als soziale Konstruktion (Connell 1999, Bourdieu 2005).1 Sie kann mithin genauer bestimmt werden als ein diskursives Konstrukt bzw. als eine Konfiguration sozialer, historisch variabler kultureller Praktiken und Bilder. Dies lässt literaturwissenschaftlich zu, ganze Epochen oder zumindest größere Zeitabschnitte auf eine jeweils dominierende Form von Männlichkeit hin zu untersuchen, so wie Klaus Theweleit dies getan hat, als er die Formierung des soldatisch-faschistischen Mannes in der Weimarer Republik in seinen Männerphantasien (1977/1987) nachgezeichnet hat. In einer jüngeren Arbeit von George Mosse zum Bild des Mannes (1997) spannt dieser einen noch weiteren Zeitraum auf, indem er die These aufstellt, dass sich bereits Ende des 18. Jahrhunderts das moderne Männlichkeitsideal herausbildete, das bis heute unsere Kultur prägt. Mosse spricht vom ‚maskulinen Stereotyp‘, das vor allem Charaktereigenschaften wie Mut, Willensstärke und Ehrgefühl sowie eine spezifische geistig-körperliche Ausprägung umfasst, welche in Zuschreibungen wie Mäßigung, Selbstkontrolle und in einem gesunden und wohlgeformten Körper Gestalt annimmt (Mosse 1997: 9-56). Ähnlich wie Theweleit entwirft auch Mosse das moderne Bild des Mannes stark auf den faschistischen Mann hin, wie er sich bereits ab 1909 in Marinettis futuristischem 1 | Zu grundlegenden Überlegungen im Hinblick auf eine literaturdidaktische Etablierung der Kategorie Männlichkeit vgl. Tholen (2013a).
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Manifest kulturell zu formen begann und dann im Nationalsozialismus ganz real wurde. Bei aller Instruktivität solcher Studien, die sich in ihrer Intention an die feministische Herrschafts- und Patriarchatskritik der 1970er und 1980er Jahren anschließen und mit Recht die longue durée der Verknotung von Männlichkeit, Dominanz und Gewalt betonen, greifen sie jedoch für eine umfängliche Untersuchung von Männlichkeit in der Literatur zu kurz, weil sie Männlichkeit in nur einem maskulinen Leitbild fixieren. Gegenwärtige Männlichkeitsforscher/innen betonen aber die Notwendigkeit, von Männlichkeit im Plural zu sprechen. Und dies in einer diachronen wie synchronen Perspektive. Denn die Entdeckung des Plurals in der Erforschung von Männlichkeit „richtet sich sowohl auf die Existenz mehrerer gleichzeitiger Männlichkeiten innerhalb einer einzigen Gesellschaft als auch auf die Vielfalt historischer Männlichkeitskonzepte“ (Erhart 2005: 161). Das ist nicht als Plädoyer für Beliebigkeit zu verstehen, sondern trägt dem Umstand Rechnung, dass auf der einen Seite Männlichkeit keine unveränderliche, überzeitliche Universalie ist, und auf der anderen Seite gerade in pluralen Gesellschaften ganz unterschiedliche Männlichkeiten nebeneinander existieren und ihre Position innerhalb des Gesamtgefüges der Geschlechterbeziehungen auch verändern können. Auf der kulturellen Ebene äußert sich dieser Tatbestand etwa darin, dass allein die Gegenwartsliteratur unzählige Entwürfe, Phantasien und Erfahrungen von Männlichkeit bereithält (Krammer 2007).2 In einer transnationalen und transkulturellen Gesellschaft vervielfachen sich die Bilder von Männlichkeit, wofür gerade die Literatur ein beredtes Beispiel ist, denn sie erzählt von den individuellen Erlebnissen und Geschichten männlicher Protagonisten aller Klassen, Nationen und Ethnien, ohne sie vorderhand in ein universalistisches gendertheoretisches Modell zu pressen. Von Männlichkeit im Plural zu reden, bedeutet mithin, hermeneutisch von einer offenen Ausgangssituation des Lese- und Verstehensprozesses auszugehen. Gender- bzw. männlichkeitssensibel zu lesen, heißt also nicht zwangsläufig, in literarischen Texten ausschließlich nach einem dominanten Männerbild oder -mythos – nach dem Patriarchen, dem unbesiegbaren Helden, dem Don Juan oder umgekehrt nach dem Weichling und Versager – zu fahnden. Vielmehr bedeutet es, beim Lesen 2 | Vgl. dazu auch den Aufsatz Männerbilder im Wandel? Beobachtungen zur Literatur des beginnenden 21. Jahrhunderts, in diesem Band.
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eine grundlegende Offenheit zu haben für die Vielfalt und damit auch Ambivalenz und Ambiguität von Geschlechterbildern und -beziehungen, welche sich in großer Zahl und Nuancierung in der Literatur und im Vergleich unterschiedlicher Texte finden lassen. Die Fokussierung auf Männlichkeiten sollte also eher in der Haltung eines schwebenden, wahrnehmenden Lesens erfolgen als im Modus des Decouvrierens und vorschnellen Kritisierens von problematischen Männerbildern und -stereotypen. Das wahrnehmende genderorientierte Lesen schließt eine kritische Reflexion der in den Texten unter Umständen normativ statuierten Männlichkeit keineswegs aus, ermöglicht aber auch das Entdecken anderer im Text enthaltener Figurationen von Männlichkeit und Mannsein, die dem jeweilig dominanten Bild womöglich entgegen gesetzt sind und somit die Voraussetzung dafür sind, Männlichkeit literaturwissenschaftlich als vielgestaltiges Konstrukt in den Blick zu bekommen. Hierzu bedarf es einer soziologisch informierten Literaturwissenschaft, insofern diese die Ergebnisse der soziologischen Erforschung von Männlichkeiten mit eigenen Konzepten verbindet. Ich werde diese Arbeitsweise im Folgenden an vier Aspekten, die mir für eine komplexe Erforschung von Männlichkeiten in der Literatur wichtig erscheinen, explizieren. Gemeint sind die Aspekte der Relationalität und Narrativität von Männlichkeit sowie die Berücksichtigung der Form und des kritischutopischen Potenzials literarischer Texte.
2. D ie R el ationalität von M ännlichkeit Ausgangspunkt für eine relationale Analyse von Männlichkeiten in der Literatur ist das von Connell eingeführte und durch Michael Meuser weiter entwickelte Konzept der ‚hegemonialen Männlichkeit‘.3 Das Konzept ist zwar inzwischen heftig umstritten, gleichwohl schließe ich mich Meusers Standpunkt an, demgemäß es „vorerst weiterhin hilfreich ist im Sinne einer herrschaftstheoretischen ‚Heuristik‘, deren Stärke in der Analyse von Geschlechterverhältnissen als sowohl hetero- als auch homosoziale Machtverhältnisse liegt“ (Meuser 2010: 427). Folgt man den Annahmen Connells, so lässt sich von Männlichkeit im Plural nur unter Beachtung ihrer doppelten Relationalität und ihrer Situierung in einem Machtdispositiv reden. Will nun eine männlich3 | Vgl. insbesondere Meuser (1998: 89ff.) und ders. (2006).
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keitssensible Literaturwissenschaft das Konzept auf ihren Gegenstandsbereich übertragen, so ergeben sich zumindest zwei Notwendigkeiten, die bei der konkreten Analyse von Texten zu beachten sind: Zum einen wird sich die Untersuchung von Männlichkeit nicht primär auf einzelne männliche Protagonisten, etwa mittels einer simplifizierenden Figurencharakterisierung, beschränken können. Vielmehr gilt es, männliche Figuren in ihren Beziehungen zu anderen männlichen und weiblichen Figuren zu sehen und darüber hinaus diese Beziehungen als Prozess zu betrachten. Für eine solche Betrachtungsweise bietet sich der Begriff der Konfiguration an: Männlichkeit wird in literarischen Texten konfiguriert, sie stellt sich als eine mehrstellige Konfiguration-in-Bewegung her (Tholen 2005: 9-16). Sehr deutlich wird dies etwa in Goethes Faust, wo Männlichkeit sich als komplexes Gefüge durch das Zusammenwirken der Figuren herstellt. Der Mann Faust ist ein höchst facettenreiches Konstrukt von (hegemonialer) Männlichkeit, das sich aus den Beziehungen der Figur zu vielen anderen Figuren, vor allem aber zu Mephistopheles und zu den Frauenfiguren Margarete und Helena zusammenfügt (Tholen 2005: 35126). Generell gilt dies aber auch für weniger kanonisierte Werke aller Gattungen, Texte der Kinder- und Jugendliteratur eingeschlossen. In literarischen Texten nach Konfigurationen von Männlichkeit zu suchen, bedeutet mehr, als vereinzelte Männerbilder dingfest zu machen. Denn Konfigurationen erfassen die unterschiedlichsten Perspektiven mit, aus denen heraus Männer- oder auch Frauenbilder entstehen. Sie stellen gleichsam Knoten- und Verdichtungspunkte von Perspektiven, Projektionen und Bildern dar, die zu geschlechtlichen Attribuierungen führen. So sagt z. B. das Frauenbild einer männlichen Figur auch etwas über ihr Selbstbild aus, und umgekehrt. Oder eine männliche Figur erscheint durch die Projektionen unterschiedlicher, männlicher wie weiblicher Akteure widersprüchlich, fragil, anders; in der einen Passage mehr heterosexuell, in der anderen mit homosexuellen Tendenzen. Der Gedanke einer beweglichen Konfiguration von Männlichkeit lässt schließlich auch Veränderungen an und von Männerbildern erkennbar werden. Wenn hingegen in Texten nur nach fixen Männerbildern oder -mythen gesucht wird, besteht die Gefahr, doch letztlich nichts anderes wiederzufinden als dichotome Geschlechterstereotypen. Die Übertragung von Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit auf die Analyse und Interpretation literarischer Texte macht eine zweite Überlegung, die mit der ersten unmittelbar zusammenhängt, notwen-
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dig. Selbstverständlich ist es möglich und auch legitim, in literarischen Texten Männerfiguren aufzuspüren, die den soziologischen Kategorien ‚hegemonialer‘, ‚komplizenhafter‘, ‚marginalisierter‘ Männlichkeit zuzuordnen sind. Darin allein kann sich aber eine die ästhetische Dimension des Textes fokussierende Lektüre nicht erschöpfen. Literatur bildet nicht soziologische Kategorien einfach ab, sondern stellt sie ästhetisch dar. Darstellung heißt, dass der Text sie ästhetisch (re)inszeniert, dass sie in dieser Inszenierung ihren Status einer sozialwissenschaftlichen Erkenntnis über die gesellschaftliche Geschlechterpraxis verlieren und damit zu beweglichen Positionen innerhalb einer fiktionalen Geschlechtertextur werden. Für die Analyse von Literatur sind Connells Kategorien genau dann brauchbar und nützlich, wenn man sie ihres genuin soziologischen Anspruchs entkleidet, das heißt, wenn sie dem Interpreten lediglich den geschlechtlichen Status individueller literarischer Figuren in Texten verdeutlichen, und nicht, wie in Connells Makroperspektive, den Status sozialer Gruppen bezeichnen; und wenn sie darüber hinaus als bewegliche geschlechtliche Positionierungen innerhalb eines ästhetischen Spiels gesehen werden, das den Geschlechtertext öffnet und dadurch Männlichkeit in ihren einzelnen Gestalten, in ihrer Polyperspektivik und in ihrer ganzen Ambiguität wahrnehmbar werden lässt.
3. M ännlichkeit als N arr ation Ein weiterer Schritt, Männlichkeit im Zusammenhang der Literatur nicht nur anhand von weithin bekannten Stereotypen oder Männlichkeitsmythen zu fokussieren, ist, sie als narrative Struktur zu begreifen. Walter Erhart hat im Rahmen seiner Studie Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit (2001) und in einem wenige Jahre später erschienenen Forschungsbericht Das zweite Geschlecht: „Männlichkeit“, interdisziplinär (2005) diesen Aspekt stark gemacht. Sich von psychoanalytischen ebenso wie von herrschaftskritischen Ansätzen der Geschlechter- und Männerforschung absetzend, fordert Erhart im Zusammenhang seiner Untersuchung von Familienromanen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts dazu auf, „den geschichtlichen Wandel einer Struktur zu verfolgen, durch die Männlichkeit sich jeweils konstituiert: als ein Ensemble von historisch sich verändernden Bildern und Geschichten […]. Indem Männlichkeit sich als diese Geschichte präsentiert, wird sie als
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ein Text lesbar, der narrativ strukturiert ist […]“ (Erhart 2001: 53f.). Nach Erhart bezeichnet Männlichkeit keinen festgefügten Ort, sondern eine Bewegung und einen Prozess, sodass sich die Geschichten und Inszenierungen von Männlichkeit „als eine Abfolge von Erzählmodellen und ‚narrativen Konfigurationen‘ darstellen“ (Erhart 2001: 54) lassen. In seinem Forschungsbericht führt Erhart diesen narratologischen Ansatz weiter aus. Im Anschluss an die kognitionspsychologisch orientierte Erzähltheorie geht er davon aus, dass Männlichkeit und auch Weiblichkeit nicht nur als Erzählungen vorliegen, sondern auch als ‚modes of narrativity‘ im Bewusstsein repräsentiert und gespeichert sind (Erhart 2005: 216). Mithilfe der Übertragung der Theorie mentaler narrativer Elemente (‚scripts‘) auf Männlichkeit möchte Erhart zu einer narratologischen Reformulierung der Stereotypen von Männlichkeit beitragen: Die Stereotypen der Männlichkeit lassen sich reformulieren als ein Bündel von vorformulierten Verhaltensmustern, Regeln und Erwartungen: ‚cognitive scientists have explored how stereotypical situations and events are stored in the memory and used to guide interpretations of the world.‘ Diese in scripts organisierten ‚stereotyped situations and events‘ bilden ein Reservoir für Narrationen [...]. Männlichkeit bestünde demzufolge aus einer Serie kulturell geprägter scripts und den daraus jeweils unterschiedlich und individuell gebildeten Geschichten. Die narratologische Rekonstruktion der Männlichkeit als einer narrativen Struktur lenkt den Blick auf jene Sequenzen, plots und scripts, die historische und literarische Männlichkeiten erst lesbar werden lassen: als narrative Ordnung aufeinanderfolgender Handlungen – von einzelnen Verhaltensweisen im männlichen Habitus bis zur Struktur von Lebensphasen – sowie als Bestandteile narrativ strukturierter männlicher Identitäten. (Erhart 2005: 217)
Besteht in der Anlehnung an die kognitionspsychologische Erzähltheorie die Gefahr, auf höherer konzeptueller Ebene wieder in erster Linie Männlichkeitsstereotypen zu erforschen, so ist es doch wichtig festzuhalten, dass die konkrete Textanalyse die Dimension von Männlichkeit als narrative Struktur berücksichtigen sollte und dass Narrationen von Männlichkeit in der Tat auch aus kulturell geprägten scripts bestehen, welche bestimmte langlebige Leitbilder von Männlichkeit, gleichbleibende männliche Verhaltensweisen und männertypische Lebensverläufe in die einzelnen literarischen Texte einschreiben. Gleichwohl hat eine solche Untersuchung der Narrativität von Männlichkeit zu berücksichtigen, dass
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die scripts nicht außerhalb der soziologisch beschreibbaren Geschlechterordnung stehen und von daher die Fokussierung auf die Narrativität von Männlichkeit in literarischen Texten nicht ohne Beachtung der inkorporierten Herrschafts- und Machtverhältnisse, wie sie durch Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit und Bourdieus/Meusers Konzept des männlichen Habitus (Meuser 1998: 104ff.) angezeigt werden, erfolgen kann. Mit der Beachtung der Narrativität von Männlichkeit wird es für den Leser/die Leserin möglich, den oftmals langwierigen Prozess der Herstellung männlicher Identität(en) zu verfolgen und dabei Abhängigkeiten, Außeneinwirkungen, Selbsttäuschungen, aber auch Wünsche, Bedürfnisse, Schwächen und Stärken und schließlich einschneidende Erlebnisse im Lebenslauf des einzelnen Protagonisten wahrzunehmen und bei der Interpretation auf die Waagschale zu legen. Die Genese männlicher Identität, um deren theoretische Fundierung in der Männlichkeitsforschung seit Beginn ohne befriedigendes Ergebnis gerungen wird,4 wird in der Literatur übrigens nicht selten über einen viel längeren Zeitraum hinweg erzählt als im Rahmen der Lebensgeschichte einer Figur, sodass sich die Geschichte des Einzelnen innerhalb einer weiter ausgreifenden Genealogie der Männlichkeit eingebettet wiederfindet. Insofern verbindet sich in vielen Romanen und Dramen die Geschichte eines einzelnen männlichen Protagonisten mit der Männlichkeitsgeschichte seiner Vorgänger und Nachfolger zu intergenerationalen Erzählungen von Männlichkeit. Besonders in solchen Texten, die mehrere Generationen umspannen, bietet es sich an, die literarische Männlichkeitsgeschichte einzelner Figuren mit der Geschichte der Männlichkeit im (historischen und kulturellen) Kontext einer Epoche zusammenzudenken. Damit ergibt sich nicht nur die Möglichkeit, die im literarischen Text aufgespürten Konfigurationen von Männlichkeit tentativ auf die sozialen und kulturellen Geschlechterverhältnisse sowie auf die offizielle Geschlechterpolitik der Epoche(n) zu beziehen, sondern auch die Möglichkeit, den Text im Hinblick auf die Repräsentativität bzw. Nicht-Repräsentativität der von ihm statuierten Männlichkeitsmodelle und Aussagen zum Geschlechterverhältnis einzuschätzen. Schließlich wird es möglich, Kontinuitäten und Wandel im Männerbild anhand des Vergleichs der einzelnen Generationsgeschichten 4 | Vgl. dazu Horlacher (2010), der seine Rekonstruktion des Forschungsstandes mit stark psychoanalytischer Fokussierung vornimmt.
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zu erfassen, wie etwa im Familienroman, der als Genre traditionell eine besondere Affinität zu den historischen und gesellschaftlichen Ereignissen des Zeitraumes hat, in dem das erzählte Geschehen angesiedelt ist.
4. D er F ormbezug liter arischer M ännlichkeiten Die Notwendigkeit, literarische Männlichkeiten als Produkte von literarischen Narrationen zu begreifen, bedeutet zugleich, die Analyse und Interpretation von Texten nicht nur auf inhaltliche und motivische Besonderheiten zu reduzieren. Ein solcher Inhaltismus5 liegt indessen nahe, wenn man als interpretatorisches Ziel benennt, Männerbilder in der Literatur ausfindig machen zu wollen. Das soll nicht heißen, auf den Begriff des Männerbildes tunlichst zu verzichten, sondern wichtig ist, die in Texten vorfindlichen geschlechtlich konnotierten Denk-, Fühl- und Handlungsweisen, aber auch bekannte, immer wieder auftauchende Männermythen (Odysseus, Don Juan, Herakles, Hiob, Dracula, Tarzan etc.) im Zusammenhang mit der Form ihrer narrativen Inszenierung zu sehen. Denn die literarische Form ist entscheidend dafür, allererst vertiefte Einblicke in die Konstruktion von Männlichkeit zu gewinnen. Und sie ist darüber hinaus wesentlich für den Modus der Rezeption, für die jeweilige Wahrnehmung und Beurteilung der im Text aufscheinenden geschlechtlichen und männlichen Handlungsweisen und Identitätsentwürfe durch Leserinnen und Leser. Machen wir uns das an einigen Beispielen der Gegenwartsliteratur klar. In den letzten Jahren fällt auf, dass Autoren sich in ihren Büchern verstärkt mit dem Thema Vaterschaft auseinandersetzen. Dies geschieht parallel zur gesellschaftlichen Diskussion um die ‚Neuen Väter‘ (vgl. Kassner 2008; Behnke/Meuser 2013). Auf der einen Seite finden sich sog. Vaterbücher, die unverhohlen autobiographisch sind. Bücher wie Durs Grünbeins Das erste Jahr (2001) oder Dirk von Petersdorffs Lebensanfang (2007) oder auch Hanns-Josef Ortheils Lo und Lu (2001) sind solche Vaterbücher, in denen die Autoren die (frischen) Erfahrungen ihrer Vaterschaft aus der Ich-Perspektive schildern und sie selbstverständlich auch
5 | Burdorf (2004) hat die generelle Tendenz zum Inhaltismus mit Blick auf die Literaturdidaktik schon vor einigen Jahren einer Kritik unterzogen und dabei auf die Bedeutung der Form hingewiesen.
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literarisieren.6 Sie tun dies wie Grünbein in Form von Aufzeichnungen, ohne darin ein fixes Bild des ‚neuen Vaters‘ statuieren zu wollen. In Das erste Jahr erfolgt die Selbstentdeckung und Selbstproblematisierung als Mann und Vater tagebuchartig.7 Diese Form ist nicht werkhaft-solitär-abschottend, sondern sie ist erfahrungsoffen, abbrechend, fragmentarisch und nah an der erlebten Wirklichkeit. In einer solchen Form und Erzählperspektive können Leserinnen und Leser sehr intensiv miterleben, in welchen Spannungszuständen, Imaginationen und Widersprüchen sich das männliche Ich vor und nach der Geburt der Tochter befindet. Der Vater, kurz zuvor noch autonomes Individuum und Autor, findet sich plötzlich wieder als fremdbestimmter Familienmann, dessen Termin- und Tagesplanung nun in erster Linie sein Kind gestaltet. In einem solchen autobiographischen Erfahrungsprotokoll wird man als Leser unmittelbar Zeuge sehr alltagsnaher Erlebnisse und Erfahrungen eines Mannes, der seine männliche Identität in der Verschiebung vom Autor hin zum Familienmann als widersprüchlich erlebt. Es entsteht in den Textfragmenten kein fixes Konzept zeitgenössischen Vaterseins; vielmehr erzeugen gerade die Reibungen und Widersprüche, die der Ich-Erzähler notiert, Unmittelbarkeit und Realitätsnähe. Aus diesem Grund laden Vaterbücher in einer so offenen autobiographischen Erzählform in besonderer Weise zum Gespräch über einen möglichen Wandel von Männlichkeit/Vaterschaft in der Gegenwart ein. Ganz anders als in den autobiographischen Vaterbüchern präsentiert sich Männlichkeit im Genre des Familienromans. In diesem wird Männlichkeit gleichsam als genealogisches, intergenerationales Narrativ erzählt. Die Position des Erzählers ist nicht homodiegetisch, sondern erzählt wird oftmals aus einer objektivierenden Distanz gegenüber den dargestellten Familien, wie beispielsweise in Arno Geigers Roman Es geht uns gut (2005). Die narrative Struktur eines Erzählens, das sich auf mehrere Generationen erstreckt, ermöglicht zum einen, die genealogischen Verknüpfungen und Kontinuitäten in den Geschlechterfolgen und -verhältnissen darzustellen, zum anderen, Brüche und Veränderungen in 6 | Vgl. dazu ausführlicher den Aufsatz Familienmännlichkeit und künstlerischliterarische Arbeit, in diesem Band. 7 | Vgl. dazu ausführlich den Aufsatz Vaterschaft und Autorschaft. Zur Bestimmung eines prekären Verhältnisses in der Gegenwartsliteratur am Beispiel von Durs Grünbeins Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen, in diesem Band.
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Bezug auf die Geschlechter- und Männerbilder innerhalb einer Generation, aber auch im Zuge von Generationsfolgen zu präsentieren; Diskontinuitäten, die darüber hinaus in enger Wechselwirkung mit den erzählten Ereignissen und soziokulturellen Einstellungen bzw. Handlungsweisen einer Epoche stehen. Zudem lassen sich Familienromane der Gegenwart auf erhellende Weise auf die großen bürgerlichen Familienromane des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, so z. B. auf den modernen deutschen Klassiker des Genres, Thomas Manns Buddenbrooks, beziehen (Tholen 2010). Damit können Männlichkeitsbilder (Vater- und Sohnbilder, Bilder von Brüdern und Ehemännern) auch im historischen Vergleich betrachtet werden. Der interpretierende Zugriff geschieht eher objektivierend, weil der Modus der Unmittelbarkeit innerhalb der historisch ausgreifenden Generationendarstellung der Familienromane im Vergleich zu den subjektiven, literarisierten Erfahrungsprotokollen der Vätertexte deutlich abgeschwächt ist. Gleichwohl eröffnen auch Familienromane, deren genealogische Erzählungen in die Jetztzeit einmünden, die Möglichkeit subjektiver Involvierung und eines Transfers der dargestellten Männlichkeiten auf aktuelle Geschlechter- und Lebenspraxen. Schließlich ist zu beachten, dass die literarische Konstruktion von Männlichkeit nicht nur mit dem Genre wechselt, sondern sich ihre Veränderung bzw. ihre Verkehrung auch innerhalb eines Textes vollziehen kann. Literarisch anspruchsvolle Texte weisen nicht selten komplexe, in sich widersprüchliche Männlichkeitskonstruktionen auf, so z. B. W.G. Sebalds Roman Austerlitz. An diesem Text lässt sich exemplarisch studieren, dass wir es auf der Ebene der ‚histoire‘8 durchgehend mit der Figuration ‚marginalisierter Männlichkeit‘ zu tun haben.9 Denn erzählt wird die Lebensgeschichte von Jacques Austerlitz, eines Prager Juden, der als kleines Kind beim Einmarsch der Nationalsozialisten ganz allein mit einem Kindertransport nach England geschickt und damit vor dem sicheren Tod gerettet wird. Erzählt wird ebenfalls die Geschichte seiner lebenslangen Traumatisierung und seiner Unfähigkeit, als Erwachsener ein normales, bürgerliches Leben zu führen. Zeit seines Lebens führt er eine abge8 | Ich rekurriere im Folgenden auf die erzähltheoretische Unterscheidung von ‚histoire‘ (Erzählung) und ‚discours‘ (Erzählen), wie Martinez/Scheffel (2003: 2226) sie vornehmen. 9 | Vgl. dazu ausführlich den Aufsatz Zur Konstruktion von Männlichkeit in W.G. Sebalds Roman Austerlitz, in diesem Band.
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sonderte, nomadisierende Existenz. Beachtet man jedoch die Ebene des ‚discours‘, wird deutlich, dass der Protagonist Austerlitz durchaus hegemonial-männliche Züge aufweist. Denn zum einen ist er eine Intellektuellen-Figur, ausgestattet mit den geistigen und habituellen Zügen bedeutender europäischer Intellektueller wie Ludwig Wittgenstein oder auch Hugo von Hofmannsthal. Zum anderen geht er als verloren gegangenes Kind explizit in den Spuren jüdischer Vorfahren, vor allem von Moses, der ausgesetzt in einem Schilfkörbchen gefunden wird, und mit dessen Auserwähltheit sich Austerlitz in jungen Jahren bereits identifiziert. Zudem findet das Erzählen in einem durchgehend homosozialen Raum statt. Der männliche Ich-Erzähler, der Austerlitz immer wieder aufsucht, um seiner Lebensgeschichte zu lauschen, betrachtet das Verhältnis zwischen dem Zuhörer (= Ich-Erzähler des gesamten Romans) und dem Erzähler der Binnengeschichten (= Austerlitz) als intimes, mann-männliches Lehrgespräch, in das Frauen an keiner Stelle des Romans eintreten. Auf der Ebene des ‚discours‘ haben wir es also durchgehend mit der Figuration ‚hegemonialer Männlichkeit‘ zu tun, auch wenn diese ihrerseits in den Schlusspassagen demontiert wird, insofern dort die Zerstörung der geistigen Existenz als solche allegorisxch in Szene gesetzt wird. In anspruchsvolleren literarischen Texten sind Männlichkeiten nicht einfach als Bilder oder Mythen vorhanden, sondern sie sind durch die jeweilige literarische Form vermittelte Konstruktionen, welche sich erst dem formanalytischen Blick zu erkennen geben. Als zu interpretierende Erzählkonstrukte sind sie wertvolle Medien einer nicht verkürzenden Wahrnehmung und Reflexion von Männlichkeit.
5. D ie kritische und utopische F unk tion männlichkeitshermeneutischer L ek türen Der Blick auf die Figurationen von Männlichkeit in literarischen Texten sollte schließlich unter Berücksichtigung des gegenwärtigen Geschlechterdiskurses erfolgen. Auf vielen Ebenen ist derzeit von einer Krise der Männlichkeit bzw. von einer Krise von Jungen und Männern die Rede (vgl. Bereswill/Neuber 2011). Krisendiagnosen implizieren verschiedene Auswege. Einerseits können mit ihnen Bemühungen um Veränderungen, Reformen, Wandlungsprozesse verbunden sein, andererseits können sie Reaktionen auslösen und beschleunigen, deren Ziel in der Restaurierung
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alter (Geschlechter-)Muster und traditioneller Handlungsweisen besteht. Eine gegenwartssensible literaturwissenschaftliche Männlichkeitsforschung, die den Krisendiskurs ernst nimmt, muss beide Tendenzen – die Restaurierung bzw. Neucodierung hegemonialer Männlichkeit sowie den möglichen Wandel der Geschlechterverhältnisse und die kulturelle Repräsentation alternativer Männlichkeiten – in der „hermeneutischen Situation“ (Gadamer 1986: 307) der Textauslegung zur Geltung bringen. Deshalb ist es nötig, die literaturwissenschaftliche Erforschung von Männlichkeit als Teil einer erfahrungsoffenen, reflexiv-kritischen Theorie der Geschlechter- und Machtverhältnisse zu verstehen. Ausgehend von Connell, die die Männlichkeitsforschung nicht nur theoretisch gerahmt hat, sondern sie auch als Praxis eines „re-embodiment“ (Connell 1999: 255)10 versteht, lässt sich konkretisieren, wie ein hermeneutischer Umgang mit Bildern und Erzählungen von Männlichkeit in der Literatur und auch in anderen ästhetischen Medien realisiert werden kann. Er vollzieht sich zwischen den Polen der kritischen Reflexion und der Freisetzung des utopischen Potenzials von Literatur. Die Literaturinterpretation wird demzufolge in doppelter Gestalt praktiziert: einmal als kritisch-reflexive Aufarbeitung der literarischen Traditionen auf allen Niveauebenen des literarisch-kulturellen Feldes (von der anspruchsvollen bis zur unterhaltenden Literatur, von der Erwachsenen- bis zur Kinder- und Jugendliteratur), und zwar mit dem Ziel der Identifizierung und Decodierung der verschiedenen Formen, Bilder und Narrationen hegemonialer Männlichkeit; zum anderen als Öffnung der geschlechter- und männlichkeitssensiblen Lektüre für die Wahrnehmung alternativer, nicht-hegemonialer Formen und Erzählungen von Männlichkeit (Tholen 2005: 17). Es ist für das Gelingen eines solchermaßen doppelten Lesens von Texten entscheidend, ein Gespür dafür zu entwickeln, an welcher Stelle des Textes oder in welchem Bild oder in welcher Figurenkonstellation das jeweilige Muster hegemonialer Männlichkeit, welches das latente Strukturelement nahezu jedes Textes ist, in Frage gestellt, konterkariert oder subvertiert wird durch die Spur einer anderen, meist marginal oder verdeckt bleibenden, camouflierten Männlichkeit (Detering 2002). Nicht-hegemoniale Formen von Männlichkeit bringen sich in der Literatur oftmals in Freundschafts- und 10 | Damit fordert Connell eine neue Verkörperlichung (re-embodiment) gerade für Männer, eine „Suche nach neuen Arten des Empfindens, Gebrauchens und Präsentierens von männlichen Körpern“ (Connell 1999: 255).
Männlichkeitssensible Literatur wissenschaf t
Liebesbeziehungen zwischen Männern und Frauen, aber auch zwischen Männern zum Ausdruck. Der literaturwissenschaftliche Fokus wäre von daher gerade auf die Untersuchung von expliziten, offensichtlichen, aber auch verdeckten Nähe- und Intimitätsbeziehungen zu richten, die im kulturellen Archiv verborgen bzw. verdeckt und durch eine geschlechtersensible Arbeit am Text verstärkt sichtbar zu machen sind. Dazu bedarf es aber auch neuer männlicher Erfahrungsdispositionen (im Sinne eines ‚re-embodiments‘) und eines veränderten Sprechens über Literatur. Sowohl der individuell-privaten wie der institutionellen Rezeption von Literatur obliegt es, die in den Texten modellierten Figuren und Formationen hegemonialer Männlichkeit sowie die zuweilen ebenfalls entfaltete literarische Kritik an ihnen herauszuarbeiten, andererseits aber auch nach den kleinen oder großen utopischen Bildern und Bruchstücken zu suchen, die ein neues und weniger hegemoniales Geschlechterverhältnis denkbar werden ließen. Dass es an der Zeit ist, nach Spuren der Nähe zwischen den Geschlechtern und unter Gleichgeschlechtlichen zu suchen, dazu ermutigen nicht zuletzt gegenwärtig erscheinende literarische Texte, in denen traditionelle Positionierungen von Männlichkeit problematisiert werden und in denen neue Formen von männlicher Identität, die auf Bindungsfähigkeit und Affektivität11 bauen, modelliert werden.
L iter atur Behnke, Cornelia/Meuser, Michael (2013): „Wo jeder den modernen Vater spielen wollte“ – Aktive Vaterschaft in Ost und West: pragmatische und geschlechterpolitische Orientierungen, in: Hans-Georg Soeffner (Hg.): Transnationale Vergesellschaftung. Verhandlungen des 35. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt am Main, CD-Rom, Wiesbaden. Bereswill, Mechthild/Neuber, Anke (Hg.) (2011): In der Krise? Männlichkeiten im 21. Jahrhundert, Münster. Bourdieu, Pierre (2005): Männliche Herrschaft, Frankfurt a.M. Burdorf, Dieter (2004): Wozu Form? Eine Kritik des literaturdidaktischen Inhaltismus, in: Sprache und Literatur, H. 93, S. 102-119. 11 | Vgl. zum Verhältnis von Männlichkeit und Emotionen im Rahmen literarischer Entwürfe Tholen/Clare (2013 b).
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Connell, Robert W. [Raewyn] (1999): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeiten, Opladen. Detering, Heinrich (2002): Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann, Göttingen. Erhart, Walter (2001): Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit, München. Erhart, Walter (2005): Das zweite Geschlecht. „Männlichkeit“, interdisziplinär. Ein Forschungsbericht, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 30, S. 156-232. Gadamer, Hans-Georg (1986): Hermeneutik I. Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen. Horlacher, Stefan (2010): Überlegungen zur theoretischen Konzeption männlicher Identität aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, in: Stefan Horlacher (Hg.): „Wann ist die Frau eine Frau?“ „Wann ist der Mann ein Mann?“ Konstruktionen von Geschlechtlichkeit von der Antike bis ins 21. Jahrhundert, Würzburg, S. 195-238. Kassner, Karsten (2008): Männlichkeitskonstruktionen von „neuen Vätern“, in: Baur, Nina/Luedtke, Jens (Hg.): Die soziale Konstruktion von Männlichkeit. Hegemoniale und marginalisierte Männlichkeiten in Deutschland, Opladen & Farmington Hills, S. 141-163. Krammer, Stefan (2007): MannsBilder. Literarische Konstruktionen von Männlichkeiten, Wien. Martinez, Matias/Scheffel, Michael (2003): Einführung in die Erzähltheorie, München. Meuser, Michael (1998): Geschlecht und Männlichkeit. Soziologische Theorie und kulturelle Deutungsmuster, Opladen. Meuser, Michael (2006): Hegemoniale Männlichkeit – Überlegungen zur Leitkategorie der Men’s Studies, in: Brigitte Aulenbacher u.a. (Hg.): FrauenMännerGeschlechterforschung. State of the Art, Münster, S. 160-175. Meuser, Michael (2010): Replik / Response. Hegemoniale Männlichkeit – ein Auslaufmodell?, in: Erwägen Wissen Ethik, 21, S. 415-431. Mosse, George (1997): Das Bild des Mannes. Zur Konstruktion der modernen Männlichkeit, Frankfurt a.M. Theweleit, Klaus (1977/1987): Männerphantasien, 2 Bde., Reinbek bei Hamburg.
Männlichkeitssensible Literatur wissenschaf t
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Literarische Männlichkeiten und Emotionen Perspektiven für die Forschung
Es gehört seit je zu den Aufgaben der Literaturwissenschaft, die mehr oder weniger komplexen Gefühle bzw. Gefühlslagen von weiblichen und männlichen Protagonisten in den Texten der Literatur zu rekonstruieren. Wer kennt sie nicht, die zahllosen und Regal füllenden Studien zur Liebe bei…, zur Angst von… und zur Trauer in…. In der Literatur geht es wie in wenigen anderen Medien und Fächern stets und ständig um Emotionen. Und um was sollte es in ihr sonst gehen, wenn nicht um die großen Gefühle, Gefühlsverwirrungen und –tragödien? Und trotz der scheinbaren Selbstverständlichkeit und Routine, mit der die Literaturwissenschaft schon so lange Emotionen und deren textuelle Repräsentationen auf den verschiedensten Ebenen erforscht, bilden sich doch aufgrund der Entwicklung neuer Erkenntnisse und Forschungsperspektiven in den eigenen Teildisziplinen, vor allem aber in angrenzenden Wissenschaftsbereichen, etwa in der Geschlechterforschung, immer wieder neue Frage- und Problemstellungen heraus. Bisweilen resultieren sie aus größeren epistemologischen Brüchen bzw. Paradigmenwechseln; manchmal aber sind es nur winzige Aspektverschiebungen oder bis dahin unterlassene Markierungen, die den Forschenden plötzlich auf ein noch kaum bestelltes Feld führen. Das geschieht z.B., wenn man die Emotionen literarischer Figuren auf Aspekte der Konstitution von Männlichkeit hin betrachtet, und speziell, wenn man männliche literarische Figuren nicht nur als Individuen, Repräsentanten, Idealtypen, Rollenträger oder auch Phantasiefiguren betrachtet, sondern sie als – wie auch immer konstruierte, modellierte, phantasierte und inszenierte – männliche Figuren allererst einmal markiert. Beginnt man damit, so eröffnet sich ein faszinierendes Feld, näm-
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lich das der literarischen Männlichkeiten; und es wird möglich danach zu fragen, mit welchen Emotionen sie in Texten oder Textgruppen bestimmter Epochen vorzugs- oder ausnahmsweise verwoben werden.1 Eine solche Arbeit der Markierung zu beginnen, die Untersuchung von Gefühlen und Emotionalität unter dem spezifischen Blickwinkel der in Texten erscheinenden Figuren von Männlichkeit zu praktizieren, ist gewiss ein erster und entscheidender, aber auch ein folgenreicher Schritt. Denn man begrenzt dadurch den Blick auf Figuren und Werke. Man schränkt die Projektionen, die man selbst, als Leser/in oder Interpret/in, an einzelne Protagonisten heranträgt, gewissermaßen ein. Man nimmt etwa Goethes Faust plötzlich nicht mehr (nur) als Repräsentanten grandios-scheiternden Universalgelehrtentums, als Melancholiker etc. wahr, sondern sein tragisch-einsames Gelehrtendasein als eine Figur von Männlichkeit (im Text). Solche Markierungen sind in der Literaturwissenschaft (noch) nicht sehr üblich, scheinen sie doch die Bedeutung, Exemplarität und Ausstrahlung insbesondere hochkanonisierter Werke ungebührlich einzuschränken, indem der Blick von Fragen und Themen abgezogen wird, die an den literarischen Kanon heranzutragen man sich seit langem gewöhnt hat. Die notwendige, weil Erkenntnis erzeugende Begrenzung, welche die Männlichkeits-Markierung der Figuren und Texte bedeutet, ist allerdings nicht einfach mit einer Variante feministischer Literaturwissenschaft kurzzuschließen, welcher es in erster Linie um Kritik an den im literarischen Kanon erkennbaren männlichen Herrschaftsstrukturen geht, welche nur das legitimieren, was schon immer gesellschaftlich der Fall war und ist: die Unterdrückung der Frau und ihre Ausgrenzung aus Domänen des ‚symbolischen Kapitals‘ (Bourdieu).2 Erkenntnisfördernd ist sie vielmehr, weil sie dazu beiträgt, Vereinseitigungen und Stereotypen in Bezug auf das, was man/frau immer schon über den Mann und seine 1 | Erste Studien, die die Kategorie Männlichkeit unter Berücksichtigung aktueller interdisziplinärer Männer- und Geschlechterforschung nachhaltig in die Literaturwissenschaft eingeführt haben, erschienen kurz nach der Jahrtausendwende. Vgl. dazu vor allem Erhart (2001) sowie Benthien/Stephan (2003). 2 | Um Missverständnissen vorzubeugen: Es soll hier nicht behauptet werden, dass die Aufdeckung von Herrschaftsstrukturen zwischen den Geschlechtern nicht auch ein zentraler Aspekt der Erforschung von Männlichkeiten ist, sondern nur, dass sie sich darin nicht erschöpft. Vgl. dazu weiter unten.
Männlichkeiten und Emotionen
Gefühlswelt zu wissen meinte, aufzubrechen. Die Literatur ist wie kaum ein anderes Medium in der Lage, Einseitigkeiten und Verfestigungen im Wissen um geschlechtsgebundene Identitätskonstruktionen und Handlungsweisen zu hinterfragen, und dies gilt selbstverständlich auch im Hinblick auf die männliche Identität, insofern sie durch Emotionalität mitkonstituiert wird. Interessiert man sich also grundsätzlich für die Erkenntnis der Vielschichtigkeit und Ambivalenz, derer man gewahr wird, wenn man männliche Subjekte verschiedener Epochen dabei beobachtet, wie sie als literarische Figuren ihre Gefühle ausleben oder sie bezwingen müssen, so sollte man als literaturwissenschaftliche/r Beobachter/in zunächst einen Überblick darüber gewinnen, wie das Themenfeld ‚Männlichkeit-Literatur-Emotionen‘ bisher wissenschaftlich abgesteckt worden ist. Das soll im Folgenden mit dem Ziel geschehen, der soeben erwähnten Vielschichtigkeit des Forschungsgegenstandes einen vorläufigen theoretischen und methodischen Rahmen zu geben. Die Rahmenüberlegungen erheben jedoch nicht den Anspruch, eine systematische Vernetzung sämtlicher Forschungsansätze dieses weiten Themenfeldes zu leisten, sondern möchten lediglich einige zentrale Voraussetzungen und Konzepte aus dem Bereich neuerer kultur- und literaturwissenschaftlicher Forschung vorstellen, die Berücksichtigung finden sollten, wenn der Zusammenhang von Männlichkeit und Emotionen im Medium literarischer Texte erörtert wird. Mit der in den letzten Jahren oft konstatierten kulturellen Aufwertung des Themas ‚Emotionalität‘ und einer damit einhergehenden Konjunktur der Emotionsforschung3 sind in den Kultur- und Literaturwissenschaften einige Grundvoraussetzungen erarbeitet worden, auf denen eine literaturwissenschaftliche Erforschung des Zusammenhangs von Männlichkeiten und Emotionen auf bauen kann. Wendet man sich zunächst der Kategorie ‚Emotionen‘ zu, so ist zwar darauf hinzuweisen, dass sie in kulturwissenschaftlichen Zusammenhängen keine trennscharfe Definition erfährt und oftmals gleichzeitig und überlappend mit verwandten Begriffen wie Gefühle oder Affekte verwendet wird; immerhin aber existieren konsensfähige Überlegungen, auf welcher Grundlage sie in einem weiteren historischen und kulturellen Kontext zu untersuchen sind. Ich
3 | Vgl. zum sogenannten ‚emotional turn‘ Anz (2007) sowie Hammer-Tugendhat/ Lutter (2010: 2).
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stelle in Anlehnung an Claudia Benthien, Anne Fleig und Ingrid Kasten die wichtigsten stichwortartig vor (Benthien/Fleig/Kasten 2000: 8-12): Erstens: Die Historizität von Gefühlen. Gefühle wie Angst oder Freude gelten als ‚anthropologische Konstanten‘, werden aber von jedem Einzelnen anders empfunden und unterliegen vor allem, weil sie kulturell spezifisch codiert werden, historischen Veränderungen. Zweitens: Die Gemachtheit von Gefühlen. Die kulturwissenschaftliche bzw. –historische Beschäftigung mit Gefühlen untersucht diese stets an und in unterschiedlichen Darstellungsmedien, wie z.B. in literarischen Genres, Filmen, theatralen Inszenierungen oder Kompositionen. Gefühle werden in diesen Medien repräsentiert, d.h. sie erscheinen darin als Produkte einer besonderen Darstellungsweise, einer ästhetischen Modellierung. Die Erforschung eines bestimmten Gefühls, z.B. der Trauer, ist nicht ablösbar von der Frage nach dem Wie seiner Inszenierung. Drittens: Die Un-/Wahrhaftigkeit von Gefühlsäußerungen. Gefühle kulturwissenschaftlich zu betrachten, heißt, grundsätzlich mit zwei Möglichkeiten bei der individuellen oder kollektiven Gefühlsäußerung zu rechnen: Gefühle werden einerseits inszeniert, vorgetäuscht und in der sozialen Interaktion strategisch eingesetzt; andererseits gelten sie als eigenster und wahrhaftiger Ausdruck eines Individuums, mit dem es sein inneres Leben zu erkennen geben und in eine authentische Kommunikation mit anderen treten möchte. Viertens: Die Beweglichkeit von Gefühlen. Damit ist sowohl gemeint, dass Gefühle flüchtig (‚transitorisch‘) sind, vergehen oder in andere Gefühle und Stimmungen übergehen, als auch, dass sie oftmals undeutlich bleiben oder uneindeutig, ambivalent sind. Hinzu kommt ferner, dass sie zwischen „dem leiblichen und dem ‚innerseelischen‘ Bereich changieren“ (Benthien/Fleig/Kasten 2000: 11). Während diese vier Aspekte ohne Zweifel hilfreiche Koordinaten bei der Untersuchung von Emotionen in allen möglichen kulturellen Zusammenhängen sind, wird es schwieriger und kontroverser, wenn es darum geht, innerhalb einer Geschichtsschreibung der Gefühle den Geschlechtern bestimmte Emotionen zu attribuieren bzw. Gefühle über zum Teil lange Zeiträume hinweg in der Binarität der Geschlechter zu verorten. Ich möchte im Folgenden einige besonders markante Argumentationsstränge der Forschung darstellen und sie auf ihre Plausibilität hin befragen.
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Es erweist sich als problematisch, von sehr generellen, die abendländische Kultur umfassenden Zuordnungen auszugehen, wie etwa davon, dass ‚negative‘ Gefühle wie Angst, Trauer, Schmerz und Scham „im historischen Prozess“ vorzugsweise „weiblich codiert“ (Benthien/Fleig/Kasten 2000: 10) seien. Gerade in der Antike und im Mittelalter werden solche Gefühle vorzugsweise und der gesellschaftlichen Konvention durchaus entsprechend auch sehr prominent von männlichen Figuren repräsentiert. In diesem Zusammenhang sind zwei unterschiedliche Fragestränge, die in der Forschung begegnen und oft zusammen verhandelt werden, auseinanderzuhalten. Der eine bewegt sich auf der Ebene der Herstellung eines Zusammenhangs zwischen der die westliche Kultur prägenden Dichotomie Rationalität/Emotionalität und deren geschlechtlicher Codierung. Der zweite bewegt sich auf der Ebene der geschlechtlichen Codierung und Normierung bestimmter Emotionen im Fokus historischer Epochen und Umbrüche. Zum ersten Strang: Viele Untersuchungen sehen mit dem Beginn des 19. Jahrhunderts einen folgenreichen Wandel in der geschlechtlichen Codierung von Rationalität/Emotionalität am Werk. Catherine Newmark kann in ihren Untersuchungen zur philosophischen Bestimmung der Begriffe Passion, Affekt und Gefühl zeigen, dass gegenüber der grundsätzlich männlichen Codierung von Rationalität „Emotionen und Emotionalität in den älteren Affektenlehren vor der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts selten explizit in Zusammenhang mit der Geschlechtlichkeit gebracht werden“ (Newmark 2010: 47). Das schließt nach Newmark nicht aus, dass auf einer impliziten Ebene gleichwohl geschlechtliche Markierungen vorgenommen werden, diese seien aber nicht eindeutig. Und wichtiger: Sie folgen immer dem ideologischen Gesamtmuster, Frauen grundsätzlich als weniger rational bzw. vernünftig auszuweisen. Ihr Argument ist, dass es vor 1800 auch deshalb nicht so sehr darum geht, Frauen mehr Emotionalität als Männern zuzuschreiben. Aufgrund des Auf kommens neuer kognitiver Theorien des Gefühls, einer den Geschlechterdualismus etablierenden Anthropologie (vgl. Honegger 1992) und der Neuvermessung des sozialen Raumes (vgl. Hausen 1976) sieht Newmark nach 1800 gemeinsam mit anderen Forscherinnen eine klare dichotomisierende Zuschreibung von Rationalität/Männlichkeit und Emotionalität/Weiblichkeit am Werk, die sich bis zum Ende des 19. Jahr-
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hunderts vollkommen durchgesetzt hat und bis heute noch wirksam ist.4 Die Zuschreibung verbindet sich mit einer Abwertung von Emotionalität, die sich in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts vollzieht und gleichzeitig zu einer starken „Entemotionalisierung des Mannes“ (Newmark 2010: 44) führt. Ist das ein Grund dafür, dass Manuel Borutta und Nina Verheyen in dem Band Die Präsenz der Gefühle. Männlichkeit und Emotion in der Moderne einleitend konstatieren müssen, dass die „Beziehung von Männlichkeit und Emotion [...] bislang kaum untersucht“ (Borutta/Verheyen 2010: 16)5 wurde? Schreibt sich mit dieser Lücke im wissenschaftlichen Diskurs bis heute ein kulturelles Verdikt fort? Es gibt unterdessen auch Beschreibungen, die in der Moderne nicht ein durchgängiges Muster des ‚gendering‘ von Rationalität/Emotionalität am Werke sehen. Andreas Reckwitz etwa sieht seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Konkurrenz zwischen ‚gendering‘ und ‚degendering‘ von Emotionen am Werk, die ein konflikthaftes Merkmal moderner Kultur sei. Im Gegensatz zu anderen Studien der Geschlechtersoziologie vertritt er die These, dass man die Moderne nicht von vornherein geschlechterdichotomisch beschreiben und deswegen auch nicht eine durchgehende Maskulinisierung/Feminisierung von Affektkulturen voraussetzen könne: „Vielmehr setzen moderne Diskurse und Praktiken die Geschlechterdifferenz innerhalb ihrer Affektkulturen nur an ganz bestimmten Punkten ein und verzichten an anderen Punkten auf sie. Diese konträren Tendenzen von Vergeschlechtlichung und Entgeschlechtlichung von Affektivität nachzuvollziehen, ist eine zentrale Fragestellung der Kultursoziologie des affektiven Selbst.“ (Reckwitz 2010: 58f.) Im Anschluss an seine These, Prozesse der Emotionalisierung wie auch der Entemotionalisierung „geschlechtsindifferent auf das moderne Subjekt“ (Reckwitz 2010: 60f.) auszurichten, schlägt Reckwitz eine Forschungsheuristik vor, deren Kern die Unterscheidung von vier jeweils langfristig 4 | Vgl. zum Entwicklungsverlauf der Dichotomisierung im 19. Jahrhundert auch Kessel (2000). Vgl. zur These von der ungebrochenen Aktualität der Zuschreibung Newmark (2010: 50). Wichtig ist, hier Norbert Elias’ und Max Webers bekannte Thesen von der zunehmenden Rationalisierung in der Moderne mit zu berücksichtigen. 5 | Leider enthält der Band keinen literaturwissenschaftlichen Beitrag. Überhaupt werden die Künste nicht berücksichtigt.
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wirkenden Subjektordnungen und entsprechenden ‚Affektkulturen‘ ist, deren Wechsel bzw. Ablösung sich konflikthaft gestaltet. Die erste Affektkultur identifiziert er vor 1800 in der Periode der ‚bürgerlichen Empfindsamkeit‘, in der eine Ausbalancierung zwischen Rationalisierung und Emotionalisierung für weibliche und männliche Subjekte angestrebt wird (vgl. Reckwitz 2010: 62ff.). Diese Affektkultur tendiert zu einem ‚degendering‘. Abgelöst wird diese Phase durch die geschlechtsdualistische Bürgerlichkeit des 19. Jahrhunderts, in der ein Antagonismus zwischen der Emotionalisierung des weiblichen und einer Rationalisierung des männlichen Selbst dominiert. Diese zweite Affektkultur betreibt ein eindeutiges ‚gendering‘. Eine dritte Subjektordnung etabliert sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts (etwa um 1920), in der es zu einer generellen Entemotionalisierung des Subjekts kommt, die zu einer Angleichung des Geschlechtshabitus führt. Männliche wie weibliche Subjekte unterliegen dem Prozess der Außenorientierung und der Versachlichung. Ähnlich wie in dieser dritten sieht Reckwitz schließlich auch in der vierten Affektkultur, die seit den 1970er Jahren die Subjektivierungspraktiken normiert, ein ‚degendering‘ am Werk, das allerdings im Zuge der Postmoderne wieder auf die Emotionalisierung des Selbst im Rahmen von Selbsttechnologien setzt. Das ‚emotional self‘, das von Männern wie von Frauen kultiviert wird, pflegt und entwickelt Emotionen in dem Maße, in dem sie ihm nutzen. Zu einem gewissen konterkarierenden ‚regendering‘ auf Seiten männlicher Subjektivierung kommt es laut Reckwitz allerdings in der dritten und vierten Subjektordnung durch Tendenzen vitalistisch-aggressiver Maskulinitäten (z.B. Militarismus, Hip-Hop). Reckwitz zielt mit seiner Heuristik, die explizit auch für die Erforschung von Männlichkeiten Denkanstöße geben will, auf eine Beschreibung der Moderne nicht im Sinne einer linear verlaufenden Modernisierung oder gar einer Repressionserzählung, sondern er will zeigen, dass die Moderne in erster Linie aus einer Abfolge von Kulturkonflikten und Kämpfen besteht, wenn es darum geht, Rationalisierung und Emotionalisierung ins Verhältnis zu setzen und darüber hinaus diesen Prozess auf die geschlechtsgebundenden Subjektivierungen zu beziehen. Für die kultur- und literaturwissenschaftlichen Analysen, in denen dem Zusammenhang von Geschlecht (Männlichkeit) und Emotionen nachgegangen wird, bleibt es allerdings zweifelhaft, ob man mit derart weitmaschigen Phasenmodellen, die zudem erst einmal auf ihre immanente Stimmig-
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keit hin zu untersuchen wären, Erkenntnisgewinne erzielt, die über eine vage Verortung konkreter Medien und Quellen in einer nicht hinlänglich ausbuchstabierten Makrostruktur hinausgingen.6 Außerdem birgt die mehrmals von Reckwitz ins Spiel gebrachte Diagnose des ‚degendering‘ die Gefahr, eindeutig geschlechtliche Attribuierungen in Bezug auf Gefühle und Affekte und ferner die Konflikte und Widersprüche, die daraus gleichsam auf der Mikroebene der Erlebnisse und Handlungsweisen einzelner Individuen und Figuren etwa im literarischen Zusammenhang resultieren, zu übergehen. Zum zweiten Strang: Produktiver erweisen sich kulturwissenschaftliche und –historische Versuche, die geschlechtliche Codierung bestimmter Emotionen wie Trauer, Mut, Melancholie innerhalb kultureller Formationen, Epochen zu untersuchen, ohne dabei vorschnell in den Gestus der Generalisierung zu verfallen. Es ist sicherlich stimulierend, darauf zu verweisen, dass Frauen in der Kultur immer wieder die Rolle der Leidenden, Klagenden und Trauernden zugewiesen wird, Männern hingegen seit der Renaissance die Rolle des Melancholikers zufällt (vgl. Benthien/ Fleig/Kasten 2000: 10). Wichtig ist es dann aber auch zur Kenntnis zu nehmen, dass es z.B. in den italienischen Städten des 13. Jahrhunderts oft gerade die Männer waren, die laut wehklagend auf den Straßen ihre Trauer zum Ausdruck brachten (vgl. dazu Borutta/Verheyen 2010: 19). Und: Auch Frauen verfallen seit der Frühen Neuzeit der Schwermut und dem ennui.7 Interessant ist es ferner, an historisch-kulturellen Umbruchstellen sich wiederholende ästhetische Muster einer spezifisch männlichen Strategie der Distanzierung und der emotionalen Kälte aufzudecken (vgl. dazu Hermann 2011). Solche Schreibweisen emotionaler Distanz gibt es aber auch in der Literatur von Frauen in der Moderne, explizit etwa bei Autorinnen der Neuen Sachlichkeit 8 oder in der Gegenwart im Werk Elfriede Jelineks (vgl. dazu Morgan 1996). Es könnten zahlreiche weitere Beispiele aufgezählt werden, die zeigen, dass die Codierung eines Gefühls mit ‚weiblich‘ oder ‚männlich‘ auch jeweils umgekehrt erfolgen kann, und dies sogar im selben epochalen Zusammenhang. Welche Fol6 | Vgl. auch die Kritik von Ute Frevert an zu großflächigen Thesen zur Emotionalisierung oder Entemotionalisierung in der Moderne (Frevert 2010: 317). 7 | Vgl. dazu die eindringlichen Studien von Christa Bürger zum Schreiben von Frauen, vor allem Bürger (2001). 8 | Vgl. dazu das Kapitel über Marieluise Fleißer in Lethen (1994: 181-184).
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gerungen sind daraus aber für die kultur- und literaturwissenschaftliche Erforschung von Geschlecht und Emotionen zu ziehen? – Zum einen sollte auf vereinseitigende Aussagen über eine vermeintlich primäre geschlechtliche Codierung bestimmter Gefühle in einer bestimmten Kultur oder sogar kultur- bzw. epochenübergreifend verzichtet werden. Zum anderen ist zu betonen, dass eine bestimmte geschlechtliche Codierung von Gefühlen immer erst auf dem Hintergrund des ästhetischen und sozialen Kontextes einer historischen Epoche oder einer Kultur sprechend wird. Anders gesagt: Aussagekräftig wird sie nur durch eine Kontexteinbindung, also durch die Frage, in welchem kulturellen Normensystem, in welcher Herrschafts- und Geschlechterordnung z.B. männliche Subjekte als Melancholiker oder weibliche Subjekte als Trauernde in Erscheinung treten. Welche (symbolischen) Möglichkeiten der Identitätsbildung und welche Handlungsspielräume eröffnen sich dadurch? Und welche bleiben den Geschlechtern verwehrt? Welche Möglichkeiten sind Frauen und Männern insbesondere bei der (symbolischen) Artikulation von Gefühlen gegeben? Im Falle der geschlechtlich markierten Emotionen in ästhetischen Medien sind darüber hinaus die jeweiligen ästhetischen Traditionen, Formen, Regeln und Lizenzen, innerhalb derer Gefühle artikuliert werden, zu berücksichtigen. Und die variieren nicht nur zwischen den Genres, sondern im Falle der Literatur von Text zu Text. Es bedarf also einer genauen Text- und Kontextarbeit, und zwar am einzelnen Werk; womit der engere Arbeitskontext der Literaturwissenschaft ins Blickfeld rückt. Der Fächer der soeben aufgeworfenen Fragen ist groß. Beantwortet werden können sie nur in vielen Einzelstudien, von denen mit Blick auf den Zusammenhang literarischer Männlichkeiten und Emotionen in Zukunft etliche weitere zu wünschen wären, gerade weil die Perspektive mit der Etablierung einer neuen Männlichkeitsforschung eine andere geworden ist.9 Ich möchte im Folgenden ein paar Überlegungen zum Zusammenhang von Männlichkeitsforschung und Literaturwissenschaft entfalten, um aufzuzeigen, warum ich große Chancen für einen differenzierenden und die Komplexität steigernden Beitrag der Literaturwissenschaft zur Männer- und Geschlechterforschung als integralen Bestandteil einer kul9 | Zu einer vergleichbaren Einschätzung einer im Rahmen der Männlichkeitsforschung nötigen Erforschung des „Umgang[s] der literarischen Männerfiguren mit der Emotionalität“ kommen auch Hindinger/Langner (2011: 9).
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turwissenschaftlichen Emotionsforschung sehe. Als Erstes möchte ich eine basale Annahme anführen, von der Simone Winkos grundlegende Arbeit zur literaturwissenschaftlichen Erforschung von Emotionen ausgeht. Sie weist eingangs darauf hin, dass es eine der wesentlichen „Funktionen von Literatur ist [...], Emotionen zu vermitteln: sie zu ihrem Thema zu machen, auszudrücken und im Leser hervorzurufen.“ (Winko 2003: 9) Daraus lassen sich für die Literaturwissenschaft ganz unterschiedliche Arbeitsfelder ableiten. Winko unterscheidet vier Felder zur Erforschung des Zusammenhangs von Literatur und Emotionen, je nachdem, ob eher produktions- oder rezeptionsbezogen geforscht wird, oder ob die literaturwissenschaftlichen Problematisierungen eher text- oder kontextgerichtet sind.10 Bisher forscht die literaturwissenschaftliche Männlichkeitsforschung primär auf der Text- und Kontextebene. Emotionen werden an konkreten literarischen Figuren oder Figurenkonstellationen untersucht, und diese werden ins Verhältnis zu den Normen und Gefühlscodes des jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeldes gesetzt.11
10 | Dementsprechend expliziert sie produktions-, rezeptions-, text- oder kontextbezogene Ansätze (vgl. Winko 2003: 31-64). An diese grundsätzlichen Erwägungen schließt sich Thomas Anz im Zuge des ‚emotional turn‘ auch in der Literaturwissenschaft mit dem Entwurf einer ‚Literaturwissenschaftlichen Text- und Emotionsanalyse (LTE)‘ an und fügt interessante Aspekte hinzu (vgl. Anz 2007). Zum einen sollen etwa auf der Ebene der Textrezeption die Emotionen des Lesers, aber auch des professionellen Textanalytikers, also des Literaturwissenschaftlers, selbst wieder stärker mitberücksichtigt werden. Dazu bringt Anz eine mögliche Rehabilitierung des Begriffs der ‚Einfühlung‘ ins Spiel (vgl. ebd.: 228f.). Ferner wird darauf hingewiesen, dass bei der Analyse literarischer Texte verschiedene Fiktionalisierungsgrade unterschieden werden müssen. Anregend ist schließlich auch der Hinweis auf Ansätze in der Affektpoetik, die jeder literarischen Gattung ein Schlüsselszenario und eine mit ihm fest assoziierte Emotion zuordnen (vgl. ebd.: 226). 11 | An dieser Stelle sollte der methodisch wichtige Hinweis von Annette GerokReiter nicht fehlen, demgemäß „literarisch entworfene Emotionskonzepte nicht bruchlos mit kulturellen Vorgaben verrechnet und abgeglichen werden können, sondern Sonderbedingungen unterliegen, Sonderräume und Sondernormen entwerfen, deren Kalkül von der literarischen Konstruktion getragen wird und damit nicht unabhängig von ihr gelten kann.“ (Gerok-Reiter 2010: 16)
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Produktions- und rezeptionsbezogene Thematisierungen wären in Zukunft verstärkt zu entwickeln.12 Mit Blick auf den interdisziplinären Zusammenhang der Geschlechter- und Männerforschung weist Walter Erhart der Literaturwissenschaft eine zentrale Rolle für die Erforschung der Geschlechtergeschichte zu. Auf der Suche nach Modellen, die die generelle Diskrepanz zwischen „gesellschaftlich-sozialen Deutungsmustern und Leitbildern auf der einen, den individualpsychologischen Dispositionen und Verankerungen auf der anderen Seite [...] historisch und systematisch situieren könnten“ (Erhart 2005: 178), betrachtet er die Literatur und Kunst als „privilegierte kulturelle Medien“ (Erhart 2005: 178), da vor allem sie die Bewegung von ‚innen‘ und ‚außen‘, von individuellen Gefühlen und Imaginationen einerseits und von sozialen Normen sowie realen Herrschafts- und Machtverhältnissen andererseits, intensiv austragen und im Medium bestimmter ästhetischer Darstellungspraktiken reflektieren. Die Künste und insbesondere die Literatur sind nach Erhart Vermittlungsformen von psychischen und sozialen Faktoren und dementsprechend muss die Literaturwissenschaft bei ihrer Analyse literarischer Geschlechter- und Männlichkeitskonfigurationen über die Untersuchung der literarischen Konstruktion hinaus an Konzepte der Männlichkeitsforschung anknüpfen, die einerseits soziologisch-historische und psychologische Befunde aufeinander beziehen, andererseits weitmaschig genug sind, die Individualität und Vielfalt literarischer Präsentationen bzw. Narrationen13 von Männlichkeit zuzulassen. Ich möchte an dieser Stelle auf das in der Männlichkeitsforschung viel diskutierte Konzept der ‚hegemonialen Männlichkeit‘ von Raewyn Connell hinweisen, weil es mir trotz der Kritik, die es seit seiner Einführung in die men’s studies gefunden hat, immer noch das heuristisch brauchbarste Modell zu sein scheint, die oben beschriebenen Aspekte zu bün-
12 | Vgl. für eine produktions- und autorschaftsbezogene Forschungsperspektive die Aufsätze Vaterschaft und Autorschaft. Zur Bestimmung eines prekären Verhältnisses in der Gegenwartsliteratur am Beispiel von Durs Grünbeins Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen sowie Familienmännlichkeit und künstlerisch-literarische Arbeit, in diesem Band. 13 | Erhart (2005: 215ff.) plädiert dafür, Männlichkeit in ihrer narrativen Struktur wahrzunehmen und zu rekonstruieren.
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deln und aufeinander zu beziehen.14 Connell trägt mit ihrem Konzept der ‚hegemonialen Männlichkeit‘ der Vielfalt von Männlichkeiten Rechnung, indem sie deren relationalen Konstruktionscharakter betont. Das Kriterium der Relationalität meint, dass Männlichkeit nicht eine monolithische Kategorie ist, sondern sich allererst in Beziehungen konstituiert, und zwar sowohl in mann-männlichen Beziehungen als auch in Beziehung zu Weiblichkeit(en). Connells Konzept ermöglicht außerdem eine herrschafts- und machtkritische Betrachtung der Relationalität. Unter ‚hegemonialer Männlichkeit‘ ist das jeweilige zeit- bzw. epochenspezifische Leitbild von Männlichkeit zu verstehen, das sich in Differenz zu anderen, nicht dominanten Männlichkeiten sowie zu Weiblichkeit setzt. Diese Differenz ist gekennzeichnet durch Praktiken der sozialen und kulturellen Unterordnung, Unterdrückung und Ausgrenzung nicht-hegemonialer (‚untergeordneter‘, ‚marginalisierter‘) Männlichkeiten und Weiblichkeiten bzw. Männer und Frauen. Der von Connell gewählte Ansatz schließt unter Rückgriff auf Gramscis Begriff der Hegemonialität ausdrücklich die gesellschaftliche Zustimmung zu den jeweiligen Herrschaftsverhältnissen ein. Dies vor allem durch die Kategorie der ‚komplizenhaften Männlichkeit‘, worunter zu verstehen ist, dass auch Männer, die das Leitbild der ‚hegemonialen Männlichkeit‘ nicht selbst verkörpern bzw. repräsentieren, dieses gleichwohl affirmieren (vgl. Connell 1999: 99ff). Der Ansatz schließt ferner keinesfalls aus, dass nicht auch Frauen die hegemoniale Männlichkeit stützen. Die ‚hegemoniale Männlichkeit‘ ist eine geschlechtersoziologische Strukturkategorie, was aber nicht meint, dass sie eine historische und gesellschaftliche Invariante wäre. Im Gegenteil, sie stellt den gesellschaftlichen Wandel in Rechnung, indem sie zum einen von jeweilig unterschiedlichen historisch-kulturellen Gestalten der hegemonialen Männlichkeit ausgeht und zum anderen auch die individuellen wie kollektiven Ausprägungen alternativer Geschlechterpraktiken mitthematisiert. Folgt man den Annahmen Connells, so lässt sich von Männlichkeit im Plural nur unter Beachtung ihrer doppelten Relationalität und ihrer Situierung in einem Machtdispositiv reden. Will nun eine männlichkeitsreflexive Literaturwissenschaft das Konzept auf ihren Gegenstands14 | Vgl. zur Kritik vor allem an der Unschärfe des Konzepts die Beiträge in Dinges (2005) sowie mit Blick auf eine Ausdifferenzierung und weitere Anwendung des Konzepts Meuser/Scholz (2012: 23-40).
Männlichkeiten und Emotionen
bereich übertragen, so ergeben sich zumindest zwei Notwendigkeiten, die bei der konkreten Analyse von Texten zu beachten sind: Zum einen wird sich die Untersuchung von Männlichkeit nicht primär auf einzelne männliche Protagonisten, etwa mittels einer simplifizierenden Figurencharakterisierung, beschränken können. Vielmehr gilt es, männliche Figuren in ihren Beziehungen zu anderen männlichen und zu weiblichen Figuren zu sehen und darüber hinaus diese Beziehungen als Prozess zu betrachten. Für eine solche Betrachtungsweise bietet sich der Begriff der Konfiguration an: Männlichkeit wird in literarischen Texten konfiguriert, sie stellt sich als eine mehrstellige Konfiguration-in-Bewegung her (vgl. Tholen 2005: 9-16, 35-126). Sehr deutlich wird dies etwa in Goethes Faust, wo Männlichkeit sich als komplexes Gefüge durch das Zusammenwirken der Figuren herstellt. Die Übertragung von Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit auf die Analyse und Interpretation literarischer Texte macht eine zweite Überlegung, die mit der ersten unmittelbar zusammenhängt, notwendig. Selbstverständlich ist es möglich und auch legitim, in literarischen Texten Männerfiguren aufzuspüren, die den soziologischen Kategorien ‚hegemonialer‘, ‚komplizenhafter‘, ‚marginalisierter‘ Männlichkeit zuzuordnen sind. Darin allein kann sich aber eine die ästhetische Dimension des Textes fokussierende Lektüre nicht erschöpfen. Literatur bildet nicht soziologische Kategorien einfach ab, sondern stellt sie ästhetisch dar. Für die Analyse von Literatur sind Connells Kategorien genau dann brauchbar und nützlich, wenn man ihren genuin soziologischen Anspruch einklammert, das heißt, wenn man sie im Lichte konkreter literarischer Figuren und einzelner Texte in Szene gesetzt anschauen und reflektieren kann; anders gesagt: wenn sie als bewegliche geschlechtliche Positionierungen innerhalb eines ästhetischen Spiels gesehen werden, das den Geschlechtertext öffnet und dadurch Männlichkeit in ihren einzelnen Gestalten, in ihrer Polyperspektivik und in ihrer ganzen Ambiguität wahrnehmbar werden lässt. Connells Ansatz zeichnet eine solche, auch die inneren Widersprüche und Übergänge berücksichtigende Sichtweise im Übrigen vor, wenn sie neben den Kategorien Macht und Produktion eine weitere, für den Zusammenhang von literarischen Männlichkeiten und Emotionen besonders einschlägige Untersuchungsebene etabliert: die der emotionalen Bindungsstrukturen. Connell expliziert sie in Anlehnung an Freud unter dem Begriff der ‚cathexis‘ und meint damit „the construction of emotio-
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Männlichkeiten in der Literatur
nally charged sozial relations with ‚objects‘ (i.e. other people) in the real world“ (Connell 1987: 112). Connell stellt dabei vor allem Freuds Analysen der Ambivalenz von Gefühlsbeziehungen zwischen den Geschlechtern, aber auch zwischen Gleichgeschlechtlichen in den Vordergrund. Die Aufmerksamkeit für die Ambivalenzen in dieser doppelten Relation ermöglicht einen komplexen Blick auf die zirkulierenden emotionalen Energien in literarischen Männlichkeitskonfigurationen.15 Ferner kann man dem Ansatz Connells entnehmen, dass die Beschreibung von Emotionen immer auch mit den anderen Dimensionen ‚Macht‘ und ‚Produktion‘ verwoben und damit auf die Prozesse der (Wieder-)Herstellung hegemonialer Männlichkeit bzw. männlicher Herrschaft bezogen ist. Daraus ergeben sich mindestens zwei Perspektiven für die literaturwissenschaftliche Analyse. Die erste ist, in Texten danach zu suchen, welche Gefühlssituationen und konkreten Gefühle zur Reproduktion hegemonialer Männlichkeit in mann-männlichen und in den männlichweiblichen Konstellationen führen.16 Die zweite ist, nach alternativen, die hegemoniale Männlichkeit konterkarierenden Gefühlsäußerungen und emotionalen Praktiken in der Literatur zu suchen, nach Spuren einer liebenden, fürsorglichen und hingebungsvollen Männlichkeit, die in der Tat einen utopischen Horizont aufrisse, der vor allem in der Literatur seinen Ort und seine Realisierung findet.17 Jedenfalls würde die Literaturwissenschaft mit einer solchen Perspektive einen nicht unbeträchtlichen gesell15 | Vgl. zur Anwendung von Connells Konzept der emotionalen Bindungsstrukturen auf die literaturwissenschaftliche Erforschung von Männlichkeit Tholen (2005: 12 u. 18). Auch Martin Blawid geht in seiner Untersuchung literarischer Männlichkeitsentwürfe im 18. Jahrhundert von dieser Untersuchungsebene aus und arbeitet in seinen theoretischen Rahmenüberlegungen u.a. die Widersprüchlichkeit der männlichen Sehnsucht nach Gefühlen bei gleichzeitiger Abwehrhaltung heraus. Er rekurriert dabei insbesondere auf die Arbeiten zur männlichen Sozialisation von Lothar Böhnisch (vgl. Blawid 2011: 16-22 u. 109f.). 16 | Auf dem Feld der Soziologie hat Sylka Scholz damit begonnen, diese Perspektive in ihren Forschungen zur Männlichkeit zur Geltung zu bringen (vgl. dazu Scholz 2012: 28). 17 | Die beiden von Connell aus entwickelten Perspektiven liegen in der methodischen Figur einer ‚doppelten Optik‘ auf kanonische Texte der Tradition meinem Buch Verlust der Nähe (2005: 16-21) zugrunde.
Männlichkeiten und Emotionen
schaftlichen Beitrag zur Neugestaltung des Geschlechterverhältnisses sowie der sozialen Beziehungen insgesamt leisten. Dass dabei dem Gefühl der Liebe eine besondere Aufmerksamkeit in unterschiedlichen Disziplinen zukommen sollte, betonen männliche Männlichkeitsforscher schon seit einigen Jahren.18 Und Bestätigung erhält die Suche nach alternativen Formen emotionaler Männlichkeit ferner durch die Untersuchungen von Eva Illouz über die gegenwärtige Ökonomisierung der Gefühle und insbesondere der Liebe, die zu neuen Formen der emotionalen Herrschaft von Männern über Frauen führe. Eins der Schlussstatements ihres Buches Warum Liebe weh tut lautet: „Statt den Männern ihre emotionale Unfähigkeit einzuhämmern, sollten wir Modelle emotionaler Männlichkeit herauf beschwören, die nicht auf sexuellem Kapital beruhen.“ (Illouz 2011: 440) Die Literaturwissenschaft kann sich an einem solchen Projekt beteiligen, sie muss die gesuchten Bilder und Gestaltungen emotionaler Männlichkeit aber nicht „herauf beschwören“, sondern sie in den Texten der Überlieferung und der Gegenwart geduldig suchen und deutlich markieren; ihnen mehr Gewicht geben als bisher.
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Männlichkeiten in der Literatur
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Männlichkeiten und Emotionen
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‚Krise der Männlichkeit‘ Zur Konzeptualisierung eines häufig verwendeten Topos
Seit einigen Jahren wird in der Öffentlichkeit (wieder) über die ‚Krise der Männer‘ bzw. die ‚Krise der Männlichkeit‘ und im Zusammenhang von Bildung und Erziehung auch über die ‚Krise der Jungen‘ debattiert. Und die mittlerweile in einigen wissenschaftlichen Disziplinen etablierte Männlichkeitsforschung reagiert darauf im Bemühen, den Krisendiskurs möglichst komplex einzuordnen, zu beurteilen und ihn darüber hinaus für die Fokussierung der eigenen Fragestellungen zu nutzen (vgl. Bereswill/Neuber 2011). Während die einen die Rede von der ‚Krise der Männlichkeit‘ kritisch als reine Männerphantasie und als Strategie der ‚Resouveränisierung‘ deuten (vgl. Forster 2006), andere sie unaufgeregt als konstitutiven Bestandteil der unterschiedlichen Erzählungen von Männlichkeit in der Geschichte der modernen Literatur einstufen (vgl. Erhart 2005), stehen die Beiträge einer Ausgabe der Zeitschrift L’Homme zum Thema „Krise(n) der Männlichkeit?“ (2008) ganz im Zeichen der Frage, wie mit dem Begriff der Krise – wenn überhaupt – in der historischen Erforschung der Männlichkeitsgeschichte adäquat zu verfahren sei. Ohne Zweifel, so Claudia Opitz-Belakhal und Christa Hämmerle im Editorial, habe das Thema in letzter Zeit großes Interesse auf sich gezogen, weil es sowohl auf die in der Geschichte beobachtbaren Erschütterungen von Männlichkeitsnormen und –bildern aufmerksam mache als auch erlaube zu zeigen, „wie solche Erschütterungen sich ihrerseits im historischen Prozess niederschlagen konnten“ (Opitz-Belakhal/Hämmerle 2008: 7). Allerdings bleibe das Krisenkonzept in der Geschlechterforschung auch nicht ohne Widerspruch, weil es zwar häufig gebraucht, aber nur wenig reflektiert werde und vor allem, weil sich mit dem Diskurs von der Krise
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Männlichkeiten in der Literatur
der Männlichkeit auch Strategien männlicher Resouveränisierung verbänden. Im Bemühen, das Konzept der ‚Krise der Männlichkeit‘ als ein ‚nützliches Konzept der Geschlechtergeschichte‘ zu statuieren, wie es Opitz-Belakhal in L’Homme in einem eigenen Beitrag programmatisch formuliert, wird deutlich, dass man, historisch und gesellschaftlich betrachtet, seine Anwendung nicht nur auf die Gegenwart beschränken kann, sondern – mit Rückgriff auf Reinhart Kosellecks Krisenbegriff – davon ausgehen muss, dass die ‚Krise der Männlichkeit‘ schon so lange andauert wie die Moderne selbst. Der Topos wird in einer solch weiten historiographischen Anwendung zur Chiffre für einen schleichenden geschlechtergeschichtlichen Transformationsprozess, der Bewegung und Wandel im Verhältnis der Geschlechter und damit auch im Konzept von Männlichkeit erkennbar macht. Mit dem Fokus auf Bewegung und Wandel verbindet sich beinahe zwangsläufig der Ausblick auf Imaginationen und Praktiken der Überwindung der Krise, die in zweierlei Richtung erfolgen kann: zum einen in Richtung Wiederherstellung der traditionellen Geschlechterordnung, vor allem durch Strategien männlicher Resouveränisierung; zum anderen in Richtung einer Erfindung und Etablierung neuer Geschlechtervorstellungen und –praktiken, die Männlichkeit anders als bisher denken ließen, und d.h. auch jenseits der stets von neuem artikulierten Krisendiskurse. In der Tat ist die ‚Krise der Männlichkeit‘, von der auch gegenwärtig noch die Rede ist, nicht erst ein Ausfluss der soziokulturellen Entwicklung der letzten ein oder zwei Jahrzehnte. Der kulturellen Moderne zumindest ist sie schon lange als Topos und Diskurs eingeschrieben, wenn auch nicht immer explizit unter dem Stichwort einer ‚Krise der Männlichkeit‘ bzw. ‚des Mannes‘. Mit der Hypostasierung des autonomen, handlungsmächtigen, männlich konnotierten Subjekts im 18. Jahrhundert verbindet sich fast zeitgleich dessen Kritik und die Erfahrung seiner Instabilität. Gingen etwa in der deutschen Literatur und Kultur die Autoren des Sturm und Drang als jugendliche Rebellen gegen patriarchale Vorstellungen von Moral, Familie und Standesdenken an, so führten die Romantiker um und nach 1800 ganz offen die Fragwürdigkeit eines rationalistisch vereinseitigten, männlich-bürgerlichen Subjektdenkens vor Augen, das die andauernde Krise, auch in Bezug auf die Leitbilder von Männlichkeit, allererst schuf.
‚Krise der Männlichkeit‘
Von diesem Befund ausgehend, plädiere ich dafür, über den Sinn der anhaltenden Rede von der ‚Krise der Männlichkeit‘ durchaus weiter nachzudenken und ihn im Zusammenhang des modernen Subjektdiskurses zu entfalten. Beginnen wir damit, ‚Krise‘ als diskursive Markierung eines historischen Augenblicks zu verstehen, in dem das Nicht-Funktionieren von sozialen Beziehungen, vor allem auch von Beziehungen zwischen den Geschlechtern, besonders stark wahrnehmbar wird. Die Störungen im Geschlechterverhältnis sind dabei keineswegs als ein nur momentan emergierendes Geschehen zu begreifen, sondern sie sind vielmehr Resultat einer sich über lange Zeiträume erstreckenden und seit einiger Zeit – wieder einmal – kulminierenden Entwicklung. Es lässt sich beobachten, dass der Wandel von Männlichkeit und ineins damit der mögliche Wandel im Geschlechterverhältnis gegenwärtig unter verschärften Ausgangsbedingungen steht, insofern sich neue, besonders aggressive Formen hegemonialer Männlichkeit vor allem im Rahmen einer alles beherrschenden neoliberal-kapitalistischen Ökonomie im globalen Maßstab herausbilden (vgl. Scholz 2009). Unter solchen Bedingungen fungiert die persistente Rede von der ‚Krise der Männlichkeit‘ in zweierlei Weise: Zum einen als Ideologem; als solches verdeckt sie die dauernde Re-Produktion männlicher Hegemonialität in allen möglichen Diskurszusammenhängen und Alltagspraktiken. Zum anderen fungiert sie als Symptom für eine Lücke bzw. für ein Ausbleiben: Männlichkeit wird auch gegenwärtig als krisenhaft wahrgenommen, thematisiert und nicht selten dramatisiert, weil sie sich in Bezug auf die sozialen Beziehungen weiterhin, und d.h. trotz aller feministischer Kritik an ihrer (heteronormativen) Hegemonialität, dysfunktional gestaltet. Der Grund für diese Dysfunktionalität liegt vor allem in einem fortdauernden Ausbleiben einer konstruktiven und authentischen Dialogkultur zwischen den Geschlechtern, die auch von männlicher Seite aus zu initiieren und zu gestalten wäre. Kulturtheoretisch betrachtet, macht es also Sinn, von einer ‚Krise der Männlichkeit‘ zu sprechen, wenn darunter verstanden wird, dass diese Krise Resultat einer in vielen Bereichen wirkungslos gebliebenen Kritik an der Dominanzstruktur von Männlichkeit und vor allem an der kulturellen Hegemonie ihrer zentralen Repräsentationsfigur, des Subjekts, ist. Die relative Wirkungslosigkeit der Kritik hat auf dieser theoretischen Referenzebene, also auf der Ebene des Subjektdiskurses, damit zu tun, dass im historisch-kulturellen Prozess der Konstituierung von Männlichkeit bisher etwas ausgeblieben ist, nämlich die Konfigurierung einer dialogi-
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Männlichkeiten in der Literatur
schen Subjektivität, welche der Grund einer Männlichkeit wäre, die sich allererst in der Bedürftigkeit – im Gespräch, in der Liebe, in der Sorge um sich selbst und um andere – selbst hätte. Es gibt zwar vereinzelt Spuren einer solchen dialogischen Subjektivität in der männlichen Überlieferung, sie hat sich aber bis heute kulturell nicht durchgesetzt (vgl. Tholen 2005). Eine der stärksten kulturellen Erschütterungen von Männlichkeit im fortgeschrittenen 20. Jahrhundert ist auf die radikale Infragestellung des Subjekts, ausgehend von den französischen Vordenkern der Postmoderne, zurückzuführen. Denker wie Foucault, Derrida und Barthes lösten seit den 1960er Jahren mit ihren Formeln vom ‚Verschwinden‘ bzw. von der ‚Dekonstruktion‘ des Subjekts sowie vom ‚Tod des Autors‘ weit über die Philosophie hinaus Irritationen und Verstörung aus, zumal in ihren Texten sichtbar wurde, dass sie mit der Attacke auf das Subjekt als epistemologische Grund- und Orientierungskategorie vor allem auch eine Kritik phallogozentrischer Herrschaft verbanden, was zahlreiche Vertreterinnen des Feminismus ermunterte, sich der männlichen Kritik an den Grundkategorien der kulturellen männlichen Hegemonie anzuschließen. Die Kritik an der Männlichkeit und die damit ausgelöste Krise männlicher Repräsentation(en) haben sich letztlich jedoch nicht wirklich verändernd auf die hegemoniale Konzeptbildung selbst ausgewirkt. Von heute aus betrachtet ist daher Ernüchterung geboten, nicht jedoch Resignation. Der theoretisch avancierte Angriff auf den Phallogozentrismus des Denkens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat bisher nicht wirklich zu einer Transformation männlicher Subjektivität geführt. Daraus wäre vielleicht die Konsequenz zu ziehen, in aller Geduld, Nachdrücklichkeit und in theoretischer Selbstbescheidung nach kulturellen und insbesondere ästhetischen Konfigurationen Ausschau zu halten, die utopische Spuren einer anderen Männlichkeit und eines anderen Verhältnisses der Geschlechter enthalten. Manche Texte der neueren und neuesten Literatur entfalten durchaus und sehr eindringlich Konfigurationen einer nicht-hegemonialen männlichen Existenzweise, deren Sichtbarmachung eine der vordringlichen Aufgaben literaturwissenschaftlicher Deutung und Vermittlung wäre.
‚Krise der Männlichkeit‘
L iter atur Bereswill, Mechthild/Neuber, Anke (Hg.) (2011): In der Krise? Männlichkeiten im 21. Jahrhundert, Münster. Erhart, Walter (2005): Das zweite Geschlecht: „Männlichkeit“, interdisziplinär. Ein Forschungsbericht, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 30, H. 2, S. 156-232. Forster, Edgar (2006): Männliche Resouveränisierungen, in: Feministische Studien 24, H. 2, S. 193-207. Opitz-Belakhal, Claudia/Hämmerle, Christa (Hg.) (2008): L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 19, H. 2. Scholz, Sylka (2009): Männer und Männlichkeiten im Spannungsfeld zwischen Erwerbs- und Familienarbeit, in: Aulenbacher, Brigitte/ Wetterer, Angelika (Hg.): Arbeit. Perspektiven und Diagnosen der Geschlechterforschung, Münster, S. 82-99. Tholen, Toni (2005): Verlust der Nähe. Reflexion von Männlichkeit in der Literatur, Heidelberg.
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Männerbilder im Wandel? Beobachtungen zur Literatur des beginnenden 21. Jahrhunderts
1. E inleitende B emerkungen zur E rforschung von M ännerbildern und M ännlichkeiten Die noch recht junge literatur- und kulturwissenschaftliche Männlichkeitsforschung hat in den letzten zwanzig Jahren und vereinzelt auch schon früher interessante Einsichten in Bezug auf das dominierende Männerbild einer bestimmten Epoche hervorgebracht. So zum Beispiel Klaus Theweleits Männerphantasien (Theweleit 1980) in Bezug auf die Formierung des soldatisch-faschistischen Mannes in der Weimarer Republik oder auch George L. Mosse in seinem Buch Das Bild des Mannes, das von der These der Fundierung des modernen Männlichkeitsideals am Ende des 18. Jahrhunderts ausgeht. Das ‚maskuline Stereotyp‘ umfasst vor allem männliche Charaktereigenschaften wie Mut, Willensstärke und Ehrgefühl sowie eine spezifische geistig-körperliche Ausprägung, die in Zuschreibungen wie Mäßigung, Selbstkontrolle und in einem gesunden und wohlgeformten Körper Gestalt gewinnt (vgl. Mosse 1997: 9-56). Ähnlich wie Theweleit entwirft auch Mosse das moderne Bild des Mannes stark auf den faschistischen Mann hin, wie er sich bereits ab 1909 in Marinettis futuristischen Manifesten kulturell zu formen beginnt und dann im Nationalsozialismus ganz real wird. Bei aller Instruktivität solcher Studien, welche auch Langzeitentwicklungen in der Geschichte der Konstruktion von Männlichkeit aufzeigen, greifen sie doch für die Untersuchung von Männlichkeitsbildern und ihres möglichen Wandels in der Gegenwart zu kurz. Und zwar nicht nur, weil der Schwerpunkt ihres Untersuchungszeitraums die literarische und kulturelle Moderne bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ist, sondern auch,
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Männlichkeiten in der Literatur
weil sie Männlichkeit in nur einem maskulinen Leitbild aufgehen lassen. In der gegenwärtigen Männlichkeitsforschung herrscht dagegen breiter Konsens, dass von Männlichkeit nurmehr im Plural gesprochen werden kann.1 Das meint nicht Beliebigkeit, sondern Differenzierung. Freilich wird man historisch wie gegenwartsanalytisch von jeweils dominierenden Leitbildern von Männlichkeit ausgehen müssen, die nach Raewyn Connell die jeweilige historisch-kulturelle Ausprägung der ‚hegemonialen Männlichkeit‘ verkörpern.2 Dass sich trotz aller beobachtbaren Wandlungsprozesse in der gegenwärtigen Gesellschaft und Kultur Männlichkeit immer wieder als hegemonial und dominant rekonstituiert, ist eine Beobachtung nicht nur der soziologischen Geschlechterforschung, sondern lässt sich auch in literarischen Texten der Gegenwart zeigen.3 Connell selbst hat darüber hinaus die Einsicht in die Notwendigkeit, von Männlichkeit im Plural zu sprechen, in einen Theorierahmen überführt.4 So unterscheidet sie die Erscheinungsformen hegemonialer Männlichkeit von denen ‚komplizenhafter‘ und ‚marginalisierter‘ Männlichkeit. Komplizenhafte Männlichkeit bezeichnet die Einstellungen, Positionen und Präferenzen von Männern, die zwar nicht direkt an der Macht und dem Einfluss der Repräsentanten hegemonialer Männlichkeit partizipieren, von ihr aber qua impliziter oder expliziter Zustimmung profitieren. Unter die Kategorie untergeordnete bzw. marginalisierte Männlichkeit fallen all diejenigen Ausprägungen von Männlichkeit, die aus sozialen, wirtschaftlichen, ethnischen, sexuellen und anderen Gründen vom Leitbild der hegemonialen Männlichkeit abweichen und deren Träger von den herrschenden Männern unterdrückt oder ausgegrenzt werden. Connells Entwurf ermöglicht es, Männlichkeit in zwei Richtungen als relationale Kategorie zu etablieren, insofern sie Männlichkeit in Bezug auf Weiblichkeit, aber auch in Bezug auf andere Männlichkeiten analysierbar macht.
1 | Vgl. dazu etwa Brod/Kaufman (1994); Connell (1995). Vgl. für einen neueren Überblick über die mittlerweile weit verzweigte kulturwissenschaftliche Männlichkeitsforschung Erhart (2005). Vgl. zur Vielfalt von Männerbildern und –symbolen in der Geschichte der abendländischen Literatur Tholen (2008a). 2 | Vgl. Connell (1987: 183ff.). Vgl. zur Rekonstruktion des Konzepts ‘hegemonialer Männlichkeit‘ als Leitkategorie der Männlichkeitsforschung Meuser (2006). 3 | Vgl. dazu Kapitel 2. 4 | Vgl. zum Folgenden Connell (1999: 98-102).
Männerbilder im Wandel?
Für die literaturwissenschaftliche Analyse von Männerbildern in Texten ist diese doppelte Blickrichtung fruchtbar zu machen, insofern diese Bilder immer Resultat einer Konfiguration sind. Männerbilder entstehen in literarischen Medien in mann-männlichen oder in mann-weiblichen Konfigurationen, sie konstituieren sich in Narrationen, und darüber hinaus in der Zirkulation, Überkreuzung und Gegenläufigkeit von Diskursen, Imaginationen und erotischen Besetzungen.5 Sie formieren sich beispielsweise in Vater-Sohn-Geschichten, in Liebesromanen zwischen Männer- und Frauenfiguren oder etwa wie im Falle des Gesellschaftsromans in geschlechtlich markierten Kollektiven. Von daher kompliziert sich die Sachlage, wenn man versucht, soziologische Unterscheidungen auf ästhetische Medien zu übertragen. Selbstverständlich ist es möglich, in literarischen Texten Männerbilder zu finden, die sich mehr oder weniger eindeutig der soziologischen Kategorie hegemonialer oder marginalisierter Männlichkeit zuordnen lassen. Darin aber kann sich eine die ästhetische Komplexität des Textes berücksichtigende Lektüre nicht erschöpfen. Literatur bildet nicht soziologische Kategorien und Tatbestände einfach ab, sondern stellt sie ästhetisch dar. Darstellung heißt hier, dass der Text sie ästhetisch-narrativ (re)inszeniert und dabei die Möglichkeit entsteht, dass scheinbar feststehende Männerbilder und Männlichkeitskonstrukte in ihrer Vielschichtigkeit und wechselseitigen Überlappung sowie in ihrer Ambiguität und Brüchigkeit und schließlich auch in ihrer Wandelbarkeit bzw. in ihrem utopischen Potenzial wahrnehmbar und darüber hinaus Gegenstand der Reflexion werden können. Und dies alles sowohl im einzelnen Text als auch zwischen Texten, also in der intertextuellen Dimension.6 Stellt sich nun unter dem Eindruck des gesellschaftlichen Wandels der letzten zwei bis drei Jahrzehnte, der sich am ehesten wohl unter dem Stichwort Globalisierung auf den Punkt bringen ließe, die Frage, ob sich damit auch die Männerbilder verändern bzw. verändert haben und ob sie sich speziell auch in der Literatur zu verändern begonnen haben, dann wäre zunächst einmal zu klären, welche neuen Männerbilder denn ei5 | Vgl. zur Konfigurationsanalyse von Männlichkeit im Zusammenhang mit dem Konzept hegemonialer Männlichkeit Tholen (2005: 9-16). Vgl. zur Narrativität von Männlichkeit Erhart (2005: 215-218). 6 | Vgl. zur Intertextualität von Männerbildern und –erzählungen die Literaturanalysen in Tholen (2005).
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Männlichkeiten in der Literatur
gentlich im Umlauf sind. Ausschließlich im Rekurs auf die Literatur, und sei es nur auf die seit Beginn des 21. Jahrhunderts, ist diesbezüglich aber keine Klärung zu erwarten, da es potenziell mindestens so viele Männerbilder gibt, wie es literarische Texte gibt, also unüberschaubar viele. Um zumindest teilweise dem Dilemma zu entkommen, eine willkürliche Auswahl von Texten mit dem Ziel zu treffen, ein paar ebenso willkürliche Aussagen über literarische Männerbilder im beginnenden 21. Jahrhundert zu machen, rekurriere ich noch einmal auf die aktuelle soziologische Männerforschung. Es wird durchweg darauf hingewiesen, dass sich bei aller geschlechtertheoretischen Reflexion, bei aller Gleichstellungspolitik, bei aller kulturellen Öffnung, die in jüngerer Zeit zur Infragestellung traditioneller geschlechtlicher Normen und Rollenerwartungen geführt hat, eines nicht ereignet hat, nämlich die Aufhebung männlicher Hegemonialität und Dominanz auf den verschiedenen Feldern gesellschaftlicher und kultureller Praxis.7 Auch wenn die mittlerweile schon seit Jahren gepflegte Rede von der ‚Krise des Mannes‘ die Fragwürdigkeit und auch die Brüchigkeit traditioneller, mit Erfolgserwartungen verbundener männlicher Identitäts- und Verhaltensmuster benennt, diagnostiziert die Geschlechter- und Männlichkeitsforschung gleichzeitig neue Formen hegemonialer Männlichkeit.8 Im Zuge der Durchsetzung eines global agierenden Unternehmertums unter der Fahne des Neoliberalismus bilde sich der Typus einer „Front-Männlichkeit“ (Connell 1998: 97) heraus, der ganz in der kapitalistischen Wettbewerbslogik aufgehe, sich durch besondere Aggressivität, gesteigerten Egozentrismus, relativierte Loyalitäten, sinkendes Verantwortungsgefühl gegenüber anderen und eine libertäre Sexualität, die die Tendenz zu käuflichen Beziehungen zu 7 | Vgl. zur Begründung dieser Diagnose vor allem Meuser (2008). Meuser leitet die Persistenz hegemonialer Männlichkeit aus Bourdieus Theorem der ‚ernsten Spiele des Wettbewerbs‘ her, welche ein grundlegendes Mittel männlicher Sozialisation seien. 8 | Vgl. zur Kritik der Rede von der ‚Krise des Mannes‘ als Männerphantasie Forster (2006: 194). Forsters Diagnose der Resouveränisierung bezieht sich auch auf Diskurse der Männlichkeitsforschung selbst. Vgl. zum Zusammenhang von Krise und Wandel von Männlichkeit die Beiträge in L’Homme (2008). Vgl. zur gegenwärtigen Neuformierung hegemonialer Männlichkeit etwa Böhnisch (2008). Vgl. zur Diskussion der Rede von der ‚Krise des Mannes‘ in literaturwissenschaftlicher Perspektive Tholen (2008b: 224-226).
Männerbilder im Wandel?
Frauen hat, auszeichne. Repräsentanten solcher Front-Männlichkeit sind vor allem die Manager transnationaler Unternehmen, aber auch Sportler und Männer in anderen prestigeträchtigen Berufsfeldern. Während bei diesem Typus die hegemoniale Männlichkeit nur eine neue zeitgemäße Form findet, deren Bilder und Figurationen, wie sich zeigen wird, auch in der neuesten Literatur zu finden sind, findet ein qualitativer Wandel der Männerbilder auf zwei anderen Ebenen statt: Zum Ersten werden in der Männer- und Geschlechterforschung seit geraumer Zeit verstärkt Formen und Erscheinungsweisen marginalisierter Männlichkeit thematisiert.9 Mit diesem Konzept werden nach Connell „Beziehungen zwischen Männlichkeiten dominanter und untergeordneter Klassen oder ethnischer Gruppen“ (Connell 1999: 102) beschrieben. Der Fokus richtet sich damit auf die Erfassung und Beschreibung von Prozessen der Marginalisierung von Männern bzw. Männlichkeit, und zwar in Relation zu Prozessen der Ermächtigung hegemonialer Männlichkeit dominanter Gruppen. Dass solche Prozesse der Marginalisierung sich auch in literarischen Erzählungen vollziehen, wenngleich nicht zwangsweise in sozialen Gruppen, liegt auf der Hand. In literaturwissenschaftlicher Perspektive bedürfte es aber allererst noch einer breiteren Diskussion und Forschung darüber, was sich in Bezug auf literarische Narrationen unter marginalisierter Männlichkeit verstehen lässt. Ein paar konzeptionelle Anregungen möchte ich hier geben und sie in einer ausschnitthaften Analyse an unterschiedliche Texte der Gegenwartsliteratur herantragen. Es handelt sich um Texte, in denen gerade männliche Figuren im Zentrum stehen, die in eine marginalisierte Situation geraten und darin bleibend hegemoniale Männlichkeit und Männerbilder konterkarieren. Zum Zweiten wird in der Öffentlichkeit seit einiger Zeit neben dem Bild des ‚neuen Mannes‘ auch das des ‚neuen Vaters‘ lanciert.10 Dass man es keineswegs nur mit einem Medienphänomen zu tun hat, zeigt sich an 9 | Vgl. in soziologischer Perspektive neuerdings die entsprechenden Beiträge in Baur/Luedtke (2008). Unter dem Konzept ‚marginalisierte Männlichkeiten‘ werden allerdings ohne eingehendere theoretische Begründung junge Männer, untere Schichten, ethnische Minderheiten und abweichende Sexualitäten subsumiert (vgl. ebd. S. 11f.). 10 | Vgl. dazu Baader (2006). Vgl. zum Zusammenhang der öffentlichen Thematisierung der ‚Krise des Mannes‘, des ‚neuen Mannes‘ und der darin versteckten Strategien männlicher Resouveränisierung Casale/Forster (2006).
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der Aufmerksamkeit, die dem real zu beobachtenden Wandel des Vaterbildes gegenwärtig in der Geschlechter- und Männlichkeitsforschung zuteil wird.11 Als ‚neue Väter‘ werden Männer bezeichnet, die die traditionelle Auffassung von Vaterschaft, die um die Allein-Ernährerrolle und die autoritäre Position innerhalb der Familie zentriert ist, zunehmend in Frage stellen und sich öffnen für veränderte Formen der familiären Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern.12 Sie charakterisieren sich durch ihre Bereitschaft, zugunsten der Familie Ansprüche auf Berufsarbeit auch in zeitlicher Hinsicht zu überdenken. Die Veränderung in der Lebensweise der ‚neuen Väter‘ erfolgt vor allem durch die Übernahme von traditionell weiblich codierten Fürsorgepraktiken gegenüber den Familienangehörigen, insbesondere gegenüber den eigenen Kindern. Daraus erwächst, zumindest als Idealvorstellung, eine engere Beziehung zu den Kindern und eine besondere Qualität in der Paarbeziehung. Dass eine solchermaßen ‚neue Vaterschaft‘ bisher allerdings über den Status eines Wunschbildes kaum hinausgeht, zeigen aktuelle Studien übereinstimmend.13 Hier wird konstatiert, dass trotz des nachhaltigen Wandels der Arbeitsverhältnisse (Abnahme der Vollerwerbsarbeit, Zunahme von prekarisierten Arbeitsverhältnissen auch für Männer) das Ideal der männlich geprägten Vollerwerbsarbeitskultur gesellschaftlich noch immer dominant ist und folglich Männer, die als Väter nach alternativen Formen männlich-familialer Existenz suchen, in biographische Ambivalenzen und Widersprüche geraten. Zudem wird auch darauf verwiesen, dass es auf der Ebene der symbolischen Konstruktion von Männlichkeit zu wenige alternative Erzählungen gäbe, die Männlichkeit jenseits der Erwerbsarbeit konstituieren (Scholz 2009: 87). Hier werden meine eigenen Überlegungen zu den ‚neuen Vätern‘ in der Literatur des beginnenden 21. Jahrhunderts einhaken. Es existieren solche alternativen Erzählungen vereinzelt schon, allerdings in einer spezifischen narrativen Konstruktion und darüber hinaus in einer ungewöhnlichen Amalgamierung von Familiendasein und 11 | Vgl. dazu den Forschungsüberblick in Kassner (2008) und in Erhart (2004: 52f.). 12 | Vgl. dazu und zum Folgenden Kassner (2008: 144-146). 13 | Vgl. Kassner (2008: 160) und Scholz (2009: 86ff). Böhnisch zeigt auf, in welcher Form der ‚digitale Kapitalismus‘ Versuche konterkariert, dass Männer ihrem Wunsch nach familialer Teilhabe auch Taten folgen lassen können (vgl. Böhnisch 2008: 66f.).
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Berufsausübung, insofern Vätertexte von schreibenden Männern in den Blick geraten.
2. ‚F ront -M ännlichkeiten ‘ Connell hat den Begriff ‚Front-Männlichkeiten‘ im Zusammenhang einer skizzenhaften Analyse der Globalisierung von Männlichkeiten in die Diskussion eingeführt.14 Sie leitet ihn hauptsächlich vom neuzeitlichen Kolonialismus her, verallgemeinert aber die damit verbundenen Praktiken der Eroberung und Besetzung zu einer Grunddisposition moderner Männlichkeiten. Mit ‚Front-Männlichkeiten‘ verbindet sie einen ungewöhnlichen Grad an Gewaltbereitschaft und egozentrischem Individualismus, wie sie sie auch bei den Akteuren hegemonialer Männlichkeit heute am Werke sieht: etwa in der aggressiven, egozentrischen und sexuell libertären Handlungsweise global operierender Wirtschaftsmanager. Solche Handlungsweisen übertragen sich im Prinzip auf alle gesellschaftlichen Felder, auch auf die narrativen Modellierungen von Männlichkeit in der Literatur, wo sie allerdings erzählerisch kommentiert und im Akt der Rezeption bewertet werden. An zwei vor einiger Zeit erschienenen Texten lässt sich dieser aggressiv-narzisstische, sexuell-libertäre Typus hegemonialer Männlichkeit besonders eindrücklich herausarbeiten. Zunächst an Thomas Klupps erfolgreichem Debütroman Paradiso (2009). Das Motto des Textes lautet: „Don’t put your faith, / don’t put your faith in me.“ (Klupp 2009: 5) Im Laufe der Lektüre des Romans klingt dieses Motto ständig nach, hat man es doch ausschließlich mit Szenen zu tun, in denen der Protagonist, Alex Böhm, ein Student der Potsdamer Filmhochschule, aus gutbürgerlicher Familie stammend, Frauen, die ihm auf seiner Autotramperreise durch Deutschland begegnen, sexuell fixiert und traktiert, und sie dabei auch gegeneinander ausspielt. In Bezug auf seine beiden engeren Freundinnen Leni und Johanna heißt es etwa: Ich mag ja die Rundungen und war mit Leni insgesamt glücklich, aber mir war trotzdem klar, dass ich bald umsatteln muss, wenn ich in Potsdam nicht vor die Hunde gehen will. Und das habe ich ja auch geschafft mit Johanna. Und Leni hat es eben14 | Vgl. hierzu und zum Folgenden Connell (1998: 96-100).
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falls geschafft. Sie hat abgenommen und holt jetzt das Maximum aus sich heraus. Sie ist jetzt die optimale Leni, sie ist die Leni, die sie im besten Fall sein kann. Sie kommt jetzt optisch zu mindestens neunzig Prozent an Johanna heran und vor ein paar Wochen waren es noch nicht einmal siebzig Prozent. Das freut mich wirklich für sie. (Klupp 2009: 152f.)
Der Roman besteht im Kern aus einer Textur von sexuellen Obsessionen, in denen der junge Mann stets Subjekt ist und mit anderen Männern in Konkurrenz um die von ihm begehrten Frauen steht: Seine sexuelle Initiation hat er als Jugendlicher mit einer Prostituierten in Tschechien, an der er sich erfolgreich ausprobiert. Auf einer Autoreise in seinen bayerischen Heimatort – darin besteht der Plot –, schätzt er Frauen nach ihrem Sexappeal ab und geht auf Autobahnraststätten in Erotheken, um Pornos zu schauen. Am Paradiso, einem See in der Nähe seiner Heimatstadt Weiden angekommen, trifft er seine Verflossene Leni bei einem Fest wieder. Nach einem kurzen Talk schläft er mit ihr, hat aber dabei auch alle anderen Frauen vor Augen, die er begehrt. Gegen Ende des Romans, der damit endet, dass Alex seine derzeitige Freundin Johanna wie verabredet am Flughafen trifft, resümiert Böhm seine sexuelle Erfolgsstory frank und frei: Meine Freudinnen sind mit der Zeit immer hübscher und charakterlich beeindruckender geworden, angefangen mit der tschechischen Prostituierten in Cheb über die verrückte Kerstin und dann die Nina und noch ein paar andere bis zu Leni. Das war eine einzige Erfolgsstory, ein permanentes Upgrading wenn man so will. Ich habe immer instinktiv gespürt, wer noch besser für mich ist und mich noch idealer weiterbringt und bin damit auch jedes Mal richtig gelegen. Und so wird es auch diesmal sein. So muss es einfach sein, sonst wäre diese Reise vollkommen trostlos und ganz und gar sinnlos obendrein. (Klupp 2009: 178)
Nun wäre es zu kurz gegriffen, die Subjektivität des männlichen Protagonisten in Klupps Roman so eindimensional zu bestimmen, wie es die Zitate nahelegen. Alex, der Ich-Erzähler, weiß um seine Hochstapelei, um seine Lügen und bisweilen thematisiert er auch die Trostlosigkeit seiner Situation. Auch der teils ironische, teils zynische, bewusst szene- und jugendsprachlich gefärbte Erzählton legt eine Distanz des Ich-Erzählers zu seinen eigenen Handlungen und Einstellungen nahe. Trotz aller erzählerischen Brechung und Distanznahme entsteht der Eindruck, dass einem
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eine solche männliche Figur heute begegnen kann. Mehr noch: Sie ist gerade in ihrer bewussten und bornierten Hybris, in ihrer Stereotypik zeitgemäß. Bestätigt wird dieser Eindruck, wenn man die Paratexte auf dem hinteren Buchdeckel – Auszüge aus Rezensionen – als Leserreaktionen hinzunimmt. Da schreibt etwa der Focus: „Mit erfrischendem Zynismus liefert Thomas Klupp das Porträt eines Lebenskünstlers. Eines Typen aus dem Hier und Jetzt, voller Widersprüche und Sehnsüchte. Nett ist dieser Alex Böhm und gleichzeitig bitterböse, freundlich und durchtrieben. Kurz: ein kleiner Dreckskerl – wie wir alle.“ (Klupp 2009: Paratext) Die Welt am Sonntag schreibt: „Ein Porträt über junge Männer, die bindungsunfähig sind, keine klaren Entscheidungen fällen können und sich für kleine Sonnengötter halten.“ (Ebd.) Die Zeit resümiert: „Am Ende glaubt man, einen kleinen Gesellschaftsroman der Gegenwart gelesen zu haben.“ (Ebd.) Alle Beurteilungen schreiben dem Text einen hohen Realitätsgehalt zu. Er scheint in der Tat einen Typus Mann zu beschreiben, wie er heutzutage anzutreffen ist. Und nicht nur das. Dieser Typus scheint auch männliches Identifikationspotenzial zu haben, wenn „wir alle“ uns in dem kleinen „Dreckskerl“ wiederfinden können. Wir haben es bei Alex Böhm mit einem männlichen Subjekt zu tun, das sich schon von Jugend an in die zeitgenössische Repräsentationsform der hegemonialen Männlichkeit initiiert. Gelebt wird sie von nomadisierenden, bindungslosen und aggressiv-erfolgsorientierten Männern, die Beziehungen zu Frauen ausschließlich zur Befriedigung eigener (Größen-)Phantasien und zur Luststeigerung eingehen. Einen neokapitalistischen Front-Mann stellt in avancierter Weise Marlene Streeruwitz in ihrem Roman Kreuzungen (2008) dar. Gegen Ende des Textes findet sich ein wohlkalkulierter Satz, der das ganze Projekt der Erzählung auf den Punkt bringt: „Es ging nur um ihn, aber dafür brauchte er sich ganz.“ (Streeruwitz 2008: 196) Erzählt wird von einem reichen Finanzmanager, dessen Projekt es ist, zu den reichsten Menschen der Welt zu gehören. Dazu gibt er sein bisheriges Leben auf und plant ein neues, mit einer anderen Frau, von der er auch Kinder haben will. Aus erster Ehe mit einer Wienerin namens Lilli, von der er sich scheiden lässt, hat er zwei Töchter. Ohne hier den Plot nacherzählen zu wollen, ist darauf hinzuweisen, dass der psychologische Antrieb der Erzählung das Motiv des Mannes ist, immerzu ein neues Leben beginnen zu wollen, mit noch mehr Geld, mit noch mehr Besitz, Schönheit und Befriedigung. Das Verblüffende an der Konstruktion der männlichen Figur ist, dass der Text
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den alten patriarchalen Mythos der männlichen Selbstschöpfung zu neuem Leben erweckt. In der Tat lebt und handelt der Manager in dem Bewusstsein, dass alles, einschließlich seiner eigenen Person, seine Schöpfung ist. Er erschafft sich, indem er sich, beinahe dialektisch, von sich entfremdet. Und dies geschieht dadurch, dass er sich in Gefahr bringt, das Riskante und Maßlose sucht und am Ende triumphiert: „Einer wie er“, heißt es im Modus erlebter Rede, der sich selbst erschaffen hatte müssen. Der musste in die Falle gehen. Der konnte nur herausfinden, wo sein Selbst war, wenn er es in Gefahr brachte, und am Ende triumphiert er. [...] Er lag da und war erschüttert. Erschüttert über sein Genie. Es war genial gewesen, eine Entfremdung einzuführen und damit einen Raum zu gewinnen, in dem er sich nicht auf eine bekannte Größe festlegen hatte müssen. [...] Ein Prinzip war das, das von vorneherein die Maße verteilt hielt. Er hatte das schon immer überspielt, in dem er seine Maße übertrieben hatte. Aber das hatte er müssen. Das war der Zwang einer Person, die von nirgendwo herkam und sich alles ausdenken hatte müssen. Aber das war dann auch der wahre Vorteil geworden. Weil er nichts von seiner Herkunft gewusst hatte, war er nicht festgelegt gewesen. Er hatte kein Superego, das ihn eingezwängt hätte und ihm gesagt, wie groß er sich angeben hätte dürfen. Welche Frau er wählen musste. (Streeruwitz 2008: 99f.)
In dieser Passage findet sich das Selbstbild des Mannes in toto: Er gewahrt sich als vollkommen autonom, ohne Herkunft, Bindung und Abhängigkeit, frei schaffend, wie ein künstlerisches Genie, das nur im Großen, im Übergroßen sein Werk und darin sich selbst findet. Was in dieses Selbstbild entscheidend auch hineingehört, ist die freie Wahl. Der Zugriff auf die Welt, und vor allem auch auf die Frauen, geht von ihm, einzig und allein von seiner Wahl aus. Und die Wahl der Frauen kristallisiert sich, schon ganz zu Beginn des Romans, zu einer Trias, die das Projektionsbild seiner zwischen ausschweifendem Sex und Familienbesitzlust changierenden Obsessionen ist: An der Lilli [seiner ersten Frau] liebte er das Gesicht und ihre Vorderseite. Die Rücken der kleinen Asiatinnen [die von ihm gern aufgesuchten Prostituierten] erhielten ihm die Vorderseite seiner Frau. Die drei Teile des Bilds waren es, die er in der Balance halten musste. Er jonglierte diese drei Bilder. Die Frau, die ihn anschrie und auf ihn einschlug in ihrem Hass. Der Rücken der ihn befriedigenden Asiatin.
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Und der Anblick seiner kleinen Mädchen, wie sie auf dem Boden saßen und selbstvergessen spielten. Alle drei Bilder auf einmal und er hätte sterben können. Lilli auf ihn einschreiend, während die Asiatin auf ihm saß und er ihren Rücken führte und die Kinder auf dem Boden. (Streeruwitz 2008: 7)
All das steht ihm zur Verfügung und trotzdem will es sich noch nicht ganz in das von ihm anvisierte Reich, welches noch größer und vollkommener sein und nur von ihm beherrscht werden soll, fügen. Das neue Leben wird deshalb systematisch in Angriff genommen. Über eine Heiratsagentur wird, nach vollzogener Scheidung, eine neue Frau ausgewählt, die ihm auch neue Kinder gebären soll. Das Projekt scheitert zwar, allerdings ohne anhaltende Blessuren, ohne einen Schmerz in dem Mann zu hinterlassen. Denn gegen Ende heißt es: „Es war alles gescheitert, aber er hatte alles erreicht.“ (Streeruwitz 2008: 243) Selbst die kurzen Augenblicke, in denen er eine „Leere“ in sich fühlt, in denen er merkt, dass niemand ihn will, „[f]ür immer und ewig“, kehrt er die Verlassenheit in eine gewollte Einzelheit um: „Und er hatte niemanden gewollt“, heißt es direkt im Anschluss: „Niemand hatte Anspruch auf ihn und er keinen Anspruch auf irgendjemanden erhoben.“ (Streeruwitz 2008: 214) Der Text macht mit dem literarischen Mittel der quasi-dialektischen Inversion („Es war alles gescheitert, aber er hatte alles erreicht“) deutlich, dass das männliche Subjekt sich gegen Einwirkungen von außen immunisiert. Durch die Erzählkonstruktion wird dem Bild solcher autonomen Männlichkeit aber noch etwas hinzugefügt: Auf dem Höhepunkt seiner Selbstbehauptung erstarrt der männliche Protagonist. Der konsequente Einsatz der Innenperspektive im Modus der erlebten Rede erzeugt einen Kosmos reiner männlicher Innenwelt, die keine Tuchfühlung mehr nach außen hat. Es gibt in dieser männlichen Welt keine Welt mehr, weil in ihr alles angeeignete Innenwelt ist. Jeder Bezug ist Selbstbezug. Alles hebt sich in der Einheit des männlichen Ich auf. Sein auf Objekte gerichtetes Handeln wird objektlos in dem Maße, in dem es sie sich aneignet. Das Handeln des Mannes geht ganz auf im Begehren nach dem Mehr. Im reinen Begehren aber wird das männliche Subjekt banal: „Morgen“, so lauten die letzten Sätze von Kreuzungen, „beginne ich ein ganz neues Leben, dachte er und biss das nächste Stück von der Schokoladenbombe ab. Das Glücksgefühl überschwemmte ihn wieder. Der Mürbteich brach und zerbröselte in seiner Hand. Er musste aus der Hand essen. Am Ende schleckte er seinen Handteller ab.“ (Streeruwitz 2008: 250f.)
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Hegemoniale Männlichkeit wird bei Streeruwitz in der Figur einer äußerst solipsistischen männlichen Subjektivität regelrecht vorgeführt. Und gerade weil er in seiner ganzen Banalität auch noch zur Spitze der kapitalistischen Internationale gehört, wirkt der Protagonist in Kreuzungen wesentlich monströser als der junge egomanische Hochstapler in Klupps Roman. Das Bild der ‚Front-Männlichkeit‘ ist für die Protagonisten beider Romane deshalb so treffend, weil ihre Eroberungsgier sie zu reinen Triebtätern mutieren lässt, deren Selbstwahrnehmung in der wiederholten Geste bloßer Selbstaffirmation erstarrt.
3. M arginalisierte M ännlichkeiten Die neueste Literatur birgt ein großes Bildreservoir zur Betrachtung von Männlichkeit unter dem Aspekt ihrer Marginalisierung. Diese findet in den verschiedensten Themen- und Erzählzusammenhängen ihre Darstellung. So etwa in Familienromanen, in denen die Marginalisierung männlicher Figuren Resultat tragischer genealogischer Verkettungen und intergenerational nachwirkender Verstrickungen in Herrschaft und Gewalt ist, oder auch in Texten, die die neuen sozialen Wirklichkeiten reflektieren, etwa die Veränderungen in der Arbeitswelt und deren Auswirkungen auf die Biographien von Männern. Wenn wir im Folgenden literaturwissenschaftlich von marginalisierten Männlichkeiten reden, so ist darunter, auch in Abweichung von der soziologischen Verwendungsweise des Begriffs, ein Bündel von Merkmalen zu verstehen, durch das der Begriff zwischen der Männlichkeitsnarration und dem damit verbundenen Männlichkeitsbild angesiedelt wird. Anders gesagt: Marginalisierte Männlichkeit meint das Zusammenwirken bzw. den Zusammenhang von Männlichkeitsnarration und -bild. Zunächst einmal ist zu betonen, dass der im literarischen Text zu analysierende männliche Protagonist nicht nur und nicht ausschließlich nur als Angehöriger einer sozialen Schicht bzw. einer ethnischen Gruppe oder unter dem Aspekt seiner sexuellen Orientierung betrachtet wird. Die Analyse folgt vielmehr in erster Linie der narrativen Einbettung der Figur in ihre jeweilige Geschichte und beachtet somit die Individualität der literarischen Figur sowie des Erzählkonstrukts. Auf dieser narrativen Ebene interessiert sodann der Prozess der Marginalisierung eines männlichen Protagonisten. Zu untersuchen ist, welche Handlungen oder Ereignisse
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diesen Prozess auslösen, welche Handlungen und Kommunikationen ihn verschärfen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die die Marginalisierung auslösenden und verschärfenden Handlungen und Ereignisse mit den Erzählverfahren verbunden sind. Die Form der Erzählung hat Auswirkungen auf den Modus der Marginalisierung der männlichen Figur(en). Von marginalisierter Männlichkeit kann aber erst dann vollends gesprochen werden, wenn der Prozess der Marginalisierung sich in einen End- bzw. Dauerzustand verwandelt. Das ist der Fall, wenn die Erzählung bis zum Ende keine Umkehrung des Prozesses vollzieht, d.h. wenn der männliche Protagonist dauerhaft im Zustand der Marginalität verbleibt. Erst in diesem Dauerzustand gerinnt die Geschichte einer Marginalisierung von Männlichkeit zum Bild. Und dieses Bild prägt die Gesamtkonstruktion von Männlichkeit, welche dem Text zugrunde liegt und welche der Definition Connells zufolge auf einer Relationalität von hegemonialer und marginalisierter Männlichkeit gründet, entscheidend mit. Exemplarische Figuren marginalisierter Männlichkeit möchte ich nun an drei ausgewählten Texten der Gegenwartsliteratur aufzeigen. Es handelt sich um Philipp Erlach aus Arno Geigers Roman Es geht uns gut (2005), um Joachim Rühler aus Annette Pehnts Roman Mobbing (2007) und um Jacques Austerlitz aus W.G. Sebalds Roman Austerlitz (2001).
Der kraftlose Libertin – Philipp Erlach In Geigers Familienroman Es geht uns gut wird die Geschichte dreier Generationen in Österreich erzählt, von der Zeit des Nationalsozialismus bis zur Gegenwart. Die Struktur der Männlichkeit stellt sich durch eine genealogische Verkettung von weiblichen und männlichen Figuren in Paarbeziehungen dar. Von Interesse für die Konstituierung marginalisierter Männlichkeit, die durch die Figur Philipp Erlachs, des Vertreters der jungen Generation der Familie, repräsentiert wird, ist vor allem die männliche Familiengenealogie, angefangen vom Großvater über den Vater bis zum Sohn. Philipp selbst, Sohn von Peter Erlach und Enkel von Richard Sterk, erscheint im einleitenden Kapitel des Romans, das mit dem Datum „Montag, 16. April 2001“ (Geiger 2007: 7) überschrieben ist, als Erbe der Villa seiner verstorbenen Großmutter. Er wehrt sich gegen die Aufforderung seiner Interimsfreundin Johanna, die im Haus gesammelten Familienpapiere und Fotos dafür zu nutzen, mehr über sich und seine Herkunft
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in Erfahrung zu bringen.15 Der Mittdreißigjährige entpuppt sich schnell als ein Mann, der ohne erkennbaren Beruf und ohne Ziele vor sich hin vegetiert, Sex mit wechselnden Frauen hat, desinteressiert an sich selbst, bindungs- und kommunikationsarm ist. Der Fall eines bürgerlich-dekadenten Libertin am Beginn des 21. Jahrhunderts, der um seine eigene Leere kreist. Sein mangelnder Ehrgeiz zu ergründen, woher es kommen könnte, dass er so ist, wie er ist, drückt sich in der nur unzulänglichen Bereitschaft, Erinnerungsarbeit zu leisten, aus: „Ich beschäftige mich mit meiner Familie in genau dem Maß, wie ich finde, dass es für mich bekömmlich ist.“ (Geiger 2007: 11) Philipps Grundzustand verändert sich nicht. Er findet keinen Weg in die (Berufs-)Welt, kein eigenes Projekt und keine substanziellen Beziehungen zu anderen. Seine marginalisierte Existenz wird in einem späten Kapitel des Romans in ein treffendes Bild gebracht: „Eigentlich ist Philipp auf allen Mauern seines Lebens eine Randfigur, eigentlich besteht alles, was er macht, aus Fußnoten, und der Text dazu fehlt.“ (Geiger 2007: 285) Tatsächlich verfasst Philipp selbst nicht den Text zur Genese seiner Existenz als „Randfigur“. Dass er selbst von aller Kontinuität herstellenden Erinnerung und Herkunftsgeschichte abgeschnitten ist, wird auch auf der Ebene der Erzählkonstruktion deutlich. Der Roman schreibt die Familiengeschichte nicht chronologisch und nicht aus der Perspektive einer rückblickenden, sich erinnernden Person, sondern er arbeitet mit Zeitschnitten. Alle Kapitel haben als Überschriften Datumsangaben wie Montag, 16. April 2001, Samstag, 6. August 1938 oder Samstag, 29. September 1962. Der Familienroman wird stark aus der Innenperspektive der in diesen Kapiteln jeweils auftretenden Figuren erzählt. Er ist multiperspektivisch. Wird Philipps Abgeschnittenheit (auch von sich selbst) und Marginalisierung als männliche Figur vor allem auch auf der Ebene der Erzählkonstruktion realisiert, so wird die Genese dieses Zustands allererst in der Narration der mann-männlichen Genealogie nachvollziehbar. Der Familienroman statuiert einen männlichen Repräsentanten der ersten Generation, den Patriarchen Richard Sterk, der alle Attribute des starken, herrschaftlichen Mannes und Familienoberhauptes auf sich vereint, Vizedirektor der Elektrizitätswerke und nach dem Krieg österreichischer Minister ist, seine Identität ganz in die Sphäre des Berufs und der öffent15 | Vgl. zur Sprachlosigkeit der verschiedenen Figuren in Bezug auf ihre Erinnerungen Freytag (2007).
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lichen Anerkennung verlagert, hingegen als Vater und Ehemann das Feld seiner Frau überlässt. Er selbst bleibt innerhalb der Familie untätig, ohne jegliche Gestaltungskraft. Während Richard Sterk Repräsentant der bereits zur Zeit des Nationalsozialismus beruflich etablierten Nachkriegsgeneration ist, gehört sein Schwiegersohn der Generation derer an, die im Krieg Kinder und Jugendliche waren. Peter Erlach, von dessen Beruf als Ingenieur im Verkehrswesen man nur wenig erfährt, ist ebenso wie Richard Sterk ein Familientyrann, der aber dadurch, dass er an der Seite einer emanzipierten Frau lebt, in ganz anderem Licht als sein Schwiegervater erscheint. In seinem familiennichtstuerischen Egoismus wird er von seiner emanzipierten Frau Ingrid, die Ärztin ist, scharf angegangen. Auf den Vorwurf hin, dass sie von ihm keine Anerkennung in ihrer belastenden Doppelfunktion als Berufstätige und Familienfrau erhalte, weiß er nur zu erwidern, dass ihre Berufstätigkeit auf nicht hinnehmbare Weise das Familienleben beeinträchtige (vgl. Geiger 2007: 245). Peters innere familiäre Abwesenheit führt dazu, dass er nach dem tragischen Unfalltod seiner Frau keine Nähe zu seinen Kindern aufzubauen vermag. Diese Beziehungslosigkeit überträgt sich schließlich auch auf seinen Sohn Philipp Erlach, Protagonist der dritten Generation. Vollkommen bindungslos vegetiert er in dem von den Großeltern geerbten Haus vor sich hin, hat dann und wann ein paar Sexaffären, vor allem mit Johanna Haug, einer erfolgreichen Meteorologin, welche ihrerseits Philipp nur als Geliebten in einer Affäre duldet. Philipp weiß mit seinem Leben schlichtweg nichts anzufangen und dümpelt ebenso kommunikationsgestört wie sein Vater vor sich hin. Nirgendwo wird dies deutlicher als in einem kurzen Telefonat zwischen Vater und Sohn, gegen Ende des Romans. Philipp will ein Grillfest veranstalten und versucht, neben zwei anderen nur von Ferne bekannten Personen, auch seinen Vater dazu einzuladen. Die beiden unterhalten sich eine Weile am Telefon: – Papa, ich mache heute abend eine kleine Grillfeier. Willst du kommen? [...] – Kenne ich jemanden? Außer dir? – Frau Puwein? – Sagt mir nichts. – Herrn Prikopa? – Der vom Fernsehen? Sachen zum Lachen? – Ist der nicht schon tot?
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– Einen anderen Prikopa kenne ich nicht. Funkstille. – Ich glaube, ich würde es vorziehen, daheim zu bleiben. Trotzdem danke, dass du an mich gedacht hast. Du nimmst es doch nicht persönlich? (Geiger 2007: 379)
Das Telefonat vermittelt den Eindruck der Trostlosigkeit männlich-familiärer Existenz in der Gegenwart des Jahres 2001 genauso wie der Roman das Desaster von Männlichkeit als Familienmännlichkeit insgesamt. Alle männlichen Protagonisten, vom potenten, im öffentlichen Leben stehenden Patriarchen bis zum privatistischen, vereinsamten Single, welcher Züge des décadent aufweist, werden durch die spezielle Figurenperspektivierung des Romans als genealogisch verkettetes Kollektiv des Scheiterns dargestellt: Sie scheitern vor allem im Raum der Familien- und Liebesbeziehungen. Hinzu kommt, dass Philipp keine eigene Familie zu gründen imstande ist. So bleibt er am Ende des Romans vollkommen verlassen in einer marginalisierten Existenz zurück, ohne jeden Halt, gestürzt „in eine Leere, die nichts Erleichterndes hat“ (Geiger 2007: 379).
Der gemobbte Mann – Joachim Rühler Weist das aus Geigers Roman hervorgehende Bild marginalisierter Männlichkeit inhaltlich wie genregeschichtlich auf Geschichten vom Verfall bürgerlicher Familien zurück, wie sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch die Narrationen der modernen Männlichkeit entscheidend mitprägten,16 so finden sich in der Gegenwartsliteratur aber auch Texte, die das aktuelle gesellschaftliche Problem der Prekarisierung von Arbeit, insbesondere in Bezug auf das männliche Normalarbeitsverhältnis, zum Anlass nehmen, Geschichten von Männern zu erzählen, die aus der sicher geglaubten (Berufs-)Existenz und der damit habitualisierten männlichen Rollenvorstellung in Familie und Öffentlichkeit plötzlich herauskatapultiert werden. Auch hier wird marginalisierte Männlichkeit literarisch als Prozess zur Darstellung gebracht. Annette Pehnt hat diesen Prozess zum zentralen Thema ihres Romans Mobbing gemacht. Erzählt wird die Geschichte eines Mannes, Joachim Rühler, der Angestellter in der Stadtverwaltung ist und nach längerer Zeit des Mobbings durch seine Chefin und ihre weiblichen Verbündeten eines Tages gekündigt wird, weil er an16 | Vgl. dazu grundlegend Erhart (2001).
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geblich Geld veruntreut hat. Alles, was der Leser über die Verwicklungen Rühlers in die Intrigen am Arbeitsort und die Auswirkungen der beruflichen Situation auf das Familienleben erfährt, ist aus der Perspektive von Rühlers Ehefrau in der Ich-Perspektive geschildert. Damit ist für das Bild von Männlichkeit, das der Text konstruiert, eine Vorentscheidung getroffen: Es ist das Bild des Mannes, das sich eine Frau macht, die zugleich die Erzählerin (nicht die Autorin) ist. Die Wahl dieser Perspektive ermöglicht interessante Einsichten auf der Ebene von Männlichkeit als Relationsbegriff zu Weiblichkeit, die hier nur angedeutet werden können.17 Fokussieren wir den männlichen Protagonisten, so wird schnell deutlich, dass die Kündigung ihn aus den sicher geglaubten Bahnen seiner gesamten bisherigen Existenz wirft. Auch wenn er zuvor am Arbeitsplatz schon wegen der dauernden Auseinandersetzungen mit seiner Vorgesetzten einen schwierigen Stand hatte, so hatte die tägliche Selbstbehauptung ihm noch Energie und seiner Tätigkeit noch eine Richtung gegeben. Nun aber, nach Eingang des Kündigungsschreibens und seiner fadenscheinigen Begründung versinkt Joachim Rühler in einen dauerhaften Schwindelzustand (Pehnt 2007: 32, 55, 71, 136). Die Ich-Erzählerin bringt seinen Zustand auf den Punkt: „Jo, der jahrelang gekämpft hat, findet, jetzt, wo es so weit ist, seine Kraft nicht mehr. Er ist aufgebraucht. Man könnte auch sagen: Etwas in ihm ist zerbrochen.“ (Pehnt 2007: 14) Das Bild des kraftlosen Mannes verwebt sich in Pehnts Roman mit anderen Motiven und Bildern, durch die sich der Zustand der marginalisierten männlichen Existenz allererst konstituiert. In finanzieller Hinsicht wird das Schreckgespenst Hartz IV schnell aufgebaut. Verstärkt wird die Angst vor der bisher nicht gekannten Armut durch die Bemerkung von Joachims Mutter: „Ihr steht jetzt vor dem Nichts“ (Pehnt 2007: 51). Die Ehe beginnt immer mehr unter der neuen, auch für die Ehefrau ungewohnte Familiensituation zu leiden. Die Ich-Erzählerin reagiert zwiespältig auf den Arbeitsplatzverlust des Mannes. Auf der einen Seite bindet sie daran ziemlich schnell Hoffnungen für ihn: Er könne nun ein anderes Leben führen, viel lesen und mehr Zeit für die Töchter auf bringen. Auf der anderen Seite leidet sie unter der mangelnden Kommunikation zwischen ihm und ihr. Es kommt immer häufiger zum Streit, und sie wirft ihm vor, dass er sich ihr gegenüber nicht mitteilen will. Er seinerseits beharrt darauf, dass sie sich die Situation, in der 17 | Vgl. dazu den Aufsatz Männerbilder in der Literatur von Frauen und die Perspektive männlicher Leser, in diesem Band.
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er (gewesen) sei, gar nicht vorstellen könne, weil sie nicht dabei gewesen sei (vgl. Pehnt 2007: 38). Interessant ist, dass sich Joachims soziale und mentale Marginalisierung nicht allein durch eine direkte Ermächtigung seitens der Repräsentantin der hegemonialen Männlichkeit – die allein herrschen wollende Chefin in der Stadtverwaltung – vollzieht, sondern auch durch Einstellungen seiner Mutter wie seiner eigenen Frau bewirkt wird. Die abwertende Feststellung der Mutter, Joachim und seine Familie stünden nun vor dem Nichts, bezieht Joachim auf sich; und zwar im Akt einer Selbstentwertung, indem er sich nämlich als „Nichtsnutz“ (Pehnt 2007: 149) bezeichnet. Diese Selbstentwertung ist gleichsam das Negativ seines Festhaltens an der von der Mutter bekräftigten, traditionellen Vorstellung des Mannes als Alleinernährer der Familie. Darüber hinaus betreibt auch seine Frau eine Entwertung seiner Person. Denn eines Tages gesteht sie sich ein, dass auch sie sich innerlich von ihm loszusagen beginnt: „Von diesem Jo ist fast nichts mehr übrig. Nicht mehr übrig sind: sein Übermut, seine Weltgewandtheit, die gelben Rosen, das Grüßen und Gegrüßtwerden, seine Kraft, das Büro, die Reisen, die Mitbringsel, der Glanz in seinen Augen, die Entschlossenheit, die Telefonanrufe.“ (Pehnt 2007: 136) Der Verlust der beruflichen Position geht für die Ehefrau mit einem Verlust männlicher Erotik und Attraktion einher. Dies vermag sich auch nach der durch einen gewonnenen Gerichtsprozess erfolgten Wiedereinstellung Joachims nicht mehr zu ändern. Er muss von der Stadtverwaltung wieder eingestellt werden, kann aber keinen Anspruch auf seinen früheren Arbeitsplatz geltend machen. Man verbannt ihn in ein Containerbüro mit Wellblechdach, das im Hinterhof des städtischen Verwaltungsgebäudes aufgestellt ist. Darin befinden sich außer ihm nur ausrangierte Geräte und Schreibtische. Es gibt dort „keinen Telefonanschluss, keine Klimaanlage, keine Toilette“ (Pehnt 2007: 125). Joachim hat die Aufgabe, in seiner Arbeitszeit Protokolle von Sitzungen ins Französische zu übersetzen, obwohl er kaum Französisch kann. Jeden Freitag muss er die Übersetzungen dem Pförtner aushändigen, der sie wiederum der Chefin überreicht; die aber wirft sie in den Müll. Die äußerliche Normalisierung der Lebensverhältnisse durch die erfolgte Wiedereinstellung verhindert nicht die Selbstzerrüttung des männlichen Protagonisten und die Aushöhlung des Ehe- und Familienlebens. Joachim spricht von sich selbst nur noch als von jemandem, der „Müll mache“ (Pehnt 2007: 149), und seine Frau weigert sich irgendwann, ihn in der äußerst angespannten Situation immer wieder aufzubauen und zu
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ihm zu stehen. Schließlich geht die Stadtverwaltung auch noch gegen das Gerichtsurteil in Berufung, Joachim Rühler aber ist finanziell nicht mehr in der Lage, seinen Anwalt noch einmal zu engagieren. Mit dieser Information bricht die Erzählung ab. Sie fixiert den Zustand eines Mannseins am sozialen und psychischen Abgrund, festgehalten im Bild der ausrangierten Containerexistenz.
Der traumatisierte Mann – Jacques Austerlitz In der Literatur der Gegenwart gibt es eine starke Tendenz, in der Form von Familienerzählungen Generationen überdauernde Erlebnisse und Nachwirkungen der nationalsozialistischen Herrschaft vor Augen zu führen.18 In der Literatur- und Kulturwissenschaft reagiert man darauf mit einer verstärkten Erforschung von Traumatisierungen und spricht von ‚transgenerationellen Traumatisierungen‘19. Die literaturwissenschaftliche Erforschung von Männlichkeit kann daran anknüpfen, insofern sich behaupten lässt, dass traumatisierte männliche Protagonisten in literarischen Texten Repräsentationsfiguren einer Extremform marginalisierter Männlichkeit sind. Dies lässt sich am Prosawerk W.G. Sebalds besonders eindrücklich zeigen.20 Wie schon die männlichen Protagonisten im Erzählband Die Ausgewanderten (1991), führt auch Jacques Austerlitz, die Hauptfigur des im Jahre 2001 erschienenen Romans Austerlitz, eine Existenz am Rande. 1934 als Sohn jüdischer Eltern in Prag geboren, entkommt er als Fünfjähriger den Nazi-Schergen durch einen heimlich organisierten Kindertransport nach England, während seine Mutter nach Theresienstadt abtransportiert und 1944 ermordet wird. Sein Vater verschwindet in einem Internierungslager in Frankreich, ohne nach dem Krieg wieder 18 | Vgl. dazu für das Genre Novelle Tholen (2008c). 19 | Vgl. dazu unter Rückgriff auf die psychoanalytische Trauma-Forschung Weigel (1999: 58). Der Begriff der ‚transgenerationellen Traumatisierung‘ meint die in der Nachgeschichte von Auschwitz beobachtbaren ‚Effekte traumatischer Erlebnisse‘, die sich sowohl auf der Seite der Überlebenden als auch auf Seiten der Täter und ihrer Nachgeborenen fortzeugen. 20 | Vgl. zur Bedeutung von Traumen in Sebalds Texten Denham/McCulloh (2006) sowie auch Bonn (2007). Bonn analysiert ausführlich die Zusammenhänge zwischen Austerlitz’ psychischen Krisen, seinen Traumen sowie seinem Verhältnis zu Frauen.
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aufzutauchen. Austerlitz wächst bei strengen calvinistischen Pflegeeltern in England auf, ohne eine eigene Identität und Sprache entwickeln zu können. Erst als Jugendlicher erfährt er seinen wahren Namen. Jahrzehntelang lebt er abgetrennt von seiner Herkunft und Vergangenheit, arbeitet als Dozent an einem Londoner Kunsthistorischen Institut, fühlt sich jedoch keiner Klasse, keinem Berufsstand angehörig und scheut jede Nähe zu anderen Menschen. Wiederholt gerät er in Zustände absoluter Zerrüttung. Im Gespräch mit dem Ich-Erzähler berichtet er von sich selbst: Es war, als drängte eine seit langem in mir bereits fortwirkende Krankheit zum Ausbruch, als habe sich etwas Stumpfsinniges und Verbohrtes in mir festgesetzt, das nach und nach alles lahmlegen würde. Schon spürte ich hinter meiner Stirn die infame Dumpfheit, die dem Persönlichkeitsverfall vorausgeht, ahnte, daß ich in Wahrheit weder Gedächtnis noch Denkvermögen, noch eigentlich eine Existenz besaß, daß ich mein ganzes Leben hindurch mich immer nur ausgelöscht und von der Welt und mir selber abgekehrt hatte. (Sebald 2003: 182)
Die alttestamentarische Erzählung von der Aussetzung des Moses als kleines Kind in einem Kästlein im „Schilf am Ufer des Wassers“ (Sebald 2003: 85) wird ihm zum Bild seiner eigenen Existenz. Erst im Jahre 1992, in der Folge eines schweren psychischen Zusammenbruchs, entdeckt er in seiner Erinnerung Spuren seiner Herkunft und Kindheit. Er folgt ihnen, indem er nach Prag reist und anschließend das Ghetto in Theresienstadt besucht. Die quälenden Geschichten und Bilder von den unvorstellbaren Greueltaten der Nationalsozialisten, denen auch seine eigene Familie zum Opfer gefallen war, erzeugt in ihm das schmerzhafte Bewusstsein für seine eigene Existenz. Es verdichtet sich im Bild des ‚abgesonderten Kindes‘. Nach der Schilderung der Böhmen-Reise heißt es an einer fortgeschrittenen Stelle des Romans: Er habe hier [in London] in den ersten Wochen nach seiner Rückkehr aus Böhmen, so setzte Austerlitz nun im Gehen seine Erzählung fort, die Namen und die Geburts- und Todesdaten der Verstorbenen auswendig gelernt, habe Kieselsteine und Efeublätter nach Hause getragen, auch eine Steinrose einmal und eine abgeschlagene Engelshand, doch so sehr mich die Spaziergänge in Tower Hamlets untertags auch beruhigten, sagte Austerlitz, so sehr bin ich am Abend heimgesucht worden von den grauenvollsten, manchmal Stunden um Stunden anhalten-
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den und immer weiter sich steigernden Angstzuständen. Es nutzte mir offenbar wenig, daß ich die Quellen meiner Verstörung entdeckt hatte, mich selber, über all die vergangenen Jahre hinweg, mit größter Deutlichkeit sehen konnte als das von seinem vertrauten Leben von einem Tag auf den anderen abgesonderte Kind: die Vernunft kam nicht an gegen das seit jeher von mir unterdrückte und jetzt gewaltsam aus mir hervorbrechende Gefühl des Verstoßen- und Ausgelöschtseins. (Sebald 2003: 330)
Die Erkenntnis über sich selbst verschafft Austerlitz ein scharfes Bewusstsein der eigenen Lebenssituation, welche ganz im Bann der traumatisierenden Ereignisse der Vergangenheit steht. Austerlitz gerät auch in der Folgezeit immer wieder ganz plötzlich in paranoische Zustände. Seine anhaltende Ohnmacht, das Gefühl einer extra-territorialen Existenzweise wird er nicht los.21 Das Bild des ausgestoßenen, abgesonderten Kindes prägt den Roman insgesamt genauso, wie es die Figur marginalisierter Männlichkeit füllt, die sich bei Sebald in einer Extremform zeigt. Sie stellt sich narrativ her in der Erinnerung an die Selbstermächtigung und Formierung einer hegemonial-barbarischen Männlichkeit – die grauenvolle Herrschaft der Nationalsozialisten –, deren Genozid an den europäischen Juden weit in die nachfolgenden Generationen hinein wirkt.22 Die Extremform marginalisierter Männlichkeit stellt sich in der Figur Austerlitz als eine der radikalen familiären, kulturellen und konkret-individuellen Dislozierung und Zerrüttung dar. In Sebalds Roman konstituiert sich exemplarisch die Figur einer intergenerationellen marginalisierten Männlichkeit, welche Folge der durch die hegemonial-barbarische Männlichkeit des Nationalsozialismus verursachten Traumatisierung der Überlebenden (die Söhne der Ermordeten) ist. Seit einigen Jahren erst tritt sie in der Literatur in dieser Deutlichkeit hervor.
21 | Theresienstadt wird im Roman als „extra-territorialer Ort“ (Sebald 2003: 339) bezeichnet. An diesem Ort befindet sich Austerlitz ein Leben lang, unbewusst und bewusst. 22 | Vgl. für eine noch weiter ausdifferenzierende Analyse der Relation von marginalisierter und hegemonialer Männlichkeit den Aufsatz Zur Konstruktion von Männlichkeit in W.G. Sebalds Roman Austerlitz, in diesem Band.
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4. ‚N eue V äter ‘ Auf gesellschaftliche Wandlungen hinsichtlich des Vaterbildes in den letzten Jahren ist bereits hingewiesen worden. Die Debatte wird unter dem Schlagwort ‚Neue Väter‘ geführt. Deutlich wird in soziologischen Studien aber auch, dass die Bereitschaft von Männern jüngerer Generationen zwar wächst, mehr Zeit in der Familie zu verbringen und dadurch neue Gefühls- und Handlungslagen zu erproben, dass andererseits aber die gesellschaftliche Norm Männer, die Väter werden, oftmals noch an die traditionelle Ernährerrolle bindet und somit der Vollerwerb nach wie vor das Maß männlicher Arbeit ist. Die Bildung väterlich-männlicher Identität ist also noch immer stark mit dem (außerfamiliären) Berufsleben verknüpft. Dies erzeugt Widersprüche und Reibungen, in denen vor allem jüngere Männer ganz real stecken. Die These aber, dass es auf „der kulturell-symbolischen Ebene [...] an Erzähl- und Identitätsmustern“ mangele, „Männlichkeit jenseits von Erwerbsarbeit zu konstituieren“ (Scholz 2009: 87), ist nicht ganz zutreffend. Denn auffällig ist, wie sehr die Väterliteratur – mit ganz anderer Intention als in den 1970er Jahren23 – seit der Jahrhundertwende wieder an Bedeutung gewonnen hat. Insbesondere Autoren, die in den 1960er Jahren geboren sind, schreiben in autobiographischen und fiktionalen Texten über die beginnende Vaterschaft. Sie tun das zum Teil in aller Offenheit und beschreiben ihre Ängste genauso wie ihre Freude, ihre Einbeziehung in die Geburtsvorbereitungen und in die tägliche familiäre Fürsorge genauso wie ihre Versuche, weiterhin ihrer Arbeit als Autoren produktiv nachzugehen. In den Texten erfährt man viel über den täglichen Kampf der schreibenden Väter, einerseits eine neue Väterlichkeit, die in männlicher Fürsorge und familiärer Partizipation besteht, leben zu wollen, andererseits sich auch in der neuen Situation weiterhin Freiräume für ungestörtes Arbeiten verschaffen zu müssen. Dieser Widerspruch im Vaterbild der jüngeren Generationen ist nicht auflösbar, hingegen darstellbar. Ich möchte abschließend auf ein paar Texte hinweisen, die die Thematik in signifikanter Weise aufnehmen und literarisch entwickeln. Interessant ist dabei, auf die Selbstbilder zu achten, die die (schreibenden) Väter hervorbringen. Durs Grünbein hat in Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen (2001) die Form des Tagebuches gewählt, um darin u.a. die einzelnen 23 | Vgl. dazu im Überblick Schneider (1988).
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Stationen seiner Vaterschaft vor und nach der Geburt seiner Tochter Vera aufzuzeichnen.24 Das Tagebuch ermöglicht es ihm, sich als Mann und Vater neu zu entdecken, aber auch zu problematisieren. Zentral für die Aufzeichnungen ist die Bewegung zwischen Nähe und Distanz der Tochter und sich selbst gegenüber. Das schon vor der Geburt der Tochter einsetzende Nachdenken über den drohenden Verlust der Autonomie entpuppt sich als Teil eines fortwährend ambivalenten Gefühlszustandes. Im Anschluss an den Bericht über die Inanspruchnahme eines Schwangerschaftstests, dessen Ergebnis positiv ist, heißt es: Am Horizont erschien strahlend der große Tag X […]. Und das Beste war, genau so hatten wir beide es immer gewollt. Ein Kind der Liebe […]. An der Nasenspitze sah man uns an: es war lustvoll gezeugt, lustvoll empfangen worden mit einem alles verlangenden, alles beiseitefegenden Ja. Dennoch kam Tage später der erste Weinkrampf. Es war, nur zu natürlich, die Reaktion eines Menschen, dem eine höhere Instanz sein Urteil verlas. Für Eva galt es, zum zweiten Mal Abschied zu nehmen vom autonomen Leben. Mein erster Verdacht: Kinderzeugen war ein Reflex auf das eigene Ende, eine Art vorgezogenes Sterben, das man zwar überlebte, doch nur um den Preis, fortan sich nie mehr ganz selbst zu gehören. Nichts würde so sein wie vorher. […] Das Verlustgefühl, im Wettstreit mit der Erwartung, würde von nun am mit jedem Tag wachsen. (Grünbein 2001: 111)
Die Ambivalenz umspannt ebenso den gefühlsseligen Zustand, der sich in dem absoluten „Ja“ zum Ausdruck bringt, wie den Verlust des autonomen Lebens, den beide Partner spüren, während der Schreibende ihn aber darüber hinaus für sich selbst auf sein eigenes Ende bezieht, sodass für ihn der Augenblick der Zeugung mit dem Gedanken an den eigenen Tod zusammenfällt. Auch in Dirk von Petersdorffs Lebensanfang (2007) erscheinen solche Gedanken an den eigenen Tod, allerdings erst nach der Geburt der Zwillinge: „Ich las bei Hegel: Die Kinder sind der Tod der Eltern. In dieser Zeit träumte ich das erste Mal genau den eigenen Tod.“ (von Petersdorff 2007: 83) Die eigene Endlichkeit in solch deutlicher Weise vor Augen zu haben, bedeutet vielleicht die radikalste Weise der Entsublimierung des Selbst. Im Moment der Vorstellung des eigenen 24 | Vgl. zu Grünbein ausführlich den Aufsatz Vaterschaft und Autorschaft. Zur Bestimmung eines prekären Verhältnisses in der Gegenwartsliteratur am Beispiel von Durs Grünbeins Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen, in diesem Band.
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Endens erkennnt sich das Ich als das Nichts, das es ist, ohne sich in irgendeiner Form darin noch bedeutend zu finden. Rein pragmatisch, d.h. lebenspraktisch betrachtet, bedeutet es aber noch etwas Anderes. Grünbein bezeichnet es als Preis des Überlebens: sich nie wieder ganz selbst zu gehören. Für extrem selbstbezogene, künstlerische Männer, aber auch vielleicht für andere Männer, birgt eine solche Aussicht Angst- und Aggressionspotenzial. Auf der anderen Seite stellen sich in der familiären Nähe Momente eines ganz neuen Zusammengehörigkeitsgefühls her. Grünbein notiert am 16. September 2000: „Unvergesslicher Morgen. Meine Tochter gewährt mir die Audienz eines ersten langanhaltenden Blickes“ (Grünbein 2001: 173). Wenig später spricht er, Goethes Frage ‚Warum gabst Du uns die tiefen Blicke?‘ im Sinn, von der Liebe auf den ersten Blick; wohlgemerkt zwischen Vater und Tochter. Schließlich hält er einen gemeinsamen Waldspaziergang mit Vera in einem liebevollen Gedicht fest. Die Loslösung des Mannes aus seinem egozentrischen, arbeitsgesteuerten Universum durch Hinwendung zu einem auch als positiv erlebten, aktiv mitgestalteten Familiendasein gelingt bei Grünbein wie in anderen Texten immer nur partiell. Es sind Augenblicke und Szenen, die in der gelingenden literarischen Darstellung utopische Ausstrahlung, bisweilen aber auch nur bekenntnishaften Charakter haben. In John von Düffels Roman Beste Jahre (2007) wandelt sich der vierzigjährige männliche Protagonist, als er erfährt, dass er Vater wird, ziemlich unmittelbar vom berufsversessenen Theatermann zum liebenden Ehemann und Vater in spe. Allzu programmatisch heißt es dann in Bezug auf die Ehe: „Es ist ein schönes Gefühl, eine gemeinsame Vergangenheit im Rücken zu spüren, es ist schön, Wir sagen zu können und damit eine lange Geschichte zu meinen, es ist schön, in seinem Leben nicht immer nur die erste Person gewesen zu sein.“ (von Düffel 2007: 35) Der Roman füllt die Statuierung des neuen Familienmannideals in der Folge nicht aus, d.h. er überführt die These vom Wir nicht in eine mit Leben und Familienalltag gesättigte Narration, sondern kapriziert sich im zweiten Teil des Buches auf die Erzählung einer Konkurrenzgeschichte zwischen Männern. Es mutet, abschließend betrachtet, eigentümlich an, dass auch andere in den letzten anderthalb Jahrzehnten erschienene Vätertexte wie etwa Hanns-Josef Ortheils Lo und Lu. Roman eines Vaters (2001) einseitig auf
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das Verhältnis von Vater und Kind abheben.25 Die Ästhetik der ‚neuen Väter‘ konfiguriert sich nicht selten ohne eine erkennbare Einbeziehung der Frau und Mutter. In den ansonsten eher empfindsamen Vätertexten klafft eine nicht zu übersehende symbolische Lücke. Im Bild des liebenden und fürsorglichen Vaters wird das Verhältnis von Mann und Frau sowie seine mögliche Transformation kaum thematisch. Auch wenn es sich, wie Geschlechtersoziologen behaupten, beim Phänomen der ‚neuen Väter‘ weitgehend um Wunschbilder handelt, so lassen sie sich in der Gegenwartsliteratur doch vermehrt finden.26 Zu verstehen ist dies als Ausdruck eines mentalen Wandels der Einstellungen von Männern der jüngeren Generationen gegenüber ihrer Rolle als Vater. Dass der Wandel des männlichen Selbstverständnisses allerdings noch zu wenig ge- und erlebt wird, offenbart einen doppelten Konflikt, in dem Männer, die Väter sind bzw. werden, heute stehen: Zum einen verspüren Männer vermehrt das Bedürfnis, die familiäre Sphäre emotional und kreativ-tätig zu entdecken, lassen sich jedoch weiterhin durch traditionelle kulturelle Kodierungen von Mannsein und männlicher Produktivität (vor allem auch außerhalb der Familie) bestimmen.27 Zum anderen möchten sie gerne „die sozialstaatlich gedeckten Ansprüche auf Teilhabe in Familie und an der Erziehung realisieren, werden aber durch intensivierte ökonomische Einbindung und Vernutzung daran gehindert“ (Böhnisch 2008: 66). In diesen doppelten kulturellen und sozioökonomischen Konflikt ist die Frage nach dem Wandel der Männerbilder gegenwärtig verwickelt. Und die Literatur stellt ihn in vielen Facetten dar, entfaltet bisweilen aber auch die ihr eigene utopische Kraft, indem sie andere Formen und Bilder von Männlichkeit vorstellbar macht.
25 | Dabei geraten allerdings nicht nur Vater-Sohn-, sondern auch Vater-TochterBeziehungen in den Blick. Vgl. zur Problematik der exklusiv dargestellten VaterKind-Beziehungen in der Gegenwartsliteratur jetzt Tholen (2015). 26 | Erhart weist darauf hin, dass die ‚neuen Väter‘ gar nicht so neu sind, da Familienhistorikerinnen Anzeichen von ‚sanfter‘ und ‚zärtlicher‘ Vaterschaft im europäischen Bürgertum schon seit dem 18. Jahrhundert beobachten (vgl. Erhart 2004: 53). Mit der Historisierung des Phänomens ist es selbst als gegenwärtiges aber noch nicht verstanden. 27 | Vgl. zu diesem Befund aus soziologischer Sicht König (2012).
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Familienmännlichkeit und künstlerischliterarische Arbeit
Es geht im Folgenden vor allem darum zu untersuchen, wie männliche Autoren in ihren literarischen Texten das Verhältnis von Familienmännlichkeit und künstlerisch-literarischer Arbeit modellieren. Das impliziert, dass es um den Blick auf männliche Autorenexistenzen geht, nicht aber um die Rekonstruktion und Interpretation etwa von x-beliebigen VaterSohn-Verhältnissen in der Literatur.1 Gefragt werden soll, wie Männer ihr Leben als Partner, Ehemänner, Väter und zugleich als literarisch Schreibende formen; wie sie ihre Zeit auf die Familie und auf das Arbeiten verteilen; schließlich, wie sich die Schriftsteller-Protagonisten in dieser geteilten Existenz räumlich einrichten. Letzteres ist besonders interessant angesichts der Tatsache, dass Schriftsteller bzw. Intellektuelle oftmals zu Hause arbeiten und von daher nicht in der räumlichen Aufspaltung von Arbeitsplatz (Büro) und privater Wohnung leben. Weiter lässt sich fragen, wie die geistigen Arbeiter in den literarischautobiographischen Texten den Verlust an Autonomie, an Unabhängigkeit, an Ruhe, Einsamkeit und Konzentration vor allem in der Lebensphase erleben, in der sie Väter werden und sich mit Frau und Kind zu Hause einrichten müssen. In welcher Weise sorgen sie sich um ihr Kind? Wie betrachten sie das Verhältnis zu ihrer jeweiligen Lebensgefährtin, welche Bilder und Projektionen stellen sich in ihnen angesichts einer sie als Familienmann ganz neu und anders fordernden Situation ein? Und schließlich: In welcher Weise verändern sich durch die Tatsache, in einer eigenen 1 | Die Darstellung solcher Zusammenhänge ist in der Literaturwissenschaft bereits oft geleistet worden. Vgl. stellvertretend für eine Vielzahl an Publikationen von Matt (2001); Tholen (2002).
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Familienbeziehung zu leben, ihre Wahrnehmungen, ihr intellektuelles Selbstbild, ihre Einstellung zur literarischen Arbeit, die Bedingungen, Umgebungen und Formen des Schreibens (sowohl im Sinne des Schreibprozesses als auch im Sinne des Produkts, der literarischen Form)? Zu all diesen Fragen regt insbesondere die jüngere und jüngste deutsche Literatur an. Denn in den letzten Jahren und vereinzelt auch schon früher sind interessante Texte dazu geschrieben worden. Ich möchte in meinen Ausführungen einen Bogen schlagen von 1968 bis zur Gegenwart. Diese zeitliche Rahmung begründet sich hier weniger aus der epochalen, gesellschaftlich-kulturellen Zäsur, die die Jahreszahl 1968 markiert, sondern aus dem Ersterscheinungsdatum eines Buches, das für unseren Zusammenhang von einiger Bedeutung ist: Rolf Dieter Brinkmanns Debütroman Keiner weiß mehr. Von Brinkmanns Roman aus lässt sich ein Spannungs- und Entwicklungsbogen zur neuesten Literatur über literarisch schreibende Männer als Familienmänner beschreiben. Brinkmanns Text, der kein Familienroman im traditionellen Sinn ist, gleichwohl als Familiennarration (und nicht länger nur als Poproman 2) zu lesen, erweist seinen Reiz darin, dass er im Hinblick auf das Verhältnis von Familienmännlichkeit und literarischem Arbeiten die traditionelle Position der absoluten Trennung von geistig-schöpferischer Tätigkeit und Familienleben in literarisch avancierter Weise reinszeniert, zugleich aber auch deren Aussichtslosigkeit spürbar werden lässt. Mit anderen Worten: Das Bedürfnis des intellektuell arbeitenden Mannes nach Abtrennung von Frau und Kind und seine Realisierung führen ihn nicht zur Arbeit an einem bedeutenden Werk; vielmehr führt die gleichsam apriorisch eingenommene und wahnhaft verteidigte Distanzhaltung immer mehr zur Wahrnehmung der eigenen Leere, zum Gefühl, lebend tot zu sein. Die Effekte eines solchen Selbstgefühls sind Gewalt- und Zerstörungsphantasien im Projektionsfeld des männlichen Protagonisten. Von diesem Nullpunkt aus lassen sich umso konturierter Texte abheben, die in den Jahrzehnten nach 1968 das in Brinkmanns Roman als absolut aporetisch und antagonistisch dargestellte Verhältnis von Familienmännlichkeit und literarischer Arbeit neu und explorativ ausschreiten, dabei Antworten auf einige der oben skizzierten Fragen gebend. Ich möchte dies konkret an zwei literarischen Texten zeigen, an Peter Hand2 | Vgl. zur Einordnung von Brinkmanns literarischem Werk in die Popliteratur Ullmaier (2001).
Familienmännlichkeit
kes Kindergeschichte und an Hanns-Josef Ortheils Lo und Lu. Roman eines Vaters.
1. Z u R olf D ie ter B rinkmanns R oman K einer weiss mehr Im Falle von Keiner weiß mehr haben wir es mit einem Roman zu tun, in den autobiographische Daten zwar eingefügt sind, so zum Beispiel der Wohnort des Protagonisten und seiner Familie, Köln, wo auch Brinkmann gelebt hat, oder die Tatsache, dass der Protagonist genauso wie der Autor im Buchhandel gearbeitet hat. Gleichwohl ist der Text keinesfalls ein autobiographisches Dokument, sondern fiktional. In unserem Zusammenhang interessiert die Frage, wie der männliche Protagonist, von dem nur in der dritten Person Singular erzählt wird, als Familienmann und Intellektueller dargestellt wird. Vorab sei kurz auf den Plot eingegangen: Erzählt wird der Lebensabschnitt eines Mannes, der mit einer Frau verheiratet ist und mit ihr sowie einem gemeinsamen, noch kleinen Kind in einer Dreizimmerwohnung in Köln lebt. Im Laufe der Erzählung erfährt man von einer zurückliegenden beruflichen Tätigkeit im Buchhandel, ferner von einem abgebrochenen Studium und davon, dass der Mann fortan eigene intellektuelle Pläne verfolgt, für die er in der gemeinsamen Wohnung, allerdings in einem Zimmer für sich allein, arbeitet. Man erfährt nichts Konkretes über die Inhalte seiner Arbeit, selbst seinen beiden männlichen Freunden Gerald und Rainer gewährt er keinen Einblick in seine Tätigkeiten. Der Leser erfährt nur, dass er regelmäßig ins Kölner Stadtleben eintaucht, um von seinen Flanerien Bilder mit nach Hause zu bringen, etwa Eindrücke von in Zweier- oder Dreiergruppen masturbierenden Männern in öffentlichen Toiletten oder von Prostituierten auf der Straße, an denen sich die aggressiven Phantasien bzw. Phantasmen des Mannes entzünden. Die Bilder, die er mitbringt, unterscheiden sich, wie es im Text explizit heißt, von denen, die er sich von seiner Frau macht: „[...] sie, seine Frau, sie, die ausgesparte Stelle, war es nicht, wonach er herumsuchte, wenn er nachmittags dort [in der Stadt] herumging [...].“ (Brinkmann 1970: 79) Was er statt dessen sucht, findet und mit nach Hause bringt, sind lauter einzelne Wahrnehmungsbilder wie „Knie, der Abdruck von Brüsten in einem Pullover, einzelne Brüste [...] die Nässe, Haar, die Drehung eines Körpers“ (Brinkmann 1970: 80). Diese Eindrü-
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cke sind das Material seiner Arbeit am Schreibtisch, und es wird zu Hause weiter bearbeitet, angereichert und verglichen vor allem mit Bildern aus Zeitschriften, die ausgeschnitten und eingehend studiert werden. Der Text gewährt also Einblicke in die Werkstatt eines klassischen Flaneurs, dessen umherschweifend-begehrender Blick auf Objekte trifft, die er zu Bildern verarbeitend als Beute nach Hause trägt.3 Diese künstlerische Arbeitsweise nun ausschließlich in ihren ästhetischen Aspekten und Implikationen zu beschreiben, träfe nicht ihren ganzen Umfang und ihre Wirkungen, denn sie ist dicht verflochten mit dem Familiennarrativ des Romans. Das obsessive Begehren des Mannes nach Bildern entfaltet sich nämlich als ein vertracktes Sexualitätsdispositiv, das sich mit aller Gewalt in das eheliche und familiäre Zusammenleben einschreibt. Es ist vor allem die Gewalt des männlichen Blicks, die sich schon zu Beginn des Romans in ihrer sexuellen Wucht bemerkbar macht. Diese Gewalt in ihrer gegenstrebigen Bewegung von obsessiver Nähe zu und ständiger Abgrenzung von Frau und Kind lapidar als Krisensituation des männlichen Ich zu deuten, würde zu einer Reduzierung der Bildkraft des Textes, seiner Plastizität, führen – eine Lesart, welche sich womöglich mit einer psychoanalytischen Deutung, dergemäß man den Mann als einen schweren Neurotiker enttarnen würde, zufriedengeben würde. Statt dessen ist es aufschlussreicher, am Text zu beobachten, wie sich das männliche Begehren teilt, aufteilt, sich Raum verschafft, indem es räumliche, zeitliche und körperliche Abgrenzungen vollzieht. Was sich in Brinkmanns Roman konstellativ veranschaulicht, ist nichts weniger als eine Körperpolitik im privaten Raum, welche auch die Arbeit des männlichen Ich tangiert, nicht nur weil sie zu Hause stattfindet, sondern weil sie im und durch das Sexualitätsdispositiv des Mannes unablösbar mit seiner familiären Beziehung verbunden ist. Die Körperpolitik besteht aus zwei, einander stets abwechselnden Bewegungen: Besetzung und Rückzug. Gleich die ersten Passagen des Romans zeigen dies auf. Das Buch setzt – in interner Fokalisierung – mit einer Wahrnehmung des Protagonisten ein, ganz offensichtlich nach einem Beischlaf mit seiner Ehefrau. Er betrachtet ihren Körper, dabei über seine Beziehung zu ihr nachdenkend: „Man kann auskommen, überhaupt, nun, wie sie dalag, flach ausgebreitet, auf dem Rücken, auf dem Bauch als eine weiße, plattgedrückte 3 | Vgl. zur Literaturgeschichte des Flaneurs bis in die Gegenwart hinein Keidel (2006).
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Fläche, die er meinte, wenn er darüber redete, und die es dennoch nicht mehr genau war.“ (Brinkmann 1970: 7) Diese Stelle ist wie ein Nukleus des Ganzen. Die wahrgenommene Bauchfläche der daliegenden Ehefrau ist zugleich männliche Projektionsfläche. Das impliziert zweierlei. Zum Ersten ist seine Frau Projektionsfläche ständiger Reden über sie. Nicht nur redet er mit seinem Freund Gerald darüber, welchem Typus Frau sie nun zuzuordnen sei (der ‚trockenen‘ oder der ‚nassen‘ Frau; vgl. Brinkmann 1970: 7), sondern er redet auch auf sie ein, indem er ihr und sich selbst zu verstehen gibt, welchem Bild als Frau sie zu entsprechen hat. Im Verlaufe des Romans wird immer wieder deutlich, dass sie in sein Bild von ihr eingehen soll: Sie soll sich kleiden wie die Frauen, die er auf der Straße sieht. Und ihr eigenes Zimmer in der gemeinsamen Wohnung streicht er ohne ihr Wissen in ihrer Abwesenheit weiß und hängt darin Bilder seiner Wahl auf. Zum Zweiten konstruiert der Mann die Frau als ein aporetisches Objekt. Er macht sich von ihr eine Vorstellung, die er meint, wenn er von ihr redet, und zugleich ist sie diese Vorstellung nicht. Das hält in ihm ein ständiges Begehren in Gang, sie besitzen zu wollen: „Haben. Irgendwie [...] Das Gefühl, sie vielleicht auch diesmal wieder nicht ganz zu bekommen, trieb ihn an weiterzumachen [...].“ (Brinkmann 1970: 7) Ist die Frau, für sich betrachtet, ein ständiges Objekt impulsiver Annäherung und Abstoßung, ändert sich das schlagartig, wenn das gemeinsame Kind mit in den Blick gerät. In solchen Momenten sieht der Protagonist Frau und Kind als einen Block, der ihn nicht nur stört, sondern ein Gefühl unerträglicher Abhängigkeit in ihm aufkommen lässt. Das eigene Kind wird ausschließlich als Störfaktor wahrgenommen. Wenn es schreit, versucht er das Schreien mit Musik zu übertönen (vgl. Brinkmann 1970: 54). Die gesamte Sorge um das Kind wird ganz selbstverständlich als Aufgabe der Mutter betrachtet, die auch noch dafür angegangen wird, der Erziehung nicht in ausreichendem Maße gerecht zu werden: [...] das Kind mußte jetzt endlich sprechen lernen, es war schon so groß und konnte noch nicht richtig sprechen, kein Wort, nur Laute, naß gelallt, lala, lalalala, verseibert. Sie würde sich von jetzt an mehr darum bemühen müssen [...]. Jedesmal aber hatte sie sich das bereits vorgenommen, sagte er, warum es denn nicht ausgeführt würde. (Brinkmann 1970: 55)
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Der Vater selbst betrachtet das Kind gleichsam nur von außen, ohne an seinem Leben, an seiner Entwicklung teilzunehmen. Aufschlussreich dabei ist, dass der Text das Vater-Kind-Verhältnis vornehmlich in Bildern männlicher Selbstausschließung veranschaulicht: „Er [der Vater] kam immer nur dazu. Sie [die Mutter] mußte es [das Kind] doch tagsüber in allem versorgen, und da gab es viele Gelegenheiten, wußte er, sich um das Kind zu kümmern. Das Kind. Das weiterhin da war. Mehr nicht. Das da war.“ (Brinkmann 1970: 55) Im Status bloßen Daseins wird es für den Vater zu etwas, dessen Nichtsein bzw. dessen Auslöschung sich in der Imagination des Mannes festsetzt, bis zuletzt. Nach der Rückkehr von einer Reise nach Hannover blickt er auf eine Fotografie der damals schwangeren Ehefrau und imaginiert: „sie, mit dem gar nicht einmal zu dicken Bauch und dem für ihn in seiner Vorstellung undeutlichen Gebilde darin, das kein Kind war, kein Kind werden würde, sondern für ihn bis zuletzt eigentlich nichts war, nur eine Blähung, ein aufgetriebener Bauch [...].“ (Brinkmann 1970: 169f.) Reflektiert man die Vater-Kind-Beziehung von beiden Seiten aus, so bedeutet die fortwährende Negation des Kindes aber auch den Akt einer Selbstnegation, denn die Verdinglichung des eigenen Kindes schlägt auf den Vater selbst zurück. Die Ausschließung des Kindes aus seinem Leben-und-Arbeiten ist zugleich eine Selbstausschließung aus dem Leben als Teilnahme am Leben des anderen. Diese Weise des Lebens in der Nähe des Anderen findet in den Bildraum des künstlerisch tätigen Mannes und damit in den Bildraum des gesamten Textes nur in Form der Negation Eingang. Negativität erweist sich als der Grundantrieb des männlichen Protagonisten. Er beherrscht seine Familienexistenz wie seine Arbeit gleichermaßen. In der Wohnung äußert sie sich in der Form räumlicher Abgrenzung. Die Zimmeraufteilung in der Dreizimmerwohnung weist darauf hin, dass kein Raum für ein gemeinsames Zusammenleben vorgesehen ist: „Er hatte sich vorn eingerichtet mit seinen Büchern, Papier, den Schallplatten, aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnittenen Bildern an den Wänden über den provisorisch zusammengestellten Bücherregalen. Im Mittelzimmer schlief das Kind. Das hintere Zimmer hatte sie für sich allein.“ (Brinkmann 1970: 9f.) In seinem Zimmer arbeitend, nimmt er die zu ihm durchdringenden Geräusche und Stimmen von Kind und Frau nur als störend wahr. In der gesamten Wohnung findet keine gemeinsame Handlung von Mann und Frau, Vater und Kind, und auch keine Situation zu dritt statt, die dem Sog der Negativität, des Missverstehens
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und der Übergriffigkeit des Mannes entzogen wäre. Die Erzähltechnik, die zumeist aus der Innensicht des Protagonisten Wahrnehmungen und Vorgänge darstellt, unterstützt den Eindruck, dass alles, was in der Wohnung geschieht, unter dem kontrollierend-herrschenden, Distanz herstellenden Blick des Mannes steht. Dieser Blick ist obsessiv. Er geht in körperliche Nähe über, die sich nur als Gewalt entladen kann. Sexualität mit der Ehefrau findet als Entladung, Befriedigungs- und Erfüllungsleistung statt, während von einer Berührung des Kindes nur an einer Stelle gesprochen wird, nämlich dort, wo offenbar wird, dass er beide hasst, weil sie ihn bei seiner Arbeit stören: Er haßte sie. Sie hatte alles von ihm weggenommen, ohne dass er als Trottel davon etwas gemerkt hatte, seine Pläne, seine Vorhaben, die Zeit kosteten, über die er sich erst einmal klar werden mußte mit der Zeit, weggenommen, immerzu von ihm weggenommen, alles von ihr verschluckt, weg, ein Gedanke nach dem anderen, die Pläne, die Vorhaben, weg, verschluckt, Pläne, Gedanken, weg, um ihn endgültig fertig zu machen. (Brinkmann 1970: 104)
In dieser Szene schlägt er Frau und Kind. Der Mann führt in der Wohnung einen Kampf für die Möglichkeit, seine geistigen Pläne verwirklichen zu können, und gegen seine Familie, die er nicht nur malträtiert, sondern deren Tod er auch imaginiert (vgl. Brinkmann 1970: 77, 145). Trotz aller imaginärer wie realer Bestrebungen, seine Unabhängigkeit und Autonomie wiederherzustellen (er macht auch Anläufe, seine Familie zu verlassen) und damit seiner Arbeit, dem „Herumlaufen nachmittags in der Stadt“ (Brinkmann 1970: 77) und dem Schreiben, ungehindert nachgehen zu können, erweist sich die Situation des Mannes als vollkommen aporetisch: Weder ist er in der Lage, für seine Arbeit radikal mit Frau und Kind zu brechen, noch ist er fähig, Familiendasein und geistige Tätigkeit in ein lebbares Verhältnis zu bringen. Die Bedeutung des Textes von Brinkmann liegt unter anderem darin, in herausfordernder Weise vorgeführt zu haben, dass noch Ende der 1960er Jahre keinerlei Idee oder literarische Utopie vorhanden war, Familienmännlichkeit und künstlerisch-intellektuelle Arbeit nicht-antagonistisch zu denken und zu praktizieren.4 Vielmehr lässt der Roman 4 | Ansätze zu einem alternativen Verhältnis von Familienmännlichkeit und intellektueller Arbeit finden sich bei Bernward Vesper (vgl. Clare 2015).
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die traditionelle Opposition von männlicher Intellektuellenexistenz und Familiendasein, wie sie in vielen Texten, die die kulturelle Moderne des 20. Jahrhunderts geprägt haben,5 verbürgt ist, noch einmal, einmal mehr aufflackern, und zwar mit aller Explosivkraft, die dem Jahr 1968 generell zu eigen war. Indes, der Text verstellt in dem obsessiv-übergriffigen Wahrnehmungsfluidum des Protagonisten jeden Blick auf eine Lebensform, in der Zeit und Raum für beides wäre: für kreative geistige Arbeit und für die Sorge um die geliebte Frau und das Kind. Ein Zeit-Raum, der sich teilen und aufteilen ließe ohne Riss und radikale Grenzziehung; eine „häusliche Utopie“ (Barthes 2007: 212) jenseits der zerstörerischen Logik des Entweder-Oder.
2. Z u P e ter H andkes K indergeschichte Dreizehn Jahre nach dem Erscheinen von Keiner weiß mehr veröffentlicht Peter Handke als dritten Teil seiner Tetralogie Langsame Heimkehr das kleine Buch Kindergeschichte. In Bezug auf die Reflexion und Weiterentwicklung des Verhältnisses von Familienmännlichkeit und künstlerischliterarischer Arbeit ist das Buch ein Meilenstein. Denn es macht sich auf den Weg der Einlösung dessen, was noch in Brinkmanns Roman als unmöglich erscheint: die Erzählung von der Realisierung einer – keineswegs nur idyllischen – Lebensform, in der der literarisch arbeitende Künstler viele Jahre seines Lebens seinen Raum und seine Zeit mit dem eigenen Kind teilt und sich dabei auch die Art seines Arbeitens, die Formen seines Schreibens verändern. Die Kindergeschichte steht als dritter Teil der Tetralogie mit allen anderen Teilen in enger Verbindung, insofern in ihnen, zwar mit jeweils anderen Figuren und Sujets operierend, eine neue, in sich konsistente Poetik entworfen wird, deren Fäden am explizitesten in der Lehre der Sainte-Victoire, dem zweiten Teil der Tetralogie, zusammenlaufen. Aber auch in der Kindergeschichte geht es wesentlich um die Art, die Form und die Möglichkeiten des Arbeitens bzw. des Schreibens. Handkes poetologische Gedanken entfalten sich in der Kindergeschichte nicht in Form einer ästhetischen Programmatik, sondern in direkter und lebensnaher Auseinandersetzung mit den Erfahrungen beginnender 5 | Besonders drastisch und sehr wirkungsvoll wird die Opposition noch einmal von Hans Blüher (1962) reformuliert. Vgl. zu Blühers Denken Bruns (2008).
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Vaterschaft und dauerhafter väterlicher Fürsorge. Erzählt wird in dem dichten Text von einem Mann, ohne dass sein Name genannt würde. Dieser Mann lebt mit einer ebenfalls namenlosen Frau zusammen, von deren Niederkunft berichtet wird. Nach dem anfänglichen jungen Familienglück stellt sich schon bald heraus, dass Mann und Frau nicht zueinander passen. Zudem beginnt die Frau wieder zu arbeiten, verlässt die Familie, und der Mann beschließt, fortan für seine Tochter alleine zu sorgen. So wird in dem Buch die gemeinsame Geschichte von Vater und Tochter während ihrer ersten zehn Lebensjahre erzählt. Die Kindergeschichte enthält, wie vor einiger Zeit noch einmal Hans Höller in seiner HandkeBiographie herausgearbeitet hat, deutlich autobiographische Züge und Spuren (vgl. Höller 2007: 56f.). Wesentliche erzählte Ereignisse stimmen mit Geschehnissen überein, die aus Handkes Biographie mittlerweile bekannt sind. So vor allem Handkes Beziehung zu der Schauspielerin Libgart Schwarz, die er 1967 geheiratet hatte. In Berlin kam am 20. April die gemeinsame Tochter Amina zur Welt. Auch die in der Kindergeschichte geschilderten mehrfachen Umzüge von Deutschland nach Frankreich (Paris) und wieder zurück sind biographisch belegt. Diese kurze Andeutung zum autobiographischen Hintergrund soll verdeutlichen, dass es sich um einen Text handelt, den man nicht einfach als fiktional bezeichnen kann, sondern in den reale Erfahrungen und zwar als männliche Erfahrungen eingehen und darin literarische Form, nämlich Erzählung werden. Die männliche Identität, derer wir in der Kindergeschichte ansichtig werden, folgt nicht einem festen Muster bzw. Konstruktionsmodell, sondern wird sehr bewußt als eine Erzählung entfaltet. Sie wird somit nicht einfach hypostasiert, sondern ist prozesshaft, gleichsam eine Identität in Bewegung. Es ist die Erzählung eines schreibenden, männlichen Ichs, das seine Existenz, also seinen Raum und seine Zeit, über Jahre mit seiner Tochter teilt. Bedeutend ist der Text, weil er das durchaus komplizierte Verhältnis von Arbeit und väterlicher Liebe und Fürsorge, das hier wie bei anderen Autoren der Gegenwart auch unter dem Aspekt des Verlustes von männlichschöpferischer Autonomie und Potenz entfaltet wird,6 nicht verkürzend darstellt, sondern in seiner ganzen Ambivalenz und Zwiespältigkeit. Der Text benennt die aus der Ambivalenz entstehende Aggression des Vaters/des Künstlers offen und bekennt sie auch als Schuld ein. Erst dieser 6 | Vgl. dazu etwa Grünbein (2001); von Petersdorff (2007) sowie die Ausführungen zu Hanns-Josef Ortheils Roman Lo und Lu weiter unten.
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Schritt befähigt Handke dazu, das Verhältnis von Familienmännlichkeit und künstlerischer Arbeit in seinem Buch grundlegend zu transformieren, und das heißt, vor allem es an beiden Polen zu verändern. Diese These soll nun am Text entlang entfaltet werden. Der männliche Protagonist der Kindergeschichte gibt sich in zwei Rollen zu erkennen: als Familienmann und Autor. Bereits im ersten Absatz wird diese doppelte Existenz zum eigentlichen Thema und Problem des Buches erklärt: Der Gedanke an ein Kind war so selbstverständlich wie die beiden anderen großen Zukunftserwartungen, welche von der nach seiner Überzeugung ihm bestimmten und sich seit je in geheimen Kreisen auf ihn zubewegenden Frau handelten, und von der Existenz in dem Beruf, wo allein ihm eine menschenwürdige Freiheit winkte; ohne daß freilich diese drei Sehnsüchte auch nur einmal in einem Bild zusammen erschienen. (Handke 1984: 9)
Der Text signalisiert also schon zu Beginn, dass er dem Leser keine Familienidylle präsentieren wird, in der die Wünsche und Projektionen des Mannes restlos aufgehoben sind. Stattdessen erzählt er von einzelnen Stationen der Situierung des männlichen Ich als Familienmann und Künstler. So zum Beispiel zunächst von der Geburt seiner Tochter. Der Mann ist bei der Entbindung nicht anwesend. Aber kurz nach der Geburt kann er sein Kind durch eine Trennglasscheibe zum ersten Mal betrachten: Hinter dem Glas wurde ihm nicht eine ‚Tochter‘ entgegengehalten, oder gar ein ‚Nachkomme‘, sondern ein Kind. Der Gedanke des Mannes war: Es ist zufrieden. Es ist gern auf der Welt. Allein die Tatsache Kind, ohne besonderes Kennzeichen, strahlte Heiterkeit aus — die Unschuld war eine Form des Geistes! — und ging wie etwas Diebisches auf den Erwachsenen draußen über, so dass die beiden dort, ein für alle Male, eine verschworene Gruppe bilden. [...] Es war nicht bloß Verantwortung, was der Mann bei dem Anblick des Kindes fühlte, sondern auch Lust, es zu verteidigen, und Wildheit: die Empfindung, auf beiden Beinen dazustehen und auf einmal stark geworden zu sein. (Handke 1984: 11)
Die erste Begegnung mit dem Kind, der erste Anblick des Neugeborenen ist kein Akt der Aneignung, keine genealogische Inbesitznahme, sondern es stellt sich im Abstand (durch die Trennglasscheibe hindurch) eine erste, ursprunghafte Nähe her. In dieser Nähe entsteht spontan eine Einstellung dem Kind gegenüber, die Verantwortung für es, und darüber hinaus
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ein Lustgefühl, stark zu sein, um fortan für es eintreten zu können. Auch mit der Frau verbindet ihn in den ersten Tagen nach der Geburt ein Gefühl der Einheit und Nähe. Ursprünglich und dauerhaft ist aber nur das Nähegefühl gegenüber der Tochter, nicht gegenüber der Frau. Schon in den nächsten Absätzen wird vom Zerbrechen des Einheitsgefühls berichtet. Im anbrechenden Familienalltag fühlt sich der Mann gefangen und befürchtet, „dass das Leben nun für lange Zeit aus sei“ (Handke 1984: 13). Es reift auch die Ansicht in ihm, dass er und seine Frau nicht zueinander passen und erst recht kein Elternpaar sind. Erst als die Frau wieder ihrer Arbeit nachgeht und er die Pflege des Kindes übernimmt, vermag sich zwischen beiden ein anderes Verhältnis herzustellen. Das nun wachsende Zusammengehörigkeitsgefühl führt zu einer Abgrenzung von den Freunden, die sich in politisch bewegten Zeiten (um 1968) immer mehr kollektivieren und sich auf Versammlungen treffen. Es wird ihm in dieser Lebensphase deutlich, dass sein Weg nicht der der Politisierung sein kann, sondern für ihn „jene andere Weltgeschichte“ gilt, die ihm „an den Linien des schlafenden Kindes“ (Handke 1984: 21) erscheint. Und diese ‚andere Weltgeschichte‘, die vom eigenen Kind ausgeht, ist vor allem auch eine poetische. Sie begründet sich zuerst und vor allem im liebenden Blick des Vaters auf sein Kind, welcher unmittelbar mit einem poetischen Wahrnehmungsakt, mit der Gewärtigung eines augenblickhaften Bildes zusammenfällt: An einem Frühlingsabend erblickt er es [das Kind] dort - im Inbild ‚dort oben‘ - an einer Sandstelle. Es spielt für sich in einer Schar etwa Gleichaltriger, die wie es noch nicht gehen können. [...] Er beugt sich zu der Gestalt im roten Gewand. Sie erkennt ihn, und ohne daß sie lächelt, geht ein Glanz von ihr aus. [...] Jetzt erscheint dem Erwachsenen [...] hinter den babyhaften Zügen das erleuchtete allwissende Antlitz, und er empfängt aus den ruhigen, alterslosen Augen kurz und für immer den Freundschaftsblick; etwas zum Beiseitegehen und Weinen. (Handke 1984: 24)
Wir haben es hier und an einigen ähnlichen Stellen des Buches nicht mit einer idyllisierenden Projektion zu tun, sondern mit dem Erscheinen einer Aura der Nähe zwischen Vater und Kind im ‚Inbild‘, oder wie es wenig später heißt: mit einem „mystischen Augenblick“ (Handke 1984: 28), den es nicht nur zu erleben, sondern auch künstlerisch, in der Form, zu realisieren gilt. Der Mann als Schreibender weiß aber auch, „daß, die
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Formenfolge eines solchen Augenblicks freizudenken, das schwierigste Menschenwerk überhaupt ist“ (Handke 1984: 28). Ausgerechnet im einzigartigen Moment des Gelingens liebender Vaterschaft öffnet sich der Zwiespalt zwischen Leben und Werk. Das Werk, also die Aufgabe, eine Formenfolge des erlebten Augenblicks freizudenken, erfordert Absonderung, konzentrierte geistige Arbeit, ohne in die banalen familiären Alltagsverrichtungen involviert zu sein. Der Mann aber bleibt in der Folgezeit in die auralose, alltägliche Sorge um das Kind verstrickt, und es entstehen in ihm, weil er das große Werk stets aufschieben muss, Aggressionen. Zumal er ein befreundetes kinderloses Ehepaar erlebt, das sich einen Raum ungestörter intellektueller Arbeit eingerichtet hat. Auch wenn er solchen intellektuellen Kinderlosen zunehmend Misstrauen gegenüber der Pflege von deren eigener monströser Infantilität entgegenbringt, bleibt für ihn zunächst deren Existenzweise noch bestimmend: als Beispiel für ein Leben in einem luftigeren, gesünderen und weniger geisttötenden Zusammenhang als dem einer kleinen Familie. Es sind da die kühnen Aufschwünge des Alleinseins möglich, ohne welche dem Kopf doch die täglich nötige Weltweise fehlt [...]. Auch die Angst um das Kind ist da entkräftet, indem dieses sich nicht mehr, oft bedrängend nah, als das Ein und Alles, sondern, in der richtigen Entfernung, als ‚eins unter andern‘ zeigt. (Handke 1984: 35)
Mit diesem Gegenbild zur familiären Existenz vor Augen erlebt er den Alltag mit dem Kind mehr und mehr als ein „sinnloses Verhängnis“ (Handke 1984: 41). Von seinem eigenen Lebens- und Arbeitsrhythmus fühlt er sich durch Kindergeräusche, Kinderzeitrhythmus und durch Unordnung ins Haus bringenden Kinderkram vollkommen abgeschnitten. Das führt schließlich zu einem Gewaltausbruch: Er schlägt „das Kind mit aller Gewalt, so wie er wohl noch nie einen Menschen geschlagen hatte, in das Gesicht.“ (Handke 1984: 42) Der Anblick des verletzten und weinenden Kindes lässt den Vater seine Schuld fühlen und einbekennen. Dieses Einbekenntnis hat eine überraschende Form. Der letzte Satz der Passage steht ausnahmsweise in der Ich-Perspektive: „Nur in der Trauer — über ein Versäumnis oder über eine Schuld —, wo die Augen umfassend magnetisch werden, weitet sich mein Leben ins Epische.“ (Handke 1984: 45) Dieser Satz ist nicht als eine literarische Selbststilisierung des Autors misszuverstehen, sondern er ist eine Rechtfertigung des Erzählens eines Abschnitts seiner Lebensgeschichte. Das Erzählen der Geschichte der
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Nähe zwischen Vater und Tochter beglaubigt sich, autobiographisch, einzig im Eingeständnis väterlicher Schuld: in der Trauer, am schuldlosen Leben schuldig geworden zu sein. Der Schlag ins Gesicht des Kindes steht nicht nur für den Tiefpunkt des Verhältnisses von Vater und Tochter, sondern ist auch äußerster Ausdruck der Antithetik von Familienmännlichkeit und künstlerischer Arbeit. Die Erzählung markiert an ihrem Tiefpunkt aber auch einen Wendepunkt. Der Mann betrachtet das mittlerweile dreijährige Kind von nun an nicht mehr von seinen Bedürfnissen ausgehend, sondern umgekehrt: Er stellt sich in den Dienst von dessen Bedürfnissen und richtet in seinem eigenen Haus sogar einen kleinen Kindergarten ein, in dem er selber des Öfteren die Aufsicht führt. Inmitten der kleinen Kinderschar verändert er seinen Blick: In der Begeisterung erst bekommt er die Stimme, auf die sie hören. Es ist wie ein Sprung in ihre Mitte, von wo aus es dann auch keine ‚Bösewichte‘ und ‚Opfer‘ mehr gibt, wie zuvor bei dem Blick in den Kreis von außen. Keine Frage: Erst mit seiner Lust an ihrer Gesellschaft wird aus dem verlorenen Herumstehen und wirren Gelaufe ein Schwung, und in der Folge ein gesammelter, stolzer, gar nicht mehr kindlicher Zug in das gemeinsame Abenteuer. (Handke 1984: 54)
Auch dieses Ereignis einer Gemeinschaft des männlichen Protagonisten mit den Kindern wird als ein ‚Inbild‘ bezeichnet, das ein berühmtes anderes Inbild in Erinnerung ruft und zugleich verändert. Ich meine den gerührten Blick von Goethes jungem Werther auf die von ihm geliebte Charlotte, als er sie inmitten einer Schar von Kindern stehen sieht. An seinen Freund Wilhelm schreibt er sogleich: „Da bin ich wieder, Wilhelm, will mein Butterbrot zu Nacht essen und dir schreiben. Welch eine Wonne das für meine Seele ist, sie [Charlotte] in dem Kreise der lieben, muntern Kinder [...] zu sehen!“ (Goethe 1982: 20) Der für das traditionelle Geschlechterarrangement eher typische Blick des Mannes von außen auf eine von Kindern umgebene anmutige Frau wird bei Handke gleichsam inwendig. Somit wird das Inbild des Mannes inmitten von Kindern zum (utopischen) Bild eines Mannseins, das an der kindlichen Daseinslust teilhat, statt sie nur von außen zu betrachten. Nicht anders ist indessen die „neugewonnene Leichtherzigkeit des Mannes“ (Handke 1984: 55) zu verstehen, die aus einem ungetrübten Genießen des bloßen Daseins des Kindes, seiner Lebensimmanenz, hervorgeht.
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Das Zusammenleben von Vater und Kind findet nun seine „schöne Ordnung“ (Handke 1984: 61), in der er sich bei seiner eigenen Arbeit ganz nach dem Kind richtet. So kann er tagsüber nicht mehr sein als sein „Ernährer“, und abends sitzt er an seinem Tisch, darauf hoffend, dass „vielleicht doch plötzlich in dem Schweigemeer eine Form erscheint und der Tisch, an dem er sich aufrichtet, zur Werkbank wird“ (Handke 1984: 63). Die Formen allerdings, die erscheinen, sind nicht mehr als „Zwischenstücke“ (Handke 1984: 63). Und der Mann leidet doch auch daran, dass das Kind seinen Werktraum verhindert. Dass es den Erwachsenen von dessen künstlerischer Bestimmung abbringt, führt indessen nun nicht mehr zu Gewalt, allerdings zu temporären Entfremdungen. Im Gefühl existentieller Abhängigkeit von seinem Kind erschrickt er jedoch über jede Absetzbewegung der Tochter von ihm so sehr, dass er schließlich bereit ist, die Realisierung des Werktraums auf später zu verschieben und sich mit dem „Stückwerk“ (Handke 1984: 64) zufrieden zu geben. Das Kind, ohne das er sich weltverlassen fühlt, ist auch der Grund dafür, dass er sich eines befreienden Müßiggangs erfreuen kann: „Dank dem Kind (das ihm ja kaum Zeit für eine größere Arbeit ließ) hatte er allmählich den alten Ehrgeiz vergessen und betrieb einen immer lustreicheren, immer schwungvolleren Müßiggang [...].“ (Handke 1984: 90) Handke hebt in seinem Text „den unauflösbaren Zwiespalt zwischen der Arbeit und dem Kind“ (Handke 1984: 66) nicht auf, aber er stellt das Verhältnis von Familienmännlichkeit und Arbeit als eine Bewegung dar, in der sich beide Pole verändern. Der Mann lernt, das Leben in Gemeinschaft mit dem Kind als unverzichtbaren Teil seiner Existenz und Identität, auch als Künstler, zu schätzen. In dem Augenblick, in dem er das Kind in seinem bloßen Dasein und Mit-ihm-Sein bejaht, verwandelt sich das gemeinsame Leben in eine ‚schöne Ordnung‘. Es wird selbst poetisch. Auf einer solchen Erfahrung auf bauend, verändert sich auch sein Verständnis künstlerischer Arbeit. An die Stelle eines unbedingten Willens zum Werk, zum Großen, tritt eine Poetik der kleinen Form bzw. eine Poetik des ‚Stückwerks‘, welche eine erfüllte literarische Arbeit auch in einer Lebensphase zulässt, die durch Zeitteilung gekennzeichnet ist. Der Werkdrang wird dabei keineswegs aufgehoben; seine Realisierung wird indessen nur auf eine spätere Lebensphase verschoben.
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3. Z u H anns -J osef O rtheils L o und L u . R oman eines Vaters Die von Handke in der Kindergeschichte inaugurierte Transformation des Verhältnisses von Familienmännlichkeit und literarischem Arbeiten wird in Hanns-Josef Ortheils im Jahre 2001 erschienenem Roman Lo und Lu fortgesetzt. Noch expliziter als die Kindergeschichte verrät der Roman eines Vaters, wie das Buch im Untertitel heißt, die autobiographische Form. Die Datierung von Entstehungszeit und -ort „Stuttgart, März 1995 bis Mai 2001 (Blauer Weg II)“ (Ortheil 2003: Paratext) legt zudem einen aus täglichen Beobachtungen, Erlebnissen und Handlungen konstruierten Text nahe, welche zunächst tagebuchartig notiert worden waren. Auch Ortheils Roman beschreibt die einschneidenden Veränderungen, die sich einstellen, wenn der Mann sich, wie bei Handke, darauf einlässt, sich um seine Kinder zu sorgen, an ihrem Leben nicht nur vom Rande her teilzunehmen, sondern es mit ihnen aktiv zu gestalten. Der SchriftstellerVater übernimmt hier, während der ersten Kindheitsphase von Tochter und Sohn, die gesamte tägliche Sorge, da die Ehefrau und Mutter offenbar ziemlich bald nach der Geburt der Kinder ihre Arbeit im Verlag fortführt. Gleichzeitig aber will er seine Schriftstellerei nicht aufgeben. Das bringt ihn zunächst in eine Zeit-, später auch in eine Raumnot, denn er arbeitet zu Hause. Dieser Zwiespalt bildet sich aber nicht zu einer starken Ambivalenz gegenüber den Kindern aus, die, wie bei Handke und unversöhnlicher bei Brinkmann, in Gewalt mündet, sondern er setzt Ideen in Gang, wie man aus der Not etwas Produktives machen kann. Zunächst einmal versucht der Schriftsteller-Vater, die ihm täglich zur Verfügung stehenden Zeitfragmente, welche sich nicht mehr seinem früheren Arbeitsrhythmus einfügen lassen, zum Schreiben von Texten zu nutzen, für die er nicht die Konzentration langer, völlig ungestörter Arbeitsphasen benötigt, also etwa Briefe oder das Schreiben eines Tagebuches (vgl. Ortheil 2003: 30-33). Dabei bleibt der Schreibende nicht ohne ein Gefühl des Verlustes. Denn für ihn ist das Schreiben von Romanen, von fiktionaler Literatur nach wie vor die eigentliche Arbeit, die Notate im Tagebuch nennt er hingegen „die Schwundstufe von Arbeit“ (Ortheil 2003: 33). Aber auch wenn er in dem poetologisch zentralen Kapitel „Literatur nach dem Ende der Literatur“ etwas verzweifelt gesteht, nichts mehr schreiben zu können, bedeutet das nicht, dass der Schreibende die Situation nicht nutzte für ein zumindest phasenweise verändertes Weiter- und Andersarbeiten:
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Um mir Mut zu machen, lese ich im Tagebuch nach, was ich am Mittag geschrieben habe, und dann schreibe ich wieder etwas ins Tagebuch und denke, in gewissen biographischen Phasen sollte sich alles Arbeiten tagebuchartig verdichten. Ich sollte ausschließlich Tagebuch führen, denke ich weiter, ein detailliertes, ausschweifendes Tagebuch [...]. (Ortheil 2003: 35)
Ortheil nimmt Handkes Gedanken einer dem eigenen Lebenslauf angeschmiegten Form des Schreibens auf, die sich je nach Lebensphase verändern kann, ohne dass die eine Weise des Arbeitens an der literarischen Form gegen die andere ausgespielt werden müsste. Die Poiesis wird damit gleichsam biographisch verflüssigt, um die Produktion von Werken und solchen Texten, die keinen Werkstatus haben, einer antagonistischen Produktionsästhetik (entweder Werk oder Nicht-Werk) sowie einer restriktiven künstlerischen Selbstdefinition zu entziehen. Der Gedanke einer Umdefinition der früheren Arbeitsweise erzeugt im Schreibenden jedoch auch Unsicherheit: Ich kann nicht mehr schreiben, murmelte ich vor mich hin, wenn es mir schlecht ging. Ich habe ein neues, anderes Schreiben entdeckt, redete ich mir ein, mit leicht triumphierendem Grundton, als mir die prallen, bunten, dicht bemalten und beschriebenen Tagebuchseiten zu gefallen begannen. (Ortheil 2003: 36)
Das schreibende Ich gerät, wenn es Familienvater wird, zu Hause ist und sich dazu noch um die Kinder kümmert, kurz: wenn es seine Autonomie einbüßt, in eine existentielle Verunsicherung des eigenen Selbstverständnisses als Intellektueller, die auch im Falle Ortheils deutlich zutage tritt. In Lo und Lu aber ist diese Verunsicherung zugleich jedoch mehr: nämlich Auslöser einer Öffnung, mit der ein neuer Blick auf die Dinge, auf Menschen, auf die Künste und des schreibenden Mannes auf sich selbst möglich wird. Stärker noch als Handke drängt Ortheil dazu, die Erlebnisse und Erfahrungen einer mit den Kindern geteilten Existenz, die der Text als Abfolge erfüllter Lebensaugenblicke erzählt, als Ausgangspunkt für eine neue Ästhetik zu wählen. Zu ihrer Grundlegung macht er eine „Urerfahrung“ aus: den „Elternblick auf ein Kleinkind“ (Ortheil 2003: 39). Es wird der Blick sein, der Eltern, und damit auch Väter, empfänglich macht für ein in vollem Sinne gemeinsames Leben mit dem Kind, und das heißt, auch für den Eintritt der Erwachsenen in seine Welt. Auch wenn der Text Gefahr läuft, durch den stark affirmativen Gestus biswei-
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len idyllisierend zu wirken,7 sollte man doch das bruchstückhaft aufscheinende Potential für eine neue Ästhetik, das in der Affirmation, das heißt in der bedingungslosen Zuwendung des schreibenden Vaters zu den Kindern liegt, nicht vorschnell übersehen. Ich möchte dieses Potential einer Ästhetik, für deren Realisierung der künstlerisch tätige Vater sich von seinen Kindern nicht separiert, sondern mit ihnen in intensiver Geselligkeit ist, nun in zwei Zügen nachzeichnen. Davon ist der eine produktions-, der andere rezeptionsästhetischer Natur. Der produktionsästhetische Zug der in dem Buch konturierten Ästhetik der Symexistenz geht von den ersten künstlerischen Arbeiten der Tochter Lo aus. Im Kapitel „Werkstatt-Bericht“ erzählt der Vater begeistert von den Zeichnungen und Bildern seiner Tochter. Er richtet ihr eine kleine Künstlerwerkstatt mit den besten Utensilien und Materialien ein. Der Vater verharrt in teilnehmender Beobachtung vor den Malaktionen und Zeichnungen des Kindes, ist aber auch von dem Wunsch erfüllt, sich über das Tun der Tochter Zugang zu den „schönen Welten“ (Ortheil 2003: 64) der bildenden Kunst zu verschaffen. Eines Tages geht er mit Lo ins Museum, in dem gerade eine Ausstellung von Picassos Kinderbildern stattfindet. Während der Vater enttäuscht an den Bildern vorbeigeht, läuft Lo allein in den letzten Ausstellungsraum, in dem ein Picasso-Bild hängt, auf dem ein bärtiger Mann mit einem Kind auf den Knien zu sehen ist. Lo setzt sich auf den Boden, holt ein kleines Blatt aus der Tasche und beginnt damit, das Bild abzuzeichnen. Als der Vater hinzukommt und sie fragt, was sie da gerade male, antwortet die Tochter: „Pa und Lo.“ (Ortheil 2003: 68) Daraufhin liest der Vater den Titel des Bildes von Picasso, Der Maler und das Kind, und beginnt augenblicklich zu jubilieren: Der Maler, das soll also ich sein, und das kleine Kind mit den erhobenen Armen, das also ist Lo. Ich könnte sie drücken, ich könnte sie vor all diesen Menschen umarmen und auf dem Rücken hinaustragen, ich könnte laut singen, auch das, aber ich bleibe neben ihr sitzen und koste meine Freude still aus. (Ortheil 2003: 68)
7 | Der Roman hat bei seinem Erscheinen vereinzelt solche und härtere Kritik erhalten. Jan Bürger etwa findet ihn streckenweise kitschig, peinlich berührt ihn aber vor allem der „Familien-Fundamentalismus“ des Ich-Erzählers. Vgl. Bürger (2001: 28).
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Was geschieht hier? Die neue Ästhetik formiert sich nicht primär über den Vater, sondern über das Malen und Zeichnen des Kindes. Davon inspiriert, lässt sich der Vater ganz neu auf das Feld der Kunst ein und begegnet den Bildern mit einem neuen Blick. In der Picasso-Ausstellung gefallen ihm nun vor allem die späten Bilder des Malers, in denen er es gewagt hat, „sich selbst mit ins Spiel zu bringen, anstatt sich immer nur zu verstecken hinter Kostümen und Zirkuszelten“ (Ortheil 2003: 69). Hier spiegelt sich eine zentrale poetologische Aussage von Ortheils Text: der autobiographische Gestus der Aufzeichnungen und damit die eigene Involvierung in das Erzählgeschehen. Das aber ist nicht alles. Wichtiger noch ist, dass das von Lo gemalte Bild im Museum als kleines Kunstwerk eine Gemeinsamkeit von Vater und Tochter herstellt, eine Symexistenz im Reich der Kunst, in die sich der Vater gerührt hineinbegibt. Vater und Tochter gehen in einen gemeinsamen Bildraum ein, der nicht (primär) das Produkt seiner künstlerischen Arbeit ist, sondern dasjenige der Tochter, welches zugleich Ausdruck innigster Zueignung ist. Diese und die stille Freude des Vaters bezeugen die Realisierung einer Ästhetik der Symexistenz, innerhalb derer Vaterschaft und Künstlertum sich nicht mehr ausschließen, sondern als gelebtes Verhältnis möglich wird. Eine solche familiale Ästhetik der Existenz schließt dabei keineswegs Zeiten der Separierung aus. So berichtet der Ich-Erzähler in Lo und Lu auch, dass er eines Tages beschließt, ein zweites Häuschen mit einem Zimmer zum Schreiben auf dem geräumigen Anwesen bauen zu lassen, weil die okkupativen Tendenzen der Kinder ihm keinen Platz mehr im gemeinsamen Haus lassen (vgl. Ortheil 2003: 160f.). Diese räumliche Trennung meint aber keineswegs eine Absage an die Existenz des Schriftstellers als Familienmann, sondern sie dokumentiert das sicherlich seltene Privileg, das Schreiben mit der Familienexistenz verbinden zu können, ohne dabei das eigene Grundstück verlassen zu müssen. Der rezeptionsästhetische Zug der neuen Ästhetik liegt im gemeinsamen Lesen von Vater, Tochter und Sohn begründet. Dass die Kinder von bestimmten Gedichten wie vor allem von Rilkes Panther angezogen werden, nähert den Vater dem Genre Lyrik neu an. Mit dem Blick der Kinder und in Kenntnis ihrer Reaktionen auf vorgelesene Gedichte nimmt der Vater, der nicht nur Schriftsteller, sondern auch Literaturwissenschaftler ist, eine Neubewertung von Gedichtanthologien für Kinder und von Gedichte schreibenden Kollegen vor. So etwa wird die Anthologie Allerleirauh von Hans Magnus Enzensberger zur Seite gelegt, Goethe wird
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als Lyriker für Kinder neu entdeckt, während Schiller als Gedichtautor für Kinder „überhaupt nicht mehr zählt“ (Ortheil 2003: 150). Wichtiger als solche konkreten Einschätzungen8 ist aber wiederum etwas anderes. Durch die Herstellung von Geselligkeit und Gemeinschaft mit den Kindern im Bereich der Arbeit des Vaters selbst erfährt dieser neue Anstöße für seine berufliche Tätigkeit: Ich werde ein Heft anlegen mit vorlesbaren, guten Gedichten für Kinder, denke ich, ohne Sälzchen und Schmälzchen, statt dessen große Gedichte der Weltliteratur, die auch Kinder verstehen. Ich sollte die Gedichte der großen Lyriker durchgehen, mit dem Blick darauf, ob ein Kind sie begreift. Und dann die Stellen, die es nicht versteht, genau prüfen. Und die unverständlichen Stellen umschreiben und aus ihnen verständliche machen! Das würde ein schöner Band Kinder-Welt-Literatur! (Ortheil 2003: 150)
Nicht nur wird hier, zumindest als Idee, die Weltliteratur um die Kinderliteratur erweitert, sondern deutlich wird auch der Wunsch, das gemeinsame familiäre Lesen in der Sphäre der intellektuellen Arbeit wirksam werden zu lassen. Würde sich dieser Wunsch – und mit ihm andere Züge einer Ästhetik der (familialen) Symexistenz – nachhaltiger hörbar machen und auch realisieren, würden die traditionellen Vollzugsformen autonom-distanzierter geistiger Arbeit davon womöglich nicht unberührt bleiben.
4. A usblick Während der männliche Intellektuelle in Brinkmanns Keiner weiß mehr noch ganz im Banne solcher intellektueller Selbstbestimmung steht und deshalb ständig Fluchtbewegungen aus der familiären Beziehung und der gemeinsamen Wohnung vollzieht, deutet sich in den Texten von Handke und Ortheil ein grundlegender Wandel an. Sie regen – auch über die Sphäre der Kunst/Literatur hinaus – dazu an, sowohl die Vorstellungen von Männlichkeit als auch die Vorstellungen von Arbeit ins Fließen zu 8 | Diese Einschätzungen sind bereits, wie nicht anders zu erwarten war, von Literaturwissenschaftlern angefochten worden. Vgl. dazu die Rezension von Borchmeyer (2001: 12).
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bringen, um eine männliche Identität denken zu können, die sich nicht mehr an absoluten Vorstellungen von Autonomie, Einsamkeit und einem Arbeitsverständnis orientiert, das eine erfüllte männliche Familienexistenz ausschließt. Möglich wird die Veränderung der ausschließlichen Fixierung männlicher Identität auf die (Erwerbs-)Arbeit und auf die damit verbundene Form der Anerkennung dadurch, dass man sie nicht in dieser Fixierung und zudem in der Opposition zum Familienleben hypostasiert, sondern sie anders bestimmt: nämlich entlang der einzelnen Lebensabschnitte und deren sozialen Konstellationen. Erst wenn es für Männer mehr als bisher möglich sein wird, ihre Zeit, ihre Produktivität und ihr Engagement in unterschiedlichen Lebensphasen unterschiedlich auszugestalten und wirksam werden zu lassen, wird sich die hegemoniale Form männlicher Identität, die noch immer dem Ausschließlichkeitsanspruch der prestigeträchtigen Arbeit und des Werkes folgt, verändern. Dass eine solche Veränderung leichter dort zu imaginieren und zu praktizieren ist, wo Männer eine Arbeit haben, der sie auch zu Hause nachgehen können, wissen die Autoren. In Handkes Kindergeschichte heißt es denn auch: Dabei wußte er [der Mann, der Schreibende] freilich, daß er, mit seiner besonderen Tätigkeit, ein Begünstigter war: er brauchte sich dafür nicht vom Haus zu trennen wie die meisten, so daß die eine Sphäre im Idealfall den Schwung für die Gegensphäre gab. (Handke 1984: 38)
Alternativen zu denken und künstlerisch auszugestalten hieße demnach nicht weniger als vom Idealfall auszugehen.
L iter atur Barthes, Roland (2007): Wie zusammen leben. Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman. Vorlesung am Collège de France, hg. v. Éric Marty, Frankfurt a.M. Blüher, Hans (1962): Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft. Eine Theorie der menschlichen Staatsbildung nach Wesen und Wert [1917-19], Stuttgart. Borchmeyer, Dieter (2001): In der Wonnenwanne. Hanns-Josef Ortheil sucht das Glück und findet zwei Kinder, in: Die Zeit, 4.10.2001, S. 12. Brinkmann, Rolf Dieter (1970): Keiner weiß mehr [1968], Hamburg.
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Bruns, Claudia (2008): Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkultur (1880-1934), Köln. Bürger, Jan (2001): so sausten wir auf den abgrund zu. Hanns-Josef Ortheil und Durs Grünbein ändern im Kinderzimmer ihr Leben, in: Literaturen, 9, S. 28. Clare, Jennifer (2015): Protexte. Schreiben, Widerstand und Bewegung in der Literatur der deutschen Studentenbewegung – eine kulturpoetologische Untersuchung, Hildesheim (Dissertation). von Goethe, Johann Wolfgang (1982): Die Leiden des jungen Werthers [1774], in: Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe, Bd. 6, hg. v. Erich Trunz, München. Grünbein, Durs (2001): Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen, Frankfurt a.M. Handke, Peter (1984): Kindergeschichte [1981], Frankfurt a.M. Höller, Hans (2007): Peter Handke, Reinbek bei Hamburg. Keidel, Matthias (2006): Die Wiederkehr der Flaneure. Literarische Flanerie und flanierendes Denken zwischen Wahrnehmung und Reflexion, Würzburg. von Matt, Peter (2001): Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur, 3. Aufl., München. Ortheil, Hanns-Josef (2003): Lo und Lu. Roman eines Vaters, 2. Aufl., München. von Petersdorff, Dirk (2007): Lebensanfang. Eine wahre Geschichte, München. Tholen, Toni (2002): Vater-und-Sohn-Verhältnisse in der Literatur der Moderne. Von Goethe bis zur Gegenwart, in: Weimarer Beiträge, 48, H. 3, S. 325-343. Ullmaier, Johannes (2001): Von Acid nach Adlon. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur, Mainz.
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Vaterschaft und Autorschaft Zur Bestimmung eines prekären Verhältnisses in der Gegenwartsliteratur am Beispiel von Durs Grünbeins Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen
1. S ituierung des Themas Gegenwärtig schreiben Autoren verstärkt Bücher über ihre beginnende Vaterschaft. Sie gehören hauptsächlich zur Generation der in den 1960er Jahren Geborenen. Einige Namen und Bücher seien hier stellvertretend für andere genannt: Durs Grünbeins Berliner Aufzeichnungen (2001) aus dem Jahr 2000, in welchem seine Tochter Vera geboren wurde; Dirk von Petersdorffs „wahre Geschichte“ Lebensanfang (2007), die mit der Schilderung der Geburt von Zwillingen einsetzt; und schließlich John von Düffels Roman Beste Jahre (2007), der vor allem die Vorgeschichte einer Geburt und das allmähliche und recht späte Vaterwerden erzählt. Ein erster Blick auf die Gattungsbezeichnungen zeigt bereits, dass Erfahrungen und Erlebnisse von Vaterschaft von den Autoren derselben Generation in den verschiedensten Prosa-Formen aufgeschrieben werden. Einmal ist es die offene Form des Tagebuchs, dann der autobiographische Bericht („wahre Geschichte“, erzählt in der Ich-Perspektive), und schließlich das fiktionale Genre Roman. Allerdings setzt der Autor von Düffel unverkennbare Realitätssignale, am auffälligsten in folgendem Paratext: „Dies ist ein Roman. Sämtliche handelnden oder auch nicht handelnden Personen, einschließlich meiner selbst, sind frei erfunden. JvD.“ (von Düffel 2007: 6) Dass der Roman autobiographische Züge trägt, wird schon dadurch angezeigt, dass von Düffel selbst sich als Figur seines Textes zu erkennen gibt, auch wenn sein Name nicht explizit genannt wird. Die augenscheinliche Funktion des Paratextes besteht zwar darin, ein Fiktionssignal zu setzen,
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allerdings verkehrt es sich im gleichen Moment ironisch in sein Gegenteil. Der Autor erfüllt die Bedingung des Genres und defiguralisiert sich und seinen Text zugleich im Akt der Ironisierung des Fiktionssignals. So entsteht etwas, das der autobiographischen Erzählung nahe kommt, ohne dass es damit seinen Anspruch, Fiktion zu sein, aufhöbe. Die genannten Texte sind im Zusammenhang der Frage neuer Konzepte und Bilder von Männlichkeit interessant, weil sie Erfahrungen werdender bzw. beginnender Vaterschaft, wie sie in der Intensität wohl noch keine Generation vor diesen Autoren gemacht hat, nicht nur verschriften, sondern sie auch literarisieren. Und damit kommen unweigerlich die Frage literarischen Schreibens selbst, seine Bedingungen und Möglichkeiten angesichts einer neuen, nämlich familialen Existenzweise ins Spiel. Man kann in unterschiedlich intensiver Weise an den genannten Texten spüren, wie sehr mit der Aufgabe einer solitären und ungebundenen, autonomen Existenz die Frage der Autorschaft in den Texten aufgeworfen wird. Genauer: Das bisherige Selbstverständnis schreibender Männer, aber auch die Bedingungen des Schreibens angesichts eines die Einsamkeit und Ungestörtheit unterbrechenden Kindes beginnen sich zu verwandeln oder werden doch zumindest in ein neues Licht getaucht. Dabei stellt sich heraus, dass Vaterschaft und Autorschaft in einem prekären Verhältnis stehen, da es in unserer Epoche bisher kaum überzeugende Modellierungen für eine gelingende, nicht-hegemoniale Integration von geistig-künstlerischer Produktion und körperlich-sozialer Vaterschaft (und darüber hinaus: Familienmännlichkeit) sowie deren Permanenz im Lebensvollzug von Männern gibt. Die Aufgabe, die sich unter diesen Voraussetzungen einer Literaturwissenschaft der Gegenwartsliteratur stellt, ist, das sich in den oben genannten und in anderen Texten ganz neu und anders als bisher eröffnende Feld der Beziehungen von Vaterschaft und Autorschaft möglichst genau zu beschreiben, um die Asymmetrien von Autorschaft und Vaterschaft/Familienmännlichkeit, ihre Ungleichzeitigkeit und ihr Widerspruchsverhältnis aufzuzeigen, gleichzeitig aber auch auf Veränderungen, Chancen und Bilder eines zukünftigen Mann- und Autorseins hinzuweisen, die möglicherweise der kulturelle Vorschein eines anderen Verhältnisses der Geschlechter wären. Unterdessen interessiert sich weder die institutionalisierte Literaturwissenschaft für solche Fragen noch die rezensierende Öffentlichkeit für Bücher, die solche wichtigen Themen anregen. Zwar hat es nach der lange Zeit im postmodernen Munde geführten Rede vom ‚Tod des Autors‘ (R.
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Barthes) um die Jahrhundertwende eine Gegenreaktion in der Literaturwissenschaft gegeben, die auf die griffige Formel einer „Rückkehr des Autors“ gebracht worden ist (vgl. Jannidis u.a. 1999). Doch die danach intensivierte Forschung zum Begriff des Autors und der Autorschaft, die sich in einigen einschlägigen Sammelbänden überschauen lässt, geht nach wie vor und ganz unbekümmert davon aus, dass – wie Siegrid Nieberle in einer Fußnote ihres Beitrags zum Band Rückkehr des Autors notiert – die „Geschichte der Autorschaft [...] eine reine Männergeschichte“ (Nieberle 1999: 258) ist.1 Was allerdings nicht bedeutet, dass die Geschichte der Autorschaft in Bezug auf ihre spezifisch männliche Modellierung hin betrachtet wird. Ganz im Gegenteil: Dass der Autor männlich ist, ist weiterhin die vollkommen unbefragte Voraussetzung aller dann einsetzenden Überlegungen zu den poetologischen Konzepten und gesellschaftlichhistorischen Rahmenbedingungen von Autorschaft.2 Konsequenterweise findet sich nirgendwo ein Beitrag zum Verhältnis von Autorschaft und Männlichkeit bzw. Vaterschaft.3 Die Rezensionen der vor einigen Jahren erschienenen Bücher von Dirk von Petersdorff und John von Düffel in der Frankfurter Allgemeinen und in der Süddeutschen Zeitung, beide übrigens von Frauen geschrieben, schlagen einen jeweils ähnlichen Ton spöttischer Abwehr an. Zum einen findet Meike Fessmann gerade die Selbstreflexion des Mannes und Vaters Dirk von Petersdorff verdächtig, da er die neue Welt des familiären Daseins nicht mit Ironie, sondern mit Pathos betrachte, und nicht ganz zu Unrecht darüber spottet, dass – wie es im Buch übrigens selbst thematisiert wird – er als Mann und Autor seine Erfahrungen und Gedanken zu Literatur mache, während unterdessen die Mutter der Kinder die eigentliche familiäre Arbeit verrichte: vom Aufstehen bei Schreiattacken nachts bis zum Schnuller-Auswaschen und Einkaufen (vgl. Fessmann 2007). Zum anderen zeigt sich Julia Bähr sichtlich entnervt und vor allem literarisch gelangweilt von John von Düffels Beste Jahre:
1 | Vgl. zum Stand der Diskussion auch den einschlägigen Dokumentationsband eines DFG-Symposions (Detering 2002). 2 | Dies gilt auch für einen neueren Dokumentationsband der Forschung zur literarischen Moderne. Vgl. dazu Becker/Kiesel (2007). 3 | Nur ein Beitrag von Christian Begemann streift den Zusammenhang, allerdings beschränkt auf Texte des 18. Jahrhunderts. Vgl. Begemann (2002).
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Schwangere Frauen gehen zur Gymnastik, kaufen Babystrampler und telefonieren stundenlang mit ihren Müttern. Sie unterlassen es meist, ihre Schwangerschaft in literarische Form zu bringen. Dafür sind in letzter Zeit zunehmend die Männer zuständig [...]. Selbst werdende Väter mit literarischen Fähigkeiten entwickeln neuerdings eine unselige Neigung zum seitenlangen Schwadronieren, gegen die die hormonbedingten Stimmungsschwankungen ihrer Frauen völlig vernünftig und nachvollziehbar erscheinen. Natürlich ist das ehrenwerter, als wenn der Mann in dieser Zeit mit Barkeeperinnen um die Häuser zieht. Nur leider auch deutlich uninteressanter für das Publikum. (Bähr 2007: 38)
Wenn es das gute Recht der feuilletonistischen Literaturkritik ist, Literatur nach Spannung oder Langeweile zu beurteilen, so ist dies für die wissenschaftliche Erforschung von Literatur von deutlich untergeordneter Bedeutung. Wie viele kanonisierte Texte der Weltliteratur sind nicht langweilig für ein größeres zeitgenössisches Publikum! Und das Kriterium des „Schwadronierens“ dürfte wesentlich eher auf die stereotype literarische Massenware, die ganz auf Unterhaltung und Spannung abgestellt ist, zutreffen, als auf die literarische Produktion eines Autors wie John von Düffel. Womit die Frage des literarischen Ranges seines neuen Romans nicht per se entschieden werden soll, sondern durch Analyse und ästhetisches Urteil erst zu beantworten wäre (was jedoch hier nicht von Belang ist). Ich möchte mich im Folgenden mit einem Autor beschäftigen, dessen Schreiben von vornherein niemand als spannend und unterhaltsam bezeichnen würde, der aber unter den Autoren seiner Generation ganz unzweifelhaft als einer der bedeutendsten und reflektiertesten gilt: Durs Grünbein. Grünbein hat seine Erfahrungen, Erlebnisse und Gedanken während des Jahres 2000 kontinuierlich aufgezeichnet und sie in dem Buch Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen veröffentlicht. Der Titel ist mehrdeutig, da er sich sowohl auf dieses kulturell und historisch einschneidende erste Jahr des neuen Jahrhunderts und Jahrtausends bezieht als auch auf das erste Jahr seiner Vaterschaft verweist. Und so finden sich in dem Tagebuch zum einen Aufzeichnungen, kleine Essays und verdichtende Beschreibungen zu Themen der Zeit (etwa zum Beginn des biopolitischen und –wissenschaftlichen Zeitalters), der zeitgenössischen Literatur, zur Poetik des Gedichts, zur Philosophie und zur eigenen Familiengeschichte während der DDR-Zeit und im vereinigten Deutschland. Zum anderen zeichnet das Tagebuch die einzelnen Stationen seiner Va-
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terschaft vor und nach der Geburt seiner Tochter Vera nach. Seine ersten Begegnungen und Erlebnisse mit der im Sommer 2000 geborenen Tochter werden auch in Gedichten manifest, die den täglichen Tagebuchaufzeichnungen beigefügt sind. Meine These ist, dass Grünbeins Aufzeichnungen einen der aufschlussreichsten Versuche der jüngeren Autorengeneration darstellen, das Verhältnis von Autorschaft und Vaterschaft auf dem Hintergrund ganz neuer männlicher Erfahrungen auf komplexe Weise in Bewegung zu bringen und es aus einer starren Dichotomisierung zu lösen, wie sie noch für das Selbstverständnis männlicher Autoren der Klassischen Moderne selbstverständlich war und im Briefwechsel Rilkes mit schreibenden Kolleginnen und Freundinnen beredten Ausdruck gefunden hat. Rilke hat sich in seiner brieflichen Korrespondenz oft zum Zusammenhang von künstlerischem Schaffen und Geschlecht geäußert. Seine Auffassungen sind durchaus widersprüchlich und durch die Lektüre anderer, zeitgenössischer Schriften über Geschlechterrollen und –beziehungen beeinflusst.4 An Julie Weinmann schreibt er am 25. Juni 1902: Für die Frau ist – nach meiner Überzeugung – das Kind eine Vollendung und Befreiung von aller Fremdheit und Unsicherheit: es ist, auch geistig, das Zeichen der Reife; und ich bin erfüllt von der Überzeugung, daß die Künstler-Frau, die ein Kind gehabt hat und hat und liebt, nicht anders als der reife Mann, fähig ist, alle Höhen des Künstlertums zu erreichen [...]. (Rilke 1991: 112)
Aufschlussreich ist, dass Rilke die Höhe des weiblichen Kunstschaffens an die „Vollendung“ der Frau als Mutter bindet, während für das männliche Künstlertum die Vaterschaft keine konstitutive Bedeutung hat. So heißt es in einem Brief an die Schriftstellerin Regina Ullmann vom Dezember 1920: Dabei liegt es für Dich noch leichter, als für mich, – denn als Frau hättest Du vermuthlich, ohne die Mutterschaft, nie ganz zur Reife kommen können, ich meine, zu jener Vollzähligkeit der inneren Natur: auch in Deiner Arbeit nicht! Während die
4 | Vgl. für diesen Zusammenhang das Rilke-Kapitel in Tholen (2005: 215ff.). Vgl. zu den Männlichkeitsbildern und –narrationen der literarischen Moderne auch Erhart (2001).
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meine ja von meiner Vaterschaft und unausgeübten Väterlichkeit durchaus unabhängig war. (Rilke 1991: 66f.) 5
Schärfer lässt sich die Ausblendung biologisch-sozialer Vaterschaft aus der Vorstellung von Künstler- bzw. Autorschaft nicht artikulieren. Eine solche Ausgrenzung von Vaterschaft auf der Ebene der Konzeptualisierung von Autorschaft ist auf dem realen Hintergrund eines so werkversessenen Autors wie Rilke durchaus nachvollziehbar. In der Tat belegt die Formulierung von der „unausgeübten Väterlichkeit“ ja auch, dass Rilke sich im täglichen Leben um seine Tochter wohl kaum gekümmert hat. Sie wird als Kind nicht in den Raum seiner geistigen Produktion, in seine Schreibstube, eingedrungen sein. Männliche Schriftsteller der Gegenwart wie Durs Grünbein erleben ihre Autorschaft unter dem Stern werdender Vaterschaft neu und anders. Grünbein entdeckt sich in Das erste Jahr als Mann, und nicht in erster Linie als Autor vollendeter Gedichte. Und nicht zufällig erfolgt diese Selbstentdeckung und Selbstproblematisierung als Mann im Modus des Tagebuchs. Denn diese Form des Schreibens ist nicht werkhaft-solitärabschottend, sondern sie ist erfahrungsoffen, abbrechend, fragmentarisch und nah an der erlebten Wirklichkeit, an den ‚moments of being‘ (V. Woolf). Auf der anderen Seite – und dadurch ist Grünbeins Buch so aufschlussreich – geben die Aufzeichnungen auch zu erkennen, wie sehr Grünbein bei aller Offenheit gegenüber der neuen Erfahrung von Vaterschaft und familiärer Gemeinsamkeit in der traditionellen Rolle männ5 | Dieses männliche Autorenselbstbild trifft sich mit der durch Hans Blühers Einfluss verbreiteten Ansicht, derzufolge der Mann nie ganz in der Familie und das heißt als Vater aufgehe, sondern immer hinausstrebe in eine rein männliche Gesellschaft, in der der männliche Eros und Kunsttrieb erst eigentlich produktiv wird. Mit anderen Worten: Der Mann ist erst dann eigentlich Künstler und Staatsmann, wenn er außerhalb seiner Familienfunktion steht. Auch die These, dass die Frau als Mutter zur „Vollzähligkeit der inneren Natur“ kommt, findet sich in Blühers Buch Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft (1962: 238). Rilke hatte kurz zuvor das Werk Blühers gelesen und in Briefen an den Autor seine Wertschätzung, vor allem des zweiten Bandes, zum Ausdruck gebracht. Vgl. dazu den Abdruck von Rilkes Briefen, die im Februar und März 1919 verfasst wurden, in Blüher (1953: 347ff.). Am 18. März 1919 teilt Rilke Blüher sogar mit, dass er den zweiten Band des Erotik-Buches an mehrere Personen verschickt habe (vgl. ebd.: 349).
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licher Autorschaft und in innerer Distanzierung vom Erfahrungs- und Gefühlsraum seiner Lebensgefährtin und Tochter verhaftet bleibt. Diese Reibung bzw. Widersprüchlichkeit kennzeichnet die Aufzeichnungen durchgehend, und ihr möchte ich jetzt in drei Stationen nachgehen.
2. Z eugung , S chwangerschaf t, G eburt : E inschreibungen in einen unge wohnten Z eit-R aum Grünbeins Tagebuch-Aufzeichnungen berichten an vielen Stellen von der Selbsterfahrung des Schreibenden vor der Geburt seiner Tochter: Er lebt mit Eva zusammen, die bereits ein Kind hat, das aber nicht von ihm ist. Beide wollen auch ein gemeinsames Kind haben. Kurz vor der Entbindung erinnert sich Grünbein an einen schon etwas zurückliegenden Besuch bei einem Andrologen, der einen Spermatest durchführen soll. Diese Erfahrung ist einschneidend, da er in der Arztpraxis zu einem Exemplar der Gattung Mann degradiert wird. Er wird auf die Stufe einer bloßen, auf primitive Reize anspringenden Körperlichkeit und auf die Urangst aller Männer, impotent zu sein, herunter gebracht: Kahle Wände, ein Stuhl, ein Waschbecken, daneben eine große weiße Papierrolle. Der Proband zog sich dorthin zurück, um … Nun ja, auf einem Beistelltischchen, gut sichtbar ausgelegt, sprangen ihm mehrere Magazine ins Auge, wie der Jugendschutz gesagt hätte, eindeutig pornographischen Inhalts. Ich weiß noch, wie verärgert ich war. Ihr bloßes Vorhandensein störte mich wie ein Vorurteil. […] Die bunten Titelbilder mit den vollbusigen Gespielinnen in Aktion schienen mir zuzurufen: Bedien dich, wir wissen doch, wie du als Mann funktionierst. […] Ich war beleidigt, diskriminiert. Dieses überaus nette Arrangement hier zielte deutlich auf mein Begehren. […] Der große Masturbator, auf dem Flur jener Praxis schrumpfte er zum nervösen Bittsteller, der höflich sein Ejakulat übergab, in der Hoffnung, es möge sich nicht als trübe Brühe erweisen. Peinlichkeit, Impotenzangst, Furcht vor dem Unfruchtbarsein, phallische Scham, alles das mischte sich in dem ersten Wort Andrologie, das wie ein Urteilsspruch über dem Haupt des besorgten Patienten hing. (Grünbein 2001: 126f.)
In dieser Beschreibung des Spermatests mischen sich mehrere Aspekte: Zum Ersten erlebt der Schreibende die Andrologen-Praxis als einen Ort der Depotenzierung seiner Persönlichkeit, insofern er in primitiver Weise
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auf das bloße geschlechtliche Funktionieren reduziert wird. Zum Zweiten spürt er die Angst des Gattungswesens Mann auch in sich, impotent zu sein. Und zum Dritten fühlt er sich beleidigt, sein Ejakulat nur als „Bittsteller“ im Becher abzugeben. Daraus ließe sich schließen, dass er seinem Sperma und dessen Ausguss ansonsten einen anderen Stellenwert einräumt. Den der Zeugung, oder etwa gar den der geistigen Schöpfung? Die Anspielung in der Formulierung „Der große Masturbator“, welche auf Salvador Dalis gleichnamiges Bild von 1929 verweist, wäre dafür ein Indiz, insofern das Bild eine als Kunstwerk sublimierte Männerphantasie darstellt. Es lässt sich also festhalten, dass das zum Ausdruck gebrachte Gefühl des Beleidigtseins Folge einer Depotenzierung des Ichs des Schreibenden ist: ein Angriff auf seine geistige Existenz und Schaffenskraft, gewissermaßen die Entsublimierung seiner männlichen Identität. Dieses Erlebnis der Entsublimierung setzt sich in den Aufzeichnungen fort. Und es zeitigt mehrere Reaktionen. Einmal die einer Verstärkung des Verlustgefühls, zum Zweiten die Gegenbewegung der Resublimierung, und zum Dritten Kritik an bestimmten Formen herrschaftlicher bzw. gewalttätiger Männlichkeit/Väterlichkeit. Das Verlustgefühl bezieht sich in der Zeit der Schwangerschaft Evas auf den Verlust der Autonomie. Grünbein thematisiert es zunächst als Teil eines ambivalenten Gefühlszustandes. Im Anschluss an den Bericht über die Inanspruchnahme eines Schwangerschaftstests, dessen Ergebnis positiv ist, heißt es: Am Horizont erschien strahlend der große Tag X […]. Und das Beste war, genau so hatten wir beide es immer gewollt. Ein Kind der Liebe […]. An der Nasenspitze sah man uns an: es war lustvoll gezeugt, lustvoll empfangen worden mit einem alles verlangenden, alles beiseitefegenden Ja. Dennoch kam Tage später der erste Weinkrampf. Es war, nur zu natürlich, die Reaktion eines Menschen, dem eine höhere Instanz sein Urteil verlas. Für Eva galt es, zum zweiten Mal Abschied zu nehmen vom autonomen Leben. Mein erster Verdacht: Kinderzeugen war ein Reflex auf das eigene Ende, eine Art vorgezogenes Sterben, das man zwar überlebte, doch nur um den Preis, fortan sich nie mehr ganz selbst zu gehören. Nichts würde so sein wie vorher. […] Das Verlustgefühl, im Wettstreit mit der Erwartung, würde von nun an mit jedem Tag wachsen. (Grünbein 2001: 111)
Die Ambivalenz umspannt ebenso den gefühlsseligen Zustand, der sich in dem absoluten „Ja“ zum Ausdruck bringt, wie den Verlust des autono-
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men Lebens, den beide Partner spüren, während der Schreibende ihn aber darüber hinaus für sich selbst auf sein eigenes Ende bezieht. Sodass für ihn der Augenblick der Zeugung mit dem Gedanken an den eigenen Tod zusammenfällt. Auch in Dirk von Petersdorffs Lebensanfang erscheinen solche Gedanken an den eigenen Tod, allerdings erst nach der Geburt der Zwillinge: „Ich las bei Hegel: Die Kinder sind der Tod der Eltern. In dieser Zeit träumte ich das erste Mal genau den eigenen Tod.“ (von Petersdorff 2007: 83) Die eigene Endlichkeit in solch deutlicher Weise vor Augen zu haben, bedeutet vielleicht die radikalste Weise der Entsublimierung des Selbst. Im Moment der Vorstellung des eigenen Endens erkennnt sich das Ich als das Nichts, das es ist, ohne sich in irgendeiner Form darin noch bedeutend zu finden. Rein pragmatisch, d.h. lebenspraktisch betrachtet, bedeutet es aber noch etwas Anderes. Grünbein bezeichnet es als Preis des Überlebens: sich nie wieder ganz selbst zu gehören. Für extrem selbstbezogene, produktive Menschen/Männer ist eine solche Aussicht beängstigend. Bei Grünbein wendet sie sich in eine proleptische Aggression gegenüber seinem noch ungeborenen Kind. In einem Notat vom 11. August 2000, also eine Woche vor der Entbindung, heißt es: Ist dir klar, daß von nun an alles anders wird? Ein Neugeborenes verändert die Umwelt genauso nachhaltig wie eine Naturkatastrophe oder ein Krieg. Kein Tag, den es von jetzt an nicht umstürzen wird, durch sein Geschrei, seine Wachstumsschmerzen, die kleinen und großen Wehwehs. Eine neue Zeitrechnung beginnt nun. Mit diesem winzigen Neophyten wird alle bisherige Geschichte wie fortgeblasen sein. Denn sein ist das Erdreich, der Familienfriede und der Terminkalender. Willkommen du, Tag ohne Gestern. (Grünbein 2001: 124)
Es ist für Grünbeins Aufzeichnungen charakteristisch, dass er die Vorgänge im Umkreis der Geburt seiner Tochter immer wieder mit Gewaltszenarien vergleicht, wie hier, wenn er von „Naturkatastrophe“ und „Krieg“ spricht. Die antizipierte künftige Herrscherstellung des Kindes, das durch den Satz „Denn sein ist das Erdreich, der Familienfriede und der Terminkalender“ in die Position Gottvaters gestellt wird, den man bekanntlich im „Vater unser“ mit den Worten apostrophiert: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit …“, deutet das aufziehende Unbehagen des werdenden Vaters an, den täglichen Ansprüchen des Kindes machtlos ausgesetzt zu werden.
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Die Eintragung vom 17./18./19. August 2000 beginnt mit dem Satz: „Protokoll einer Geburt.“ (Grünbein 2001: 129) Sie umfasst etwa fünf Seiten und schildert in der Tat den Entbindungsvorgang. Schon bald aber stutzt man beim Lesen und fragt sich, ob der Schreiber hier nicht mehr bietet als ein Protokoll. Berichtet wird, wie mit allen Mitteln der medizinischen Technik die Geburt eingeleitet wird. Die Wehen werden künstlich eingeleitet, und jeder „Angriff“ wird vom CTG überwacht. Dem Schreibenden eröffnet sich der Blick auf eine „Schlacht“: Die Schlacht hat begonnen. Vor der Frau liegt nun, im gleißenden Licht, eine einzige Via dolorosa. […] In den seltenen Gefechtspausen steigen Gefühle tiefster Entfremdung herauf. Bald schon zeigt sich: der wahre Schmerz läßt sich nicht mitteilen. Solche ungeheuerlichen Qualen, man fragt sich, wozu sind sie gut? Warum schindet Mutter Natur ihre Rekrutinnen derart bis aufs Blut? Und wie begrenzt die Ausdrucksmöglichkeiten doch sind. Am Gipfel der Leiden erscheint immer wieder dieselbe antike Form, die man seit Aischylos kennt: das rhythmische Stöhnen der Protagonistin, die Stimme zum Chorgeheul angeschwollen, das zur tragischen Maske verzerrte Gesicht. Man würde glauben, einer Aufführung der Orestie beizuwohnen, wäre es nicht die geliebte Frau, die sich dort windet und aufschreit auf ihrem Wöchnerinbett. (Grünbein 2001: 129)
Bereits zu Beginn der Lektüre dieser zentralen Aufzeichnung fragt sich der Leser/die Leserin, was hier geschieht. Es werden zwar auch reale Vorgänge protokolliert, aber weit auffälliger ist die Literarisierung, die hier auf mehreren Ebenen stattfindet: Zum einen werden wir wie im Drama Zeugen einer „Schlacht“, zum anderen erfahren wir etwas über den Hang des werdenden Vaters, selbst noch die überwältigendsten Augenblicke im realen Leben eines Menschen literaturgeschichtlich zu vernetzen, sie in den Diskurs eines Wissens zu überführen. Man fragt sich: Hat Grünbein das alles im Kreissaal im Anblick seiner schmerzerfüllten Lebensgefährtin gedacht? War er in manchen Augenblicken des Geburtsvorganges Aischylos und der Darstellung einer gebärenden Frau näher als der eigenen? Oder kommen ihm solche literaturgeschichlichen Bezüge erst beim Aufschreiben des Ereignisses? Also nachträglich? Dann wäre das Protokoll kein Protokoll mehr, sondern in der Tat eine literarische, teils dramatisierende, teils essayistische Bearbeitung. Wie dem auch sei: Grünbein rückt hier wie im ganzen Notat die realen Vorgänge in Distanz zu sich, ob nachträglich oder nicht. Und auch seine Lebensgefährtin wird dadurch
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merkwürdig verfremdet. Sie ist nicht Eva, sondern „die Frau“, Protagonistin, Rekrutin. Die gänzlich abwegige Kriegsmetaphorik wird auf absurde Weise zugespitzt, als die Anästhesistin hinzukommt und von Grünbein als Konkurrentin der Hebamme wahrgenommen wird: Vielleicht rührte daher die Eifersucht der klassischen Geburtshelferinnen gegenüber der scherzenden Anästhesistin. Wie auf dem Kriegsschauplatz glich ihr Verhältnis dem des Infanteristen zu den Überfliegern der Luftwaffe. Zu verschieden waren die Waffengattungen, zu offensichtlich die Unterschiede in Durchschlagskraft und flächendeckender Wirkung. (Grünbein 2001: 131)
Und dann fühlt sich der Schreibende, als wollte er „einen Sturmangriff rekonstruieren“ (Grünbein 2001: 131). Aus diesem Angriff wird in der Folge aber eher eine Bobfahrt: Dicht hinter Eva, die halb aufgerichtet war, saß ich an ihren Rücken gepresst und hielt ihre Beine von hinten umfaßt, in einer Art Soziusstellung. So sausten wir auf den Abgrund zu, zwei verrenkte Bobfahrer in voller Fahrt, nur daß der Vordermann [sic!] splitternackt war, schwitzend, das Haar aufgelöst, und der Hintermann von den kommenden Kurven nichts wußte. Dennoch, als Tandem taten wir unser Bestes, unterstützt von den Hebammen, die eine links, die andre rechts postiert, und der jungen, schweigsamen Ärztin, die wie eine Hohepriesterin mit der Saugglocke bereitstand und den Vorgang von professioneller Warte verfolgte. (Grünbein 2001: 131)
Es ist, als ob der Autor Grünbein den Augenblick werdender Vaterschaft, der in der Regel und im Angesicht der geliebten, gebärenden Frau ein Gefühl emotionaler Überwältigung auslöst, durch den konvulsivischen Gebrauch von Metaphern und Vergleichen aus dem Bereich männlicher Täterschaft nachträglich überschreiben wolle. Hinzu kommt, dass die kurze Andeutung des einzigartigen Augenblicks noch im gleichen Satz in kunstgeschichtliche Kennerschaft zurückgenommen wird: Unvergeßlich der Augenblick, als im geöffneten Muttermund sich ein erster Ausschnitt des kleinen Schädels zeigte, mein Frohlocken beim Anblick des dunklen Kopfhaares, fein gesträhnt wie auf den Bildern des Botticelli. (Grünbein 2001: 131f.)
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Interessant ist nun, dass in den nächsten Zeilen weder von dem geborenen Kind noch von Eva gesprochen wird, sondern von einem Schriftsteller und einem weiteren Maler und damit von Grünbein selbst, aber nicht als leiblicher Vater und Lebensgefährte, sondern als Autor und Denker. Hier findet eine wahrhaft gespenstische Resublimierung des Mannes Grünbein statt. Die faktische Randstellung des werdenden Vaters im Laufe der Schwangerschaft seiner Frau und vor allem in der Stunde der Entbindung wird hier im Akt des Aufschreibens kompensiert. Die zuvor empfundene Entsublimierung der eigenen Subjektivität wird nicht zufällig im Augenblick der Geburt rückgängig gemacht: durch das Wiedereinrücken in die gänzlich männliche Tradition der Autor- und Künstlerschaft. Dies geschieht zum einen durch die Inszenierung einer Aemulatio 6 mit Lessing: Lessing, der Unglückliche, wäre beglückt gewesen, hätte er sehen können, was ich sah: die zupackenden Arme über den angewinkelten Knien, die Mimik der Gesichter, das ganze Ensemble von Muskeln, alle angespannt zu einem einzigen Zweck. (Grünbein 2001: 132)
Grünbein spielt hier gegenüber Lessing den Vorteil, bei einer Geburt anwesend gewesen zu sein, vermutlich in Bezug auf die Fähigkeit aus, ein gerade geborenes Geschöpf fortan als Autor plastisch beschreiben zu können. Direkt im Anschluss übermalt er die reale Szene der Entbindung und Geburt seiner Tochter mit dem berühmten Bild L’origine du monde von Gustave Courbet: Nie zuvor hat mir der Titel jenes berühmten Gemäldes eines französischen Meisters so unmittelbar eingeleuchtet: ‚L’origine du monde‘. Nicht nur irgendein Menschenwesen stand dort am Ursprung, das erste eigene Kind, das künftige Kleinod der Familie. Umfassender, in jeglicher Dimension unabsehbar, ja transzendent war, was da geboren wurde: der Beginn einer neuen Welt. (Grünbein 2001: 132)
Was geschieht hier? Grünbein schiebt das Bild eines männlichen Künstlers zwischen sich und Frau und Kind. Betrachtet man Courbets Bild, so blickt man frontal auf eine Vagina, die sich zwischen den gespreizten 6 | In der Tradition der Rhetorik ist damit ein Wettstreit zwischen Dichtern gemeint. In der Aemulatio überbietet ein Dichter sein Vorbild bzw. seinen Vorgänger.
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Beinen einer liegenden Frau darbietet. Die leicht geöffneten Schamlippen suggerieren den Blick ins Innere des gemalten weiblichen Körpers, der durch die sanfte Linienführung sowie durch die Farbwahl als vollkommen und zugleich verführerisch wahrgenommen werden soll. Diese Übermalung der realen Situation kommt einer Idealisierung gleich, die allerdings eine genuin männliche Konstruktion, ja Projektion ist. Von Idealisierung kann in doppelter Weise gesprochen werden: Zum einen wird die reale, durch die Geburt erschöpfte und verwundete Lebensgefährtin Eva durch den vollkommenen und erotisierenden Frauenkörper des Bildes ersetzt und konzeptualisiert (denn der weibliche Körper ist ja die Allegorie des ‚Ursprungs der Welt‘), zum anderen transzendiert das Kind in der Vision des Vaters seine Einmaligkeit und Besonderheit zur allgemeinen Vorstellung des (absoluten) Beginns einer neuen Welt. Die Geburt der Tochter Vera wird dem Autor Grünbein zum Bild für die Schöpfung als solche. Etwas, nämlich die Geburt, an der er nur am Rande beteiligt ist, wird in seiner Aufzeichnung zu seinem transzendenten Bild von Schöpfung. Die Aufzeichnung der Geburtssituation zeigt in besonderer Weise, wie prekär das Verhältnis von Vaterschaft und Autorschaft sich bei Grünbein gestaltet. Während die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, dass für Grünbein die noch von Rilke behauptete strikte Trennung von Vaterschaft und Autorschaft keine Geltung mehr hat, wird uns in seinem Tagebuch vor Augen geführt, wie widersprüchlich und kompliziert sich das Verhältnis gestaltet. Aber vielleicht zeigen der enorme Kunstwille und die insgesamt befremdliche Beschreibung des Geburtsvorgangs auch, dass Männer, die schreiben, ihren Ort und ihre Sprache und damit ihre Identität als „neue“ Familienmänner-und-Autoren noch nicht gefunden haben. Sie finden keine Sprache der Nähe für Situationen, in denen sie nicht im Zentrum des Geschehens stehen, sondern am Rande. Neu aber wäre ein männliches Schreiben, das eine nicht-triviale Sprache familialer Teilhabe fände, auch für solche Familienszenen, in denen es für den Mann (fast) nichts zu tun und zu dominieren gibt. Dafür aber dürfte wohl bis jetzt kein literarisches Archiv existieren.
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3. S ich zur Tochter schreiben , sich von der Tochter wegschreiben Am 19. August kommt Vera zur Welt. Zwei Tage später verzeichnet das Tagebuch das erste Gedicht mit dem Titel „Begrüßung einer Prinzessin“ (Grünbein 2001: 134). Weitere Gedichte, welche die Tochter bzw. das Verhältnis von Eltern und Tochter zumeist in traditionellen Versen und Strophen thematisieren, folgen in unregelmäßigem Abstand. Auffällig ist, dass Grünbeins Aufzeichnungen und Gedichte zwischen Nähe und Distanz schwanken. Die anfänglich registrierte größere Nähe von Mutter und Tochter und die eigene Randstellung lässt den Vater in Distanz treten; diese Distanz wird aber wiederum auch zum Beobachtungsvorteil des Schreibenden: Der Vater, das zeigt sich sofort, bleibt lange Zeit unwichtig. Naturgemäß interessiert den Säugling nur die Molkerei in Gestalt des Mutterkörpers. […] was zählt, ist die rote Zielscheibe der Mutterbrust, alles andere macht nur flüchtigen Eindruck. Um so mehr hat man selbst Zeit für Beobachtungen. Niemand wird so ausführlich und indiskret studiert wie das Kleinkind. (Grünbein 2001: 160)
Der Vater ist nicht nur Beobachter, sondern setzt seine Beobachtungen auch in literarische Texte um. Dabei fällt das technizistische Wortmaterial auf, mit dem er die intimen Beziehungen und Berührungen von Mutter, Tochter und Vater verfremdet. Seine auf Frau und Tochter bezogenen Metaphern haben bisweilen etwas kalkuliert Abstoßendes, so etwa die Gleichsetzung von Molkerei und Mutterkörper. Sie signalisieren immer wieder die extreme Distanzierung von der sprachlichen Mitteilung von Gefühlen, auch wenn sie sich in bestimmten Situationen natürlich zwangsläufig einstellen. So zum Beispiel in folgendem Gedicht: Kleine Dampfmaschine Dieses Ächz-und-Grunz-Geräusch, Soll das meine Tochter sein? Manchmal weint sie tief enttäuscht, Saugt statt Milch nur Heißluft ein. Später hört man sie dann schnarchen,
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Eine Spielzeugdampfmaschine. Ach, es rührt selbst Patriarchen Jede ihrer Leidensmienen. (Grünbein 2001: 172)
Grünbein verwendet desöfteren die traditionsreiche Form der vierzeiligen Volksliedstrophe mit vierhebigen, alternierenden Versen und Kreuzreimschema, um der Einfachheit und Ursprünglichkeit der dargestellten Sujets auch ästhetisch-formal Ausdruck zu geben. Es handelt sich dabei immer um literarisierte Beobachtungen seiner Tochter in verschiedenen Posen, so wie hier beim Schlafen und Schnarchen. Auch beim Lesen dieses Gedichts wird man den Eindruck nicht los, dass der Autor noch als Vater einer winzigen, nur wenige Wochen alten Tochter unter einem Pathosverbot zu stehen scheint, das ihm von der ästhetischen Moderne, in der Lyrik vor allem von Gottfried Benns Morgue-Gedichten ausgehend, auferlegt ist (vgl. Benn 1992: 7ff.). Denn wer denkt nicht an die berühmte Kleine Aster, wenn er als Titelüberschrift eines später geschriebenen Gedichts Kleine Dampfmaschine liest. Auch wenn die Gefühlskälte nicht genauso kompromisslos wie bei Benn lyrisch in Szene gesetzt wird, ist man doch verwundert über die extreme Zurücknahme der in den letzten beiden Zeilen angedeuteten Rührung durch das vorherrschende Bild einer „Dampfmaschine“, die das Ich kaum als seine Tochter wiedererkennen will. Die stets mitschwingende Distanz zwischen Vater und Tochter, die einzig und allein Resultat der Versprachlichung seiner Erlebnisse und Reflexionen der ersten Wochen der Vaterschaft ist, wird sogar in den geschilderten Augenblicken hörbar, die dem Autor selbst einzigartig und unvergesslich sind. So findet sich am 16. September 2000 der Eintrag: „Unvergesslicher Morgen. Meine Tochter gewährt mir die Audienz eines ersten langanhaltenden Blickes.“ (Grünbein 2001: 173) Die kleine Vera erscheint in diesem Satz als Gebieterin, in deren Gnade der Vater steht: Eine wahrhaft eigentümliche Hierarchisierung eines solch überwältigenden und gefühlsbindenden Ereignisses im Leben von Vater und Kind! Höchst aufschlussreich ist schließlich ein Gelegenheitsgedicht, das zeigt, wie Grünbeins Tochter schon etwa fünf Wochen nach ihrer Geburt sowohl in sein skeptisches Weltbild als auch in sein negatives väterliches Selbstbild eingebaut wird:
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2000 n. Chr. Leider, leider, kleine Vera Bist du nicht allein geboren. In Italien hieß es Bona sera, Und ein Tief von den Azoren Machte hierzulande Wetter. Dabei war es höchster Sommer. Merkur, statt hinaufzuklettern, Zog es vor, ans Glas zu trommeln. Mancher Urlaub fiel ins Wasser. Schade um die Meeresstrände. In den Kinos klingelten die Kassen. Allrads gings durch Matsch-Gelände. Regen mit Milliarden Tropfen Gab dir Laut davon, wie viele Menschen heut die Welt verstopfen. Tränen löschen hier die Ziele. Einsamkeit kommt von Vermehrung. Keinen machen Kinder froh. Aus der Weihnacht ward Bescherung Und aus Bethlehem ein Zoo. Doch entspann dich. Keine Miß Muß sich je um Panzer scharen. Männer haben vorm Kommiß Ruh nur in geburtenstarken Jahren. Allen, die wie du zweitausend Purzelten auf den Planeten X, Bist du ausgeliefert. Ihre Flausen Mußt du dulden bis zum Styx.
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Denn die Hölle sind die andern: Mama, Papa und der Rest. Reisen tröstet, mehr noch Wandern, Schlehmilgleich in Richtung West. Unerlöst bleibt hier Begehren, Und ab Christus wird gezählt. Geld zerrinnt bald. Kein Beschweren Hilft dir, wo die Liebe fehlt. Also Kopf hoch, kleine Vera. Freu dich ruhig, du bist gesund. Halt, wenn Zeus tobt, dich an Hera. Gib dem Trübsinn keinen Grund. (Grünbein 2001: 184)
Der dichtende Vater scheint von vornherein wenig Hoffnung auf ein angenehmes, erfülltes und sinnhaftes Leben seines Kindes zu haben angesichts der Diagnose einer übervölkerten Welt, der Kommerzialisierung des traditionell wichtigsten Familienfestes und eines insgesamt lieblosen Planeten. Bezeichnend aber für das dargestellte Vater-Tochter-Verhältnis ist der aus Sartres Huis clos übernommene und auf die Eltern gemünzte Satz: „Denn die Hölle sind die andern“. In den Aufzeichnungen wird deutlich, dass Grünbein gegen sich selbst, auch als Vater, immer wieder Verdacht schöpft. Seinen eigenen Geburtstag mag er nicht feiern, das Datum seiner Geburt erinnert ihn immer wieder „an jenes allererste Verhängnis, aus dem alle weiteren folgten“ (Grünbein 2001: 199). Seine Blicke auf Veras entblößte Genitalien beim Wickeln empfindet er als „Übergriff“ (Grünbein 2001: 198), und schließlich projiziert er seine Hoffnung für die Tochter in die möglichst frühe Abwendung von Vater und Mutter. Kurz vor Weihnachten hält Grünbein einen Augenblick fest, in dem er Vera in den Arm nehmen möchte, sie sich aber wegdreht und Anderes beobachtet. Er interpretiert: „Alles, was ringsum geschah, schien interessanter als dieser Vaterkörper […].“ (Grünbein 2001: 298) Und wenig später heißt es: Indem es [das Kleinkind] von allen Reizen dem einen den Vorzug gibt und alle anderen ignoriert, einschließlich des Du-du-du eines eifersüchtigen Elternteils, eilt es mit seinen Sinnen hinaus in die Vielfalt der Phänomene dort draußen. Nicht das unmittelbar Gegebene erregt seine Aufmerksamkeit, nicht die hilflose Autori-
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tät seiner omnipräsenten Erzeuger, sondern instinktiv das, was sich ihrem Einfluß entzieht. In einer einzigen Kopfbewegung liegt so die Hoffnung auf eine andere Ordnung. Vater und Mutter sollten wissen, daß sie allenfalls das Sprungbrett sind, von dem aus ihr Baby als autonomes Wesen den Absprung wagt in die allen gemeinsame Welt. Das Glück dieses Vorgangs kommt aus der Einsicht in die Fülle der Möglichkeiten jenseits der aufgestellten Familienschranken. (Grünbein 2001: 298f.)
Das Verstörende an Grünbeins Aufzeichnungen liegt in der gleichsam apriorischen Verunmöglichung familiärer Nähe. Auch wenn er desöfteren von seiner Liebe zur Lebensgefährtin Eva spricht und darüber hinaus betont, dass seine Vaterschaft eine in Liebe gewollte und bejahte ist, bleibt er doch auf der anderen Seite in seinen Projektionen und Reflexionen, als Autor, distanziert, skeptisch. Er traut sich selbst als Vater nicht über den Weg und einem Leben in der Familie keine freie Entwicklung zu. So hofft er schon im ersten Lebensjahr der Tochter für sie, dass sie den Absprung vom Elternhaus möglichst früh schaffen werde.
4. D as A rbeitszimmer Wenn man nach dem Verhältnis von Vaterschaft und Autorschaft fragt, ist es interessant, einen Blick in das Arbeitszimmer eines Schriftstellers zu werfen, wenn er gerade Vater wird oder geworden ist. Denn bisweilen verändert sich damit seine Arbeitsumgebung oder auch die Art des Arbeitens. Voraussetzung dafür, sich diesbezüglich Einblicke zu verschaffen, ist aber, dass der Autor dem Leser diese auch gewährt. Der Wert und die Vielschichtigkeit von Grünbeins Berliner Aufzeichnungen liegt nicht zuletzt in der bereitwilligen Auskunft über seine Schreibstube. Werfen wir auf sie einen abschließenden Blick: 3. Mai Der Ort, an dem ich schreibe. Meine Giftküche ist ungefähr sechzig Quadratmeter groß. Man macht einen Schritt, schon steht man vor einer Wand. Man dreht sich um, macht noch einen Schritt oder zwei, schon stößt die Stirn an ein Bücherregal, und der Blick tritt seine Flucht an nach oben, entlang der Buchrücken: eine Steilwand hinauf bis zur Decke. Berliner Zimmer machen in der Höhe wett, was ihnen
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im Grundriß fehlt. […] Hier destilliere ich meinen ganz besonderen Alkohol aus zwölf Prozent Weltschmerz, achtzig Prozent Rebellion gegen die Zeit und einem winzigen Rest von Stolz, den ich in Verse verwandle. In den Ecken […] sind überall kleine Konterfeis versteckt, Protraits der wichtigsten Täter des letzten Jahrhunderts. Es sind Warnschilder, den Anschlagzetteln gleich, wie man sie in den Kellergängen der Mietshäuser findet zum Hinweis auf das verstreute Rattengift. (Grünbein 2001: 53f.)
In Grünbeins „Giftstube“ findet man u.a. Portraits von Stalin, Mao, Lenin, Trotzki, Ho-Chi Minh und auch von dem „Mann aus Braunau, die Katastrophe in Menschengestalt“ (Grünbein 2001: 55). Grünbein versammelt sie alle, diese „Agenten der Destruktion“ (Grünbein 2001: 55), in seiner unmittelbaren Schreibumgebung. In der nachfolgenden Aufzeichnung reflektiert er über sein eigenes Unbehagen, ein Mann zu sein. Er schreibt über die biologische Festlegung des Geschlechts und das „Gefängnis der Männlichkeit“ (Grünbein 2001: 56), aus dem auszubrechen unmöglich ist. Grünbein sieht sich als Mann unselig verstrickt in die männliche Herrschafts- und Destruktionsgeschichte des abgelaufenen 20. Jahrhunderts, die er in seiner Arbeit immer wieder kritisch reflektiert. Er kritisiert auch Schriftsteller-Kollegen des 20. Jahrhunderts, die „den weiblichen Körper wie Metzger oder Frauenmörder“ (Grünbein 2001: 77) beschreiben, „indem sie ihn in bevorzugte Fleischstücke zerlegen“ (Grünbein 2001: 77). D.h., seine schriftstellerische Arbeit steht auch im Dienst einer Kritik an den Herrschafts- und Gewaltformen von Männlichkeit. Auf der anderen Seite betrachtet er sein eigenes Künstlerleben als „soldatisch oder besser junggesellenhaft“ (Grünbein 2001: 74). Er spricht davon, dass er ohne Frau sofort verwildere, schlecht esse, gemeines Zeug lese und unrasiert herumlaufe (vgl. Grünbein 2001: 95). Um das Verwildern bei der Arbeit zu verhindern, hängen deshalb vielleicht einige Photographien „der geliebten Gefährtin“ (Grünbein 2001: 74) in seinem Arbeitszimmer. Ob nach der Geburt Veras auch Photos von ihr hinzugekommen sind, ist ungewiss. Dazu findet sich jedenfalls in den Aufzeichnungen kein Hinweis. Vielleicht würden solche Gegenbilder zu denen der männlichen Täter das Schreiben Grünbeins allmählich verändern können. Vielleicht würde es dazu führen, dass er auch andere Gedichte über seine Tochter schreiben könnte. Vielleicht würde die sichtbare Präsenz der geliebten Frau und Tochter in der Schreibstube auf Dauer zu einem anderen Schreiben und zu einem anderen Umgang mit den Texten der
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männlichen Vorgänger führen, der zu neuen Fragen und zu einer Umwertung dessen führen könnte, was bisher als bedeutend gilt. Angedeutet wird eine solche Verschiebung des männlichen Fragens und Denkens durch das Eindringen von Kindern (und Kinderbüchern) in die geistige Ökonomie schreibender Männer nicht so sehr bei Grünbein als bei Dirk von Petersdorff: Ich ging zum Schreibtisch. Es war nicht so einfach, die Gedanken umzusortieren. Ich blätterte in Unterlagen und Aufzeichnungen, machte ein paar Notizen. An die Gegensätze musste man sich gewöhnen: Erst liest man ‚Elsa Entchen‘ und dann Friedrich Schlegels philosophische Fragmente. Die waren am nächsten Morgen an der Reihe. Sie kamen mir jetzt noch unverständlicher vor als früher. Ich sah die Sätze und wusste nicht, was er meinte. Da hätte auch stehen können: ‚Bleib schön hier, Elsa. Aber das tat Elsa nicht.‘ (von Petersdorff 2007: 141)
Über solche Erfahrungen von Autoren, die das Vatersein aus ihrem Schreiben nicht ausgrenzen, würde man in Zukunft gerne mehr lesen.
L iter atur Bähr, Julia (2007): Der schwangere Mann. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. Oktober 2007, S. 38. Becker, Sabina/Kiesel, Helmuth (Hg.) (2007): Literarische Moderne. Begriff und Phänomene, Berlin. Begemann, Christian (2002): Der Körper des Autors. Autorschaft als Zeugung und Geburt im diskursiven Feld der Genieästhetik, in: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart, Weimar, Berlin, S. 44-61. Benn, Gottfried (1992): Morgue. In: Ders.: Gesammelte Werke in vier Bänden. Dritter Band. Hg. v. Dieter Wellershoff. 8. Aufl., Stuttgart. Blüher, Hans (1962): Die Rolle der Erotik in der männlichen Gesellschaft. Bd. 2: Familie und Männerbund [1919], Stuttgart. Blüher, Hans (1953): Werke und Tage. Geschichte eines Denkers, München. Detering, Heinrich (Hg.) (2002): Autorschaft. Positionen und Revisionen, Stuttgart, Weimar. von Düffel, John (2007): Beste Jahre, Köln.
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Erhart, Walter (2001): Familienmänner. Über den literarischen Ursprung moderner Männlichkeit, München. Fessmann, Meike (2007): Wo aller Spott zu schweigen hat. Heiliger Vaterernst: Dirk von Petersdorffs „Lebensanfang. Eine wahre Geschichte“, in: Süddeutsche Zeitung, 26. Oktober 2007, S. 16. Grünbein, Durs (2001): Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen, Frankfurt a.M. Jannidis, Fotis/Lauer, Gerhard/Martinez, Matias/Winko, Simone (Hg.) (1999): Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen. Nieberle, Siegrid (1999): Rückkehr einer Scheinleiche? Ein erneuter Versuch über die Autorin, in: Fotis Jannidis u.a. (Hg.), Rückkehr des Autors, Tübingen, S. 255-272. von Petersdorff, Dirk (2007): Lebensanfang. Eine wahre Geschichte, München. Rilke, Rainer Maria (1991): Briefe in zwei Bänden. Bd. 1. Hg. v. Horst Nalewski, Frankfurt a.M./Leipzig. Rilke, Rainer Maria (1998): Mitten im Lesen schreib ich Dir. Ausgewählte Briefe. Hg. von Rätus Luck, Frankfurt a.M. Tholen, Toni (2005): Verlust der Nähe. Reflexion von Männlichkeit in der Literatur, Heidelberg.
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Vom Lieben, Sorgen und Schreiben Zur Konstitution von Männlichkeit in Karl Ove Knausgårds autobiographischem Roman Lieben
In den letzten Jahren hat ein norwegischer Autor ganz besonderes Aufsehen auf dem Schauplatz der Gegenwartsliteratur erregt: Karl Ove Knausgård. Der 1968 geborene Schriftsteller hat ein radikal autobiographisches Romanensemble veröffentlicht, das Proustsche Ausmaße hat. Unter dem für deutsche Ohren gewöhnungsbedürftigen Originaltitel Min kamp erschienen seit 2009 sechs oppulente Bände, von denen bisher vier in deutscher Übersetzung vorliegen. Ihre Titel im Deutschen sind: Sterben, Lieben, Spielen, Leben. Mit seinem bisher vorgelegten Werk wird Knausgård als wichtigster norwegischer Autor seiner Generation gefeiert, seine Romane lösen weltweit eine wahre Lesesucht aus, sie sind schon in viele Sprachen übersetzt und ihre wissenschaftliche Rezeption dürfte nun Fahrt aufnehmen. Es ist nicht ganz leicht, so früh zu einer Bewertung des literarischen Rangs dieses Autors zu gelangen. Die Bedeutung seiner Werke wird sich in den nächsten Jahren noch erweisen müssen.1 Dass wir es mit einem außerordentlichen und singulären Schreibprojekt zu tun haben, dürfte allerdings schon nach der Lektüre des ersten Bandes, in dem Knausgård im Wesentlichen die Geschichte vom Sterben seines Vaters und seine eigene Involvierung (als Sohn) in dieses Geschehen erzählt, deutlich werden. Die radikale Offenlegung des Verhältnisses zwischen Vater und Sohn seit frühester Kindheit, genauer: die gleichermaßen intensive wie 1 | Vgl. stellvertretend für erste ästhetische Einordnungsversuche Engelmeier (2014). Engelmeier ordnet das autobiographische Schreibprojekt mit Rückgriff auf Auerbachs Mimesis-Buch in die mimetische Tradition ein.
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extensive Schilderung der Verstrickung des Ich-Erzählers in die psychische Grunddisposition des väterlichen Vorgängers kennt in dieser Form kaum literarische Vorbilder. Wenn ich im Folgenden vor allem auf den zweiten Band Lieben (2009/2013) eingehen werde, dann möchte ich eine diesen Roman und das Schreiben Knausgårds wohl insgesamt beherrschende Thematik aufgreifen, nämlich das Verhältnis von Schreiben, Lieben und alltäglicher Sorge, und zwar in Bezug auf die Konstituierung einer männlichen Identität, deren Träger in allen Romanen der autobiographische Ich-Erzähler ist. Wie kein Autor zuvor entfaltet Knausgård ein Problem, das einerseits den gegenwärtigen Wandel in der Auffassung von Männlichkeit markiert, andererseits diesen Wandel als widerspruchsvollen, ambivalenten und äußerst konfliktuösen Prozess zur Darstellung bringt. Mit anderen Worten: Wenn der von vielen als so notwendig erachtete und gesellschaftlich durchaus auch beobachtbare Wandel von Männlichkeit einen bedeutenden literarisch-kulturellen Ort seiner Realisierung hat, dann bei Knausgård. Was aber heißt Realisierung? Nichts anderes, als dass dieser Wandel ein Konflikt ist und als solcher greif bar wird. Und diesen Konflikt trägt der Autor in aller Schonungslosigkeit der Offenlegung an sich selbst aus. Der in diesem Verfahren der Selbstausstellung zu Tage tretende Größenwahn, der jeder autobiographischen Selbstentblößung postwendend von der Kritik bescheinigt wird, vor allem dann, wenn der Schreiber nicht vorher schon ein großer Autor ist, ist Teil des Problems, um das es wesentlich geht, die Konstruktion von Männlichkeit. Das literarische GrößenIch tritt in Konflikt mit dem ganz normalen und vollkommen unbedeutenden Alltag einer Familienexistenz. Dass dies die Leitthematik des zweiten autobiographischen Romans Lieben ist, wird schon daran deutlich, dass sie direkt in den ersten Sätzen des Textes entfaltet wird: 29. Juli 2008. Der Sommer ist lang gewesen, und er ist noch nicht vorbei. Am 26. Juni beendete ich den ersten Band meiner Romanreihe und seither, mehr als einen Monat, sind Vanja und Heidi nicht mehr im Kindergarten gewesen, was einen intensiveren Alltag zur Folge hat. Es hat sich mir niemals erschlossen, welchen Sinn Urlaube haben sollen, und ich selbst habe nie das Bedürfnis nach einem verspürt, immer nur Lust gehabt weiterzuarbeiten. Aber wenn ich muss, dann muss ich eben. Die erste Woche wollten wir eigentlich in unserer Schrebergartenlaube verbringen, die wir auf Lindas Wunsch hin im vorigen Herbst als Ort zum Schreiben
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und als Wochenendhäuschen gekauft haben, aber nach drei Tagen gaben wir auf und zogen wieder in die Stadt. (Knausgård 2013: 5)
Schreiben und Familienleben werden in der Eingangspassage zusammengeführt, unterschiedlich bewertet und topographisch problematisiert. Schreiben könnte der Ich-Erzähler immerzu, ohne Unterbrechung, aber das Familienleben erfordert die Unterbrechung der literarischen Arbeit, und das Ich beugt sich diesem Erfordernis in dem Bewusstsein, einer Pflicht nachzukommen. Er legt sich den Familienurlaub als eine Art ethisches Gebot auf: „wenn ich muss, dann muss ich eben“. Deutlich wird aber auch, dass Lust und Pflicht nicht am selben Ort Platz haben. Die Schrebergartenlaube ist zu eng für alle, außerdem lässt sich nicht dort schreiben, wo zugleich Frau und Kinder den Raum auch bespielen. Stattdessen gibt es Streit und das Experiment endet mit dem Rückzug in die Stadtwohnung. Der Romananfang ruft die traditionelle Trennung der Sphären geistigkreativer Produktion und familialer Existenz, die für die Gestalt moderner männlicher Subjektivität weithin prägend ist, auf, aber geht darüber auch hinaus, weil wir es mit einem Ich zu tun haben, das die Sphärentrennung nicht einfach wiederholt und damit einmal mehr festschreibt, sondern beide Sphären als Bestandteile seiner Existenz (an)erkennt. Knausgård ist nicht nur der solitäre Ästhet und Schriftsteller, sondern er ist zugleich Familienmann mit Frau und Kindern. Und er ist dies in einer Zeit neuer, zeitgenössischer familiärer Normen geteilter Fürsorge und des gleichberechtigten Zusammenlebens, die vermutlich für den Mann mit mehr Arbeit an sich verbunden sind als für die Frau. Lieben ist ein Roman, in dem diese männliche Arbeit an sich vorgeführt wird und sich diese auf der einen Seite vollzieht als Sorge für andere, konkret: als Beteiligung des Mannes an der Hausarbeit, an der Fürsorge für die Kinder, schließlich als Arbeit an der Beziehung mit Linda, Knausgårds zweiter Frau. Auf der anderen Seite der männlichen Selbstformung steht aber immer auch das Schreiben. Und dieses vollzieht sich in einer eigentümlichen, jedoch kennzeichnenden Doppelung poetologischer Selbstverortung. Grob gesprochen, kann man von zwei Schreibwelten sprechen, in denen der Ich-Erzähler sich aufhält: Zum einen entwirft er ganz explizit eine Poetik der Abstandnahme, der Einsamkeit und der Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Hier weiß er sich in Gesellschaft mit berühmten literarischen Vorfahren, er geht ein in den Traditionszusammenhang ei-
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ner hermetischen Moderne solitärer männlicher Künstler, deren Namen, Werke und Ideen er in den essayistischen Passagen von Lieben emphatisch aufruft. In einer solchen Welt des Ideals tauchen keine Frauen und Kinder auf. Diese Welt ist ein geschlossener, homosozialer Raum, den Knausgård bezeichnenderweise mit seinem Autor-Freund Geir in den unzähligen Gesprächen, die sie über Literatur, bildende Kunst, Philosophie und Gesellschaft führen, teilt. Zum anderen widerspricht sein eigenes autobiographisches Schreiben, also das, was sich unter seinen schreibenden Händen formt, einer solchen Poetik. Denn die Seiten füllen sich vor allem mit der extensiven Beschreibung von Alltagsszenarien und Konflikten in der Familie und in deren sozialem Umfeld. Wir bewegen uns bei Knausgård also poetologisch betrachtet in einer Spur geteilten Schreibens, in einer Poetik, die mit sich selbst konfligiert, sich selbst widerruft. Halten wir fest: Knausgårds autobiographisches Schreibprojekt gibt tiefe Einblicke in eine spezifisch männliche „Existenzweise“2, die höchst gegenwärtig ist, weil sie den sich vollziehenden Wandel von Männlichkeit als höchst widersprüchliches und konflikthaftes Geschehen zu erkennen gibt. Im Roman Lieben wird dieser Prozess als doppelter Konflikt dargestellt: zum einen als Konflikt des Ich-Erzählers zwischen schreibender und familiärer Existenz, zum zweiten als Widerstreit innerhalb der Poetik, d.h. innerhalb der ästhetischen Selbstverortung des Schreibenden. Dieser doppelte Konflikt soll nun am Roman selbst aufgezeigt werden.
D er ge teilte R aum I: L ieben , S orgen – S chreiben Die eigentliche Keimzelle des Romans ist ein emphatisches Liebesbekenntnis, von dem allerdings erst spät, in einer fortgeschrittenen Passage, erzählt wird. Karl Ove trifft Linda Boström nach seinem Umzug nach Stockholm ein zweites Mal und verliebt sich wie bei der ersten Begegnung einige Zeit zuvor in einem Schreibseminar für junge Literaten. Er schreibt ihr einen Liebesbrief, dessen Inhalt er ihr bei einer weiteren Begegnung erzählt: „Ich beschrieb ihre Lippen, die Augen, ihre Art zu gehen, die Worte, die sie benutzte. Ich sagte, dass ich sie liebte, obwohl ich sie nicht kannte. Ich sagte, dass ich mit ihr zusammen sein wollte. Dass es das Einzige war, was ich wirklich wollte.“ (Knausgård 2013: 289) Nach 2 | Maihofer (1995). Vgl. zur spezifisch männlichen Existenzweise ebd., 109ff.
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der ersten Liebesnacht schon weiß Karl Ove, dass sie beide zusammen gehören. Beide wünschen sich Kinder. Es folgt eine Phase vollkommenen Glücks. Der Ich-Erzähler berichtet davon, dass in ihr alles „einen Sinn“ ergibt, alles mit Bedeutung aufgeladen ist (Knausgård 2013: 292). Auch Linda verspürt ein ungeheures Glück im ungeteilten Zusammensein beider. Auch wenn beide wissen, dass dieses ungeteilte Glück nicht von Dauer sein kann, erleben sie es so, als wüssten sie nichts vom Abebben dieses Zustandes. In dieser Zwischenzeit des absoluten Liebeserlebens ist alles Hingabe und Teilnahme am anderen. Es formt sich darin das Wissen von einer Gemeinschaft, die nur zwischen diesen beiden Individuen möglich ist und von der das Paar von Beginn an weiß, dass sie auf ein familiäres Dasein mit Kindern hin erweitert werden wird. Es ist diese Selbstverständlichkeit und Unbedingtheit, mit der der Mann Karl Ove sich der Liebe zu Linda hingibt und von sich aus den Wunsch nach Kindern offenbart, was verblüffend und entwaffnend auf die Leser/innen wirkt, werden Männer doch häufig als die großen Zögerer und Zauderer in Bezug auf feste Bindungen, als die großen Kommunikationsverweigerer und –versager im Hinblick auf Gefühlsäußerungen hingestellt. Von besonderer Bedeutung für den Privatmythos, den Knausgård aus der Liebe zwischen Linda und ihm erzählerisch hervorgehen lässt, ist die Schilderung der Geburt der ersten Tochter, Vanja. Der Geburtsvorgang wird von Seiten des Mannes als intensives, bedeutendes Ereignis erzählt, bei dem die gebärende Frau ganz im Mittelpunkt der Erzählung steht. In bisher kaum von einem männlichen Autor so realisierter Weise wird deutlich, dass der Mann bei der Geburt des Kindes eine unterstützende Funktion hat, dass die Frau ihn als Helfer und Begleiter braucht, aber sie es ist, die inmitten dieses elementaren Vorganges steht, sie es ist, die die Geburt unter Schmerzen erleidet und vollbringt. Darüber hinaus wird die Situation zu einem der seltenen Ereignisse, in denen der Mann nicht selbstbestimmt handelt, er aber zugleich in der Randstellung, am Rande des Geschehens stehend, vollkommen an der anderen teilnimmt, und die Teilnahme und das Beistehen zu einer Überwältigung führt, die, als das Kind sichtbar wird, sich in Tränen entlädt. Die erlebte Nähe zur geliebten Frau, die Teilnahme an der Geburt der Tochter, verwandeln das Sein des Mannes ganz in ein Gefühl, das Liebe ist und das im Weinen des Mannes wirklich wird. In einem solchen Gefühlszustand sieht Karl Ove Gesten der Zuwendung, für die er sonst nicht disponiert ist, von deren
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Existenz er nicht einmal wusste. Als das Neugeborene an Lindas Brust liegt, nimmt er plötzlich etwas Neues wahr: „Wie Linda sich ihr [Vanja] öffnete, die vollkommene Fürsorge in ihren Bewegungen, hatte ich nie zuvor gesehen.“ (Knausgård 2013: 439) Als er nach Hause geht, kann er darüber nichts schreiben, weil das Geschriebene ihm angesichts des Erlebten zu „dumm“ gerät. Er berichtet stattdessen von einer durchwachten Nacht, in der sich ihm etwas öffnet, in der er plötzlich empfänglich für alles wird und „die Welt, in deren Mitte [er sich befindet] [...], randvoll mit Sinn“ (Knausgård 2013: 442) ist. Entscheidend für die Konstitution von Männlichkeit ist, dass Knausgård seine Erlebnisse ausschreitet, dass er genügend Raum gibt, die sich in solch existenziellen Situationen vollziehende männliche Depotenzierung zugleich als Quelle einer neuen Wahrnehmungs- und Gefühlswirklichkeit darzustellen, die den Mann zumindest augenblickhaft in eine Weltmitte, in ein Zentrum rückt, das er nicht selbst schafft (das Schreiben über das Geschehene, die Verwandlung des Geburtserlebnisses in Literatur misslingt) und dass durch keine männliche Genealogie vorstrukturiert ist, sondern das seine Existenzweise grundlegend verändert, insofern er in dieser Weltmitte empfänglich wird und das Empfänglichwerden als sinnhaft erfährt. Karl Ove hört in dieser Empfänglichkeit auch den Schrei seiner Tochter als einen Laut, der ihn in der „Mitte der Welt“ (Knausgård 2013: 438) ganz eng mit ihr verbindet. Die in diesem Moment entstehende Zärtlichkeit für Vanja wird sich immer wieder auf die väterliche Fürsorge übertragen, auch in angespannten Alltagssituationen. Der Roman entfaltet jedoch alles andere als eine Familienidylle, in der der Mann wie selbstverständlich die Rolle des ‚neuen Vaters‘ einnimmt, welcher mühelos in die traditionell weiblich codierten Domänen von Familie, Haushalt, Sorge für die Kinder einwandert und seine Zeit und Energien ohne innere und äußere Widerstände in die Pflege der familiären Beziehungen einfließen lässt. Die im Text häufig thematisierten Widerstände haben dabei sowohl Ursachen in der familialen Dynamik und Positionierung des Ich-Erzählers selbst als auch in seinem Wunsch zu schreiben und im Schreiben die Möglichkeit zu haben, dem Familienleben und den damit verbundenen sozialen Pflichten zu entkommen. Zunächst zu den Ursachen, die aus der familialen Dynamik und dem Beziehungsgeflecht, in das der Familienmann eingespannt ist, herrühren. Es sind hier drei zentrale Aspekte zu nennen, die allesamt das männliche Ich relativieren, seine Souveränität und Kontrolle über sich und andere in
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Frage stellen. Der erste Aspekt betrifft die männlich-väterliche Positionierung in der eigenen entstehenden Familie. Karl Ove kann seinen Alltag darin nicht mehr autonom gestalten. Die Übernahme der Haushalts- und Sorgearbeit, die er als aus ethischen Gründen zu leistende Pflicht empfindet, nimmt ihm die autonome Verfügung über seine eigene Lebenszeit, vor allem die Möglichkeit, in der literarischen Arbeit sein anderes Leben zu führen: „Wenn ich [...] mit Vanja durch die Straßen ging, wenn ich sie fütterte und wickelte, während diese unbändige Sehnsucht nach einem anderen Leben in meiner Brust pochte, war dies die Konsequenz einer Wahl, mit der ich leben musste. Es führte kein Weg daran vorbei, nur diesen alten und ausgetretenen: ertragen.“ (Knausgård 2013: 486) Nicht nur die Fürsorge für die kleine Vanja erfordert viel Zeit und Geduld, sondern auch Linda hat am liebsten, wenn Karl Ove um sie beide herum ist und sich um sie kümmert. In der täglich zu leistenden Organisation von Haushalt und Fürsorge, aber auch in Bezug auf die Verteilung von familialer Zuwendung und Selbstzuwendung treten Differenzen zwischen Frau und Mann auf, die zu einer latenten Aggressivität führen. So kann Karl Ove nicht verstehen, dass Linda Vanja bei der Verrichtung der Hausarbeit immer die erste Priorität einräumt. Wenn sie Aufmerksamkeit einfordert, lässt Linda alles andere liegen und kümmert sich erst einmal ganz um das Kind, auch wenn dann alles andere liegen bleibt. Er nimmt hingegen für sich die größere Effektivität in Anspruch: „Ich konnte Vanja alleine versorgen und die Wohnung putzen. Das ging zwar nicht ohne ein paar Tränen, aber es klappte.“ (Knausgård 2013: 516) Hier und an anderen Stellen wird deutlich, dass Mann und Frau Differenzen in der Vorstellung von Familienarbeit und -existenz haben. Das überträgt sich dann auch auf die Intensität der Präsenz zu Hause. Während Linda am liebsten mit Kind und Mann möglichst viel Zeit in der gemeinsamen Wohnung verbringt, nutzt Karl Ove jede Möglichkeit und jede freie Stunde, den gemeinsamen Raum zu verlassen, um sich an einem anderen Ort ungestört seinen Gedanken und dem Schreiben hinzugeben. Die sich im gemeinsamen Familienraum permanent aufstauende Aggressivität entlädt sich auch am Kind. In einer unscheinbar wirkenden Passage des Romans erzählt Knausgård in brillanter Weise, wie das in der väterlichen Perspektive unkooperative, zappelige Verhalten der Tochter beim Wechseln der vollen Windel dazu führt, dass er sie härter und unduldsamer anfasst (vgl. Knausgård 2013: 518f.). Die sich im familialen Dreieck permanent durchkreuzenden Einstellungen, Interessen, Wünsche und Erwartungen
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an den anderen bilden ein Differenzgeflecht, das die Beteiligten in eine dauerhafte Situation der Ungleichzeitigkeit versetzt. Die familieninterne Diversität von Perspektiven und Prioritäten führt zu einer Entsouveränisierung des männlich-väterlichen Ich. Statt sich in diese praktische Diversität einzuüben, sie als eine Form des Loslassens von sich selbst zu erfahren, verhärtet sich das männliche Subjekt, indem es das Leben als Familienmann einerseits zu einer stoischen Pflicht des Aushaltenmüssens erklärt, dabei aber in einer dauernden Ambivalenz zwischen Aggression und Schuldgefühl gefangen bleibt (vgl. Knausgård 2013: 728f.), es andererseits als uneigentliches von einem zweiten, eigentlicheren Leben abspaltet und sich somit selbst in zwei Hälften zerreißt: Das alltägliche Leben mit seinen Pflichten und wiederkehrenden Abläufen war etwas, das ich ertrug, nichts, worüber ich mich freute, nichts, was mir einen Sinn gab und mich glücklich machte. Es ging nicht darum, dass ich keine Lust hatte, den Fußboden zu putzen oder Windeln zu wechseln, sondern um etwas Fundamentaleres, dass ich in dem mir nahen Leben keinen Wert erblickte, mich stattdessen unablässig fortsehnte und dies schon immer getan hatte. Das Leben, das ich führte, war folglich nicht mein eigenes. Ich versuchte, es zu meinem zu machen, das war der Kampf, den ich ausfocht, denn das wollte ich doch, aber es gelang mir einfach nicht, alles, was ich tat, wurde von der Sehnsucht nach etwas anderem vollständig ausgehöhlt. (Knausgård 2013: 87)
Diese Passage beschreibt ziemlich genau ein wesentliches Problem von Männlichkeit heute: dem Alltäglichen, dem Nahen, der familiären Sorge – Heidegger nennt es in Sein und Zeit zusammenfassend die ‚besorgende Fürsorge‘ (Heidegger 1984: 124) – einen Wert zuzuschreiben, darin einen Sinn zu sehen. Das gesamte autobiographische Schreibprojekt Knausgårds kann als ein Ringen darum betrachtet werden. Gerade als dieses Ringen ist es für die Frage nach der Männlichkeit und ihrer möglichen Transformation ein ungemein aufregendes und erkenntnisreiches literarisches Unterfangen. Die Frage der Transformation von Männlichkeit entscheidet sich vor allem auch daran, ob die von Knausgård noch einmal, einmal mehr vollzogene Zweiteilung der männlichen Subjektivität in ein ‚uneigentliches‘ – familienmännliches – und in ein ‚eigentliches‘ – geistig-schöpferisches – Dasein überwindbar erscheint. Der Text gibt darauf keine einfache Antwort. Zunächst scheint sich die Zweiteilung fest zu verankern. Dieser Eindruck verfestigt sich, wenn man auch poetolo-
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gische Passagen aus dem ersten Roman Sterben mitberücksichtigt. Dort wird seitenlang die Ambivalenz zwischen familialer und ästhetischer Existenz geschildert, auf der einen Seite die Freude und das Glück im Zusammensein mit den Kindern, auf der anderen Seite das Geständnis des Ich-Erzählers, in der Familie nicht das „Ziel“ (Knausgård 52013: 49) seines Daseins zu sehen. Die Familie gilt als Teil der Pflicht, dem Schreiben als Praxis des Abstandnehmens und des einsamen intensiven Erlebens von Sinn hingegen gilt die ganze Sehnsucht: Für die Familie tue ich alles, was ich tun muss, das ist meine Pflicht. Wenn mich das Leben eins gelehrt hat, dann es zu ertragen, es nie in Frage zu stellen, und die Sehnsucht, die dadurch entsteht, in meinem Schreiben zu verbrennen. (Knausgård 52013: 49)
Die adversative Verhältnisbestimmung von Familie und Schreiben wird allerdings in eine eigene Dialektik verwickelt, die es später noch offenzulegen gilt. Kommen wir zum zweiten Aspekt, der den Souveränitätsverlust des männlichen Subjekts bzw. seine Relativierung im Feld familialer Positionierung markiert. Der Roman gibt entwaffnende Einblicke in die fundamentale Irritation von Männern bezüglich ihres männlichen Selbstbildes, die entsteht, wenn sie als fürsorgende Väter mit ihren Babies in traditionell weiblich-mütterlich codierten Kontexten und Räumen erscheinen. Das Selbstbild einer souveränen, kontrollierenden Männlichkeit wird durch eine doppelte Wahrnehmung bzw. durch eine zweifache Projektion depotenziert. Zum einen durch die Interpretation des Blicks der anderen auf den Vater, zum anderen durch seine eigene Projektion auf seinesgleichen. Karl Ove geht mit Vanja zu einer Babyrhythmik und vollzieht dort zusammen mit den Eltern und Kindern bekannte Begrüßungs- und Animierungsrituale (Liedchen singen, Hallo winken etc.). Im Blick der attraktiven Kursleiterin vor allem erlebt er eine vollständige Demaskulinisierung: Ich war nicht peinlich berührt, es war nicht beschämend, dort zu sitzen, es war demütigend und herabwürdigend. Alles war weich und freundlich und gut, alle Bewegungen minimal, und ich saß zusammengekauert auf einem Kissen und lallte zusammen mit Müttern und Kindern in einem Gesang, der zu allem Überfluss von
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einer Frau geleitet wurde, mit der ich gerne geschlafen hätte. (Knausgård 2013: 100)
Die familiale Betreuungssituation wird überlagert durch eine erotische Phantasie des Mannes, die ihn vor allem wegen ihrer desaströsen Wirkung vollständig in Beschlag nimmt, ihm damit aber auch die Möglichkeit nimmt, an der Veranstaltung, die ja in erster Linie zum Wohle seiner Tochter stattfindet, wirklich teilzunehmen. Eine solche männlich-väterliche Selbstexklusion findet auch in der zweiten Projektionssituation statt. Sie geht aus von der Beobachtung von Kinderwagen durch die Stadt schiebenden Vätern, die mit dem Ich-Erzähler zusammen im Café oder auf dem Kinderspielplatz sitzen. Sich mit ihnen gedanklich vergemeinschaftend, projiziert er auf sie und sich selbst eine umfassende Feminisierung, welche mit einer Verachtung der neuen väterlichen Sorgetätigkeit einhergeht: Wenn ich im Café saß und Vanja fütterte, saß dort immer mindestens ein anderer Vater, vorzugsweise in meinem Alter, will sagen Mitte dreißig [...] es fiel mir schwer, das Verweiblichte an ihnen in dem, was sie taten, zu akzeptieren, obwohl ich das Gleiche tat und genauso verweiblicht war wie sie. Die leichte Verachtung, mit der ich diese Kinderwagen schiebenden Männer betrachtete, war gelinde gesagt zweischneidig, da ich ja selbst die meiste Zeit einen vor mir hatte, wenn ich sie sah. (Knausgård 2013: 96)
Der Eintritt des Mannes in ungewohnte maternale Räume und Kontexte zieht eine umfassende Verunsicherung seiner Maskulinität nach sich, die keinerlei positive Effekte generiert, sondern als Schwächung des Ich beschrieben wird. Erlebt wird sie von Karl Ove als Verzweiflung, in eine familiale Form gepresst zu werden, die „so klein und eng“ (Knausgård 2013: 115) ist, dass er sich nicht mehr rühren kann. Männer, so mutmaßt er, sinken darin „ins Nahe und Sanfte“ (ebd.). Die Dimension der Nähe ist schon zu Schillers Zeiten nicht das Raummaß des Mannes gewesen: „Seines Willens Herrschersiegel / Drückt der Mann auf die Natur, / In der Welt verfälschtem Spiegel / Sieht er seinen Schatten nur, / Offen liegen ihm die Schätze / Der Vernunft, der Phantasie, / Nur das Bild auf seinem Netze, / Nur das Nahe kennt er nie.“ (Schiller 1987: 879)3 Knausgård führt 3 | Vgl. zum Thema insgesamt Tholen (2005).
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vor, dass das Verhältnis von Männlichkeit und Nähe auch gegenwärtig noch ein zutiefst spannungsvolles ist. Die Dislozierung und Schwächung des männlichen Ich wird noch durch einen dritten Aspekt verstärkt. Die von Karl Ove fortwährend praktizierte Selbstexklusion, die er auch als seine „Methode“ (Knausgård 2013: 53) bezeichnet, setzt sich im sozialen Kontext der freundschaftlichen Kontakte der Familie fort. Besonders wenn Freunde von Linda zum Essen da sind, versinkt er in eine seltsame Passivität und Unengagiertheit. Er interessiert sich nicht für sie und beschränkt sich aufs Kochen, Servieren und aufs pure Anwesendsein (vgl. Knausgård 2013: 551f.). Die mangelnde Teilnahme in sozialen Kontexten ist für den männlichen Protagonisten aber auch ein generelles Defizit, das er an sich wahrnimmt und das allerdings in widersprüchlicher Weise mit seinem stets vorhandenen Wunsch einhergeht, allein zu sein. Diese Form einer passiv-aktiven Selbstexklusion aus den familialen wie sozialen Kontexten insgesamt erweist sich als irreversibel, weil sie aus einer genealogischen Verkettung resultiert. Im ersten Roman des autobiographischen Projekts von Knausgård, in dem die Geschichte vom Sterben seines Vaters und darin ausführlich die Vater-Sohn-Beziehung geschildert wird, ist zu erfahren, dass auch schon der Vater an den familiären und schulischen Ereignissen der Söhne nicht teilnimmt. Diese Teilnahmslosigkeit ineins mit dem Bestreben allein zu sein, übernimmt Karl Ove von seinem Vater als Jugendlicher. Seit der Schulzeit bleibt er gerne nachts auf. Das hat, so macht er sich im erinnernden Rückblick klar, zu tun mit einem größer werdenden Bedürfnis, allein zu sein, das ich, wie ich inzwischen erkannte, mit meinem Vater gemeinsam hatte. In unserem Haus stand ihm eine ganze Einliegerwohnung zur Verfügung, in der er fast jeden Abend verbrachte. Das war seine Nacht. (Knausgård 52013: 273)
Mit Nacht und Einsamkeit sind die Umschlagspunkte in Lieben angesprochen. Mit ihnen kommt eine andere Sphäre ins Spiel, welche man als die zweite, ganz andere Welt Karl Oves, seine Sehnsuchtswelt, bezeichnen kann. Es ist die Sphäre von Kunst, Geist und Schreiben. Sie ist für ihn nur erreichbar und auch sicherbar durch die Methode des Abstandnehmens, des Sich-Fernhaltens, der Distanz. Dies gelingt aber dem Familienmann nicht einfach so, sondern die Sicherung dieser Sphäre wird als permanenter „Kampf“ (Knausgård 2013: 87) und nicht, wie die Soziologen sagen,
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als ‚Aushandlungsprozess‘ beschrieben. Es ist ein existenzieller Kampf um das Alleinsein, ein Kampf um die ungeteilte Zeit und den ungeteilten Raum. In seinem häuslichen oder außerhäuslichen Arbeitszimmer soll sich keine zweite Person aufhalten. Die Rigidität der Sicherung des eigenen Denk- und Schreibterritoriums macht einerseits die Bedrohung deutlich, die der Mann als Teil eines familialen Beziehungsgefüges verspürt, aber sie gibt darüber hinaus auch zu erkennen, worum es in diesem Einsamkeitsraum geht, nämlich um die (Wieder-)Herstellung eines Selbstverhältnisses, um ein Beisichsein, um – mit Foucault zu sprechen – eine Sorge um sich selbst, die nur in der Abtrennung und Abgeschiedenheit möglich ist. Es ist aber auch der Raum einer männlichen Resouveränisierung, in welchem sich das familial geschwächte männliche Ich in ein großes und starkes Ego zurückverwandeln kann. Denn in der Welt des Geistes, in der Welt von Kunst und Literatur herrschen andere Gesetze als die geschlechterdemokratischen der Jetztzeit. In einer durchweg homosozialen Geistsphäre, die Karl Ove mit Schriftstellerkollegen und männlichen Autorenvorgängern, vor allem aber mit seinem Autorenfreund Geir teilt, zählt nicht das Prinzip der Geschlechtergleichheit und der gleichen Beteiligung an den Sorgetätigkeiten, die er für sein Familiendasein pflicht-, d.h. vernunftgemäß akzeptiert. Die Geistsphäre ist die Sphäre einer absoluten Homogenität, in der das Ich absolut ist: Es denkt nur an sich selbst, es sieht nur sich selbst und es quillt von sich selbst über. Kurz: Es apperzipiert sich als großes, kreatives Ich. Vollzogen wird hier abermals, was Gottfried Benn noch 1950 in seinem autobiographischen Text – ausgerechnet in einem Kapitel über den Norweger Hamsun – als die „große Trennung“ bezeichnet hat: „Diese Haltung [Hamsuns] führt vor die große Trennung, die durch die abendländische Welt geht: einerseits die Kunst und alles, was mit ihr zusammengehört, und andererseits das gute, warme, pausenlose Familienleben [...].“ (Benn 1992: 148) Das schöpferische Ich ist nur in dieser Trennung, im absoluten Für-sichsein. In einem Gespräch mit seinem Freund Geir gibt Karl Ove zu verstehen, dass ihm das Sein für andere „nicht im Blut“ (Knausgård 2013: 633) liegt: „Es ist nicht Teil meiner Natur.“ (Knausgård 2013: 633) Daran knüpfen sich kulturkonservative Überlegungen zur Einschätzung der Gesellschaft der Gegenwart. Diese ist geradezu durch das Prinzip des Daseins für andere gekennzeichnet. Der gesamte Sozialisationsprozess fällt unter dieses Prinzip, einschließlich der Geschlechterpraktiken von Mann und Frau: „Gleichheit und Gerechtigkeit lauteten die Parameter, sie stellten
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alles andere in den Schatten, woraus ein Leben, eine Beziehung bestand.“ (Knausgård 2013: 116) Das Sein für andere als alles beherrschendes soziales Prinzip ist für Karl Ove gleichzusetzen mit Verweiblichung und Modernität. Wäre nicht die stete Versicherung präsent, als Mann selbst Teil dieser Modernität zu sein und als sorgender Familienmann nicht aus ihr herauszuspringen, fühlte man sich zurückversetzt in den Diskurs um die Krise der Männlichkeit vor hundert Jahren. Und dies umso mehr, als der Gleichheitsdiskurs auch noch in eine Debatte über die gegenwärtige Form des Nihilismus verwickelt wird (vgl. Knausgård 2013: 129f.) und zur Diagnose führt, in einer Kultur der Nivellierung und Mittelmäßigkeit zu leben. Der Schriftsteller Karl Ove geht geschlechtertheoretisch betrachtet an den Rand, wenn er mit Vorstellungen einer Archaik jongliert, wie sie ihm durch die Arbeiten seines Freundes Geir nahe gelegt werden. In einem von dessen Büchern mit dem Titel Die Ästhetik der gebrochenen Nase geht es um das Boxen und um den begrüßenswerten Tatbestand, dass in einem homosozialen Raum wie dem Boxclub archaische Vorstellungen von „Männlichkeit, Ehre, Gewalt und Schmerz“ (Knausgård 2013: 164) gegen eine verweichlichte Wohlstandsgesellschaft wachgehalten werden. Es geht in diesem Buch auch darum, einen maskulinen Herrengeist wiederzubeleben, dessen antiliberale Hochkultur in einer Linie von „Nietzsche und Jünger bis zu Mishima und Cioran“ (Knausgård 2013: 164) gezogen wird. Um aber zu einer angemessenen Beurteilung des Geschlechterdenkens, insbesondere der Modellierung von Männlichkeit zwischen familialer und ästhetischer Existenz zu kommen, wie sie im Roman insgesamt vorgenommen wird, ist es wichtig, den ästhetischen Raum von Knausgård noch weiter auszuloten.
D er ge teilte R aum II: S chreiben – S chreiben Die männliche Archaik spielt im ästhetischen Koordinatensystem des Autors durchaus eine Rolle, aber sie ist nur eine Facette in der Konstruktion von Männlichkeit und männlichem Schreiben. Um das verwickelte Verhältnis von Männlichkeit und Schreiben unverkürzt darzustellen, bedarf es einer genaueren Ausleuchtung des Schreibraums. Zunächst findet sich im Roman immer wieder die Absetzbewegung des schreibenden Mannes von der Familie. Es werden dafür u.a. berühmte Vorgänger wie Ibsen
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herbeizitiert, die bereits im 19. Jahrhundert verkündet haben, dass alle sozialen Beziehungen, die familiären eingeschlossen, das Individuelle auslöschen, die Freiheit fesseln und all das zurückhalten, was hoch will (vgl. Knausgård 2013: 668). Um in die Transzendenzrichtung einzubiegen, bedarf es eines radikalen Bruchs mit der den schöpferischen Mann umgebenden Welt. Was bei Peter Sloterdijk als artistisches und asketisches Einüben in die ‚Vertikalspannung‘ ganz im Sinne einer Resouveränisierung des männlich-solipsistischen Leistungssubjekts anthropotechnisch wieder aufgeschwemmt wird4, findet seine Resonanz in Karl Ove Knausgårds Wunschphantasie, sich „in ein Zimmer [zu] setzen, ernsthaft [zu] lesen, keine Gegenwartsliteratur, sondern Literatur von höchster Qualität, um anschließend zu schreiben, als hinge [s]ein Leben davon ab. Wenn es sein musste, [...] zwanzig Jahre lang.“ (Knausgård 2013: 669) Mit solchen Abschottungs- und Vertikalphantasien stellen sich momentan harte Gefühle der Abneigung gegenüber seiner Familie ein. In einer Passage von Sterben, in der es um die – auch psychische – Konstituierung des männlichen Schreibraums geht, heißt es über die Kinder: „Und mindestens genauso schlimm ist es zu wissen, dass ich es mit Kindern zu tun habe. Dass es Kinder sind, die mich hinunterziehen.“ (Knausgård 52013: 48) Gleichzeitig ist aber auch ein Wissen von der ungeheuren Distanz da, die Karl Ove in einen permanenten inneren Kampf mit sich selbst verwickelt, denn er entdeckt in sich eine Ungeheuerlichkeit, eine Kälte der Distanz, die im absoluten Gegensatz zum Bedürfnis der Kinder nach der väterlichen Nähe steht. Das Ringen mit sich strukturiert maßgeblich den Raum des Schreibens. Es teilt ihn in zwei Sphären, die durch unterschiedliche Modi der Zuwendung gekennzeichnet sind. Der eine Raum ist der maskuline. 4 | Der Rilkesche Torso Apollos, der mit seiner ihm vom Autor in den Blickstrahl gelegten Aufforderung ‚Du mußt dein Leben ändern‘ das Motto für Sloterdijks neue Leistungs- und Ausnahmeethik abgibt, repräsentiert zugleich die Idealgestalt eines anthropotechnisch refigurierten Maskulinismus: „Plausibel ist jedoch, daß der Verfasser [Rilke] des Sonetts aus dem realen Torso, der ihm zu Gesicht kam, etwas von der Strahlkraft des antiken Athletenvitalismus und von der muskulären Theologie der Ringer in der Palästra herausgelesen hat. Das Vitalitätsgefälle zwischen dem erhöhten und dem profanen Körper muß ihn selbst angesichts eines bloßen Relikts verklärter Männlichkeit auf unmittelbare Weise angesprochen haben.“ (Sloterdijk 2011: 49)
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Knausgård entwirft darin eine Ästhetik, die sich in den homosozialen Raum der großen männlichen Künstler und Autoren vor allem der europäischen Moderne einschreibt, von Hamsun bis Kiefer, von Hölderlin über Dostojewski bis Celan (vgl. z.B. Knausgård 2013: 708f.). Und er tut dies vor allem in Gesprächen mit seinem intellektuellen Freund Geir. Die beiden Autoren entwickeln ihre Poetik durch den ständigen Austausch ihrer durchaus differenten ästhetischen Grundeinstellungen und Rezeptionserfahrungen. Dabei lernen sie sich noch näher kennen und schätzen. In den Raum dieser mann-männlichen Zuwendung erhält keine Frau Zutritt. Er ist der Raum männlicher Einsamkeit, der sich bisweilen öffnet für die geistige Kommunikation mit einer zweiten männlichen Einsamkeit. Knausgård geht es in seiner Ästhetik ums nichts weniger als darum, die Literatur als utopischen Einfallsort des ganz Anderen, des Unverstellten wiederzuerwecken. Dabei schwingt sowohl die Sehnsucht nach einem anderen, wesentlichen Leben, in dem es um die existenziellen Fragen geht, mit als auch die Erfahrung der Welt in ihrer konkreten Dinglichkeit und Körperlichkeit, die intensive Naturwahrnehmung eingeschlossen. Eins der Leitworte für diese Ästhetik ist Hölderlins berühmter Vers aus der Elegie Der Gang aufs Land: „Komm! Ins Offene, Freund!“ (Knausgård 2013: 541). Der Vers inauguriert eine doppelte mann-männliche Zuwendung: Zum einen stellt sich der Autor in die Anrufung dieses Verses und verschreibt sich damit der Hölderlinschen Spur. Er wird damit zugleich zum Freund, er begibt sich in den Resonanzraum der befreundeten Stimme, in die Offenheit einer gemeinsamen Seinserfahrung mit dem literarischen Vorgänger. Und diese Erfahrung teilt Karl Ove in einer zweiten Zuwendung dem Autorfreund Geir mit: auch dies ein Akt mann-männlicher Vergemeinschaftung. Man gewinnt den Eindruck einer Ästhetik und Poetik, die sich hochkulturell und exklusiv abschließt, ja abdichtet gegenüber der nivellierenden Alltagswelt und dem stumpfen Familiendasein mit all den sinnfreien Organisations- und Routinehandlungen. Betrachtet man jedoch das konkrete autobiographische Projekt Knausgårds, von dem Lieben ein Teilstück ist, dann fällt einem der Widerspruch zwischen der oben beschriebenen Poetik und dem konkreten Roman auf, der vor uns liegt. Indem der Roman auf hunderten von Seiten Zeugnis vom Alltag und der Familienarbeit seines Autors abgibt, konterkariert er jede Vorstellung von Exklusivität und einsamer Abschottung im homosozialen Raum. Im Gegenteil ereignet sich (noch) eine ganz andere Öff-
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nung als die oben beschriebene. Der Schreibraum wird durchlässig für anderes, für Windelwechseln und Kinderwagenfahrten ebenso wie für die Zuwendung zur Lebenspartnerin. Und erst diese Offenheit begründet das gänzlich Neue an Knausgårds Schreibprojekt. Es entscheidet nicht den seit Kierkegaards Entweder-Oder schwelenden Konflikt zwischen der Existenz des Ästhetikers und der des Ethikers Wilhelm, der gleichzeitig die Position des bürgerlichen Familienmannes einnimmt, sondern es greift ihn aktualisierend wieder auf (vgl. Kierkegaard 1993). Unter diesem Blickwinkel erweist sich allererst, dass durch den Wandel der Vorstellungen der Verteilung von Familien- und Berufsarbeit auf die Geschlechter auch das Schreiben und die Reflexion des Ästhetischen einer Transformation unterliegen, welche sich als Konflikt vollzieht, allerdings auch als Öffnung des traditionell männlich dominierten literarischen Raumes. Der Konflikt ereignet sich in Lieben zwar auch zwischen den Geschlechtern, zwischen Karl Ove und Linda, vor allem wenn es darum geht, wieviel Zeit für die Familie einerseits, fürs Schreiben andererseits aufgewendet werden soll, darüber hinaus aber führt er zu einer Infragestellung einer hegemonialen Vorstellung von Männlichkeit im Gespräch zwischen Männern. Bezeichnend dafür ist ein langer Dialog zwischen Karl Ove und seinem Freund Geir, indem sie gegenseitig den Charakter und die Handlungsweisen des jeweils anderen beschreiben und damit auch zur Disposition stellen. Geir schätzt Karl Ove als einen ethischen Menschen ein: „Du bist ein zutiefst ethisch denkender Mensch, im Fundament deines Wesens gibt es eine ethische Grundstruktur, die nicht reduzierbar ist.“ (Knausgård 2013: 608) Er bringt ihn in die Nähe religiöser Kategorien wie Heiligkeit und Unschuld, attestiert ihm aber auch ein freudloses Dasein. Umgekehrt charakterisiert Karl Ove seinen Freund als „Zyniker“ (Knausgård 2013: 633) voller Stolz und Ehrgeiz. Er bezeichnet seine Position als „frei“ (Knausgård 2013: 634) und sein Verhalten als unberechenbar, zwischen Rücksichtnahme und völliger Rücksichtslosigkeit und Kälte in Bezug auf andere. Unverkennbar ist dies eine Remodellierung der Kierkegaardschen Figuren des Ethikers und des Ästheten in Entweder-Oder. Entscheidend aber ist nun nicht nur, dass der Ethiker auch ein Schriftsteller ist, sondern dass dieser – im Unterschied zum Ästheten – den ästhetischen Raum weit für eine ethische Selbstzuwendung öffnet. Der Ich-Erzähler berichtet Geir davon, was er alles unternimmt, um ein „guter Mensch“ (Knausgård 2013: 637) zu werden. Diese gewiss pathetische Formulierung berührt den Schriftsteller Knausgård und sein
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poetologisches Selbstverständnis allerdings tief in der Sache. Denn es geht in dem Buch ja um nichts anderes als um die Frage nach dem rechten und sinnhaften Leben. Und das Ringen, das mit dieser Frage verbunden ist, nimmt eben auch die Gestalt einer unegozentrischen Sorge des männlichen Ichs um sich selbst an. Die Arbeit der Selbstreflexion zeitigt zwei wesentliche Effekte. Zum einen führt sie bei aller Selbstbezüglichkeit zur Relativierung der eigenen Bedeutung als Schriftsteller, zum anderen, und das ist entscheidender, führt sie dazu, die eigene Schuld am Nichtfunktionieren des familiären Zusammenlebens einzugestehen und damit an der Familienexistenz festzuhalten: Die Sache mit den Kindern machte mich unglaublich traurig. Ich war zu Hause immer so zornig und gereizt und schimpfte bei jeder Kleinigkeit mit Heidi, ja, ich brüllte sie an. Und Vanja, Vanja... Wenn sie ihre Trotzanfälle bekam und nicht nur alles verweigerte, sondern rief und schrie und schlug, schrie ich auch, riss sie hoch, warf sie ins Bett und verlor völlig die Beherrschung. Hinterher bereute ich es und versuchte, geduldig, nett, freundlich, gut zu sein. Gut. Das war es, was ich sein wollte, das Einzige, was ich wollte, den dreien ein guter Vater zu sein. (Knausgård 2013: 728f.)
Neben dem ständigen Bemühen, eigene Aggressionen im Umgang mit den Familienmitgliedern schreibend zu reflektieren und konkret im Alltag abzustellen, wird der ansonsten hermetisch-maskuline Schreibraum des Autors Knausgård noch durch eine andere Geste durchlässig: die Anerkennung der geistigen Arbeit seiner Frau Linda. Nicht nur ist er bereit, während ihres Studiums an der Staatlichen Bühnen- und Medienhochschule Stockholm die Fürsorge für das gemeinsame Kind zu übernehmen, sondern er setzt sich mit ihren Arbeiten auseinander, so etwa mit einer Dokumentation über das Leben ihres Vaters, die er auch als Auseinandersetzung Lindas mit ihrer eigenen Identität versteht: „Als ich hörte, was sie gemacht hatte, oder wenn ich las, was sie schrieb, kam ich dem Menschen, der sie war, so nahe. Es kam mir vor, als würde das Ureigene, das sich in ihr bewegte, dann erst wirklich sichtbar.“ (Knausgård 2013: 471) Solche Passagen drohen in der Suada der Unzufriedenheit über den Ehe- und Familienalltag unterzugehen, sind aber umso erwähnenswerter, als sie zeigen, dass das Schreiben Karl Oves eines ist, dass die andere miteinbezieht, ihr alltägliches Sosein genauso wie ihre eigene Arbeit. Es ist für das Schreiben von Männern bis heute nicht selbstverständlich, die
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geistig-intellektuelle Arbeit von Frauen und schon gar nicht ihrer eigenen Frauen bzw. Partnerinnen anzuerkennen, ihr Geltung zu verschaffen im eigenen männlichen Schreibprojekt. Auch insofern stellt sich das Schreiben in Lieben als ein geteilter Raum dar, diesmal aber als einer, in dem die Frau zu einer „Mitdenkende[n]“ (Handke 1984: 83) und -schreibenden wird.
D er ge teilte R aum III: L ieben S chreiben Der Lebens- und Schreibraum ist bei Knausgård ein im zweifachen Sinne geteilter. Er entsteht und erhält sich als einer, der durch die radikale Abtrennung von Leben und Schreiben konstituiert wird, und zugleich ist er einer, in dem Leben und Schreiben auf unzertrennliche Weise aufeinander bezogen sind. Dieses gegenstrebige Aufeinanderbezogensein von Leben und Schreiben ist sicher auch bei anderen Autoren wiederzufinden. Ganz neu und einzigartig stellt es sich bei Knausgård dadurch da, dass er sein autobiographisches Romanprojekt explizit in die zeitgenössische Problematik einer Neuvermessung von Männlichkeit stellt, einer Männlichkeit, die sich im Zwischenraum von Familie und Beruf, von Sorgearbeit und Freiheitsdrang, von Lieben und Schreiben allererst noch finden und neu erfinden muss. Dass das männliche Ringen zwischen Liebe, Sorge und Schreiben bei Knausgård auf dem Grund einer Liebeserklärung an die geliebte Frau steht, wie zu Beginn dieser Überlegungen der Rekurs auf Karl Oves Liebesbrief an Linda zeigen sollte, kann als Hinweis auf die utopische Dimension des Romans verstanden werden. Jedenfalls wird nur so erklärbar, warum Karl Oves Teilnahmslosigkeit und sein Ausweichverhalten nur in einem Fall durchbrochen wird. Nur mit Linda streitet er sich („Linda war die Einzige, mit der ich mich stritt“, Knausgård 2013: 574), nur mit ihr erlebt er solche Intensität. Das Streiten von Mann und Frau schreibt sich im Roman ebenso dialektisch wie episch aus. Die Knausgård’sche Erzählung von Männlichkeit konfiguriert sich im liebenden Streit. Daraus geht das männliche Subjekt nicht als dasselbe hervor.
Vom Lieben, Sorgen und Schreiben
L iter atur Benn, Gottfried (1992): Doppelleben, in: Ders.: Gesammelte Werke in vier Bänden. Bd. 4. Hg. v. Dieter Wellershoff, 7. Aufl., Stuttgart, S. 69-172. Engelmeier, Hanna (2014): Totalismus. Karl Ove Knausgårds „Mein Kampf“ – bis jetzt, in: Merkur 68, H. 11, S. 1017-1022. Handke, Peter (1984): Die Lehre des Sainte-Victoire, Frankfurt a.M. Heidegger, Martin (1984): Sein und Zeit [1927], 15. Aufl., Tübingen. Knausgård, Karl Ove (2013): Sterben. Roman [2009], 5. Aufl., München. Knausgård, Karl Ove (2013): Lieben. Roman [2009], München. Kierkegaard, Sören (1993): Entweder/Oder [1843], in: Ders.: Gesammelte Werke. Abtl. 1: Teil 1-4. Hg. v. Hirsch, Emanuel/Gerdes, Hayo, 3. Aufl., Gütersloh. Maihofer, Andrea (1995): Geschlecht als Existenzweise. Macht, Moral, Recht und Geschlechterdifferenz, Frankfurt a.M. Schiller, Friedrich (1987): Würde der Frauen [1796], in: Ders.: Sämtliche Werke. Erster Band: Gedichte/Dramen I. Hg. v. Fricke, Gerhard/Göpfert, Herbert G., München, S. 879. Sloterdijk, Peter (2011): Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a.M. Tholen, Toni (2005): Verlust der Nähe. Reflexion von Männlichkeit in der Literatur, Heidelberg.
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Homosozialität – Agonaler Code – Aggressive Selbstexklusion Konstruktionen von Männlichkeit in der Literatur um 1968
Meike Sophia Baader betont in ihrem Aufsatz „Wir streben Lebensverhältnisse an, die das Konkurrenzverhältnis von Männern und Frauen auf heben.“ Zur Kritik von Frauen an Männlichkeitskonstruktionen im Kontext von 19681, dass mit der Forderung der Neuen Frauenbewegung, das Private sei politisch, das Geschlechterverhältnis selbst, der Umgang zwischen Männern und Frauen, das Machtverhältnis in den sozialen Beziehungen in den Blick gerät und damit zugleich zur öffentlichen Auseinandersetzung führt. Frauen um 1968 haben, so zeigt sie vor allem an Texten von Helke Sander und Heide Berndt, kritische Anfragen an die Männer gestellt bezüglich der virulenten Asymmetrien im Geschlechterverhältnis, aber auch in Bezug auf den autoritären männlichen Habitus und auf die Ausgrenzung bestimmter Themen (etwa Fragen der Kinderbetreuung) aus dem öffentlichen, politischen Diskurs; schließlich in Bezug auf die von Männern gezogenen Trennungslinien von ‚privat‘ und ‚öffentlich‘, von intellektuell-politischer Existenz und Familienleben. Ich möchte meine Ausführungen auf Meike Sophia Baaders Beobachtung hin zentrieren, dergemäß die Forderung von Frauen nach kritischer Reflexion des Machtverhältnisses zwischen den Geschlechtern auf Seiten der Männer 1 | Der nachfolgende Text ist in einem fortlaufenden Dialog mit Meike Sophia Baader entstanden. Er versteht sich als eine Antwort aus literaturwissenschaftlicher Sicht auf ihren Beitrag „Wir streben Lebensverhältnisse an, die das Konkurrenzverhältnis von Männern und Frauen aufheben.“ Zur Kritik von Frauen an Männlichkeitskonstruktionen im Kontext von 1968, in: Baader/Bilstein/Tholen (2012: 103-116).
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im zeitlichen Kontext von 1968 resonanzlos geblieben ist. Die fehlende männliche Resonanz möchte ich, gewissermaßen paradox, wahrnehmbar werden lassen. Versuchen werde ich dies, indem ich den antwortlos gebliebenen leeren Raum zwischen den Geschlechtern mit literarischen Texten fülle, genauer: mit einigen plastischen literarischen Konfigurationen der Verhinderung eines sich von männlicher Seite aus öffnenden (auch selbstkritischen) Dialogs über die Machtstrukturen im Geschlechterverhältnis; ferner mit Beobachtungen zu den Schlüsselbegriffen des männlichen Sprachcodes und seinen Effekten und schließlich mit einigen männlichen Exklusionsvolten in Bezug auf das Privat- bzw. Familienleben.
1. D ie homosoziale K onstitution von M ännlichkeit Sowohl in literarischen Pamphleten als auch in fiktionalen Texten von männlichen Autoren um 1968 fällt ein männlicher Habitus auf, der sich mit dem Zwang verbindet, klare Entscheidungen und Positionierungen zu treffen.2 Verbunden damit ist stets ein Ziehen von Trennlinien und ein Sich-Abgrenzen von Anderen. All dies geschieht vielfach in einem homosozialen Raum (Sedgwick 1993, Kraß 2007), bzw. in einem Raum, in dem sich durch den Ausschluss von Frauen und Kindern autoritäre Männlichkeit – in Auseinandersetzung mit anderen Männern – herstellt. Diese Sphäre konstituiert sich also u.a. im Akt der Ausgrenzung als relevante, insofern sich in ihr das Politische, das Intellektuelle, das Bedeutsame schlechthin herstellt oder ereignet. In den literarischen Pamphleten von 1968 etwa verbindet sich der männliche Habitus mit der Konstruktion eines homosozialen Raumes in der Figur des engagierten Intellektuellen, dessen ganzer Geist und Körper darauf gerichtet ist, sich zu positionieren, und zwar innerhalb eines mann-männlichen Diskursraums. Geschieht dies noch vergleichsweise verhalten in den 10 Arbeitspunkten eines Autors in der geteilten Welt von Peter Weiss, wenn er dazu auffordert, dass „der Autor“ (Weiss 1971: 116) sich für die revolutionäre Kunst entscheiden und sich dabei der weltweit ausgeplünderten Arbeiterklasse anschließen muss, so präsentiert sich der Intellektuelle in den scharfen, 2 | Einschlägig dafür sind die Beiträge von Michel, Enzensberger und Boehlich im berühmten Kursbuch 15 (Nov. 1968).
Homosozialität
aggressiven Zuspitzungen von Hans Magnus Enzensbergers Berliner Gemeinplätzen wesentlich viriler, angriffslustiger, so vor allem in dem Aphorismus „Herr Niemand“: Der neue Faschismus kommt ohne Führer aus [...] Das System braucht keine politischen Begabungen mehr [...] Die herrschende Clique schiebt überall strebsame, ausdruckslose Masken vor, die Schütz oder so ähnlich heißen: Herren, die sich schwitzend die Lippen lecken, wenn sie vor der Kamera ihre politische Impotenz darstellen. (Enzensberger 1974: 33)
Diesen impotenten Herren gilt der kulturrevolutionäre Kampf des virilen Intellektuellen, der das System ins Wanken bringen will.3 Der Gestus des Stellungbeziehens, der Parteinahme, des Angriffs, bezieht sich ausschließlich auf eine männlich codierte kulturelle und politische Ordnung, die sich gerade darin wie von selbst reproduziert. Der männliche Angriff auf Herrschaft und Autorität geht dabei selbst in solche über. Nirgendwo wird das so deutlich wie im Angriff der Söhne auf ihre Väter. Dieser ist in der Literatur der Zeit bekanntlich ein zentrales Thema (vgl. Schröder 2006). Im Jahre 1968 gibt Peter Härtling einen Band heraus mit Berichten und Geschichten von Autoren unterschiedlicher Generationen über Die Väter. Schon im Vorwort des Herausgebers heißt es, den homosozialen Narrationsraum eröffnend: Väter machen Geschichte, die ihre Söhne nicht akzeptieren, die sie verändern, die sie weitertreiben, revidieren und – das führt sie zurück – wiederholen. Sie nehmen sich von der Schuld aus und bekommen sie übertragen. Sie befragen die verflossenen Ideale und predigen neu. (Härtling 1968: 10f.)
Die literarische performance des Kontinuums von Herrschaftskritik und –übernahme seitens des Sohnes liefert Hans Christoph Buch in der kurzen Erzählung, deren Titel „Die Entmündigung“ schon sprechend ist. Erzählt wird eine Familiengeschichte, deren erster Satz bereits den gesamten Plot zusammenfasst: „Als ich 21 wurde, entschloß ich mich, meinen Vater zu entmündigen.“ (Buch 1968: 259) Die anschließende Er3 | Diese Haltung hat sich Enzensberger nur zeitweise zu Eigen gemacht. Vgl. zu ihrer Bewertung im Kontext von Enzensbergers Essayismus Tholen (2008); außerdem Lau (2001: 242-284).
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zählung entwickelt diesen Entschluss des Sohnes in einem atemberaubenden, raffenden Erzähltempo. Der Sohn kündigt dem sechzigjährigen Vater, auf dessen Nazi-Vergangenheit kurz hingewiesen wird, beim Essen seine Entmündigung an. Dieser wird auf Betreiben des Sohnes in einen zeitlich unbegrenzten Kuraufenthalt aufs Land geschickt. Der Vater begehrt in kafkaesker Manier nur kurz auf, um sich danach gebrochen und stammelnd dem Schicksal des Abtransportes zu überlassen. Seine Ehefrau verbleibt, in Tränen aufgelöst, am Rande des Geschehens. Interessant, weil auf den Anfangssatz zurückverweisend, ist der letzte Satz der Erzählung: „ich [der Sohn] legte meinen Arm um sie [die Mutter] – es war hart, aber es musste sein.“ (Buch 1968: 263) Der Sohn nimmt nach dem Abtransport des Vaters dessen Stelle an der Seite der Mutter ein. Die Härte der getroffenen Maßnahme verbindet sich mit der Autorität der väterlichen Position – nun in der Gestalt des Sohnes. Die Vater-SohnErzählungen der Zeit um 1968 verweisen nicht nur hier, sondern auch in dem berühmten Vater-Sohn-Roman von Bernward Vesper, Die Reise (entstanden 1968-71), auf eine fortgesetzte mann-männliche Genealogie, innerhalb derer Autorität im Akt der Konfrontation und der Destruktion nicht aufgehoben, sondern übernommen wird.4 Selbst noch im Gestus von Herrschafts- und Gewaltkritik perpetuiert sich der harte, männliche Charakter. Und dieser bildet den Kern einer homo-generationalen Konstruktion von Männlichkeit.
2. D er agonale C ode Männlichkeit in der Literatur um 1968 konstituiert sich über die Verwendung eines agonalen Sprachcodes, der einhergeht mit einer Differenzierung der Sprechweisen in den Sphären des Öffentlichen und des Privaten. Während der Code in beiden Sphären in dominanter Weise agonal ist, so zeitigt er doch ganz unterschiedliche Effekte. Während Agonalität den Intellektuellen in den öffentlichen Auseinandersetzungen seiner Zeit sichtbar macht, ihn gesellschaftlich-politisch-kollektiv positioniert, führt sie in den privaten, familiären Beziehungen sowie in der Beziehung zu sich selbst zum Abbruch sprachlich-kommunikativer Verständigung. 4 | Für Vespers Roman wird dies in der Interpretation von Kiesel (1999: 169-172) deutlich.
Homosozialität
Im Geschlechterverhältnis und in den familiären Beziehungen, die von Männern primär als privat, nicht als politisch relevant betrachtet werden, ist das männliche Sprechen ein abbrechendes. Eines, das Konflikte und Abgründe generiert und dann in Sprachlosigkeit übergeht. Das Sprechen geht in Schweigen und Leere über, weil es sich dem und der Anderen nicht öffnet. Exemplarisch lässt sich dies an Peter Schneiders Erzählung Lenz, einem Kultbuch der 68er Generation, aufzeigen.5 Auch wenn wir es hier mit einem vergleichsweise sensiblen männlichen Protagonisten zu tun haben, der seine politischen Aktivitäten, vor allem aber auch die Abstraktheit der radikalen linken Revolutionsrhetorik in Frage stellt, um sich selbst einem Läuterungsprozess zu unterziehen, folgt er doch im Grundsatz in den Auseinandersetzungen mit anderen Figuren des Textes dem Prinzip der Agonalität, welches Abgrenzung und Aggressionen mit einschließt. Der Text ist schon allein deshalb interessant, weil er in seinem formalen Auf bau die Trennung der Sphären des Öffentlich-Politischen und des Privaten äußerlich sichtbar macht. Er besteht aus einzelnen Abschnitten, die durch große Absatzmarkierungen voneinander getrennt werden. Wenn es um Demonstrationen, den Sinn von intellektuellen Diskursen über die revolutionäre Veränderung der Gesellschaft oder um Hilfsarbeitertätigkeiten in Fabriken geht, ist der Protagonist in einer homosozialen Welt. Andere Männer werden ihm dort entweder zu Genossen oder zu Rivalen. Exemplarisch für letzteres ist die Darstellung eines Schlagabtausches mit einem Germanisten bei einer Party (Schneider 2005: 38-41). Das Gespräch entzündet sich am richtig verstandenen Kampf gegen die bürgerliche Ideologie. Auf der Discours-Ebene vollzieht sich der Kampf ebenfalls als Rededuell. Dieses endet mit einer Intellektuellenschelte, die nicht nur den Germanisten, sondern auch den Protagonisten selbst desavouiert: „Der Witz ist, dass die ausgebeutete Klasse, von der ihr [die linken Intellektuellen] träumt, sich ja wirklich zu befreien beginnt, nur tut sie das ohne Rücksicht auf eure beleidigten Vorstellungen von dieser Befreiung.“ (Schneider 2005: 40) Agonalität als Gesprächsinhalt wie auch als Sprechweise wird in Lenz aber auch in die Abschnitte transferiert, die von den privaten Beziehungen des Protagonisten handeln, von seinen Liebesbeziehungen zu Frauen. Diese werden in eigenen Erzählabschnitten dargestellt, und deshalb 5 | Vgl. zur literaturgeschichtlichen Einordnung des Buches Meik (1997).
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sind sie scheinbar abgetrennt von der öffentlichen Person Lenz. In Lenz’ Beziehungen zu Frauen lassen sich mehrere für die Literatur um 1968 charakteristische Aspekte auf der Ebene des Sprechens aufzeigen. Zunächst einmal erscheinen Frauen im Lenz wie in anderen Texten, etwa in Rolf Dieter Brinkmanns Roman Keiner weiß mehr, als bloße Objekte der Lust bzw. der Lustbefriedigung. Auf dieser Ebene ist die Sprache direkt, zielgerichtet und vor allem ohne Reflexionsebene. Sie vollzieht den Übergang vom Reden zum schnellen lustbefriedigenden Handeln. Lenz lernt bei einem Fest ein „Mädchen“ namens Marina kennen und lädt sich selbst unangemeldet bei ihr zum Tee ein. Die Kommunikation beim Tee verläuft schleppend: „Weil ihm [Lenz] nichts einfiel, was er sagen könnte, griff er gleich nach der Teekanne.“ (Schneider 2005: 9) Wenig später heißt es im Modus der Redewiedergabe und des Erzählerberichts: „Er habe Lust auf sie, genau deswegen sei er gekommen. Er ging hin und fasste sie an. [...] Sie wehrte sich erst, dann nicht mehr.“ (Schneider 2005: 9) Schließlich, die Szene aus der Innenperspektive des Protagonisten abschließend: „Es war dann sehr schön, es gibt nichts weiter dazu zu sagen.“ (Schneider 2005: 10) Interessant ist nun, dass sich in derselben Passage das Sprechen von Mann und Frau auf einer anderen Ebene andeutet, das aber von Seiten des Mannes sofort abgebrochen wird. Das Gespräch zwischen dem „Mädchen“ und dem Mann streift, wie im Vorbeigehen, das Verhältnis von Politischem und Privatem: Bei irgendeinem Satz über das Verhältnis von politischer Arbeit und persönlichen Schwierigkeiten fiel Lenz ein, dass er genau denselben Satz schon vor ein paar Tagen gesagt hatte, ohne dass er damit je auf Widerspruch gestoßen sei. Er unterbrach sich, er rede lauter Blabla, lauter braves, vorgekautes Zeug. (Schneider 2005: 9)
Das Zitat ist mehrdeutig. Nicht genau ist zu klären, ob die Frau oder der Mann das Verhältnis von politischer Arbeit und persönlichen Schwierigkeiten anspricht. Auch nicht wird klar, warum es sich um ‚vorgekautes Zeug‘ handeln soll. Entscheidend aber ist, dass Lenz das Gespräch abbricht. Seine eigenen persönlichen Schwierigkeiten werden im weiteren Verlauf des Textes gleichwohl thematisiert. Er ist mit einer Frau namens L. zusammen gewesen, die er auch vor der endgültigen Trennung noch einmal trifft. In der Folge versucht der Protagonist, die gescheiterte Bezie-
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hung aufzuarbeiten. Die Aufarbeitung der Beziehung vollzieht die Übertragung des agonalen Codes auf die Beziehung zwischen Lenz und L., ohne dass dies dem Protagonisten bewusst wird. Die Agonalität kehrt auf der privaten Beziehungsebene als Täter-Opfer-Zuweisung zurück. Wiederum einem „Mädchen“ vertraut Lenz über seine Beziehung zu L. an: Sie versteckt sich hinter ihrer Schwäche, hinter ihrer Verletzbarkeit. Wenn ich sie angriff, weil sie an allen meinen Freunden etwas auszusetzen hatte, weil sie bei jedem andere Gründe erfand, warum ich ihn nicht treffen sollte, wurde sie krank. Ich habe sie nie kritisieren können, ohne dass sie mich durch irgendeine körperliche Reaktion dafür bestrafte, ohne dass sie mich zum Metzger machte. (Schneider 2005: 19)
Die Beziehung erscheint hier ganz verflochten in eine wechselseitige Besetzung der Täter- und Opferposition. Eine moralische Betrachtung einer solchen Einschätzung der Beziehung ist hier nicht geboten, da es um einen strukturellen Befund in Bezug auf das Geschlechterverhältnis geht. Und dieses wird im Lenz wie in anderen Texten männlicher Autoren um 1968 in den verschiedenen Varianten des agonalen Codes dargestellt: als Subjekt-Objekt- oder als Täter-Opfer-Verhältnis, mithin als Kampf und Überwältigung. Einige Texte wie Schneiders Erzählung entfalten stellenweise Ansätze einer männlichen Selbstflexion. Die männlichen Protagonisten leiden auch darunter, dass sie das Geschlechterverhältnis nur als Agonalität erleben und diskursivieren und damit die narrativ konstruierte Trennung von ‚öffentlich‘ und ‚privat‘, ohne es sich bewusst zu machen, aufheben, indem sie sich und die anderen in allen Lebenslagen zu Akteuren auf dem Kampfplatz machen. Lenz schreibt L., die er noch immer begehrt, einen Brief.6 Darin versucht er eine andere Sprache zu finden, eine, die seine Empfindungen, seine nicht eingestandene Angst vor Nähe und Zärtlichkeit diesseits bloßer Sexualität erstmals zum Ausdruck bringt. Und er muss sich eingestehen, dass er bisher nie über L.s Empfindungen nachgedacht und geschrieben hatte. Bei diesen Augenblicken des Eingedenkens einer anderen Sprache zwischen den Geschlechtern bleibt es in dem Text aber. Der Protagonist sendet den Brief an L. genauso wenig ab wie er sich in der Folgezeit auf die Suche nach einer anderen Sprache zwischen 6 | Vgl. dazu und zum Folgenden Schneider (2005: 16f.).
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Mann und Frau begibt. Lediglich sich selbst wird er am Ende, einigermaßen mit sich und der Welt versöhnt, wiederfinden.
3. D ie aggressive S elbste xklusion : M ännlichkeit und F amilie In der für Frauen immer wichtiger werdenden Frage eines familiären Lebens, in dem die Aufgaben im Haus und die Fürsorge für die Kinder sowie ihre Erziehung nicht mehr allein den Frauen zugewiesen werden, wodurch freie Zeit für andere Arbeit entsteht, zeigen sich Männer Ende der 60er Jahre bei allem sonstigen kulturellen Auf bruch nicht zuständig (vgl. Hecken 2006: 110-113, 177-191). Die weibliche Kritik am männlichen Desinteresse an Erziehungsfragen verendet sogar in der avanciertesten Literatur männlicher Autoren in einer extrem traditionellen Darstellung der Rolle von Familienmännern und –frauen. Zeigen lässt sich das eindrücklich an Rolf Dieter Brinkmanns Debütroman Keiner weiß mehr, der als einer der ersten deutschsprachigen Popromane in die Literaturgeschichte eingegangen ist (vgl. Ullmaier 2001). Kaum jedoch wird der Text bisher als eine Familienerzählung wahrgenommen, welche er aber im Kern ist.7 Erzählt wird von einem Mann, der sein Studium abgebrochen hat und in einer Dreizimmerwohnung zusammen mit seiner Frau und seinem Kind wohnt. Deutlich wird, dass der Mann zu Hause künstlerisch arbeiten will, sich aber permanent durch Frau und Kind gestört fühlt. Deshalb entwickelt er Fluchtphantasien, die er aber letztlich nicht in die Tat umsetzt. Er selbst geht keiner Erwerbsarbeit nach, seine Frau hingegen sorgt sowohl für den Lebensunterhalt als auch für den Haushalt und das Kind. Statt jedoch die frei gewordene Zeit zu Hause zu nutzen, das überkommene männliche Selbstverständnis zu verändern oder, im Jargon der Zeit, eine ‚konkrete Utopie‘ familiär auszugestalten, beißt sich der männliche Protagonist manisch in ihm fest. Seine künstlerisch-intellektuelle Arbeit sieht er ausschließlich in Opposition zu seinem Familiendasein, und daraus entsteht ein heilloses Gemisch aus latenter Aggressivität, diktierter Aufgabenzuweisung, aber auch männlicher Selbstausschließung.
7 | Vgl. dazu auch den Aufsatz Familienmännlichkeit und künstlerisch-literarische Arbeit, in diesem Band.
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Entlädt sich die männliche Agressivität gegenüber der Frau, indem sie in seinen stark sexuell konnotierten Projektionen zum Objekt ständiger impulsiver Annäherung und Abstoßung wird, verlagert sie sich, wenn das gemeinsame Kind mit in den Blick gerät. In solchen Momenten sieht der Protagonist Frau und Kind als einen Block, der ihn nicht nur stört, sondern ein Gefühl unerträglicher Abhängigkeit in ihm aufkommen lässt. Das eigene Kind wird ausschließlich als Störfaktor wahrgenommen. Wenn es schreit, versucht er das Schreien mit Musik zu übertönen (vgl. Brinkmann 1993: 54). Die gesamte Sorge um das Kind wird ganz selbstverständlich als Aufgabe der Mutter betrachtet, die auch noch dafür angegangen wird, der Erziehung nicht in ausreichendem Maße gerecht zu werden: [...] das Kind musste jetzt endlich sprechen lernen, es war schon so groß und konnte noch nicht richtig sprechen, kein Wort, nur Laute, naß gelallt, lala, lalalala, verseibert. Sie würde sich von jetzt an mehr darum bemühen müssen [...]. Jedesmal aber hatte sie sich das bereits vorgenommen, sagte er, warum es denn nicht ausgeführt würde. (Brinkmann 1993: 55)
Der Vater selbst betrachtet das Kind gleichsam nur von außen, ohne an seinem Leben, an seiner Entwicklung teilzunehmen. Aufschlussreich dabei ist, dass der Text das Vater-Kind-Verhältnis vornehmlich in Bildern männlicher Selbstexkludierung veranschaulicht: Er [der Vater] kam immer nur dazu. Sie [die Mutter] musste es [das Kind] doch tagsüber in allem versorgen, und da gab es viele Gelegenheiten, wußte er, sich um das Kind zu kümmern. Das Kind. Das weiterhin da war. Mehr nicht. Das da war. (Brinkmann 1993: 55)
Im Status bloßen Daseins wird es für den Vater zu etwas, dessen Nichtsein bzw. dessen Auslöschung sich in der Imagination des Mannes festsetzt, bis zuletzt. Nach der Rückkehr von einer Reise nach Hannover blickt er auf eine Photographie der schwangeren Ehefrau und imaginiert: sie, mit dem gar nicht einmal zu dicken Bauch und dem für ihn in seiner Vorstellung undeutlichen Gebilde darin, das kein Kind war, kein Kind werden würde, sondern für ihn bis zuletzt eigentlich nichts war, nur eine Blähung, ein aufgetriebener Bauch [...]. (Brinkmann 1993: 169f.)
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Reflektiert man die Vater-Kind-Beziehung von beiden Seiten aus, so bedeutet die fortwährende Negation des Kindes aber auch den Akt einer Selbstnegation, denn die Verdinglichung des eigenen Kindes schlägt auf den Vater selbst zurück. Die Ausschließung des Kindes aus seinem Leben-und-Arbeiten ist zugleich eine Selbstausschließung aus dem Leben als Teilnahme am Leben des Anderen. Diese Weise des Lebens in der Nähe des Anderen findet in den Bildraum des künstlerisch tätigen Mannes und damit in den Bildraum des gesamten Textes nur in Form der Negation Eingang. Sie kulminiert in den Todeswunschphantasien des Protagonisten gegenüber Frau und Kind. Versuchen wir ein kurzes Resümée: Die Konstruktion von Männlichkeit in ästhetischen Pamphleten und literarischen Texten im Kontext von 1968 beruht auf einer Herstellung männlicher Souveränität und Autorität durch Abgrenzung, Positionierung, Agonalität und Selbstexklusion. Der hegemoniale männliche Habitus (vgl. Meuser 2006) wird im Gestus der Überwindung von Herrschaft und Autorität auch wieder angeeignet, und zwar vornehmlich im homosozialen Raum. Das heißt: Er reproduziert sich gerade durch den Ausschluss von Frauen, gerade dadurch, dass die Auseinandersetzung mit ihnen auf vielen Feldern gar nicht stattfindet. Der sprachliche Code ist sowohl in der öffentlich-politischen wie in der privaten Sphäre ein agonaler, und als solcher führt er zu männlichen Selbstausschließungen (aus dem Beziehungs- und Familienleben); damit blockiert er jedoch die Möglichkeit der Suche nach einer anderen, nichtagonalen Sprache und einer nicht-agonalen Existenzweise. So wird im Verhältnis der Geschlechter, wie es sich in der Literatur um 1968 darstellt, eine Lücke deutlich. Es fehlt eine Sprache des Dialogs und der Anerkennung, es fehlt eine Wahrnehmung der Frau, die sie nicht weiter auf ihre traditionellen Rollen und Funktionen fixiert, und damit fehlt es in den Texten auch an wirklichen Antworten auf die Fragen, die Frauen, wie Meike Sophia Baader ausführt, in dieser Zeit anfingen zu stellen. Die wenigen Momente männlichen Eingedenkens solchen Fehlens in den literarischen Texten verbleiben von daher im Status des Episodischen.
Homosozialität
L iter atur Brinkmann, Rolf Dieter (1993): Keiner weiß mehr [1968], Reinbek bei Hamburg. Buch, Hans Christoph (1968): Die Entmündigung, in: Peter Härtling (Hg.): Die Väter. Berichte und Geschichten, Frankfurt a.M., S. 259263. Enzensberger, Hans Magnus (Hg.) (2008): Kursbuch 15 – Kultur, Revolution, Literatur [1968], Frankfurt a.M. Enzensberger, Hans Magnus (1974): Berliner Gemeinplätze [1967/68], in: Ders.: Palaver. Politische Überlegungen (1967-1973), Frankfurt a.M., S. 7-40. Härtling, Peter (1968): Die Väter, in: Ders. (Hg.): Die Väter. Berichte und Geschichten, Frankfurt a.M., S. 9-11. Hecken, Thomas (2006): Gegenkultur und Avantgarde 1950-1970. Situationisten, Beatniks, 68er, Tübingen. Kiesel, Helmuth (1999): Das Vaterbild in der deutschsprachigen Literatur der Nach-68er-Zeit, in: Communio. Internationale Katholische Zeitschrift 28, S. 165-176. Kraß, Andreas (2007): Der heteronormative Mythos. Homosexualität, Homophobie und homosoziales Begehren, in: Bereswill, Mechthild/ Meuser, Michael/ Scholz, Sylka (Hg.): Dimensionen der Kategorie Geschlecht: Der Fall Männlichkeit, Münster, S. 136-151. Lau, Jörg (2001): Hans Magnus Enzensberger. Ein öffentliches Leben, Frankfurt a.M. Meik, Markus (1997): Peter Schneiders Erzählung „Lenz“: zur Entstehung eines Kultbuches, Siegen. Meuser, Michael (2006): Hegemoniale Männlichkeit. Überlegungen zur Leitkategorie der Men’s Studies, in: Aulenbacher, Brigitte/Bereswill, Mechthild/Löw, Martina u.a. (Hg.): FrauenMännerGeschlechterforschung. State of the Art, Münster, S. 160-174. Schneider, Peter (2005): Lenz. Eine Erzählung [1973], Hamburg. Schröder, Jürgen (2006): Das „dramatische“ Jahrzehnt der Bundesrepublik, in: Wilfried Barner (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von 1945 bis zur Gegenwart, München, S. 463-501 (= Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. XII.). Sedgwick, Eve K. (2003): Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire, New York.
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Tholen, Toni (2008): Der Intellektuelle als Nomade. Zum Essayismus Hans Magnus Enzensbergers, in: Weimarer Beiträge 54, H. 2, S. 182200. Ullmaier, Johannes (2001): Von Acid nach Adlon. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur, Mainz. Weiss, Peter (1971): 10 Arbeitspunkte eines Autors in der geteilten Welt, in: Karlheinz Braun (Hg.): Materialien zu Peter Weiss’ ‚Marat/Sade‘, Frankfurt a.M., S. 114-119.
Zur Konstruktion von Männlichkeit in W.G. Sebalds Roman Austerlitz
1. E inleitung Ausführlich schon ist die Sebald-Forschung auf die zentralen Themen seines Werkes wie vor allem auf die Dislozierung und Melancholie sowie auf die Traumatisierung der männlichen Protagonisten eingegangen.1 Auch sind diese schon in ihrer spezifisch geschlechtlichen Modellierung betrachtet worden, wie vor allem durch Klaus Bonn (2007), der die Depersonalisierung, die Effeminiertheit und die Melancholie der männlichen Protagonisten, aber auch die Homoerotik in den Erzählungen einer genaueren Betrachtung unterzogen hat. Ausgeblieben ist bisher aber eine Untersuchung, die Männlichkeit bei Sebald als eine komplexe Konstruktion in den Blick nimmt, mithin einen narrativen Zusammenhang betrachtet, welcher sowohl die historisch-politischen wie auch die lebensgeschichtlichen und literarästhetischen Aspekte integriert. Ich möchte dies im Folgenden skizzenhaft tun, indem ich zeige, inwiefern sich in Sebalds Roman Austerlitz eine Struktur marginalisierter Männlichkeit konstituiert. Die Kategorie der ‚marginalisierten Männlichkeit‘ übernehme ich von Raewyn Connell, die damit im Rahmen ihrer kritischen Geschlechtersoziologie „Beziehungen zwischen Männlichkeiten dominanter und untergeordneter Klassen oder ethnischer Gruppen“ (Connell 1999: 102) beschreibt. Erfasst und beschrieben werden darin Prozesse der Marginalisierung von Männern und Männlichkeiten, und zwar in Relation zu Prozessen der Ermächtigung hegemonialer Männlichkeit dominanter Grup1 | Vgl. insbesondere die Aufsätze in Denham/McCulloh (2006) und in Fischer (2009).
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pen, die nach Connell historisch zwar variieren, jedoch zu jeder Zeit die Verteilung von Macht und Gewalt, kultureller wie sozialer Anerkennung regulieren. Wenn nun die soziologische Kategorie der marginalisierten Männlichkeit für die literaturwissenschaftliche Analyse fruchtbar gemacht werden soll, so ist zunächst auf eine modifizierte Verwendung des Begriffs hinzuweisen.2 Die Konstruktion von Männlichkeit im konkreten Roman und damit in der konkreten erzählerischen Darstellung des Lebens eines Protagonisten folgt nicht zwangsläufig der soziologischen Klassifizierung in soziale Schichten oder ethnische Gruppen. Gleichwohl gewährt sie Einblicke in den Prozess seiner Marginalisierung vor dem Hintergrund der politischen und gesellschaftlichen Ereignisse. Im Falle von Sebalds Roman schließt dies den Genozid an den europäischen Juden durch die Nationalsozialisten und dessen Nachwirkungen in den nachfolgenden Generationen ein. Zu untersuchen ist der Prozess der Marginalisierung des männlichen Protagonisten, Jacques Austerlitz, aber nicht nur auf der Ebene der histoire. Denn die Konstruktion von Männlichkeit, und insbesondere die Verflechtung des zentralen Protagonisten in sie, gewinnt erst durch die Betrachtung der discours-Ebene Prägnanz.3 Mit anderen Worten: Die Figur Austerlitz ist, gerade auch in ihrer spezifischen Männlichkeit, ein Erzählkonstrukt. Schließlich gilt es zu bedenken, dass erst dann vollends von marginalisierter Männlichkeit gesprochen werden kann, wenn der Prozess der Marginalisierung einen Dauerzustand beschreibt. An Sebalds Roman haben wir den exemplarischen Fall einer Erzählung, in der sich bis zum Ende der Prozess der Marginalisierung nicht umkehrt. Der männliche Protagonist verbleibt von Beginn an – und trotz seiner erzählerischen Modellierung als Intellektueller – im Zustand der Marginalität. In diesem Dauerzustand gerinnt die Geschichte der Marginalisierung von Männlichkeit zum Bild. Und dieses Bild prägt die Gesamtkonstruktion von Männlichkeit, welche Sebalds Roman zugrunde liegt und welche der Definition Connells zufolge auf einer Relationalität von hegemonialer und marginalisierter Männlichkeit gründet. 2 | Vgl. dazu ausführlich den Aufsatz Männerbilder im Wandel? Beobachtungen zur Literatur des beginnenden 21. Jahrhunderts, in diesem Band. 3 | Ich beziehe mich auf die gängige erzähltheoretische Unterscheidung, derzufolge ‚histoire‘ das Was des Erzählens, ‚discours‘ das Wie des Erzählens meint. Vgl. dazu Martinez/Scheffel (1999: 20-26).
Männlichkeit in Sebalds Austerlitz
2. M arginalisierung Wie schon die männlichen Protagonisten im Erzählband Die Ausgewanderten (Sebald 1992), führt Jacques Austerlitz eine Existenz am Rande. 1934 als Sohn jüdischer Eltern in Prag geboren, entkommt er als Fünfjähriger den in Prag einmarschierten Nazi-Schergen durch einen heimlich organisierten Kindertransport nach England, während seine Mutter nach Theresienstadt abtransportiert und 1944 weiter im Osten ermordet wird. Sein Vater verschwindet in einem Internierungslager in Frankreich, ohne nach dem Krieg wieder aufzutauchen. Mit dem Transport nach England beginnt für Austerlitz eine Existenz ohne festen Ort. Seine Kinder- und Jugendzeit verbringt er in England. Groß gezogen wird er unter anderem Namen von einem streng calvinistischen Pfarrer und seiner Frau, sodann in einem englischen Internat, wo er erst mit sechzehn Jahren seinen wahren Namen erfährt. Durch den frühen Verlust der Eltern und der heimatlichen Umgebung traumatisiert, führt er eine nomadische Existenz, welche man mit Begriffen wie Dislozierung oder Dystopie nicht vollständig erfasst. Zwar befindet sich Austerlitz stets auf Wanderschaft, wohnt im Laufe seines Lebens in Paris und London und reist immer wieder als Architekturhistoriker und Schreibender quer durch Europa an die Orte von Herrschaft und Verbrechen (so nach Belgien, Deutschland und Tschechien), doch wird ihm bei seinen späteren Recherchen nach dem Verbleib der Mutter deutlich, dass er immer, bewusst oder unbewusst, nur an einem Ort gelebt hat, nämlich dort, wo seine Mutter und viele andere Juden und Nicht-Juden zu Tode gefoltert und ermordet worden sind. Symbolisch dafür steht Terezin/Theresienstadt. Austerlitz bezeichnet das Ghetto dort als „extraterritorialen Ort“ (Sebald 2003: 339), ein Ort, an dem tausende Menschen aus allen sozialen Schichten der Länder und Städte Europas auf engstem Raum zusammengepfercht waren und so etwas bildeten wie eine transnationale Gemeinschaft zum Tode. Sebalds Roman zeigt durch die Verbindung solcher extraterritorialer Orte, die der Protagonist forschend, schreibend, notierend erwandert – beginnend mit den Festungsanlagen von Breendonk bei Antwerpen, endend mit der neuen Bibliothèque Nationale in Paris –, dass das vereinte Europa von heute auf den Ruinen einer transnationalen Vergangenheit erbaut ist, dessen Ursprung sich im 20. Jahrhundert als einer von Konzentrierung, Internierung und Zerstörung zu erkennen gegeben hat. Schon zu Beginn wird dieses den erzählten (europäischen) Raum konstituierende Ineinan-
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der von Multitopie und Monotopie (Raumfigur des totalitären Zwangs, des Banns, des europäischen Traumas) deutlich, gespiegelt hier in einer Reflexion des Verhältnisses von Raum und Zeit beim Reisen. Austerlitz philosophiert, dass dieses Verhältnis etwas Illusionistisches und Illusionäres habe, „weshalb wir auch, jedes Mal wenn wir von auswärts zurückkehren, nie mit Sicherheit wissen, ob wir wirklich fortgewesen sind“ (Sebald 2003: 22). Im Laufe der Erzählung wird deutlich, dass der von Austerlitz durchwanderte Raum bei aller Verschiedenheit der Eindrücke und durch alle Phasen der Zeit, seiner eigenen Lebenszeit hindurch der eine, extraterritoriale Ort geblieben sein wird – Ort des Verlusts, Ort der Konzentration, der Massierung und der Zerstörung: Die Erfahrung einer Epoche der Transnationalität aus dem Geist der Zerstörung. Nur auf dem Hintergrund einer solchen epochalen Ortung, die in Wirklichkeit eine Ent-Ortung ist, lässt sich die Struktur marginalisierter Männlichkeit, wie sie für den gesamten Roman konstitutiv ist, in ihrer ganzen Tragweite erkunden. Sie fädelt sich gleichsam nur über die Lebensgeschichte des Protagonisten ein, um sich von dort aus auf das Ganze der europäischen Kultur zu erstrecken. Kommen wir noch einmal auf die Geschichte von Jacques Austerlitz zurück. Nach seinem erzwungenen Abschied als Kind von seiner Mutter und seiner Geburtsstadt Prag lebt er, traumatisiert, jahrzehntelang abgetrennt von seiner Herkunft und Vergangenheit, arbeitet als Dozent an einem Londoner Kunsthistorischen Institut, fühlt sich jedoch keiner sozialen Schicht, keinem Berufsstand angehörig und scheut jede Nähe zu anderen Menschen. Wiederholt gerät er in Zustände absoluter Zerrüttung. Im Gespräch mit dem Ich-Erzähler berichtet er von sich selbst: Es war, als drängte eine seit langem in mir bereits fortwirkende Krankheit zum Ausbruch, als habe sich etwas Stumpfsinniges und Verbohrtes in mir festgesetzt, das nach und nach alles lahmlegen würde. Schon spürte ich hinter meiner Stirn die infame Dumpfheit, die dem Persönlichkeitsverfall vorausgeht, ahnte, daß ich in Wahrheit weder Gedächtnis noch Denkvermögen, noch eigentlich eine Existenz besaß, daß ich mein ganzes Leben hindurch mich immer nur ausgelöscht und von der Welt und mir selber abgekehrt hatte. (Sebald 2003: 182)
Die alttestamentarische Erzählung von der Aussetzung des Moses als kleines Kind in einem Kästlein im „Schilf am Ufer des Wassers“ (Sebald 2003: 85) wird ihm zum Bild seiner eigenen Existenz. Erst im Jahre
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1992, in der Folge eines schweren psychischen Zusammenbruchs, entdeckt er in seiner Erinnerung Spuren seiner Herkunft und Kindheit. Er folgt ihnen, indem er nach Prag reist und anschließend das Ghetto in Theresienstadt besucht. Die quälenden Geschichten und Bilder von den unvorstellbaren Greueltaten der Nationalsozialisten, denen auch seine eigene Familie zum Opfer gefallen war, erzeugt in ihm das schmerzhafte Bewusstsein für seine eigene Existenz. Es verdichtet sich im Bild des ‚abgesonderten Kindes‘. Nach der Schilderung der Böhmen-Reise heißt es an einer fortgeschrittenen Stelle des Romans: Er habe hier [in London] in den ersten Wochen nach seiner Rückkehr aus Böhmen, so setzte Austerlitz nun im Gehen seine Erzählung fort, die Namen und die Geburts- und Todesdaten der Verstorbenen auswendig gelernt, habe Kieselsteine und Efeublätter nach Hause getragen, auch eine Steinrose einmal und eine abgeschlagene Engelshand, doch so sehr mich die Spaziergänge in Tower Hamlets untertags auch beruhigten, sagte Austerlitz, so sehr bin ich am Abend heimgesucht worden von den grauenvollsten, manchmal Stunden um Stunden anhaltenden und immer weiter sich steigernden Angstzuständen. Es nutzte mir offenbar wenig, daß ich die Quellen meiner Verstörung entdeckt hatte, mich selber, über all die vergangenen Jahre hinweg, mit größter Deutlichkeit sehen konnte als das von seinem vertrauten Leben von einem Tag auf den anderen abgesonderte Kind: die Vernunft kam nicht an gegen das seit jeher von mir unterdrückte und jetzt gewaltsam aus mir hervorbrechende Gefühl des Verstoßen- und Ausgelöschtseins. (Sebald 2003: 330)
Die Erkenntnis über sich selbst verschafft Austerlitz ein scharfes Bewusstsein der eigenen Lebenssituation, welche ganz im Bann der traumatisierenden Ereignisse der Vergangenheit steht. Austerlitz gerät auch in der Folgezeit immer wieder ganz plötzlich in paranoische Zustände. Seine anhaltende Ohnmacht, das Gefühl einer extra-territorialen Existenzweise wird er nicht los. Das Bild des ausgestoßenen, abgesonderten Kindes prägt den Roman insgesamt genauso wie es die Figur marginalisierter Männlichkeit füllt, die sich in Sebalds Roman in einer Extremform zeigt. Sie stellt sich narrativ her in der Erinnerung an die Selbstermächtigung und Formierung einer hegemonial-barbarischen Männlichkeit – die grauenvolle Herrschaft der Nationalsozialisten–, deren Genozid an den europäischen Juden weit in die nachfolgenden Generationen hinein wirkt. Die Extremform marginalisierter Männlichkeit stellt sich in der Figur Auster-
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litz als eine der radikalen familiären, kulturellen und konkret-individuellen Zerrüttung dar. In Sebalds Roman konstituiert sich exemplarisch die Figur einer transgenerationellen marginalisierten Männlichkeit, welche Folge der durch die hegemonial-barbarische Männlichkeit des Nationalsozialismus verursachten Traumatisierung der Nachkommen ist.
3. H egemonialisierung Betrachten wir die im Roman am Protagonisten hervortretende Männlichkeit aber über die Ebene der histoire hinaus auf der des discours, so lässt sich der bisherige Befund auch bezweifeln. Die Frage ist: Haben wir es wirklich durchgängig mit einer Struktur marginalisierter Männlichkeit zu tun? Die Zweifel entzünden sich an der Figur Austerlitz selbst. Schließlich ist er keineswegs der der Wirklichkeit nachgestaltete Protagonist eines realistischen Romans, sondern ein Konstrukt intertextueller Bezüge, oder anders gesagt: eine Interfigur. Dies wird schon bei der äußerlichen Beschreibung der Figur deutlich. Austerlitz hat auf seinen Reisen stets einen Rucksack dabei, ähnlich wie Ludwig Wittgenstein. Und wie dieser trägt auch Austerlitz stets einen „entsetzten Ausdruck“ (Sebald 2003: 62) im Gesicht, sodass der Erzähler schließlich eine „gewissermaßen körperliche […] Verwandtschaft“ (Sebald 2003: 63) wahrzunehmen meint. Zentral ist aber die ähnliche Lebensweise, die in einem „provisorisch eingerichteten Leben, in dem Wunsch, mit möglichst wenig auslangen zu können“ (Sebald 2003: 64), besteht, sowie der ihnen gemeinsame geistige Habitus der „Unfähigkeit, mit irgendwelchen Präliminarien sich aufzuhalten“ (Sebald 2003: 64). Wird mit der Figurenmontage suggeriert, dass Austerlitz als asketischer Intellektueller mit den großen männlichen Denkern des 20. Jahrhunderts in Berührung tritt, so wird seine geistige Verfassung auch in Bezug zu einem der bedeutenden Schriftsteller der literarischen Moderne gesetzt, zu Hugo von Hofmannsthal. Die intertextuellen Bezüge zum Chandos-Brief in den Passagen, in denen der Sprachund Identitätsverlust Austerlitz’ dargestellt wird, sind überdeutlich. Austerlitz berichtet von sich selbst: Hie und da geschah es noch, dass sich ein Gedankengang im Kopf abzeichnete in schöner Klarheit, doch wusste ich schon, indem dies geschah, dass ich außerstande war, ihn festzuhalten, denn sowie ich nur den Bleistift ergriff, schrumpf-
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ten die unendlichen Möglichkeiten der Sprache, der ich mich früher doch getrost überlassen konnte, zu einem Sammelsurium der abgeschmacktesten Phrasen zusammen. Keine Wendung im Satz, die sich dann nicht als eine jämmerliche Krücke erwies, kein Wort, das nicht ausgehöhlt klang und verlogen. [...] Nirgends sah ich mehr einen Zusammenhang, die Sätze lösten sich auf in lauter einzelne Worte [...]. (Sebald 2003: 181-184)
Mit der hier zu Protokoll gebrachten Sprach- und Schreibkrise rückt Austerlitz in Tuchfühlung mit den bedeutenden Schriftstellern der Moderne, in deren Schreiben sich wie bei Hofmannsthal der Bruch mit der Tradition und zugleich die Suche nach neuen ästhetischen Wahrnehmungsund Ausdrucksformen vollzieht. Noch eine andere Einschreibung in die Figur Austerlitz ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert. Sie hat unmittelbar mit seiner jüdischen Abstammung zu tun und verläuft über den Prozess einer Identifizierung mit dem jüdischen Volk in seiner Ausgesetztheit, aber auch in seiner Auserwähltheit. Als Ausgesetzter identifiziert sich Austerlitz, wie oben schon erwähnt, mit dem Schicksal von Moses in Ägypten, der später zu einem der großen Altväter der Bibel und damit der jüdisch-christlichen Religion wird. Dass Austerlitz sich mit Moses nicht nur als Ausgesetztem identifiziert, sondern auch als Auserwähltem, wird an anderer Stelle deutlich. Als ihm während der Schulzeit im Internat sein wahrer Name mitgeteilt wird, wertet er die anfängliche Verwirrung in Bezug auf seine Identität in dem Augenblick um, in dem sein verehrter Lehrer Hilary den Namen Austerlitz wiederholt laut vor der Klasse ausspricht. In Austerlitz setzt sich die Vorstellung fest, ein Auserwählter zu sein. Der Name wird von einem „Schandfleck“ zu einem „Leuchtpunkt, der mir ständig vorschwebte [...]. Das ganze Schuljahr hindurch war es mir, als sei ich auserwählt worden, und an dieser Vorstellung [...] habe ich festgehalten, fast mein ganzes Leben lang.“ (Sebald 2003: 110 f.) Die Ahnenreihe der großen männlichen Dichter, Denker und Religionsgründer, die Austerlitz in Sebalds Roman zur Interfigur werden lassen, ließe sich fortsetzen. Angesichts der geistigen Potenz, mit der der Protagonist ausgestattet wird, ist im Zusammenhang unseres Themas zu fragen, ob die zuvor beschriebene marginalisierte Position nicht durch eine Form kulturell-hegemonialer Männlichkeit konterkariert wird. Eine Form hegemonialer Männlichkeit, die zudem etwas Aussschließliches und Ausschließendes hat, wenn man zusätzlich noch die Erzählsituation
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mitbedenkt. Große Teile des Romans finden in einer vom männlichen Ich-Erzähler berichteten mündlichen Erzählsituation statt. Der IchErzähler, selbst ein Reisender und Forschender, lernt Austerlitz in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre im Bahnhof von Antwerpen kennen. Das erzähltechnische Gerüst des Romans besteht darin, dass der namenlos bleibende Erzähler, der bekanntlich einige Ähnlichkeiten mit dem Autor Sebald aufweist, in den folgenden drei Jahrzehnten immer wieder Austerlitz aufsucht, meistens in London, und sich in langen Sitzungen dessen Lebensgeschichte erzählen läst. Was oberflächlich betrachtet wie eine psychotherapeutische Gesprächssituation aussieht, innerhalb derer der Analysand erzählend Zugang zu seiner vordem verschütteten Vergangenheit findet, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als viel mehr. Wenn der Erzähler Austerlitz in dessen Büro im Londoner Kunsthistorischen Institut besucht, entsteht eine Lehrsituation bzw. ein Lehrgespräch. Im Rückblick hält er über solche Zusammenkünfte fest: Austerlitz ist ja für mich, der ich zu Beginn meines Studiums in Deutschland von den seinerzeit dort amtierenden, größtenteils in den dreißiger und vierziger Jahren in ihrer akademischen Laufbahn vorangerückten und immer noch in ihren Machtphantasien befangenen Geisteswissenschaftlern so gut wie gar nichts gelernt hatte, seit meiner Volksschulzeit der erste Lehrer überhaupt gewesen, dem ich zuhören konnte. Es ist mir bis heute gegenwärtig, mit welcher Leichtigkeit seine von ihm sogenannten Denkversuche mir eingingen, wenn er über den ihn seit seiner Studienzeit beschäftigenden Baustil der kapitalistischen Ära sich ausbreitete, insbesondere über den Ordnungszwang und den Zug ins Monumentale, der sich manifestierte in Gerichtshöfen und Strafanstalten, in Bahnhofs- und Börsengebäuden [...]. (Sebald 2003: 51 f.)
Viele der Gespräche, aus denen der Roman großenteils montiert ist, haben den Charakter einer Unterweisung. Es entsteht eine Lehrer-SchülerSituation, und die affektive Nähe, die der Erzähler durch die mimetische und geduldige Wiedergabe des von Austerlitz Erzählten und durch seine Verehrung von dessen geistiger Potenz herstellt, konstituiert einen intellektuell geladenen homosozialen Raum, der exklusiv männlich ist und auch bleibt.4 Frauen finden keinen Eintritt in diesen Raum, weder als intellektuelle Bezugsgrößen noch als Gesprächsteilnehmerinnen, lediglich 4 | Vgl. dazu auch die Überlegungen zur Homoerotik bei Bonn (2007: 29).
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als geliebte und betrauerte Mütter sowie als zurückgewiesene Geliebte in Austerlitz’ Lebensgeschichte. Diese Befunde auf der Ebene der Erzählweise legen es nahe, Sebalds Roman in Bezug auf die Konstruktion von Männlichkeit in einem Spannungsgefüge zu betrachten. Bildet sich in der erzählten individuellen Geschichte von Austerlitz, die auch in den Nachkriegsjahrzehnten durch die Nachwirkungen der hegemonial-barbarischen Männlichkeit des nationalsozialistischen Regimes durch Traumatisierung geprägt ist, eine dauerhafte Gestalt marginalisierter Männlichkeit heraus, so erweist die Analyse auf der discours-Ebene eine Persistenz kulturell-hegemonialer Männlichkeit, die durch die homosoziale, mündliche Erzählsituation – das vertraute Gespräch von Mann zu Mann – verstärkt wird. Allerdings bleibt auch diese kulturell-hegemoniale Männlichkeit im Roman nicht unbeschädigt. Denn das intellektuelle Universum, das durch die mann-männliche Doppelerzählung (noch einmal) aufgerufen und vermittelt wird, befindet sich wie die europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts insgesamt im Prozess der Zerstörung. Nirgendwo wird die Zerstörung der in Sebalds Perspektive männlich dominierten europäischen Kultur so anschaulich wie in der Beschreibung der neuen Bibliothèque Nationale in Paris. Auf der Suche nach den Spuren seines im Krieg verschleppten Vaters kehrt Austerlitz gegen Ende des Romans nach Paris zurück. Im Gespräch wiederum mit dem Ich-Erzähler schildert er seine Eindrücke von der neuen Nationalbibliothek, die Mitterand in den 1990er Jahren bauen ließ und welche 1996 ihre Pforten öffnete. Sie liege in einem „desolaten Niemandsland“ (Sebald 2003: 392). Sie sei überdies in ihrer ganzen „äußeren Dimension und inneren Konstitution“ menschenabweisend und den „Bedürfnissen jedes wahren Lesers von vornherein kompromisslos“ (Sebald 2003: 392) entgegengesetzt. Schließlich verunmögliche die neue Bibliothek den Zugang zum kulturellen Gedächtnis: Das neue Bibliotheksgebäude, das durch seine ganze Anlage ebenso wie durch seine ans Absurde grenzende innere Regulierung den Leser als einen potentiellen Feind auszuschließen suche, sei, so, sagte Austerlitz [...], quasi die offizielle Manifestation des immer dringender sich anmeldenden Bedürfnisses, mit all dem ein Ende zu machen, was noch ein Leben habe an der Vergangenheit. (Sebald 2003: 404)
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So entpuppt sich der verstellte Blick auf die Tradition vom Ende des 20. Jahrhunderts aus auch als eine Aussage über die intellektuelle Unbehaustheit heute. Der kolossale Neubau der Nationalbibliothek erweist sich als Allegorie einer von aller Geschichte abgeschnittenen Gegenwart. Und in einem solchen Bild der Epoche als plane Jetzt-Zeit geht mit der Kultur selbst auch deren hegemonial-männliche Gestalt unter. Zurück bleibt einzig die Erzählung davon. Im Akt des Erzählens der Geschichte von der Verschüttung der auf Erinnerung beruhenden Kultur aber streift diese ihr hegemonial-männliches Gewand ab und überlebt als marginalisierte in der Gemeinschaft von intellektuellen Außenseitern, die sich gegenseitig Zuspruch und Zuwendung spenden. Der homosoziale Raum öffnet sich in Sebalds Roman jedoch bis zum Ende nicht. Die männlichen Außenseiter bleiben unter sich.
L iter atur Bonn, Klaus (2007): Homoerotik, Hasard, Hysterie unter anderem. Zur Figuration der Männlichkeit bei W.G. Sebald, in: Forum Homosexualität und Literatur 49, S. 5-40. Connell, R.W. [Raewyn] (1999): Der gemachte Mann. Konstruktion und Krise von Männlichkeit, Opladen. Denham, Scott/McCulloh, Mark (Hg.) (2006): History – Memory – Trauma, Berlin, New York. Fischer, Gerhard (Hg.) (2009): W.G. Sebald. Schreiben ex patria, expatriate writing, Amsterdam. Martinez, Matias/Scheffel, Michael (1999): Einführung in die Erzähltheorie, 5. Auflage, München. Sebald, W.G. (2003): Austerlitz, Frankfurt a.M. Sebald, W.G. (1992): Die Ausgewanderten, Frankfurt a.M.
Männerbilder in der Literatur von Frauen und die Perspektive männlicher Leser
Seit ihrer Etablierung als Teilbereich der Gender Studies hat die literaturwissenschaftliche Männlichkeitsforschung vornehmlich literarische Texte von männlichen Autoren auf die in ihnen modellierten Männerbilder hin untersucht. Und das aus durchaus nachvollziehbaren Gründen, stellte sich doch nach oder mit der feministischen Analyse und Kritik immer dringlicher die Frage, was Männer über ihre eigene Geschlechtlichkeit denken und wie sie sie ästhetisch zur Darstellung bringen. Damit entstand gleichzeitig das Bedürfnis, die eigene Tradition allererst einmal als geschlechtlich-männlich zu markieren (vgl. Tholen 2005). Dass ein solcher Blick auf die kanonisierte (männliche) Literatur noch immer eher die Ausnahme als die Regel ist, lässt sich an der vergleichbar geringen Zahl von Publikationen männlicher Literaturwissenschaftler ablesen.1 Gerade in der Germanistik gehört ein solches Erkenntnisinteresse auch gegenwärtig noch nicht zu den Themen, die bei Konferenzen ein großes Auditorium anziehen würden. Die anhaltende Bedeutung einer männlichen Analyse und Reflexion von Männerbildern und Männlichkeitskonstruktionen in Texten von Männern bleibt von solchem Desinteresse allerdings unberührt. Statt aber nach den institutionellen und geschlechterpolitischen Gründen der fortdauernden Randständigkeit der Männlichkeitsforschung innerhalb der Germanistik zu suchen, möchte ich in den folgenden Überlegungen den Blick nach vorne richten und für eine Erweiterung des Forschungsfeldes eintreten. 1 | Vgl. dazu die Forschungsberichte von Erhart (2005) und Horlacher (2010). Horlachers Überblick enthält jedoch kaum genuin literaturwissenschaftliche Überlegungen.
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Es scheint mir wichtig, die von der Geschlechterforschung erhobene Forderung, Geschlecht als relationale Kategorie zu fassen, auch auf die Erforschung von Männerbildern anzuwenden. Das würde dann aber nicht nur bedeuten, dass Männerbilder auf der textinternen Ebene in Relation zu Frauenbildern oder Figurationen von Männlichkeit in Relation zu Weiblichkeit gesetzt werden sollten, sondern dass Männerbilder darüber hinaus sowohl in Texten von Autoren wie von Autorinnen untersucht werden müssten; und dies freilich auch vergleichend. Literaturwissenschaftlerinnen haben damit schon in den 1980er Jahren begonnen; wie vor allem Regula Venske in ihrer immer noch lesenswerten Dissertation Mannsbilder – Männerbilder. Konstruktion und Kritik des Männlichen in zeitgenössischer deutschsprachiger Literatur von Frauen (1988). Relationalität ist dabei eines ihrer methodischen Kriterien; so schreibt sie einleitend, dass die Sicht der Frau auf den Mann mit ihrer Sicht auf sich selbst zusammenhängt. Das emanzipatorische Interesse von Venskes Arbeit zielt mit der Untersuchung von Männerbildern in Texten von Autorinnen auf die Möglichkeit weiblicher Identitätsbildung, und zwar im Modus der Selbstreflexion. Dabei verschweigt weder Venske noch Ruth Klüger wenige Jahre später in ihrem eindrucksvollen Essay Frauen lesen anders, welche Ablehnung die Analyse von Männerbildern (vgl. Klüger 2007) und darüber hinaus ein spezifisch weiblicher Blick auf die Unterschiede männlicher und weiblicher Literatur sowie männlicher und weiblicher Leseeinstellungen hervorrufen (vgl. Venske 1988: 10-17). Auch gegenwärtig ist diese Ablehnung noch zu spüren, wenn sie vielleicht auch nicht mehr in so harscher Form wie vor dreißig Jahren geäußert wird. Literaturwissenschaftliche Männlichkeitsforschung heute muss sich diesbezüglich umso mehr explizite und implizite Vereinseitigungen, Ressentiments und Ausschließungen bewusst machen. Und sie muss in Zukunft forschungspraktisch Konsequenzen aus dem Umstand ziehen, dass zweifellos verdienstvolle Sammelbände über Männerbilder und Männlichkeitskonzepte in der deutschen Literatur auch gegenwärtig noch beinahe ausschließlich Texte von Autoren zum Gegenstand haben. Barbara Hindinger und Martin-M. Langner, Herausgeber eines solchen vor einiger Zeit erschienenen Bandes, schreiben, das Problem erkennend, in ihrem Vorwort: Sämtliche Beiträge des vorliegenden Sammelbandes konzentrieren sich überwiegend auf Texte von männlichen Autoren. Anzuregen wäre eine ‚Parallelgeschichte‘
Männerbilder in der Literatur von Frauen
der Muster von Männlichkeit und ihrer Konstruktionsprinzipien in literarischen Texten aus der Sicht weiblicher Autorinnen. (Hindinger/Langner 2011: 9)
Eine solche, allererst noch zu schreibende ‚Parallelgeschichte‘ hätte in meinen Augen die Aufgabe zu erfüllen, einem vergleichenden Dialog zwischen den weiblichen und männlichen Perspektiven und Stimmen den Weg zu bereiten. Dafür aber müsste die literaturwissenschaftliche Geschlechter- und insbesondere die von Männern betriebene Männlichkeitsforschung einen Sprung wagen. Sie müsste in variierender Anlehnung an Ruth Klügers Beschreibung des Energieaufwandes, den lesende Frauen brauchen, um die Distanz ihrer eigenen Lebenserfahrung zu der des männlichen Autors zu überbrücken (Klüger 2007: 96), die Kraft und den Willen auf bringen, die durch die traditionelle, männliche Literaturwissenschaft bedingten Umgehungs- und Vermeidungsstrategien in Bezug auf die Literatur von Frauen aufzuheben und darüber hinaus Vorurteile sowohl gegenüber der Darstellung von Männlichkeit in Texten von Frauen als auch gegenüber ihrer literaturwissenschaftlichen Untersuchung abzubauen. Dabei hätte sie ihr Augenmerk auch auf den männlichen Leser zu richten; auf das, was er erlebt, wenn ihm in Texten von Frauen Vorstellungen, Phantasien und Bilder von Männlichkeit begegnen, Männlichkeit in Relation zu Weiblichkeit dargestellt wird. Und mit dem Blick auf den männlichen Leser hätte sie damit den Blick auf sich selbst zu richten. Mit anderen Worten: männliche Subjekte, die literaturwissenschaftlich Männlichkeiten erforschen, sollten sich bei der ästhetischen Wahrnehmung von Geschlechterbildern in der Literatur von Frauen nicht durch objektivierenden Zugriff die Möglichkeit nehmen lassen, auch von ihren Leseerfahrungen zu sprechen, und von der sich im Lesen einstellenden männlichen Selbsterfahrung.2 Ich möchte im Folgenden ein paar Zugänge zu einem solchen erweiterten Forschungsfeld aufzeigen. Ich tue dies bewusst unter Rückgriff auf zeitgenössische Texte von Autorinnen, erstens, weil in der Gegenwartsliteratur der Kanonisierungs- und damit der literaturwissenschaftliche 2 | Damit käme ein hermeneutisches Verständnis männlicher Lektüre zum Zuge, welches die prinzipiell offene Situation der Erfahrung des Textes mit einem geschlechtlich-männlichen Index versehen würde. Vgl. zum hermeneutischen Verständnis offener Texterfahrung im Anschluss an die Hermeneutik Gadamers Tholen (1999: 113-118).
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Selektionsmechanismus noch weitgehend unwirksam ist, und zweitens, weil die Frage von Interesse ist, ob in der aktuellen Literatur kurrente bzw. traditionelle Bilder und Narrationen von Männlichkeit möglicherweise im Wandel sind.
‚F ront -M ännlichkeit ‘ – Z u M arlene S treeruwit z ’ R oman K reuzungen Marlene Streeruwitz modelliert in ihrem im Jahre 2008 erschienenen Roman Kreuzungen eine zeitgemäße Figur hegemonialer Männlichkeit, indem sie einen ‚Front-Mann‘ in den Mittelpunkt der Erzählung stellt.3 Es handelt sich um einen reichen Finanzmanager, der das Ziel verfolgt, zu den reichsten Menschen der Welt zu gehören. Dafür gibt er sein bisheriges Leben auf, verlässt Frau und Kinder und sucht nach einer neuen Frau, mit der er ebenfalls Kinder haben will. Der psychologische Antrieb der Erzählung findet sich im Motiv des Mannes, immerzu ein neues Leben beginnen zu wollen, mit noch mehr Geld und noch mehr Besitz, Schönheit und Befriedigung. Zur Realisierung seines Lebensprojektes gehört wesentlich das Phantasma der Selbsterschaffung und Autonomie. Dieses Phantasma wird im Text entworfen und begründet die zugrundeliegende Männlichkeitskonstruktion. Die männliche Selbstschöpfung vollzieht sich in einem quasi-dialektischen Akt der Entfremdung. Der Manager imaginiert seine Größe und Einzigartigkeit in Situationen höchster Gefahr und Maßlosigkeit: Einer wie er, der sich selbst erschaffen hatte müssen. Der musste in die Falle gehen. Der konnte nur herausfinden, wo sein Selbst war, wenn er es in Gefahr brachte, und am Ende triumphiert er. [...] Er lag da und war erschüttert. Erschüttert über sein Genie. Es war genial gewesen, eine Entfremdung einzuführen und damit einen Raum zu gewinnen, in dem er sich nicht auf eine bekannte Größe festlegen hatte müssen. (Streeruwitz 2008: 99) 3 | Connell (1998) bezeichnet die ‚Front-Männlichkeit‘ als zeitgemäße Gestalt der hegemonialen Männlichkeit. Vgl. zur folgenden Konzeptbildung sowie zu den Einzelanalysen der Texte von Streeruwitz und Pehnt auch den Aufsatz Männerbilder im Wandel? Beobachtungen zur Literatur des beginnenden 21. Jahrhunderts, in diesem Band.
Männerbilder in der Literatur von Frauen
Der Mann entwirft nicht nur ein Bild von sich selbst, sondern der Text macht auf jeder Seite deutlich, dass sich alles nur um ihn dreht. Dies verrät am besten ein Schlüsselsatz gegen Ende des Romans: „Es ging nur um ihn, aber dafür brauchte er sich ganz.“ (Streeruwitz 2008: 196) Seine Familienbeziehungen sowie seine Prostituiertenbesuche stehen im Zeichen der Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse und seiner Allmachtsgelüste. Selbst das Scheitern seines Projektes, sich neu zu verheiraten, erlebt er als Erfolg. Der Sog, in den der Leser bei der Lektüre gerät, wird nicht nur durch den aktuellen Plot und durch die Figur eines egozentrischen und morallosen Neokapitalisten erzeugt, sondern vor allem auch durch die Erzähltechnik. Die Erzählerin übt an keiner Stelle etwa in auktorialer Einstellung Kritik an einem solchen Mannsbild, sondern stellt mittels der durchgängigen Verwendung der erlebten Rede eine geradezu gespenstische Nähe zum männlichen Protagonisten her. Der Leser verfolgt die inneren Gedankengänge und Wahrnehmungen aus der Innensicht der Figur und der Text gibt ihm keine Chance, die unheimliche Nähe auch nur einmal durch eine andere Perspektive zu unterbrechen. Der Modus der Unmittelbarkeit, des unmittelbaren Miterlebens mit dem Mann inkludiert den Leser in die Bewegung eines gierigen Begehrens, ruft in ihm das eigene männliche Begehren auf. Der Text überführt den männlichen Leser für einen Moment der sich in ihm regenden Lust und inauguriert damit eine bloß stellende Entsublimierung des Lektüreaktes. Zugleich aber gewährt der Roman die Möglichkeit kritischer Reflexion des von ihm ausgestellten Männerbildes, da er zum einen ironisch den alten patriarchalen Mythos der männlichen Selbstschöpfung reinszeniert und zum anderen an wenigen wohlkalkulierten Stellen die Defizienz eines solchen Front-Mannes andeutet. So wird etwa von der ‚Leere‘ gesprochen, die der Mann in sich fühlt, weil er bemerkt, dass niemand ihn will, woraus für ihn selbst aber nichts folgt. Am Ende wird schließlich vorgeführt, wie das unendliche Begehren nach dem Mehr banale Züge annimmt. Streeruwitz gelingt es in Kreuzungen, eine zeitgemäße Figur hegemonialer Männlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes vorzuführen. Die monströse Wirkung gerade auch auf männliche Leser erzielt sie mit der grundsätzlichen Vermeidung von expliziter Wertung und gleichzeitiger ironischer Reinszenierung des neokapitalistischen Patriarchen. Darüber hinaus erzeugt die schräge Logik der Gedankenführung aus der Innensicht des Protagonisten den Eindruck der Absurdität eines solchen
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Männlichkeitsentwurfes; beispielhaft in der Schlusspassage, in der es heißt: „Es war alles gescheitert, aber er hatte alles erreicht.“ (Streeruwitz 2008: 243)
M arginalisierte M ännlichkeit – Z u A nne t te P ehnts R oman M obbing Eine zu Streeruwitz’ Konstruktion hegemonialer Männlichkeit im Gegensatz stehende Modellierung von Männlichkeit entfaltet Annette Pehnt in dem im Jahre 2007 erschienenen Roman Mobbing. Den männlichen Protagonisten des Romans, Joachim Rühler, kann man als eine zeitgenössische Verkörperung marginalisierter Männlichkeit betrachten. Er ist Angestellter in der Stadtverwaltung und wird vor allem von seiner Chefin und einer engen Mitarbeiterin gemobbt. Nach längeren Intrigen wird Rühler gekündigt. Er und seine Familie stehen nun in für sie völlig ungewohnter Weise vor dem Schreckgespenst Hartz IV. Nach einer zunächst erfolgreichen Klage muss er wieder in der Stadtverwaltung eingesetzt werden. Doch ihm werden nunmehr eine demütigende Arbeit und ein Arbeitsplatz in einem Containerbüro mit Wellblechdach zugewiesen, in dem sich nur ausrangierte Gegenstände befinden. Der Status seiner männlichen Marginalisierung wird dadurch zementiert, dass Rühler, mittlerweile völlig demoralisiert und ohne finanzielle Mittel, sich juristisch zur Wehr setzt, und von sich selbst als von jemandem redet, der nur „Müll mach[t]“ (Pehnt 2007: 149). Der Roman wird in der Ich-Perspektive der Ehefrau Joachim Rühlers erzählt. Das Bild des Mannes wird also erzähltechnisch durchgehend aus weiblicher Sicht entfaltet. Die Wahl einer solchen Perspektive eröffnet auf der textinternen Ebene eine relationale Betrachtungsweise geschlechtlich markierter Denk- und Verhaltensformen. Interessant ist, dass die erzählende Ehefrau über die Empathie für ihren Ehemann hinaus auch an der Entwertung seiner Person beteiligt ist. Sie beginnt sich innerlich von ihm zu lösen, wenn es heißt: Von diesem Jo ist fast nichts mehr übrig. Nicht mehr übrig sind: sein Übermut, seine Weltgewandtheit, die gelben Rosen, das Grüßen und Gegrüßtwerden, seine Kraft, das Büro, die Reisen, die Mitbringsel, der Glanz in seinen Augen, die Entschlossenheit, die Telefonanrufe. (Pehnt 2007: 136)
Männerbilder in der Literatur von Frauen
Der Verlust der beruflichen Position des Mannes geht für die Ehefrau mit einem Verlust männlicher Erotik und Attraktion einher. Dies vermag sich auch nach Rühlers Wiedereinstellung nicht mehr zu ändern. Irgendwann weigert sich die Ehefrau, ihn in der angespannten Situation immer wieder aufzubauen und zu ihm zu stehen. Die von der Ehefrau erzählte Geschichte und ihr Blick auf den Mann eröffnet dem Leser interessante Einblicke in die Relationalität von Geschlecht, insofern, als die in Mobbing entworfene Männlichkeit nur in der Zusammenschau mit der weiblichen Perspektive und Projektion vollständig erfasst werden kann. Der relationale Zusammenhang der Geschlechter- bzw. Paarbeziehung entpuppt sich als ein Prozess der Entmächtigung und Ermächtigung. Die Ehefrau macht gegen ihren Willen gemeinsamen Prozess mit der mobbenden Chefin. Die soziale Deklassierung des Mannes verläuft über eine gleichzeitige Hegemonialisierung der weiblichen Figuren. Dieser Prozess der weiblichen Hegemonialisierung bedeutet, dass die Protagonistinnen zugleich traditionell männlich konnotierte Positionen übernehmen (hier der Chefstatus in der Stadtverwaltung) und das Stereotyp bedienen, wonach Frauen vor allem Männer begehren, die in allen Belangen potent sind. Eine solche relationale Darstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit eröffnet dem Leser die Möglichkeit, die Analyse und Deutung des Geschlechterverhältnisses im Sinne einer prozessualen und reziproken Reflexion zu verstehen. Der Roman von Pehnt eröffnet somit gerade männlichen Lesern einen ästhetischen Spielraum der Wahrnehmung von Geschlecht und Männlichkeit jenseits der eingeschliffenen Stereotype dominanter Mannsbilder. Männliche Leser haben mithin die Möglichkeit, die durchaus realistische Narration der Verschiebung der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern in ihren Untiefen, d.h. im ganzen Spektrum möglicher, sich im Mann einstellender Gefühlserlebnisse wie Entmächtigung, Sprachlosigkeit und Depressivität wahrzunehmen und zu reflektieren, ohne dabei ihrerseits ins Ressentiment gegenüber weiblicher Positionierung zu verfallen.
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Männlichkeiten in der Literatur
D ie A ufhebung hegemonialer M ännlichkeit in G e walt – Z u H elene H egemanns R oman A xolotl R oadkill Unter den Büchern jüngerer und ganz junger Autorinnen finden sich Texte, die mit Erzählungen von sich auflösenden, zerfallenden Familien und familialen Patchwork-Arrangements auch die klare geschlechtliche Identifizierung von Täter- und Opferpositionen, von Gewalttätigen und Leidtragenden verunmöglichen. Stattdessen verbinden Autorinnen wie Zoë Jenny in dem Roman Das Blütenstaubzimmer (1997) oder Nora Bossong in Gegend (2006) ihre Familien-Dystopien mit surreal anmutenden Gewaltszenerien, die sich zwischen den Mitgliedern zerfallender Kleinfamilien und den neu hinzukommenden Geliebten und Kindern ereignen. Dabei geht Gewalt keineswegs nur von den männlichen Figuren, seien es Väter, Brüder oder neue Freunde, aus, sondern ebenso von Müttern oder Halbschwestern. Während die Väter wie die Mütter der oft jugendlichen Töchter, die die Hauptfiguren der Romane sind, als gleichgültige und mental wie räumlich abwesende Figuren gezeichnet werden, die egozentrisch nur ihre eigenen Interessen ohne jegliches Verantwortungsgefühl für ihre Kinder verfolgen, werden die Töchter in den entstrukturierten, sozialen Räumen ihres Erwachsenwerdens zunehmend brutalisiert. Kaum ein deutschsprachiges Buch der letzten Jahre führt dies so schonungslos vor wie Helene Hegemanns im Jahre 2010 erschienener Debütroman Axolotl Roadkill. Die sechzehnjährige Mifti hat ihre alkoholabhängige Mutter bereits verloren und ihr Vater ist eins von diesen linken, durchsetzungsfähigen Arschlöchern überdurchschnittlichen Einkommens, die ununterbrochen Kunst mit Anspruch auf Ewigkeit machen und in der Auguststraße wohnen. Jeden Tag bis zu elf Prostituierte, jeden Tag Haarwachs und jeden Tag mit Textmarkern melancholisch expressionistische Kunstwerke ausmalen, die er aus schwarzweißen Plattencovern zusammensetzt. (Hegemann 2010: 13)
Die Position hegemonialer Männlichkeit, die der Vater gemäß einer solchen Charakterisierung einzunehmen scheint, ist aber nicht entscheidend für die Geschlechtertextur des gesamten Textes. Denn diese gibt sich viel eher als eine vollkommen entdifferenzierte zu erkennen, denn das zentrale Thema jeder Seite des Romans ist die absolute Sinnlosigkeit des Lebens und die Gewalt, in die Männer wie Frauen scheinbar unter-
Männerbilder in der Literatur von Frauen
schiedslos einbezogen sind. Das Leben, oder besser gesagt das Dahinvegetieren Miftis, vollzieht sich in Berliner Clubs wie dem Berghain. Sie ist andauernd auf Drogen, lässt sich treiben und hat mit anonym bleibenden Männern Sex. Geschildert wird recht ausführlich eine Fahrt mit dem Taxi, bei der der Taxifahrer plötzlich auf einem Parkplatz anhält und über Mifti herfällt. Die Szene wird von Mifti, der Ich-Erzählerin, in aller Rohheit und Gewalt protokolliert. Dabei bleibt der Leser in der halluzinatorischen Optik der Erzählerin gefangen, die mehr registriert als reflektiert: Ich weiß, dass er [der Taxifahrer] mich gnadenlos fickt, ich will dieses unanständige Wissen nicht, denn es bedeutet den Verlust meiner Sprache – ich habe in dieser Sexwelt keine Sprache. Nichts daran ist ekelhaft oder von ekstatischen Ausbrüchen durchsetzt oder abscheulich. Das Widerliche ist, dass mein Körper wiederholt kommt, im Rahmen dieser anstrengenden Prozedur drei Runden lang von starken multiplen Orgasmen geschüttelt wird. (Hegemann 2010: 115)
Es ist hier keine Rede von einer Vergewaltigung auf offener Straße, sondern es heißt stattdessen wenige Zeilen später: Nur eine nicht enden wollende Spirale der Überwältigung durch sich übereinanderstapelnde Gefühle, dominiert von Mitleid und den sich nach meiner traumatischen Odyssee durch die Bewusstseinserweiterung endlich wieder abzeichnenden Umrissen. (Hegemann 2010: 115f.)
Im Anschluss unterhält sie sich noch eine Zeitlang mit dem Taxifahrer, steigt irgendwann aus und sieht im Weggehen, wie ihr der Typ aus der Ferne zum Abschied winkt. Der Text funktioniert beinahe durchgehend nach dem Schema der Aufhebung bzw. Auflösung der Zuordnung von Subjekt und Objekt, Täter und Opfer, Lust, Gewalt und Leid. In der von Hegemann montierten Berliner Subszene fließt alles ineinander über, und dabei werden aus Frauen und Männern fickende, kotzende und schlagende Körper, deren Aktivitäten drogengesteuert sind. Der halluzinatorische, weibliche Blick registriert dabei nur noch eine „nicht enden wollende Spirale der Überwältigung“. Er entlässt zuletzt den männlichen Leser, mich, mehr als irritiert, ja geradezu verstört aus der Lektüre eines Textes, bei der ich bemerke, wie mir alle Kategorien kritischer, selbstreflexiver Männlichkeitsforschung entgleiten. Warum? Weil der Text, ähnlich wie vielleicht zuvor
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nur in Lautréamonts Chants de Maldoror, die Welt als eine Hölle wahrnehmbar macht, in der alle Kategorien und Differenzen, einschließlich die der Geschlechterstudien, im unaufhörlich hervorstoßenden Magma der Gewalt verbrennen. Hegemanns Roman Axolotl Roadkill führt den geschlechterreflexiven Leser, jedenfalls mich, an eine kritische Grenze, da er mich überwältigt und sprachlos macht. Und darin läge, wenn man so will, die einzige (mir mögliche) Identifizierung mit der Erzählerin, insofern sie ja von sich sagt, dass sie in dieser Sex- und Gewaltwelt keine Sprache hat.
L iter atur Connell, Raewyn (1998): Männer in der Welt. Männlichkeiten und Globalisierung, in: Widersprüche 18, H. 67, S. 91-105. Erhart, Walter (2005): Das zweite Geschlecht: „Männlichkeit“, interdisziplinär. Ein Forschungsbericht, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 30, H. 2, S. 156-232. Hegemann, Helene (2010): Axolotl Roadkill, Berlin. Hindinger, Barbara/Langner, Martin-M. (2011): Vorwort, in: Dies. (Hg.): „Ich bin ein Mann! Wer ist es mehr?“ Männlichkeitskonzepte in der deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München, S. 7-14. Horlacher, Stefan (2010): Überlegungen zur theoretischen Konzeption männlicher Identität aus kulturwissenschaftlicher Perspektive. Ein Forschungsüberblick mit exemplarischer Vertiefung, in: Ders. (Hg.): „Wann ist die Frau eine Frau? Wann ist der Mann ein Mann?“ Konstruktionen von Geschlechtlichkeit von der Antike bis ins 21. Jahrhundert, Würzburg, S. 195-238. Klüger, Ruth (2007): Frauen lesen anders, in: Frauen lesen anders. Essays [1996], München, S. 83-104. Pehnt, Annette (2007): Mobbing, München, Zürich. Streeruwitz, Marlene (2008): Kreuzungen, Frankfurt a.M. Tholen, Toni (1999): Erfahrung und Interpretation. Der Streit zwischen Hermeneutik und Interpretation, Heidelberg. Tholen, Toni (2005): Verlust der Nähe. Reflexion von Männlichkeit in der Literatur, Heidelberg.
Männerbilder in der Literatur von Frauen
Venske, Regula (1988): Mannsbilder – Männerbilder. Konstruktion und Kritik des Männlichen in zeitgenössischer deutschsprachiger Literatur von Frauen, Hildesheim, Zürich, New York.
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Liebeserklärung eines Ehemannes André Gorz’ Brief an D.
I. A ndré G orz schreibt seiner F r au D orine einen l angen L iebesbrief Im März 2006 beginnt der über achtzigjährige französische Sozialphilosoph, Publizist und Schriftsteller André Gorz, seiner Frau Dorine einen Brief zu schreiben. Dorine Gorz, zu diesem Zeitpunkt einundachtzig Jahre alt, seit Jahren schwer krank, wird nicht mehr lange zu leben haben. Die beiden hatten sich 1947 in Lausanne kennengelernt.1 Er, 1923 unter dem Namen Gerhard Horst in Wien geboren, ist Sohn eines jüdischen Holzhändlers, der sich 1930 zum Katholizismus bekehrt, und einer zeitweise als Sekretärin arbeitenden praktizierenden Christin. Sie, gebürtige Engländerin, muss schon als kleines Kind miterleben, wie die Ehe ihrer Eltern in die Brüche geht. Die Mutter verlässt ihren als Kriegsversehrten aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrten Mann und wendet sich einem anderen Mann zu, der Dorine als ihr Pate vorgestellt wird. Aber auch diesen Mann verlässt die Mutter nach kurzer Zeit und lässt die Tochter bei ihm zurück. André Gorz, den seine Mutter 1939 in ein schweizerisches Internat im Kanton Graubünden gebracht hatte, um ihm die militärische Aushebung für die Nazi-Armee zu ersparen, machte dort das Abitur und studierte ab 1941 Chemie in Lausanne. Er schloss das Studium 1945 mit dem Diplom eines Chemieingenieurs ab. Schon bald, nachdem André und die belesene Dorine sich in Lausanne kennengelernt hatten, zog sie beide das Interesse am intellektuellen Milieu des Existenzialismus nach Paris. Zwei Jahre später, im Jahre 1949, heirateten sie in Paris. Dort schlugen sie sich, 1 | Vgl. zu den biographischen Fakten Schaffroth (2008).
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ein einziges kleines Zimmer gemeinsam bewohnend, in den ersten Jahren mit zeitlich befristeten Anstellungen durch. Ab 1955 zeichnete sich für ihn der Beginn einer journalistischen Karriere ab. Sie beide erhielten die französische Staatsbürgerschaft und fanden allmählich Zugang zu den maßgeblichen intellektuellen Kreisen. Prägend für das Weltbild der Gorz’ war die enge Bekanntschaft mit Sartre, Simone de Beauvoir und anderen Schriftstellern und Denkern im Umkreis dieses mythischen Intellektuellen-Paares. André Gorz arbeitete seit den 1950er Jahren in der Redaktion der von Sartre gegründeten Zeitschrift Les Temps modernes mit. Seine schriftstellerische Tätigkeit weist, von seinem ersten im Jahre 1958 veröffentlichen Buch – der Autobiographie Der Verräter – an, deutliche Bezüge zu den existentialistischen Grundgedanken Sartres auf. Keinen Einfluss jedoch haben Sartre und Beauvoir auf die Form des Zusammenlebens des Ehepaares Gorz. Am eindrücklichsten zeigt sich dies im Brief an D., den der dreiundachtzigjährige, unterdessen berühmte Sozialphilosoph an seine totkranke Frau schreibt. Ich möchte im Folgenden die erste Passage dieses langen, in der deutschsprachigen Ausgabe etwa achtzig Seiten umfassenden Briefes zitieren: Bald wirst Du jetzt zweiundachtzig sein. Du bist um sechs Zentimeter kleiner geworden, Du wiegst nur noch fünfundvierzig Kilo, und immer noch bist du schön, graziös und begehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe Dich mehr denn je. Kürzlich habe ich mich von neuem in Dich verliebt, und wieder trage ich in meiner Brust diese zehrende Leere, die einzig die Wärme Deines Körpers an dem meinen auszufüllen vermag. Ich muss Dir unbedingt diese einfachen Dinge noch einmal sagen, bevor ich auf die Fragen eingehe, die mich seit kurzem quälen. Warum nur bist Du in all dem, was ich geschrieben habe, so wenig präsent, während doch unsere Verbindung das Wichtigste in meinem Leben gewesen ist? Warum nur habe ich in Der Verräter ein falsches Bild von Dir gegeben, das Dich entstellt? Dieses Buch sollte zeigen, dass mein Engagement Dir gegenüber die entscheidende Wende gewesen ist, die es mir ermöglicht hat, leben zu wollen. Warum aber ist dort keine Rede von der wunderbaren Liebesgeschichte, die wir sieben Jahre zuvor zu leben begonnen hatten? Warum sagte ich nicht, was mich an Dir fasziniert hat? Warum habe ich Dich als ein beklagenswertes Geschöpf dargestellt, ‚dass niemanden kannte, kein Wort französisch sprach, sich ohne mich zugrunde gerichtet hätte‘, während Du doch Deinen Freundeskreis hattest, einer Theatergruppe in Lausanne angehörtest
Liebeserklärung eines Ehemannes
und in England von einem Mann erwartet wurdest, der Dich heiraten wollte? (Gorz 2007: 5f.)
So beginnt ein Liebesbrief.2 So beginnt ein Liebesbrief, wie es vielleicht keinen zweiten gibt. Und zwar nicht deshalb schon, weil hier ein Mann im hohen Alter der geliebten Frau einmal mehr seine Liebe gesteht und ihr sagt, dass sie noch stets im Wachsen ist, sondern weil er die Bekräftigung seiner Liebe mit dem Eingeständnis einer Schuld verbindet. Dieses Eingeständnis aber richtet sich nicht auf die späte Zugabe eines Fehltritts (etwa einen verheimlichten Ehebruch oder dergleichen), sondern auf die Ausblendung Dorines aus seinen Werken. Und darüber hinaus auf die Herabsetzung ihrer Person dort, wo von der geliebten Frau die Rede ist. Von hier aus erklärt sich die Länge des Briefes an D. Denn das Liebesbekenntnis verbindet sich mit einer nachholenden Liebesgeschichte, einer Erzählung ihrer Liebes- und Ehegeschichte als einer gemeinsamen Geschichte, welche, vom Ende her erzählt, aus dem Ich-Erzähler und Theoretiker Gorz ein „Wir“ macht, ein „Wir“, in das sich der Mann André Gorz im Akt einer nachholenden Rekonstruktion und Reflexion einzuschreiben wünscht und das dadurch allererst ein wirkliches Wir wird. In diesem Zusammenhang ist die abschließende Passage der Einleitung des Briefes an D. als Vorsatz und damit als etwas, was in der Geschichte des Paares Dorine und André Gorz von männlicher Seite zu sagen/zu schreiben noch aussteht, zu verstehen: Ich habe die gründliche Erforschung, die ich mir vornahm, als ich Der Verräter schrieb, nicht wirklich geleistet. Es bleiben noch viele Dinge, die ich verstehen, klären muss. Ich muss die Geschichte unserer Liebe rekonstruieren, um sie in ihrem ganzen Sinn zu erfassen. Denn sie hat es uns ermöglicht, zu werden, was wir sind, durch einander und für einander. Ich schreibe Dir, um zu verstehen, was ich erlebt habe, was wir zusammen erlebt haben. (Gorz 2007: 6)
2 | Der Brief an D. ist Liebesbrief, insofern er Aspekte aufweist, die nach Renate Stauf, Annette Simonis und Jörg Paulus charakteristisch für Liebesbriefe allgemein sind. Die Autor/innen halten fest: „Der Liebesbrief gibt Auskunft über die Verfassheit des Individuums, das Verhältnis der Geschlechter, den Ort von Intimität, die Mitspracherechte von Familie und Gesellschaft, das Zusammenspiel von Affekten und Regeln.“ (Stauf/Simonis/Paulus 2008: 1)
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Der Brief an D. weist einen Rahmen und einen Binnenteil auf, in dem die Geschichte der Liebe als die Geschichte eines Paares rekonstruiert wird, das einerseits vom ersten Augenblick an eine unteilbare Einheit bildet, andererseits aber in der Wahrnehmung und im Selbstbild des Mannes keineswegs von Beginn an die Bedeutung einnimmt, die ihm im Rückblick auf das gelebte Leben zuerkannt wird. Der Brief an D. ist auch eine männliche conversio ad se, in deren Vollzug das männliche Ich in seine Anfänge zurück muss, in seine ersten schriftstellerischen Versuche, seine eigene Subjektivität zu orten, zu (er)schreiben, sich als Ich in der Welt einen Platz zuzuweisen und sich damit zu anderen ins Verhältnis zu setzen. Deshalb der wiederholte Verweis gleich zu Beginn des Briefes auf den ersten publizierten Text, die bereits erwähnte, 1958 publizierte Autobiographie Der Verräter. Um besser zu verstehen, welche Arbeit am männlichen Selbst der Brief an D. leistet, möchte ich zunächst in einer vergleichenden Lektüre die Passagen des Briefes mit denjenigen aus dem Verräter konfrontieren, die durch Gorz einer selbstkritischen Relektüre und Revision unterzogen werden. Ich werde dabei kurz auf Gorz’ autobiographisch konturiertes Selbstbild als Intellektueller und Schreibender eingehen, wie er es, in den 1950er Jahren unter den Nachwirkungen von Nationalsozialismus und Krieg sowie andererseits unter dem Einfluss des Existenzialismus stehend, gezeichnet hat. Von dort aus wird sich auch die konstitutive und – im besten Sinne – affirmative Funktion, die der Brief an D. im Hinblick auf das Liebes- und Ehepaar Dorine und André Gorz hat, umso deutlicher zeigen lassen.
II. D as E ingeständnis einer S chuld Die Aussprache über das erste Buch nimmt im Brief an D. viel Raum ein. Gorz unterzieht den Verräter in den entscheidenden Passagen, wo es um das Verhältnis zu Dorine geht, einer selbstkritischen Reflexion. Das Buch hatte bei Erscheinen im Jahre 1958 seine Situation grundlegend verändert. War er bis dahin niemand gewesen, so objektivierte ihn das Buch, er wurde sichtbar, trat als Intellektueller in Erscheinung. Das Buch handelt in weiten Teilen jedoch davon, dass Gorz sich früh als jemanden gewählt hatte, der nichts und niemand sein wollte. Die Autobiographie stellt vor diesem Hintergrund aber auch den Versuch da, im Zuge der Lehren Sartres aus Nicht etwas/jemanden zu machen, d.h. zu existieren. Der Verräter
Liebeserklärung eines Ehemannes
ist in vier größere Kapitel eingeteilt, deren Überschriften Personalpronomina sind: Wir, Sie, Du, Ich. Das dritte Kapitel mit der Überschrift „Du“ schildert den Weg vom einsamen, nichtigen Ich zum Anderen. Wenn man bedenkt, dass Gorz in den 1950er Jahren seine ganze Energie in den Entwurf seiner selbst als Intellektueller investiert, verwundert es zunächst einmal nicht, dass der erste begegnende Andere in dem Kapitel ein Mann namens Morel ist, unschwer als Pseudonym für Sartre zu entziffern. Morel, der „Papst des Existenzialismus“ (Gorz 2008: 279), ist für Gorz kein Mensch, „sondern Gott“ (Gorz 2008: 280). Nach Einführung des Philosophen-Gottes folgen Ausführungen über die geistige Initiation, danach erst tauchen Frauen als „Du“ auf. Die erste Frau, mit der Gorz ein Verhältnis hat, wird im Verräter L. genannt. Die Beziehung aber hat kaum Raum sich konkret zu entwickeln, da Gorz eher damit beschäftigt ist, seine neue Lebenslage theoretisch zu durchdringen. Er skizziert in der Tat als allererstes eine „Theorie des Paares“: Ich nehme an, dass ich hier eine Theorie des Paares und der Entfremdung des Paares in der kapitalistischen Gesellschaft entwickeln müsste, und genau das tat ich damals unter anderem und wurde dadurch ein ganz besonders ekelhafter Typ: ein Moralist. Das Paar kann nur dann wirklich sinnvoll sein, sagte ich zu L., wenn jeder auch die Freiheit des anderen will, aber er kann sie konkret nur wollen, wenn er durch sie die Freiheit allgemein wollen kann, das heißt, wenn sie in ihrer Besonderheit einen allgemeinen Inhalt hat, wenn wir im Hinblick auf ein Ziel zusammenarbeiten können, auf das hin jeder sein Ego überwindet. Die Freiheiten können sich nur draußen, in der Welt, in einem Gegenstand, der ihnen als Wahrzeichen dient, konkret wollen und einander begegnen und erkennen. (Gorz 2008: 288f.)
Die Theorie des Paares, die sich offensichtlich aus dem begrifflichen Repertoire von Sartres Existenzphilosophie (Freiheit als Zentralbegriff; ein überindividuelles, gesellschaftliches Projekt mit einem Ziel verfolgen) speist, wird über Seiten ausgeführt. Im Gespräch mit L. wird die Entfremdung der Frau durch den Mann in der „androkratische[n] Gesellschaft“ (Gorz 2008: 290) genauso durchdoziert wie L. an anderer Stelle einmal als Ästhetin klassifiziert wird. Kurz gesagt: Die konkrete Beziehung wird auf ein theoretisches, verallgemeinerungsfähiges Niveau gebracht. Der in der dritten Person schreibende Autor empfindet sich zwar selbst als ekelhafter, moralisierender Typ, kann seine Philosophen-Haut aber nicht
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abstreifen. Selbst nicht, als ihm Kay (Pseudonym für Dorine) begegnet, seine erste und einzige große Liebe. Noch sechzig Jahre später, im Brief an D., stellt Gorz die Begegnung mit Dorine, seine Liebe zu ihr als die „wichtigste Wende“ (Gorz 2007: 55) seines Lebens dar. Die Bindung an Dorine sei ihm „zur Triebfeder einer existenziellen Bekehrung“ (Gorz 2007: 55) geworden. Aber genauso muss er bei der wiederholten Lektüre des Kapitels „Du“ aus dem Verräter feststellen, dass darin nicht die geringste Spur einer existenziellen Bekehrung zu finden ist. Stattdessen erheben sich peinigende Fragen, die er an sich selbst gerichtet zugleich an die geliebte Frau adressiert: Warum nur spreche ich von Dir mit einer Art Herablassung? Warum nur wirst Du auf dem geringen Raum, den ich Dir darin zubillige, so entstellt, so gedemütigt? [...] Das habe ich mich gefragt, als ich meinen Text voller Bestürzung wiederlas. Was mich als Erstes motiviert, ist offensichtlich das zwanghafte Bedürfnis, mich über das, was ich lebe, fühle und denke, zu erheben, um es zu theoretisieren, zu intellektualisieren, um transparenter, reiner Geist zu sein. (Gorz 2007: 56f.)
Und etwas später heißt es: Ich behaupte, von Dir als der einzigen Frau zu sprechen, die ich in Liebe geliebt habe, und von unserer Verbindung als der wichtigsten Entscheidung unserer beider Leben. Aber ganz offensichtlich fesselt mich diese Geschichte nicht, auch nicht die sieben Jahre, die zu der Zeit, als ich Den Verräter schrieb, seit jenem Entschluss vergangen waren. Zum ersten Mal leidenschaftlich verliebt zu sein, wiedergeliebt zu werden, war anscheinend zu banal, zu privat, zu ordinär: es war kein geeigneter Gegenstand, mir zum Universellen Zugang zu verschaffen. (Gorz 2007: 57)
Und dann spricht Gorz über ‚elf vergiftete Zeilen‘ im Verräter, die er kommentierend, richtig stellend, zitiert. Sie stehen im Kontext der Schilderung des Zusammenlebens der beiden in ihrer ersten Zeit und verdeutlichen die angespannte Atmosphäre und den einseitigen, männlichen Blick auf die Alltagsszenerie. Ich zitiere die ‚vergifteten Zeilen‘ im Kontext der Passage, wie sie sich in der originalen Quelle findet. Gorz fügt im Verräter den Bericht über Kontroversen mit Kay/Dorine direkt an die Wiedergabe einer direkten Auseinandersetzung mit L. an, um zu zeigen, dass sich
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dasselbe mit Kay nur wiederhole. Auch in dieser Parallelisierung erkennt er rückblickend eine Entwertung ihrer einzigartigen Liebe: Und später war es mit Kay dasselbe gewesen. Wochenlang, nachdem man sie seinetwegen vor die Tür gesetzt hatte und sie beschlossen hatten, zusammenzuleben, auf sechs Quadratmetern, die zur Hälfte von einem riesigen Tisch eingenommen wurden, kam und ging er, ohne ein Wort zu sagen, verbrachte Tage über seinen Papieren und antwortete Kay einsilbig und ungeduldig – Kay, die krank war und niemanden kannte, kein Wort Französisch sprach und um ein Quäntchen seiner Zeit bettelte. ‚Du genügst Dir selbst‘, sagte sie. ‚Ich bin dir zu nichts nütze. Ich vergeude deine Zeit.‘ Er protestierte schwach. Es stimmte, dass in seinem Leben für niemand Besonderen Platz war. Niemand Besonderen, dem er sein Leben hätte widmen wollen, weil er als besonderes Individuum nicht zählte und es ihn deshalb nicht interessieren konnte, ob man ihm als besonderem Individuum zugetan war. [...] Kay, die sich für ihn in Stücke hätte reißen lassen und die sich [...] für ihn zugrunde gerichtet hätte, wenn er sie hätte fallen lassen, Kay hatte er auf ihre Fragen einen Vortrag über Liebe und Ehe gehalten. (Gorz 2008: 295)
Diese Zeilen löschen im Rückblick sieben Jahre ihrer wirklich gelebten Liebe aus. Sie sind das Resultat einer männlichen Verkennung, Selbststilisierung und Entwertung gelebten Lebens als Paar. Gorz erkennt im Brief an seine Frau Dorine spät, aber dafür umso deutlicher, dass der männlichen Rede über Liebe, Einzigartigkeit und Existieren-Können als Paar eine geradezu monströse Zweideutigkeit anhaftet, besonders dann, wenn sie von einem Mann zu Papier gebracht wird, der sich ganz und gar dem Intellektualisieren verschrieben hat. Gorz korrigiert, nimmt zurück, er stellt richtig, dass Dorine nicht von ihm abhängig war, sondern Freunde hatte, ihr Brot besser verdiente als er selbst. Er stellt richtig, dass eine Trennung für ihn vermutlich schlimmer gewesen wäre als für sie. Er gesteht seine Schuld ein, Dorine herabgesetzt und entstellt, ja sie aus seinem Leben auch ausgeschlossen zu haben. Im Vergleich des ersten und letzten Buches von André Gorz, beide autobiographische Bekenntnisschriften, ergibt sich über das männliche Eingedenken hinaus eine erhellende Perspektive auf einen (im Übrigen auch genuin männlichen) Entwurf moderner Subjektivität. Es war bereits erwähnt worden, dass Der Verräter auch den Versuch darstellt, ein Ich zu (er)schreiben und zwar vor allem ein Ich, das sich ganz und gar als schreibendes hat, außerhalb desselben aber nicht existiert. Das ganze ers-
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te Kapitel kreist um den Selbstentwurf der schreibenden Existenz und knüpft dabei explizit oder implizit an die französischen Literatur-Heroen von Mallarmé bis Blanchot an, die das Nichts und die Leere als einzig möglichen Aufenthaltsort der literarischen Existenz begreifen. Im Buch heißt es schon sehr früh und leitmotivisch für den gesamten Subjektivitätsentwurf: Der Urheber dieses wunderbaren Zusammentreffens seiner kindlichen Komplexe mit seiner objektiven Lage der Nichtigkeit ist er selbst. Diese Lage der Nichtigkeit, wenngleich objektiv, ist sein Werk. [...] Nicht dass er diese Lage ganz und gar erfunden hätte, natürlich nicht; aber er hat sich in ihr wiedererkannt, sich häuslich in ihr eingerichtet, subjektiv Komplize, weil subjektiv auf sie vorbereitet. (Gorz 2008: 38)
Der Schreibende entwirft sich als jemand, der sich in der Nichtigkeit häuslich einrichtet. Dabei weiß er und rekonstruiert er, dass er nicht allein der Urheber dieser Nichtigkeit ist. Es ist vor allem auch die Mutter, die ihre Wünsche nach einem starken, gesellschaftlich angesehenen, männlichen Sohn auf ihn projiziert, was dazu führen wird, dass Gorz sich niemals mit dem hegemonialen Bild männlicher Identität wird identifizieren können. (Vgl. Gorz 2008: 334f.)3 Darüber hinaus weisen ihm die Nationalsozialisten wegen seiner jüdischen Herkunft von vornherein den Platz des Verlierers und des Ausgesonderten zu. Gorz schildert, wie er die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus dazu nutzt, sich in seiner ursprünglichen Haltung, ein Gescheiterter und ein Nichts zu sein, bestätigt zu fühlen (vgl. Gorz 2008: 142ff.). Dieses Nichts-Sein, das zugleich Antriebskraft und thematisches Zentrum seiner Schreibexistenz in den Nachkriegsjahren ist – ein Schreiben, das das Nichts hütet, indem es es fortwährend umkreist –, entfaltet aber gleichsam hinter dem Rücken des Denkenden eine destruktive Kraft. Das Nichts nichtet, insofern es in einem männlichen Schreib-Subjekt Gestalt gewinnt, welches die Andere, die Frau, und sei es die Geliebte-Einzige, annulliert, entwertet, indem es sich ihr als konkretes Ich fortwährend entzieht.
3 | Gorz schreibt sogar, dass die Angst bzw. das Entsetzen vor der männlichen Identifizierung der Wahl zu schreiben zugrunde liege (vgl. Gorz 2008: 335).
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III. D as D u zur S pr ache bringen Die destruktive Tätigkeit des Selbstentzugs in der Beziehung zu Dorine gesehen und selbstkritisch eingestanden zu haben zu haben, ist einer der großen Züge des Briefes an D.4 Diese anrührend glaubhafte Geste setzt die Möglichkeit der Artikulation eines anderen Gefühls allererst frei. Es verbindet sich für André Gorz mit dem Bedürfnis, „uns diese sieben Jahre zurückzugeben und zurückzudenken an diejenige, die Du in Wahrheit für mich gewesen bist“ (Gorz 2007: 61). Das epistolarische Schreiben nimmt hier die Form einer Gabe, einer Rückgabe an. Diese ist zugleich Realisation im vollen Sinne: das Zur-Sprache-Bringen eines Du und damit eine vollständige Inversion der Gesten der Negativität und der Abgrenzung. Enthält schon Gorz’ erstes Buch eine Widmung an seine Frau: „Für Dich, Kay genannt“ (Gorz 2008: Paratext), so löst es dennoch das Versprechen nicht ein, sich an ein Du zu richten, vor allem dort nicht, wo es der Titel des dritten Kapitels „Du“ erwarten lässt. Stattdessen stellt Der Verräter die Beziehung der beiden in ein dialektisches Geflecht, welches in erster Linie im Dienst der Suchbewegung des Philosophen- und Schreiber-Ichs steht. Das Buch durchbricht an keiner Stelle das eherne Gehäuse dieses sich in seiner Einsamkeit und Ausgeschlossenheit wahrnehmenden Ich auf ein Du bzw. ein Wir hin. Der Brief an D. dagegen vollzieht einen radikalen Perspektivwechsel: Geschrieben wird hier von einem Wir und einem Du aus. Das wird allein schon daraus erkennbar, dass das Du als Angeredetes, als Angerufenes, vor allem aber auch als Erzähltes auf jeder Seite des Briefes präsent ist. Dorine wird als Person konkret. Sie erscheint nicht mehr als abstrakte Platzhalterin innerhalb einer gesellschaftlich-philosophischen oder auch fiktionalen Konstruktion von Mann und Frau, Liebe, Ehe und individuellen Freiheitsansprüchen. Mit anderen Worten: Im Brief an D. tritt hinter der Du-Anrede eine konkrete Frau hervor, eine Frau, die ihre eigenen Entscheidungen getroffen hat, vor allem auch die, den Mann André Gorz in seiner Wahl als Schriftsteller zu begleiten, ihn als Schriftsteller zu lieben: 4 | Vgl. zur Bedeutung des Briefes an D. für einen möglichen Wandel männlicher Selbstwahrnehmung und –bestimmung in Richtung auf eine dialogisch orientierte Subjektivität und ein reziprokes Verhältnis der Geschlechter Tholen (2011: 188-190).
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Du hattest Dich, wie Du sagtest, mit jemandem vereint, der nicht leben konnte, ohne zu schreiben, und Du wusstest, dass jemand, der Schriftsteller sein will, die Möglichkeit haben muss, sich zurückzuziehen, zu jeder Tages- und Nachtzeit Notizen zu machen; dass seine Arbeit an der Sprache sich noch lange, nachdem er den Stift weggelegt hat, fortsetzt und plötzlich, mitten in einer Mahlzeit oder einer Unterhaltung, von ihm Besitz ergreifen kann. ‚Wenn ich nur wüsste, was in Deinem Kopf vorgeht‘, sagtest Du manchmal angesichts meines langen verträumten Schweigens. Aber Du wusstest es, weil Du es selbst durchgemacht hattest: Eine Flut von Wörtern, die nach ihrer klarsten Anordnung sucht, ständig abgeänderte Satzfetzen, heraufdämmernde Gedanken, die sich zu verflüchtigen drohen, wenn man die Formel oder das Symbol nicht findet, um sie dem Gedächtnis einzuprägen. Einen Schriftsteller lieben heißt lieben, dass er schreibt, sagtest Du. ‚Also schreib!‘ (Gorz 2007: 32)
Die intellektuelle und politische Tätigkeit verbleibt indes nicht allein auf Seiten des Mannes. 1949 führt zunächst das politische Engagement für die ‚Weltbürger‘-Bewegung das Paar nach Paris. André Gorz erhält die Möglichkeit, als Sekretär des internationalen Sekretärs der Bewegung, André Bovard, zu arbeiten. Dorine Gorz übernimmt einen Teil seiner Arbeit mit. Sie sortiert und sieht tausende von Briefen durch, beteiligt sich an der Abfassung von Rundschreiben in englischer Sprache und betätigt sich als Gastgeberin von ausländischen Freunden, die das Paar Gorz während dieser Zeit gewinnt. Das gemeinsame Leben konstituiert sich also nicht nur im privaten Bereich, sondern auch durch die gemeinsame Tätigkeit in der Öffentlichkeit. Als André 1950 in die Arbeitslosigkeit entlassen wird, nimmt Dorine ohne Scheu kleinere Jobs an, z.B. sitzt sie Modell für einen Maler, lässt sich für die Altpapiersammlung anheuern und verdingt sich als Fremdenführerin für englische Schülergruppen, um beide in schwierigen Zeiten durchzubringen. Während André in Angst und Trübsinn versinkt, gibt Dorine ihnen beiden Kraft. Er schreibt dankbar: Ich bewunderte Deine Selbstsicherheit, Dein Vertrauen in die Zukunft, Deine Fähigkeit, die Momente des Glücks zu ergreifen, die sich boten. [...] Du hattest mehr Freunde als ich. In mir weckte die ständige Suche nach Gelegenheitsjobs meine alten Ängste. (Gorz 2007: 35f.)
Um 1950 sind die Gorz’ in Paris keineswegs gefestigt. Sie verfügen weder über Existenz sichernde Arbeitsplätze noch über einen Zugang zu
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intellektuellen Kreisen. André Gorz fühlt sich in einer aussichtslosen Situation. Dies ändert sich jedoch im Frühjahr 1951. Durch die Bekanntschaft mit einem einflussreichen Journalisten wird Gorz bei einer Abendzeitung, Paris-Presse, angestellt. Er soll sich dort um die Durchsicht der Auslandspresse kümmern. Bald schon wird er Chefredakteur der Presseschau. Auch bei dieser neuen Stelle arbeitet Dorine mit ihrem Mann zusammen. Hier fügt die gemeinsame Arbeit das Paar zu einer Einheit zusammen, in der die Anteile Dorines aber deutlich benennbar sind und von André ausdrücklich als die ihrigen gewürdigt werden: Du kamst oft in die Redaktion, um einen großen Teil der englischen Publikationen durchzusehen und die wesentlichen Artikel auszuschneiden und zu ordnen. Deine Eleganz und Dein britischer Humor erhöhten mein Ansehen bei den Vorgesetzten. Ich erwarb ein enzyklopädisches journalistisches Wissen über nahezu alle Länder und alle Fragen, einschließlich technischer, medizinischer und militärischer. Dank den Dutzenden von Ordnern, die Du Tag für Tag fülltest, konnte ich in einer einzigen Nacht eine ganze Zeitungsseite über fast jedes Thema schreiben. Während der folgenden dreißig Jahre hast Du das Archiv, das Du ab 1951 angelegt hast, ständig auf dem Laufenden gehalten, ergänzt und verwaltet. Es ist mir 1955 zu L’Express und 1964 zum Nouvel Observateur gefolgt. Meine späteren Arbeitgeber wussten, dass ich Dich nicht würde entbehren können. Unser gemeinsamer Lebensraum war noch nie so groß gewesen wie nach meinem Eintritt in diese Zeitung. Wir ergänzten einander. (Gorz 2007: 38f.)
Gorz berichtet, dass das von Dorine angelegte Archiv bei seiner Einstellung bei L’Express ein Trumpf gewesen sei. Ferner berichtet er, dass fast alle Reportagen, die er in Frankreich und in anderen Ländern gemacht habe, eine Gemeinschaftsarbeit gewesen seien. All diese gemeinsame Arbeit habe dem Paar, so Gorz, den Ruf eingebracht unzertrennlich zu sein (vgl. Gorz 2007: 42). Das Ehepaar Gorz findet dann auch zunehmend Kontakt zu den Intellektuellen der Stadt. Ihre Wohnung wird schnell zu einem Mittelpunkt salonartiger Zusammenkünfte. Auch hier wahrt Dorine ihre Eigenständigkeit, indem sie über Andrés Freunde, zu denen auch Sartre und Beauvoir und die ‚Familie‘ von Les Temps Modernes gehören, hinaus eigene
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Freundschaften wahrt und auch eigene berufliche Wege einschlägt.5 In dieser Zeit ereignet sich in ihrer Beziehung, wie im Brief an D. zu lesen ist, eine Wende, von der im Verräter nichts zu lesen ist. Diese Wende tritt vor allem durch eine Loslösung Dorines von Andrés „kategorische[r] Art“ (Gorz 2007: 46) ein, die sich aus theoretischen Kenntnissen speist, über die sie nicht verfügt. Dorine beginnt, ihren Respekt davor abzulegen und beginnt Andrés theoretischen Konstruktionen in Frage zu stellen. Ständige Theoriekonstruktionen liefen von einem bestimmten Zeitpunkt an Gefahr, „zu einem Joch zu werden, das verhindere, die veränderliche Komplexität des Realen wahrzunehmen“ (Gorz 2007: 47). Im Rückblick gibt André Gorz seiner Frau Recht. Er gibt zu, dass er selbst in der Vergangenheit „jene seelischen Prothesen, die die Doktrinen, Theorien und Denksysteme darstellen“ (Gorz 2007: 48f.), gebraucht habe, um sich in der geistigen Welt zu situieren und zu positionieren. Dorine aber sei in der Zeit, als er sich intellektuell habe ausweisen wollen, schon einen Schritt weiter als er gewesen. Beispielsweise habe sie mehr politisches Gespür als er gehabt. Er habe darum ihr Urteil nötiger gebraucht als sein eigenes. Von einem bestimmten Zeitpunkt an werden auch alle Manuskripte vor der Übergabe an den Verlag von Dorine kritisch gelesen. Halten wir hier einen Moment inne, um darüber nachzudenken, was im Brief an D. geschieht. Das soeben Referierte könnte den Gedanken einer Idealisierung der Ehefrau im Zeichen ihres nahenden Todes aufkommen lassen. Plausibilisieren ließe sich dies unter Hinweis auf den nostalgisierenden Blick eines Mannes, der das lange Zusammenleben eines Paares gleichsam vom Ende her erzählt und die gemeinsame Ehegeschichte als die einer gelingenden Gemeinschaft darstellen will, in der der eine den anderen in idealer Weise ergänzt, und dabei die Frau den Mann ein wenig mehr als der Mann die Frau. Die andere Möglichkeit wäre allerdings, den Brief nicht als eine Idealisierung, sondern als eine Realisierung zu verstehen. Es wird hier etwas mit Worten getan, das dem gemeinsamen Leben das Konkrete der gelebten Beziehung zurückerstattet. Ich meine damit die Konkretion eines Ich-Du, auch eines Wir, das eben nicht nur im geschriebenen Akt eines Ich existiert, sondern auch in der vergegenwärtigten Lebenskraft und geistigen Energie des beschrie5 | 1973 arbeitet Dorine Gorz bei den Éditions Galilée, baut für den Verlag die Abteilung für Rechte und Lizenzen auf, die sie dann drei Jahre leitet (vgl. Gorz 2007: 71).
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benen, des angesprochenen Du. Die Konkretion und Präsenz eines Liebes- und Ehepaares, die es so vorher nicht gegeben hat, weil sie vor der Abfassung des Briefes als geschriebene nicht war. Und diese konkrete Existenz des Paars, wie sie sich im Brief an D. darstellt, als intime und öffentlich sichtbare Gemeinschaft, eine Liebesgemeinschaft von zweien, die sich ein Leben lang genügen, hat einen Hauch von Unzeitgemäßheit, vor allem, wenn man diesen Paarentwurf vergleicht mit anderen Entwürfen von Ehe- und Paarbeziehungen des 20. Jahrhunderts. Dies lässt sich unter Rückgriff auf Hannelore Schlaffers Buch Die intellektuelle Ehe. Der Plan vom Leben als Paar (2011) tun. Die bisherigen Ausführungen über die gemeinsame Arbeit und das politische Engagement der Gorz’ sprechen dafür, sie mit den von Schlaffer untersuchten intellektuellen Paarbeziehungen, aus naheliegenden Gründen vor allem mit der von Sartre und Beauvoir zu vergleichen. Für Schlaffer gehört die intellektuelle Ehe zu den „Projekten der Moderne“ (Schlaffer 2011: 8). Intellektuell ist nach Schlaffer die Ehe nicht in erster Linie deshalb zu nennen, weil die Partner oder zumindest einer von ihnen intellektuell tätig ist, sondern weil die Partnerwahl und die Form des Zusammenlebens einem eigenen begründbaren Entwurf folgen, weil sie „aus einer Idee entsteht und fortlebt und aus dieser Idee heraus Stabilität zu gewinnen hofft“ (Schlaffer 2011: 8). Auch ist die Ehe intellektuell, weil sie auf einer versprachlichten Beziehung basiert. Die intellektuelle Ehe als modernes Projekt situiert sich nach Schlaffer nicht innerhalb des Zivilgesetzes, sondern geht über die Institutionalität der Ehe hinaus. Nicht das Gesetz bzw. die Institution verleihen ihr Dauer, sondern der Entschluss, die selbstgesetzte Idee. Was damit zusammengebracht werden soll, liegt auf der Hand: Die moderne Freiheit, die sich auch in der Libertinage Gestalt gibt, soll mit der traditionellen Form der Ehe, einschließlich ihrer Implikate Lebensbund und eheliche Treue, amalgamiert werden: Es soll eine Verbindung zwischen zwei Menschen entstehen, in der die Dauer der Liebe sich mit der Freiheit zur Untreue paart, in der gemeinsame Arbeit von gemeinsamen und getrennten Freundschaften begleitet ist, in der das Einverständnis zeitweise unterbrochen und dann wieder aufgenommen werden kann, in der die individuelle Zuneigung mit der Leidenschaft zu einem weiteren Partner übereinkommen soll, kurz: in der das Selbstbewusstsein eines jeden Partners felsenfest, das Vertrauen zueinander absolut und der Glaube an die Unzertrennbarkeit der Verbindung unerschütterlich ist. (Schlaffer 2011: 10)
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Dieses Ehe-Projekt schöpft seine Energie und seine utopische Dimension wie andere moderne Ideen auch aus dem Experimentalcharakter der Moderne, wie ihn die Frühromantik entworfen hat. Nicht von ungefähr enthält Schlaffers Buch deshalb auch Ausführungen über Friedrich Schlegels Lucinde. Allerdings verlegt sie die eigentliche Ausprägung der Idee der intellektuellen Ehe und ihre Erprobung in die Zeit avantgardistischer Revolten zwischen 1880 und 1920. Die beiden großen Einzeluntersuchungen kreisen um die Ehe von Marianne und Max Weber sowie um den Pariser Paar-Mythos Sartre/Beauvoir. Es wird niemandem, der im Pariser Umfeld dieser beiden Magneten gelebt und gearbeitet hat, erspart geblieben sein, sich mit ihren Ideen und mit ihrer Lebensweise auseinanderzusetzen, zumal André und Dorine Gorz nicht, zwei enge Weggefährten von Sartre und Beauvoir. Umso erstaunlicher ist es, dass das Ehepaar Gorz, intellektuell und politisch auf der Höhe ihrer Zeit, das nach Schlaffer moderne Projekt einer intellektuellen Ehe bzw. einer Paarbeziehung, wie es Sartre und Beauvoir paradigmatisch kreiert hatten und auch vorlebten, für sich nicht bereit waren zu übernehmen. Während Sartre und Beauvoir alles tun, um die bürgerliche Institution der Ehe und der Familie infrage zu stellen, indem sie die Ehelichkeit ihres Verhältnisses nur „in der Negation der Ehe“ (Schlaffer 2011: 73) denken und leben wollen, und dafür den Entschluss fassen, nicht gesetzlich zu heiraten, keinen Besitz anzuhäufen, kein gemeinsames Haus und auch keine gemeinsamen Kinder zu haben, im Gegenzug aber im Kreis ihrer ‚petite famille‘ sexuelle Freiheit zulassen und sie regelrecht auch organisieren, d.h. das moderne Projekt der freien Ehe radikal ausprobieren unter Inkaufnahme aller Kränkungen, Konkurrenzen und Eifersuchtsszenarien, lassen sich Dorine und André Gorz darauf nicht ein. Sie wirken in ihrem Paar-Dasein gegenüber Sartre und Beauvoir und gegenüber der auf brechenden sexuellen Revolution der späten 1960er Jahre geradezu altmodisch und unmodern, weil sie gesetzlich verheiratet sind, weil sie jahrelang auf engstem Raum zusammenwohnen und vor allem weil sie sich von Beginn an Treue geloben. Nur in einem Punkt übernehmen die Gorzens die Argumentation ihrer berühmten Weggefährten: Sie verzichten auf Kinder und auf die Anhäufung von Besitz. Der unmodern anmutende, gleichsam symbiotische Entwurf einer ehelichen Symexistenz scheint andererseits Kräfte hervorzubringen, welche die Dauer der Liebe als einer stets im Wachsen begriffenen bewirken und welche es vermögen, das gemeinsame Altwerden in die Utopie
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der Liebesbeziehung einzubeziehen. Der Brief an D. ist, so betrachtet, nicht das Dokument eines ‚Projekts der Moderne‘ (Schlaffer), einer PaarIdee oder eines Paar-Entwurfs, der experimentell ausgeschritten werden muss, sondern das Zeugnis einer Realisation. Die Realisation ist dabei nichts anderes als das ständige Zunehmen der Liebe mit wachsendem Alter der Liebenden und innerhalb einer länger werdenden, gemeinsam verbrachten Lebenszeit. Zugleich bedeutet Realisation aber auch ein stetes Abnehmen jeglicher Theoretisierung von Ehe- bzw. Liebesbeziehung, etwa in einer Theorie des Paares, wie sie Gorz selbst in seinem ersten Buch noch geben will.
IV. R e alisation Der letzte Teil des Briefes an D. berichtet von den schweren Erkrankungen Dorines. Zunächst erfolgt eine Diagnose auf Arachnoiditis, ein fortschreitendes Schmerzleiden, für das es keinerlei Behandlung gibt. Und dann: Krebs. Nach der Behandlung im Krankenhaus und einer anschließenden längeren Genesungszeit beschließt André Gorz, vorzeitig in Rente zu gehen. Es beginnt eine Phase des Zusammenlebens, die geprägt ist vom Dasein im Hier und Jetzt. Gorz gewinnt den Eindruck, sein „Leben nicht gelebt zu haben, es immer aus der Entfernung beobachtet zu haben, nur eine Seite [seiner] selbst entwickelt zu haben“ (Gorz 2007: 80). An D. gewendet, bekennt er: „Du standest mitten im Leben; während ich es immer eilig hatte, mich an die nächste Aufgabe zu machen, als ob unser Leben erst später wirklich begänne.“ (Gorz 2007: 80) Sein Abschied von der Zeitung schmerzt ihn nach zwanzigjähriger Tätigkeit nicht, weil für ihn nur noch eine Sache wesentlich ist: bei ihr zu sein. Der Brief an D. endet, indem er wie in einer Rahmenerzählung noch einmal an den Anfang zurückkehrt, diesen aber variiert, weil vom Beginn des Schreibens bis zum Abschluss etwa zweieinhalb Monate vergangen sind: Soeben bist Du zweiundachtzig geworden. Und immer noch bist du schön, anmutig und begehrenswert. Seit achtundfünfzig Jahren leben wir nun zusammen, und ich liebe Dich mehr denn je. Kürzlich habe ich mich von neuem in Dich verliebt, und wieder trage ich in meiner Brust diese zehrende Leere, die einzig die Wärme Deines Körpers an dem meinen auszufüllen vermag. (Gorz 2007: 83)
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Die Zunahme der Liebe, ihr unentwegtes Sprudeln, das sich auch in der hingebungsvollen Anrede der geliebten Frau ereignet, speist sich aus der Quelle einer elementaren körperlichen Berührung. Diese weist der Liebe ihren Ort in der Endlichkeit zu, ähnlich wie es im Buch Kohelet geschieht, wo es an einer wundervollen Stelle heißt: „Mit einer Frau, die du liebst, genieß das Leben alle Tage deines Lebens voll Windhauch, die er [Gott] dir unter der Sonne geschenkt hat, alle Tage deines Lebens voll Windhauch.“ (Kohelet 9, 9) Liebe aber, die im endlichen Leben unentwegt mehr wird, birgt eine Tendenz zur Ewigkeit in sich. Dieser mögen Dorine und André Gorz auf der Spur gewesen sein. Die letzten Sätze des Briefes lassen sich kaum anders verstehen: Jeder von uns möchte den anderen nicht überleben müssen. Oft haben wir uns gesagt, dass wir, sollten wir wundersamerweise ein zweites Leben haben, es zusammen verbringen möchten. (Gorz 2007: 84)
Der gemeinsame Freitod im September 2007 ist wie auch die Liebe dieses Paares die Einlösung eines gemeinsamen Wunsches, welcher die Freiheit der Liebenden auf eine andere und endgültige Weise realisiert hat.
L iter atur Gorz, André (2008): Der Verräter. Mit dem Essay „Über das Altern“. Einleitung von Thomas Schaffroth. Nachwort von Jean-Paul Sartre, Zürich. Gorz, André (2007): Brief an D. Geschichte einer Liebe [2006], Zürich. Schaffroth, Thomas (2008): Einleitung, in: André Gorz: Der Verräter, S. 7-20. Schlaffer, Hannelore (2011): Die intellektuelle Ehe. Der Plan vom Leben als Paar, München. Stauf, Renate/Simonis, Annette/Paulus, Jörg (2008): Liebesbriefkultur als Phänomen, in: Dies. (Hg.): Der Liebesbrief. Schriftkultur und Medienwechsel vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin, S. 1-19. Tholen, Toni (2011): Subjektivität – Krise – Utopie. Imaginationen von Männlichkeit im zeitgenössischen Denken und Schreiben, in: Beres-
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will, Mechthild/Neuber, Anke (Hg.): In der Krise? Männlichkeiten im 21. Jahrhundert, Münster, S. 170-192.
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Körper-Sprache und die Suche nach einer anderen Männlichkeit Zur ästhetischen Praxis Roland Barthes’
1. E inleitende B emerkungen Einleitend möchte ich ein paar Bemerkungen darüber machen, warum mich Roland Barthes im Zusammenhang von Genderaspekten interessiert. Für jemanden, der sich mit der Erforschung von Männlichkeit in der Literatur in einer konstruktiv-kritischen Perspektive beschäftigt, ist der französische Literaturtheoretiker und Semiologe in der Tat ein wichtiger Anreger und Begleiter. Manche werden sich verwundert fragen: warum gerade Barthes? Was hat er zur Männlichkeit geschrieben? Er hat doch keinen einzigen expliziten Beitrag zur Geschlechter- und schon gar nicht zur Männlichkeitsforschung beigesteuert, so wie etwa Raewyn Connell oder Pierre Bourdieu. Dem ist nicht zu widersprechen. Barthes hat kein Buch und keinen Essay explizit an die Genderforschung adressiert. Aber, so meine These, seine Texte sind voll von Implikationen und Anregungen für Geschlechterfragen, die jedenfalls für die Männlichkeitsforschung allererst noch urbar zu machen sind. Ich werde auf die Möglichkeiten eines solchen Produktivwerdens von Barthes’ Werk vor allem im abschließenden Kapitel meiner Überlegungen zurückkommen. Barthes’ Werk, insbesondere seine späten Schriften und Vorlesungen der 1970er Jahre, findet noch aus einem zweiten Grund mein Interesse. Barthes hat parallel zu Foucault in den 1970er Jahren eine neue Akzentuierung seines Denkens vorgenommen, deren intellektuelle Auswirkungen und Produktionen heute unter geläufigen Titeln wie „Lebenskunst“ oder „Ästhetik der Existenz“ firmieren. Im Kern haben wir es hier mit ethischen, politischen, aber auch ästhetischen Fragestellungen zu tun, ein Komplex von Bezugnahmen und Ausführungen, der dann
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Disziplinen übergreifend schon in den 1990er Jahren zu einer verstärkten Aufmerksamkeit für neue Formen oder sagen wir besser: für andere Formen der Lebensgestaltung führte. Man sieht daran heute, mit historischem Abstand, vielleicht eher als vor 20 Jahren, dass die Frage einer gelingenden Lebenspraxis mit der Enttäuschung über eine gescheiterte sozialistische Version der Aufhebung von Theorie in Praxis nicht obsolet, sondern nur auf andere Felder und unter Anbindung anderer Traditionen (z.B. in Rückgriff auf antike Lebenskunstlehren) verschoben wurde. Foucault, mit dessen Werk diese neue Aufmerksamkeit für eine Ästhetik der Existenz und damit für ein Subjekt der Sorge am augenfälligsten verbunden ist – eine Aufmerksamkeit, die in meiner Wahrnehmung auch gegenwärtig ungebrochen ist –, hat die Neuformierung der Beziehungen zwischen Subjekt, Wahrheit, Macht und Lebenspraxis von einer akribischen Untersuchung griechisch-römischer Philosophie aus in Angriff genommen.1 Der Unterschied zu Barthes, den man bis heute zu Unrecht weniger im Umfeld von Lebenskunst und Ästhetik der Existenz verortet – eine bedeutende Ausnahme bildet das von Ottmar Ette initiierte Projekt einer stark an Barthes anknüpfenden literaturwissenschaftlichen Lebenswissenschaft (Asholt/Ette 2010) –, liegt in der Form, d.h. in der Art und Weise, wie die Besinnung auf die Frage nach der gelingenden Lebenspraxis, nach dem Leben-Können in einer möglichst herrschafts- und gewaltresistenten Weise vollzogen wird. Setzen beide Theoretiker dafür beim Einzelnen an, nicht bei Kollektiven, setzen sie außerdem der Moralphilosophie individualethische Überlegungen entgegen, so bleibt Foucault in seinen Schriften und Vorlesungen stark in einem rekonstruktiven Modus. Er rekonstruiert Diskursformationen, die sich selbstverständlich auf Praxisformen beziehen, aber seine Lehre und seine Schriften selbst sind nicht der Vollzug dessen, worüber er nachdenkt. Mit anderen Worten: Foucault schreibt über eine andere Praxis, aber er praktiziert sie nicht. Das ist kein Vorwurf, sondern eine Beobachtung. Seine Texte haben den Charakter von Abhandlungen, sie sind im Gestus des Wissens geschrieben, sie geben Überblicke über diskursgeschichtliche Zusammenhänge und 1 | Andrea Maihofer kommt das Verdienst zu, als erste die Konstitution von Männlichkeit als ‚geschlechtliche Existenzweise‘ u.a. auf Foucaults späte Arbeiten zu den antiken Praktiken der Selbstsorge gegründet und damit einen kritisch-theoretischen Entwurf spezifisch männlicher Subjektivität vorgelegt zu haben. Vgl. dazu Maihofer (1995: 109ff.).
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Brüche, sie sind Teil wissenschaftlicher Metasprache, insofern sie einen Themenkomplex, die Sorge um sich selbst und die Sorge um andere, bündeln, strukturieren, wissensförmig machen. Darum geht es Barthes nicht. Barthes schreibt nicht nur über eine Praxis, sondern er praktiziert sie schreibend. Seine Weise, über die Gestaltung des Lebens nachzudenken, bewegt sich auf der Grenze von Theorie und Praxis. Sein Denken über das Leben-Können ist nicht loszulösen von seiner Schreibtätigkeit. Das Schreiben selbst ist Lebensform, insofern das Leben als Prozess, in seinem Gelebtwerden (und d.h. in Raum und Zeit), im Schreiben Form wird und umgekehrt die Form von dem Leben des Schreibenden im Hier und Jetzt seines Leben-Schreibens zeugt. Mein Interesse richtet sich mithin auf eine Ästhetik der Existenz, insofern sie eine ästhetische Praxis des Schreibens und Lesens ist. Die ästhetische Schreib- und Lesepraxis ist nicht im landläufigen Sinne autobiographisch. Barthes schreibt auch keinen literarischen Text, keinen Roman. Was er unablässig tut, kann man vielleicht am ehesten als einen Suchund Experimentiervorgang beschreiben. Er tastet Texte und Artefakte ganz unterschiedlicher Art nach den Stellen ab, in denen sie sich öffnen, in denen sie etwas wahrnehmen lassen, das sich jenseits oder diesseits von codierten Informationen, Verständlichkeit und Wissbarkeit hält und gerade deshalb jede Ideologie, jede Form von Herrschaft und Aggression neutralisiert. Das Figurenarsenal, das diese Ebene wahrnehmbar macht und sich im Schreiben Barthes’, in seiner Sprache formt, ist vielfältig, es verändert sich im Laufe der Zeit auch, aber in einem Aspekt sind diese zahlreichen Figuren gebündelt: Sie alle beziehen sich auf das Wahrnehmbarmachen des Körpers in der Sprache, im Text. Die Körper-Sprache in Roland Barthes’ Texten zu thematisieren, meint nicht, die körperlich geäußerten Sprach- und Kommunikationsgesten des Autors bzw. der von ihm fokussierten Personen und fiktiven Figuren zu beschreiben, sondern gemeint ist, das „Volumen der Sprachen“ (Barthes 2010: 22) selbst zur Sprache kommen zu lassen, erotologisch gewendet: den „Raum der Wollust“ (Barthes 2010: 12), utopisch gewendet: das „Paradies der Wörter“ (Barthes 2010: 17). Das „Volumen der Sprachen“ ist mehr als eine Gesamtheit sprachlicher Zeichen, die sich verstehen, interpretieren und befolgen lassen und so die Grundlage ideologisierter Kommunikation sind. Sprache, Texte und der ästhetische Umgang mit ihnen eröffnen Zugänge zu einer Lebensführung, die die Inkorporierung von Herrschaft im einzelnen Subjekt löst, sie aussetzt, weil der Körper zu einer Varietät spezifi-
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scher und im Folgenden aufzuzeigender Artikulationen gelangt, die seine Talente und Bedürfnisse jenseits von Aggression und ‚Willen zur Macht‘ textuell in Szene setzen. Der Textuierung des Körpers liegt bei Barthes nicht wie bei Foucault der Anspruch zugrunde, eine Geschichte des Körpers bzw. der Sexualität zu schreiben, sondern es handelt sich eher um eine literarische Ethik in aphoristischer bzw. essayistischer Form, ohne historische Konstruktion. In dieser literarischen Ethik stehen das Lesen und das Schreiben als ästhetische Praktiken im Vordergrund. Dabei sind sie gewissermaßen das Leben-Schreiben ihres Autors, ohne dass sie sich auf seine konkreten Lebensumstände, Vorlieben und Idiosynkrasien hin individualisieren und damit relativieren ließen. Die écriture Roland Barthes’, seine Schreibweise, verweist sowohl in ihren kritischen als auch in ihren jubilatorischen Invokationen, in ihren Öffnungen und Brüchen auf eine andere Lebensform und damit auf eine andere Kultur und andere geschlechtliche Verkörperungen. Das soll im Folgenden gezeigt werden.
2. D er K örper und die liter arische Theorie und P r a xis Ottmar Ette konstatiert in seiner intellektuellen Biographie über Roland Barthes, dass die Dimension des Körpers dessen Schreiben seit den 1970er Jahren zunehmend geprägt habe (Ette 1998: 460). Die Verschiebung der Aufmerksamkeit auf Termini des Körperlichen findet besonders starken Ausdruck in dem berühmten Buch Le plaisir du texte/Die Lust am Text (1973). Dieses Buch, das von Ette vor wenigen Jahren vollständig neu übersetzt, vorzüglich kommentiert wurde und im Suhrkamp-Verlag 2010 erschien, „gliedert sich in insgesamt 46 von Barthes als figures (Figuren) oder traits (Striche, Züge) bezeichnete Teile, die jeweils mit Titeln versehen sind“ (Ette 2010: 150). Die im Inhaltsverzeichnis erkennbare, kunstreiche Anordnung der Figuren verweist auf den experimentell anmutenden Versuch, eine spezifische Art des Schreibens zu entwickeln, um – als texte de jouissance – anhand eines vielfach fragmentierten Textkörpers Lust, Sprache und Kultur ‚in Stücken‘ (en pièces) [...] zu vergegenwärtigen. Theorie und Praxis des Schreibens [...] werden auf paradoxe Weise vertextet und miteinander verwoben, wobei nicht nur die Metaphern, sondern auch deren Brüche, nicht nur die aphoristischen Sprüche, sondern auch deren Widersprüche
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in einer sinnlichen, bisweilen akustisch wirkenden Schreibweise zur ästhetisch gelungenen Modellierung geführt werden. (Ette 2010: 150f.)
Barthes entwickelt also eine écriture, eine Schreibweise, die Lust, Sprache und Kultur, vor allem aber deren Interferenz in Figuren vergegenwärtigen will. Was heißt das zeichen- und texttheoretisch und was heißt das auf der Performanzebene für die ästhetische Praxis des Lesens und Schreibens selbst? Ich werde mich zur Beantwortung der Fragen auf wenige Stellen und Aspekte von Die Lust am Text beschränken. Zeichentheoretisch bedeutsam ist die Fokussierung auf den Signifikanten, mithin auf die Materialität der Sprache. Lust und Genießen stellen sich beim Lesen von Texten auf dieser Ebene ein. Zu einem Text des mit Barthes eng verbundenen, in Paris lebenden kubanischen Schriftstellers Severo Sarduy mit dem Titel Cobra heißt es: Im Paradies der Wörter. Das ist nun ein fürwahr paradiesischer Text, utopisch (ohne Ort), eine Heterologie aus der Fülle: Alle Signifikanten sind da, und ein jeder macht sein Schaufliegen; der Autor (der Leser) scheint ihnen zu sagen: Ich liebe euch alle (Wörter, Wendungen, Sätze, Adjektive, Brüche: alles durcheinander: die Zeichen und die Spiegelungen der Gegenstände, die sie repräsentieren); eine Art Franziskanertum ruft alle Wörter auf, sich in Positur zu bringen, sich zu drängen, wieder aufzubrechen: ein marmorierter, buntscheckiger Text, wir werden von der Sprache erfüllt wie kleine Kinder, denen niemals etwas verwehrt, vorgeworfen oder schlimmer noch: ‚erlaubt‘ wird. Das ist die Wette auf ein ständiges Jubilieren, auf den Augenblick, in dem die verbale Lust einem durch ihren Exzeß den Atem nimmt und in Wollust umschlägt. (Barthes 2010: 17)
An dieser Textstelle, die das Sprachmaterial, aber auch dessen Dynamik im Text zum Auslöser der jouissance macht, kann man zugleich die ungemein dichte, assoziative Vertextung erkennen, die Kennzeichen aller Figuren ist. Die Passage ist nicht nur extrem anspielungsreich, sondern aufschlussreich für den Performanzcharakter von Barthes’ Theorie, die immer auch schon eine Praxis ist. Der Leser schiebt sich dem Autor unter, ein durchaus mehrdeutiger Vorgang, der jedenfalls eines ganz sicher besagt: Die Position von Autor und Leser ist keine fixe Gegenüberstellung, sondern der Leser spricht, genießt aus der Perspektive des Textproduzenten, er bewohnt den Text als einen Ort ohne Ort. Damit wird seine Tätigkeit räumlich. Er bewegt sich genießend in einem Zwischenraum, in dem
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sich die Wollust platziert. Barthes’ Mikrotexte selbst sind die Kondensate solcher zwischenräumlich-erotischen Wahrnehmung. Hervorzuheben ist ferner, dass die in der Lektüre sich einstellende Wollust eine Sprachhandlung ist. Sie ist ein ‚Jubilieren‘, und zwar eines, das seinerseits wiederum in einer spirituellen Resonanz steht. Nicht von ungefähr wird angesichts der sprachlich-ästhetischen Darbietung einer paradiesischen Fülle von einer „Art Franziskanertum“ gesprochen, das alle Wörter aufruft. Barthes war ein Kenner der spirituellen Traditionen des Christentums, vor allem hat er sich mit den Schriften der Mystiker intensiv auseinandergesetzt. Wenn die Mystik wiederholt aufgerufen wird, hat das mit einem grundsätzlichen Zug des Barthes’schen Denkens zu tun, das mit der Suche nach dem Ereignis der jouissance nicht nur dem Körper sein Eigenrecht und sein Eigenleben zurückgeben möchte, sondern auch das Ich in seiner Subjektförmigkeit, in seiner Positionalität und in seiner Selbstfixierung überschreiten will. Das Jubilieren angesichts solcher Entgrenzung verläuft in Die Lust am Text korrelativ zu einer anderen Schreibhandlung. Was man angesichts der überbordenden Lust, ihrer affirmativ-jubilatorischen Richtung nicht unbedingt erwartet, ist aber stets auch präsent: die Figur der Kritik. Lust ist, wie es an anderer Stelle heißt, ein „kritisches Prinzip“ (Barthes 2010: 67), d.h., sie verteilt sich auch auf das, wogegen sie sich richtet. Die Lust in der Figur jubilierender Wollust ist insofern nicht richtungslos und im Augenblick des Genießens verpuffend, weil sie als kulturelle Praxis der Kritik gegenüber jeglicher Form von Ideologie, deren Hauptfigur die Stereotypie ist, und vor allem auch gegenüber dem persistenten „Heroismus [...] in unseren Sprachen“ (Barthes 2010: 41) fungiert. Mit Blick auf Bataille spürt Barthes noch in den seinerzeit wirkmächtigsten Theorien eine Kritik an der Ökonomie des Sinns, des Subjekts und der Zweckrationalität einen Heroismus auf, der den männlichen Habitus von Aggressivität und Zerstörungslust nicht abgelegt hat. Die Wollust am Text ist demgegenüber „so etwas wie ein plötzliches Auslöschen des kriegerischen Wertes“ (Barthes 2010: 41). Die Lust als kritisches Prinzip ist mit der Wollust nicht identisch, aber sie wirkt mit ihr Hand in Hand. Anders formuliert: Die Wollust skandiert die Lust als Quelle und Motor fortgesetzter kultureller écriture, welche bei Barthes immer auch die Kritik an sprachlich in Erscheinung tretender Herrschaft einschließt. In der jouissance wird sie für Momente ausgelöscht.
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Barthes sucht diesen Vorgang auch auf der Ebene des Textbegriffs zu fassen. Ein anderer Aphorismus aus Die Lust am Text beginnt mit dem Satz: „Die arabischen Gelehrten scheinen, wenn sie vom Text sprechen, diesen bewundernswerten Ausdruck zu gebrauchen: der gewisse Körper.“ (Barthes 2010: 26) Danach unterscheidet er in Anlehung, aber auch in deutlicher Abwandlung eines von Julia Kristeva eingeführten Begriffspaares zwei Körper des Textes, den Phäno-Text und den Geno-Text.2 Der Phäno-Text ist der Körper des Textes, wie er von den Wissenschaften, beispielsweise von den Philologien, aber auch von den Life Sciences als Objekt konstituiert, analysiert und besprochen wird. Der Geno-Text ist der der Wollust zugängliche menschliche Körper, der nicht mit dem physiologischen Körper gleichzusetzen, aber auch nicht gänzlich von ihm abzutrennen ist. Barthes schreibt: „Der Text hat eine menschliche Form, er ist eine Figur“ (Barthes 2010: 26). Der genotextuelle Körper ist mithin „der erotische Körper, der Körper der Figuren, die literarische wie theoretische Figuration des Körpers, die ihren eigenen Ideen, ihrer eigenen Logik folgt.“ (Ette 2010: 218) Barthes beschließt die Figur Corps/Körper mit folgendem kleinen Mikrotext: „Die Lust am Text, das ist jener Augenblick, in dem mein Körper seinen eigenen Ideen folgt – denn mein Körper hat nicht dieselben Ideen wie ich.“ (Barthes 2010: 27) Um etwas anschaulicher zu machen, was mit diesen beiden Körpern eigentlich gemeint ist, ist es sinnvoll, einen Text zu berücksichtigen, in dem es um die Stimme geht. Etwa zur selben Zeit wie Die Lust am Text erscheint der Essay Die Rauheit der Stimme (1972). Dort beabsichtigt Barthes, die Berührungsebenen von Sprache und Musik neu zu bestimmen. Er beschränkt sich dabei auf das Lied, insofern in diesem musikalischen Genre Sprache und Stimme sich begegnen. Dabei führt er, wiederum in Anlehnung an die Unterscheidung Kristevas, das Begriffspaar Phänogesang und Genogesang ein. Der Phänogesang, für den paradigmatisch Dietrich Fischer-Dieskau steht, umfasst „alles, was beim Vortrag im Dienst 2 | Vgl. zur erheblichen Abwandlung des Begriffspaares von Kristevas Verwendung Ette (2010: 198). Dort findet sich folgendes Zitat aus Kristeva (1978: 12): „In der ersten, der Zeit des Genotextes, findet die oben bezeichnete Arbeit der Oberflächenzersetzung statt, die das ‚Eintauchen‘ in die Kommunikationssprache und die Bearbeitung des signifikanten Materials ermöglicht. In einer zweiten Zeit, der des Phänotextes, führt der Text die Resultate seiner Arbeit auf die Ebene der Bedeutung.“
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der Kommunikation, der Darstellung und des Ausdrucks steht“ (Barthes 1990: 272) und der Analyse und Bewertung im ideologischen Kontext einer Epoche zugänglich ist. Der Genogesang hingegen, für den Charles Panzera steht, ist das Volumen der singenden und sprechenden Stimme, der Raum, in dem die Bedeutungen keimen, und zwar ‚aus der Sprache und ihrer Materialität heraus‘; es ist ein signifikantes Spiel, das nichts mit der Kommunikation, der Darstellung (von Gefühlen) und dem Ausdruck zu tun hat; es ist die Spitze (oder der Grund) der Erzeugung, wo die Melodie tatsächlich die Sprache bearbeitet – nicht, was diese sagt, sondern die Wollust ihrer Laut-Signifikanten, ihrer Buchstaben. (Barthes 1990: 272)
Insbesondere Kehle und Gesicht sind nach Barthes die Körperstellen, an denen der Genogesang vernehmbar wird und wo sich das formt, was er die „Rauheit der Stimme“ nennt. Darin bricht das hervor, was Barthes nicht nur dem Genogesang, sondern allen Arten von Genotexten zuschreibt: die signifiance/Signifianz, welche die Wollust hervortreten lässt. Was meint Barthes mit signifiance/Signifianz? Der des Öfteren mit Signifikanz verfälschend übersetzte Begriff meint nicht Bedeutsamkeit und schon gar nicht Sinngebung durch ein Subjekt oder eine Institution, sondern, von Barthes vielfach der Ebene der jouissance zugeordnet, „ein unabschließbares sinnliches Erleben“ (Ette 2010: 470). Damit ist gemeint, dass die körperlich-sinnliche Dimension von sprachlichen Gebilden Sinnbildungsprozesse in Gang setzt, die offen und stets in Bewegung sind und sich auch keiner letztlichen begrifflichen Fixierung unterwerfen. In einem solchen Prozess stehend, ist das wahrnehmende Ich kein Subjekt, und es bildet auch keine wissenschaftliche Metasprache, sondern es treibt sich lustvoll in den Sprachen (der Künste) herum. Es driftet ab in eine erotische Textur, es schreibt sich in sie hinein, verwebt sich mit ihr.
3. Ü bergang Die ästhetische Praxis hat zwei Seiten. Sie präsentiert sich in Die Lust am Text stark in ihrem anarchisch-exzessiven, erotologischen Aspekt, für den die Figur der Wollust steht. In einem der hinteren Aphorismen wird gewissermaßen resümierend noch einmal davon gesprochen, dass
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die Wollust intransitiv, pervers ist und vom mobilen, unvorhersehbaren Extrem ausgelöst wird. Im selben Text findet sich aber auch noch eine ganz andere Seite, die anders gelagert ist und über die Beziehungen von Text und Lektüre bzw. von Lesen und Schreiben, d.h. über literatur- und texttheoretische Aspekte im engeren Sinn hinausgeht. Es heißt dort unter dem Stichwort Lust am Text: Kultur [...] Lebenskunst. Die Lust am Text kann man durch eine Praxis definieren (ohne jedes Risiko von Repression): Ort und Zeit der Lektüre: Haus, Provinz, bevorstehende Mahlzeit, Lampe, Familie, wo sie hingehört, das heißt in der Ferne und nicht fern (Proust im Zimmer mit Schwertlilienduft), usw. Außerordentliche Verstärkung des Ich (durch das Phantasma); in Watte gelegtes Unbewußtes. Diese Lust kann man sagen: Von daher kommt die Kritik. (Barthes 2010: 66)
Diese Passage stellt einen Übergang dar: Hier tritt das Wirken der Wollust zurück, stattdessen schiebt sich in der Ausbuchstabierung ästhetischer Praxis ein Komplex vor, der mit dem Stichwort „Lebenskunst“ beleuchtet wird. Es wird also nicht weniger angedeutet als eine Praxis der Lebenskunst, deren Bestimmung Fragen stellen lässt nach Ort und Zeit, nach dem Wo und Wie des Wohnens, nach einem Tagesablauf mit Essen und Trinken und mit intellektueller Tätigkeit, nach einem Ort des Zusammenlebens mit anderen und schließlich nach einer Neuformung des Ich im Verhältnis zu seinen Lüsten. Wenn man all diese Aspekte zusammennimmt, verweist diese Stelle auf einen Fragekomplex, der im ethischen Zusammenhang von Lebensführung steht: Wo und wie situiere ich mich örtlich und zeitlich als jemand, der sein Leben auf eine ihm gemäße Weise führen will, als jemand, der liest und schreibt, der aber eben auch mit anderen zusammenlebt? In Die Lust am Text wird dieses Fragespektrum nicht weiter bearbeitet. Dafür aber umso intensiver in Barthes’ Arbeiten und Vorlesungen der letzten Jahre vor seinem Tod im Jahre 1980.
4. Ä sthe tische P r a xis und L ebensführung Barthes hat seine geistige Arbeit immer mehr von einem nur wissenschaftlichen Selbstverständnis entfernt und sie stattdessen in ein existenzielles Lesen und Schreiben überführt, das einerseits nah am Leben und an basalen Fragen der Lebensführung ist, sich andererseits stark ans
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eigene Begehren und Fühlen bindet. Deutlich wird dies in einer wiederholten und auch biographisch begründeten Absage an die Gepflogenheiten wissenschaftlichen Schreibens. Angesichts der Einsicht, vielleicht nur noch wenige Jahre zu leben, wird in Barthes der Wunsch laut, noch einmal ein neues Leben mit einer neuen Schreibweise zu beginnen. Die erste Bedingung für eine solche Schreibweise ist eine Subjektivierung des wissenschaftlichen Arbeitens (vgl. dazu ausführlich Tholen 2008). In seinen späten Vorlesungen am Collège de France hat Barthes diese Praxis der Subjektivierung entlang verschiedener Themenkomplexe praktiziert. Es handelt sich um die auch ins Deutsche übersetzten Vorlesungen Comment vivre ensemble (1976-77), Le Neutre (1977-78) und La Préparation du Roman (I und II, 1978-79 und 1979-80). Diese Vorlesungen mit ihrem unerhört innovativen Potenzial befinden sich auf der Grenze zwischen Theorie und Literatur, zwischen Analyse und literarischem Schreiben. Die Art und Weise zu denken und zu schreiben lässt die auch von Foucault umkreisten Gedanken zu einer Sorge um sich selbst und um andere in Gestalt einer Ästhetik der Existenz vernehmbar werden, allerdings löst Barthes sich vollständig aus dem Modus diskursivierender und objektivierender Rekonstruktionen historischer Lebenskunstkonzepte. Stattdessen umkreist er literarisch Figuren des Leben-Könnens und transponiert damit seine schon von Die Lust am Text her bekannte Schreibweise in kleinen Stücken auf die Lehrform der Vorlesung. Dies kann man freilich auch als einen Versuch betrachten, den Machtdiskurs der Institution zu unterlaufen, ein Anliegen, das Barthes kontinuierlich beschäftigt hat. Sein Verfahren bezeichnet Barthes in der Vorlesung Wie zusammen leben. Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman (1976-77) in Abgrenzung zur Methode als Kultur. Auf den Kraftbegriff Nietzsches rekurrierend, der die Schaffung von Differenzen meine, heißt es: Kultur [...] verweist in meinen Augen auf das Bild eines unschlüssigen, regellosen Vorgehens auf exzentrischer Bahn: zwischen Wissensbrocken herumsuchen, Wissensgrenzen missachten, Wissensbestände abschmecken. Paradoxerweise widerstrebt Kultur in diesem Sinne, als Anerkennung von Kräften, der Idee der Macht (die in der Methode liegt). (Wille zur Kraft ≠ Wille zur Macht) (Barthes 2007: 38).
Wesentlich ist hier zum einen die Betonung des regellosen Vorgehens, das Herumsuchen zwischen Wissensbrocken und die Missachtung der Wissensgrenzen. Und in der Tat speisen sich Barthes’ Reflexionen und
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Beobachtungen aus Texten verschiedenster Bereiche und Disziplinen. Wenn Barthes sein Vorgehen generell unter den Titel Kultur stellt, dann meint er damit genauer, dass seine Ausführungen Kultur praktizieren (wozu vor allem auch die Dimension sinnlicher Wahrnehmung gehört, wie etwa die Formulierung vom Abschmecken nahe legt). Und das heißt für ihn: auf Kräfte, auf Differenzen achten. Oder auch Nuancieren. Die Praxis des Nuancierens nennt Barthes auch Diaphorologie. Sie ist vor allem eins: nicht normativ. Für Barthes’ subjektivierende Betrachtungen zur Lebensführung entscheidend ist, dass er eine erste Kraft benennt, die sich in ihm selbst regt. Es ist die Figur des Phantasmas, oder auch der Phantasie. Damit soll gesagt werden, dass der wissenschaftlichen Frage oder Forschung von Beginn an ein Phantasma/eine Phantasie des Forschenden beigemischt ist. Barthes bestimmt den Platz seines Redens vor der Trennung von Phantasma und Wissenschaft. Mit dem Phantasma setzt er von Beginn an ein „absolut positives Szenario, welches das Positive des Begehrens in Szene setzt, das nur Positives kennt. Mit anderen Worten, das Phantasma ist (offensichtlich!) nicht dialektisch“ (Barthes 2007: 39). Was heißt das? Das Phantasma zeigt dem Zuhörenden und Lesenden an, nicht was das Erkenntnisziel des Redenden ist, sondern was er begehrt. Darin liegt zugleich der wesentliche Kern der Subjektivierung, und zwar mitten im wissenschaftlichen Denk- und Rederaum. Das, was das Subjekt Roland Barthes begehrt, erweist sich sogleich als Utopie. In dem einen Fall ist es die Utopie eines Alleinlebenwollens, das gleichwohl nicht im Widerspruch steht zum Zusammenlebenwollen. Im Fall der Vorlesung Das Neutrum ist es das Begehren, eine Leere, ein Drittes zu finden, das ein Leben jenseits von Dichotomien und Ideologien ermöglichen könnte. Und im Falle der letzten Vorlesung Die Vorbereitung des Romans ist es der Wunsch, fortan anders zu schreiben. Ich möchte im Folgenden aus dem vielschichten Themenkomplex der Vorlesungen zwei Figuren herausnehmen, um anzudeuten, um welche Lebensform es eigentlich in diesem umfangreichen Lese- und Schreibabenteuer von Barthes’ letzten Jahren geht. Dabei möchte ich mit Rücksicht auf das hier gestellte Thema einer ästhetischen Praxis den Aspekt einer Ethik des Schreibens und Lesens, wie sie in der letzten Vorlesung, vor allem in Bezug auf Proust deutlich wird, etwas ausführlicher herausarbeiten.
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4.1 Das Zimmer In Wie zusammen leben geht es Barthes um die Suche nach einer dem Individuum eigenen Lebensweise an einem Ort, der den Rückzug ins eigene Zimmer und das Alleinsein, zugleich aber auch den Austausch und die Berührung mit anderen ermöglicht. Dazu rekurriert er u.a. auf die idiorrhythmische Lebensweise christlicher Mönche aus dem 4. Jahrhundert. Diese grundlegende Frage der konkreten Verortung der eigenen Existenz führt er aber auch in die Moderne, insofern er über Passagen aus Werken moderner Autoren wie Gide oder Thomas Mann nachdenkt. Besonders fokussiert er das eigene Zimmer als Rückzugsort. Dieses ist für ihn der Ort der Phantasiebildung, weil er in ihm geschützt ist und sich dort der Überwachung und Macht entziehen kann. Der Rückzug ins eigene Zimmer ermöglicht zweierlei: Zum einen macht der kontinuierliche Aufenthalt im Zimmer sanft, gemäß der lateinischen Formulierung: ‚cella continuata dulescit‘. Zum anderen ermöglicht er eine Distanz zwischen beieinander wohnenden Subjekten, eine Distanz, die den Austausch mit anderen jedoch nicht ausschließt. Das eigene, intime Zimmer als Ort der von Barthes begehrten Lebensweise wird mit starken Affekten besetzt. Unter dem Stichwort „Proxemie“ erfasst er das Zimmer als geborgenen Raum seiner innersten Subjektivität. Proxemie meint dabei die Beschreibung und Beobachtung des Raumes, der das Subjekt unmittelbar umgibt: Raum des vertrauten Blicks, der Objekte, die man mit den Armen erreichen kann. Es geht um ein Aufmerksammachen und eine gleichsam erotische Besetzung subjektiver Räume, insoweit das Subjekt sie affektiv bewohnt. Zwei der für Barthes proxemischen Mittelpunkte sind die bereits in der Lust am Text erwähnte Lampe und das Bett als „ein Körperteil [...] das Organ des ruhenden Körpers“ (Barthes 2007: 187). Barthes schätzt Menschen, die ein gutes Verhältnis zum Bett haben! Zentral ist, dass Barthes eine solche intim-häusliche Utopie gänzlich nur im Schreiben verwirklicht sieht. Die Utopie einer solchen genussvoll phantasierenden und ungestörten Innerlichkeit existiert im vollen Sinne nur in der écriture. Barthes setzt aber stillschweigend voraus, dass seine eigene ästhetische Praxis die Existenz eines solchen Rückzugsortes voraussetzt. Unverzichtbar für ihn ist die Indirektheit des Ausdrucks, seine Diskretion, die einzig in einem stillen, unaufdringlichen Schreiben liegt, nicht in der adressierenden, mündlichen Rede.
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4.2 Das Zartgefühl In den Vorlesungen über das Neutrum, das eigentliche Lebenskunstbuch Barthes’, fungieren die Figuren des Neutrums als ethische Wegweiser, gemäß der Nuance zu leben. Darin steckt das Begehren, alle Ordnungen, Gesetze, Drohungen, Ansprüche und Formen des Bemächtigenwollens zu suspendieren. Konkret lässt sich diese Suspendierung, diese épochè, an der Figur des Zartgefühls deutlich machen. In einer ausführlichen Nuancierung dieses Gefühls über zwei Sitzungen vermeidet Barthes jegliche Form der Anthropologisierung oder Psychologisierung und setzt es stattdessen mit einer literarischen Kleinform in Beziehung: „Nicht ‚Merkmale‘, ‚Elemente‘, ‚Bestandteile‘, sondern was im Auf blitzen funkelt, ohne Ordnung, flüchtig, sukzessiv, im ‚anekdotischen‘ Diskurs: das Gewebe von Anekdoten des Buches und des Lebens“ (Barthes 2005: 68f.). Das Zartgefühl ist also etwas, das in der Lektüre von Anekdoten oder in Anekdoten des Lebens auf blitzt, momenthaft da ist und auch wieder vergeht. Der anekdotische Diskurs zeichnet sich dadurch aus, dass er sehr nah am Leben ist, am Alltag von Subjekten und aus diesem ein besonderes Ereignis oder eine besondere Handlung herausstellt. Sodann betont Barthes – und das gilt für den Ort oder das Erscheinen des Neutrums in allen Figuren – die gesellschaftliche Ausgegrenztheit und Randständigkeit des Zartgefühls: Zum einen fällt es unter ein Verdikt, denn durch das “männliche Verbot“ wird Zartgefühl als effeminiert, zerfließend und dekadent markiert, und zum anderen ist es in der Gesellschaft nicht sesshaft, sondern es findet sich am äußersten Rand, im Status einer Marginalie. Das Prinzip des Zartgefühls hat nach Barthes auch etwas von einem Verliebtheitszustand, der sich vom Willen zur Bemächtigung gelöst hat. Es geht von hier aus in Sanftmut über. Diese schützt die Individuation des Individuums, seine Singularität. Barthes spricht hier sehr offen von einer Erfahrung der Verletzung seiner eigenen Singularität: Jedesmal, wenn ich in meiner Lust, meinem Begehren oder meinem Kummer durch die (oft wohlmeinende, unschuldige) Rede des anderen zu einem Exempel degradiert werde, das ganz normal unter ein erklärendes Gesetz oder eine allgemeine Klassifikation fällt, empfinde ich eine Verletzung des Zartgefühls (Barthes 2005: 79f.).
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Zartgefühl und in letzter Instanz Sanftmut bedeuten eine nachsichtige Zurückweisung der Herabsetzung, das Ausweichen vor dem Allgemeinen, Gesetzmäßigen durch erfinderische, unerwartete, nicht paradigmatisierbare Verhaltensweisen. Von solchen Verhaltensweisen erzählen nicht selten Anekdoten.
4.3 Ethik des Schreibens und Lesens Barthes’ auch durch biographische Ereignisse (vor allem der Tod seiner Mutter im Oktober 1977) entstandenes Bedürfnis, anders zu schreiben und damit auch anders zu leben, formuliert sich sehr konkret in seiner letzten Vorlesung Die Vorbereitung des Romans. Es geht darin nicht um das Schreiben eines Romans, sondern um den Vorsatz zu schreiben, als ob Barthes einen schreiben würde. Diese Als-ob-Haltung dient vor allem dazu, die theoretische Haltung des Über-Etwas-Schreiben-Wollens abzulegen. Es geht um eine neue écriture, um eine neue Konfiguration von Lesen-Schreiben-Leben. Wie wird diese Konfiguration von der Praxis des Schreibens aus gedacht? In Die Vorbereitung des Romans gibt es eine Passage, in der das Schreiben zwischen dem „Idéal du Moi“ („Ichideal“) und dem „Moi Idéal“ („Idealich“) (Barthes 2008: 255ff.) verortet wird. Im Ichideal findet ein Akt der Selbstbejahung des Schreibenden statt, mit aller narzisstischen Energie, die dafür konstitutiv ist. Es ist eine fürs Schreiben unumgängliche Selbstversicherung des Ich. Zugleich aber bleibt in dieser Selbstvergewisserung und –bejahung ein Rest: Das, was ich schreibe, bin nicht ganz ich. Dieser unausgedrückte Überschuss führt zur Bildung des Idealich. Dieses transzendiert im Ich das Ich, indem es dem Schreibenden über die Selbstaffizierung hinaus eine ethische Einstellung eingibt: Es [das Idealich] ist der im Prinzip unendliche Raum der liebenden Seele. Schreiben = ich will von mir sprechen, aber ich will von mir als Liebendem sprechen. Die Bewegung des Idealichs, eingezwängt ins Ichideal, zielt darauf, den Egotismus zu überwinden, nicht so sehr in Richtung auf ein Allgemeines (trügerische Ideologie) als auf eine allgemeine Liebe, zum Beispiel auf die Verwandlung des Eros in Agape (Barthes 2008: 258).
Die Form, die ein solches Schreiben ermöglicht, ist für Barthes der Roman. Es gibt einen Vortrag mit dem Titel Longtemps je me suis couché de bonne heure („Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“), den Barthes
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im Jahre 1978 im Zusammenhang mit seiner Vorlesung am Collège de France gehalten hat und der seine eigensten Vorstellungen von einem Roman im Anschluss an Prousts Schreibprojekt nukleushaft festhält. Die erste Vorstellung wäre, dass der Roman ihm ermöglichen würde, jene zu benennen, die er liebt (Barthes 2006: 318). Von diesem „projet proprement lyrique“ (lyrischen Vorhaben) erhofft Barthes sich „eine Art Transzendierung des Egotismus, insofern das Benennen jener, die man liebt, nichts anderes heißt als bezeugen, dass sie nicht ‚umsonst‘ gelebt (oder sehr oft gelitten) haben“ (Barthes 2006: 318f.). Die zweite Vorstellung ist die, dass der Roman die Darstellung einer affektiven Ordnung ermöglicht. Damit wird der Ausdruck des Pathos im Text wieder eingeklagt. Das Pathetische ist im Roman sagbar, da der Diskurs des Affekts an Personen delegiert wird und es dadurch möglich wird, Affekte offen auszusprechen. Die dritte Vorstellung oder besser gesagt Überzeugung ist die, dass der Roman, da er Ideen und Gefühle nur über Mittelsfiguren präsentiert, keinen Druck auf den Anderen bzw. auf die Leserin/den Leser ausübt. Er ist in Barthes’ Sinne deshalb nie arrogant (Barthes 2006: 319). Eine solche, hier nur kurz skizzierte Etho-Poietik des Romans erfordert nach Barthes auf der anderen Seite eine Lektürehaltung, die im Lesen von literarischen Texten gleichermaßen Gefühle zulässt, die in der Literaturwissenschaft verpönt sind: Mitgefühl mit Figuren, Rührung angesichts starker Episoden im Roman, die so etwas sein können wie ‚moments de vérité‘.
5. M ännlichkeit anders schreiben Zu Beginn meiner Überlegungen hatte ich auf die Möglichkeit hingewiesen, Barthes’ Denken und Schreiben stärker als bisher geschehen für die Erforschung von Männlichkeit zu erschließen. Ich möchte dafür nun abschließend einige Perspektiven eröffnen. Dabei lese ich seine Texte vor allem unter drei leitenden Aspekten, die hoffentlich in den vorangegangenen Gedankenschritten und Rekonstruktionen deutlich geworden sind: Einmal unter dem Aspekt eines lustvollen Umgangs und einer lustvollen Erfahrung von Sprache und Text, aus der die Kritik an Ideologie und Stereotyp entspringt, zum zweiten unter dem Aspekt einer anderen Lebensweise und zum dritten unter dem Aspekt einer Individuierung des Schreibens, die den Denkenden als konkretes Subjekt mit einer eige-
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nen Lebens- und Herkunftsgeschichte und mit einem eigenen Begehren, (sein) Leben zu schreiben, präsentiert. Und nun bleibt ein vierter Aspekt hinzuzufügen: Er tut all dies als Mann, als männlicher Intellektueller, auch wenn das Ich in seinen Texten nicht mit dem Ich des realen Menschen Roland Barthes identisch ist. Der Ort von Barthes’ Schreiben liegt gewissermaßen in einer Kluft zwischen Ich und Ich, d.h. zwischen dem Ich als Figur und dem Ich als reales Individuum. Und genau in diesem Zwischenraum des Schreibens eröffnet sich der Leserin/dem Leser die Möglichkeit, etwas über ein Schreiben von Männlichkeit, über männliches Begehren in Erfahrung zu bringen, ohne dass dies durch die reale Biographie des Roland Barthes beglaubigt werden müsste. Auf dieser Ebene sehe ich drei Wege der Bereicherung des Nachdenkens über Männlichkeit und des MännlichkeitSchreibens, an dem ich mich als literaturwissenschaftlicher Männlichkeitsforscher beteilige: 1. Ich sehe in Barthes’ ästhetischer Praxis einer Mit-Schrift des Körpers oder anders formuliert: einer somatischen Textualität einen verlockenden Weg zur Veränderung dessen, was Pierre Bourdieu den geschlechtlichen Habitus nennt. Dieser wirkt nach Bourdieu transhistorisch, d.h. immer schon. Die symbolische Herrschaft des Mannes, die sich nicht durch Bewusstseinsakte, sondern Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Handlungsschemata generations- und epochenübergreifend fortsetzt, wirkt „wie durch Magie auf die Körper [...]. Wirkung aber erzielt diese Magie nur, indem sie sich auf Dispositionen stützt, die wie Triebfedern in die Tiefe der Körper eingelassen sind.“ (Bourdieu 2005: 71) Der geschlechtlich-männliche Habitus besteht in der „libido dominandi“, in die Jungen und junge Männer in den sog. „ernsten Spielen des Wettbewerbs“ früh initiiert werden (Bourdieu 2005: 100; vgl. auch Meuser 2006: 162-164). Bourdieu betont die Hartnäckigkeit und Dauerhaftigkeit des Habitus, der die männliche Herrschaft grundiert, und wendet sich gegen postmoderne Versuche eines „subversiven Voluntarismus“ (Bourdieu 2005: 178), der den tief in den Körpern verwurzelten Dualismus der Geschlechter mitsamt seiner begrifflichen Repräsentationen (oben/unten, aktiv/passiv, hart/weich etc.) durch bloße Benennungseffekte überwinden wolle. Barthes’ somatische Textualität, so meine These, setzt genau auf der Ebene der Körper und der in sie eingelassenen „Triebfedern“ an und zeigt, dass das (männliche) Begehren zu herrschen in ein Begehren, in eine Lust aufgehoben werden kann, die das Begehren zu herrschen (in jeder Form von Ideologie, Doxa und Geschlechterherrschaft) aussetzt. Die Lust fungiert,
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wie es in Die Lust am Text steht, als kritisches Prinzip, d.h., sie setzt sich der Herrschaft nicht als subversiv-negative oder gar als lustvoll zerstörerische Energie entgegen, sondern sie trennt sich als körperlich erfahrene textuelle Lust von der Disposition, symbolische Herrschaft auszuüben. Sie lässt sie, zumindest momentan, verblassen. Ist das ein bloßer Voluntarismus bzw. eine ästhetizistisch-individualistische Gegen-Magie, die die überzeitliche gesellschaftliche Struktur von männlich markierter Herrschaft nicht tangiert? Bourdieu weist zu Recht darauf hin, dass Veränderung „allein von einer radikalen Umgestaltung der gesellschaftlichen Produktionsbedingungen jener Dispositionen [zu] erwarten [ist], die die Beherrschten dazu bringen, den Herrschenden und sich selbst gegenüber den Standpunkt der Herrschenden einzunehmen“ (Bourdieu 2005: 77).3 Auf kultureller Ebene leistet die écriture Barthes’ genau dies: Sie stellt nicht nur in Frage, sondern sie gestaltet die Produktionsbedingungen der Dispositionen, Herrschaft dauerhaft zu affirmieren und selbst die Position des Herrschenden einzunehmen, radikal um. Das Barthes’sche Schreiben ist zugleich der Rahmen und die Praxis einer kulturellen Produktion, die den geschlechtlich-männlichen Habitus verändert. Der dem Feld der Kunst eingeschriebene magische Rest ist aktuell vielleicht der, daran zu glauben und glauben zu machen, dass Veränderung durch ästhetischkulturelle Praxis möglich ist.4
3 | Vgl. für eine konstruktiv-kritische Perspektive auf das Veränderungspotenzial, das Bourdieu nur sehr verhalten anspricht, die ausgezeichnete Neuperspektivierung seiner Studie über Männlichkeit im Zusammenhang seines soziologischen Gesamtwerks in Jäger/König/Maihofer (2012: 15-36). Die Autorinnen betonen zu Recht, dass Bourdieu in seinem letzten Werk mit kritischer Intention den notwendigen Zusammenhang von Gesellschafts- und Geschlechterordnung herstellt. 4 | Ich beziehe mich hier u.a. auf die Forderung nach einer konstruktiven Kritik und nach neuen kulturellen Energien für eine andere Gesellschaft in einem kürzlich erschienenen politisch-kulturellen Manifest von Michael Hirsch, in dem es heißt: „Es bleibt aber festzuhalten, dass eine Erschütterung der Machtverhältnisse möglich ist. Sie ist eine Frage der psychischen und kulturellen Energie, die in der Kritik an der Gesellschaft liegt. Wenn es keine Vorstellung von einer anderen, besseren Gesellschaft gibt, dann gibt es auf dieser Ebene nicht genügend Energie. Die wesentliche Energie kann immer nur die Energie des Wunsches nach einem besseren Leben sein.“ (Hirsch 2013: 38)
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2. Die écriture Barthes’, die den Körper, seine Wahrnehmungen, Gefühle und sein Begehren nicht verleugnet, kann als Gegengift wirken zur Tendenz, Geschlechter- und Männlichkeitsforschung in eine machtvolle Theoriesprache zu überführen, die die Gefahr birgt, dass Männer, die sich an der Geschlechter- und Männerforschung beteiligen, sich mit einer universalisierenden Theoretisierung in diesem Feld resouveränisieren und die Kontrolle über den Diskurs zurückgewinnen (Tholen 2005: 217). Auch Edgar Forster hat auf eine solche Gefahr hingewiesen und in diesem Zusammenhang Barthes’ Unterscheidung von Phänotext und Genotext zur Hilfe genommen, um der „Rauheit der Stimme“, d.h. dem Bezug des diskursiven Sprechens zum Körper, zur Stimme, zum Sprecher, zum Begehren, zur Lust, zur Frustration, zum Ekel, zur Aggression etc. nachdrücklich Raum zu geben (Forster 2006: 197f.). Mit Forster lässt sich nämlich auch in der von Männern betriebenen Geschlechter- und Männlichkeitsforschung beobachten: Männliche Resouveränisierung ist keineswegs nur eine Strategie der Eroberung eines Diskurses oder die Kontrolle über Ressourcen, sondern sie tritt uns auch als Produktion einer bestimmten Theorie, einer bestimmten Methode, einer bestimmten Wahrheit und einer bestimmten Sprache entgegen. Diese Produktion hat nichts für den Genotext übrig, macht ihn lächerlich und weist ihm seine Unwissenschaftlichkeit nach. (Forster 2006: 198)
Meine Ausführungen zu Barthes betonen die Notwendigkeit, Geschlecht und Männlichkeit auch im (kultur)wissenschaftlichen Kontext anders zu schreiben, nämlich als stete Aufmerksamkeit für den Genotext in der ästhetischen Praxis. 3. Barthes’ späte Vorlesungen zu Fragen der Lebensführung und der ästhetischen Praxis des Lesens und Schreibens zeichnen ihn selbst als einen männlichen Intellektuellen, der sein Begehren, aber auch seine Idiosynkrasien nicht verbirgt. Er phantasiert seine Lebensweise mitsamt Zeit- und Raumaufteilung gemäß einer traditionellen männlichen Gelehrtenexistenz. Dazu gehört zuallererst das Phantasma der klösterlichen, idiorrhythmischen Lebensweise mit einem abgeschlossenen Raum, in dem einzig so etwas möglich ist wie eine solitäre, autonome Autorexistenz. Auch wenn Barthes die Bedeutung seiner Mutter für seine eigene Bio-Graphie in emphatische Schreibfiguren gekleidet hat, richtet sich doch seine ganze Abneigung gegen ein Leben und Arbeiten als Familienmann.
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In Wie zusammen leben wird diese Idiosynkrasie deutlich: „Das Familiensystem blockiert jede Erfahrung von Anachorese oder Idiorrhythmie.“ (Barthes 2007: 46) Ich bin geneigt zu sagen: Jenseits seiner Homosexualität stößt Barthes in diesem Punkt an die Grenzen des Horizontes seiner Generation. Die Suche nach einer anderen Lebensweise koppelte sich für diese an die traditionelle Vorstellung der solitär-autonomen Existenz im Kontext homosozialer Netzwerke. Das soll keine Kritik sein, aber der Hinweis auf eine begrenzte und begrenzende Perspektive, die auch gegenwärtig durchaus noch präsent ist. Die weiterführende Frage jedoch, die sich an Barthes’ Gedanken einer anderen Lebensweise anschließen ließe, wäre die nach einer möglichen Verbindung von Familienmännlichkeit und intellektueller Arbeit oder anders gewendet: nach einer Lebenskunst von Männern, die die (familiale) Sorge um andere anders als bisher ins Verhältnis mit der Sorge um sich selbst setzen würde. Dazu wäre an einen bereits zitierten Satz aus Die Lust am Text anzuschließen, den Barthes selbst in seiner Tragweite nicht weiter ausphantasiert hat: „Lebenskunst. Die Lust am Text kann man durch eine Praxis definieren (ohne jedes Risiko von Repression): Ort und Zeit der Lektüre: Haus, [...], bevorstehende Mahlzeit, [...] Familie, wo sie hingehört, das heißt in der Ferne und nicht fern.“ Wo sie im Raum der Lebens- und Schreibpraxis des Mannes hingehört, die Familie, in welcher Entfernung sie von jener sein sollte, darüber wäre in Zukunft mehr zu phantasieren.5
L iter atur Asholt, Wolfgang/Ette, Ottmar (Hg.) (2010): Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven, Tübingen. Barthes, Roland (1990): Die Rauheit der Stimme, in: Ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt am Main, S. 269-278. Barthes, Roland (2005): Das Neutrum. Vorlesung am Collège de France 1977-1978. Hg. von Éric Marty, Frankfurt am Main.
5 | Vgl. dazu in Bezug auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur die Aufsätze zur Familienmännlichkeit bzw. Vaterschaft in diesem Band.
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Barthes, Roland (2006): „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“, in: Ders.: Das Rauschen der Sprache. Kritische Essays IV, Frankfurt am Main, S. 307-320. Barthes, Roland (2007): Wie zusammen leben. Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman. Vorlesung am Collège de France 19761977. Hg. von Érich Marty, Frankfurt am Main. Barthes, Roland (2008): Die Vorbereitung des Romans. Vorlesung am Collège de France 1978-1979 und 1979-1980. Hg. von Éric Marty, Frankfurt am Main. Barthes, Roland (2010): Die Lust am Text. Kommentar von Ottmar Ette, Berlin. Bourdieu, Pierre (2005): Die männliche Herrschaft, Frankfurt am Main. Ette, Ottmar (1998): Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt am Main. Ette, Ottmar (2010): Kommentar, in: Roland Barthes: Die Lust am Text, S. 87-502. Forster, Edgar (2006): Männliche Resouveränisierungen, in: Feministische Studien, 24(2), S. 193-207. Hirsch, Michael (2013): Warum wir eine andere Gesellschaft brauchen!, München. Jäger, Ulle/König, Tomke/Maihofer, Andrea (2012): Pierre Bourdieu: Die Theorie männlicher Herrschaft als Schlussstein seiner Gesellschaftstheorie, in: Kahlert, Heike/Weinbach, Christine (Hg.): Zeitgenössische Gesellschaftstheorien und Genderforschung. Einladung zum Dialog, Wiesbaden, S. 15-36. Kristeva, Julia (1978): Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt am Main. Maihofer, Andrea (1995): Geschlecht als Existenzweise. Macht, Moral, Recht und Geschlechterdifferenz, Frankfurt am Main. Meuser, Michael (2006): Hegemoniale Männlichkeit. Überlegungen zur Leitkategorie der Men’s Studies, in: Brigitte Aulenbacher u.a. (Hg.): FrauenMännerGeschlechterforschung. State of the Art, Münster, S. 160-174 . Tholen, Toni (2005): Verlust der Nähe. Reflexion von Männlichkeit in der Literatur, Heidelberg. Tholen, Toni (2008): Ästhetik der Existenz. Zur literarischen Ethik des späten Roland Barthes, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturge-
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schichte/Cahiers d’Histoire des Littératures Romanes 32 (3/4), S. 393412.
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Nachweise
Die Texte des vorliegenden Bandes wurden redaktionell überarbeitet, z. T. auch gekürzt und mit geänderten Titeln versehen. Allen Verlagen sei an dieser Stelle für die Einräumung der Wiederabdruckrechte gedankt. Männlichkeiten in der Literatur. Überlegungen zu einer männlichkeitssensiblen Literaturwissenschaft, in: Cornelia Behnke, Diana Lengersdorf, Sylka Scholz (Hg.): Wissen – Methode – Geschlecht: Erfassen des fraglos Gegebenen. Wiesbaden 2014, S. 235-247. (Springer VS) Perspektiven der Erforschung des Zusammenhangs von literarischen Männlichkeiten und Emotionen, in: Toni Tholen, Jennifer Clare (Hg.): Literarische Männlichkeiten und Emotionen. Heidelberg 2013, S. 9-25. (Winter) „Krise der Männlichkeit“ – Zur Konzeptualisierung eines häufig verwendeten Topos, in: allmende. Zeitschrift für Literatur 34 (August 2014), S. 11-14. (Mitteldeutscher Verlag) Männerbilder im Wandel? Beobachtungen zur Literatur des beginnenden 21. Jahrhunderts, in: Barbara Hindinger, Martin M. Langner (Hg.): „Ich bin ein Mann, wer ist es mehr?“ Männlichkeitskonzepte in der deutschen Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München 2011, S. 282-310. (iudicium) Familienmännlichkeit und künstlerisch-literarische Arbeit, in: Weimarer Beiträge 57 (2011), H. 2, S. 253-268. (Passagen) Vaterschaft und Autorschaft. Zur Bestimmung eines prekären Verhältnisses in der Gegewartsliteratur am Beispiel von Durs Grünbeins „Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen“, in: Weimarer Beiträge 55 (2009), H. 2, S. 180-195. (Passagen)
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Männlichkeiten in der Literatur
Vom Lieben, Sorgen und Schreiben. Zur Konfiguration von Männlichkeit in Karl Ove Knausgårds autobiographischem Roman Lieben [Erstveröffentlichung]. Homosozialität – Agonaler Code – Aggressive Selbstexklusion. Konstruktionen von Männlichkeit in der Literatur um 1968, in: Meike Sophia Baader, Johannes Bilstein, Toni Tholen (Hg.): Erziehung, Bildung und Geschlecht. Männlichkeiten im Fokus der Gender-Studies. Wiesbaden 2012, S. 117-126. (Springer VS) Zur Konstruktion von Männlichkeit in W.G. Sebalds Roman Austerlitz, in: Ulrike Bohle, Stefani Brusberg-Kiermeier, Anna Müller, Gesa Teichert (Hg.): Transdisziplinäre Perspektiven in der Geschlechterforschung an der Stiftung Universität Hildesheim und der HAWK Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim/ Holzminden/Göttingen. Eine Aufsatzsammlung zum 10jährigen Jubiläum des Zentrum für Interdisziplinäre Frauen- und Geschlechterstudien (ZIF). Münster 2012, S.125-135. (LIT) Männerbilder in der Literatur von Frauen und die Perspektive männlicher Leser, in: Aleksandra Bednarowska, Magdalena Filar, Beata Kołodziejczyk-Mróz, Piotr Majcher (Hg.): Anwendungsorientierte Darstellungen zur Germanistik. Modelle und Strukturen. Berlin 2013, S. 27-35 (= Perspektivenwechsel, Bd. 2). (Weidler) Brief an D. – Dorine und André Gorz, in: Universitas 67 (Juli 2012), S. 5169. (Heidelberger Lese-Zeiten Verlag) Körper-Sprache und die Suche nach einer anderen Männlichkeit. Zur ästhetischen Praxis Roland Barthes‘, erscheint in: Kerstin Bueschges (Hg.): Bildung – Selbst(bild) – Geschlechterbilder. Berlin, Münster 2015. (LIT)
Lettre Thomas Assheuer Tragik der Freiheit Von Remscheid nach Ithaka. Radikalisierte Sprachkritik bei Botho Strauß 2014, 274 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2759-6
Carsten Gansel, Werner Nell (Hg.) Vom kritischen Denker zur Medienprominenz? Zur Rolle von Intellektuellen in Literatur und Gesellschaft vor und nach 1989 September 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3078-7
Susanne Hochreiter, Ursula Klingenböck (Hg.) Bild ist Text ist Bild Narration und Ästhetik in der Graphic Novel 2014, 286 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2636-0
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Lettre Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin 2014, 430 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-1760-3
Heinz Sieburg (Hg.) ›Geschlecht‹ in Literatur und Geschichte Bilder – Identitäten – Konstruktionen 2014, 262 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2502-8
Hans Stauffacher, Marie-Christin Wilm (Hg.) Wahnsinn und Methode Zur Funktion von Geniefiguren in Literatur und Philosophie September 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2339-0
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Lettre Paul Fleming, Uwe Schütte (Hg.) Die Gegenwart erzählen Ulrich Peltzer und die Ästhetik des Politischen 2014, 244 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2489-2
Leonhard Fuest Poetopharmaka Heilmittel und Gifte der Literatur Februar 2015, 148 Seiten, kart., 22,99 €, ISBN 978-3-8376-2830-2
Michael König Poetik des Terrors Politisch motivierte Gewalt in der deutschen Gegenwartsliteratur Januar 2015, 514 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2987-3
Clemens Peck, Florian Sedlmeier (Hg.) Kriminalliteratur und Wissensgeschichte Genres – Medien – Techniken April 2015, 248 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2887-6
Johanna Richter Literatur in Serie Transformationen des Romans im Zeitalter der Presse, 1836-1881 August 2015, ca. 240 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-3166-1
Julia Catherine Sander Zuschauer des Lebens Subjektivitätsentwürfe in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur Juni 2015, 344 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-3127-2
Armin Schäfer, Karin Kröger (Hg.) Null, Nichts und Negation Becketts No-Thing September 2015, ca. 290 Seiten, kart., ca. 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2704-6
Gregor Schuhen (Hg.) Der verfasste Mann Männlichkeiten in der Literatur und Kultur um 1900 2014, 324 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2793-0
Florian Trabert, Mara Stuhlfauth-Trabert, Johannes Waßmer (Hg.) Graphisches Erzählen Neue Perspektiven auf Literaturcomics März 2015, 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2825-8
Martina Wernli Schreiben am Rand Die »Bernische kantonale Irrenanstalt Waldau« und ihre Narrative (1895-1936) 2014, 450 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2878-4
Lars Wilhelmer Transit-Orte in der Literatur Eisenbahn – Hotel – Hafen – Flughafen März 2015, 344 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2999-6
Sophie Witt Henry James’ andere Szene Zum Dramatismus des modernen Romans Oktober 2015, ca. 380 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2931-6
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Zeitschrif t für interkulturelle Germanistik Dieter Heimböckel, Ernest W.B. Hess-Lüttich, Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.)
Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 5. Jahrgang, 2014, Heft 2
Dezember 2014, 208 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN 978-3-8376-2871-5 E-Book: 12,80 €, ISBN 978-3-8394-2871-9 Die Zeitschrift für interkulturelle Germanistik (ZiG) trägt dem Umstand Rechnung, dass sich in der nationalen und internationalen Germanistik Interkulturalität als eine leitende und innovative Forschungskategorie etabliert hat. Sie greift aktuelle Fragestellungen im Bereich der germanistischen Literatur-, Kultur- und Sprachwissenschaft auf und versammelt aktuelle Beiträge, die das zentrale Konzept der Interkulturalität weiterdenken. Die Zeitschrift versteht sich bewusst als ein interdisziplinär und komparatistisch offenes Organ, das sich im internationalen Wissenschaftskontext verortet sieht. Lust auf mehr? Die ZiG erscheint zweimal jährlich. Bisher liegen 10 Ausgaben vor. Die ZiG kann auch im Jahresabonnement für den Preis von 22,00 € (international 28,00 €) bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Siegfried Mattl, Christian Schulte (Hg.)
Vorstellungskraft Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2014
Dezember 2014, 136 Seiten, kart., 14,99 €, ISBN 978-3-8376-2869-2 E-Book: 12,99 € ISBN 978-3-8394-2869-6 Vorstellungs- oder Einbildungskraft bezeichnet die Fähigkeit zur Erzeugung innerer Bilder, die entweder Wahrnehmungen erinnernd reproduzieren oder produktiv Gegebenheiten überschreiten. Vorstellungen konstruieren imaginativ zukünftige Szenarien oder erzeugen – wie in der Kunst – ästhetische Alterität. Die interdisziplinären Beiträge dieser Ausgabe der ZfK untersuchen Figurationen und Agenturen des Imaginären: von den Todes- und Jenseitsimaginationen der christlichen Kunst, den Denk- und Sehräumen in Kunst und Medizin über Rauminszenierungen der Moderne, dem frühen Amateurfilmdiskurs bis hin zur Techno Security und Big Data. Der Debattenteil befasst sich unter dem Titel »Transparenz und Geheimnis« mit medien- und kulturwissenschaftlichen Zugängen zu Dispositiven der Überwachung.
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