Ressource »Schriftträger«: Materielle Praktiken der Literatur zwischen Verschwendung und Nachhaltigkeit 9783839461723

Beinahe alles kann als Schriftträger dienen. Auch können Bücher wieder zur Grundlage für neue Texte oder Material im Sch

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German Pages 304 Year 2023

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Table of contents :
Inhalt
Zur Poetologie, Ökonomie und Ökologie der Ressource »Schriftträger«
I. Poetologien des Schriftträgers: Zwischen Sprach- und Artefaktmaterialität
Crossreading, Crosswriting, Makulatur-Lektüre
Die Nachhaltigkeit der Prachtausgabe
Ressource Müll
Papier als elastisches Medium
II. Agentialität und Affordanz: Schriftträger in Schreibverfahren
Leicht wie Stein
Franz Fühmanns Klebetyposkripte
Freund, Fetisch, Phantasma
III. Kreisläufe: Recycling, Serialisierung und Zerstörung von Schriftträgern
Kosmischer Müll
Das UNIKAT in SERIE
Eugenische Publikations-Szene
Das Korpus der Autor*in
IV. Transformationen: Ressourcen und Nachhaltigkeit
Erzählstoff Papier
Die Ressourcen der Interlinearversion und der nachhaltige Umgang mit dem Original bei Goethe, Pannwitz und Benjamin
»Papierbedarf: 0,3 Tonnen«
Die Rückkehr des Schriftträgers
Anhang
Abbildungsverzeichnis
Autor*innen
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Ressource »Schriftträger«: Materielle Praktiken der Literatur zwischen Verschwendung und Nachhaltigkeit
 9783839461723

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Martin Bartelmus, Yashar Mohagheghi, Sergej Rickenbacher (Hg.) Ressource »Schriftträger«

Lettre

Martin Bartelmus ist Postdoc am Institut für Germanistik der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf mit den Forschungsschwerpunkten French Theory, ObjectOriented Ontology, Animal und Plant Studies sowie Materialität, Medialität und Schriftlichkeit. Yashar Mohagheghi ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft an der RWTH Aachen. Seine Forschungsinteressen umfassen Hölderlin, die Kulturgeschichte des Festes, materielle Kulturen, kleine Formen und den frühneuzeitlichen Prosaroman. Sergej Rickenbacher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft an der RWTH Aachen. Seine Forschungsinteressen sind Literatur und Wissen, literarische Mediologie und Sensory History.

Martin Bartelmus, Yashar Mohagheghi, Sergej Rickenbacher (Hg.)

Ressource »Schriftträger« Materielle Praktiken der Literatur zwischen Verschwendung und Nachhaltigkeit

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Wir danken für die Unterstützung durch die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: //dnb.d-nb.de abrufbar.

Dieses Werk ist lizenziert unter der Creative Commons Attribution 4.0 Lizenz (BY). Diese Lizenz erlaubt unter Voraussetzung der Namensnennung des Urhebers die Bearbeitung, Vervielfältigung und Verbreitung des Materials in jedem Format oder Medium für beliebige Zwecke, auch kommerziell. Die Bedingungen der Creative-Commons-Lizenz gelten nur für Originalmaterial. Die Wiederverwendung von Material aus anderen Quellen (gekennzeichnet mit Quellenangabe) wie z.B. Schaubilder, Abbildungen, Fotos und Textauszüge erfordert ggf. weitere Nutzungsgenehmigungen durch den jeweiligen Rechteinhaber.

Erschienen 2023 im transcript Verlag, Bielefeld © Martin Bartelmus, Yashar Mohagheghi, Sergej Rickenbacher (Hg.) Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld (nach einem Entwurf von Martin Bartelmus) Umschlagabbildung: mrbandit22, pixabay Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839461723 Print-ISBN: 978-3-8376-6172-9 PDF-ISBN: 978-3-8394-6172-3 Buchreihen-ISSN: 2703-013X Buchreihen-eISSN: 2703-0148 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt

Zur Poetologie, Ökonomie und Ökologie der Ressource »Schriftträger« Einleitung Martin Bartelmus, Yashar Mohagheghi, Sergej Rickenbacher ................................ 9

I. Poetologien des Schriftträgers: Zwischen Sprach- und Artefaktmaterialität Crossreading, Crosswriting, Makulatur-Lektüre Poetiken des recycelten Schriftträgers bei Whitefoord, Lichtenberg und Jean Paul Reinhard M. Möller......................................................................... 31 Die Nachhaltigkeit der Prachtausgabe Materialität und Ressourcenökonomie bei Stefan George Yashar Mohagheghi....................................................................... 47 Ressource Müll Zu einem textmateriellen Verfahren bei Georg Heym (November) David-Christopher Assmann ............................................................... 61 Papier als elastisches Medium Potentialität und Raumökonomie in Blaise Cendrars’ und Sonia Delaunay-Terks Leporello-Gedicht La Prose du Transsibérien et de la Petite Jehanne de France Caroline Torra-Mattenklott................................................................ 83

II. Agentialität und Affordanz: Schriftträger in Schreibverfahren Leicht wie Stein Stéphane Mallarmés Verse aus dem Meer Cornelia Ortlieb ..........................................................................107 Franz Fühmanns Klebetyposkripte Zur Verbindung proletarischer und künstlerischer Arbeit in der DDR mittels Beschreiben und Zerschneiden von Schriftträgern Sergej Rickenbacher .................................................................... 123 Freund, Fetisch, Phantasma Josef Winklers Notizbücher Anke Bosse .............................................................................. 141

III. Kreisläufe: Recycling, Serialisierung und Zerstörung von Schriftträgern Kosmischer Müll Papiervernichtung und -recycling als Basis der Weltwissenschaft Dominik Erdmann ........................................................................ 161 Das UNIKAT in SERIE Die Autographensammlung als Ressource der Wissenschaftsgeschichte Julia Steinmetz ..........................................................................179 Eugenische Publikations-Szene Wilhelm Ostwald zwischen Recycling und Veredelung Laura Basten ........................................................................... 193 Das Korpus der Autor*in Die ›Autorenbibliothek‹ als Ort des Stoffwechsels Martina Schönbächler .................................................................... 211

IV. Transformationen: Ressourcen und Nachhaltigkeit Erzählstoff Papier Sprechendes Flachs und stinkende Haderlumpen Martina Wernli .......................................................................... 229 Die Ressourcen der Interlinearversion und der nachhaltige Umgang mit dem Original bei Goethe, Pannwitz und Benjamin Alexander Nebrig........................................................................ 249 »Papierbedarf: 0,3 Tonnen« Umgang mit Ressourcen im Mitteldeutschen Verlag (Halle/Saale) in den 1960er Jahren Marlene Kirsten ......................................................................... 265 Die Rückkehr des Schriftträgers Postdigitale Literatur und ihre Nachhaltigkeit Martin Bartelmus........................................................................ 277

Anhang Abbildungsverzeichnis ................................................................. 295 Autor*innen ............................................................................ 299

Zur Poetologie, Ökonomie und Ökologie der Ressource »Schriftträger« Einleitung Martin Bartelmus, Yashar Mohagheghi, Sergej Rickenbacher

1. Ausgangspunkt: Die Ressource als Gegenstand der literaturwissenschaftlichen Materialitätsforschung Beinahe jeder organische oder anorganische Stoff kann als Grundlage von Schrift fungieren: Steine, Häute, Hölzer, Textilien, Papiere, Metalle, Kristalle etc. Welcher Stoff gewählt wird, hängt wesentlich von den technischen, materiellen und sozialen Bedingungen ab, die den Akt des Schreibens rahmen. Durch die zunehmende Menge von Papier im europäischen Raum ab dem Ende des 18. Jahrhunderts löst sich die Wahl des Schriftträgers indes zunehmend von der beschränkten Verfügbarkeit der Materialressourcen und eröffnet Möglichkeiten zur sozialen und künstlerischen Distinktion, zur Interaktion mit der materiellen Grundlage sowie auch zur Reflexion des Leitmediums der Schrift. Nicht ausschließlich, aber in besonderem Maße ist diese Entwicklung in der Literatur zu beobachten: Sophie la Roche wickelte ihre Erinnerungsstücke in beschriebenes Papier, Goethe ritzte Wanderers Nachtlied im September 1780 in die Holzwand einer Hütte und wählte die jeweilige Schreibgrundlage (ob verzierte Blättchen oder einfaches, schmuckloses Papier) mit viel Bedacht nach der jeweiligen Schreibgelegenheit aus. Stéphane Mallarmé beschrieb Fächer und andere Gebrauchsgegenstände, Robert Walser verwendete Kalenderblätter, Eugen Gomringer ganze Wände, Rupi Kaur dagegen veröffentlicht ihre Gedichte auf Instagram, wobei sie zwar das Schreibmaterial Papier imitiert, aber Bildschirme als Schriftträger verwendet. Diese Beispiele sind heterogen und die Relationen zwischen dem materiellen Träger, der/dem Schreibenden sowie dem Geschriebenen nehmen sich jeweils unterschiedlich aus. Gemein ist den Beispielen jedoch, dass anstatt des Textes die materiellen Schriftträger in den Blick gerückt werden.

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Ressource »Schriftträger«

Die Materialaffinität von Künsten im Allgemeinen und von Literatur im Besonderen ist selbstredend schon längst bekannt und auch breit erforscht.1 Dieser Sammelband, der auf einer Tagung im November 2021 an der RWTH Aachen beruht, verhandelt die Verhältnisse zwischen Schreibenden, Schrift und ihrer materiellen Grundlage jedoch unter einem neuen Gesichtspunkt: dem Schriftträger als Ressource. Mit der Rede von ›Schriftträgern‹ anstatt von Medien wird eine gezielte Verschiebung vorgenommen. Trotz aller Divergenzen treffen sich Medientheorien und -wissenschaften im Interesse für die Vorgänge und die Leistungen von Vermittlungen: Selbst wenn das Medium die Nachricht sein soll oder sich das Medium sehr häufig dann manifestiert, wenn die Übertragung gestört ist, bleibt die Eigenaktivität und Affordanz der Schreibunterlage als Voraussetzung jedes Schreibens häufig von nachrangigem Interesse. Schriftträger sind aber keine, im banalsten Verständnis, neutralen Schreibunterlagen, mit denen ein souveränes Autor*innensubjekt etwas anstellt oder die Sinn speichern, sondern sie ermöglichen Handlungen und sind mit Bruno Latour gesprochen Akteure, indem sie Differenzen schaffen: Schriftträger tragen, stützen, bewegen, ja schaffen Schrift, sie fordern zur Interaktion auf oder verweigern Handlungen. Wer Bücher, Zeitungen, Holztafeln, Wände etc. als Schriftträger statt Medien versteht, fragt weniger nach der Lesbarkeit des Geschriebenen oder der Ästhetik des Mediums als nach den Relationen zwischen dem Gegenstand und den Zeichen, dem Handeln mit Schriftträgern oder deren Veränderungen im Laufe der Zeit. Mit diesem Interesse berührt der vorliegende Tagungsband die Forschungen zu Schreibszenen2 und Dinggeschichten,3 muss jedoch von ihnen abgegrenzt werden. Im Gegensatz zur Schreibszene liegt der Akzent auf dem Träger der Schrift; Akt, Instanz und Institution des Schreibens werden in Relation zu ihm gedacht. Diese Per1

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Eine Auswahl aus der Masse von Monographien und Sammelbänden zu treffen, wäre aleatorisch, im besten Fall nicht repräsentativ und im schlechtesten Fall redundant. Für die Institutionalisierung dieses Forschungsfelds mögen daher zwei Handbücher stehen, die in den letzten Jahren erschienen sind: Stefanie Samida/Manfred K.H. Eggert/Hans Peter Hahn: Handbuch Materielle Kultur. Bedeutungen, Konzepte, Disziplinen. Stuttgart: Metzler 2014; Susanne Scholz/Ulrike Vedder: Handbuch Literatur und materielle Kultur. Berlin/Boston: de Gruyter 2019. Vgl. z.B. Rüdiger Campe: Die Schreibszene. Schreiben. In: Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Stationen offener Epistemologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, 759–772; Martin Stingelin (Hg.): »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München: Wilhelm Fink 2004; Katja Barthel (Hg.): Dynamiken historischer Schreibszenen: Diachrone Perspektiven vom Spätmittelalter bis zur klassischen Moderne. Berlin: de Gruyter 2022. Vgl. Igor Kopytoff: The Cultural Biography of Things. Commoditization as Process. In: Arjun Appadurai (Hg.): The Social Life of Things. Commodities in Cultural Perspective. Cambridge: Cambridge University Press 1986, 64–92; Dorothee Kimmich: Lebendige Dinge der Moderne. Göttingen: Konstanz University Press 2011; Peter Braun: Objektbiographien. Ein Arbeitsbuch. Weimar: VDG 2015.

Martin Bartelmus, Yashar Mohagheghi, Sergej Rickenbacher: Einleitung

spektive teilt der vorliegende Tagungsband mit den Dinggeschichten. Verfolgt man aber Schriftträger als ›Ressourcen‹ der Literatur, so zeigen sich nicht nur die materiellen Praktiken, immateriellen Sinngebungsverfahren und ihre Einbindung in verschiedene Kontexte. Vielmehr wird die Aufmerksamkeit auf Prozesse von Produktion, Bearbeitung und Zerstörung sowie ihre zyklischen oder linearen Dynamiken gelenkt. Durch ihre Einbindung in ökonomische, ökologische, soziale und ästhetische Zusammenhänge bieten sich Schriftträger an, um ein literaturwissenschaftliches Denken über Nachhaltigkeit zu erproben. Was mit ›Ressource‹ gemeint ist, wurde seit jeher soziokulturell ausgehandelt und ist epistemisch bedingt. Wie Daniel Hausmann und Nicolas Perreaux in der bislang einzigen begriffsgeschichtlichen Studie zur ›Ressource‹ darlegen, wurde vom Beginn der Neuzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts unter ›Ressource‹ im Deutschen, Französischen und Englischen eine innere, meist psychische Fähigkeit verstanden, Krisen zu überwinden. Dieses Verständnis gründet in der Herkunft des Begriffs aus dem lateinischen ›resurgere‹, der mit ›wieder auferstehen‹, ›hervorquellen‹ oder ›sich erneuern‹ übersetzt werden kann. Der Begriff ist so ursprünglich mit der Zeitlichkeit zyklischer Regenerativität verbunden. Gleichzeitig ist die Ressource nicht passiv, sondern muss Aktivierungskraft besitzen, damit das Subjekt die Krise zu bewältigen vermag. Um 1800 setzte nach Hausmann und Perreaux in allen drei Sprachen eine zweifache Begriffsverschiebung ein, die mit dem Beginn der Industrialisierung zusammenfällt: Erstens bezeichnet ›Ressource‹ nicht mehr eine krisensichere innere Konstitution, sondern die externe Verfügbarkeit von Materialien zur Produktion von Gütern – die Geburtsstunde der modernen Ressourcenökonomie –, zweitens ist nicht mehr von der ›Ressource‹ im Singular die Rede, sondern von den ›Ressourcen‹ im Plural. Drittens – so ließe sich Hausmanns und Perreauxs Analyse erweitern – geht mit der Stofforientierung eine Verschiebung von immateriellen, inneren und aktiven zur materiellen, äußeren und passiven Ressource einher. Diese Verschiebung wird im 20. Jahrhundert wieder relativiert. Die semantische Struktur von ›Ressource‹, die unter anderen die Gegensätze von innen/außen, materiell/immateriell, aktiv/passiv und endlich/unendlich umfasst, sowie das ökonomische Paradigma begünstigten die Diffusion des Begriffs in verschiedenste Verwendungszusammenhänge. Heute sprechen wir zum Beispiel auch vom »Human Resource Management«4 oder der »Ressourcentheorie sozialer Beziehungen«.5 4

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Bestimmte Publikationen anzuführen, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts erschienen sind, wäre müßig. Signifikanter für die Präsenz des Begriffs ist, dass mehrere Zeitschriften (z.B. Intercontinental Journal of Human Resource Management oder European Journal of Human Resource Management Studies) sowie Studiengänge zu »Human Resource Management« existieren (im deutschen Raum z.B. an den Universitäten Bochum, Hamburg oder Halle-Witte). Vgl. z.B. Werner Stangl: Das neue Paradigma der Psychologie. Die Psychologie im Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Braunschweig/Wiesbaden: Vieweg 1989, 328–335. Stangl bezieht sich

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Ressource »Schriftträger«

In den okzidentalen Literaturwissenschaften fristet der Begriff ›Ressource‹ ein vorwiegend marginales Dasein. In den meisten Publikationen, die sich mit ihm auseinandersetzen, wird er als Synonym für ›Rohstoff‹ verwendet.6 Ein weitergehendes Verständnis entwickeln Michael Neumann und Marcus Twellmann in ihrem Aufsatz Knappe Ressourcen, höherer Sinn, welcher sich der literarischen Selbstverständigung der Gesellschaft zur Zeit des deutschen Realismus annimmt. Sie definieren in einem ersten Schritt ökonomisch »die unbekannte Gesamtmenge verwertbarer Rohstoffe und Energien als ›Ressource‹«, um sie darauffolgend von dem Begriff der ›Reserve‹ abzugrenzen. Reserve bezeichne »denjenigen Teil einer Ressource, der in seiner Quantität und Qualität bereits bekannt ist«.7 Als Ressourcen in Reserve können, so postulieren die Autoren mit Rückgriff auf den Ethnologen Thomas Hauschild, eben nicht nur Rohstoffe verstanden werden, sondern auch potenzielle Handlungsmöglichkeiten innerhalb von bestimmten Gesellschaften, die sich dank immateriellen Traditionen, Institutionen und Ritualen eröffnen. Die Aktualisierung der Ressourcen sowie die Mobilisierung der Reserve gehen jedoch immer auch mit »Praktiken der Bezeichnung einher. Durch sie verändern sich sowohl die Semiotik als auch die Semantik sozialer Beziehungen zwischen Menschen, Dingen und Umwelten.«8 Da sich diese Interdependenzen von materiellen, sozialen, semiotischen und semantischen Ressourcen in besonderer Weise an literarischen Texten verfolgen lassen, könne die Literaturwissenschaft mit ihrer Analyse zu einer »›allgemeinen Ökologie‹ beitragen, welche Materielles mit Symbolischem verbindet […].«9 Der Ansatz von Neumann und Twellmann ist für die Muster einer literarischen Selbstverständigung der Gesellschaft in Transformations- und Krisenzeiten aufschlussreich; in Hinblick auf die materielle Grundlage von Literatur sowie Nachhaltigkeit wird der Ressourcenbegriff jedoch nicht akzentuiert. Ein stärkeres Augenmerk auf die Materialität des Schreibens legt die Historikerin Charlotte Zweynert in ihrem Aufsatz Papierene Ökonomien. Schreiberinnen und ihre Ressourcen um 1800. Auch sie geht mit Gabriele Jancke und Daniel Schäppi von einem Verständnis

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auf folgenden Aufsatz: Uriel G. Foa/Edna B. Foa: Resource Theory of Social Exchange. In: John W. Thibaut/Janet T. Spence/Robert C. Carson (Hg.): Contemporary Topics in Social Psychology. Morristown, NJ: General Learning Press 1976, 99–131. Vgl. Dariya Manova: ›Sterbende Kohle‹ und ›flüssiges Gold‹. Rohstoffnarrative der Zwischenkriegszeit. Göttingen: Wallstein 2021; Graeme Macdonald: The Resource of Fiction. In: Reviews in Cultural Theory 33 (2012), 7–31; Mark Simpson: Toward a Theory of Resource Aesthetics. In: Postmodern Culture 26 (2016), 409–427. Vgl. Michael Neumann/Marcus Twellmann: Knappe Ressourcen, höherer Sinn. Zur literarischen Selbstverständigung der Gesellschaft. In: Dies. u.a. (Hg.): Modernisierung und Reserve. Zur Aktualität des 19. Jahrhunderts. Stuttgart: Metzler 2017, 79–95, hier: 82. Ebd., 82f. Ebd., 83.

Martin Bartelmus, Yashar Mohagheghi, Sergej Rickenbacher: Einleitung

der Ressource aus, das nicht auf der stofflichen Beschaffenheit, sondern dem Transfer von materiellen und immateriellen Gütern gründet.10 Sie zeigt aber anhand der drei Schriftstellerinnen Anna Louisa Karsch, Caroline von Louisa Klencky und Helmina von Chézy, wie die Qualität des Schriftträgers Papier nicht nur die materielle und ideelle Werthaltigkeit der Schrift sowie die ökonomische Situation der Verfasserinnen indiziert, sondern auch dass die »Arbeit mit Papier«11 eine soziale Praxis darstellt, in der Schriftträger zwecks finanziellen und sozialen Vermögensaufbaus ausgewählt, transformiert, gespeichert und in Zirkulation gesetzt werden. Schriftträger als Ressourcen der Literatur zu verstehen, bedingt also, Verfahren der Auswahl, Zurichtung und Umwandlung der Schriftträger, die Verläufe und Kreisläufe im Sinne von Verbrauch, Verfall, Zerstörung und Wiederverwertung von Büchern, Zeitschriften und Zeitungen, Manuskripten, Holz- und Wachstafeln etc. in den Blick zu rücken. Diese Prozesse können mit den herkömmlichen (inter)medialen Konzepten, dem Begriff der Schreibszene und der Perspektive der Dinggeschichte nur unzureichend beschrieben werden. Insbesondere die Affordanz verschiedener Materialien für Schreibgelegenheiten, die nicht nur das Schreiben, sondern auch das Produkt ›Buch‹ transformieren, macht Momente der industriellen Verschwendung und der künstlichen Verknappung sichtbar, deren ökologische Auswirkungen kaum erforscht sind. Das bedeutet auch, dass Schriftträger, besonders gedruckte, nicht per se Ressourcen sind, sondern immer nur dann, wenn sie effektiv oder mutmaßlich Teil einer Handlung werden, in der sie eine Umwandlung, Umwertung oder Vernichtung erfahren.12

2. Wendepunkt: (Waren-)Ökonomie der Schreibressource zur Zeit der Industrialisierung Einen maßgeblichen ressourcengeschichtlichen Wendepunkt für Schriftträger stellt die Kostensenkung in der Papierherstellung im 19. Jahrhundert dar. Für die Rotationspresse, die schon 1836 eine Druckleistung von 12.000 Blatt in der Stunde erzielen konnte, waren konventionelle Verfahren der Papierherstellung, bei der man Blatt für Blatt mit einem Sieb aus der mit Hadern gefüllten Bütte schöpfte, 10

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Vgl. Gabriele Jancke/Daniel Schläppi: Einleitung. Ressourcen und eine Ökonomie sozialer Beziehungen. In: Dies. (Hg.): Die Ökonomie sozialer Beziehungen. Ressourcenbewirtschaftung als Geben, Nehmen, Investieren, Verschwenden, Haushalten, Horten, Vererben, Schulden. Stuttgart: Steiner 2015, 7–33, hier: 17. Charlotte Zweynert: Papierene Ökonomien. Schreiberinnen und ihre Ressourcen um 1800. In: WerkstattGeschichte 86/2 (2022), 51–69, hier: 68. Vgl. Caspar Hirschi/Carlos Spoerhase: Kommerzielle Bücherzerstörung als ökonomische Praxis und literarisches Motiv. Ein vergleichender Blick auf das vorindustrielle und digitale Zeitalter. In: Kodex 3 (2013), 1–23.

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Ressource »Schriftträger«

nicht mehr ausreichend. Es wurden industrielle Verfahren der Papierproduktion bemüht, bei denen das Handschöpfen durch einen mechanischen Vorgang ersetzt wurde. Die Papiermaschinen konnten um 1830 bis zu acht Meter Papier pro Minute produzieren, um 1880 schon 60 und um 1900 120 Meter. Doch bestand weiterhin die begrenzte Verfügbarkeit des Rohstoffs Lumpen. Den Durchbruch brachte das von Friedrich Gottlob Keller 1843/44 erfundene Holzschliffverfahren. Es erlaubte, entrindetes Holz durch Schleifsteine so zu zerfasern, dass ein weicher, zur Papierherstellung geeigneter Holzstoff entstand. Zunächst stellte der Holzschliff noch einen Zusatz dar, der den Lumpen in etwa hälftigem Verhältnis beigemengt wurde. Als nach der Mitte des Jahrhunderts ein chemisches Verfahren erfunden wurde, die Fasern des Holzes aufzuschließen und einen Zellstoffbrei herzustellen, war ein nahezu unbegrenzt und billig zur Verfügung stehender Rohstoff für die Papierherstellung gewonnen.13 Die Papierflut befördert in erster Linie das periodische Zeitschriften- und Zeitungswesen, das für spezifische Formen moderner Literatur die Voraussetzung bildet. Teil des Schreibprozesses werden diese Schriftträger in der literarisch-künstlerischen Avantgarde, die sich die Ubiquität von Zeitungen und Zeitschriften zunutze macht und ausgeschnittene Buchstaben, Wörter und Sätze als Bestandteile ihrer Texte verwendet.14 Von den Zeitgenossen wird die erhöhte Produktion als Industrialisierung der Literatur reflektiert.15 Auch das Buch wird in diesem Kontext von der industriellen Revolution erfasst. Vom einstigen Luxusprodukt gerät es zum Massenartikel. Noch im 19. Jahrhundert beginnen Verlage wie S. Fischer und Reclam erste Taschenbuchreihen zu publizieren16 und befördern insgesamt einen Gebrauchswandel von Büchern, der im Unterschied zur vormaligen Wertzuschreibung eines mitunter intergenerationell besessenen Luxusgegenstands im schnelllebigen Verschleiß besteht. Diese Marginalisierung des Buchprodukts wird sinnfällig, wenn noch rund 50 Jahre später George Orwell in Pappe eingebundene Penguin Books für derart nichtig hält, dass er sie nicht einmal in die Wertkalkulation seiner Biblio-

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Vgl. Helmut Hilz: Buchgeschichte. Eine Einführung. Berlin/Bosten: de Gruyter/Saur 2019, 106f. Vgl. z.B. Anke te Heesen: Der Zeitungsausschnitt. Ein Papierobjekt der Moderne. Frankfurt a.M.: Fischer 2006; Juliane Vogel: Kampfplatz spitzer Gegenstände. Schneiden und Schreiben nach 1900. In: Helmut Lethen/Annegret Pelz/Michael Rohrwasser (Hg.): Konstellationen. Versuchsanordnungen des Schreibens. Wien: Vandenhoeck und Ruprecht 2013, 68–81. Vgl. Peter Stein: Schriftkultur. Eine Geschichte des Schreibens und Lesens. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006, 294. Die endgültige Etablierung des Taschenbuchs erfolgte allerdings erst gut 80 Jahre später in den 1950er Jahren. Vgl. Carlos Spoerhase: Rauchen oder Lesen? Zur Erforschung der Geschichte des Taschenbuchs. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 72 (2017), 239–243, hier: 239; Daniela Völker: Das Buch für die Massen. Taschenbücher und ihre Verlage. Marburg: Tectum 2014.

Martin Bartelmus, Yashar Mohagheghi, Sergej Rickenbacher: Einleitung

thek miteinbezieht.17 Demgegenüber wird im 19. Jahrhundert die Zugehörigkeit der sakrosankten Literatur zur herkömmlichen Warenwelt als Missverhältnis empfunden, wodurch das Bedürfnis entsteht, die Literatur und das Buch vor der allgemeinen Kommodifizierung und der allgemeinen Verfügbarkeit zu verwahren. So zeitigt gerade die mit der Industrialisierung des Buchmarktes einhergehende Fungibilität von Papiererzeugnissen das Erstarken einer ästhetisch orientierten Bibliophilie im späten 19. Jahrhundert. Wie sich die Kunstgewerbe- und Manufakturbewegung gegen die Massenproduktion im Allgemeinen wendet, so die Bibliophilie gegen die industrielle Fertigung und massenweise Konsumtion von Büchern. Als Abwehrstrategie sind vor diesem Hintergrund Rarefizierungspraktiken durch erhöhten Aufwand der Buchherstellung beliebt. Hintergrund ist dabei auch die mit der industriellen Papierproduktion einhergehende Zerfallsanfälligkeit von Papier, die sich nicht nur bei der Archivierung als Problem erweist, sondern in allgemeiner gesellschafts- und ökonomiekritischer Hinsicht als Nachhaltigkeitsmangel einer auf verschwenderische Überproduktion niedrigqualitativer Waren ausgerichteten Ökonomie empfunden wird. Die Qualitätdefizite betreffen dabei nicht nur das Papiermaterial, sondern auch Typographie, Illustration und Einbandgestaltung. Der Eindruck generischer Massenherstellung wird zumal verstärkt, da bestimmte auflagenstarke Verlage ihre Serien (etwa die ›Universal-Bibliothek‹ des Reclam-Verlags) mit einer kostensenkenden Standardisierung von Einband und Format verbanden.18 Gegen solche Uniformierungstendenzen richten sich Individualisierungsbemühungen in der Buchgestaltung, etwa durch Illustrationen, vergoldete Einbände, ornamentale Verzierung und die Nachahmung von historischen Buchdesigns. Insbesondere das gehobene Bürgertum fragt solche Bücher zum Zwecke sozialer Distinktion gegenüber den massenhaft vertriebenen Volks- und Klassikerausgaben nach.19 Zum neu gepflegten Bewusstsein der Seltenheit und Individualität von Büchern gehört auch der mit der Bibliophilie-Bewegung korrelierende Aufschwung des Antiquariatsbuchhandels.20 Zur Aufwendigkeit der materiellen Herstellung, die auf vorindustrielle Herstellungsweisen (Handpresse, Büttenpapier, Handschriftlichkeit) zurückgreift, treten dabei auch distributionsbezogene Formen künstlicher Verknappung qua Exklusivierung, die die Begrenzung der Buchzirkulation (u.a. Marktabschottung, Manuskript für Freunde) betreffen. Man kann somit insgesamt von einer Korrelation zwischen materieller Verschwendung und funktionaler Verknappung sprechen.

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Vgl. George Orwell: Books v. Cigarettes [1946]. In: Ders.: Essays. London/New York: Penguin 2000, 341–344, hier: 341. Vgl. Hilz: Buchgeschichte, 134. Vgl. ebd., 135. Vgl. ebd., 137.

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Ressource »Schriftträger«

Bei der verknappten Distribution in niedriger Auflage und im beschränkten Kreis erfreut sich die im 18. Jahrhundert gängige Publikationspraxis des ›Manuskripts für Freunde‹, etwa als Vorabdruck einer später allgemein zugänglichen Publikation, wieder vermehrt Beliebtheit. Die Exklusivierungsabsicht geht teilweise auch mit einer Ersetzung des Typoskripts durch das handschriftliche Manuskript einher.21 So wird beispielweise die Ausgabe von Mallarmés Dichtungen von 1887 mit dem Frontispiz von Félicien Rops in 40 plus 7 Exemplaren als Lithographie der Handschrift abgesetzt. Das Impressum verweist dabei ausdrücklich auf die niedrige Auflage durchnummerierter Exemplare, von denen sieben eigens mit Buchstaben beziffert und nicht verkäuflich sind.22 Im Kolophon zur Prachtausgabe von Stefan Georges Gedichtzyklus Der Teppich des Lebens von 1899, die der Jugendstilkünstler Melchior Lechter gestaltet hat, wird bei der Erwähnung der nummerierten Abzüge von 300 Stück sogar die Vernichtung der Platten erwähnt, um die Exklusivität zu betonen.23 Besonders prominent trat William Morris mit seiner 1891 gegründeten Kelmscott Press auf. Im Rahmen der englischen Arts and Crafts-Bewegung bemühte er sich um die Herstellung handwerklich qualitativer und ästhetisch ansprechender Bücher gegenüber den kostengünstigen Massenprodukten. Er griff dazu auf vorindustrielle Techniken und Materialien zurück: auf die Handpresse und eigens hergestelltes Hadernpapier. Bekannt sind insbesondere die 1896 veröffentlichten Works of Geoffrey Chaucer, in denen die Orientierung an mittelalterlicher Handschriftenkultur und Inkunabeldruck und ihrem Buchschmuck besonders sinnfällig wird. Die in den Prachtausgaben zur Schau gestellte anökonomische Verschwendung bringt auch die Aufkündigung des Effektivitätsprinzip in der Produktion zum Ausdruck: Der unbegrenzten Verfügbarkeit und Reproduzierbarkeit des Papierzellstoffs wird die begrenzte, gleichsam ›okkasionelle‹ Verfügbarkeit der Haderlumpe, die man erst finden muss, gegenübergestellt. Eine ostentative Ressourcenverschwendung, nämlich der Ressource Zeit, stellt auch die Betätigung der Handpresse dar. Solche Formen der Verschwendung sind dabei in sozialökonomischen Mustern der Zeit verortet, die Veblen in seiner Theory of the Leisure

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Zum ›Manuskript für Freunde‹ vgl. Carlos Spoerhase: »Manuscript für Freunde«. Die materielle Textualität literarischer Netzwerke, 1760–1830 (Gleim, Klopstock, Lavater, Fichte, Reinhold, Goethe). In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 88/2 (2014), 172–205. Les poésies de Stéphane Mallarmé, photolithographiées du manuscrit définitif à 40 exemplaires numérotés plus 7 exemplaires (A à G) non mise en vente et une épreuve justificative de la radiation des planches avec un ex-libris gravé par Félicien Rops. Paris : Éditions de la Revue indépendante 1887. Vgl. Stefan George/Melchior Lechter: Der Teppich des Lebens und die Lieder von Traum und Tod mit einem Vorspiel. Berlin: Blätter fuer die Kunst 1899.

Martin Bartelmus, Yashar Mohagheghi, Sergej Rickenbacher: Einleitung

Class von 1899 unter dem Begriff conspicuous waste als soziale Distinktionspraxis der wohlhabenden Besitzklasse beschreibt.24 Als Seitenmaterial für Prachtausgaben empfiehlt Otto Grautoff in seiner Entwicklung der modernen Buchkunst in Deutschland von 1901 japanisches und holländisches Büttenpapier.25 Auch Mallarmé hebt in seinem Essay Étalages von 1892 für bibliophile Ausgaben in kleinem Kreis »Altholland- oder Japanfolios« hervor.26 Zugleich ist aber neben kostbaren Materialien auch die Verwendung von Replikaten möglich. So schlägt Grautoff als Alternative für das teure Büttenpapier »einen qualitativ vorzüglichen […] Bütten-Hadern-Ersatz [vor], das [sic!] den geschöpften Papieren in Aussehen und Stoffmischung durchaus entspricht, aber um die Hälfte billiger ist«.27 In der Wirtschaftssoziologie der Zeit hat Werner Sombart diese mit der Industrialisierung aufkommende Imitation hochwertiger Waren durch kostengünstigere Alternativen für den gesamten Warenmarkt als Surrogierung bezeichnet.28 Die Rarefizierung muss also nicht zwangsläufig durch teure Materialien erfolgen. Vielmehr können auch kostengünstige Materialien zu Werkstoffen für bibliophile Ausgaben werden. Entscheidend ist der mit dem Maß der Arbeit zustande gebrachte Distinktionsgrad, der den Ausgaben ihren (nicht-monetären) Wert verleiht. Damit zielt die Rarefizierung insgesamt eher auf einen ›ideellen‹ Wert, auf ästhetische Valorisierung statt auf ökonomische Wertäquivalenzen, auch wenn er letztlich auf die ökonomische Funktionslogik bezogen bleibt. Die Verbindung von Warenökonomie und Schriftmaterialität zeigt sich in verdichteter Weise, wenn Gebrauchsobjekte zu Schriftträgern werden. Mallarmé hat die Benutzung vorfindlicher Gebrauchsgegenstände und ihre Umfunktionierung zu Beschreibstoffen zu einer regelrechten poetologischen Praxis erhoben. Als Beispiel kann hier eine Reihe von auf Fächern verfassten Gedichten genannt werden.29 Auch 24 25 26

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Vgl. Thorstein Veblen: Theorie der feinen Leute. Eine ökonomische Untersuchung der Institutionen. Übers. von Suzanne Heintz und Peter von Haselberg. Frankfurt a.M.: Fischer 6 2000. Vgl. Otto Grautoff: Die Entwicklung der modernen Buchkunst in Deutschland. Leipzig: Hermann Seemann Nachfolger 1901, 206. Stéphane Mallarmé: Kritische Schriften. Französisch und Deutsch. Hg. von Gerhard Goebel und Bettina Rommel. Übers. von Gerhard Goebel unter Mitarbeit von Christine LeGal. Gerlingen: Lambert Schneider 1998, 251. Grautoff: Die Entwicklung der modernen Buchkunst in Deutschland, 206. Vgl. Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus: historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 3/2: Der Hergang der hochkapitalistischen Wirtschaft, die Gesamtwirtschaft. München/Leipzig: Duncker & Humblot 1928, 623–627. Vgl. zur Surrogierung auch Dominik Schrage: Die Verfügbarkeit der Dinge. Eine historische Soziologie des Konsums. Frankfurt a.M.: Campus 2009, 145. Zur Fächerlyrik Mallarmés in Hinblick auf die Materialität des Fächerobjekts vgl. die Schriften von Cornelia Ortlieb: Weiße Pfauen, Flügelschrift. Stéphane Mallarmés poetische Papierkunst und die Vers de circonstance · Verse unter Umständen. Dresden: Sandstein 2020; Verse unter Umständen. Goethes und Mallarmés Schreib-Materialien. In: Christiane Heibach/Carsten Rohde

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für den Fächer gelten die für andere Waren greifenden Industrialisierungserscheinungen. Er war noch bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts ein Luxusprodukt, erfährt aber seit der Mitte des Jahrhunderts im Zuge kostengünstiger Produktionsweisen Verbreitung.30 Wenn der Fächer seinen vormaligen Luxusstatus einbüßt, dann verleihen ihm im Zeitalter der industriellen Reproduktion gerade Singularisierung und Personalisierung Seltenheitswert. Dazu gehören seine spezifischen materiellen Eigenschaften und der Umstand, dass gerade dieses singuläre Objekt zum Schriftträger wird. Die Aufwertung der Schreibkontingenz, wonach jeder Gegenstand potenziell zum Schreibobjekt werden kann, wird der technischen Reproduzierbarkeit des Papiers gegenübergestellt und hebt die Singularität des Schreibaktes und des Schriftmaterials hervor. Mallarmé thematisiert poetologisch die materielle Okkasionalität des Gelegenheitsgedichts, die an die Affordanz des Schriftträgers gebunden wird. Zur Verknappung gehört letztlich aber auch der Umstand, dass der Fächerautograph besessen wird. Am Beispiel der Verschwendung zeigt sich das Verhältnis von materiellen Praktiken und literarischen Poetologien im literarischen Ästhetizismus des späteren 19. Jahrhunderts besonders deutlich. Die hyperbolische Motivik kostbarer Materialien, die eine Enthebung der Literatur aus der Tausch- und Ressourcenökonomie zur Schau stellen soll, findet Entsprechung in den materiellen Rarefizierungspraktiken. Dass die materielle Realität, anders als die hyperbolischen Imaginationen der Literatur, freilich an ihre Grenzen stößt, indem die Prachtausgabe letztlich im System der Tauschäquivalenzen verhaftet bleibt, macht indes die Differenz von konkreter Materialität und virtuellen Dingwelten deutlich.

3. Aussichtspunkt: Für eine ökologische Nachhaltigkeit der Schriftträger Die bibliophile Bewegung valorisiert nicht nur die Literatur mittels luxuriöser Praktiken; im Gegensatz zu Zeitschriften, Zeitungen und Taschenbüchern mit ihren kurzen Lebenszyklen und ephemeren Erscheinungsformen sind Prachtausgaben auch als beständige Schriftträger konzipiert. Die Bewegung schließt sich damit

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(Hg.): Ästhetik der Materialität. Paderborn: Wilhelm Fink 2015, 173–196; Papierflügel und Federpfau. Materialien des Liebeswerbens bei Stéphane Mallarmé. In: Renate Stauf/Jörg Paulus (Hg.): SchreibLust. Der Liebesbrief im 18. und 19. Jahrhundert. Berlin/Boston: de Gruyter 2013, 307–329. Zur konsumkulturellen Einordnung vgl. Yashar Mohagheghi: Literatur als Accessoire: Konsum, Besitz und Gebrauchsformat in Mallarmés Fächergedichten. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 131/3 (2021), 270–289. Vgl. Hélène Alexander: Fans. London: Batsford 1984, 47, 61–63, 76; Erin E. Edgington: Fashioned Texts and Painted Books: Nineteenth-Century French Fan Poetry. Chapel Hill: U.N.C. Department of Romance Studies 2017, 27, 29, 81.

Martin Bartelmus, Yashar Mohagheghi, Sergej Rickenbacher: Einleitung

dem Phantasma der Dauerhaftigkeit von Schrift und ihren Trägern an, das die Kulturgeschichte seit ihren Anfängen bis in die Gegenwart bestimmt,31 und widersetzt sich der Beschleunigung und Vergrößerung der Papierproduktion, der Dynamisierung, der Distribution und vor allem auch der Verknappung. Mit der Ressource Schriftträger wird insofern in mehrfachem Sinn nachhaltig umgegangen. Nachhaltigkeit wird bekanntlich im Brundtland-Bericht mit dem Titel Our Common Future 1987 ökonomisch, sozial und ökologisch perspektiviert und durch den Term ›sustainable development‹ einem Fortschrittsparadigma eingeschrieben.32 Vorläufer dieses Konzepts war der Bericht des Club of Rome 1972: In der Publikation mit dem Titel Limits to Growth artikuliert sich eine Korrelation von Wachstum und Gleichgewicht, die Leander Scholz als politische Ökologie bezeichnet.33 In den 1990er Jahren erfolgte die Erweiterung auf eine kulturelle Perspektive. Dass Literatur und mit ihr die Schriftträger an sozialer und kultureller Nachhaltigkeit beteiligt sind, gehört zum genuinen Selbstverständnis sowohl des Literaturbetriebs als auch der Philologien. Die Sorge um die materielle und ökonomische Sicherung begleitet den Buchmarkt seit der Erfindung des Buchdrucks.34 Vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit erhielten bis dato sowohl in der Forschung als auch in der Literatur dagegen die vergangenen sowie gegenwärtigen Auswirkungen der Papier- und Buchproduktion sowie -konsumtion auf die menschliche und nichtmenschliche Umwelt. Der Ressourcenverbrauch vergangener Jahrhunderte für die Papierproduktion kann kaum exakt festgestellt werden. Einzelne Zahlen lassen aber einen großen Materialumsatz seit dem 18. Jahrhundert vermuten. Johann Beckmann erläutert in seiner Anleitung zur Technologie 1777 nicht nur, dass bereits seit dem 13. Jahrhundert Lumpen die Ressource für die Papierproduktion darstellen. 300 Tonnen dieses textilen Abfallprodukts verbrauchten ihm zufolge allein zwei Papiermühlen in Hamburg in einem Jahr.35 Sandra Schultz, die sich mit der Geschichte der Papiermühle befasst

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Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 2018, 179–196. Vgl. Volker Hauff (Hg.): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Greven: Eggenkamp-Verlag 1987. Ferner: vgl. dazu Ulrich Grober: Die Entdeckung der Nachhaltigkeit. Kulturgeschichte eines Begriffs. München: Verlag Antje Kunstmann 2013, 19. Vgl. Donella Meadows u.a.: The Limits to Growth. A Report for the Club of Rome’s Project on the Predicament of Mankind. New York: Universe Books 1972. Ferner: vgl. dazu Leander Scholz: Die Regierung der Natur. Ökologie und politische Ordnung. Berlin: August Verlag 2022, 29f. Vgl. Hirschi/Spoerhase: Kommerzielle Bücherzerstörung, 11–21. Vgl. Johann Beckmann: Anleitung zur Technologie, oder zur Kentniss der Handwerke, Fabriken und Manufacturen, vornehmlich derer, die mit der Landwirthschaft, Polizey und Cameralwissenschaft in nächster Verbindung stehn Nebst Beyträgen zur Kunstgeschichte. Göttingen: Verlag der Witwe Vandenhoeck 1777, 67.

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hat, versteht angesichts der Größe dieses Kreislaufes das »Papier als vollständiges Recyclingprodukt avant la lettre«.36 Etwa 120 Jahre später, 1897, verbraucht die gesamte Papierproduktion im Deutschen Reich 180.000 Tonnen Lumpen.37 Angesichts dieses großen Ressourcen- und damit Kapitalbedarfs war die Frage nach der Wiederverwertbarkeit von Papier bereits früh präsent. 1774 publizierte Justus Claproth Erfindung aus gedrucktem Papier wiederum neues Papier zu machen auf eben jenem recycelten Papier. 1800 meldet der britische Papiermacher Matthias Koops das Patent zur Herstellung von Papier aus Altpapier an.38 Der erste Kreislauf der Wiederverwertung sollte also, vorerst wegen der Papierqualität noch erfolglos, um einen zweiten ergänzt werden. Doch weder der Umfang des Lumpenrecyclings noch die Absicht der Implementierung eines zweitens Kreislaufs der Wiederverwertung lassen die Papierproduktion zu einem ökologisch nachhaltigen Wirtschaftszweig werden. Die Zahlen allein sagen noch nichts darüber aus, wie effizient die Papiermühlen und -fabriken sind, wie viel und welche Art von Energie zum Einsatz kommt, welche Mengen Wasser verbraucht werden, welche nicht wiederverwertbaren Abfallstoffe ausgestoßen werden, wie viel menschliche oder tierliche Arbeitskraft benötigt wird oder welche Maschinen zum Einsatz kommen. Wenn die ökologischen Effekte des Papierbedarfs retrospektiv nicht mehr genau zu quantifizieren sind, so sind sie doch als solche identifizierbar. Zum einen werden giftige Stoffe zur Papierherstellung gebraucht oder in ihrem Zuge produziert. Bereits bei der Verarbeitung von Lumpen spielen Chemikalien wie Chlor und andere Farb- und Färbestoffe eine entscheidende Rolle. Um aus Holz Papier zu machen, werden im Verlauf des 19. Jahrhunderts zwei chemische Verfahren entwickelt, 1851 das Natronverfahren und 1879 das Sulfatverfahren.39 Richard Maxwell und Toby Miller stellen fest, dass seit 1800 kohle- und dampfbetriebene Druckverfahren nicht nur 36 37

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Sandra Schultz: Ein neues Handwerk. Die ersten Papiermühlen im deutschen Südwesten und ihre Papiermacher. In: WerkstattGeschichte 86/2 (2022), 15–32, hier: 24. Vgl. Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. 6., gänzlich neubearbeitete und vermehrte Auflage. 20 Bände mit 155.000 Stichwörtern. Band 15. Leipzig 1908: Bibliographisches Institut, 388–396. Allerdings verändern sich zu jener Zeit auch die Ressourcen für die Papierproduktion. Während im ausgehenden 18. Jahrhundert Lumpen noch die Hauptressource darstellen, sind es 1897 neben den 180.000 Tonnen Lumpen 83.000 Tonnen Papierabfälle, 296.000 Tonnen Holzschliff und 215.000 Tonnen Zellulose, die in der Papierproduktion verbraucht werden. Davon entfallen wiederum 43 % auf die Herstellung von Büchern, Zeitungen und Zeitschriften. Vgl. Matthias Koops: Historical Account of the Substances which Have Been Used to Describe Events, and to Convey Ideas, from the Earliest Date, to the Invention of Paper [1800]. Cambridge: Cambridge University Press 2010. Vgl. dazu Heinz Schmidt-Bachem: Aus Papier. Eine Kulturund Wirtschaftsgeschichte der Papier verarbeitenden Industrie in Deutschland. Berlin/Boston: de Gruyter 2011, 682. Vgl. Joachim Radkau: Holz. Wie ein Naturstoff Geschichte schreibt. München: oekom-Verlag 2007, 245f.

Martin Bartelmus, Yashar Mohagheghi, Sergej Rickenbacher: Einleitung

die Stückzahlen hergestellten Papiers vervielfachen, sondern im Verlauf der Papierherstellung immer mehr synthetische Stoffe in die Umwelt gelangen. Insbesondere das Natronverfahren stößt giftige Nebenprodukte und Kohlendioxid aus.40 Zum anderen steigt der Energiebedarf mit den stärker maschinisierten Verfahren zunehmend an. Setzten Papiermühlen auf Wasser-, Tier- und Menschenkraft, brauchen Papierfabriken im 19. Jahrhundert eine ganze Palette von Energieressourcen, die zu einem Netzwerk verschaltet wurden, wie sich am Beispiel der kaiserlich-königlichen Hof- und Staatsdruckerei in Wien vorführen lässt: Eine »unterirdische Eisenbahn« transportiert Steinkohle für die Dampfkessel, »24.000 Kubikfuß Gas« lassen »700 Gasflammen« leuchten, dienen aber auch dem Löten und Erwärmen, und jedes Stockwerk wird mit »warme[m] und kalte[m] Wasser« versorgt.41 Es zeichnet sich eine Papier- und Buchindustrie in Europa ab, die aus einem Netzwerk aus verschiedenen Ressourcen, Maschinen und Menschen besteht. Ist somit Papier wirklich als Recyclingprodukt avant la lettre zu bezeichnen, wie es Sandra Schultz behauptet?42 Wenn zudem die Produktion von einem Kilogramm Papier im ausgehenden 18. Jahrhundert 1500 Liter Wasser benötigte,43 so ist es beinahe unausweichlich, dass Gewässer verunreinigt werden. Aber auch Menschen, die in der Papierproduktion arbeiten, können gesundheitliche Schäden davontragen.44 Ein Blick auf den ökonomischen und ökologischen Zusammenhang von Menschen und Papierproduktion findet sich in Bettine von Arnims Dies Buch gehört dem König von 1843 (der zweite Teil wird 1852 veröffentlicht). Sie verleiht dort dem Lumpenbzw. Papierproletariat eine Stimme. Es sind vornehmlich Frauen (Töchter und Mütter), die in »Papierfabriken«45 arbeiteten, um ihre Familien zu unterstützen.46 Vor allem verarmte Menschen versuchten sich u.a. mit dem Sammeln von Papier und Knochen über Wasser zu halten. Während das Papier für den Recyclingprozess in der Papierindustrie verwendet wurde, ließ sich aus den Knochen wegen ihres Phosphatgehalts Düngemittel für die Agrarwirtschaft herstellen.47 Trotz einiger Ausnah-

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Vgl. Richard Maxwell/Toby Miller: Greening the Media. Oxford/New York: Oxford UP 2012, 48. Franz Luckenbacher/Oscar Mothes/Julius Zöllner: Einführung in die Geschichte der Erfindungen. Bildungsgang und Bildungsmittel der Menschheit. Leipzig/Berlin: Verlagsbuchhandlung von Otto Spamer 1864, 386. Vgl. Sandra Schultz: Ein neues Handwerk, 24. Vgl. Christian Benne: Die Erfindung des Manuskripts zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit. Berlin: Suhrkamp 2015, 203. Vgl. Maxwell/Miller: Greening the Media, 43. Bettine von Arnim: Dies Buch gehört dem König [1843/1852]. Frankfurt a.M.: Insel 1982, 417. Vgl. ebd., 417 und 425. Vgl. ebd., 427, 442 und 443. Zur Düngemittelproduktion vgl. Bärbel Rott: Einige Aspekte zur Rolle von Phosphor in der Geschichte der Menschheit. In: Stefan Emeis/Kerstin Schlögel-Flierl (Hg.): Phosphor. Fluch und Segen eines Elements. München: oekom Verlag 2021, 99–114, hier: 103–106.

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men, wie Bettine von Arnim, spielen soziale und ökologische Zusammenhänge der Papierproduktion in der Literatur kaum bis gar keine Rolle. Warum? Liegt es, wie Maarten Doorman erklärt, an der »Romantic Order«,48 dem romantischen Subjektbegriff, der den meist männlichen Künstler als Genie festschreibt? Hatte die Romantik nicht bereits die »Schrift mit Natur verwechselt«49 und sich damit konsequent einer ökologisierenden Poetisierung trotz hoffnungsvoller Zuschreibungen verweigert? Oder liegt es, wie David Abram forciert, am Gebrauch der Schrift selbst, die den Menschen von der Umwelt entkoppelt und in eine imaginative Welt der Zeichen entführt?50 Eine Voraussetzung für das Bewusstsein der ökologischen Dimension von Schriftträgern als Ressourcen ist dabei, dass sie als Objekte wahrgenommen werden.51 Indem Schriftträger in ihrer konkreten Objekthaftigkeit erkannt werden, und nicht bloß als Text,52 wird ihre Einbettung in soziale, ökonomische und ökologische Zusammenhänge transparent. Forschungsansätze wie etwa die SchreibszenenForschung,53 die Schriftbildlichkeit-Forschung und die critique génétique hingegen registrieren die Verschränkung von Schrift und Papier in ihrer dreidimensionalen Gestalt kaum,54 und scheinen zu ignorieren, dass Bücher, genauso wie andere vom Menschen auf Basis von materiellen, verbrauchbaren Ressourcen hergestellte Waren, Effekte auf die Umwelt haben. Die Industrialisierung und die damit einhergehende Verbilligung des Papiers etabliert eine Buchkultur, in der Bücher 48

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Maarten Doorman postuliert die These bereits 2004 in De Romantische Orde. Amsterdam: Uitgeverij Bert Bakker. Vgl. dazu Sacha Kagan: Art and Sustainability. Connecting Patterns for a Culture of Complexity. Bielefeld: transcript 2 2013. Friedrich Kittler: Grammophon/Film/Typewriter. Berlin: Brinkmann & Bose 1986, 18. Vgl. David Abram: Im Bann der sinnlichen Natur. Die Kunst der Wahrnehmung und die Mehr-alsmenschliche Welt. Klein Jasedow: thinkOya 2012. Zu einem Forschungsansatz, der das Buch als Objekt in seiner konkreten Dreidimensionalität untersucht, vgl. Carlos Spoerhase: Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne. Göttingen: Wallstein 2016. Auf inhaltlicher Ebene ist Literatur durchaus ökologisch, wenngleich, wie Evi Zemanek erklärt, entweder ökologisch engagiert oder konzipiert. Auch Hubert Zapfs Ansatz literarisches Schreiben als »Medium einer kulturellen Ökologie« zu verstehen, ›vergisst‹, die Materialität von Texten, zum Beispiel als Buch. Vgl. Evi Zemanek: Ökologische Genres und Schreibmodi. Naturästhetische, umweltethische und wissenspoetische Muster. In: Dies.: Ökologische Genres. Naturästhetik – Umweltethik – Wissenspoetik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2018, 9–56, hier: 9. Ferner: Hubert Zapf: Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans. Berlin/Boston: de Gruyter 2002. Philip Ajouri richtet deshalb seinen Blick auf »Druckszenen«, um die Technikgeschichte mit in Betracht zu ziehen. Aber auch hier fehlt ein ökologischer Ansatz. Vgl. Philip Ajouri: Druckszenen. Zur Bedeutung der Buchformate von Werkausgaben kanonischer Dichter (ca. 1790 bis ›um 1900‹). In: Christian Benne/Carlos Spoerhase (Hg.): Materialität. Von Blättern und Seiten. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2020, 49–70. Vgl. Spoerhase: Linie, Fläche, Raum, 47.

Martin Bartelmus, Yashar Mohagheghi, Sergej Rickenbacher: Einleitung

tonnenweise vernichtet werden können.55 Die Remissionsquote der europäischwestlichen Buchkultur verweist auf einen blinden Fleck im Bewusstsein um die Ressource Schriftträger und ihre ökologischen Auswirkungen. In dieser Perspektive müssen aber auch Theorien der Schrift wie Derridas Grammatologie um die ökologische Dimension, wie sie von Maxwell und Miller, aber auch von Jussi Parikka beschrieben wird,56 erweitert werden, gerade im Anschluss an Derridas eigenen Begriff der ›biologischen Abbaubarkeit‹ (biodegradability) von Schrift.57 In Abwandlung einer Erkenntnis von Parikka gilt zwar, dass Schriftträger »are of nature, and return to nature«,58 doch ihre biologische Abbaubarkeit, letztlich die Frage danach, was von der Schrift bleibt, endet, lakonisch formuliert, schließlich in der Umweltverschmutzung. Aleida Assmann hat mit Bezug auf Derridas Auseinandersetzung mit der Frage nach der biologischen Abbaubarkeit von kulturellen Artefakten die Affinität zu Begriffen wie Dauer, Rest und Konservierung, mithin aber zur Metaphorik des Kompostierens hervorgehoben.59 Während Derrida die Dauerhaftigkeit von Schrift in der Signatur des Eigennamens, der spezifischen Schreibweise60 und im Schriftträger (Papier, Diskette, Server usw.) begründet sieht,61 verorten Gilles Deleuze und Félix Guattari sie im Wechselspiel von Empfindung, Affekt und Material, das sich im Kunstwerk manifestiert. Dabei gibt die Dauer des Materials die Lebenszeit der Empfindung vor.62 Komponieren und Kompostieren scheinen damit enggeführt zu werden. Deren Nexus hebt auch etwa Donna Haraway hervor, die mit Blick auf den Begriff des Kompostierens die konstitutive Verschränkung von Mensch, Text und Schriftträger theoretisiert.63 Solche Ansätze können für eine theoretische Auseinandersetzung mit der Nach-

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Vgl. Hirschi/Spoerhase: Kommerzielle Bücherzerstörung, 4. Vgl. Jussi Parikka: Green Media Times: Friedrich Kittler and Ecological Media History. In: Archiv für Mediengeschichte 13 (2013), 69–78. Allgemein: Ders.: A Geology of Media. Minneapolis: University of Minnesota Press 2015. Vgl. Claire Colebrook: The Twilight of the Anthropocene: Sustaining literature. In: Adeline Johns-Putra/John Parnham/Louise Squire (Hg.): Literature and Sustainability: Concept, Text and Culture. Manchester: Manchester UP 2017, 115–136. Ferner: Matthias Fritsch/Philippe Lynes/ David Wood: Eco-Deconstruction. Derrida and Environmental Philosophy. New York: Fordham UP 2018. Und: Jacques Derrida: Biodegradables: Seven Diary Fragments. In: Critical Inquiry 15 (1989), 812–873. Jussi Parikka: The Materiality of Media and Waste. 2011. https://www.kabk.nl/en/lectorates /design/the-materiality-of-media-and-waste (zuletzt abgerufen am 06.01.2023). Vgl. Assmann: Erinnerungsräume, 348–358. Vgl. ebd., 351. Vgl. ebd., 352. Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: Was ist Philosophie? Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, 229. Vgl. Donna Haraway: Staying with the Trouble. Making Kin in the Chthulucene. Durham/London: Duke UP 2016, 55.

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haltigkeit von Schriftträgern erprobt werden, die der vorliegende Sammelband bestärken, aber nicht abschließend erörtern kann und will.

4. Zu den Beiträgen Der erste Abschnitt Poetologien des Schriftträgers: Zwischen Sprach- und Artefaktmaterialität versammelt Aufsätze, die sich dem Schriftträger über seine poetologische Beziehung zur Sprache und Schrift nähern. Reinhard M. Möller widmet sich den recycelten Schriftträgern und ihren poetologischen Möglichkeiten. In seinem Beitrag Crossreading, Crosswriting, MakulaturLektüre. Poetiken des recycelten Schriftträgers bei Whitefoord, Lichtenberg und Jean Paul zeigt er die produktive Rolle der Makulatur auf: Autor*innenschaft wird einerseits als an die Materialität übertragen inszeniert und andererseits in die Praxis des kreativen Kompilierens des Materials verlagert. Der Beitrag Die Nachhaltigkeit der Prachtausgabe. Materialität und Ressourcenökonomie bei Stefan George von Yashar Mohagheghi zeigt auf, dass Stefan Georges Werk eng mit ressourcenökonomischen Verhandlungen zwischen Verschwendung und Verknappung in Verbindung steht. Schon in der Lyrik wird in der Spannung zwischen motivischem Materialexzess und formaler Sprachverknappung eine Dialektik sichtbar, die sich auch in Georges Publikationspolitik manifestiert. An Georges Prachtausgaben wird nachgewiesen, dass deren Materialverschwendung und Rarefizierungspraktiken sich gerade in der Negation von ökonomischer Äquivalenzierung behaupten und von herkömmlichen Wert- und Marktlogiken zu lösen vorgeben. David-Christopher Assmann untersucht in seinem Beitrag Ressource Müll. Zu einem textmateriellen Verfahren bei Georg Heym (November) Müll als materielle und poetologische Ressource. Anhand des Sonetts November von Georg Heym lotet er das Paradigma der Brauchbarkeit und Unbrauchbarkeit von Ressourcen aus. Im Zentrum stehen der materielle Schriftträger Papier, das Notizbuch sowie poetologische Verfahren der Verwertung, Verdichtung und des Aussortierens, die im Gedicht erprobt werden. Insbesondere die »Hinterseite« des Papiers, auf der auch geschrieben wird, performiert »Dichter-Mülle«, also nicht nur den ideellen, sondern auch den materiellen Gehalt von Lyrik. Caroline Torra-Mattenklott entfaltet die vielfältigen Dynamiken zwischen Verschwendung und Nachhaltigkeit, Schriftträger und Textmaterial, hyberbolischem Gestus und konkreter Realisierung, Luxus und arte povera, die die künstlerische Kollaboration von Blaise Cendrars und Sonia Delaunay-Terk konstituiert. Ihr Aufsatz Papier als elastisches Medium. Potentialität und Raumökonomie in Blaise Cendrarsʼ und Sonia Delaunay-Terks Leporello-Gedicht »La Prose du Transsibérien et de la Petite Jehanne de France« demonstriert, dass aufwendige Technik und kostspielige Materialien die Nachhaltigkeit von Kunstwerken nicht zwangsläufig garantieren, sondern auch

Martin Bartelmus, Yashar Mohagheghi, Sergej Rickenbacher: Einleitung

der Anspruch des künstlerischen Konzepts sowie die Rarefizierung ebenfalls die kulturelle Relevanz zu sichern vermögen. Die Beiträge des zweiten Abschnitts Agentialität und Affordanz: Schriftträger in Schreibverfahren untersuchen den Eigensinn des Schriftträgers und die Interaktionsoptionen, die er anbietet. Hier treten die Schriftträger als Akteure des Schreibprozesses auf. Cornelia Ortlieb widmet sich Stéphane Mallarmé und betrachtet dessen Praxis des Beschreibens von Steinen. In ihrem Beitrag Leicht wie Stein. Stéphane Mallarmés Verse aus dem Meer stellt sie dar, wie die Adressierung der beschriebenen ›Naturdinge‹ an Freunde und Bekannte sowie der subtile Anspielungsreichtum in Hinblick auf den Entstehungs- und Verwendungskontext die Poetik des Gelegenheitsgedichts zuspitzen. Zugleich scheint Mallarmé mit der Verwendung des fast unbegrenzt verfügbaren Reservoirs an angeschwemmten Strandsteinen auch deren Ressourcencharakter zu thematisieren: Mit der spielerischen Akzentuierung ihres ›organischen‹ Lebenszyklus scheint damit auch ein Gegenmodell zu industriellen Gebrauchszyklen impliziert zu werden. Sergej Rickenbacher erschließt in seinem Beitrag Franz Fühmanns Klebetyposkripte. Zur Verbindung proletarischer und künstlerischer Arbeit in der DDR mittels Beschreiben und Zerschneiden von Schriftträgern, wie Franz Fühmann in der Auseinandersetzung mit der Arbeits- und Kulturpolitik der DDR ein singuläres Schreibverfahren entwickelt, das ihm eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis von Arbeit und Literatur ermöglicht. Seine Klebetyposkripte imitieren dreidimensional das Rohstoffreservoir ›Bergwerk‹ und bilden gleichzeitig die materielle Ressource für Fühmanns sinnstiftende Analogie des literarischen Schreibens als Montanindustrie. Anke Bosse macht in ihrem Beitrag Freund, Fetisch, Phantasma. Josef Winklers Notizbücher deutlich, welche Rolle eine intime Beziehung zwischen Schreibenden und Beschriebenen einnehmen kann: Indem sie das Konzept ›Schreibszene‹ durch Theatralität und Affordance-in-Interaction ergänzt, entwickelt Bosse das Wechselspiel zwischen Schreiben und Schriftträger weiter. Winklers zwischen Fetisch, Freundschaft und Phantasma oszillierende Beziehung zum Notizheft wird so zur Ressource, die Winkler nicht nur mit Text, sondern auch mit Bildern und Umschlägen ästhetisch versorgt. Sie werden so nicht nur für das Schreiben nachhaltig, sondern auch als eigensinnige Akteure ausgezeichnet. Im dritten Abschnitt Kreisläufe: Recycling, Serialisierung und Zerstörung von Schriftträgern werden Schriftträger in ihrer Quantität betrachtet. Die Beiträge untersuchen den Umgang mit einer beinahe unüberschaubaren Menge von Schriftträgern und wie diese gesammelt, geordnet oder auch vernichtet werden. Dominik Erdmann spürt in seinem Beitrag Kosmischer Müll. Papiervernichtung und -recycling als Basis der Weltwissenschaft anhand der Collectanea zum Kosmos Alexander von Humboldts Umgang mit Papier nach und legt offen, dass in dessen Schreibprozess der Papierkorb und der Ofen wichtige Instrumente der kontinuierlichen

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(Re)Organisation sowie des Recyclings seiner Schriften sind, die wegen der wachsenden Wissens- und Materialfülle ständig in Dysfunktionalität abzugleiten drohen. Die Nachhaltigkeit von Humboldts Wissen setzt die Zerstörung der Schriftträger voraus. Anhand der Sammlung Ludwig Darmstaedter führt Julia Steinmetz in Das UNIKAT in SERIE. Die Autographensammlung als Ressource der Wissenschaftsgeschichte vor, wie die Autographe von bekannten Wissenschaftler*innen zu einer Ressource der Wissenschafts- und Technikgeschichte werden. Ihre Nutzbarmachung für das historiographische Projekt bedingt aber die Integration des singulären handschriftlichen Zeugnisses und seines auratischen Charakters in eine chronologische Ereigniskette, was wesentlich die serielle Organisation der heute 250.000 Papierobjekte zählenden Sammlung leistet. Laura Basten entziffert in ihrem Beitrag Eugenische Publikations-Szene. Wilhelm Ostwald zwischen Recycling und Veredelung den Widerstand der Ressource Schriftträger. Gerade dort, wo Wilhelm Ostwald diktatorisch über das Papier, seine Formatierungs- und Beschriftungsbedingungen wacht, und somit eine Publikations-Szene sichtbar wird, zeigen sich patriarchale und eugenische Denkmuster, die sich im Umgang mit der Ressource Papier wiederholen und einschreiben. Die etablierte Metapher der ›Autorenbibliothek‹ als Organismus denkt Martina Schönbächler in ihrem Beitrag Das Korpus der Autor*in. Die ›Autorenbibliothek‹ als Ort des Stoffwechsels weiter. Da eine ›Autorenbibliothek‹ Grenzen zwischen Büchern, handschriftlichen Annotationen und Spuren von menschlichem und nicht-menschlichem Leben verwischt, plädiert Schönbächler für die Ersetzung der Verdauungsmetaphorik durch das Konzept des Pilzmyzels, das zwar, ähnlich wie Tiere und Menschen, aus seiner Umgebung Energie bezieht, jedoch hierfür keine Organe braucht und dezentral organisiert ist. Im vierten und letzten Abschnitt Transformationen: Ressourcen und Nachhaltigkeit sind Beiträge versammelt, die Schriftträger stärker in Bezug auf Nachhaltigkeit perspektivieren. Die Texte untersuchen den Nexus von ökonomischen und ökologischen Effekten, die mit der Ressource Schriftträger einhergehen. Martina Wernli untersucht in ihrem Beitrag Erzählstoff Papier. Sprechendes Flachs und stinkende Haderlumpen den Beschreib- und Erzählstoff »Flachs« in dingtheoretischer Perspektive. Dabei geht sie einerseits auf die historischen und sozio-ökonomischen Dimensionen der frühen Papierherstellung aus Lumpen ein, um andererseits diese Technikgeschichte mit Geschichten, Märchen und It-Narrativen zu konterkarieren. Damit belegt sie, wie Material, zur Sprache gebracht, kritisches Potenzial entfaltet. Alexander Nebrig theoretisiert in seinem Beitrag Die Ressourcen der Interlinearversion und der nachhaltige Umgang mit dem Original bei Goethe, Pannwitz und Benjamin die Interlinearversion als ressourcenschonende Praxis des Übersetzens. Voraussetzung dafür ist aber ein Zeilenzwischenraum, der eine spezifische Ökonomie der Über-

Martin Bartelmus, Yashar Mohagheghi, Sergej Rickenbacher: Einleitung

setzung aufzeigt. So wird auch die semiotische Dimension des Ressourcenbegriffs sichtbar, die an das Ausgangsmaterial der Übersetzung geknüpft ist. Daraus leitet sich dann ein nachhaltiger Umgang mit dem Original, mithin eine Konstellation einer nachhaltigen Hermeneutik, ab – und zwar nicht nur ideell, sondern auch materiell. In ihrem Beitrag »Papierbedarf: 0,3 Tonnen«. Umgang mit Ressourcen im Mitteldeutschen Verlag (Halle/Saale) in den 1960er Jahren untersucht Marlene Kirsten die kulturpolitische Dimension von Papierknappheit am Beispiel des Mitteldeutschen Verlags. Dabei wird die Nachhaltigkeit insbesondere in Hinblick auf die Wirtschaftlichkeitsperspektive des Verlagswesens in der DDR und die Förderpolitik von Nachwuchsautor*innen als Humanressource akzentuiert. Martin Bartelmus beschreibt in seinem Beitrag Die Rückkehr des Schriftträgers. Postdigitale Literatur und ihre Nachhaltigkeit die Bewegung der sogenannten postdigitalen Literatur zurück zur Materialität des Buches. Diese zombiesken Artefakte werden nicht mehr gelesen, sondern stellen die kapitalistischen Produktionsbedingungen des Kulturguts ›Buch‹ aus. Ferner lässt sich an den Konzepten dieser NichtBücher die ökologische Dimension des Buchmarkts ablesen. In Bezug auf Jacques Derridas Verständnis von »biodegradability« lautet die Frage auch in der digitalisierten Gegenwart: Was bleibt vom Schriftträger? *** Wir danken für die großzügige Unterstützung der Open-Access-Publikation durch die Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Ebenfalls danken wir der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein für die großzügige Förderung der Drucklegung des Bandes.

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I. Poetologien des Schriftträgers: Zwischen Sprach- und Artefaktmaterialität

Crossreading, Crosswriting, Makulatur-Lektüre Poetiken des recycelten Schriftträgers bei Whitefoord, Lichtenberg und Jean Paul Reinhard M. Möller

1. Die Ästhetisierung der Zeitungsseite als produktiver Missbrauch des Schriftträgers: Caleb Whitefoords ›Erfindung‹ des Cross-Reading Das späte 18. und frühe 19. Jahrhundert kennen verschiedene mehr oder minder prominente literarische Verfahren bzw. Verfahrensinszenierungen, welche eine Textgenese aus dekomponierten oder ›entwerteten‹ und dann neu zusammengesetzten, also wiederum aufgewerteten Schriftträger-Materialien vorführen. Sie verbinden hiermit in der Regel spezielle Modelle einer heteronom inspirierten Autorschaft, die sich von den in dieser Epoche erfundenen Konzepten auktorialer Autonomie, Originalität und Genialität subversiv absetzen. Entsprechende Verfahren lassen sich somit generell als Formen des kreativen literarischen Text-Recycling beschreiben. Sie unterscheiden sich auch von anders ausgerichteten Verfahren einer Inszenierung auktorialer Heteronomie in der Epoche wie etwa der relativ umfänglich erforschten literarischen Technik der Herausgeberfiktion: Anders als letztere Verfahren, welche eine solche Inszenierung vor allem auf die Ebene der Textualität im nicht-materiellen Sinn beziehen, soll es im folgenden Beitrag vor allem um Imaginationen und konkrete Inszenierungen heteronomer Autorschaft im Zeichen einer De- und Rekomposition des Schriftträgers gehen. Eines dieser inszenierten poetogenen Recycling-Verfahren, die vermeintlich entwertetes Papier- und Schriftmaterial zum Ausgangspunkt literarischer Textgenese machen, bezieht sich auf die im mittleren 18. Jahrhundert zunehmend als zentrales Organ der medialen Öffentlichkeit etablierte Tageszeitung, deren charakteristische Aufgabe unter anderem in der Verbreitung tagesaktueller ephemerer Neuigkeiten lag und liegt: Es handelt sich um das Crossreading.1

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Zumindest im Falle von reinen ›Nachrichtenblättern‹ beinhaltet die Transformation von Zeitungstexten in literarische Texte eine doppelte Grenzüberschreitung: Zum einen handelt es

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Poetologien des Schriftträgers: Zwischen Sprach- und Artefaktmaterialität

Die 1766 erstmals vorgelegten »Cross-Readings« des schottischen Weinhändlers und Diplomaten Caleb Whitefoord präsentieren ein innovatives literarisches Verfahren der Textgenese aus einer Dekomposition und Rekombination von Schriftmaterial, in diesem Fall aus Einzelausgaben einer Londoner Tageszeitung. Die Kolumnenanordnung der typischen Zeitungsseite, bei der zwei vertikal von oben nach unten zu lesende Artikel durch einen Strich getrennt nebeneinander stehen, wird hierbei im Sinne eines inszenierten ›Fehllesens‹ ignoriert – stattdessen werden zwei horizontal nebeneinanderstehende Sätze oder Satzfragmente zweier unterschiedlicher Artikel zusammengelesen, so als wären sie ein Text, obwohl sie inhaltlich eigentlich gar nichts miteinander zu tun haben. Das Prinzip des im 18. Jahrhundert noch neuen »Spaltensatzes«2 wird auf diese Weise unterlaufen, um durch Zufallsfaktoren ungewöhnliche Sätze hervorzubringen, und das informative Medium der Tageszeitung wird so zum Ausgangspunkt eines ›paraliterarisch‹ zu nennenden Spiels. Zeitgenössische Beobachter wie Horace Walpole lobten den geradezu explosiv komischen Effekt der Crossreadings und ihren teilweise radikal provokanten Witz, der etwa in Beispielen wie dem folgenden auf majestätsbeleidigende Pointen abzielt: »This Day his Majesty will go in State to/fifteen notorious common Prostitutes«. Das letztgenannte Crossreading erscheint politisch als derart heikel, dass Walpole selbst vorsichtshalber in seinem Brief an George Montagu vom 12. Dezember 1766 im Zitat die ominösen »fifteen prostitutes« durch »etcetera«3 ersetzt. Im Hinblick auf das technische Verfahren behauptet er, die Crossreadings seien »composed out of scraps«, also tatsächlich materiell aus Papierschnipseln einer Zeitungsseite neu zusammengesetzt – tatsächlich findet sich kein entsprechender Hinweis auf eine solche Collagetechnik beim ›Autor‹ Whitefoord selbst. Walpoles Vermutung ist aber höchst aufschlussreich für den Vergleich zwischen Crossreadings und der Wiederverwendung von Makulatur, auf die ich mit Blick auf literarische Texte Jean Pauls später noch genauer eingehen werde. Whitefoord hatte seinen unter dem sprechenden Pseudonym »Papyrius Cursor«, also etwa ›Papierläufer‹, veröffentlichten Cross-Readings in The Public Advertiser vom 10. November 1766 einen kurzen Leserbrief-Traktat über A New Method of Reading Newspapers beigegeben. Das zentrale Versprechen dieser Methode besteht

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sich um die Nutzung von Texten ohne Anspruch auf Poetizität für die Produktion literarischer Artefakte, und zum anderen arbeitet das Crossreading-Verfahren auch noch mit tagesaktuellem, nicht-literarischem Textmaterial, das durch den Verlust seiner Aktualität eigentlich bereits als ›entwertet‹ gelten muss, bevor es einem poetischen Recycling zugeführt wird. Vgl. Hanno Möbius: Montage und Collage. Literatur, bildende Künste, Film, Fotografie, Musik, Theater bis 1933. München: Fink 2000, 96. Horace Walpole: Letter to [George] Montagu, 12. Dezember 1766. In: The Yale Edition of Horace Walpole’s Correspondence. 48 Bde. Bd. 10. New Haven: Yale University Press 1937–1983, 236–238, hier: 237–238.

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darin, durch ein Verfahren der abweichenden, verfremdenden Lektüre informativer Zeitungsmeldungen, das selbst durch Zufall entdeckt worden sei, vielfältigste Unterhaltung (»a variety of entertainment«) in Form komischer Überraschungseffekte zu eröffnen: »After we had read the Public Advertiser in the old trite vulgar Way, i.e. each Column by itself downwards, we next read two Columns together onwards; and by this new method found much more Entertainment than in the common Way of reading, with a greater Variety of Articles curiously blended, or strikingly contrasted. In short, blind Chance brought about the strangest Connections, and frequently coupled Persons and Things the most heterogeneous; Things so opposite in their Nature and Qualities, that no Man alive would ever have thought of joining them together.«4 Entscheidend ist nach Whitefoord also das Prinzip der Mischung kontrastierender, gegensätzlicher heterogener Inhalte, »in denen«, so Karl Riha, »aus verschiedensten Richtungen das Verschiedenste zusammenschießt und der Gedanke […] ›blitzt‹«5 , und die in diesem Fall zum Zweck von »entertainment« und Komik einen Überraschungseffekt ›enttäuschter Erwartungen‹ ganz im Sinne von Sigmund Freuds Theorie des Witzes6 hervorbringen sollen. Von Bedeutung ist außerdem der Verweis darauf, dass eine solche überraschende Mischung nicht oder zumindest nicht primär das Ergebnis aktiver Konstruktion sein könne, sondern sich auf den Faktor des blinden Zufalls, »blind chance«, verlassen müsse. In einer Fortsetzung, erschienen im Advertiser am 8. Dezember 1770, reduziert »Papyrius Cursor« gerade angesichts der positiven öffentlichen Resonanz auf die ersten Crossreadings noch deutlicher die eigene Rolle auf diejenige eines zufälligen Sammlers von Fundstücken im typischen »Hodge-podge« vermischter Zeitungsmeldungen. Dieser bediene sich gewissermaßen nur im »Mess-medley« aus »heterogeneous ingredients, and discordant combinations« eines »London newspaper«7 , während die eigentliche Autorschaft den Verantwortlichen für die technische Herstellung der Zeitung und interessanterweise nicht etwa den Verfassern oder Redakteuren der Meldung zugeschrieben wird. Genannt werden zunächst 4 5 6 7

Papyrius Cursor [Caleb Whitefoord]: To the Printer of the Public Advertiser [I]. In: The Public Advertiser, 10. November 1766, 1–2, hier: 2. Karl Riha: Cross-Reading und Cross-Talking. Zitat-Collagen als poetische und satirische Technik. Stuttgart: Metzler 1971, 10. Vgl. Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten/Der Humor. Frankfurt a.M.: Fischer TB 2009, 23–250. Papyrius Cursor [Caleb Whitefoord]: To the Printer of the Public Advertiser [II]. In: The New Foundling Hospital for Wit. Being a Collection of Fugitive Pieces, in Prose and Verse, not in any other Collection. With several Pieces never before published. A new Edition, corrected, and considerably enlarged. 6 Bände. Bd. 5. London: J. Debrett 1786, 262–274, hier: 263–264.

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der Setzer, dann aber besonders emphatisch der Drucker als ›Zeremonienmeister‹ einer Vermischung unterschiedlichster Inhalte, wobei implizit auch die Möglichkeit angedeutet wird, dem heterogenen Informationsmaterial oder auch dem Papier selbst als nicht-menschlichem Akteur8 eine Mitautorschaft zuzuweisen: »If there seem to be any personalities in the following cross-lines, (to speak without metaphor) it would be equally unjust to find fault with me, as with the compositor who set the types, and placed the lines of one column exactly opposite to those of another. – This is no business of mine; ’tis the work of the journey printer: He is the Master of Ceremonies in this kind of Contre-Dance, who fixes your rank, and chooses your partner; and in doing this, as he is only assisted by blind chance, and couples you together at random, what a motley dance it must produce!«9 Hierbei handelt es sich natürlich um eine gängige rhetorische Bescheidenheitsgeste, die dem eigentlichen Autor oder Kompilator lediglich die Aufgabe des Nachvollzugs und der Wiedergabe von fremdem Material, also eine klar heteronome Rolle, zuweist. Zugleich geht es angesichts der durchaus persönlich provokanten und politisch anstößigen Inhalte der Crossreadings sicherlich auch um eine vorauseilende Exkulpationsgeste gegenüber möglicher staatlicher Sanktionierung oder Zensur. Whitefoords Crossreading-Verfahren repräsentiert aber auch ein bewusst inszeniertes Modell programmatisch ›schwacher‹ Autorschaft, das Kreativitätsansprüche vom Verfasser weg und hin zu Umständen und Material verschiebt.

2. Unterschiedliche Ausprägungen des Crossreading am Beispiel von Georg Christoph Lichtenbergs deutschsprachiger Nachahmung der englischen Cross-Readings Tatsächlich entfalteten Whitefoords unterhaltsame inszenierte Fehllektüren ein enormes Nachahmungspotenzial, sodass Crossreadings zu einer beliebten spielerischen Praxis in der adligen und bildungsbürgerlichen englischen Öffentlichkeit des ausgehenden 18. Jahrhunderts wurden. Im deutschen Kontext griff Georg Christoph Lichtenberg diese kreative Praxis des Anders-Lesens im Zuge seiner EnglandReise in den Jahren 1774/75 auf und adaptierte sie für die Lektüre deutschsprachiger ›öffentlicher Blätter‹.

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Eine solche Perspektive wird durch die Akteur-Netzwerk-Theorie nahegelegt; vgl. zu zentralen Thesen der ANT exemplarisch Bruno Latour: Über technische Vermittlung: Philosophie, Soziologie und Genealogie. In: Andréa Belliger/David J. Krieger (Hg.): ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie. Bielefeld: transcript 2006, 483–529, insb. 483–498, ebenso die weiteren Beiträge in ANThology. Papyrius Cursor [Caleb Whitefoord]: To the Printer of the Public Advertiser [II], 263–264.

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Lichtenberg gibt seiner Nachahmung der englischen Cross-Readings, die ursprünglich aus den Sudelbüchern (gegen 1774/1775) stammen und ihr Material aus deutschen Zeitschriften wie dem Neu-eröffneten Historischen Bilder-Saal beziehen, in der Ausgabe seiner Vermischten Schriften folgende knappe Lektüreanweisung bei, die zugleich eine implizite Leseszene enthält: »Man muss sich vorstellen, das Lesen geschehe in einem öffentlichen Blatte, worin sowohl politische, als gelehrte Neuigkeiten, Avertissements von allerlei Art usw., anzutreffen sind: der Druck jeder Seite sei in zwei oder mehrere Columnen geteilt, und man lese die Seiten queer durch, aus einer Columnen in die andere«.10 Wie bei Whitefoord geht es also auch bei Lichtenberg um ein Verfahren des bewusst intendierten, produktiven creative misreading: Dieses besteht wiederum darin, die Einteilung der Zeitungsseite in Spalten zu ignorieren, also in einer simulierten ›fehlerhaften‹ Handhabung des gedruckten Materials statt von Zeile zu Zeile innerhalb einer Spalte und damit innerhalb eines Artikels zu lesen, eine Zeile über die ›Artikelgrenze‹ hinweg zu lesen und damit einzelne Satzfragmente aus zwei verschiedenen Artikeln zu selektieren und zu isolieren, und sie dann zu überraschenden Kombinationen wieder zusammenzufügen. Das Crossreading gehört somit zu einigen in der literarischen Poetik der Zeit um 1800 anzutreffenden Inszenierungsverfahren, welche die Vorstellung autonomer, aus sich selbst schöpfender auktorialer Kreativität als Ergebnis heteronomer Faktoren verfremden. Hierin lässt sich eine Art komplementäre Gegenströmung zu der ja gerade in dieser Zeit erst voll etablierten Autonomie- und Genieästhetik erkennen, deren zentrale kunst- und literaturtheoretische Postulate um die Vorstellung des selbstermächtigten kreativen Akts kreisen.11 Insgesamt basieren sowohl Lichtenbergs wie auch Whitefoords CrossreadingModelle auf dem poetologischen Programm der Textverfertigung als Akt der bloßen Rekombination, und gerade dieses Verfahren wird nun bei Lichtenberg als ein nicht originales, nicht selbst erfundenes, sondern seinerseits nachgeahmtes Verfahren präsentiert. Wenn also bereits Whitefoords originale Crossreadings als sekundäre, der Inszenierung nach durch die Eigenaktivität des Schriftträgers angereg-

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Georg Christoph Lichtenberg: Nachahmung der englischen Cross-readings. In. Ders.: Vermischte Schriften. Neue vermehrte, von seinen Söhnen veranstaltete Originalausgabe. Bd. 2. Göttingen: Dieterich 1844, 63–65, hier: 64f. Als besonders prominent wäre unter diesen anti-autonomistischen Verfahren die poetologische Praxis der Herausgeberfiktion hervorzuheben, bei der durch paratextuelle Rahmung die »Geburt« (Uwe Wirth) der eigenen Autorschaft als Ergebnis eines typischerweise zufälligen Textfundes fiktiv verfremdet wird (vgl. grundlegend Uwe Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800: Wieland, Goethe, Brentano, Jean Paul und E. T. A. Hoffmann. München: Fink 2008). Das Verfahren des Crossreadings schreibt die inszenierte Fremdautorschaft nicht, wie im Fall der Herausgeberfiktion, der Pseudonymie etc., einem anderen (fiktionalen) menschlichen Subjekt zu, sondern dem Schriftträger und seiner Eigendynamik.

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te Autorschaftsform vorgestellt werden, dann wird diese Inszenierung im Fall von Lichtenbergs Nachahmung der Crossreadings Whitefoords und anderer englischer Autoren gleichsam im Sinne eines mehrschichtigen Einklammerungseffekts gedoppelt.12 Beim Blick auf Lichtenbergs rekombinierte Lesefrüchte lässt sich eine signifikante Unterscheidung zwischen zwei verschiedenen Ergebnisvarianten des Crossreadings treffen: Ein typisches ›Motiv‹ der weniger ›pointierten‹ Lichtenbergschen Crossreadings ist die anthropomorphisierende Vertauschung von Attributionen von Personen auf Dinge und umgekehrt. Hierdurch wird womöglich auch im metapoetischen Sinne auf die Übertragung vermeintlich genuin menschlicher Kreativpotenziale auf den Schriftträger selbst angespielt. Im Fall etwa eines ›Hybridsatzes‹ wie »Am 13. dieses [Monats] schlug der Blitz in die hiesige Kreuzkirche – Und setzte Tages darauf seine Reise weiter fort«13 entsteht hierdurch eine überraschende Pointe mit grotesk-komischer Wirkung. Zugleich erwecken Crossreadings dieser Art einen erhöhten Authentizitätsanschein, denn eine derart ›schräge‹ Vorstellung legt den Verdacht, nicht durch mechanisches Querlesen entstanden, sondern eigentlich erfunden zu sein, eher nicht nahe. Anders liegt der Fall etwa bei dem Mikro-Narrativ von den ersoffenen Teilnehmern nach einem »splendiden Diner« des kurfürstlich-bischöflichen Domkapitels (»Neulich gab der Churfürst dem Capitel ein splendides Diner – Drei Personen wurden gerettet, die Übrigen ersoffen«14 ), der eine recht konkrete anti-klerikale Botschaft enthält, oder im Fall des folgenden Crossreadings mit einer auf Prostitution anspielenden, auf misogyn gefärbtem Witz beruhenden Pointe: »Die drei Damen, deren gestern Erwähnung geschehen – Können immer eine Stunde vor der Auction besichtigt werden«.15 Typischerweise kombiniert ein solches ›sprechendes‹ Crossreading im Unterschied zum ›stummen‹ Crossreading einen bestimmten Namen oder eine respektable Funktionsbezeichnung mit einem unerwarteten, meistens despektierlichen Attribut und folgt so einem gängigen Muster von Satire. Fertige Crossreadings dieser Art wirken durchgeformter, in sich abgeschlossener und enthalten eine fassbarere, oftmals passgenau kritische Pointe (oder gar eine ›Moral‹), müssen hierfür jedoch einen geringeren Anteil an absurdem Witz in Kauf nehmen. Denn dadurch, dass der 12

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Allerdings liegt im Begriff der ›Nachahmung‹ auch ein stärker betonter Aspekt der auktorialen Aktivität versteckt – eine Nachahmung geschieht in der Regel bewusst, und dazu passt, dass sich für Lichtenbergs Crossreadings wesentlich schwerer konkrete Quellen finden lassen, was fiktionale Eingriffe vermuten lässt. Bei Whitefoord hingegen ist das Crossreading das Ergebnis eines bewusst betriebenen Spiels, das durch gezielte Praktiken dann den Zufall zum Hauptakteur werden lässt. Lichtenberg: Nachahmung der englischen Cross-readings, 65. Ebd., 64. Ebd.

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durch einen vermeintlich mechanischen Crossreading-Akt entstandene Satz einen recht gut verständlichen neuen Gehalt ergibt, scheinen hier die beiden Elemente der Zufallskombination etwas zu gut zueinander zu passen. Aufgrund ihres abgerundeten Charakters scheinen solche Crossreadings auch kaum noch umformbar, sondern zeigen eine eher geschlossene Form, während Crossreadings des anderen, offeneren Typus ein größeres Potenzial für immer weiter fortschreibbare Rekombinationsspiele anzubieten scheinen – letztere enthalten insofern eine deutlicher ausgeprägte rezeptionsästhetische ›Appellstruktur‹, die beinahe schon an Hypertext-Modelle denken lässt. Offensichtliches formales und inhaltliches ›Gelingen‹ eines Crossreadings steht somit in einer gewissen Spannungsbeziehung zu seinem irritierenden und insofern anregenden Zufallscharakter. Das Verfahren der Crossreadings lässt sich in verschiedener Hinsicht als ein protomodernes oder protopostmodernes Verfahrensmodell der kreativen Produktion aus dem Geist der Rezeption und der Lektüre betrachten.16 Im hier vorliegenden Kontext ist insbesondere der Aspekt einer Autorschaftsinszenierung im Zeichen der Heteronomie von Bedeutung, bei der – bei Whitefoord ebenso wie bei Lichtenberg – der Schriftträger als Lesematerial mit einbezogen wird. Gemäß dieser Inszenierung wird auf eine verfremdende, möglicherweise sogar unsachgemäße oder gewaltsam zu nennende Weise mit dem Material einer Zeitungsseite verfahren, um neue ästhetische Möglichkeiten zu erschließen: Im Unterschied zu einer als ›natürlich‹ markierten, weil als Gewohnheit etablierten Lektürepraxis im Sinne des spaltengebundenen Lesens wird eine inszenierte Lektüre, welche die Zeitungsseite bewusst anders rezipiert, als sie vermeintlich ›gelesen werden will‹ und soll, so zum Ausgangspunkt einer Ko-Autorschaft mit dem Zeitungsmaterial bzw. seinen (auch materiellen) Produzent*innen. Durch die Dekontextualisierung der Zeitungsmeldungsfragmente werden diese zugleich auch in gewisser Weise ihrer tagesaktuellen Ephemeralität enthoben: Da die Referenz auf reale Ereignisse im Crossreading nur noch in verfremdeter Form oder gar nicht mehr erkennbar ist bzw. nicht mehr im Vordergrund steht, gewinnt das eigentlich schnell veraltende Textmaterial eine ästhetische Eigenzeitlichkeit.

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Ähnlich wie verschiedene andere ›kleine Formen‹ wie etwa die Anekdote oder speziell bei Lichtenberg der Aphorismus, die im späten 18. Jahrhundert eine besondere Konjunktur erleben, lassen sich Crossreadings als eine Form der Antwort auf die Skepsis gegenüber totalisierender Darstellung verstehen – und diese Antwort liegt hier in einer zumindest inszenierten Zerlegung und Neuzusammenstellung eigentlich nicht-literarischen Textmaterials, die als ein Zerschneiden und Neuzusammensetzen des Schriftträgers inszeniert wird und eine neue kleine literarische Form entstehen lässt. Hierin lässt sich ein implizites rezeptionsästhetisches Programm der Anregung durch Aussparung erkennen, das zur Subversion zeitgenössischer autonomieästhetischer Ideale genau in der historischen Phase ihrer Etablierung dient.

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3. Szenarien der Lektüre und Rekomposition von Makulatur-Texten bei Jean Paul (Leben des Quintus Fixlein und Leben Fibels) In einschlägigen Erzähltexten Jean Pauls kommt es einige Jahrzehnte gleichfalls zu Inszenierungen einer aus dem Geist der Heteronomie geborenen Autorschaft auf der Grundlage von fiktiven Motiven und textuellen Inszenierungen eines Schriftträger-Recycling.17 Ein wesentlicher inhaltlicher Unterschied zwischen Jean Pauls Recycling-Fiktionen und den im ersten Teil dieses Beitrags diskutierten Crossreading-Verfahren liegt darin, dass die Grundlage des Recyclings hier nicht ein eigentlich noch intakter Schriftträger, nämlich eine anders als erwartet gelesene (und womöglich imaginär zerteilte) Zeitungsseite, bildet, sondern physisch entwertete und oftmals beschädigte Papier- und Textfragmente, nämlich sogenannte Makulatur. Zedlers Universal-Lexicon von 1739 definiert diese als »[i]n der Druckerey benutztes Papier«, »so entweder verdorben, oder keinen Abgang findet, und anders nicht, als zum einwickeln, oder einpacken dienet«.18 Wenn Buchseiten als Makulatur entwertet wurden und dann wiedergefunden und ›retextualisiert‹ bzw. reliterarisiert werden, dann wird ihre oftmals »marginalisierte Materialität gegenüber dem Text in einer meist prekären Weise hervor[gehoben]«19 , und zugleich wird dieser für Produzent*innen und Rezipient*innen bewusst bleibende prekäre Status zur Subversion geschlossener Werk- und Autorschaftsvorstellungen genutzt. Es handelt sich also noch viel stärker als bei Crossreadings um Motive eines materiellen, nicht nur imaginär-immateriellen Recycling von Schriftträgern. Während das Crossreading von einem intakten ›Werk‹ ausgeht und dieses bewusst und aktiv verfremdet, geht die Makulatur-Lektüre von einem defekten oder entwerteten Schriftträger aus. Sie versucht, aus diesem ein mehr oder minder geschlossenes Werk zu rekonstruieren, muss hierbei jedoch immer damit rechnen, dass der Schriftträger wiederum durch seine Makulierung deformiert und somit verfremdet wurde, indem z.B. Textteile fehlen oder (etwa durch Verschmutzung) nicht mehr lesbar sind. Gemeinsam sind den Szenarien jedoch folgende zentrale Grundgedanken: Der Schriftträger wird in seiner (imaginären oder haptisch greifbaren) materiellen Gestalt verändert, anders behandelt und in anderer Weise wiederverwendet als eigentlich vorgesehen, und gerade auf diesem Akt basiert die (inszenierte) Abtretung auktorialer Schöpfungshoheit an das Material und dessen Eigendynamik. Die insze17

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Hierbei ist natürlich festzuhalten, dass entsprechende Motive von Autorschaft und Schreiben bei Jean Paul klar fiktional markiert sind, während die Beschreibungen von CrossreadingPraktiken bei Whitefoord und Lichtenberg ganz offensichtlich nicht als fiktiv gelesen werden wollen. Eintrag »Mackeltur«. In: Johann Heinrich Zedler (Hg.): Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Bd. 19. Halle, Leipzig: Zedler 1739, Sp. 95. Tobias Fuchs: Die Kunst des Büchermachens. Autorschaft und Materialität der Literatur zwischen 1765 und 1815. Bielefeld: transcript 2021, 214.

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nierte Praxis des Crossreadings ist der Praxis des Makulierens zumindest deutlich ähnlich, und ebenso ähnlich ist die Vorstellung einer neuen und alternativen Nutzung zweckentfremdeten Schriftträger-Materials. So taucht bereits Quintus Fixlein in Jean Pauls gleichnamiger Idylle von 1796 als eigenständig kreativer Makulatur-Liebhaber und -Neuverwerter auf, wie das Kapitel »Weihnachts-Chiliasmus – neuer Zufall« aus dem »Dritten Zettelkasten« vor Augen führt: Fixlein, so der Erzähler, »war auffallend auf frankierte Lektüre ersessen. Ist es nicht daraus zu erklären, daß er sich, wie Morhof rät, die einzelnen Hefte von Makulaturbögen, wie sie der Kramladen ausgab, fleißig sammelte und in solchen wie Virgil im Ennius scharrte? Ja für ihn war der Krämer ein Fortius (der Gelehrte) oder ein Friedrich (der König), weil beide letztere sich aus kompletten Büchern nur die Blätter schnitten, an denen etwas war. Eben diese Achtung für alle Makulatur nahm ihn für die Vorschürzen gallischer Köche ein, welche bekanntlich aus vollgedrucktem Papier bestehen; und er wünschte oft, ein Deutscher übersetzte die Schürzen: ich berede mich gern, daß eine gute Version von mehr als einem solchen papiernen Bürzel und Schurz unsere Literatur (diese Muse à belles fesses) emporbringen und ihr statt eines Geifertuches dienen könnte.«20 Aus Fixleins Rezeption von Makulatur entspringt im weiteren Romanverlauf bekanntlich eine eigene Form halbgelehrter Autorschaft, wenn der Protagonist eine Sammlung von Errata aus fremden Texten zusammenkompiliert und somit ähnlich wie im Fall der Crossreadings das Prinzip des Fehlers als Quelle produktiver Novität kultiviert: »Fixlein schrieb kleine Werklein von 1 /12 Alphabet, die er im Manuskript, vom Buchbinder in goldne Flügeldecken geschnürt und auf dem Rücken mit gedruckten Lettern betitelt, in die literarische Stufensammlung seines Bücherbrettes mit einstellte. Jedermann dachte, es wären Novitäten, mit Schreiblettern gedruckt. Er arbeitete – ich will die unerheblichen Werke auslassen – an einer Sammlung der Druckfehler in deutschen Schriften; er verglich die Errata untereinander, zeigte, welche am meisten vorkämen, bemerkte, daß daraus wichtige Resultate zu ziehen wären, und riet dem Leser, sie zu ziehen.«21 Bemerkenswert ist hierbei, dass, wie Magnus Wieland philologisch rekonstruiert hat, die Beispiele für Fixleins Makulatur-Recyclingtexte selbst einer Art Crossrea-

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Jean Paul: Leben des Quintus Fixlein. In: Ders.: Werke. Bd. 4.: Kleine erzählende Schriften 1796–1801. Hg. von Norbert Miller. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1962, 7–259, hier: 88f. Jean Paul: Leben des Quintus Fixlein, 81.

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ding-Methode aus den Exzerptbüchern des Autors Jean Paul entspringen: Sie bestehen demnach »aus materieller Ebene aus Textstücken […], die der Autor Jean Paul aus diversen Büchern exzerpiert und gleichsam ›herausgeschnitten‹«22 und in Fixlein zugeschriebene fiktive Texte eingearbeitet hat. Die »Vor-Geschichte« des Romans Leben Fibels, erschienen 1812, also etwa 40 Jahre nach Whitefoord, 35 Jahre nach Lichtenberg und 15 Jahre nach Jean Pauls Fixlein, in der eine Erzähler- bzw. Autorfigur namens Jean Paul die Vorgeschichte des FibelRomans erzählt, präsentiert die Textgenese dann noch radikaler als Geschichte der Rekonstruktion einer ursprünglich zusammenhängenden, aber materiell und immateriell zerteilten und zerfallenen biographischen Erzählung, nämlich der »Lebens-Historie« des Abecedariums-Schöpfers Fibel, die aus Makulaturresten von »Jean Paul« neu zusammengesetzt werden muss: Auf Studienreisen nach »Hof, Leipzig, Weimar, Meiningen, Koburg und Baireuth«23 sucht der Autor-Erzähler nach »Fibels Hand- und Druckschriften«, und in der Residenz »Markgrafenlust« findet er schließlich unter zahlreichen Werken, auf denen Fibels Name steht, »ganze 39 Bände« einer »Curieuse[n] und sonderbare[n] Lebens-Historie des berühmten Herrn Gotthelf Fibel […]«.24 Französische »Marodeurs«, die in den Heimatort Heiligengut der Hauptfigur eingefallen seien, »hatten die Lebensbeschreibung, diese herrliche historische Quelle für uns alle, zerschnitten und aus dem Fenster fliegen lassen und die besten Notizen sonst schlecht gebraucht«.25 Die Einwohner von Heiligengut hätten das zerschnittene Schriftträger-Material aufgesammelt und so für die Nachwelt gerettet, allerdings nicht, um den eigentlichen Text wieder zusammenzusetzen, sondern aus rein alltagspragmatischen Beweggründen, nämlich um sie zu »Papierfenstern, Feldscheuen und zu allem«26 , also zu verschiedensten nicht-literarischen Zwecken, zu verarbeiten. Der Autor-Erzähler erhält nun »um den Ladenpreis die Erlaubnis«, die noch in den Bänden verbliebenen, nicht herausgerissenen Blätter seinerseits zu extrahieren, also herauszureißen. Der Rest des vorliegenden Textes sei dann durch akribische Arbeit in Heiligengut gesammelt und rekonstruiert worden. Die Suche nach den »im Dorfe zerstreuten Quellen« lässt der Autor-Erzähler hierbei durch ein paar »Dorfjungen« besorgen, die ihm genug »Kaffe-Düten, Heringspapiere[], […] Stuhlkappen, Papier-Drachen und andere fliegende Blätter« mit Teilen der Fibel-

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Magnus Wieland: Jean Pauls Sudelbibliothek. Makulatur als poetologische Chiffre. In: Jahrbuch der Jean Paul-Gesellschaft 46 (2011), 97–119, hier: 113–117. Jean Paul: Leben Fibels, des Verfassers der Bienrodischen Fibel. In: Ders.: Werke. Bd. 6. Hg. von Norbert Miller: Darmstadt Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963, 365–546, hier: 371. Ebd., 374. Ebd. Ebd., 375.

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Autobiographie beschaffen, dass er aus diesen »zugeworfene[n] Papier-Abschnitzel[n]«27 nach »wenigen Wochen« das vorliegende Werk zusammenkompilieren kann. Dessen literarische Qualität gibt er schließlich als so gut aus, dass »ich es beinahe bereute, daß ich nicht das Ganze für mein eigenes Gemächt ausgegeben«28 . Die inszenierte Bescheidenheitsgeste des fiktiven Schriftträger-Recycling, also die Depotenzierung auktorialer Kreativitätsansprüche, trifft somit mit einem verkappten Selbstlob und einer indirekten auktorialen Potenzgeste zusammen, die sich geschickt in Form eines Lobs des vermeintlich nur rekompilierten Fremdtextes offenbaren. Was der Erzähler-Autor somit liefert, soll als ein höchst schätzenswertes literarisches Produkt, aber gerade nicht als ein originäres Werk, sondern als eine auf heteronom übernommenes Material und auf die Heteronomie, d.h. die Eigendynamik, dieses Materials referierende »Collage aus Makulaturblättern«29 erscheinen – er inszeniert sich somit »in subversiver Umkehr des Genie-Paradigmas als sekundärer Bearbeiter bereits vorhandener Materialien«.30 Die Differenz zum Crossreading-Verfahren liegt hier in der weiteren Abschwächung eigener auktorialer Urheberschaftsansprüche bei gleichzeitiger Stärkung des künstlerischen Anspruchs für das Werk: Während es im Fall von Crossreadings durchaus um einen eigenen kreativen Akt geht – nämlich um das entweder rein mechanische oder bewusst auswählende Zusammenfügen von zwei nicht zusammengehörigen Textzeilen –, der sich allerdings an eigentlich nicht-ästhetischem Material, nämlich an Tageszeitungsspalten, vollzieht, wird im Fall der Schaffung eines Textes aus Makulatur der Inszenierung nach eigentlich nur ein fremder Text aus Schriftträger-Fragmenten wiederhergestellt, wobei natürlich (in diesem Fall der Inszenierung nach unerwünschte) Crossreading-Phänomene befürchtet werden müssen: Gleichzeitig werden diesem Text aber zumindest im vorliegenden Beispiel bei Jean Paul volle ästhetische Dignität und ein hoher qualitativer Anspruch zugeschrieben. Der Clou liegt also darin, dass eine auktoriale Schöpfungshoheit zugleich abgewiesen und auf Umwegen doch wieder reklamiert wird, denn »der Makulatur wird« zwar »die Ordnung des gesamten Textes zugeschrieben, doch freilich handelt es sich bei dieser Ordnung um eine Setzung des Autors. Die Illusion eines äußeren Zufalls, vermittelt als Einbruch der Materialität in die Konstruktion des Textes, weist demnach über sich hinaus: als ein gesteuertes, gewissermaßen ›göttliches‹ Chaos«.31 Dieser Unterschied in den Inszenierungsverfahren und framings wird an anderer Stelle noch deutlicher. Das 5. Kapitel von Leben Fibels trägt den anspielungsrei-

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Ebd., 376. Ebd., 377. Wieland: Jean Pauls Sudelbibliothek, 104. Ebd., 105. Fuchs: Die Kunst des Büchermachens, 261.

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chen Titel »Herings-Papiere«:32 Dieser Titel verweist einerseits wiederum darauf, dass der Erzähler diesen Bestandteil der Autobiographie aus ganz bestimmter Makulatur, nämlich zum Einwickeln von Fischen verwendeten Buchseiten, wiedergewonnen habe. Andererseits wird hierdurch angezeigt, dass Fibel selbst seine frühen prägenden Lektüren eben aus solchem zweckentfremdetem Schriftmaterial gewinnt, die gleichfalls nicht mehr zum Lesen, sondern eben zu pragmatischen Zwecken wie zum Einwickeln von Heringen gedacht waren, und die ein Makulaturhändler weitaus günstiger als normale Bücher anbieten kann, und denen Gotthelf Fibel als Leser gleichsam neue Dignität verleiht. Zugleich gewinnt der Protagonist der Biographie hierbei die entscheidende Inspiration für seine eigene spätere Autorschaft, wenn er den als »Herings-Papier« vorgefundenen markgräflichen »Hof- und Staatskalender« zum Vorbild für sein späteres eigenes Lehr- und Nachschlagewerk, nämlich eine Fibel, nimmt: »Helf las. […] Jetzt konnt’ er alles lesen, was er poetisches, juristisches, chemisches Gedrucktes aus dem Gewürzladen, seiner Lese-Bibliothek, vorbekam, und konnte unter dem Lesen an andere Sachen denken und in die köstlichsten Nebenträume fallen und zu jeder Seite Kuchen oder Äpfel abbeißen, gleichsam die sauber gestochnen Vignetten und Kupfer und Notenblätter seiner Makulatur. Nicht für jeden Gelehrten ist unbeachtet ihres kleinern Laden-Preises Makulatur eine Lektüre; aus Mangel an Titelblättern, und weil sie, wie das Epos, bald mitten, bald hinten anfängt, kann der Mann nichts daraus zitieren und saugt sich elend voll Kenntnisse, ohne instand zu sein, nur einen Tropfen wieder aus sich zu drücken mit beigefügtem Zitat; und doch bekommt er nur einen Namen durch Namen. Hingegen floß die Makulatur so schön auf Fibels Leben ein wie eine zweite allgemeine deutsche Bibliothek und vertrat deren Stelle. Jene bildete ihn – da er vom Würzhändler Düten aus allen Fächern bekam – zu jenem Vielwisser, als welchen er sich im Abc-Buch überall durch Tierkunde, Erziehungs- und Sittenlehre, Poesie und Prose zeigt.«33 Fibels willkürlich-wahllose Lektüre von makulierten Buch- und Textresten, die er nach einem typischen Vermerk auf Buchtitelblättern irrtümlich einem einzigen Verfasser namens »Herr[n] Gedruckt« zuschreibt, erscheint so als adäquate Vorbereitung seiner Gelehrsamkeit und seiner späteren eigenen Autorschaft: »Was der angehende Gelehrte Fibel vom obigen Verfasser Gedruckt auftreiben konnte, damit verstärkte er seine Büchersammlung unter dem Dache, mit einem Korrekturbogen – mit alten Kalendern – mit einem seltenen Fingerkalender – mit einem Stück Bücherverzeichnis – mit einem halben Bogen eines Registers – mit allem.«34 32 33 34

Jean Paul: Leben Fibels, 388. Ebd. Ebd., 389.

Reinhard M. Möller: Crossreading, Crosswriting, Makulatur-Lektüre

Schließlich wird hierdurch der Boden für eine Entdeckung bereitet, bei der der Zufall Fibel gerade durch die Lektüre eines durch Makulation ›verstümmelten‹ Gebrauchstextes, nämlich eines Kalenders, die entscheidende Inspiration für sein späteres eigenes Fibel-Projekt eröffnet: »Am meisten zog ihn ein alter Markgrafen-Hof- und Staatskalender an, und er las ihn vierzigmal, wie andere den Kant viermal und Bardili fünfmal. Das regierende Haus war zwar abgerissen; aber es waren noch immer hohe Chargen, Inspektionen und Deputationen genug darin, um ihn außer sich zu setzen; am meisten erstaunte und genoß er, daß sein Dorf und der Pfarrer mit hineingedruckt waren, samt den gemeinsten umliegenden Nestern mit Namen. Und Himmel, wie bewunderte er dabei das herrlich ineinandergefügte Uhrwerk des Staats, wo für das Kleinste und Größte zusammengreifende Dienerschaft bestellt dastand, die Bonnetische tierische Stufenleiter im geistigen Sinn. Er fühlte dunkel, daß es nichts Gerechteres, Weiseres, besser Verwaltetes gebe als einen Staat.«35 Diese Lektüreerfahrung dient, so wird deutlich nahegelegt, als Urszene für Fibels eigenes späteres Projekt eines ideal strukturierten und didaktisch ausgeklügelten Lehrwerks zur Erlernung des gleichfalls als ideal und wohlausgewogen begriffenen Systems des lateinischen Alphabets, bevor er später zum auktorialen Hochstapler im großen Stil wird, der fremde Werke unter seinem eigenen Namen nachdrucken lässt. Nach Jean Paul bzw. »Jean Paul« bzw. Fibel gilt also: Durch Makulatur-Recycling kann man zum Autor im starken Sinn werden, wobei Kalender und Fibel nicht als bloße Gebrauchstext-Genres gewertet, sondern auf eine Stufe mit literarischer Autorschaft gestellt werden. Diesen Anspruch streiten die Crossreading-Autoren oder -Kompilatoren hingegen im Rahmen der Inszenierungsverfahren ihrerseits konsequent ab, obwohl der kreative Witz der durch Schriftträger-Verfremdung entstandenen Mikrotexte offen zu Tage liegt. Dass der Lehrbuchverfasser Fibel oder der Lehrer Fixlein als Makulatur-Leser durch die jeweiligen Erzähler als Repräsentanten poetischer Kreativität vorgeführt werden, lässt sich einerseits natürlich als satirische Karikatur zeitgenössischer Kunstbetriebsdarstellungen und Schriftstellerbiographien interpretieren. Deren Ansprüche auf kreative Dignität würden dann gerade durch ihre Anwendung auf eine Figur, auf die sie legitimerweise nicht anwendbar sind, als unangemessen vorgeführt. Jedoch handelt es sich bei Fibel gemäß der Darstellung des Erzählers und beim Erzähler selbst um einen ernstzunehmenden Buchverfasser, dessen Autorwerdung in mehrfacher Hinsicht durch (für ihn) kontingente und heteronome Faktoren hervorgebracht wird. Die Makulatur, und hier folge ich Martina Wernlis Formulierung, erlangt hierbei ebenso wie die Zeitungsseiten im Fall der

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Ebd., 390f.

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Poetologien des Schriftträgers: Zwischen Sprach- und Artefaktmaterialität

Crossreadings programmatisch eine eigene »agency« und »Wirkungsmacht«.36 Auch durch sie, also zumindest partiell durch heteronome Faktoren, wird Fibel durch die auf dem Makulaturpapier vorgefundenen Textreste angeregt zum Leser, dann zum Fibel-Verfasser und schließlich zum gefräßigen Raub-Autor, der fremde Hervorbringungen als eigene Schöpfungen recyclet. Nach Uwe Wirth ist »[d]as von Jean Paul ironisch in Anschlag gebrachte Recycling-Konzept der aus den Niederungen der Alltagswelt erlösten Poesie […] gewissermaßen das Gegenmodell einer idealistischen Kunstauffassung, die die creatio ex nihilo propagiert und als Nullstufe der Literatur das weiße, unbeschriebene Blatt annimmt«37 – und gerade diese Beschreibung lässt sich gleichfalls auch auf das Crossreading-Prinzip wie auch auf Jean Pauls Szenarien der Makulatur-Weiterverarbeitung übertragen.

4. Crossreading, Makulatur-Recycling und Cut-up als Szenarien der Interaktion mit dem Schriftträger und als Inszenierungsformen heteronom (mit)bestimmter Autorschaft Die Inszenierung eines Textes als recycling- oder vielleicht besser upcycling-Werk, das aus einem zerstückelten oder entwerteten Schriftträger neu zusammengesetzt wird, ist als eine spezielle Form der gewollten Inszenierung poetologischer Heteronomie zu betrachten: Der Text erscheint so, als wäre er keine originäre Schöpfung, sondern lediglich aus der Verarbeitung von Resten unter Beteiligung des Zufalls gewonnen. Der Unterschied liegt darin, dass beim Crossreading-Verfahren der Schriftträger aktiv zerschnitten und dann neu zusammengesetzt wird, während bei dem bei Jean Paul dargestellten Makulaturveredlungsverfahren tatsächlich mit vorgefundenem ›Papiermüll‹ gearbeitet wird. Dass zwischen beiden Vorstellungen allerdings kein großer Sprung liegt, deutet die bereits zitierte Annahme Horace Walpoles an, der zufolge die Crossreadings nicht einfach nur durch das Ignorieren der Spaltengrenze, sondern durch das Zusammensetzen von »scraps« entstanden seien. Es ist bemerkenswert, dass das Crossreading, ausgehend von einem gezielten Akt, nämlich dem Zerschneiden der Seiten, letztlich auf eine stärkere Inszenierung auktorialer Heteronomie hinausläuft, während der Umgang mit nicht selbst zugerichteter Makulatur in Jean Pauls Texten zwar von als stärker heteronom

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Vgl. die von der Akteur-Netzwerk-Theorie Bruno Latours angeregte Interpretation Martina Wernlis in: Dies.: Federn lesen. Eine Literaturgeschichte des Gänsekiels von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein 2021, 409. Uwe Wirth: (Papier-)Müll und Literatur. Makulatur als Ressource. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 133 (2014). Sonderheft: Entsorgungsprobleme. Müll in der Literatur, 19–32, hier: 28.

Reinhard M. Möller: Crossreading, Crosswriting, Makulatur-Lektüre

anzusehenden Bedingungen ausgeht, dann aber wieder deutlichere Positionen auktorialer Autonomie, Kontrolle und Selbstermächtigung markiert. Inszenierte Verfahren des Recyclings von fremdem Text- und Schriftmaterial machen somit bei den ausgewählten Autoren und Texten ein diverses Spektrum von Inszenierungsformen schwächerer oder stärkerer Autorschaftsmodelle der Zeit um 1800 erkennbar. Der protomoderne Charakter solcher Verfahrens- und Inszenierungsmodelle des ›verwandelten‹ Schriftträgers liegt gleichfalls auf der Hand und erlaubt unterschiedliche Vergleiche mit ästhetischen Strategien des 20. Jahrhunderts. Besonders aufschlussreiche Parallelen lassen sich etwa zwischen den Crossreading- und Makulatur-Recycling-Verfahren und dem Cut-up-Prinzip der Beat- und Untergrundliteratur der Nachkriegsmoderne erkennen. Dieses Verfahren, das von William S. Burroughs und Brion Gysin ›erfunden‹ worden sein soll und in der deutschsprachigen Literatur etwa von Carl Weissner und Jürgen Ploog adaptiert wurde, treibt die Vorstellung, aus einer Veränderung, in diesem Fall einer Zerstückelung, und Neuzusammensetzung des Schriftträgers poetologisches Potenzial zu gewinnen, auf die Spitze und setzt damit zugleich Tendenzen der diskutierten Szenarien der Zeit um 1800 fort. Ploog beschrieb das Cut-up-Verfahren in seiner ›Basisvariante‹ Ende der 1970er Jahre wie folgt: »Die simpelste Form ist, 2 beliebige Seiten eigenen oder fremden Textes senkrecht zu zerschneiden & die 4 Hälften in vertauschter Reihenfolge wieder zusammenzusetzen. Man beginnt nun über die semantischen Bruchstellen hinwegzulesen«.38 Ploog situierte eine solche Cut-up-Ästhetik im Kontext einer Kritik von massenmedialen Rezeptionsgewohnheiten und einer modernistischen Defamiliarisierungsästhetik und nannte bemerkenswerterweise neben Tristan Tzaras dadaistischer Zufallspoetik explizit Caleb Whitefoord, dem »beim über-die-Spalte-hinauslesen [sic!] das Zeitunglesen bedeutend mehr Spaß brachte«39 , als historischen Vorläufer. Gelungene Cut-ups besitzen nach Ploog »zum Teil etwas Zufälligspielerisches, in ihren besten Beispielen tritt die Technik zurück & ein Feld transrealistischer, nicht-reproduktiver Sprachbilder öffnet sich im Entwurf einer Literatur, deren Möglichkeiten weit genug reichen, um den geschlossenen Kreis vorfabrizierter Wirklichkeit & ihrer Wiedergabe zu durchbrechen«.40 Die Analogie zum Crossreading-Prinzip drängt sich umgehend auf: Schließlich geht es auch dort um die Idee, die »Hälften« eines Textes, hier von Zeitungsartikeln, »in vertauschter Reihenfolge wieder zusammenzusetzen«, die zumindest auch nach Horace Walpoles Vorstellung als Beobachter ein buchstäbliches Zerschneiden

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Jürgen Ploog: Der Raum hinter den Worten. In: J. [sic!] Gehret (Hg.): Gegenkultur Heute. Die Alternativbewegung von Woodstock bis Tunix. Amsterdam: Azid-Presse 1979, 107–113, hier: 108. Ebd., 111. Ebd., 113.

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Poetologien des Schriftträgers: Zwischen Sprach- und Artefaktmaterialität

voraussetzen könne – und auch beim Crossreading liegt die poetologische Pointe darin, über typographisch markierte und zugleich semantisch relevante »Bruchstellen hinwegzulesen«. Doch auch Jean Pauls poetologische Spiele mit Makulatur weisen Parallelen auf: Auch Makulatur lässt sich als ›cut up‹-Schriftträger begreifen, schließlich geht es auch hier darum, zerschnittene oder anderweitig dekomponierte Textmaterialien wieder zu geschlossenen Texten zusammenzusetzen, wobei ›Textnähte‹ oder auch fehlende Teile des Schriftträgers als »semantische Bruchstellen« immer wieder Herausforderungen repräsentieren können. Gerade das Cut-upPrinzip weist in verdichteter Weise auf die zwei gegenläufigen Tendenzen hin, die auch die Szenarien um 1800 schon kennzeichnen: Auf der einen Seite repräsentieren entsprechende Strategien des Schriftträger-Recycling eine – inszenierte! – bewusste Abtretung auktorialer Kreativmacht an das Material, während andererseits das beim Cut-up offen eingestandene aktive Zerschneiden zugleich für das Festhalten an auktorialer Kontrolle steht, das sich in der gewaltsamen Zurichtung des Schriftträgers manifestiert. Gerade letzterer Aspekt lässt sich auch bei Whitefoord, Lichtenberg und Jean Paul zumindest als Verdachtsmoment nicht abschütteln, so sehr auch die eigentliche Kontrolle über die Textgenese dem »journey printer« oder auch der Makulatur selbst zugewiesen wird.

Die Nachhaltigkeit der Prachtausgabe Materialität und Ressourcenökonomie bei Stefan George Yashar Mohagheghi

1. Von der Formästhetik zur Publikationspolitik: Sprach- und Buchmaterialität bei George Stefan Georges Lyrik gilt als Inbegriff der Formästhetik, die durch die Relativierung von Inhalten gegenüber der reinen Sprachform bestimmt ist. Dabei zeigt sich, dass Georges Formbegriff eng mit einer Vorstellung von Materialität verbunden ist. Demnach erscheint die Sprache als das Rohmaterial, mit dem der Dichter, verstanden als Handwerker und artifex, umzugehen hat. Literarisches Schreiben wird bei ihm daher dezidiert als Arbeit des konkreten Formens von Sprachmaterial begriffen. In Gedichten wie Im Park aus dem Erstzyklus Hymnen von 1890 knüpft George sichtlich an die etwa von den Parnassiens vertretene Auffassung vom Dichten als difficulté vaincue, als hartnäckigem Formsieg über das widerständige Material, an. Diese Verbindung von Form und Materialität liegt dem Formbegriff dabei schon allgemein zugrunde. Wenn die Form, so Thorsten Hahn und Nicolas Pethes, den »Bezug eines Werks auf seine – kontingente, in der jeweiligen Formgebung aber spezifisch selegierte – ›Gemachtheit‹ oder ›Faktur‹«1 in den Blick rückt, so zeigt sich darin schon, dass »Formästhetik zugleich eine Ästhetik des Materiellen«2 ist. Ein solcher »materialbewußter Formbegriff«3 liegt auch bei Stefan George zugrunde. Von einem Literaturbegriff als Formkunst ausgehend begreift er das Gedicht als »gebilde«.4 Dies ist es zunächst als sprachliches Formgebilde, sodann aber – konse1 2 3 4

Thorsten Hahn/Nicolas Pethes: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Formästhetiken und Formen der Literatur. Materialität – Ornament – Codierung. Bielefeld: transcript 2020, 9–19, hier: 10. Ebd., 12. Ebd. So schaut George 1898 in der Vorrede zur zweiten Ausgabe von Hymnen Pilgerfahrten Algabal auf seine Werkphase bis 1897 zurück und sagt über sich: »so blieb er bis in einzelheiten der rücksicht auf die lesende menge enthoben die damals besonders wenig willens oder fähig war ein dichtwerk als gebilde zu begrüssen und zu geniessen.« (II, 5) (Alle Zitate aus Stefan George: Sämtliche Werke in 18 Bänden. Stuttgart: Klett-Cotta 1982–2013 werden in Klammern unter Angabe von Band, Seitenzahl und ggf. Vers im Fließtext wiedergegeben.) Die Blätter

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Poetologien des Schriftträgers: Zwischen Sprach- und Artefaktmaterialität

quenterweise – auch in seiner Formatierung auf der Seite und schließlich als Artefakt in Form des Buchobjekts und im Rahmen sozialer und körperlicher Praktiken.5 In allen drei Bereichen wird mit der Kultivierung des Äußerlichen eine emphatische Materialität vertreten. Im Folgenden soll diese Materialität bei George zunächst an der sprachlichen Form des Gedichts aufgewiesen werden, die sich, wie danach zu zeigen ist, auch im Format niederschlägt. Speziell soll sich dabei zeigen, dass Georges Literaturkonzept eng mit Prozessen der Verschwendung und Verknappung in Verbindung steht. So operiert Georges sprachliche Formarbeit maßgeblich mit Verknappung (von Syntax und Lexik). Die Selektion von sprachlichem Material kann dabei als ›lexikalischer‹ Luxus begriffen werden und korrespondiert so mit den luxuriösen Welten und erlesenen Stoffen, die die Gedichte evozieren. Doch ist Georges Sprache dadurch im Ergebnis durch eine rustikale Kargheit geprägt, die in der nach-ästhetizistischen Werkphase des kulturpolitisch-messianischen George auch thematisch akut wird und deren leitende Materialmetaphorik die des Steinernen ist. Das Lapidare (von lat. lapidus) des Ausdrucks spiegelt den apodiktischen Anspruch an Gesetzeskraft, mit der die gnomisch-gedrängten Verse auftreten. George übersetzt dieses Lapidare in die Typographie der wie in Stein gemeißelten Schrift, die zeitüberdauernde Geltung zu beanspruchen scheint. Die andere Seite von Georges Materialmetaphorik, die der ästhetizistischen Tradition entstammt, kultiviert hingegen mit den kostbaren Materialien ostentative Verschwendung. Die Prachtausgaben suchen in diesem Sinne Kostbarkeit und Exklusivität auf zweierlei Weise zu erreichen: erstens durch die Publikationspolitik, die eine Begrenzung von Auflagenhöhe und Abnehmerkreis bemüht, um sich (anders als die kulturpolitisch universalisierte Exklusivität des messianischen Kreises) auf eine kleine Geschmackselite zu beschränken; zweitens durch die kostbare Materialität und aufwendige Herstellung von Prachtausgaben, insbesondere

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für die Kunst fordern daher, das »kunstwerk als gebilde (rhythmisch)« zu begreifen. (Blätter für die Kunst 4, 1/2 [1897], 3) Das Verständnis vom Gedichtkörper erfordert entsprechend psychophysische Rezeptionsweisen; demgegenüber erscheint das geläufige Abheben auf bloße ›Inhalte‹ als Abstraktion von der konstitutiven Materialität der Literatur, wie Robert Boehringer in Das Leben von Gedichten von 1932 hervorhebt. Das Gedicht sei demnach »einzuverleiben« und solle »geistig und körperlich umgestaltet« werden, damit die Wirkung »sich körperlich in dem veredelten antlitz des am großen gebildeten menschen« niederschlage. Abgelehnt wird demgegenüber ein »wählerisch[es]« »[H]erausgreifen« einzelner Inhalte, das mit der Missachtung der materiellen Dimension »das gebilde zum stoff erniedrigen« würde. Mithin fordert Boehringer, der Rezipient müsse das Gedicht »zum heile seiner seele eben so einnehmen wie die pillen der ärzte zum heile seines leibes, ganz und unzerkaut.« Robert Boehringer: Das Leben von Gedichten. Breslau: Ferdinand Hirt 1932, 4f. Vgl. dazu etwa Wolfgang Braungart: Ästhetischer Katholizismus. Stefan Georges Rituale der Literatur. Tübingen: Niemeyer 1997, 154–175.

Yashar Mohagheghi: Die Nachhaltigkeit der Prachtausgabe

derjenigen zum Zyklus Der Teppich des Lebens von 1899 – der ein Übergangswerk zwischen der ästhetizistischen und der kulturpolitischen Werkphase darstellt. Doch erweisen sich die Verknappungs- und Exklusivitätsstrategien des GeorgeKreises als intrikat: Sie sind nicht einfach auf die üblichen Marktmechanismen zu reduzieren, obgleich sie an diese anknüpfen. Vielmehr zeigen sich die Distinktionsstrategien verwickelt in eine Dialektik der gleichzeitigen Adaption und Suspension von Marktlogiken, wie zu zeigen ist. In diesem Sinne ist auch der inszenierte Luxus der Prachtausgaben nicht einfach jenen – von der ökonomischen Theorie der Zeit analysierten – Verschwendungspraktiken gehobener Besitzschichten zuzuschreiben. Die Kostbarkeit von Georges Prachtausgaben wird vielmehr durch ihren Singularitätswert definiert, der durch Handarbeit generiert wird. So konvergieren aber die beiden (scheinbar gegenläufigen) Erscheinungsformen der Verknappung bei George: prunkvolle Exklusivität und rustikale Kargheit. In beiden Fällen verfolgt die Verknappung bzw. Rarefizierung eine Entbindung von Marktgesetzen und ökonomischer Repräsentation (bleibt dabei aber letztlich an ihre Logiken gebunden): im Falle hyperbolischer Verschwendung durch Überdehnung der Marktrelationen, im Falle rustikaler Kargheit durch den Verzicht auf das marktgängige Warenangebot und die Beschränkung auf in Handarbeit hergestellte nachhaltige Produkte. In Bezug auf die Gedichte fallen diese beiden Seiten als Form und Inhalt auseinander: Der verschwenderischen Evokation kostbarer Materialien in den Gedichten steht die lakonische Kargheit ihres sprachlichen Ausdrucks, in dem alles Überflüssige getilgt ist, gegenüber. In den Prachtausgaben verbinden sich diese beiden Aspekte von (scheinbar verschwenderischem) Prunk und rustikaler Nachhaltigkeit zum handwerklichen Ideal eines asketischen Luxus. Insgesamt wird bei George damit eine Exklusivität kultiviert, die sich von marktgängigen Wertlogiken (weitestgehend) zu lösen vorgibt (um sich damit aber paradoxerweise am Literaturmarkt zu behaupten), indem sie sich von der ›Verschwendung‹ sowohl der industriellen Massenproduktion als auch der wohlhabenden Repräsentationskultur absetzt – zugunsten eines handwerklichen Ideals nachhaltiger Güter von hoher Qualität.

2. Erlesenheit als Selektion und Prunk: Lapidare Sprachform und hyperbolische Materialphantasien Bekanntlich ist Georges Formarbeit bestimmt durch Verdichtung, die alles überflüssige Sprachmaterial aussondert. Das gilt zunächst für die Syntax. Bereits in den Übertragungen von Baudelaires Fleurs du Mal beginnt George, Prägnanz auszubilden. Schon durch die Kürzung des Alexandriners auf einen fünfhebigen Jambus wird die Syntax komprimiert, die »nirgendwo eine blinde, ausgesparte,

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Poetologien des Schriftträgers: Zwischen Sprach- und Artefaktmaterialität

nichtssagende Stelle« aufweist und »einen Grad der Ballung und der Härte«6 annimmt. Auch Ute Oelmann stellt über die »verknappende Syntax mit z.T. extrem harten Fügungen« fest, dass sich »keine sinnleichten/tonleichten Stellen, keine ›Löcher‹ im Text« finden und das »Textgewebe extrem verdichtet« wird.7 Jürgen Brokoff attestiert dieser »Ausscheidung aller Nebenassoziationen« die Qualität eines »Reinigungsprozess[es]«, durch den der »(vermeintliche) ›Wildwuchs‹ der Bedeutungen, der das nicht-poetische Wort kennzeichnet«,8 beschnitten wird zugunsten des reinen, klaren Wortes. Die »Reinigung der Sprache von leerem, überflüssigem Wortmaterial, etwa von Partikeln, Füll- und Flickwörtern« führt dazu, »dass das einzelne Wort bzw. die einzelne Silbe ein größeres Eigengewicht erhält.«9 Insgesamt nimmt die Sprache so eine kompakte Gedrungenheit an. Auch die Wortwahl unterliegt der Selektion, die nur ›erlesene‹ Wörter zulässt und gewissermaßen eine Art lexikalischen Luxus befördert.10 In Hinblick auf die Morphologie streicht George zudem generische Wortelemente (wie Präfixe und Suffixe) und konzentriert das Wort auf den Stamm. Hieraus geht ein Teil der Neologismen und Archaismen hervor, die Georges Sprachstil ihre Eigentümlichkeit verleihen. Die Verfremdung des Wortmaterials, die die Singularität des Ausdrucks und die Abweichung von der Normalsprache zu maximieren sucht, soll als Selbstausweis von Form gelten.11 Dieter Mettler erkennt darin ein kunstgewerbliches Ideal, das gegenüber industrialisierten Verfahrensweisen individuelle Herstellungsformen und Produkte (in Handarbeit) bemüht, wozu für William Morris etwa die eigene Herstellung von Druckmaterialien (Papier, Farben) gehört. George überträgt dies

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8 9 10 11

Vgl. Hubert Arbogast: Die Erneuerung der deutschen Dichtersprache in den Frühwerken Stefan Georges. Eine stilgeschichtliche Untersuchung. Köln: Böhlau 1967, 63. Ute Oelmann: Ein Wort – ein rosenes Gesicht. Überlegungen zum ›neuen‹ Gedicht Stefan Georges. In: Claudia Monti u.a. (Hg.): Körpersprache und Sprachkörper. Semiotische Interferenzen in der deutschen Literatur/La parola del corpo – il corpo della parola. Tensioni semiotiche nella letteratura tedescha. Bozen: Ed. Sturzflüge 1996, 101–109, hier: 105. Jürgen Brokoff: Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde. Göttingen: Wallstein 2010, 452. Ebd., 485. Vgl. Julia Genz: Diskurse der Wertung. Banalität, Trivialität und Kitsch. Paderborn: Fink 2011, 273f. Dabei handelt es sich um ein konstitutives Verfahren der Literatur als Formkunst, wie Viktor Šklovskij es in Die Kunst als Verfahren darlegt. Demnach ist das »Verfahren der Kunst« ein »Verfahren der ›Verfremdung‹ der Dinge und das Verfahren der erschwerten Form, ein Verfahren, das die Schwierigkeit und Länge der Wahrnehmung steigert, denn der Wahrnehmungsprozeß ist in der Kunst Selbstzweck und muß verlängert werden; die Kunst ist ein Mittel, das Machen einer Sache zu erleben; das Gemachte hingegen ist in der Kunst unwichtig.« Viktor Šklovskij: Die Kunst als Verfahren. In: Texte der russischen Formalisten. Hg. von Jurij Striedter. Bd. 1. München: Fink 1969, 2–35, hier: 15.

Yashar Mohagheghi: Die Nachhaltigkeit der Prachtausgabe

auf das Sprachmaterial.12 Zugleich ist darin eine Marktplatzierungsstrategie zu erkennen. Das unverbrauchte, von Archaismen, Neologismen und seltenen Ausdrücken geprägte Wortmaterial soll sich der gewöhnlichen Verkehrssprache, aber auch der marktgängigen Literatursprache entziehen. Durch die Ausbildung eines unterscheidungswirksamen Stils als Alleinstellungsmerkmal soll die Eigenmarke ›George‹ geschaffen werden. Die Sprachselektion nimmt dabei ökonomische Valenz an, indem sie bewusst auf die Marktkorrelation von Knappheit und Wert rekurriert. Das Ergebnis der Formverfahren ist eine kernig-gedrängte Sprachgestalt, die karg und lapidar wirkt und in gewisser Weise mit der Verschwendung kostbarer Materialien in Georges Gedichten kontrastiert. Im Unterschied zu den dort evozierten Edelmetallen und Edelsteinen wie Gold, Rubin, Topas usw. evoziert die Sprachgestalt vielmehr die Metaphorik des Steinernen. Dieser »Sprachgestus des Lapidaren«, der den Eindruck »in Stein gehauener Inschriften« weckt, wird in den späteren Ausgaben auch auf die Typographie übertragen.13 Oelmann konstatiert in Bezug auf den Siebenten Ring, dass die Gedichttexte »wie in Stein gemeisselt auf den Seiten, Schrifttafeln gleich, gedruckt« sind.14 Die typographische Gestalt und die damit evozierte Materialität stehen dabei in direkter Verbindung mit dem lapidaren Spruchcharakter des gedrungenen Verses. Sie sollen die Form des Buchs in Tafeln aufrufen und Geltungskraft suggerieren.15 Der sparsam und karg anmutenden Sprachgestalt, die von dem Willen nach Erlesenheit und Distinktion geprägt ist, steht in den Gedichten die verschwenderische Aufbietung von (kostbaren) Materialien entgegen. Davon legt etwa das Gedicht Die Spange aus dem Zyklus Pilgerfahrten von 1891 Zeugnis ab: »Ich wollte sie aus kühlem eisen Und wie ein glatter fester streif Doch war im schacht auf allen gleisen So kein metall zum gusse reif. Nun aber soll sie also sein: Wie eine grosse fremde dolde Geformt aus feuerrotem golde Und reichem blitzendem gestein.« (II, 54)

12 13 14 15

Vgl. Dieter Mettler: Stefan Georges Publikationspolitik. Buchkonzeption und verlegerisches Engagement. München: Saur 1979, 62. Ebd., 67. Ute Oelmann: »Das doch nicht äusserliche«. Die Schrift- und Buchkunst Stefan Georges. Einführung und Katalog von Ute Oelmann. Stuttgart: Verb. Dt. Antiquare 2009, 17. Vgl. Mettler: Stefan Georges Publikationspolitik, 67f.

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Poetologien des Schriftträgers: Zwischen Sprach- und Artefaktmaterialität

Das kurze Gedicht führt ein logisches Paradox vor: Es gebricht ironischerweise am kostengünstig-herkömmlichen Werkmetall, nicht aber am kostbar-seltenen Edelmetall, mit dem wie als bloßem Behelf vorliebgenommen werden muss. Diese logische Inversion verkehrt mit der ökonomischen Gesetzmäßigkeit auch jegliche Realweltlichkeit: Mit der hyperbolischen Verschwendung der kostbaren Ressourcen ›rarefiziert‹ sich die Literatur als ein jeglicher Tausch- und Ressourcenökonomie und damit dem Realitätsprinzip überhaupt enthobener und erlesener Bereich. Das Gedicht ist damit zugleich ein poetologisches, indem der Gebrauchsgegenstand, die Spange, deren Nützlichkeit sich auch in der funktional-einfachen Klammerform spiegelt, ästhetisiert und zum Luxusgegenstand wird. Auch im Unterreich des Zyklus Algabal von 1892 folgt George der hyperbolischen Aufbietung von kostbaren Materialien, die seit Baudelaires Rêve parisien von 1860 zugleich als überbietende Nachahmung des modernen Fortschritts und seiner florierenden Materialwelten wie auch als dessen übersteigernde Negation durch eine sich selbst absolut setzende Phantasie artistischer Sprachbeherrschung auftritt. Solche Formen anökonomischer Verschwendung erweisen sich in sozial-ökonomischen Mustern der Zeit verortet, die Thorstein Veblen in seiner Theory of the Leisure Class von 1899 unter dem Schlagwort conspicuous waste als soziale Distinktionspraxis der wohlhabenden Besitzklasse beschrieben hat. Die ästhetizistische Literatur greift diese ostentative Verschwendungspraxis auf. Verschwendung wird dabei nicht bloß in Literatur ›übersetzt‹ und sprachlich ›nachgeahmt‹, sondern metapoetisch reflektiert. Denn als Kunst hebt sich der Ästhetizismus von jener ökonomischen Logik ab, in die die sozialen Praktiken der Verschwendung eingebunden sind. An die Stelle sozial-ökonomischer Distinktion tritt eine ästhetische. Sie enthebt sich dem monetären Wertmaßstab und bemisst sich einzig an der NichtGenerizität. Solche Distinktion kennt dialektische Absetzungsschleifen, die gerade auch das Einfache, Billige, Vulgäre zum eigentlichen ›Luxus‹ erklären können, sofern es sich vom (Markt-)Gängigen und dem ästhetisch Gewohnten absetzt.16 Generell handelt es sich um ein Distinktionsmuster, das grundsätzlich durch die industrielle Güterfungibilität im 19. Jahrhundert ermöglicht wird und insbesondere vor dem Hintergrund der nochmals verschärften Konsumkultur im 20. Jahrhundert virulent wird (Susan Sontag hat dieses Phänomen in ihrem Camp-Aufsatz beschrieben). An Georges Prachtausgaben zeigt sich, dass die bibliophile Kostbarkeit nicht bloß durch den ökonomischen Gegenwert, sondern vorrangig durch die ästhetische Eigentümlichkeit definiert wird, die die Bücher vor der Kommodifizierung zu wahren sucht und sie als ›ästhetischen Luxus‹ dem Markt für Luxuswaren gegenüberstellt. Im Folgenden soll dies an Georges Prachtausgaben, ihrer Publikationspolitik und Materialität, gezeigt werden.

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Vgl. ebd., 59.

Yashar Mohagheghi: Die Nachhaltigkeit der Prachtausgabe

3. Exklusivität als Marktstrategie der Prachtausgaben Die Prachtausgabe zu dem Zyklus Der Teppich des Lebens von 1899 stellt einen Höhepunkt in der Bibliophilie-Bewegung des 19. Jahrhunderts dar. Sie ist entstanden als eine gemeinsame Arbeit Georges mit dem Jugendstilkünstler Melchior Lechter und wurde als exklusive Auflage in geringer Zahl im Bondi-Verlag veröffentlicht (ihr folgte 1900 eine öffentliche Ausgabe nach). In ihrer Zusammenarbeit rekurrieren George und Lechter auf ein vorindustrielles Ideal der Buchherstellung in der Zusammenarbeit von Handwerker, Schreiber und Maler.17 Lechter war Gestalter von Innenräumen, Möbeln, Gebrauchsobjekten, aber auch von Büchern.18 Die kunstgewerbliche Ambition Georges und Lechters in der Arbeit am Buch liegt mithin offen. George spricht in Hinblick auf den Zyklus vom »ersonnene[n] möbel«19 und Lechter führt die Anspielung auf den Artefaktcharakter fort, wenn er George über den Stand des Textes fragt: »WIE WEIT IST DER ›TEPPICH‹ GEWIRKT?«20 Insbesondere Lechters Ausbildung als Glasmaler schlägt sich, dem Gegenstand nach, in der Gestaltung der Prachtausgabe nieder. Die Seiten zeigen jeweils zwei Kielbögen, in denen die Gedichte einzeln eingefügt sind. Die umgebende Ornamentik weckt im Bildkontext die Assoziation von Bleiglasfenstern. Figürliche Darstellung konvergiert mit Bildschmuck, der dasjenige Objekt hervorruft, das dem Zyklus seinen Titel gibt: den Teppich. George und Lechter rekurrieren in ihrem eigenen und gegenseitigen Künstlerverständnis auf den Künstler als Handwerker bzw. artifex, sprechen sich konsequenterweise als ›Meister‹ an. Den Zyklus Der Teppich des Lebens haben sie mithin als eine paritätische Arbeit angesehen, in der die Gedichte und das Buchobjekt ebenbürtig sind, wie sich an der Seitengestaltung zeigt, in der Schrift und Bild als gleichrangige visuelle Elemente in eine hierarchielose Flächigkeit treten.21 Da das Format 17 18

19 20 21

Vgl. Cornelia Blasberg: Stefan Georges ›Jahr der Seele‹. Poetik zwischen Schrift und Bild. In: Hofmannsthal-Jahrbuch 5 (1997), 217–249, hier: 228. Vgl. Christine Haug/Wulf D. von Lucius: Verlagsbeziehungen und Publikationssteuerung. In: Achim Aurnhammer (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. Berlin/Boston: de Gruyter 2 2016, 408–491, hier: 473. Brief von George an Lechter, 7.1.1899. In: Melchior Lechter und Stefan George. Briefe. Kritische Ausgabe. Hg. von Günter Heintz. Stuttgart: Hauswedell 1991, 63. Brief von Lechter an George, 27.6.1899. In: Melchior Lechter und Stefan George. Briefe, 76. Nach Höpker-Herberg wirkt der Text mithin »nicht senkrecht, sondern wie über die Fläche des Blattes ausgebreitet.« (Elisabeth Höpker-Herberg: ›Der Teppich des Lebens‹. Die ›erste reinschrift des Vorspiels‹ und das ›handgeschriebene buch‹. Ein Bericht. In: George-Jahrbuch 4 (2003/2003), 195–218, hier: 198) Tatsächlich wollte George die Abfolge der Gedichte durch eine flächige Anordnung ersetzen, wie eine Handschrift bezeugt. Ein solcher »Text-Teppich« konnte aber im Druck nicht umgesetzt werden. Vgl. Ute Oelmann: Vom handgeschriebenen Buch zur Erstausgabe. Schrift- und Buchkunst Stefan Georges. In: Castrum peregrini 56 (2007), 276/277, 63–76, hier: 73. Man begnügte sich damit, vier Gedichte auf einer Doppelseite zu

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Poetologien des Schriftträgers: Zwischen Sprach- und Artefaktmaterialität

als »[d]as doch nicht Äußerliche« wie die Literatur auch »guten Geschmack« fordert, den die Buchherstellung lange habe vermissen lassen, sieht sich der Autor auch in dieser Hinsicht zuständig: »Sogar für das Technische eines Buches ist der Verfasser mitverantwortlich, und man darf es ihm nicht als Eitelkeit vorwerfen, wenn er Druck und Papier der landläufigen Markterzeugnisse verschmäht und für sein Geschöpf eine standesgemäße Kleidung beansprucht.«22 Zum prachtvollen Seitenschmuck kommt das Design des Buchkörpers hinzu. Das Großquartformat (36,5 x 38 cm) soll die (Bedeutungs-)Schwere anzeigen. Der Massivholzdeckel ist mit moosgrünem Leinen überzogen, auf dem sich die sakrale Titelgestaltung in Nachtblau abhebt: Zwei siebenflammige Kandelaber flankieren den Titel und die Taube des Heiligen Geistes. Für die Buchseiten wurde kostbares, dickes, leicht graugrün getöntes Büttenpapier verwendet, dessen unbeschnittene Ränder die unverarbeitet-rohe Materialität betonen. Die materielle Faktur, die Georges Lyrik durch die ›Körnigkeit‹ ihrer sprachlichen Rohelemente transparent macht, wird auch hier hervorgehoben. Die Pracht der Buchausgabe soll Exklusivität herstellen. In diesem Sinne erwähnt das Kolophon die nummerierte Auflagenzahl von 300 und die Vernichtung der Platten nach dem Druck. Exklusivität stellt seit der Gründung der Blätter für die Kunst 1892 als Selbstverlag die zentrale Marktstrategie Georges dar. Geschickt schlägt George aus der fehlenden Breitenwirkung Kapital, indem er sie als Prinzip seiner Publikationspolitik vermarktet. Es ist gerade die behauptete Erhabenheit über den Markt und die Verachtung für ihn, die seinen Verlag konkurrenzfähig macht und ihm ein Marktsegment sichert. Dieser Strategie dienen auch die kleinen Auflagen, die eine künstliche Verknappung verfolgen. Dabei kommt es nicht bloß auf die geringe Auflage an, die allein noch keinen Seltenheitswert garantiert. Vielmehr musste zugleich eine gewisse Publizität geschaffen werden, die mit der niedrigen Auflagenzahl kollidierte und einen Nachfrageüberhang provozierte.23 Die Abschottung ist also nur die vordergründige Seite einer öffentlichkeitswirksamen Publicity. Während George die Zyklen zunächst als Privatausgabe mit maximaler Stückzahl von 500 lancierte, kommt seit seiner Verbindung mit dem Bondi-Verlag eine zusätzliche Publikationsform hinzu, indem er der Privatausgabe eine spätere öffentliche Ausgabe folgen ließ, die in etwa zehn kleineren Auflagen eine Stückzahl von etwa 30.000 wie beispielsweise beim Jahr der Seele erreichen konnte. Dabei wurden Kostbarkeitsmarker wie Individualisierung und hochpreisige Materialien

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setzen. Die Wirkung der Fläche sollte damit immerhin durch die megalomane, »flächige und über das Einzelgedicht hinausgehende Gedichtbauweise« betont werden. Vgl. Stephan Kurz: Der Teppich der Schrift. Typografie bei Stefan George. Frankfurt a.M./Basel: Stroemfeld 2007, 154. Carl August Klein: Die Sendung Stefan Georges. Erinnerungen. Berlin: Die Rabenpresse 1935, 75f. Vgl. Mettler: Stefan Georges Publikationspolitik, 38f.

Yashar Mohagheghi: Die Nachhaltigkeit der Prachtausgabe

in Form von maschinell hergestelltem Büttenpapier und der Georgeschrift reproduzierbar gemacht und damit ›gefälscht‹.24 Sie erwecken den Anschein von Seltenheit, obwohl sie in Serie produziert sind. Als »Derivationsform der kostbaren privaten«25 kann so selbst die öffentliche Ausgabe noch den Anschein des Exklusiven bewahren. Warenökonomisch handelt es sich bei den öffentlichen Ausgaben um die von Werner Sombart so genannte Surrogierung, also um scheinluxuriöse Waren, die als kostengünstigere und minderqualitative ›Replikate‹ der originären Luxusgüter für breitere Schichten verfügbar gemacht werden.26 Georges Publikationspolitik greift also auch hier auf geläufige Marktinnovationen der Industrialisierung zurück. Insgesamt ist damit schon vorgezeichnet, dass es gerade das aus der Massenproduktion entstandene Taschenbuch war, allen voran im Inselverlag, das um 1900 die Prachtwerke beerben und bibliophile Ausgaben breitenwirksam distribuieren wird.27

4. Asketische Prachtausgaben und Handwerksqualität: Luxus als Nachhaltigkeit Doch setzt sich Georges Publikationspraxis noch von den herkömmlichen Marktmechanismen ab, wie sich an den Prachtausgaben zeigt. Wie bei der KunstgewerbeBewegung im Allgemeinen tritt auch bei George das Moment der individuellen Arbeit hervor. Die Wertbestimmung richtet sich nicht nach dem Marktpreis, sondern nach der handwerklichen Qualität. Um sich von der standardisierten Produktion abzusetzen, werden in den Privatausgaben und Handschriften daher bewusst Unvollkommenheiten und Grobheiten eingebaut, die die als ›Stil‹ interpretierte handwerkliche Individualität betonen sollen.28 Dies kann auch bei der Materialwahl den Vorzug des Rustikal-Einfachen gegenüber dem Teuren und Erlesenen begründen. So setzt sich George gegen Lechters Forderung nach Luxusmaterialien zur Wehr, um sich der marktgängigen Kostbarkeit entgegenzustellen. Die Auswahl der Materialien soll sich vielmehr dezidiert von den Marktusancen unterscheiden. Diese Absetzung von der Logik des Luxusgütermarktes geht auch mit der Ablehnung der damit

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Vgl. ebd., 51. Vgl. ebd., 40. Werner Sombart: Der moderne Kapitalismus: historisch-systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Bd. 3/2: Der Hergang der hochkapitalitstischen Wirtschaft, die Gesamtwirtschaft. München/Leipzig: Duncker & Humblot 1928, 623-627. Vgl. auch Dominik Schrage: Die Verfügbarkeit der Dinge. eine historische Soziologie des Konsums. Frankfurt a.M.: Campus 2009, 145. Mettler, Stefan Georges Publikationspolitik, 52. Vgl. ebd., 50f.

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verbundenen sozio-ökonomischen Strukturen einher. Der Verachtung der Wohlstandsklasse gegenüber der ›Kulturlosigkeit‹ der Mittel- und Unterschichten setzt George seinerseits die Verachtung für die reiche Schicht als ›gehobenen Pöbel‹ entgegen.29 Die sozial-ökonomische Dimension wird bei der Materialgestaltung des Buches explizit mitgedacht: »Wir verwahren uns dagegen dass diese sammlung unsrer dichter eine bestehende verdrängen soll. Hat ja die obere masse ihre geschmacklosen prachtausgaben die untere masse ihre nicht schlechteren notausgaben. Einem kreis von künstlern aber und schönheitliebenden sei nicht verwehrt seine anforderungen zu betonen und seine verehrten meister-dichter in einer ausstattung zu lesen die dem gehobenen geschmack entspricht. Eine solche gibt es bisher nicht.«30 In seiner absoluten Absetzungsgeste sucht George die herkömmliche sozial-ökonomische Ordnung von ›oben‹ und ›unten‹, ›teuer‹ und ›günstig‹ zu unterwandern und setzt ihr sozial eine Geschmackselite und ästhetisch das Nicht-Generische gegenüber (wobei er ihre Kategorien wie ›hoch‹ und ›niedrig‹, den ›gehobenen Geschmack‹, die ›Masse‹ usw. übernimmt und damit das grundsätzliche Schema dieser Ordnung unangetastet lässt). In diesem Sinne können sowohl teure als auch billige Materialien verwendet werden, sofern sie von der Massenproduktion noch nicht genutzt werden und daher ›unverbraucht‹ sind. Der Einbandstoff etwa kann von grauem Karton bis zu Seide mit Silberbeschlag reichen. In Hinblick auf das Material sind so nicht die Kosten des verwendeten Rohstoffs ausschlaggebend, sondern die Abweichung vom üblichen Gebrauch.31 Wichtiger als die Fabrikationsstoffe ist die Einzigartigkeit des Produkts. Dies steht ganz im Einklang mit dem Distinktionspostulat, das Georges letztlich marktkonformer Strategie der Marktfeindlichkeit eignet. Doch die Betonung auf die einzigartige Verfertigung, die ›Liebe zum Detail‹, ist auch mit einer Aufwertung des handwerklichen Moments und der Arbeit verbunden. Mettler spricht von einer »Phantasmagorie der ›eigenen Hand‹«, in der allein – und nicht im Material – der Wert des Artefakts begründet liege.32 Schon John Ruskin und William Morris sehen in ihrer Theorie des Kunsthandwerks den Wert des Artefakts vom Anteil der menschlichen Arbeit an der Produktion bestimmt. Bei Ruskin liest man: »For it is not the material, but the absence of human labour, which makes the thing worthless; and a piece of terra cotta, or plaster of Paris, which has been wrought by the human hand, is worth all the stone in Carrara, cut by machinery,« sodass die Artefakte »become precious […] just in proportion to

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Vgl. ebd., 56–58. Stefan George/Karl Wolfskehl: Deutsche Dichtung. Zit. nach: Der George-Kreis. Eine Auswahl aus seinen Schriften. Hg. von Georg Peter Landmann, Köln/Berlin: Kiepenheuer & Witsch 1965, 59. Vgl. Mettler: Stefan Georges Publikationspolitik, 56–58. Vgl. ebd., 49f.

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the hand-work upon them, or to the clearness of their reception of the handwork of their mould.«33 Diese Valorisierung ist zunächst vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Wertökonomiediskurses um Arbeit und Material, jedoch auch im Zusammenhang der Diskussion um die Entfremdung von Arbeitskraft und Produkt zu begreifen. In der Arbeit erkennt Morris eine ›moralische‹, also für die menschliche Selbstverwirklichung wesentliche Rolle. Doch sie ist vor allem in ästhetisch-handwerklicher Hinsicht unverzichtbar: Mit der Rückkehr zur Handarbeit sollten gegenüber der industriellen Massenfertigung minderwertiger Produkte qualitativ hochwertige Waren hergestellt werden. Morris greift, als Leitfigur der Arts and Crafts-Bewegung, auch bei der Buchherstellung auf vorindustrielle Techniken und Materialien zurück. So stellt er etwa mit einer Handpresse selbst Hadernpapier her, das er für seine Bücher gebraucht. Angesichts der existierenden effizienteren Produktionstechniken lässt sich diese Herstellungsweise als eine bewusste Verausgabung der Humanressource ›Arbeit‹ betrachten. Doch unterscheidet sie sich von der gängigen gesellschaftlichen Ressourcenverschwendung. Denn erstens fungiert die Arbeit, wie gesagt, als Mittel der Selbstverwirklichung und zweitens besteht das Ergebnis dieser übermäßigen Arbeitsinvestition in der Herstellung hochwertiger Güter, hier: Bücher, mit einer langen Lebensdauer,34 sodass der Aufwand zumindest dem Grundsatz nach gerechtfertigt erscheint. Morris äußert sich diesbezüglich deutlich und unterstreicht dabei den Nexus von Nachhaltigkeit und Ästhetik: »It was a matter of course that I should consider it necessary that the paper should be hand-made, both for the sake of durability and appearance«, sodass er das praktische Fazit ziehen kann: »It would be a very false economy to stint in the quality of the paper as to price: so I had only to think about the kind of hand-made paper.«35 Dass Morris nur handgeschöpftes Papier verwendete und fast alle Werke auf feinstem Pergament druckte,36 ist in diesem Sinne also nicht bloß durch preziös-ästhetizistische Luxusvorstellungen begründet, sondern durch das handwerkliche Ideal hochwertig-nachhaltiger Produkte, wie es auch in Georges Buchkunst zu erkennen ist. Die obigen Ausführungen haben gezeigt, dass Nachhaltigkeit nicht erst in der Nachkriegsgegenwart ins Bewusstsein tritt, sondern der Industrialisierung gleichursprünglich ist. Die Kritik an Massenkonsum und Ressourcenverschwendung, die 33 34

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John Ruskin: The seven lamps of architecture. Leipzig: Bernhard Tauchnitz 1907, 85f. Nachhaltigkeit fordert Morris auch vom Leser ein. So beschreibt er mit Entsetzen den nachlässigen Umgang mit Büchern, den er beobachtet und der einen frühzeitigen Verschleiß nach sich führt: so etwa das Knicken von Seiten, die Überdehnung des Deckels usw. William Morris: Collected Works. Hg. von Mary May Morris. Bd. XV: The roots of the mountains. London: Longmans, Green & Company 1912, XVI. Vgl. Friedrich Adolf Schmidt-Künsemüller: William Morris und die neuere Buchkunst. Wiesbaden: Otto Harrassowitz 1955, 43.

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sich um 1900 zum Ausdruck bringt, hat sich für den expansiven Gütermarkt der Gegenwart nur verstärkt. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass sich auch in zeitgenössischen Diskussionen Positionen finden, die Luxus und Nachhaltigkeit nicht gegenüberstellen, sondern als Korrelate betrachten. Plädiert wird in diesem Sinne für eine ökologische Option des Luxus, die nicht mit Verschwendung gleichzusetzen ist, sondern in Form hochwertiger Produkte die Voraussetzung von Nachhaltigkeit darstellt. Langlebige ›Luxusgüter‹ werden – etwa vom Kunsttheoretiker und -praktiker Bazon Brock mit seinem Beispiel von goldenen Essstäbchen – als die ökonomisch effiziente und ökologisch nachhaltige Alternative zur Wegwerf- und Überflussgesellschaft propagiert.37 Der Ruf nach einer stärker funktionalistischen Warenkultur zielt auf eine neue Verbindung von Luxus und Askese sowie auf die Rückkehr zu einem Konsumgüterverhalten mit lebenslangen oder intergenerationellen Zyklen. Es ist dabei kein Zufall, dass Kunstpraktiker wie Brock – ähnlich wie George und Morris – Nachhaltigkeit mit Aspekten des Produktdesigns verbunden haben, das auch im Zusammenhang von lebensreformerischem self fashioning stehen kann. Für die Kunstgewerbebewegung ging es schließlich primär um eine ästhetische Veredelung der Güter des alltäglichen Gebrauchs. Für Morris zählte dazu auch das Buch. Die Verbindung von Ökologie und Ästhetik, von Nachhaltigkeit und Geschmack ist vor diesem Hintergrund historisch einschlägig. Die erhöhte Erschwinglichkeit von Waren im Zuge der Industrialisierung machte die Ausbildung von Geschmack in breiten Schichten erforderlich. Die Beurteilung von Produkten nach funktionalen wie ästhetischen Gesichtspunkten, die dabei gefordert war, lässt auch soziale (Arbeitsbedingungen, ›Fairness‹) und ökologische (Ressourcenverschwendung, Nachhaltigkeit) Aspekte in den Blick geraten. Diese Form der Konsumkritik, die sich zunächst noch vor allem als Produktkritik (über die Geschmackserziehung) versteht, stellt eine Verbraucherbewegung im Rahmen einer frühen Form der Globalisierung dar.38 Auf die historische Parallele zwischen der Konsumkultur um 1900 und der Gegenwart mit ihren Schlagworten des ›green fashion‹ und ›ethical consumption‹ hat Gudrun M. König hingewiesen. Sie betont als verbindendes Moment eine Konsumorientierung, »in der Ästhetik und Ökonomie verknüpft und Produktions- wie Konsumprozesse der hochkapitalistischen Gesellschaft um 1900 als Aspekte der Geschmacksbildung, sozialen Verantwortung und Ethisierung zu

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Bazon Brock: Asketen des Luxus. Gründung eines Konvents der goldenen Eßstäbchen in der Rathausgalerie München. © Bazon Brock, Cronenberg 07. https://bazonbrock.de/werke/det ail/?id=1958§id=1327 (zuletzt abgerufen am 22.09.2022). Gudrun M. König: Die Fabrikation der Sichtbarkeit. Konsum und Kultur um 1900. In: Heinz Drügh/Christian Metz/Björn Weyand (Hg.): Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2011, 158–174, hier: 158, 171, 174.

Yashar Mohagheghi: Die Nachhaltigkeit der Prachtausgabe

deuten sind.«39 Diese von der Industrialisierung im 19. Jahrhundert geschaffene Problem- und Bewusstseinslage in Hinblick auf Warenkultur und Ökologie ist aktueller als jemals zuvor.

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Ebd., 160.

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Ressource Müll Zu einem textmateriellen Verfahren bei Georg Heym (November) David-Christopher Assmann

Schriftträger als Ressourcen zu verstehen, impliziert Zuschreibungen der Brauchbarkeit. Semiotisch oder materiell völlig unbrauchbare Schriftträger können gewöhnlich nicht als Ressourcen fungieren. Oder genauer: Sie müssen zunächst einer semiotisch-diskursiven oder materiellen Transformation unterzogen werden, um wieder als brauchbar beobachtet werden zu können. Ein besonders intrikater Fall, an dem sich Transformationen von aussortierten oder übriggebliebenen, aber revalorisierten textmateriellen Elementen beobachten lassen, sind die Texte von Georg Heym. Intrikat ist dieser Fall, weil sich Heyms Œuvre zu großen Teilen erst postum zusammengestellten und spezifisch aufbereiteten Texten verdankt. Die einzige von Heym autorisierte Publikation ist die Gedichtsammlung Der ewige Tag, die im April 1911 bei Rowohlt erscheint. Diesem Band folgen nach Heyms Tod 1912 die ebenfalls bei Rowohlt von Mitgliedern des »Neuen Clubs« herausgegebene Sammlung Umbra Vitae sowie Jahrzehnte später literaturwissenschaftlich betreute Werkausgaben. Das sind die ab 1960 von Karl Ludwig Schneider besorgten Dichtungen und Schriften und die 1993 ebenfalls von Schneider in Zusammenarbeit mit Günter Dammann und Gunter Martens herausgegebene zweibändige historisch-kritische Ausgabe aller zwischen 1910 und 1912 verfassten Gedichte in genetischer Darstellung. Diese letzte Ausgabe verleitet zu der Annahme, darauf hat unlängst Alexander Nebrig hingewiesen, dass die »alleinige Beachtung der Erstpublikation geradezu oberflächlich«1 sei. Die von Schneider, Dammann und Martens erarbeitete textgenetische Zusammenstellung verlangt, dass auch eigentlich aussortierte Entwurfsstufen als konstitutive Bestandteile der Gedichte berücksichtigt werden müssen, um im Einzelfall ein angemessenes Textverständnis zu entwickeln. Tatsächlich stellt die umfangreiche Ausgabe von 1993 nicht nur der literaturwissenschaftlichen Analyse eine sorgfältig aufbereitete Ressource bereit. Sie produziert auch einen ganz neu1

Alexander Nebrig: Expressionistische Nachlassgeburten. Georg Heyms postume Autorschaft. In: Kai Sina/Carlos Spoerhase (Hg.): Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750–2000. Göttingen: Wallstein 2017, 346–363, hier: 360.

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en, vorher nicht vorhandenen Text, der – nicht zuletzt mit schriftbildlich-typographischen Mitteln – in, mit und zwischen den verschiedenen Fassungen Bedeutungen generiert, die einiges an hermeneutischer Geduld erfordern. Heyms Texte werden durch die komplexe Anlage der Ausgabe mit Effekten einer »textgenetische[n] Tiefendimension«2 ausgestattet, die in den publizierten Gedichten gar nicht oder nur sehr bedingt angelegt, nun aber zu heben ist. Dieses Argument ist so treffend wie einleuchtend. Und doch möchte ich es im Folgenden im Hinblick auf ein Gedicht etwas verkomplizieren. Gegenstand meiner Überlegungen ist das Sonett November, das im zweiten Band der von Schneider betreuten Dichtungen und Schriften von 1964 veröffentlicht worden ist: »November Der wilden Affenscheiße ganze Fülle Liegt auf der Welt in den Novemberkeiten. Der Mond ist dumm. Und auf den Straßen schreiten Die Regenschirme. Daß man warm sich hülle In starke Unterhosen schon beizeiten. Nur Bethge* haust noch auf dem Dichter-Mülle. Man nehme sein Geschmier. Zum Arschwisch knülle Man das Papier zum Dienst der Hinterseiten. Die Martinsgans glänzt in der braunen Pelle. stefan george steht in herbstes-staat. an Seiner nase hängt der perlen helle. Ein gelbes Rotztuch blinkt. Ein Auto naht. Drin sitzt mit Adlerblick die höchste Stelle. Fanfare tutet: Sellerie Salat. * oder Benzmann oder Hesse – nach Belieben!«3 Dass November nicht in Umbra Vitae aufgenommen, sondern als mehr oder weniger unbrauchbar erachtet und ausgesondert worden ist, hat vermutlich zwei Gründe. Erstens hat Heym keine druckfertige Fassung hinterlassen und die erhaltenen Handschriften sind nicht über den Status eines unvollständigen Entwurfs hinausgekommen. Zweitens fügt sich das Gedicht nicht so recht in jenes »Musterbild des 2 3

Ebd. Georg Heym: Dichtungen und Schriften. Gesamtausgabe. Bd. 1: Lyrik. Hg. von Karl Ludwig Schneider. Hamburg/München: Ellermann 1964, 155.

David-Christopher Assmann: Ressource Müll

modernen Großstadtdichters«,4 als den die Herausgeber von Umbra Vitae – als Mitglieder des »Neuen Clubs« selbst Teil »einer der wichtigsten Keimzellen expressionistischer Dichtung und Programmatik«5 – ihren verstorbenen Freund in Szene gesetzt wissen möchten. Das Gedicht passt nicht in die »Schattenseiten irdischer Existenz«,6 wie sie den Band Der ewige Tag prägen, und lässt sich offenbar nur bedingt als Ausdruck des Heym zugeschriebenen »sehr ungewöhnliche[n] Talent[s] des Schauens, Fühlens und Gestaltenkönnens«7 lesen. November bedient sich nicht bei jenem »von einer inneren, mythischen Sichtweise überzeichnet[en]«8 Motiv-Tableau von Großstadt, Apokalypse, Krieg oder Revolution, das Heyms publizierte Texte thematisch prägt und dazu beiträgt, dass der Autor zu einer der bestimmenden Figuren von Kurt Pinthusʼ Menschheitsdämmerung wird.9 Ausgehend von diesem Befund argumentiere ich im Folgenden, dass November eine poetologische Selbstvergewisserung betreibt, die textmaterielle Elemente literarästhetisch im Schema ›brauchbare/unbrauchbare Ressource‹ beobachtet. Ich unterscheide drei Dimensionen: Erstens thematisiert November Papier als materiellen Träger von Literatur. Zweitens konstituiert sich das Gedicht selbst über Verfahren der Verwertung, der Verdichtung und des Aussortierens textueller Elemente. Und drittens lässt sich dieser Umgang mit brauchbaren oder unbrauchbaren Textteilen im Verhältnis der diversen materiellen Träger nachweisen, auf denen November notiert ist und die, so meine These, mit zur Form des Sonetts beitragen.

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Gunter Martens: Nachwort. In: Georg Heym: Werke. Mit einer Auswahl von Entwürfen aus dem Nachlass, von Tagebuchaufzeichnungen und Briefen. Hg. von Gunter Martens. Stuttgart: Reclam 2006, 362–410, hier: 364. Gunter Martens: Georg Heym und der »Neue Club«. In: Georg Heym: Dokumente zu seinem Leben und Werk. Hg. von Karl Ludwig Schneider und Gerhard Burckhardt. Darmstadt: WBG 1968, 390–401, hier: 400. So die Formulierung in der Rezension von Ernst Balcke: Georg Heym. Der ewige Tag. In: Die Aktion 1 (1911), Sp. 375–377. Zitiert nach Heym: Dokumente zu seinem Leben und Werk, 193. Kurt Pinthus: Georg Heym, Der ewige Tag. In: Beiblatt der Zeitschrift für Bücherfreunde N.F. 3 (1911), 120. Zitiert nach Heym: Dokumente zu seinem Leben und Werk, 195. Alexander Nebrig: Die Gesichte Georg Heyms (1887–1912). Zu seiner Bildlichkeit nach hundert Jahren. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 22 (2012), Heft 2, 393–399, hier: 394. Von Heym sind dort insgesamt 13 Gedichte abgedruckt. Siehe dazu die mehrere Sammlungen vergleichende Übersicht von Heinz Rölleke: Die Stadt bei Stadler, Heym und Trakl. Durchgesehene und ergänzte Auflage. Berlin: Schmidt 2 1988, 48.

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Poetologien des Schriftträgers: Zwischen Sprach- und Artefaktmaterialität

1. Verschmutzen In der Forschung dominiert die Ansicht, November sei ein vor allem auf Stefan George gemünztes »aggressives Schmähgedicht«.10 Folgt man dieser Lesart, knüpft November mit lyrischen Mitteln an jene von Zeitgenossen und Mitgliedern des »Neuen Clubs« angemerkte »theatralisch vorgespielte Hemmungslosigkeit«11 an, für die Heym einerseits in privaten Kreisen und bei öffentlichen Auftritten, andererseits in seinen Briefen berüchtigt ist. Ihre Verdichtung finden diese Performances in einer »subliterarischen Kunstpraxis«,12 deren Kern der deutlich betonte kontrastivabwertende Bezug auf andere, konkurrierende Akteure des literarischen Felds ist. Im vorliegenden Fall sind dies Hans Bethge, Hermann Hesse und Hans Benzmann, wobei die Forschung vor allem die im zweiten Vers des ersten Terzetts explizierte Abgrenzung gegenüber George, dessen »elitäre[m] Kunstanspruch«13 und »zwischen weihevoller Demut und Triumph pendelnde[r] ›Ichpoetik‹«14 betont sieht. So deutlich diese Distanzierung ist, sie versteht sich nicht von selbst. Die zeitgenössische Literaturkritik hebt wiederholt den engen Bezug Heyms zu George hervor. So bemerkt etwa eine Rezension von Der ewige Tag in dem Gedichtband die »harthämmernde[] Zucht von Stefan Georges weltüberlegender Haltung«15 und

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Achim Aurnhammer: Poetische Rezeption. In: Ders. u.a. (Hg.): Stefan George und sein Kreis. Ein Handbuch. In Zusammenarbeit mit Kai Kauffmann. Berlin/Boston: de Gruyter 2 2016, 829–896, hier: 849. Zumindest das erste Quartett wird von Friedhelm Kemp gleichwohl als »GroßstadtScherzo« gelesen. Friedhelm Kemp: Das europäische Sonett. Bd. 2. Göttingen: Wallstein 2002, 358. Akane Nishioka: Georg Heym in Selbstdarstellung und literarischer Überlieferung. Über die Künstlerinszenierung im Frühexpressionismus. In: Hofmannsthal. Jahrbuch zur europäischen Moderne 16 (2008), 197–234, hier: 210. Nishioka: Georg Heym in Selbstdarstellung und literarischer Überlieferung, 214. David Midgley zufolge verdrängt die Konzentration auf literatursoziologische Aspekte allzu sehr die Analyse von Textverfahren. Vgl. David Midgley: The Subversive Appropriation of Poetic Forms: Georg Heym (1887–1912). In: Oxford German Studies 41 (2012), Heft 3, 295–309, hier: 296. Aurnhammer: Poetische Rezeption, 850. Mario Zanucchi liest das Sonett als »eine der schärfsten satirischen Burlesken gegen George«. Mario Zanucchi: Transfer und Modifikation. Die französischen Symbolisten in der deutschsprachigen Lyrik der Moderne (1890–1923). Berlin/Boston: de Gruyter 2016, 250. Stefania Sbarra: Georg Heyms Religion der Kunst. In: Albert Meier/Alessandro Costazza/ Gérard Laudin (Hg.): Kunstreligion. Ein ästhetisches Konzept der Moderne in seiner historischen Entfaltung. Unter Mitwirkung von Viktoria Haß, Aiko Kempen, Martina Schwalm und Ingo Vogler. Bd. 2: Die Radikalisierung des Konzepts nach 1850. Berlin/Boston: de Gruyter 2012, 239–250, hier: 248. Julius Bab: Alte Lieder und neue Verse. In: Die neue Rundschau 23 (1912), 584–588. Zitiert nach Heym: Dokumente zu seinem Leben und Werk, 235.

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betont, dass diese für Heyms »ehern gedrängte Prägnanz, die fest und kurz pulsende Verbalrhythmik, die sinnlich satte Geschlossenheit der Bilder«16 verantwortlich zeichne. Eine andere Besprechung bezieht die von Heym bevorzugte »fünffüßige Jambenstrophe«17 auf George und noch 1924 verortet Detmar Sarnetzki Heym als ›modernen Dichtertyp‹ in einer Position zwischen Naturalismus, Baudelaire und Rimbaud einerseits und »Georgesche[m] Formkult«18 andererseits. Auch die Mitglieder des »Neuen Clubs« sind der von Bethge im Vorwort zu dem von ihm 1905 herausgegebenen Band Deutsche Lyrik seit Liliencron beschriebenen »malenden Schönheit und [d]em mystischen Zauber«19 der Gedichte Georges erlegen, distanzieren sich aber vom Autor, als Heym ihnen beitritt. Heyms persona löst Georges Funktion für den »Neuen Club« ab. Im Berlin-Zyklus vollzieht Heym schließlich selbst jene »Transgression des Vorbilds«,20 die November als drastisch-polemische Absetzbewegung performiert. Die »aggressive Destilisierung des Vorbilds«21 arbeitet in November mit Mitteln parodistischer Imitation typischer Verfahren der Lyrik Georges. Dazu zählen der zur Anastrophe gebaute Genitiv (V. 1, 11) und der imperativische Gestus (V. 4–5, 7) genauso wie die konsequente Kleinschreibung im zweiten und dritten Vers des ersten Terzetts (V. 10, 11) sowie die kontrastiv dazu gesetzte Majuskel des Possessivpronomens »Seiner« (V.11). Hinzu kommen das über den ›Herbst‹ aufgerufene Programm von Georges Das Jahr der Seele, die allegorische Rede vom »staat« (V. 10) und die über die »perlen« (V. 10) betonte Kostbarkeit des lyrischen Gegenstands.22 Mit diesem durchaus spielerisch anverwandelnden, gleichwohl deutlich auf Abgrenzung zielenden Gestus knüpft November an Verfahren an, wie sie für Lyrik-Parodien typisch sind,23 und stellt sich in eine Reihe mit jenen Gedichten Heyms, »die den Symbolismus mit dessen

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Bab: Alte Lieder und neue Verse, 235. Ernst Lissauer: Lyrik. In: Das literarische Echo 14 (1911/12), Sp. 172–179. Zitiert nach Heym: Dokumente zu seinem Leben und Werk, 208. Detmar H. Sarnetzki: Moderne Dichtertypen. Georg Heym (1924). Zitiert nach Heym: Dokumente zu seinem Leben und Werk, 163. Hans Bethge: Vorwort. In: Ders. (Hg.): Deutsche Lyrik seit Liliencron. Mit acht Bildnissen [1905]. Leipzig: Mar Hesses Verlag o.J., XXXII–XIII, hier: XXIV. Aurnhammer: Poetische Rezeption, 849. Vgl. grundsätzlich zum Verhältnis zwischen Heym und George das entsprechende Kapitel in Günter Heintz: Stefan George. Studien zu seiner künstlerischen Wirkung. Stuttgart: Hauswedell 1986, 107–140. Zanucchi: Transfer und Modifikation, 251. Siehe zu diesen Verfahren in November, die »Symptom intimer Bekanntschaft mit dem Werk des mehrfach desavouierten Älteren« sind, die Analyse von Heintz: Stefan George, 111. Siehe dazu allgemein Rüdiger Singer: Lyrik-Parodien: Spielverderberei oder lyrisches MitSpiel? Beobachtungen anhand des Spiels mit der ›Regel‹ Wiederholung. In: Thomas Anz/ Heinrich Kaulen (Hg.): Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte. Berlin/New York: de Gruyter 2009, 477–498.

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eigenen Ausdrucksformen parodieren«.24 Objekt und Medium der Distinktion fallen zusammen: Heym setzt sich nicht nur mit Georges Gedichten in denkbar pejorativer Stoßrichtung auseinander. Er gibt seiner »antithematische[n] Herabwürdigung«25 auch selbst die Form eines in Endecasillabi gesetzten Sonetts.26 Dessen Quartette bestehen aus durchgehend elfsilbigen, mit jeweils fünf Hebungen versehenen jambischen Versen und konsequent klingenden Kadenzen. Die Lautstruktur bestimmen insgesamt nur vier Reime, verteilt auf ein umarmendes Schema in den Quartetten und ein Kreuzschema in den Terzetten (jeweils chiastisch gebaut: abba baab cdc dcd). Diese an die »ruhige[] und strenge[] Selbstzucht« Georges erinnernde metrische und lautliche Gestaltung lässt sich auch in syntaktischen Hinsichten nachweisen. November besteht aus vierzehn Sätzen, die überwiegend in Parataxe eingelassen und allein über Punkte organisiert sind.27 Selbst die als einziger Satzteil des Gedichts durch einen Doppelpunkt hervorgehobene und als eine Art conclusio des Dargestellten lesbare exclamatio im zweiten Teil des letzten Verses (»Sellerie Salat«, V. 14) wird lediglich durch einen Punkt abgeschlossen. November legt es augenscheinlich darauf an, sich als lakonisch-kontrollierter, ja gleichsam sauberer Text zu präsentieren, genauer: als ein Text, der jenes expressionistische »Streben nach Übersteigerung«28 unterdrückt, wie es unter anderem im inflationären Gebrauch von Satzzeichen zum Ausdruck kommt. Die sich mit vierzehn Punkten begnügende Interpunktion orientiert sich an Verfahren, wie sie wiederum Georges Gedichte kennzeichnen. Deren

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Kurt Mautz: Mythologie und Gesellschaft im Expressionismus. Frankfurt a.M.: Athenäum 3 1987, 25. Aurnhammer: Poetische Rezeption, 850. Aurnhammer bemerkt: »Im Frühsommer 1911 beschäftigt sich Heym mit mehreren Publikationen des George-Kreises und suchte Friedrich Wolters auf. Zugleich schmähte er in dem Entwurf der Vorrede zu seinem letzten Gedichtband St[efan] G[eorge] als ›sacrale(n) Kadaver‹ und ›die Binger tönende Pagode‹.« (ebd., 849). Mit seiner »pasquillartig-polemisch[en]« Form aktualisiert November bei allen Unterschieden im Einzelnen Verfahren literaturprogrammatischer Auseinandersetzungen, wie sie im klassisch-romantischen ›Sonettkrieg‹ zwischen der Generation um Ludwig Achim von Arnim einerseits und Heinrich Voß andererseits zu finden sind. Alexander Nebrig: Der Streit als Spiel mit dem Sonett in der Romantik. In: Kai Bremer/Carlos Spoerhase (Hg.): »Theologisch-polemisch-poetische Sachen«. Gelehrte Polemik im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M.: Klostermann 2015, 315–329, hier: 325. Die Konzentration auf den Punkt ist im Œuvre Heyms durchaus ungewöhnlich. Im Überblick finden sich dort »etwas mehr Komma als nötig«. Albrecht Holschuh: Poetische Zeichensetzung. In: The German Quarterly 75 (2002), Heft 1, 51–70, hier: 61. Ebd., 62. Holschuh verweist unter anderen auf Gottfried Benn, der »emphatische Zeichen großzügig aus[]teilt«. Holschuh: Poetische Zeichensetzung, 62.

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programmatisches Streben nach Exklusivität kommt nicht zuletzt in einem geradezu asketischen Umgang mit Satzzeichen zum Ausdruck.29 Heyms Gedicht knüpft an diese exklusive Interpunktion an, kontrastiert sie auf semantischer Ebene jedoch durch Emphase und Amplifikation. Die Gegenstände des Sonetts sind, anders als es die Gattungskonvention vorsieht, alles andere als erhaben, sondern am ehesten wohl alltäglich-obszön zu nennen. So verbindet November den bereits durch seinen Titel aufgerufenen Herbst nicht mit einer vergeistigten »Stimmung«30 der Jahreszeit, wie sie im Umfeld Georges als Gefühl kommuniziert wird, sondern mit dem körperlichen Appetit auf ein bestimmtes Gericht (»Martinsgans«, V. 9). Die glänzende »helle« (V. 11) der »perlen« Georges deutet ebenso nur Dekorativ-Kostbares an, um sich im zweiten Terzett als profane Erkältung zu erweisen. Die Reimstruktur in den beiden Terzetten und die einzigen drei stummen Kadenzen sorgen dafür, dass Georges emphatisch verstandener »herbstes-staat« mit kontingent-banalen Motiven assoziiert wird (»Ein Auto naht«, »Sellerie Salat«, V. 12 bzw. 14). Hinzu kommt eine das Gedicht dominierende hyperbolisch-drastische Semantik. Mit Substantiven wie »Affenscheiße« (V. 1), »Geschmier« (V. 7), »Rotztuch« (V. 12) oder »Arschwisch« (V. 7) betreibt November im Wortsinne »Afterkunst«.31 Das Gedicht positioniert sich als programmatischer Kontrapunkt zu Georges »Ästhetik der Distanz und Berührungslosigkeit«.32 Georges Lyrik wird nicht nur als Medium einer »ästhetizistische[n] Pose«33 entlarvt und als Nonsens abgewertet. Mit der Integration schmutzigen Wortmaterials betreibt November die Abgrenzung auch auf der Ebene des Textverfahrens. Schon Richard Meyer betont die »Reinheit«34 der Lyrik Georges und meint damit vor allem »semantische Restriktionen«.35 November

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Vgl. Steffen Martus: Stefan Georges Punkte. In: Alexander Nebrig/Carlos Spoerhase (Hg.): Die Poesie der Zeichensetzung. Studien zur Stilistik der Interpunktion. Bern u.a.: Lang 2012, 295–327. Else Lasker-Schüler schreibt in ihrer Besprechung des dritten Abends des Neuen Clubs im »Neopathetischen Cabaret« vom 9. November 1910: »Die Orthographie der Georgeverse erinnert in ihrer Gleichtönigkeit leicht an englische Sonntagsruhe. Wars das lieber Vortragender?« Else Lasker-Schüler: Im neopathetischen Cabaret. In: Der Sturm 1 (1910), 304. Hier zitiert nach Heym: Dokumente zu seinem Leben und Werk, 418. Richard M. Meyer: Ein neuer Dichterkreis. In: Preußische Jahrbücher 88 (1897), 33–54, hier: 39. So wird Mitte des 19. Jahrhunderts in Kontexten ästhetischer Bildung die Negativfolie ›wahrer Kunst‹ bezeichnet. Palmer: Ästhetische Bildung in der Volksschule, 269. Hier: zitiert nach Lars Rosenbaum: Die Verschmutzung der Literatur. Zur historischen Semantik der ästhetischen Moderne im ›langen 19. Jahrhundert‹. Bielefeld: transcript 2019, 48. Jürgen Brokoff: Geschichte der reinen Poesie. Von der Weimarer Klassik bis zur historischen Avantgarde. Göttingen: Wallstein 2010, 461. Moritz Baßler u.a.: Historismus und literarische Moderne. Mit einem Beitrag von Friedrich Dethlefs. Tübingen: Niemeyer 1996, 176. Meyer: Ein neuer Dichterkreis, 39. In Georges Gedichten sei »[k]ein ungenauer Reim, aber auch kein aus Ungefähr gewähltes Wort« (ebd.). Brokoff: Geschichte der reinen Poesie, 451.

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hebt diese Beschränkungen des lyrischen Materials auf und vollzieht damit eine aus der Perspektive des George-Kreises nicht akzeptable Verunreinigung. Die »fäkale[n] Vulgarismen«36 stehen nicht allein im Zeichen der Polemik, sondern performieren gezielt einen »Verlust der Form«.37 Das Sonett allein als Medium literaturprogrammatischer Distinktion, als Auseinandersetzung mit oder Ausdruck von Heyms »Betroffenheit vom Vorbild George«38 zu lesen, ist mithin zu kurz gegriffen. Zu klären ist die Form des »Verlust[s] der Form«.

2. Komprimieren Umso dringlicher ist dies, als November im zweiten Quartett selbst einen Zusammenhang zwischen Literatur und formlos-schmutziger Materialität herstellt: mit dem durch einen sperrigen Bindestrich organisierten, die beteiligten Lexeme sowohl trennenden als auch aufeinander beziehenden Kompositum »Dichter-Mülle« (V. 6). Bemerkenswert ist dieses zunächst insofern, als es in Heyms Thesaurus eine Besonderheit darstellt. November ist das einzige Gedicht des Autors, das auf das Lexem ›Müll‹ zurückgreift. Das üblicherweise auf den Zeitraum zwischen 1910 und 1912 datierte Hauptwerk Heyms verwendet zwar wiederholt Lexeme, die unbrauchbare Materie explizit als solche bezeichnen. »Dichter-Mülle« bleibt aber die Ausnahme.39 Erklärungen sind müßig: Offenbar fügt sich das Lexem und das durch sie bezeichnete und in der Zwischenzeit chemisch analysierbare »Gemenge unorganischer und organischer Stoffe«40 nicht in Heyms Programm, das immer auch »mythische[] Vorstellung[en] der Großstadtdämonen«41 evozieren will. Um die Jahrhundertwende verweist die »Müllfrage«42 auf ein ganz handfest mit technischen Vorrichtungen der Beseitigung befasstes stadthygienisches Problem, dem vermutlich jenes »kunstre-

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Zanucchi: Transfer und Modifikation, 251. Viktor Šklovskij: Die Auferweckung des Wortes. In: Wolf-Dieter Stempel (Hg.): Texte der russischen Formalisten. Bd. 2: Texte zur Theorie des Verses und der poetischen Sprache. München: Fink 1972, 3–17, hier: 5. Heintz: Stefan George, 107. Der von Russell E. Brown erstellte Index zu den Gedichten Heyms vermerkt neben der Stelle in November allein Lexeme wie ›Asche‹, ›Unrat‹, ›Kram‹ oder ›Kehricht‹, die gut auch noch ins 19. Jahrhundert passen könnten. Gleiches gilt für ›Rest‹, ›Schutte‹, ›Schmutz‹ oder ›Mist‹. Siehe Index zu Georg Heym. Gedichte 1910–1912. Bearbeitet von Russell E. Brown. Frankfurt a.M./ Bonn: Athenäum 1970. Hermann Koschmieder: Die Müllbeseitigung. Mit 22 Abbildungen im Text [1907]. Hannover: Jänecke o.J., 7. Karl Ludwig Schneider: Zerbrochene Formen. Wort und Bild im Expressionismus. Hamburg: Hoffmann und Campe 1967, 51. Koschmieder: Die Müllbeseitigung, 3.

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ligiöse[] Potential«43 abgeht, wie es als für Heyms Lyrik wichtig herausgestrichen worden ist. Der referierten Lektüre, die das polemische Moment des Sonetts betont, passt das ins Konzept. Ihr geht es im sechsten Vers nicht um Müll als Müll. Die Funktion des Kompositums liegt in dieser Perspektive vielmehr darin, ein bestimmtes literarisches Programm zu bezeichnen und über ›Müll‹ als Metapher möglichst drastisch, vielleicht auch zynisch abzuwerten.44 »Dichter-Mülle« lässt sich trotz seiner werkinternen singulären Stellung in die von Heyms Lyrik betriebene »Entrümpelung der Metaphorik«45 einordnen, die bereits die ältere Forschung betont hat. Das Kompositum verweist demnach auf den völlig abhandengekommenen Wert eines bestimmten, mit dem Namen »Bethge« verbundenen Textkorpus, das als unbrauchbar beschrieben und auf seine ›reine‹ Materialität reduziert werden kann. Das Diminutivsuffix ›-e‹ stützt diese Lesart. Es assoziiert »Mülle« mit ›Mühle‹ und ruft damit jenes »Sinnbild des ständigen Zurückgeworfen- und Gefangenseins des Menschen in die Immanenz«46 auf, wie es für Heyms Texte insgesamt herausgearbeitet worden ist. Das Kompositum »Dichter-Mülle« überformt diesen Metaphernkomplex poetologisch: als die mit »Bethge« metonymisch benannte ständige Wiederkehr eines immer gleichen, in stadthygienischer Semantik »als störend oder überflüssig betrachtet[en]«47 Literaturprogramms. So spricht etwa Paul Schulze-Berghof in seiner Kulturmission unserer Dichtkunst von 1913 von »Dichtermühlen«48 und meint damit die »Formästhetik«49 der von ihm diskutierten Texte (in diesem Fall von Detlev von Liliencron und Adolf Paul). Dort neutral eingesetzt ist das Kompositum ›Dichtermühle‹ kulturgeschichtlich gleichwohl zumeist pejorativ belegt und fungiert als »Sinnbild kreativer, aber auch stupider Poeterei«.50 Zum »Dichter-Mülle« von November ist es von dort nicht mehr weit. Die Abwertung Bethges via Müll-Metapher setzt gleichwohl voraus, dass die Stelle ein kohärentes Bild evoziert. Zwar hält die metaphorische Lesart einem wörtlichen Verständnis von »Dichter-Mülle« paraphrasierend entgegen, dass »Bethge«

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Sbarra: Georg Heyms Religion der Kunst, 240. Vgl. zur Kategorie der ›zynischen Metapher‹ bei Heym Karl Ludwig Schneider: Der bildhafte Ausdruck in den Dichtungen Georg Heyms, Georg Trakls und Ernst Stadlers. Heidelberg: Winter 1954, 67. Schneider: Zerbrochene Formen, 41. Mautz: Mythologie und Gesellschaft im Expressionismus, 243. Gust[av] Koepper: Die Müllverbrennung nach Dörrʼschem System. Ein Beitrag zur Hygiene der Grossstadt. Mit 8 Illustrationen. Köln: Neubner o.J. [1900], 8. Paul Schulze-Berghof: Die Kulturmission unserer Dichtkunst. Studien zur Ästhetik und Literatur der Gegenwart [1913]. Leipzig: Fritz Eckardt o.J., 352. Ebd., 238. Johannes Mager/Günter Meißner/Wolfgang Orf: Die Kulturgeschichte der Mühlen. Tübingen: Wasmuth 1989, 149.

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nicht wirklich unter widrigen Bedingungen (»haust«, V. 6) auf einer Ansammlung von »alle[n] möglichen Haus- und Küchenabfälle[n]«51 wohnt. Immerhin handelt es sich bei den Versen dieser Lesart zufolge um eine Form stellvertretender Rede. Diese muss aber davon ausgehen, dass die Szene, die der Bildspender ›Müllhaufen‹ erzeugt, um die mit dem Namen »Bethge« (V. 6) verbundenen literarischen Texte abzuwerten, in sich stimmig ist. Das ist nicht der Fall. Die metonymischen Bezüge innerhalb der drei in Rede stehenden Verse sind zumindest angebrochen. Die Brüche betreffen die wechselseitigen Bezüge zwischen den beteiligten Aktanten: den sozialen Konnex zwischen den literarischen Akteuren und den vom Sonett als unbrauchbar gefassten angehäuften Gegenständen. So bleibt unklar, um wessen »Müll[]« es sich eigentlich handelt. Der bestimmte Artikel »dem« (V. 6) sorgt – im Unterschied zum Possessivpronomen ›seinem‹ – dafür, dass die Referenz von »Dichter« alles andere als eindeutig ist. Gemeint sein können sowohl »Bethge« als auch ein anderer literarischer Akteur. Im ersten Fall handelte es sich bei der Materialanhäufung um »Bethge[s]« eigenen »Müll[]«. Im zweiten Fall säße »Bethge« auf dem »Müll[]« eines anderen »Dichter[s]«. Nicht weniger fraglich ist, ob »Dichter« im Singular oder Plural steht. November lässt auch in dieser Hinsicht Eindeutigkeit vermissen. Die beseitigte Materialität, die die Stelle thematisiert, widersetzt sich ihrer Reintegration in diskursive Zusammenhänge. Aber auch wenn man ein kohärentes Bild unterstellt, macht das die Sache nicht unbedingt einfacher. Programm ist an der Stelle des »Dichter-Mülle[s]« der Fokus auf das Verhältnis von Materialität und Zeichen: So markiert das anaphorisch eingesetzte Pronomen »Man« (V. 7 und 8), vorbereitet durch das »man« im vierten Vers des ersten Quartetts, die einzigen Stellen im Gedicht, an denen sich eine Sprechinstanz zumindest andeutet. Das »knapp Momenthafte«,52 durch das November in parataktischen Aussagesätzen dominiert wird, setzt just im Kontext des »DichterMülle[s]« aus. Im imperativischen Gestus einer Gebrauchs- oder Backanleitung (siehe die ›Mühle‹, »Man nehme«, V. 7) wird dazu aufgefordert, die flüchtig und unleserlich geschriebenen Manuskripte Bethges (»sein Geschmier«, V. 7) materiell zu verformen (›zu knüllen‹, vgl. V. 7) – also »Müll[]« herzustellen – und als Toilettenpapier umzufunktionalisieren (»zum Dienst der Hinterseiten«, V. 8). Während sich die zur anakoluthischen Reihung tendierenden, im statischen Präsens gehaltenen Momentaufnahmen der übrigen Verse gleichsam von selbst sprechen, erhält das Sonett im Zusammenhang mit dem scheinbar ganz auf seine Materialität reduzierten »Dichter-Mülle« eine gewisse Agentialität. Nicht nur handelt es sich bei dem thematisierten »Papier« um die materielle Basis literarischen Schreibens, die ehemals durch die Verwertung unbrauchbaren Materials (Lumpen) hergestellt worden ist. Nicht nur fordern die drei Verse des zwei51 52

Koschmieder: Die Müllbeseitigung, 7. Kemp: Das europäische Sonett, 357.

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ten Quartetts dazu auf, die literarischen Handschriften Bethges zu verwerten. Nicht nur ist November selbst das Produkt einer Verwertung als unbrauchbar verhandelten lyrischen Materials (insbesondere Georges). Die drei Verse, in denen der »Dichter-Mülle« thematisch eine Rolle spielt, vollziehen zudem das, wozu sie auffordern: Die Stelle spricht nicht nur von einem an »Dichter-Mülle« gekoppelten Transformationsakt der Verdichtung (»knülle«, V. 7) textmaterieller Elemente. Sie performiert diesen auch sprachlich. Eingeleitet durch die Anapher »Man« führen der Mittelreim aus »Papier« und »Geschmier« (V. 7 bzw. 8) und die jeweils nach der Zäsur platzierte Wiederholung von »zum« (V. 7 und 8) zu einer Komprimierung des Wortmaterials, wie sie die lockere, weil durch Reihungen und Enjambements dominierende Organisation der übrigen Verse vermissen lässt. Verstärkt wird dieser Effekt noch durch eine rahmende Lautkonstruktion aus den Vokalen ›e‹ und ›i‹ (»sein Geschmier«, »Dienst der Hinterseiten« und »Papier«) und den ebenso die lautliche Verdichtung betonenden Trigraph ›sch‹ in »Geschmier« und »Arschwisch«. Die im ersten Vers thematisierte »Fülle« des Zeichenmaterials überführt November im Wortsinne in (komprimierten) »Dichter-Mülle«.

3. Transformieren »Papier zum Dienst der Hinterseiten« ist in Deutschland bereits seit den 1880er Jahren grundsätzlich verfügbar. Zwar wird das Produkt noch bis in die 1890er Jahre hinein aus England importiert und bis an die Jahrhundertwende gilt »Toilettenpapier als Luxusartikel«.53 Spätestens danach ist Papier für die »Hinterseiten« jedoch als Artikel des alltäglichen Bedarfs eingeführt und zumindest prinzipiell zu kaufen.54 Diesen historischen Kontext vorausgesetzt kann man die Aufforderung in Heyms Sonett in zwei Hinsichten lesen. Zum einen wiederum als Polemik: Obwohl es eigens hergestelltes Toilettenpapier gibt, soll Bethges »Geschmier« in den »Dienst der Hinterseiten« gestellt werden.55 Zum anderen kann man den sozialhistorischen Hintergrund als Hinweis darauf lesen, dass die Stelle nicht als wörtliche Aufforderung im

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Gottfried Hösel: Unser Abfall aller Zeiten. Eine Kulturgeschichte der Städtereinigung. München: Jehle 1987, 147. Siehe Hösel: Unser Abfall aller Zeiten, 147. Hösel weist darauf hin, dass das »erste Rollenpapier […] in Deutschland von der in Berlin gegründeten ›British-Paper-Company Alcock u. Co.‹ fabriziert« (ebd.) wurde. Zum Zusammenhang von Papier, Buch und Toilettenpapier im 19. Jahrhundert siehe auch den kurzen Hinweis bei Leah Price: How to Do Things with Books in Victorian Britain. Princeton/Oxford: Princeton University Press 2012, 231. Heym setzt in dieser Hinsicht den Modus von »[r]eading, then wrapping« ein, wie er auch in literaturkritischen Zusammenhängen eine Rolle spielt. Price: How to Do Things with Books, 233.

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Sinne der geschilderten Szene, sondern als zweckentbundene Praktik zu lesen ist, folglich als Kunst. Gestützt wird dieser Lektürevorschlag durch den Umstand, dass November mit seinem Thema literaturgeschichtliche Reihenbildung bis in die Frühe Neuzeit hinein betreibt. Der Prototyp von »Papier zum Dienst der Hinterseiten« findet sich in jener Episode der Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi von Grimmelshausen, in der Simplicius nach Schaffhausen gelangt und »nach vielem Fatzwerck so das Volck mit mir hatte / von einem ehrlichen wolhäbigen Burger freundtlich zur Herberg auffgenommen«,56 sich dort von »eine[r] Last«57 befreien will und »eilents zu Gericht«58 geht, wo er ein »Scheermesser«59 genanntes »Octav von einem Bogen Pappier«60 zur Reinigung verwendet. Mit dem »Papier zum Dienst der Hinterseiten« stellt November einen Bezug her zu der in der Continuatio präsentierten »dingfokalisierten Prozessvita«,61 die als »eine rückblickende Erzählung über kontinuierliche Formveränderungen, Orts- und Besitzerwechsel«62 vollzogen wird und dem Ding zyklographisch eine biographisch gerahmte agency zuspricht. Nicht nur geht es auch in Heyms Sonett um den Schriftträger »Pappier«, sondern auch um dessen immer wieder betonte »treue geleistete Dienste«,63 die sein Leben geradezu bestimmen, und um den »Hindern«64 und den »endlichen Undergang im Scheißhauß«.65 Schließlich findet sich auch die »Papiermühl«66 in November konnotiert. Heyms Sonett verwertet aber nicht nur einen Text, der die Verwertung von Papier auf der Toilette thematisiert. Wichtig ist die »Scheermesser«-Episode für das Sonett auch insofern, als die Continuatio mit ihr »auf die materiellen Grundlagen

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Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen: Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch und Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi [1669]. Abdruck der beiden Erstausgaben mit den Varianten der ihnen sprachlich nahestehenden Ausgaben. Hg. von Rolf Taro. Durchgesehene und erweiterte Auflage. Reprint 2 2018. Tübingen: Niemeyer 1984, 511. Ebd., 512. Ebd., 513. Ebd., 514. Ebd., 513. Mirna Zeman: Literatur und Zyklographie der Dinge. Bookcrossings in simplicianischer Manier. In: David-Christopher Assmann/Norbert Otto Eke/Eva Geulen (Hg.): Entsorgungsprobleme: Müll in der Literatur. Berlin: Schmidt 2014, 151–173, hier: 165. Vgl. auch Uwe C. Steiner: The Problem of Garbage and the Insurrection of Things. In: Gillian Pye (Hg.): Trash Culture. Objects and Obsolescence in Cultural Perspective. Oxford u.a.: Lang 2010, 129–146, hier: 135. Zeman: Literatur und Zyklographie der Dinge, 162. Grimmelshausen: Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch, 513. Ebd. Ebd. Ebd., 520.

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[…] [ihres; DCA] eigenen Schreibens rekurriert.«67 Die Forschung hat gezeigt, dass die Episode die materiellen Transformationen ihrer histoire mit Grimmelshausens wiederverwertender Schreibpraktik verbindet. Die Episode basiert auf strukturellen, thematischen und zum Teil wörtlichen Übernahmen unter anderen aus Hans Sachs’ Von dem vorlornen redenten gülden und Schwanck. Die ellend klagent roßhaut und Andreas Tharaeus’ Gedicht Eine erbermliche Klage Der lieen Fravv Gerste, vnd ihres Brudern Herrn Flachs.68 Diese Kopplung zwischen einer Textherstellung, die vorhandene textmaterielle Elemente aufgreift und transformiert, und der literarischen Thematisierung eben solcher textmateriellen Transformationsakte findet sich in abgewandelter Form auch in November, und zwar zunächst in dessen Herstellung. Die Bearbeiter der textgenetischen Ausgabe gliedern die Entstehung des Sonetts in drei Stufen. Heym beginnt mit einem Entwurf, der aus vier Strophen ohne Titel besteht, wobei die Quartette »wohl zügig«,69 die Terzette hingegen »ansatzreich«70 in drei Versuchen entworfen werden. Ein »Vorentwurf«,71 der aus lediglich drei Zeilen besteht und sich auf einem Blatt findet, »das Heym für die weitere Arbeit am Gedicht nicht mehr verwendet«,72 kann in den Entstehungsprozess nicht mehr chronologisch eingeordnet werden. Die zweite Entwurfsstufe verstehen die Editoren als »Reinschrift«.73 Sie besteht aus zwei Quartetten und zwei Terzetten und dem Titel »November«, ist datiert und bis auf »einige Abweichungen«74 identisch mit der letzten Fassung des ersten Entwurfs. Der dritte Entwurfsschritt wird durch Heyms »Eintragung ins Gedichtbuch«75 konstituiert. Dort besteht das Gedicht aus vier Strophen, wobei die letzte Strophe nicht vollendet ist und auch der Titel fehlt. Die Eintragung »scheint etwa gleichzeitig«76 mit der zweiten Handschrift entstanden zu sein und ist nach Einschätzung der Editoren »sehr flüchtig und mit vielen Wortabkürzungen geschrieben«.77 Zudem besteht die Eintragung nur aus den ers67

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Benjamin Bühler: Lumpen-Recycling. In: Christine Kutschbach/Falko Schmieder (Hg.): Von Kopf bis Fuß. Bausteine zu einer Kulturgeschichte der Kleidung. Berlin: Kadmos 2015, 137–141, hier: 139. Vgl. Joseph B. Dallett: Auf dem Weg zu den Ursprüngen. Eine Quellenuntersuchung zu Grimmelshausens Schermesser-Episode. In: Carleton Germanic Papers 4 (1976), 1–36. Kommentar zu Nr. 94: November (Der wilden Affenscheisse …). In: Georg Heym: Gedichte 1910–1912. Historisch-kritische Ausgabe aller Texte in genetischer Darstellung. Hg. von Günter Dammann, Gunter Martens und Karl Ludwig Schneider. Bd. I. Tübingen: Niemeyer 1993, 506–509, hier: 507. Die Kursivierung ist weggelassen. Kommentar zu Nr. 94: November, 507. Die Kursivierung ist weggelassen. Ebd. Die Kursivierung ist weggelassen. Ebd. Die Kursivierung ist weggelassen. Ebd. Die Kursivierung ist weggelassen. Ebd. Die Kursivierung ist weggelassen. Ebd. Die Kursivierung ist weggelassen. Ebd. Die Kursivierung ist weggelassen. Ebd. Die Kursivierung ist weggelassen.

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ten zwölf Versen »und bricht mitten in einer zweiten Fassung von Vers 12 ab«.78 Die Editoren lassen die Eintragung deshalb nicht als »Reinschrift« gelten. Der Abdruck in den von Schneider herausgegebenen Dichtungen und Schriften orientiert sich folgerichtig nicht an dieser, sondern an der zweiten Entstehungsstufe. Martens zufolge geben Heyms Gedichte die »mimetische Grundlage vorstellbarer Bildlichkeit«79 auf. Die Untersuchung der Handschriften zeigt demnach, dass Heym sich bei der Auswahl seines Zeichenmaterials nicht an einer bestimmten Szene orientiert, die der lyrische Text möglichst kohärent abbilden soll. Vergleichbar mit der Lyrik Georg Trakls lässt sich bei Heym ein eher »kombinatorische[s] Spiel[] mit einem beschränkten Thesaurus«80 beobachten. Die Gedichte weisen zwar einen syntaktischen Verbund auf, sind semantisch jedoch nur lose integriert. Diese allgemeinen Beobachtungen treffen auch auf November zu. So finden sich im ersten Entwurf beispielsweise »Gedicht« und »Mist« anstelle von »Geschmier« und »Papier« (V.8), »Wald« anstelle von »Welt« (V. 2) oder »Regentuch« anstelle von »Regenschirme« (V. 4). Der Vers »Der Bourgeois schwingt seine Löffelkelle.« wird im zweiten Entwurf gänzlich gestrichen und durch »Die Martinsgans glänzt in der braunen Pelle.« (V. 9) ersetzt. Noch in der dritten Fassung tauscht Heym »starke Unterhosen« (V. 5) gegen »warme Unterhosen« aus. Der Heyms Lyrik kennzeichnende »Übergang zu einer nichtmimetischen, abstrakten Poesie«81 mag in diesen Ersetzungen, die gleichwohl noch sehr metonymisch motiviert sind, angelegt sein. Die Form des Gedichts ist gleichwohl um jenes Textmaterial gebaut, das über die Entwürfe hinweg nicht ausgetauscht wird: Die die Selbstprogrammierung von November bestimmenden Substantive »Affenscheiße«, »Dichter-Mülle« und »Arschwisch«. Wichtiger als die Ersetzungen des lexikalischen Materials ist denn auch die Frage, welche Rolle die Materialität des Manuskripts für das die Materialität von Literatur thematisierende und transformierende Gedicht spielt. Eine Sichtung des Gedichtbuchs kann zunächst den Befund der Editoren bestätigen. Heyms letzter Entwurf ist tatsächlich unvollständig und mit Bleistift in großer, nicht unbedingt leicht zu entziffernder Schrift verfasst, mithin in dem von den Editoren betonten »flüchtige[n] Duktus«82 notiert. Im vorliegenden Fall ist diese Bewegungsmetaphorik der Herausgeber nicht irrelevant: Heym setzt das »Geschmier«, das das zweite Quartett mit Bezug auf Bethge evoziert, im Gedichtbuch

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Ebd. Die Kursivierung ist weggelassen. Gunter Martens: Entwürfe zur Lyrik Georg Heyms. Möglichkeiten des Einblicks in die immanente Poetik seiner Dichtungen. In: editio 1 (1987), 250–265, hier: 263. Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1916. Tübingen: Niemeyer 1994, 104. Martens: Entwürfe zur Lyrik Georg Heyms, 263. Kommentar zu Nr. 94: November, 506. Die Kursivierung ist weggelassen.

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handschriftlich um. Die in der Forschung beobachtete »ungekünstelte Spontaneität«83 des Gedichts findet sich dort als Effekt der Materialität des Sonetts wieder. Darüber hinaus fällt auf, dass der Text quer geschrieben und auf der Rückseite eines mit Tinte verfassten Gedichts gleichen Titels platziert ist (Abb. 1a und 1b).84

Abb. 1a und 1b: ›November‹ auf der »Hinterseite[]«.

Nachlass Georg Heym. In: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, NGH Inventarnummer 9.

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Nishioka: Georg Heym in Selbstdarstellung und literarischer Überlieferung, 210f. Nachlass Georg Heym. In: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, NGH Inventarnummer 9.

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Mit »Hinterseiten« ist im materiellen Bezugsfeld von Heyms Gedichtbuch keineswegs allein eine übertragene Bedeutung aufgerufen. Es geht vielmehr direkt und konkret um die »Hinterseiten« eines anderen Textes. Die beiden Gedichte sind nicht nur über den gemeinsamen Titel, sondern auch materiell über ihre »Hinterseiten« verbunden – und voneinander unterschieden. November erweist sich in dieser Hinsicht als ein programmatisch flüchtig, zudem mit einem Revisionen oder Korrekturen ermöglichenden Bleistift verfasster Text zum ›Zeitvertreib‹. Der Text ist eine Art Abfallprodukt des mit Tinte verfassten, deshalb weit verbindlicher notierten und zudem in Leserichtung festgehaltenen Gedichts gleichen Titels. In dieser textgenetischen Perspektive ist der thematisierte und rhetorisch akzentuierte »DichterMülle« das Gedicht.

4. Aussortieren Die von den Editoren als maßgebliche Fassung verstandene zweite Entwurfsstufe ist in den von Schneider herausgegebenen Dichtungen und Schriften abgedruckt. Dort wird November mit einer Fußnote präsentiert (Abb. 2).85 Der Satz »* oder Benzmann oder Hesse – nach Belieben!« ist typographisch von den vier Strophen des Sonetts abgesetzt, aber über zwei Asterisken als Anker und Verankerungspunkt eindeutig auf diese bezogen.86 Die Fußnote differenziert zwischen einem Haupt- und einem Nebentext. Der Satz ist zwar getrennt von dem über ihm platzierten Sonett, diesem aber zugleich räumlich zugeordnet. Fußnoten sind im Kontext von Lyrik zwar selten, aber durchaus zu finden.87 Im Fall von November ist das Verfahren gleichwohl erläuterungsbedürftig. Zunächst ist die typographisch ohnehin merkwürdig inkonsequent im unteren Drittel der Buchseite platzierte, vom unteren Seitenrand deutlich distanzierte und dem ›Haupttext‹ auffallend angenäherte Fußnote das Ergebnis eines editionsphilologischen Eingriffs. In der Handschrift der zweiten Entwurfsstufe (»Reinschrift«) ist der Satz nämlich keineswegs als Fußnote realisiert.88 Zwar zitieren die Dichtungen und Schriften ihn korrekt – wenn auch ohne die Abkürzung der Konjunktionen (im Entwurf heißt es »o. Benzmann o. Hesse – nach Belieben!«). Heym platziert den 85 86

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Heym: Dichtungen und Schriften, 155. Siehe zu dieser Terminologie bzw. der Unterscheidung von Anker und Verankerungspunkt Remigius Bunia: Fußnoten zitieren. In: Bernhard Metz/Sabine Zubarik (Hg.): Am Rande bemerkt. Anmerkungspraktiken in literarischen Texten. Berlin: Kadmos 2008, 13–32, hier: 16. Ein einschlägiger Fall ist Nabokovs Pale Fire. Vgl. zu literarischen Fußnoten grundsätzlich Sabine Mainberger: Die zweite Stimme. Zu Fußnoten in literarischen Texten. In: Poetica 33 (2001), 337–353, hier: 343f. Das Manuskript befindet sich Privatbesitz. Ich danke Günter Dammann (†) für die Vermittlung und Katja Schneider-Stief für die freundliche Bereitstellung.

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Satz aber nicht am unteren Rand des Manuskripts oder unterhalb des Sonetttextes, sondern zwischen dem ersten und zweiten Vers des zweiten Quartetts, etwa mittig über »Bethge« einsetzend und bis »Dichter« reichend.

Abb. 2: ›November‹ in den Dichtungen und Schriften.

Georg Heym: Gedichte 1910–1912. Historisch-kritische Ausgabe aller Texte in genetischer Darstellung. Hg. von Günter Dammann, Gunter Martens und Karl Ludwig Schneider. Bd. I. Tübingen: Niemeyer 1993, 155.

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Neben der Korrektur der Datumsangabe (»11.10.11«)89 verändern die Dichtungen und Schriften Heyms Sonett in zwei Hinsichten: Erstens fügen sie dem Zeichenbestand des Textes mit den beiden Asterisken zwei typographische Elemente hinzu. Das ist nicht unbedeutsam: Bei einem Text, der dezidiert sparsam mit Interpunktionszeichen hantiert und im ›Haupttext‹ nur auf Punkte zur Organisation seiner Syntax setzt, wirkt sich dieser Zusatz quantitativ umso gewichtiger und nicht zuletzt sichtbarer aus. Letzteres gilt noch mehr (zweitens) für die vom Manuskript abweichende Position des Satzes auf der jeweiligen Seitenfläche. Auch die Auslagerung von »o. Benzmann o. Hesse – nach Belieben!« aus dem unmittelbaren Kontext des zweiten Quartetts greift in dessen ikonische Anlage ein. Sie ignoriert die in der »Reinschrift« angelegte Anordnung der Zeichen auf Heyms Manuskriptseite und übernimmt diese nicht für die Präsentation von November auf der Buchseite der Dichtungen und Schriften. Jenseits des gattungsgeschichtlich festgelegten Arrangements der Sonettstrophen unterstellt die Werkausgabe dem »Schrift-Bild«90 von Heyms Gedicht semiotische Kontingenz. Das ist insofern erstaunlich, als die »Reinschrift« auch an anderer Stelle die Aufmerksamkeit durchaus auf ihr visuelles Arrangement lenkt: Die Majuskel des Possessivpronomens »Seiner« »schmückt«91 unübersehbar ein Strahlenkranz. Ein nicht zu unterschätzender ikonischer Effekt des Satzes wird damit unterdrückt: Zwar kann er in der Manuskriptfassung sowohl unter dem Aspekt der »Schriftgestalt«92 als auch in metrischer Perspektive nicht als zusätzlicher Vers verstanden werden: Der Satz ist eingerückt, in deutlich kleinerer Schriftgröße und blasserer Tinte geschrieben und zudem nicht in Jamben verfasst. Und doch bricht die Positionierung des Satzes die Sonettform weitaus provokanter auf, als dies in den Dichtungen und Schriften die an einer sauberen Gestaltung orientierte Aussortierung unter das letzte Terzett zulässt. Die editorische Aufbereitung erzeugt demgegenüber eine »gereinigte[], ideale[]«93 lyrische Form. Gleichwohl ist es fraglich, ob es sich bei dem Satz überhaupt um einen als Fußnote realisierbaren »Vermerk« handelt. Ganz klären lässt sich das Problem natürlich nicht. Gerade durch diesen ambivalenten Status gewinnt der Satz für November jedoch an Relevanz. So kann man zunächst von einer spezifischen »Ego-Pluralität«94 89 90

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»Heym […] verwechselt offenbar Monats- und Jahreszahl«. Kommentar zu Nr. 94: November, 507. Die Hervorhebungen sind weggelassen. Andrea Polaschegg: Literatur auf einen Blick. Zur Schriftbildlichkeit der Lyrik. In: Sybille Krämer/Eva Cancik-Kirschbaum/Rainer Totzke (Hg.): Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Berlin: Akademie 2012, 245–264, hier: 261. Kommentar zu Nr. 94: November, 507. Die Kursivierung ist weggelassen. Polaschegg: Literatur auf einen Blick, 261. Christian Benne: Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit. Berlin: Suhrkamp 2015, 50. Michel Foucault: Was ist ein Autor? In: Fotis Jannidis u.a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Stuttgart: Reclam 2002, 198–232, hier: 217.

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sprechen. Wie im imperativischen Vers des »Dichter-Mülle[s]« ist unklar, ob in dem Satz das im übrigen Sonetttext leidlich anwesende lyrische Ich, der implizite oder der historisch-reale Autor spricht. Genauso wenig wird expliziert, wen der im Unterschied zu den lakonischen Versen bemerkenswerterweise als exclamatio gefasste Hinweis adressiert. Naheliegend ist wohl zunächst, den »Vermerk« mit Blick auf den unveröffentlichten Status des Manuskripts als eine Art Gedächtnisstütze zu lesen. In dieser Hinsicht würde es sich bei dem Satz um eine Mitteilung des empirischen Autors an sich selbst handeln: Der Name »Bethge« soll in einer späteren Fassung des Sonetts gegebenenfalls durch »Benzmann« oder »Hesse« ersetzt werden. Eine gewisse Plausibilität gewinnt diese Annahme durch den Umstand, dass sich in dem von den Dichtungen und Schriften nicht berücksichtigten dritten Entwurf tatsächlich nicht mehr der Name »Bethge«, sondern die Abkürzung »Benzm.« an der entsprechenden Stelle findet. Der »Vermerk« hat dieser Lesart zufolge folglich denselben textgenetischen Status wie die von Heym auf der Manuskriptseite der »Reinschrift« vorgenommenen Streichungen. Wie diese ist er Ausdruck jener »Irrwege, Abzweigungen, Abweichungen«,95 die Almuth Grésillon als typisch für textgenetische Prozesse annimmt und die auch Heyms Arbeitsweise kennzeichnen. So betont bereits Dammann die prinzipielle »Offenheit«96 der Textproduktion Heyms, die das scheinbar fertige Produkt häufig und immer wieder »zerlegt und neu anordnet«.97 Der »Vermerk« evoziert in dieser Hinsicht eine Art Making-of, das einen Einblick in die vom Autor betriebene »Auswechslung des Wortmaterials«98 ermöglicht. Im Kontext der postum veröffentlichten Fassung von November ist der Satz hingegen weniger »Spur[] einer Textdynamik«99 als Lektürelenkung. In der Form seiner Realisierung auf der Buchseite der Dichtungen und Schriften kann sich der »Vermerk« auch an das lesende Publikum wenden: als Aufforderung, den im Vers platzierten Namen »Bethge« als kontingenten Platzhalter für andere Autornamen zu lesen und gegebenenfalls »nach Belieben« auszutauschen. Dem »Vermerk« kommt in dieser Hinsicht eine rezeptionssteuernde Funktion zu, die jedoch gar nicht weit von der textgenerierenden Funktion entfernt ist. In beiden Fällen fungiert der »Vermerk«

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Almuth Grésillon: Literarische Handschriften. Einführung in die »critique génétique«. Bern u.a.: Lang 1999, 19. Günter Dammann: Untersuchungen zur Arbeitsweise Georg Heyms an seinen Handschriften. Über die Entstehung der Gedichte »Mortuae«, »Totenwache«, »Letzte Wache«. In: Orbis Litterarum 26 (1971), 42–67, hier: 67. Dammann: Untersuchungen zur Arbeitsweise Georg Heyms an seinen Handschriften, 67. Martens: Entwürfe zur Lyrik Georg Heyms, 259. Die Entstehung der Gedichte Heyms ist exemplarisch und umfangreich für Der Krieg dargestellt und untersucht worden. Siehe Günter Dammann/Karl Ludwig Schneider/Joachim Schöberl (Hg.): Georg Heyms Gedicht »Der Krieg«. Handschriften und Dokumente. Untersuchungen zur Entstehungsgeschichte und zur Rezeption. Heidelberg: Winter 1978. Grésillon: Literarische Handschriften, 15.

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als eine Art Depot möglicher, im Vers aber nicht aktualisierter Autornamen. Vorausgesetzt ist also deren prinzipielle »Austauschbarkeit«.100 Und tatsächlich wird diese nicht allein durch die von den Dichtungen und Schriften eingefügten Asterisken nahegelegt. Wichtiger und in der »Reinschrift« ohnehin nur vorhanden scheint mir das Textverfahren des über »Bethge« handschriftlich einsetzenden »Vermerk[s]« zu sein. Bereits die Darstellungsform betont den äquivalenten Status der Autornamen: Der Satz besteht aus einer polysyndetischen Aufzählung, die durch die zweifache Konjunktion ›oder‹ äquivalente Möglichkeiten zur Füllung der Stelle im Gedicht präsentiert. Im Zusammenspiel von Vers und »Vermerk« eruiert Heyms Sonett mithin nicht allein das hierarchische Verhältnis zwischen einem Haupt- und einem Nebentext, um dieses zu dekonstruieren. Darüber hinaus und vor allem geht es um das, was Roman Jakobson als grundlegende Operationen jeglichen »verbalen Verhalten[s]«101 bestimmt: Selektieren und Kombinieren. Bei den von November in Vers und »Vermerk« verhandelten Autornamen handelt es sich um jene »gegebenen, mehr oder weniger ähnlichen Hauptwörter[]«,102 die ein Paradigma konstituieren. »Bethge«, »Benzmann«, »Hesse« und andere sind »in einer bestimmten Hinsicht gleichwertig«,103 und zwar – so legt es das Sonett nahe – durch ihr Verhältnis zum »Dichter-Mülle«. Es ist diese Äquivalenz, die sie zu Lexemen eines Paradigmas macht; und es ist diese Äquivalenz, die es erlaubt, einen beliebigen Namen aus der enumeratio herauszunehmen und im Vers zu platzieren. Letzterer generiert sich einmal mehr nicht nur metaphorisch, sondern textmateriell aus dem, was er thematisiert: aus »Dichter-Mülle«. Heyms »Reinschrift«, die keine ist, ästhetisiert eine grundlegende sprachliche (im engeren Sinne: literarische) Operation als Praktik des Aussortierens. Evoziert wird ein gleichsam in der Bewegung festgehaltenes Aussortieren. Indem das Paradigma des Autornamens »Bethge« (genauer: eine Auswahl seiner Elemente) an einem Ort außerhalb des Sonetts, aber doch in unmittelbarer Nähe zu diesem syntagmatisch ausgebreitet wird, macht das Zusammenspiel von Vers und »Vermerk« nicht zuletzt schriftbildlich darauf aufmerksam, dass die textgenerierende wie -rezipierende Operation der Selektion nur ein bestimmtes Lexem aus einem gegebenen Paradigma aktualisiert. Darüber hinaus macht November aber auch die Reihe jener Lexeme produktiv, die sich auf der »Hinterseite[]« seines Syntagmas anhäufen und notwendigerweise aussortiert, aber dennoch sowohl für den Schreibprozess als auch für das Verständnis des Verses latent gehalten werden müssen. Mehr

100 Aurnhammer: Poetische Rezeption, 850. 101 Roman Jakobson: Linguistik und Poetik. In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 3 1993, 83–121, hier: 94. 102 Ebd. 103 Ebd.

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noch: Der »Vermerk« setzt sein ambivalentes Verhältnis zum Vers auch mit Blick auf die poetische Sprachfunktion durch, integriert also die Operation des Aussortierens in seine Form. Der Satz »o. Benzmann o. Hesse – nach Belieben!« unterläuft und bedient das metrische Verfahren des Verses zugleich. Im Unterschied zum Vers realisiert der »Vermerk« keinen jambischen Fünfheber. Das bedeutet aber nicht, dass er metrisch ungebunden ist – im Gegenteil: Als trochäischer Sechsheber betont der »Vermerk« seine lyrische Eigenständigkeit. Gleichzeitig stellt er aber mit »Benzmann« und »Hesse« ein äquivalentes Zeichenmaterial zur Verfügung, das die mit dem Namen »Bethge« besetzte Stelle im Vers störungsfrei füllen könnte. Einmal aus dem »Vermerk« herausgelöst, sind die aus dem Sonetttext ausgelagerten Autornamen nämlich nicht nur semantisch-diskursiv, sondern auch in metrischer Hinsicht äquivalent zu »Bethge«. In beiden Fällen handelt es sich um zwei Silben, von denen jeweils die erste betont ist. Auch wenn – oder gerade weil – der »Vermerk« dazu dient, bestimmte Elemente aus dem Vers auslagern zu können, lässt er sich in das für Heyms Textarbeit typische Verfahren der die einzelnen Wörter verdinglichenden »Aufschwellung«104 einordnen, ambiguisiert dieses jedoch. Als Aufzählung kommt ihm eine Funktion der Erweiterung und Amplifikation des ›eigentlichen‹ Textes zu. Gleichzeitig wird dieser Bezugspunkt durch den »Vermerk« selbst komprimiert, gewissermaßen verschlankt. Insofern hat man es an der Stelle mit einer Form der Verdichtung zu tun (»Dichter-Mülle«), die der »Vermerk«, der diese Verdichtung durch Auslagerung aus dem ›eigentlichen‹ Sonett-Text leistet, selbst zum Sekundären, Marginalen erklärt.105 *** Um eine Art Zusammenfassung zu versuchen: Heyms November macht die Müll produzierenden »Spuren des Textes in statu nascendi«106 zu einem integralen Bestandteil seiner Form. Das Gedicht setzt ›Müll‹ nicht lediglich als Metapher ein, sondern gibt sich als auf »Dichter-Mülle« basierender Text zu erkennen, führt das in seinem Entstehungsprozess aussortierte Textmaterial mit und gerät in editionsphilologische Praktiken, die ihrerseits Bewahrenswertes von Unbrauchbarem unterscheiden. November performiert textmaterielle Transformationen, und zwar erstens thematisch, zweitens im Textverfahren und drittens textgenetisch. Der »Dichter-

104 Günter Dammann: Theorie des Stichworts. Ein Versuch über die lyrischen Entwürfe Georg Heyms. In: Gunter Martens/Hans Zeller (Hg.): Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. München: Beck 1971, 203–218, hier: 215. 105 Vgl. allgemein Bernhard Metz/Sabine Zubarik: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Am Rande bemerkt. Anmerkungspraktiken in literarischen Texten. Berlin: Kadmos 2008, 7–11, hier: 9. 106 Grésillon: Literarische Handschriften, 15.

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Mülle« ist nicht nur ein Tropus, der es der Sprechinstanz erlaubt, die Produkte anderer Akteure im literarischen Feld abzuwerten. Es geht vielmehr um »Dichter-Mülle« als Müll im materiellen Sinne. Das Sonnett ist eine Form von »Dichter-Mülle«.

Papier als elastisches Medium Potentialität und Raumökonomie in Blaise Cendrars’ und Sonia Delaunay-Terks Leporello-Gedicht La Prose du Transsibérien et de la Petite Jehanne de France Caroline Torra-Mattenklott

Die Polarität zwischen Verschwendung und Nachhaltigkeit ist in der Literatur auf konstitutive Weise angelegt. Als Kunstform ist Literatur ein Produkt der Muße, gemacht für Müßiggänger, und in diesem Sinne eine Verschwendung von Zeit, Arbeitskraft und materiellen Ressourcen.1 Nachhaltig ist sie insofern, als sie im Vergleich zu anderen Künsten, etwa der Oper oder dem Film, mit wenig auskommt und über Jahrhunderte hinweg tradiert werden kann, ohne nennenswerten Schaden zu nehmen. Ihre traditionellen Medien, Pergament, Papyrus und Papier, sind im günstigsten Fall beinahe unbegrenzt haltbar, und durch Transkription kann ihre Überlieferung mit mäßigem Aufwand auch über die Haltbarkeitsdauer des individuellen Schreib- bzw. Druckmediums hinaus beliebig fortgesetzt werden. Die Annahme, dass Literatur, die diesen Namen verdient, es wert sei, konserviert und über Generationen hinweg immer wieder neu gelesen zu werden, ist dem Literaturbegriff inhärent. In den literarischen Formen ist die Spannung zwischen Verschwendung und Nachhaltigkeit in unterschiedlicher Weise ausgeprägt. Fiktionale Texte fügen der realen Welt eine artifizielle Wirklichkeit hinzu, die keinen unmittelbaren Zweck erfüllt, nehmen dafür aber nur minimale Ressourcen in Anspruch. Schreibend und lesend sind wir in der Lage, in wenigen Minuten Jahrtausende zu überfliegen, unbegrenzte Entfernungen zurückzulegen und Welten entstehen zu sehen. Dass vergleichsweise wenige Worte genügen, um fiktive Gegenstände zu evozieren, hängt mit einer Eigenschaft der Literatur zusammen, die Roman Ingarden als ›Unbestimmtheit‹ bezeichnet hat: Der dargestellte Gegenstand kann nach Ingarden 1

Vgl. hierzu, mit einem Schwerpunkt auf der Situation um 1800: Christine Weder/Ruth Signer/ Peter Wittmann (Hg.): Zeitökonomien des Luxus. Einleitung. In: Dies. (Hg.): Auszeiten. Temporale Ökonomien des Luxus in Literatur und Kultur der Moderne. Berlin/Boston: de Gruyter 2022, 1–21, hier: 13–21, sowie im selben Sammelband: Luisa Banki: Leseluxus: Weibliche Lektüre und bürgerliche Zeitökonomie um 1800, 57–71.

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immer »nur ein schematisches Gebilde mit verschiedenartigen Unbestimmtheitsstellen« sein, obwohl er »formaliter als ein vollbestimmtes Individuum entworfen wird und ein solches Individuum vorzutäuschen berufen ist«2 . Was in der Darstellung nicht ausgeführt ist, ergänzen die Leserinnen und Leser kraft ihrer Fantasie. Den schematischen, notgedrungen unvollständigen Charakter der Darstellung teilt die Literatur mit der Kartographie. Das u.a. von Lewis Carroll, Jorge Luis Borges, Umberto Eco und Michael Ende in verschiedenen Variationen durchgespielte Gedankenexperiment der Karte, die eins zu eins dem kartographierten Territorium entspricht,3 kann deshalb auch als ein poetologisches verstanden werden. Signifikanterweise sind es bei Carroll ebenso wie bei Eco und Ende nicht zuletzt ökologische Probleme, die das fiktive kartographische Projekt zum Scheitern bringen: In Carrolls Sylvie and Bruno Concluded (1893) berichtet eine Figur namens Mein Herr von einer Karte im Maßstab eins zu eins, die von ihrem Herkunftsland erstellt worden sei. Da die Karte in entfaltetem Zustand das gesamte Land bedeckt und vor der Sonne abgeschirmt hätte, sei sie auf den Protest der Bauern hin nie zum Einsatz gekommen, so dass an ihrer Stelle nun das Land selbst als Karte verwendet werde.4 Diesen Gedanken aufgreifend, hat Eco angemerkt, dass eine Karte im Maßstab eins zu eins aufgrund der ökologischen Veränderungen, die sie in entfaltetem Zustand bewirken würde, allein durch ihren Gebrauch zwangsläufig an Genauigkeit einbüßen müsste.5 In seinem Roman Momo von 1973 spinnt Ende das Gedankenexperiment zur Geschichte eines Globus weiter: Da die bestehende Welt sich nicht nach seinen Vorstellungen ändern lässt, möchte der Tyrann Marxentius Communus, genannt der Rote, eine neue erschaffen, die eine naturgetreue Nachbildung der alten sein und exakt dieselbe Größe haben soll. Zu ihrer Anfertigung werden sämtliche Ressourcen der Erde aufgebraucht, so dass von ihr schließlich nichts übrigbleibt und ihre Bewohner gezwungen sind, auf den Globus umzusiedeln. Als Marxentius Communus erkennt, dass trotz seiner Anstrengungen alles beim Alten geblieben ist, verschwindet er auf Nimmerwiedersehen.6 Die Unbestimmtheit kartographischer und literarischer Darstellungen hängt also nicht nur mit ihrem Modellcharakter zusammen, sondern erweist sich auch als eine Funktion der Ökonomie und Nachhaltigkeit. Ein alternatives Prinzip, komplexe Sachverhalte oder eine Vielfalt möglicher, auf demselben Grundschema 2 3 4 5 6

Roman Ingarden: Das sprachliche Kunstwerk [1931]. Tübingen: Niemeyer 4 1972, 266. Vgl. für die Textkonstellation den Wikipedia-Artikel »Karte im Maßstab 1:1«, https://de.wiki pedia.org/wiki/Karte_im_Maßstab_1:1 (zuletzt abgerufen am 07.09.2022). Lewis Carroll: Sylvie and Bruno Concluded. London/New York: Macmillan 1893, 169. Umberto Eco: Dell’impossibilità di costruire la carta dell’impero 1 a 1. In: Ders.: Secondo diario minimo. Milano: Bompiani 1992, 157–163. Michael Ende: Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein Märchen-Roman. Stuttgart: Thienemanns 24 1973, 47f.

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beruhende Variationen eines Textes in verkürzter Form zu notieren und damit den Verbrauch an Papier, Tinte und Druckerschwärze zu minimieren, ist die Konstruktionsformel bzw. der Konstruktionsalgorithmus. An die Kombinationskunst und Enzyklopädistik des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit anknüpfend, haben Novalis, Stéphane Mallarmé und Paul Valéry solche Verfahren theoretisch reflektiert und experimentell erprobt,7 und die Oulipo-Gruppe hat sie zum Prinzip einer Poetik weiterentwickelt. So demonstriert etwa Raymond Queneau, wie sich aus zehn Sonetten durch systematisches Kombinieren der je 14 Verse hunderttausend Milliarden Gedichte generieren lassen. Die besondere Form seines Gedichtbandes Cent mille milliards de poèmes (1961)8 macht unmittelbar sinnfällig, wie sich das Permutationsprinzip, das in diesem Fall auch als ein Verfahren des kontinuierlichen Vers-Recyclings beschreibbar ist, auf den Papierverbrauch auswirkt: Die hunderttausend Milliarden Gedichte haben in einem wenige Millimeter starken Bändchen Platz, und selbst wenn man die Papierstreifen, die je einen der frei kombinierbaren Verse enthalten, als volle Buchseiten zählt, kommt man auf nicht mehr als zehnmal vierzehn, d.h. hundertvierzig Seiten. Wahrscheinlich wird niemand sämtliche hunderttausend Milliarden Gedichte je vollständig lesen. Die Zahl potenzieller Sonette übersteigt den Bedarf erheblich und ist so gesehen pure Verschwendung. Als solche ist sie allerdings – ähnlich wie die ökologisch desaströsen Karten im Maßstab eins zu eins – auch nur der Möglichkeit nach vorhanden: Verschwendung im Potentialis. Der hyperbolische Gestus der Cent mille milliards de poèmes, der nur als Möglichkeit andeutet, was er verspricht, kennzeichnet auch den Text, um den es im Folgenden gehen wird, Blaises Cendrars’ Gedicht La Prose du Transsibérien et de la Petite Jehanne de France, das erstmals im Herbst 1913 in Gestalt eines gemeinsam mit Sonia Delaunay-Terk entworfenen, farbig gestalteten Leporellos erschien. Ich werde dieses Buch zunächst etwas ausführlicher vorstellen und im Anschluss daran der Frage nachgehen, wie sich die skizzierte Spannung zwischen Verschwendung und Nachhaltigkeit, Sparsamkeit und Übermaß darin ausprägt.

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Vgl. zum kombinatorischen Kalkül bei Novalis, Mallarmé und Valéry John Neubauer: Symbolismus und symbolische Logik. Die Idee der ars combinatoria in der Entwicklung der modernen Dichtung. München: Fink 1978; zur Geschichte der algorithmischen Poesie Florian Cramer: Exe.cut[up]able statements. Poetische Kalküle und Phantasmen des selbstausführenden Texts. München: Fink 2011; zur Enzyklopädistik und Kombinatorik bei Novalis Franziska Bomski: Die Mathematik im Denken und Dichten von Novalis. Zum Verhältnis von Literatur und Wissen um 1800. Berlin: Akademie Verlag 2014; zu Konstruktionsalgorithmen bei Valéry Caroline TorraMattenklott: Poetik der Figur. Zwischen Geometrie und Rhetorik: Modelle der Textkomposition von Lessing bis Valéry. Paderborn: Fink 2016, 361–418. Raymond Queneau: Cent mille milliards de poèmes. Paris: Gallimard 1961.

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1. Das Buch als Karte und als Turm: Potentielle Literatur avant la lettre La Prose du Transsibérien beschreibt in freien Versen eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn, die der 16-jährige Ich-Erzähler Blaise zur Zeit des russisch-japanischen Krieges unternimmt. Da die Zeitangaben im Text nicht durchgehend mit den erwähnten historischen Ereignissen korrelieren, lässt sich die fiktive Reise nur vage auf Dezember 1904 datieren.9 Die Reise beginnt, so steht es im Text, 16.000 Meilen vom Geburtsort des Protagonisten entfernt, in Moskau, der Stadt der sieben Bahnhöfe und 1003 Türme, und endet in Kharbine (Harbin), einer russisch geprägten Stadt in der Mandschurei, bei der die Transsibirische Eisenbahn sich gabelt: Die nördliche Teilstrecke führt von Harbin nach Wladiwostock, die südliche nach dem damals umkämpften Port-Arthur, das heute einen Teil der chinesischen Hafenstadt Dalian bildet. Blaise, der sich selbst als orientierungslosen jungen Dichter charakterisiert, reist als Begleiter eines Bijouterie-Händlers, der 34 Kisten billigen Schmucks aus Pforzheim mit sich führt, und gemeinsam mit seiner Geliebten Jeanne, einer jungen Pariser Prostituierten vom Montmartre, die in der Gedichtüberschrift durch die antikisierende Schreibweise ›Jehanne‹ mit Jeanne d’Arc assoziiert wird. In Kharbine bricht die Reise ab; hier springt die Erzählung unvermittelt nach Paris und in die Zeit ihrer Abfassung. Ob die Fahrt mit der Transsibirischen Eisenbahn tatsächlich stattgefunden hat oder ob der Ich-Erzähler, wie sich im letzten Abschnitt des Gedichts andeutet, nur die Prospekte der Compagnie Internationale des Wagons-Lits et des Grands Express Européens studiert hat, bleibt offen: »Ô Paris Gare centrale débarcadère des volontés carrefour des inquiétudes Seuls les marchands de couleur ont encore un peu de lumière sur leur porte

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Vgl. hierzu den Stellenkommentar in Blaise Cendrars: Œuvres romanesques I, précédées des Poésies complètes. Hg. von Claude Leroy. Paris: Gallimard 2017, 1220. Ab Ende September 1904 hielt sich der 17-jährige Blaise Cendrars, damals noch unter seinem bürgerlichen Namen Frédéric-Louis Sauser, genannt Freddy, tatsächlich in Moskau auf und bereitete sich auf eine Stelle als Gehilfe eines Schweizer Uhrmachers in Sankt Petersburg vor, die er im Januar 1905 antrat. Dass er in dieser Zeit tatsächlich eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn unternahm, wie seine Tochter und Biographin Miriam Cendrars unter Bezugnahme auf Cendrars’ mythopoetische Autobiographik suggeriert, gilt als unwahrscheinlich; plausibel ist dagegen, dass er in Sankt Petersburg die Auswirkungen des russisch-japanischen Krieges und die im Januar 1905 durch den ›Petersburger Blutsonntag‹ eingeleiteten revolutionären Unruhen miterlebte. Vgl. Miriam Cendrars: Blaise Cendrars. Paris: Balland 1984, 95–116; Laurence Campa: Album Cendrars. Paris: Gallimard 2013, 28–34; Blaise Cendrars: Œuvres romanesques I, Kommentar, 1206–1208. Zu Cendrars’ ›mythobiographischer‹ Überformung der Jahre 1904 bis 1907 vgl. Leroy: Dans l’atelier de Cendrars. Paris: Champion 2011, 35–54.

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La Compagnie internationale des Wagons-Lits et des Grands Express européens m’a envoyé son prospectus C’est la plus belle église du monde J’ai des amis qui m’entourent comme des garde-fous Ils ont peur quand je pars que je ne revienne plus«10 »Oh Paris Zentralbahnhof, Güterbahnhof der Wünsche, Kreuzung der Sorgen Nur die Farbenhändler haben noch ein wenig Licht über ihrer Tür Die Internationale Schlafwagengesellschaft der grossen europäischen Expresszüge hat mir ihren Prospekt geschickt Sie ist die schönste Kirche der Welt Ich habe Freunde, die mich wie Irrenwärter umringen Wenn ich verreise, haben sie Angst, dass ich nicht wiederkomme«11 Das Gedicht endet mit den Zeilen »Paris/Ville de la Tour unique du grand Gibet et de la Roue«.12 Der Spagat zwischen Mittelalter und Moderne, den der Titel des Gedichts mit der Anspielung auf die Kämpferin und Märtyrerin Jeanne d’Arc vollführt, 10

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Blaise Cendrars: Prose du Transsibérien et de la petite Jeanne de France. In: Ders.: Œuvres romanesques I, 17–31, hier: 31. Die Pléiade-Ausgabe, nach der ich den französischen Text hier und im Folgenden zitiere, präsentiert das Gedicht in der Version der Poésies complètes von 1957 (erschienen unter dem Titel Du monde entier au cœur du monde. Poèmes de Blaise Cendrars. Paris: Denoël), die vom Text der Erstausgabe in mancher Hinsicht abweicht. Wie sämtliche von Cendrars autorisierten Ausgaben nach der Erstausgabe enthält sie den Text ohne die Farbkomposition von Sonia Delaunay-Terk und verzichtet auf das Leporello-Format; ins Auge springen außerdem der fehlende Artikel vor »Prose« im Titel, die modernisierte Schreibweise »Jeanne« anstelle von »Jehanne« und die in der Erstausgabe noch nicht vorhandene Widmung »Dédiée aux musiciens« auf der ersten Seite. Abgesehen von zwei vergriffenen, antiquarisch zu hohen Preisen gehandelten Faksimile-Ausgaben (New Haven: Yale UP 2008 und Paris: PUF/Fondation Martin Bodmer 2011) und einer kunsthandwerklichen Rekonstruktion der Originalausgabe in einer Auflage von 150 Exemplaren von Kitty Maryatt (2018) existiert keine Neuedition der Erstausgabe. Der Ausstellungskatalog Sonia Delaunay. Les couleurs de l’abstraction (Hg. von Musée d’Art moderne de la Ville de Paris. Paris 2014, 62–69) bietet eine vollständige und gut lesbare Reproduktion. Den Text der Erstausgabe in einer an dieser orientierten Typographie, allerdings mit verändertem Titel und der später ergänzten Widmung, enthält die Ausgabe Le Transsibérien [1957]. Paris: Seghers 2 1966. Blaise Cendrars: Die Prosa von der Transsibirischen Eisenbahn und der Kleinen Jehanne von Frankreich/La Prose du Transsibérien et de la Petite Jehanne de France. Übers. von Michael von KillischHorn, Nachwort von Peter Burri. Basel: Lenos 1998, 63. Sofern nicht anders angegeben, wird im Folgenden diese Übersetzung zitiert. Der französische Text dieser zweisprachigen Ausgabe folgt der Fassung der Erstausgabe von 1913; außerdem enthält der Band eine verkleinerte Reproduktion des vollständigen Leporellos in einer vereinfachten Faltung. »Paris/Stadt des einzigartigen Turms, des grossen Galgens und des Rads«. Cendrars: Prose du Transsibérien, frz. 31, dt. 65.

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wiederholt sich hier in der Zusammenstellung des Eiffelturms und des Riesenrads, Überbleibsel der Pariser Weltausstellungen von 1889 und 1900 und Insignien moderner Ingenieurskunst, mit dem Gibet de Montfaucon, dem erstmals im 13. Jahrhundert urkundlich erwähnten, während der Französischen Revolution zerstörten monumentalen Galgen der Könige von Frankreich. Der Text beschreibt zum einen die Ängste und Fantasien des vagabundierenden Adoleszenten und seinen bald groben, bald zärtlichen Umgang mit der ähnlich verlorenen Jeanne, zum anderen die Schrecken des russisch-japanischen Krieges und dessen Auswirkungen auf den Eisenbahnverkehr. Dabei wechseln verschiedene Tonlagen miteinander ab; die abenteuerliche Reisebeschreibung wird überlagert von Jugenderinnerungen, Koseworten und visionären Bildern. Skandiert wird das Gedicht von den immer wiederkehrenden Referenzen auf das Rattern und Schlingern des Zuges sowie von der sechsmal (fast) wörtlich wiederholten Frage Jeannes: »Dis, Blaise, sommes-nous bien loin de Montmartre?«13 Das von Cendrars zusammen mit Sonia Delaunay-Terk gestaltete Künstlerbuch wurde vor seinem Erscheinen in einem farbigen Faltprospekt als »premier livre simultané« (»erstes Simultanbuch«) angekündigt.14 Diesen Prospekt sowie ein bereits im April 1913 gedrucktes Subskriptionsformular in Postkartenformat schickten Cendrars und Delaunay-Terk an verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, die in teils spöttischem, teils interessiertem Tonfall darüber berichteten.15 Ein Artikel im Gil Blas vom 16. Oktober 1913, dessen Verfasser sich auf persönliche Mitteilungen Cendrars’ und Delaunay-Terks bezieht, kündigt nicht nur eine Auflage von 250 Exemplaren an, sondern auch simultane Ausstellungen des Buchs in London, Berlin, New York, Moskau, Sankt Petersburg und im Pariser Salon d’Automne.16 Eine ähnliche Liste von Ausstellungsorten findet sich in den postum publizierten Aufzeichnungen Robert Delaunays.17 Belegen lassen sich nur wenige dieser Ausstellungen: Eine Modellfassung des Buchs wurde im Oktober 1913 auf dem Ersten Deutschen Herbstsalon in Berlin ausgestellt,18 und am 4. Januar 1914 zeigte der russische Mediävist und Philologe Alexander Smirnov das Buch bei einem Vortrag über das Konzept des »Simultané« im Künstlerkabarett Бродячая собака (›Streu-

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»Sag, Blaise, sind wir weit weg von Montmartre?« Cendrars: Prose du Transsibérien, frz. 22–25, dt. 33–43. Vgl. Antoine Sidoti: Genèse et dossier d’une polémique. La Prose du Transsibérien et de la Petite Jehanne de France. Blaise Cendrars – Sonia Delaunay, novembre – décembre 1912 – juin 1914. Paris: Lettres modernes 1987, 33–35 sowie die Abbildung in Sonia Delaunay. Les couleurs de l’abstraction, 76. Vgl. die ausführliche und materialreiche Dokumentation von Sidoti: Genèse, 50–103. Les Uns: Le Premier Livre Simultané. In: Gil Blas, 16.10.1913, 4. Vgl. dazu Sidoti: Genèse, 68. Robert Delaunay: Du cubisme à l’art abstrait. Hg. von Pierre Francastel. Paris 1957, 202. Vgl. Sidoti: Genèse, 30, 97f.

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nender Hund‹) in Sankt Petersburg.19 In Paris wurde das entfaltete Leporello am 24. Februar 1914 in den Mansardenräumen der Zeitschrift Montjoie! ausgehängt und von der Schauspielerin Lucy Wilhelm vorgelesen.20 Im Pariser Salon d’Automne war es nicht zu sehen. Das Leporello besteht aus einem Papierstreifen, der in entfaltetem Zustand fast zwei Meter hoch und 36 Zentimeter breit ist und aus vier aneinandergeklebten Blättern besteht (Abb. 1). Die Papierbahn ist einseitig bedruckt und vor der horizontalen Zickzack-Faltung einmal vertikal nach vorne gefaltet, so dass die bedruckte Seite erst sichtbar wird, wenn das Leporello vollständig ausgeklappt ist – die eingefalteten Seiten können also beim Lesen nicht sukzessive umgeschlagen werden wie bei einem Buch im Codex-Format. Eine Bestandsaufnahme der überlieferten Exemplare hat gezeigt, dass die Zahl der horizontalen Falze variiert: Je nach Exemplar und Faltung ergeben sich 18 bis 22 in der Mitte geteilte Text-Bild-Felder.21 Das oberste Feld (Abb. 2) enthält links den Buchtitel, die Namen des Verfassers und der Künstlerin sowie Angaben zur Höhe der Auflage und zur Ausstattung, zum Verlag, zum Erscheinungsort und zum Erscheinungsjahr. Sofern die Exemplare, wie vorgesehen, handschriftlich nummeriert und signiert wurden, befinden sich die entsprechenden Einträge an dieser Stelle. Auf der rechten Seite des obersten Feldes ist eine Streckenkarte der Transsibirischen Eisenbahn und darunter ein weiteres Mal der Titel abgedruckt, so dass das Leporello in zusammengefaltetem Zustand an einen Stadtplan oder eine Landkarte erinnert.22 Auf der rechten Seite der Papierbahn ist

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Vgl. ebd., 98, 104–108, 112–118. Zu Alexander Smirnov vgl. auch Jean-Claude Marcadé: La correspondance d’A. A. Smirnov avec S. I. Terk (Sonia Delaunay), 16 septembre 1904–8 avril 1905. In: Cahiers du monde russe et soviétique 24.3 (1983), 289–327. Vgl. Sidoti: Genèse, 123–126 sowie Pär Bergman: »Modernolatria« et »Simultaneità«. Recherches sur deux tendances dans l’avant-garde littéraire en Italie et en France à la veille de la première guerre mondiale. Stockholm: Bonniers 1962, 315. In der Zeitung L’Intransigeant erschien am 23. Februar 1914 eine Ankündigung der Veranstaltung und am 25. Februar 1914 ein kurzer Bericht. Vgl. außerdem Delaunay: Du cubisme à l’art abstrait, 202 sowie Fernand Divoire: Le grenier de Montjoie! Documents pour l’histoire de la littérature, de la musique et des arts d’aujourdhui et de demain. Paris: Édition du Carnet Critique 1919. Auszug auf Livrenblog (Juni 2011), http://livrenblog.b logspot.com/2011/06/fernand-divoire-le-grenier-de-montjoie.html (26.11.2022, 19:11). Vgl. Kitty Maryatt: A Bookmaker’s Analysis of Blaise Cendrar’s [sic!] and Sonia Delaunay’s La Prose du Transsibérien et la Petite Jehanne de France, http://laprosepochoir.blogspot.com/p/blo g-page.html (13.11.2022, 23:43). Ein schlichteres, aber verwandtes Buchkonzept realisierte Cendrars mit der Erstausgabe seines Gedichts Le Panama ou les Aventures de mes Sept Oncles, die 1918 bei den Éditions de la Sirène erschien: Der Text wird durch Streckenpläne amerikanischer Eisenbahnlinien unterbrochen, und das annähernd quadratische Heft, dessen Titelblatt einen an das Signet der Londoner U-Bahn erinnernden Rettungsring zeigt, wird einmal längs gefaltet, so dass es das Format einer Straßenkarte annimmt. Vgl. auch die Faksimile-Ausgabe: Blaise Cendrars: Le Panama ou les Aventures de mes Sept Oncles. Saint-Clément-de-Rivière: Fata Morgana 2015.

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unterhalb der Streckenkarte in vier verschiedenen Schriftfarben (grün, blau, orangerot, rubinrot) und 30 verschiedenen Schrifttypen Cendrars’ Text abgedruckt,23 auf der linken die mit Pochoir (Schablonendruck) aufgetragene, überwiegend abstrakte Farbkomposition von Sonia Delaunay-Terk. Die einzigen gegenständlichen Elemente der Farbkomposition sind ein roter Eiffelturm und ein orangefarbenes Riesenrad am unteren Ende der Bildbahn (Abb. 3), die wie Alpha und Omega oder Penis und Vagina ineinander verschlungen sind und denen die am Ende des Gedichts genannten Wahrzeichen der Stadt Paris entsprechen. Auf typographischer Ebene korrespondiert diese Konstellation mit der Form des O in der zweimaligen Interjektion »O Paris!«, die in der Textspalte ebenfalls in Orangerot und Rubinrot gedruckt ist, und mit der Figur, die sich aus dem Zeilenfall der letzten beiden, rot gedruckten Verse ergibt (»Paris/Ville de la Tour unique du grand Gibet et de la Roue«). Wie sich den Angaben auf dem Subskriptionsformular und dem Titelblatt entnehmen lässt, war eine Auflage von 150 (nicht 250) nummerierten Exemplaren vorgesehen, von denen acht auf Pergament, 28 auf Japon und 114 auf Simili Japon gedruckt werden sollten. Die Preise betrugen 50 Francs für die Exemplare auf Simili Japon, 100 Francs für die Exemplare auf Japon und 500 Francs für die Exemplare auf Pergament.24 Je nach Ausführung wurde das Leporello mit einem handbemalten Umschlag aus Ziegenleder oder Pergament angeboten.25 In einem kommentierenden Artikel, der im November 1913 in der Zeitschrift Der Sturm erschien, drückte Cendrars seine Freude darüber aus, dass alle Exemplare zusammengenommen die Höhe des Eiffelturms erreichten; dieses für die Rezeption prägende Detail wurde zwei Tage später in einer Publikationsanzeige im Sturm wiederholt.26

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Vgl. zur Anzahl der verschiedenen Typen Maryatt: The 1913 Avant-Garde Book: La Prose du Transsibérien. In: The Codex Papers 1 (2018), 60–76, hier: 64–71. Vgl. Sidoti: Genèse, 32. Vgl. ebd., 22 und 27. Vgl. Blaise Cendrars: La Prose du Transsibérien et de la Petite Jehanne de France. In: Der Sturm 4, Nr. 184/185, November 1913, 127; für die Annonce: Der Sturm 4, Nr. 186/187, November 1913, 136; dazu Sidoti: Genèse, 98–102.

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Abb. 1: Blaise Cendrars/Sonia Delaunay-Terk: La Prose du Transsibérien et de la Petite Jehanne de France. Paris 1913 (hier aufgeteilt in zwei Abschnitte, von denen der linke der oberen und der rechte der unteren Hälfte der Papierbahn entspricht).

Princeton University Art Museum, aus: Wikipedia, Art. »La prose du Transsibérien et de la Petite Jehanne France«, https://en.wikipedia.org/wiki/La_prose_du_Transsib érien_et_de_la_Petite_Jehanne_de_France (zuletzt abgerufen am 08.01.2023).

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Abb. 2: Blaise Cendrars/Sonia Delaunay-Terk: La Prose du Transsibérien et de la Petite Jehanne de France. Paris 1913, oberstes Segment (Ausschnitt).

Musée d’Art moderne de la Ville de Paris (Hg.): Sonia Delaunay. Les couleurs de l’abstraction. Ausst.-Kat. Paris 2014, 63.

Schon seiner Entstehung nach ist dem Buch aufgrund seiner kostbaren Materialien und des aufwendigen, nur in Handarbeit realisierbaren Pochoir-Verfahrens ein Akt der Verausgabung eingeschrieben. Der Plan, das Projekt durch Subskriptionen zu finanzieren, erwies sich als wenig erfolgreich. Einem Bericht Sonia Delaunay-Terks zufolge investierte Cendrars eine bescheidene Erbschaft, um die Herstellungskosten aufzubringen und nebenher überleben zu können; Miriam Cendrars vermutet, dass in Wirklichkeit seine Freundin Féla Poznanska den Druck finanzierte.27 Der Beginn des Ersten Weltkriegs, an dem Cendrars als Soldat der französischen Fremdenlegion teilnahm, unterbrach die Arbeit an dem Buch, so dass aus Zeit- und Kostengründen nur wenig mehr als 70 Exemplare fertiggestellt wurden.28 Nach Delaunay-Terks Erzählung teilten sie und Cendrars die unfertigen 27 28

Vgl. Sidoti: Genèse, 18; Miriam Cendrars: Blaise Cendrars, 265. Maryatt zufolge waren bis 2017 74 Exemplare bekannt. Dieser Angabe liegt die Zählung Antoine Corons zugrunde, der bis 2014 die Rara-Abteilung der Bibliothèque nationale de France leitete. Maryatts Blog enthält auch eine eigene Bestandsaufnahme mit Angaben zu den Standorten von 49 Exemplaren, Arbeitsmodellen und Druckfahnen. Vgl. http://laprosep ochoir.blogspot.com/p/census.html (29.11.2022, 16:35).

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Exemplare untereinander auf. Sie nahm die bemalten Buchdeckel an sich und verschenkte sie später als Bilder an Freunde. Das erste, auf Pergament gedruckte Exemplar, das mit einer Widmung Cendrars’ versehen war, überließ sie einem Pfandleiher unter der Bedingung, dass es nicht verkauft würde, konnte es aber nicht wieder in ihren Besitz bringen. Cendrars erhielt die bereits gedruckten Texte, die er später verkaufte.29 So führten die prekären Lebensumstände der beiden jungen Künstler zu einer unbeabsichtigten Verringerung der Auflage und trugen paradoxerweise dazu bei, dass die wenigen in Umlauf gebrachten Exemplare, sofern sie noch nicht ihren Platz in Bibliotheken oder Museen gefunden haben, heute zu astronomischen Summen gehandelt werden.

Abb. 3: Blaise Cendrars/Sonia Delaunay-Terk: La Prose du Transsibérien et de la Petite Jehanne de France. Paris 1913, unterstes Segment (Ausschnitt).

Musée d’Art moderne de la Ville de Paris (Hg.): Sonia Delaunay. Les couleurs de l’abstraction. Ausst.-Kat. Paris 2014, 68f.

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Vgl. Sidoti: Genèse, 22f.

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Oberflächlich gesehen mag es so scheinen, als sei die Verknappung der Exemplare, die den Plan vereitelte, durch Papierformat und Auflage die Höhe des Eiffelturms zu erreichen, genau wie die nicht realisierten Simultan-Ausstellungen im Salon d’Automne, in London, New York und Moskau, ein Resultat persönlicher und historischer Zufälle ohne inneren Bezug zum Werk. Tatsächlich ist die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit jedoch bereits in der Struktur des Gedichtes angelegt: im Kontrast zwischen der noch dörflichen Welt des Montmartre und dem kosmopolitischen Gestus des Bohemiens, in der Spannung zwischen dem grandiosen, stellenweise futuristisch anmutenden Gestus des Abenteurers und der Haltlosigkeit des von Fernweh umgetriebenen Sechzehnjährigen, im kriegsbedingten Abbruch der Reise in Harbin (»Tsitsikar et Kharbine/Je ne vais pas plus loin/C’est la dernière station/Je débarquai à Kharbine comme on venait de mettre le feu aux bureaux de la Croix-Rouge«30 ), in der Andeutung, die Reise habe vielleicht, wie die imaginären Reisen in die Südsee und nach Mexiko, mit deren Evokation Blaise unterwegs seine Geliebte einlullt, nur in seiner Fantasie stattgefunden31 , und nicht zuletzt im hyperbolischen Projekt, die rund 7500 Kilometer lange Bahnstrecke in lyrischer Form zur Darstellung zu bringen. In den Selbstzweifeln des adoleszenten Dichters, der von sich sagt, er könne nichts zu Ende führen (»Et j’étais déjà si mauvais poète/Que je ne savais pas aller jusqu’au bout«32 ), wird diese Diskrepanz explizit formuliert – sie gehört zum poetologischen Programm des Gedichts. Die Prose du Transsibérien stellt sich dar als Poesie eines jungen Dichters, dem zwar die Kräfte und Mittel dazu fehlen, seine ehrgeizigen Ziele zu realisieren, der sich aber erfolgreich des Kunstgriffs bedient, das kaum Erreichbare zu behaupten und gleichsam per Hochrechnung in Aussicht zu stellen. Je nach Perspektive ist die Auflagenhöhe von 150-mal zwei Meter Hochstapelei oder potentielle Literatur avant la lettre: Um aus den zusammengeklebten Papierbahnen in der Einbildungskraft der Lesenden den Eiffelturm entstehen zu lassen, genügt eine einfache Konstruktionsregel.

2. Die Welt als Leporello: Simultaneität und Elastizität Mit der Ankündigung des Buchs als »premier livre simultané« partizipierten Delaunay-Terk und Cendrars mehr oder weniger direkt an der öffentlichen Polemik über die Urheberschaft des Begriffs und das Konzept der simultanéité, die vor allem

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»Tsitsikar und Charbin/Weiter fahre ich nicht/Dies ist die letzte Station/Ich verliess den Zug in Charbin, als man gerade die Rot-Kreuz-Station in Brand gesteckt hatte«. Cendrars: Prose du Transsibérien, frz. 30, dt. 61. Ebd., frz. 25f., 31. »Und ich war schon damals ein so schlechter Dichter/dass ich nichts zu Ende bringen konnte«. Ebd., frz. 17, dt. Übers. von der Verf.

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von Guillaume Apollinaire, Umberto Boccioni und Henri-Martin Barzun geführt wurde. Seine Anwendung auf die Prose du Transsibérien ist unterschiedlich gedeutet worden.33 Offensichtlich ist der Bezug zu der von Robert Delaunay und DelaunayTerk entwickelten Technik der couleurs simultanées – so die Bezeichnung auf dem Titelblatt der Prose du Transsibérien –, die auf den Untersuchungen des Chemikers Michel Eugène Chevreul zum Simultankontrast beruhte34 und darauf abzielte, die Intensitäts- und Tiefenwirkungen kontrastierender Farbflächen zu erforschen und künstlerisch zu nutzen. Da die Farbkomposition beim »livre simultané« jedoch in Konstellation mit Cendrars’ Text gesehen werden muss, kann der Begriff der Simultaneität hier außerdem auf die gleichzeitige Präsenz von Text und Bild bezogen werden. In diesem Sinne interpretierte Apollinaire die Simultaneität des Buchs von Cendrars und Delaunay-Terk als eine von den Farbkontrasten provozierte, neue Form des Lesens, die darin bestehe, das Gedicht als Ganzes simultan ins Auge zu fassen, so wie ein Dirigent eine Partitur lese oder wie man die verschiedenen Gestaltungselemente eines Plakats erfasse.35 Plausibler sind die von Cendrars selbst und von Robert Delaunay formulierten Deutungen, die einander komplementär erhellen. In einem kurzen Essay mit dem Titel Kontraste, Gleichzeitigkeit, Form, der im März 1914 in der Zeitschrift Die Aktion publiziert wurde, erläutert Cendrars Robert Delaunays Konzept der Simultaneität in einer Weise, die auch Rückschlüsse auf sein eigenes Denken und Schreiben erlaubt: »[…] Eine Farbe ist nicht Farbe an sich. Sie ist erst Farbe im Kontrast mit anderen Farben. Blau ist erst Blau im Kontrast mit Rot, Grün, Rotgelb, Grau und den anderen Farben. Kontrast bedeutet nicht Schwarz und Weiß, nicht Gegensatz, nicht Verschiedenheit. Der Kontrast ist eine Ähnlichkeit. Man reist, um Länder, Menschen, Tiere, Dinge zu kennen, zu erkennen. Um mitzuleben. […] Die zwei Geschlechter sind Kontrast. Kontrast ist Liebe. Welten kreisen durch Kontrast. Der Kontrast bildet ihre Tiefe. Kontrast ist Tiefe, Form. Delaunay arbeitet mit Turm, Hafen, Haus, Mann, Weib, Spielzeug, Auge, Fenster, Buch. Er ist in Neuyork, Berlin, Moskau. Im Balle Bullier [sic!], in seinem Bett, in Paris. ›Gleichzeitigkeit‹ (Simultané) ist ein technischer Ausdruck wie ›sublimé‹ in

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Die folgende Zusammenstellung der Deutungen von Apollinaire, Robert Delaunay und Cendrars selbst basiert zu großen Teilen auf den erhellenden Ausführungen von Katherine Shingler: Visual-Verbal Encounters in Cendrars and Delaunay’s La Prose du Transsibérien. In: e-France: An Online Journal of French Studies 3 (2012), 1–28, hier: 3–11. Michel Eugène Chevreul: De la loi du contraste simultané des couleurs et de l’assortiment des objets colorés […]. Paris: Pitois-Levrault 1839. Guillaume Apollinaire: Simultanisme-Librettisme [1914]. In: Ders.: Œuvres en prose complètes. Hg. von Pierre Caizergues und Michel Décaudin. Paris: Gallimard 1991, 974–982, hier: 976. Vgl. dazu Shingler: Visual-Verbal Encounters, 4–7.

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der Medizin. Die Technik versucht sich am Stoff. Klänge, Farben, Stimmen, Tänze, Leidenschaften, Stein, Pflanze, Webereien, Metzgereien, Chemie, Physik, Zivilisation, Sohn, Vater, Mutter, Bilder, Röcke, Plakate, Bücher, Gedicht, Lampe, Pfiff sind Technik, Handwerk. Die Welt ist unser Handwerk. Das ›simultané‹ ist die technische Vollendung dieses Handwerks.«36 Cendrars verschränkt in diesem Essay Delaunays Technik des simultané, die ja eine Technik der Farbkomposition ist, mit seiner eigenen Poetik des Reisens und des Konkreten, ähnlich wie sein Text sich in La Prose du Transsibérien mit der abstrakten Farbkomposition Sonia Delaunay-Terks verbindet. Gleichsam spiegelbildlich dazu entwirft Robert Delaunay in einer auf Oktober 1913 datierten Aufzeichnung zur Prose du Transsibérien ein an Cendrars entwickeltes Konzept des literarischen Simultanismus: »Le simultanisme littéraire peut être donné par l’emploi des contrastes de mots. Transsibérien-Jehanne de France est un contraste simple (contraste continu qui seul ne peut donner la profondeur forme vivante).«37 Delaunay bestimmt die literarische Analogie zum Farbkontrast hier als einen Kontrast zwischen Wörtern. Als Beispiel für einen einfachen Kontrast, mit dem allein noch keine besondere Tiefenwirkung zu erreichen sei, nennt er das Verhältnis zwischen ›Jehanne de France‹ und der ›Transsibirischen Eisenbahn‹. Dass die beiden Titelsegmente »La Prose du Transsibérien« und »la Petite Jehanne de France« in der Erstausgabe in kontrastierenden Farben – in Orangerot und Blau – gedruckt sind, bestätigt diese Deutung.38 Von literaturwissenschaftlicher Seite ist das ›Simultane‹ des Gedichts u.a. mit Blick auf das futuristische Konzept des Simultanismus beschrieben worden. So hat Marjorie Perloff auf den Präsenz-Effekt der Eigennamen im Gedicht hingewiesen, etwa in dem Vers »Tchéliabinsk Kaïnsk Obi Taïchet Verkné Oudinsk Kourgane Samara Pensa-Touloune«39 : Die unverbundene Reihung der Ortsnamen nähere sich an die frei auf der Seite platzierten Substantive an, für die Filippo Tommaso Marinetti den Ausdruck »parole in libertà« gebrauchte.40 In ihrer puren Reihung fallen die 36 37

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Cendrars: Kontraste, Gleichzeitigkeit, Form. In: Die Aktion 4/11 (1914), Sp. 133f. Vgl. dazu auch Shingler: Visual-Verbal Encounters, 10. »Der literarische Simultanismus kann durch den Gebrauch von Wortkontrasten erreicht werden. Transsibirische Eisenbahn-Jehanne von Frankreich ist ein einfacher Kontrast (ein fortgesetzter Kontrast, der für sich allein nicht die Tiefe lebendige Form erzeugen kann).« Delaunay: Du cubisme à l’art abstrait, 112. Vgl. auch Shingler: Visual-Verbal Encounters, 8f. Inwieweit das Verfahren, Wortkontraste in kontrastierenden Farben wiederzugeben, für die typographische Gestaltung des Gedichts auch darüber hinaus relevant ist, wäre noch zu prüfen. Die Auswahl der Druckfarben ermöglicht zumindest die Kombination von je zwei kontrastierenden Farben, Grün/Rot und Blau/Orange. Cendrars: Prose du Transsibérien, 24. Vgl. Marjorie Perloff: The Futurist Moment: Avant-Garde, Avant Guerre, and the Language of Rupture. Chicago/London: The University of Chicago Press 1986, 23, sowie dies: »Alterable

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Ortsnamen gewissermaßen aus der Sukzessivität der Erzählung heraus und tragen zu einer nicht-linearen Zeitstruktur bei, die Perloff exemplarisch im Zusammenfallen von Vergangenheit und Gegenwart, sibirischer Steppe und Eiffelturm realisiert sieht und als »continuous present« beschreibt.41 Mit diesem raumzeitlichen Konzept der Simultaneität lässt sich auch die besondere Form und Materialität des Schriftträgers in Verbindung bringen. Das Leporello, im Französischen auch livre-accordéon genannt, kann auseinandergezogen werden wie eine Metallfeder, und es tendiert, wie jeder elastische Körper, von sich aus dazu, die durch äußere Krafteinwirkung bewirkte Formänderung wieder rückgängig zu machen, d.h. sich zusammen zu ziehen. Die räumliche und zeitliche Ausdehnung der im Text beschriebenen Eisenbahnstrecke lässt sich auf diese Weise sinnbildlich strecken oder vollständig aufheben. So wie Kharbine und Paris am Schluss des Textes mit einem Male zusammenrücken, liegen Anfang und Ende der Papierbahn in eingefaltetem Zustand aufeinander. Die folgende Textpassage belegt, dass diese materielle Eigenschaft des Buchs dem Text nicht äußerlich ist: »›Dis, Blaise, sommes-nous bien loin de Montmartre?‹ Les inquiétudes Oublie les inquiétudes Toutes les gares lézardées obliques sur la route Les fils télégraphiques auxquels elles pendent Les poteaux grimaçants qui gesticulent et les étranglent Le monde s’étire s’allonge et se retire comme un accordéon qu’une main sadique tourmente Dans les déchirures du ciel, les locomotives en furie S’enfuient […] Tout est un faux accord Le ›broun-roun-roun‹ des roues Chocs Rebondissements Nous sommes un orage sous le crâne d’un sourd…«

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Noons«: The poèmes élastiques of Blaise Cendrars and Frank O’Hara. In: The Yearbook of English Studies 15 (1985), 160–178, hier: 169. Perloff: The Futurist Moment, 8f., 23. Vgl. auch dies.: »Alterable Noons«, 169.

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»›Sag, Blaise, sind wir weit weg von Montmartre?‹ Die Sorgen Vergiss die Sorgen All die heruntergekommenen, schiefen Bahnhöfe entlang der Strecke Die Telefondrähte, an denen sie hängen Die fratzenschneidenden Masten, die gestikulieren und sie erdrosseln Die Welt streckt sich, dehnt sich und zieht sich zusammen wie eine Harmonika, gemartert von sadistischer Hand In die Risse des Himmels fliehen die Lokomotiven […] Alles ist schreiende Dissonanz Das Rattata Rattata der Räder Stösse Gegenstösse Wir sind ein Gewitter im Schädel eines Tauben…«42 Das Bild der Welt als Akkordeon, das sich in einer quälenden Bewegung dehnt und zusammenzieht, lässt sich mit den gegensätzlichen Raum- und Zeitwahrnehmungen in Verbindung bringen, die sich aus der Erfahrung der endlos erscheinenden Zugstrecke und der Aufhebung der Entfernung durch das neue Medium der Telefonie (in der Version der Erstausgabe) bzw. Telegraphie (in der Version der Poésies complètes) ergeben: Ein Medium frisst das andere.43 Das Bild der erdrosselten Bahnhöfe erinnert zugleich an den mittelalterlichen Galgen, der im Gedicht freilich erst ganz am Ende in Gesellschaft des Eiffelturms und des Riesenrades weit im Westen Europas auftauchen wird. Außerdem kann das Akkordeon natürlich als Verweis auf das livre-accordéon verstanden werden, in dem die fiktive Welt des Gedichts enthalten ist, das sich in den Händen der Lesenden dehnt und zusammenzieht und das in ihren Köpfen ein von außen unhörbares Gewitter erdröhnen lässt. 42

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Cendrars: Prose du Transsibérien, frz. 23, dt. 35f. Die Abweichungen zwischen dem hier zitierten französischen Text und der deutschen Übersetzung (z.B. »Telefondrähte« statt »Telegraphendrähte«, »Harmonika« statt »Akkordeon«) gehen größtenteils auf divergierende Lesarten des französischen Texts zurück: In der französischen Erstausgabe von 1913 heißt es »fils téléphoniques« und »harmonica«. Wolfgang Schivelbusch hat auf den Topos der »Vernichtung von Raum und Zeit« hingewiesen, »mit dem das frühe 19. Jahrhundert die Wirkung der Eisenbahn beschreibt« (Wolfgang Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. München/Wien: Hanser 1977, 35). Der Topos steht für die Empfindung früher Zugreisender, die Geschwindigkeit des Reisens mit der Eisenbahn bringe den durchmessenen Raum als Erfahrungsraum zum Verschwinden. Für die europäischen Touristen erschließt die Transsibirische Eisenbahn eine zuvor kaum zugängliche Region, vernichtet aber zugleich die immensen Distanzen, die sie überbrückt, und wird darin von dem jüngeren Medium der Telefonie bzw. Telegraphie noch übertroffen.

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Parallel zur Arbeit an der Prose du Transsibérien begann Cendrars mit der Planung eines Zyklus von Gelegenheitsgedichten, der 1919 erschien und in seiner definitiven Fassung den Titel Dix-neuf poèmes élastiques trug. Ich nenne an dieser Stelle nur die beiden plausibelsten Interpretationen des Buchtitels:44 Zum einen liegt es nahe, den Begriff des Elastischen auf die in ihrer Länge stark variierenden freien Verse zu beziehen.45 Zum anderen kann er mit Vorgängen des Dehnens und Stauchens auf den Ebenen der Wörter und des Sujets assoziiert werden. Ausgehend von dem Gedicht Tour, das in ähnlicher Weise wie die Prose du Transsibérien mit räumlichen Entfernungen und ihrer plötzlichen Aufhebung spielt, kann man ›Elastizität‹ als ein mit ›Simultaneität‹ verwandtes Konzept verstehen, das den Akzent von der Gleichzeitigkeit und dem Nebeneinander kontrastierender Elemente bzw. weit voneinander entfernter Orte auf die mechanischen Aktionen des Dehnens und Stauchens bzw. Zurückschnappens verschiebt.46 In beiden Bedeutungen lässt sich das Konzept der Elastizität auch auf das premier livre simultané anwenden: Dem Wechsel von langen und kurzen Versen auf der Mikroebene entspricht hier auf der Makroebene das Verhältnis zwischen dem schematischen Streckenplan auf dem Titelfeld und der epischen Beschreibung der Zugfahrt auf der entfalteten Papierbahn sowie das plötzliche Einziehen der zurückgelegten Distanz im Text, das im abschließenden Zusammenfalten des Leporellos haptisch nachvollziehbar ist. ›Elastizität‹, handgreiflich realisiert im Medium des livre-accordéon, kann demnach als Chiffre für ein künstlerisches Spiel mit Formen, Entfernungen und Größendimensionen aufgefasst werden, das im Unterschied zur abstrakteren, primär visuellen Simultaneität an die Dreidimensionalität und die körperliche Erfahrung gebunden ist. Im Fernweh des adoleszenten Dichters, im Heimweh Jeannes, in den Stößen des ratternden Zuges und in der ›sadistischen‹ Hand des Akkordeonspielers deutet sich an, dass die hier mit ›Elastizität‹ assoziierte, spezifisch moderne Raum- und Bewegungserfahrung nicht ohne Schmerzen zu haben ist. Auch die im Gedicht betonte Unfähigkeit des Dichters, etwas zu Ende zu bringen, lässt sich mit der durchaus lustvollen, aber nicht grenzenlos möglichen Dehnbarkeit von Körper

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Vgl. hierzu Jean Pierre Goldenstein: 19 Poèmes élastiques de Blaise Cendrars. Édition critique et commentée. Paris: Méridiens Klincksieck 1986, 23f. sowie Caroline Torra-Mattenklott: »Le macaroni est coupé.« Elastizität, Reklame und kleine Form bei Blaise Cendrars. In: Lea Liese/ Yashar Mohagheghi (Hg.): Von der Anekdote zum Hashtag. Perspektiven auf die politische Kommunikation kleiner (literarischer) Formen. Berlin: de Gruyter 2023 (im Erscheinen). Vgl. Goldenstein: 19 Poèmes élastiques, 23. Cendrars: Dix-neuf poèmes élastiques, 2. Tour. In: Ders.: Œuvres romanesques I, 51–72. Marjorie Perloff interpretiert Cendrars’ Konzept der élasticité mit Blick auf dieses Gedicht im Sinne des Dehnens und Wiederherstellens semantischer oder rhetorischer Strukturen, vgl. dies.: »Alterable Noons«, 176. Zur Verwandtschaft zwischen elasticité und Simultaneität vgl. ausführlicher Caroline Torra-Mattenklott: »Le macaroni est coupé.«

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und Psyche in Zusammenhang bringen:47 »Les lointains sont par trop loin«48 , heißt es, unmittelbar bevor Blaise die leidende Jeanne dazu auffordert, zu ihm ins Bett zu steigen. Die körperliche Nähe, die das Heimweh kompensieren soll, wird dann zum Ausgangspunkt einer weiteren, in die Eisenbahnfahrt eingeschachtelten imaginären Reise, an deren Ende Jeanne einschläft und Blaise mit seinen Ängsten allein zurücklässt. Der vagabundierende Schweizer kennt die Risiken der Eisenbahnreise, bemerkt jedoch erst unterwegs, dass er es versäumt hat, sich gegen Zugunfälle zu versichern.49 Vor allem aber erweist sich sein Gefühl der Überforderung angesichts der sich dehnenden Zeiten und Räume als eine Krise der Darstellung: »L’histoire antique L’histoire moderne Les tourbillons Les naufrages Même celui du Titanic que j’ai lu dans le journal Autant d’images-associations que je ne peux pas développer dans mes vers Car je suis encore fort mauvais poète Car l’univers me déborde Et j’ai négligé de m’assurer contre les accidents de chemin de fer Car je ne sais pas aller jusqu’au bout Et j’ai peur.«

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Zu einem analogen Befund gelangt Clive Scott, wenn er die Aussage Blaises, er könne nichts zu Ende bringen, als implizites Bekenntnis der ästhetischen Entscheidung deutet, den Weg Marinettis nicht bis zum Ende zu gehen, d.h. die Wörter nicht ganz aus ihrem syntaktischen Gefüge zu befreien und dem technischen Rhythmus der Eisenbahn zu überlassen. Vgl. Scott: Reading the Rhythm, 66f., 74–87. »Die Fernen sind gar zu fern«. Cendrars: Prose du Transsibérien, frz. 25, dt. 43. An einer früheren Textstelle ist von der »moelle chemin-de-fer des psychiatres américains« die Rede (Cendrars: Prose du Transsibérien, frz. 20, dt. 25), einem im Englischen als railway brain oder railway spine bezeichneten Syndrom, das in der Folge von Eisenbahnunfällen auftrat. Die Symptome der körperlich augenscheinlich unverletzten Unfallopfer wurden im ausgehenden 19. Jahrhundert mit denen der Neurasthenie oder neurasthenischen Hysterie verglichen und später mit der posttraumatischen Belastungsstörung identifiziert. Vgl. Schivelbusch: Geschichte der Eisenbahnreise, 121–134; Eric Michael Caplan: Trains, Brains, and Sprains: Railway Spine and the Origins of Psychoneuroses. In: Bulletin of the History of Medicine 69/3 (1995), 387–419. Christine Le Quellec Cottier zufolge kannte Cendrars den Begriff moelle chemin-de-fer aus der französischen Übersetzung von Max Nordaus Entartung (vgl. Cendrars: Œuvres romanesques I, Kommentar, 1221). Nordau führte die railway spine nicht auf Eisenbahnunfälle zurück, sondern auf »die Erschütterungen […], »die der Reisende im Eisenbahnzuge beständig erleidet«. Max Nordau: Entartung. Hg. von Karin Tebben. Berlin/Boston: de Gruyter 2013, 51.

Caroline Torra-Mattenklott: Papier als elastisches Medium

»Die alte Geschichte Die neue Geschichte Ein einziger Taumel Schiffbrüche Sogar jener der Titanic, von dem ich in der Zeitung las So viele Bilder, Assoziationen, die ich in meinen Versen gar nicht fassen und verarbeiten kann Denn ich bin noch immer ein sehr schlechter Dichter Denn das Universum überwältigt mich Und ich habe es versäumt, mich gegen Eisenbahnunglücke zu versichern Denn ich schaffe es nicht, aufs Ganze zu gehen Und ich habe Angst.«50 Die Einschränkungen, mit denen der Mensch konfrontiert ist, wenn es darum geht, die technisch verfügbaren Distanzen körperlich, seelisch und künstlerisch zu bewältigen, führen zurück zu den begrenzten materiellen Ressourcen, die für die Realisation des Künstlerbuchs zur Verfügung standen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Länge der bedruckten Papierbahn in entfaltetem Zustand etwas über der Durchschnittsgröße eines erwachsenen Menschen liegt: Das langgestreckte Format verweist mimetisch auf die Länge der Eisenbahnstrecke und die Höhe des Eiffelturms; es verhindert eine bequeme Handhabung des Buchs und macht die Überforderung der Reisenden auf diese Weise konkret erfahrbar, bleibt aber auf Menschenmaß bezogen. Anders als die Eisenbahnschienen und der Eiffelturm selbst ist das Leporello nicht aus Stahl, sondern aus Pergament oder Papier hergestellt, d.h. aus organischen und leichten, vergleichsweise preiswerten Materialien. Das Buch trägt sichtbar die Spuren der Handarbeit und hebt sich auf diese Weise in seiner Ästhetik deutlich von den ingenieurstechnischen Großprojekten ab, die es besingt. Dass die Prose du Transsibérien trotz ihres hyperbolischen Gestus und trotz des aufwendigen und teuren Herstellungsprozesses im Kern das Produkt einer arte povera ist, zeigt sich besonders deutlich im Vergleich mit zwei anderen Darstellungen der Transsibirischen Eisenbahn, die ihr möglicherweise als Modelle gedient haben: Im russischen Pavillon der Pariser Weltausstellung von 1900 wurden gleich zwei Panoramen gezeigt, die dem internationalen Publikum im Kleinen die Erfahrung einer Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn vermitteln, Sibirien als touristisches Ziel vermarkten und Anreiz zum Erwerb von Anteilsscheinen schaffen, d.h. zur Finanzierung des Bauprojekts beitragen sollten.51 Das für ein 50 51

Cendrars: Prose du Transsibérien, frz. 27f., dt. 53. Vgl. Tyson Luneau: Selling Siberia: Russian Railway Panoramas at the 1900 Exposition Universelle. In: Peripheral Histories?, 16.9.2021, https://www.peripheralhistories.co.uk/post/selli ng-siberia-russian-railway-panoramas-at-the-1900-exposition-universelle (zuletzt abgerufen am 25.11.2022).

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Poetologien des Schriftträgers: Zwischen Sprach- und Artefaktmaterialität

breites Publikum konzipierte Panorama Transsibérien der Compagnie Internationale des Wagons-Lits bestand aus vier Kulissen unterschiedlicher Höhe, die mit Hilfe eines Elektromotors in verschiedenen Geschwindigkeiten an den Wagons eines Luxuszugs entlanggezogen wurden. Für die in den Eisenbahnwagen befindlichen Besucher entstand auf diese Weise die Illusion, der in Wirklichkeit unbewegliche Zug durchquere die sibirische Landschaft.52 Bei dem zweiten, weniger spektakulären, aber künstlerisch anspruchsvolleren Panorama handelte es sich um eine ca. 50 cm hohe und einen Kilometer lange, auf neun Walzen verteilte Leinwand, die in einem wenige Meter breiten Kabinett präsentiert wurde. Das von dem Künstler und Reiseschriftsteller Pavel Piasetzky im Laufe der Bauarbeiten vor Ort angefertigte Aquarellgemälde zeigte sibirische Landschaften und Orte an der Eisenbahnstrecke, aber auch Baustellen, Eisenbahnbrücken und Interieurs der Luxuswagons in gleitenden Übergängen.53 Dass Cendrars diese Panoramen gesehen hat, ist nicht unwahrscheinlich: Miriam Cendrars beschreibt in ihrer Cendrars-Biographie, wie der zwölfjährige Freddy Sauser mit seinen Eltern nach Paris reist, um die Weltausstellung zu besichtigen, im russischen Pavillon auf den Plüschsitzen eines LuxusWagons Platz nimmt und die auf Leinwand gemalte sibirische Landschaft vor dem Wagonfenster vorbeiziehen sieht.54 Gemessen an der realen Eisenbahnstrecke sind diese Panoramen nichts als Andeutungen: Reklamebilder in Miniaturformat, erstellt für einen zeitlich begrenzten Anlass, den nur die Leinwandrollen Piasetzkys überdauerten.55 Verglichen mit dem Leporello Cendrars’ und Delaunay-Terks handelt es sich dagegen um technisch und materiell aufwendige, künstlerisch eher konventionelle Illusionsmaschinen. Gemeinsam ist den drei Darstellungen der Transsibirischen Eisenbahn, dass sie deren Undarstellbarkeit begegnen, indem sie das Format der Bild- bzw. Textträger bis an die Grenzen des technisch Handhabbaren dehnen. Sie verdanken ihren Charme nicht zuletzt dem Missverhältnis

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Vgl. Georges Mareschal: Les panoramas de l’exposition. In: La Nature. Revue des sciences, 28.1.1900, 399–403. Vgl. Arjan den Boer: The Trans-Sibérian Express at the Paris Universal Exposition of 1900, in: retours.eu, November 2014, https://retours.eu/en/22-panorama-transsiberien-expo-1900 /# (zuletzt abgerufen am 25.11.2022). Miriam Cendrars: Blaise Cendrars, 82f. Claude Leroy, zweifellos einer der besten Kenner von Cendrars’ Biographie, scheint es für denkbar, aber keineswegs sicher zu halten, dass dieser Familienausflug tatsächlich stattgefunden hat, vgl. seine salomonische Formulierung im Kommentar von Cendrars: Œuvres romanesques I, 1207. Piasetzkys Panorama wird in Sankt Petersburg in der Eremitage aufbewahrt und wurde zwischen 2004 und 2006 aufwendig restauriert; 2007 wurde die restaurierte Fassung ausgestellt (vgl. die Online-Präsentation der Eremitage, https://bit.ly/3XOeQvG (zuletzt abgerufen am 01.12.2022), sowie den Boer: The Trans-Sibérian Express, 13). Unter den zahlreichen Bilddokumenten, die den Boer präsentiert, befinden sich auch eindrückliche Fotos vom Abriss des monumentalen Panorama Transsibérien (ebd.).

Caroline Torra-Mattenklott: Papier als elastisches Medium

zwischen der schier endlosen sibirischen Weite und dem Bemühen, sie in verkleinertem Maßstab innerhalb der zeitlichen, räumlichen und materiellen Grenzen des bürgerlichen Alltags erfahrbar zu machen. Das kleinste, aber künstlerisch avancierteste, unter den prekärsten materiellen Bedingungen realisierte Projekt unter den dreien hat sich als das nachhaltigste erwiesen. *** Vorarbeiten zu diesem Beitrag wurden ermöglicht durch ein Fellowship der DFGKolleg-Forschungsgruppe »Imaginarien der Kraft« (Universität Hamburg) im Wintersemester 2020/2021.

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II. Agentialität und Affordanz: Schriftträger in Schreibverfahren

Leicht wie Stein Stéphane Mallarmés Verse aus dem Meer Cornelia Ortlieb

Unter den vielen besonderen Dingen, die der französische Dichter und Avantgardekünstler Stéphane Mallarmé mit Hunderten kalligraphisch verzierter Verse beschriftet hat, fällt eine Gruppe, paradox, durch ihre Unscheinbarkeit auf: flache Kieselsteine, am Strand des Ferienorts Honfleur gesammelt, von Wind und Wellen geschliffen. Mindestens einer dieser Steine hat sich so erhalten, dass er Teil einer Literaturgeschichte der Objekte werden konnte, die bei Mallarmé ansonsten teils spektakuläre, teils banal-alltägliche Gegenstände und Schriftträger wie gefaltete Papierfächer mit japanischem Dekor, Photographien, Ostereier, Calvados-Krüge und Mirlitons umfasst, beschriftet mit je vier oder zwei Versen. Mallarmé hat sie in den letzten fünfzehn Jahren seines Lebens, bis zu seinem unerwartet frühen, plötzlichen Tod 1898 mit 56 Jahren, in Paris verfasst, im Rahmen einer anachronistisch anmutenden Salonkultur, die mehr oder weniger ironisch auf Schreibformen und gesellige Praktiken der (höfischen) Rokokokultur zurückgreift. Ab 1874 dürften etliche dieser Gedichte auch in Valvins entstanden sein, in einem Haus mit Garten in der Nähe der Seine, in dem Mallarmé mit seiner Familie und zahlreichen Gästen aus dem nahegelegenen Paris offenbar viele glückliche Stunden verbracht hat. Alle diese offensichtlich in mehrfacher Hinsicht seriell verfassten Versgedichte sind adressiert, zumeist an Freunde und Akteure des zeitgenössischen Literatur- und Kulturbetriebs, befreundete Künstlerinnen und deren Familie oder die eigene Ehefrau, Marie Mallarmé (geborene Maria Gerhard) und die einzige Tochter Geneviève. Mehr oder weniger offensichtlich sind die Gedichte zu bestimmten Anlässen und Gelegenheiten verfasst, demnach unter je besonderen Umständen, die sich historisch nur in den wenigsten Fällen rekonstruieren lassen, und besonders viele sind der Schauspielerin, Tänzerin und Salonière Méry Laurent gewidmet, deren Schönheit und Charme Mallarmé in zahllosen Gedichten und über 250 Briefen und Billetts rühmt. Mit einem editorischen Kraftakt von Geneviève Mallarmé und ihrem Ehemann Edmond Bonniot aus dem Nachlass Mallarmés und der Sammlung erhaltener Gedichte oder Abschriften zusammengestellt, sind 482 Gedichte unter dem passenden Titel Vers de circonstance (Verse unter Umständen/Gelegenheitsverse) 1920 in einem Buch veröffentlicht worden, das zudem ein Autograph Mallarmés und mehrere Vorreden

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Agentialität und Affordanz: Schriftträger in Schreibverfahren

enthält, darunter wiederum eine von Mallarmé selbst.1 In diesem bis heute nicht ins Deutsche übertragenen Band, dessen Inhalt das bekannte poetische Werk Mallarmés zahlenmäßig weit übertrifft, sind die Gedichte sinnfällig nach ihren SchreibAnlässen gruppiert und, damit teils untrennbar verschränkt, nach den Dingen und Gaben, die mit diesen verbunden sind. Als Epigraph auf Papier – statt Stein – öffnet dieser Paratext den Blick auf insgesamt achtzehn Abteilungen mit nicht leicht zu übersetzenden Titeln »Les Loisirs de la Poste«, »Die Vergnügen der Post«, »Offrandes à divers du Faune«, »Faun-Opfergaben für Verschiedene«, »Photographies«, »Photographien«, »Dons de fruit glacés au Nouvel An«, »Gaben glasierter Früchte zu Neujahr«, »Autre dons de Nouvel An«, »Andere Neujahrsgaben«, »Œufs de Pâques«, »Ostereier«, »Fêtes et Anniversaire«, »Feste und Geburtstage«, »Albums«, »Albumblätter«, »Dédicaces, autographes, envois divers«, »Widmungen, Autographe, allerlei Zueignungen«, »Autour d’un mirliton«, »Um ein Mirliton herum«, »Sur des galets d’Honfleur«, »Auf Kieselsteinen aus Honfleur«, »Sur des cruches de Calvados«, »Auf Calvados-Krügen«, »Rondels«, »Rondelle«, »Sonets«, »Sonette«.2 Sieben weitere Abteilungen enthalten Gedichte, die noch unmittelbarer anlassbezogen sind als diese, etwa eine Festrede zur Eröffnung des ›Theaters von Valvins‹, eine Einladung zur geselligen Eröffnungsveranstaltung einer neuen Zeitschrift und ähnliches. Nutzt Mallarmés Schreiben somit bereits systematisch vorhandene Ressourcen, die im Zeitalter industrieller Massenproduktion ebenso reichlich wie billig zur Verfügung stehen, so nehmen die Kieselsteine als einzige ›Naturdinge‹ und Gruppe von ›Schriftartefakten‹3 eine interessante Gegenposition ein, die im Korpus dieser Gedichte einzigartig ist, sieht man von den sozusagen hybriden Hühnereiern, die als Naturprodukt jahrhundertelanger Kultivierung traditionell zum typischen Artefakt des gefärbten und hier auch beschrifteten Ostereis umgestaltet werden, einmal ab.4 Die am Strand von Honfleur an der französischen Nordküste aufgelese1

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Stéphane Mallarmé: Vers de circonstance. Avec un quatrain autographe. Paris: Gallimard 1920. Bonniot gehörte als Gast den legendären Dienstagabend-Gesellschaften in Mallarmés Pariser Wohnung an und hat einen Teil der dort geführten Salongespräche überliefert, vgl. Dieter Steland: Mallarmés Mardis. In: Roberto Simanowski/Horst Turk/Thomas Schmidt (Hg.): Europa – ein Salon? Beiträge zur Internationalität des literarischen Salons. Göttingen: Wallstein 1999, 328–344, hier: 340. Vgl. das Inhaltsverzeichnis mit weiteren Unterrubriken, ebd., 191f. Vgl. zu dieser Terminologie und ihrer Forschungsumgebung Michael Friedrich: Produktion und Gebrauch von Schriftartefakten. Vortrag vom 20.10.2020, https://www.temporal-comm unities.de/explore/listen-read-watch/video-gallery/materialitaet-schriftlichkeit/friedrich/i ndex.html. (zuletzt abgerufen am 04.08.2022) Die offenbar durchweg rot gefärbten Ostereier sind aus naheliegenden Gründen nicht erhalten, sondern als solche wiederum in der Evokation der Verse, die sie tragen, präsent. Entsprechend ist es ein archivalisches Ausnahmeereignis, dass im Deutschen Literaturarchiv Marbach in einem Tresorschrank die Reste einer von Eduard Mörike beschriebenen Eierschale

Cornelia Ortlieb: Leicht wie Stein

nen Steine suggerieren dagegen, gleichsam der Natur selbst unberührt entnommen zu sein, und sie erhalten ihre unverkennbar kulturelle Prägung erst durch die Aufschrift von eigener Hand. Entsprechend sollen die folgenden Ausführungen die Besonderheiten dieses poetischen Schreibens erhellen, das wiederum auf eines der ältesten Schreibverfahren überhaupt, das Ritzen in Stein, zurückweist.5 Wie sich zeigen wird, hebt Mallarmés Dichten die vermeintlich mit diesem speziellen Material und Medium einhergehende feste Verbindung von Schwere und Dauer auf, um in den Stein-Aufschriften eine eigentümlich paradoxe Leichtigkeit in Szene zu setzen, die den Besonderheiten dieser (vermeintlich) kostenlos und unbegrenzt vorhandenen Ressource Rechnung trägt und auch ein Moment der Rück-Gabe entfaltet.6 Der solchermaßen nur für begrenzte Zeit genutzte, flüchtige Beschreibstoff wird so, mindestens potentiell, wieder in einen großen Zyklus überführt, in dem die Grenzen zwischen Natur und Kultur buchstäblich verschwimmen. In Mallarmés poetischem Kosmos haben Steine zudem seit jeher einen interessanten und wichtigen Platz, wie etwa die von ihm komponierte Buchausgabe der Poésies mit den zwei programmatischen Versgedichten, einem Sonettpaar zur Eröffnung und zum Schluss, eindrucksvoll belegt: Salut, vormals Toast, handelt von verwegener Ausfahrt, drohendem Schiffbuch und Untergang und entsprechend auch vom Gestein des Meeresbodens, A la nue accablante tu spricht explizit von der lastenden dunklen Schwere des Basalts.7

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aufbewahrt sind, die wiederum ein interessantes Seitenstück zu seinem scherzhaft-ironischen Versgedicht mit dem sprechenden Titel Auf ein Ei geschrieben darstellen. Vgl. zu Mörikes Dichten auf (Buchen-)Rinden und Eierschalen und seinem Kontext Cornelia Ortlieb: Buchstabendinge. Zur Materialität des Schreibens in der Moderne (Goethe, Mörike, Mallarmé). In: Jutta Müller-Tamm/Caroline Schubert/Klaus Ulrich Werner (Hg.): Schreiben als Ereignis. Künste und Kulturen der Schrift. Paderborn: Fink 2018, 79–109, bes. 93–99. Harald Haarmann: Geschichte der Schrift. 2. durchges. Aufl. München: Beck 2004, 58: »Der mit Sicherheit älteste Träger des visuellen Kulturschaffens ist Stein. Der Beständigkeit dieses Materials ist die Erhaltung der ältesten Spuren menschlichen Kulturschaffens zu verdanken, der Felsbilder in den paläolithischen Höhlen Europas und Afrikas und an den Felsüberhängen Australiens. […] Interessanterweise ist Stein in der Alten Welt nicht das älteste Material, auf das Schriftzeichen gemalt oder geritzt werden«, dieses ist vielmehr »Ton, in Form von kleinen, im Feuer hart gebrannten Tafeln […] aus der Zeit um 5300 v. Chr.«. Mit Bezug auf Mallarmés Texte zur Mode und zu Accessoires ist ohnehin zu Recht betont worden, dass seine Dichtung generell einen Bezug zu allem Leichten, durchscheinend Glänzenden, Schimmernden habe und »Mallarmé’s writings on fashion are consistent with his poetics, which privileged fragile, ephemeral, fading objects: feathers, flowers, clouds, foam, bubbles, things subject to the movement of air«. Vgl. Yulia Ryzhik: Books, Fans, and Madame Butterfly. In: PMLA 126 (2011), Nr. 3, 625–643, hier: 630. Vgl. dazu eingehend Ortlieb: Weiße Pfauen, Flügelschrift Stéphane Mallarmés poetische Papierkunst und die Vers de circonstance · Verse unter Umständen. Dresden: Sandstein Verlag 2020, 34–58. Georg Braungart argumentiert, dass die ›4. Kränkung‹ des Menschen durch die neuen Zeitordnungen der Geologie im 18. Jahrhundert verursacht wurde und verfolgt deren Spuren

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Agentialität und Affordanz: Schriftträger in Schreibverfahren

1. Kieselsteingaben und Verszugaben Die zwanzig Gedichte der Abteilung »Sur des galets d’Honfleur« (»Auf Kieselsteinen aus Honfleur«) waren offenbar alle von Hand mit Tinte oder Tusche auf dafür geeignete flache Steine geschrieben worden; ob Mallarmé selbst, wie in anderen Fällen, Abschriften der Verse angefertigt und archiviert hat, oder Geneviève MallarméBonniot unter nicht mehr rekonstruierbaren Umständen die Steine oder wiederum Abschriften der Verse durch ihre neuen Besitzer*innen gleichsam wieder einsammeln konnte, ist unklar. Dass die Familie oftmals gemeinsame Ferien in diesem beliebten Erholungsort verbracht hat, verraten dagegen die Vers de circonstance selbst, in denen bereits vor der eigens so benannten Abteilung der Name Honfleur in einigen adressierten Gedichten vorkommt, die offensichtlich auf gemeinsame Urlaubsfreuden in geselliger Runde rekurrieren. Eine erste Gruppe von Steingedichten ist offensichtlich an diejenigen Menschen gerichtet, mit denen die Familie Mallarmé eine offenbar heitere freie Zeit in Honfleur verbracht hat, mit mehr oder weniger expliziten Anspielungen auf die Vergnügungen am Strand und im Wasser. Sie sind nahezu unübersetzbar, weil sie jeweils adressiert sind und den Vor- oder Nachnamen der meist scherzhaft-freundschaftlich angesprochenen Person in ein komplexes Bezugssystem aus Laut- und Sinnbezügen einbinden.8 Ein besonders kompliziertes Beispiel, das zudem ohne Kontextwissen kaum verständlich ist, mag diesen Befund illustrieren: »Françoise, pareille au requin / Mange de baisers ›paur tit quin‹«. Christin Krüger hat im Rahmen eines gemeinsamen Übersetzungsprojekts für diese eigenwillige Sprechweise eine kongeniale deutsche Lösung gefunden: »Françoise, wie mit Haifischs Schlund / Frisst küssend auf den ›arm lein Hunt‹.«9

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in der Literatur. Vgl. Georg Braungart: Apokalypse in der Urzeit. Die Entdeckung der Tiefenzeit in der Geologie um 1800 und ihre literarischen Nachbeben. In: Ulrich G. Leinsle/Jochen Mecke (Hg.): Zeit –Zeitenwechsel – Endzeit. Zeit im Wandel der Zeiten, Kulturen Techniken und Disziplinen. Regensburg: Universitätsverlag Regensburg 2000, 107–120. Für diese Verse gilt demnach besonders, dass (imaginierte) visuelle Eindrücke und Klangeffekte untrennbar miteinander verschränkt sind. Vgl. Kurt Weinberg: Ô Rêveuse/Eau Rêveuse. Zu Mallarmés Autre Éventail de Mademoiselle Mallarmé. In: Romanistisches Jahrbuch 33 (1982), 134–147, etwa diese grundsätzliche Bemerkung: »Dem Auge fällt die doppelte Rolle zu, sowohl die in Metaphern und Metonymien verborgenen Bilder als auch noch den etwaigen ›Hieroglyphen‹-Gehalt in der bloßen Gestalt von einzelnen Buchstaben und Interpunktionszeichen zu entdecken, während das Ohr dem gedruckten Wort ebenso sehr Rhythmen, Klangfarben, Kalauer, Paronomasien wie auch homophone Unterströmungen ablauscht, die den Sinn des Oberflächentextes kontrapunktieren, ihn erhöhen, und ihm gelegentlich widersprechen«, ebd., 139. Mallarmé: Françoise, pareille au requin. In: ders.: Vers de circonstance, 155, [Christin Krüger:] Françoise, wie mit Haifischs Schlund. In: Stéphane Mallarmé: Vers de circonstance/Verse unter Umständen. Zweisprachige Ausgabe. Aus dem Französischen von Christin Krüger, Cornelia

Cornelia Ortlieb: Leicht wie Stein

Die Adressatin ist bereits aus dem Vorgängergedicht auf derselben Seite der Gedichtsammlung andeutungsweise identifiziert; dort heißt es, sie bediene bei Tisch und bringe manch delikates Mahl.10 Die witzige Verkehrung, dass nun die Überbringerin des Essens selbst, metaphorisch, ihren zärtlich geliebten Hund ›verspeist‹ oder vielmehr nach Art eines berüchtigt gefährlichen Fisches zu verschlingen droht, ist entsprechend in der Buchausgabe bereits vorbereitet. Nur durch weitere Recherchen lässt sich jedoch der Kontext erhellen: Wie Christin Krüger im Anschluss an Bertrand Marchal überzeugend argumentiert, ist das solchermaßen mehrfach adressierte Dienstmädchen der mit Mallarmé und seiner Familie eng befreundeten Dinah Seignobos gemeint, die offenbar mit Ausdrücken einer Art zärtlichen Kindersprache den Hund ihrer Herrin liebkost, der 1892 von einer Katze schwer am Auge verletzt worden war.11 Die ungewöhnliche wörtliche Rede im zweiten Vers, die mit korrekten Anführungszeichen auch als solche angezeigt ist, wäre demnach als solchermaßen reduzierte Fassung der Formel »pauvre petit chien«, »armer kleiner Hund« zu lesen.12 Wie das Beispiel zeigt, sind die vermeintlich leichthin geschriebenen Zweizeiler auf den Steinen ohne solche zusätzlichen Informationen teils unverständlich – und sie verweisen auf eine andere stets genutzte Ressource von Mallarmés Schreiben, das Netzwerk von Künstlerfreund*innen, das gleichermaßen künstlerische und soziale Praktiken teilt und gleichsam ständig wiederverwertet.13 Entsprechend wiederholen sich auch in der Gattung der Steingedichte formale und stilistische Eigenarten: Wie bereits erwähnt, enthalten sie alle den oder die Namen historisch verifizierbarer Personen oder, in seltenen und sprechenden Fällen, deren metonymische Ersetzung. Man wird davon ausgehen dürfen, dass die Kieselsteine – womöglich in

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Ortlieb, Felicitas Pfuhl, Kristin Sauer, Katherina Scholz und Vera Vogel (in Vorbereitung). Die deutsche Erstausgabe wurde im DFG-Projekt Artefakte der Avantgarden 1885–2015 erarbeitet und wird von Christin Krüger, Cornelia Ortlieb, Felicitas Pfuhl und Vera Vogel herausgegeben werden, https://www.geisteswissenschaften.fu-berlin.de/v/ada/index.html. (zuletzt abgerufen am 10.01.2023). Mallarmé: Françoise qui nous sert à table. In: Mallarmé: Vers de circonstance, 155; [Christin Krüger:] Françoise, die aufträgt jedes Mal. In: Mallarmé: Vers de circonstance/Verse unter Umständen. Vgl. die Anmerkungen zum Gedicht in Mallarmé: Vers de circonstance/Verse unter Umständen. Die Identifizierung des Dienstmädchens und die Angabe zum Namen des Hundes – Titi – und seiner Verletzung finden sich im Kommentar zur Neuausgabe. Vgl. Stéphane Mallarmé: Vers de circonstance. Hg. von Bertrand Marchal. Paris: Gallimard 1996, 278. Vgl. die Anmerkungen zum Gedicht in Mallarmé: Vers de circonstance/Verse unter Umständen. Entsprechend betont Rosemary Lloyd in ihrer Untersuchung zur Brief-Korrespondenz Mallarmés, die in der Werkausgabe elf Bände einnimmt, die zentrale Bedeutung solcher (kollegialen) Freundschaften für den Dichter. Vgl. Rosemary Lloyd: Mallarmé. The Poet and His Circle. Ithaca: Cornell University Press 1999.

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Agentialität und Affordanz: Schriftträger in Schreibverfahren

der Anwesenheit der Adressierten – nach dieser Beschriftung weitergegeben wurden, zur Lektüre in der geselligen Runde und abschließend vielleicht an die jeweils angesprochene Person. Angesichts der vergleichsweise dichten Überlieferung, die freilich auch nur einen Bruchteil einst vorhandener Gedichte umfassen kann, ist es naheliegend, von einer Art doppelten Buchführung auszugehen: Mallarmé hätte dann entweder nach der Beschriftung des Steins oder umgekehrt in Entwurf und Abschrift die Verse auch andernorts auf Papier, dem langlebigsten aller Speichermedien, archiviert.14 Ein solches Vorgehen legt bereits die spezielle Materialität und Medialität des ungewöhnlichen Schriftträgers nahe: Auch wenn am Strand vermeintlich unbegrenzt viele Steine als Ressource bereitliegen, sind doch zur Beschriftung nur die einigermaßen flachen geeignet, die zudem auch für die kleine Zahl von Versen und Wörtern genügend Schreibfläche bieten müssen. Der solchermaßen vor-formatierte Schreibgrund ist entsprechend nicht einfach zur Hand, sondern muss aus der Fülle konkurrierender Dinge ausgewählt werden, und das Schreiben mit Tinte oder Tusche setzt selbst bestimmte Werkzeuge und Einrichtungen voraus, die am Strand anders zu handhaben sind als am Schreibtisch.15 Die Schreibszene der Steine wird somit eine andere gewesen sein, als es die Omnipräsenz des unauffälligen Gegenstands und seine serielle Bearbeitung suggerieren; man wird sich den Schreibenden eher in der Abgeschlossenheit eines Zimmers, an einem dafür geeigneten Tisch mit Tintenfass und Federn vor einer Auswahl geeigneter Steine und einer Entwurfsskizze vorstellen müssen. Umso interessanter ist es, dass die vorgeblich leichthin, wie aus dem Handgelenk hingeworfenen Verse solchen Realien die Fiktion eines Schreibens aus dem Augenblick entgegensetzen, wie im nächsten Abschnitt eigens beleuchtet werden soll. Zum Artefakt und zur Gabe umfunktioniert werden die Steine jedoch nicht nur wegen des – paradox – flüchtigen Moments, den sie als materielles, spezielles Natur-

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So ist etwa im vergleichbaren Fall einer Buchwidmung ein Zettel mit dem vielfach korrigierten und überschriebenen Entwurf für vier kurze Verse erhalten. Vgl. Stéphane Mallarmé: Dédicace de L’Après-midi d’un faune à Claude Débussy. In: Yves Peyré (Hg.): Stéphane Mallarmé (1842–1898). Un destin d’écriture. Paris: Gallimard 1998, 131, Abb. Nr. 84. Wie komplex die Einrichtung eines Schreibtischs aus medientheoretischer Perspektive ist, bleibt bei seiner Nutzung oft unbemerkt: »Schreibtische sind eingefügt in ein Netz von Beziehungen, verflochten in sichtbare wie unsichtbare Verbindungen, die sich zwischen den Kabeln elektr(on)ischer Geräte und den immateriellen Korrespondentennetzwerken seit der republic of letters aufspannen. Schreibtische sind aber ebenso eingeschaltet in ein Netz von übergeordneten, mitunter selbstgesetzten Ordnungen, also etwa einer Betriebsordnung am Arbeitsplatz, der Dienstordnung, der Hausordnung, einer politischen Ordnung.« Markus Krajewski: Denkmöbel. Die Tische der Schreiber zwischen analog und digital. In: Petra-Maria Dallinger/Georg Hofer/Bernhard Judex (Hg.): Archive für Literatur. Der Nachlass und seine Ordnungen. Berlin/Boston: de Gruyter 2018, 193–213, hier: 194.

Cornelia Ortlieb: Leicht wie Stein

ding und als dessen Transzendenz in der Schrift speichern. Vielmehr sind in den heiteren Versen auch die Eigenarten der Adressierten und ihres Umgangs in der per definitionem freien Zeit bewahrt, wie etwa die Gedichte für die Familie Ponsot zeigen können. Sie ist in der Gesamtausgabe der Gedichte auch in mehreren anderen Abteilungen zu finden, namentlich genannt werden Marguerite Ponsot, die Königin, wie es an einer Stelle heißt, Eva Ponsot, ihre Tochter, und ein mehrfach mit Steingedichten bedachter Sohn namens Willy.16 In den mittleren 1890er Jahren wohnte Mallarmé mit Ehefrau und Tochter in Honfleur bei der Familie seines offenbar von ihm besonders geschätzten (ehemaligen) Schülers Willy, dessen Schwester Éva mit Geneviève Mallarmé befreundet war.17 Ein Fächergedicht Mallarmés figuriert Marguerite Ponsot als Betrachterin des Meeres, die des Schutzes durch eben diesen Papierfächer, auf den das Gedicht geschrieben ist, bedarf: »Aile, mieux que sa main, abrite / Du soleil ou du hâle amer / Le visage de Marguerite / Ponsot, qui regarde la mer.«18 Bei Einhaltung von Silbenzahl und Endreim lässt sich das Gedicht mit dem Enjambement des Namens etwa so übersetzen: »Flügel, besser als Hand, biete / Schutz vor Sonne, Wind oder mehr / Dem Gesicht von Marguerite / Ponsot, die betrachtet das Meer.«19 Diese Verse setzen ein Näheverhältnis von Betrachter und beobachteter Frau voraus, und sie zeugen mit der zugleich respektvollen und fürsorglichen Zuwendung auch von einer Beziehung, die offensichtlich über ein bloßes Wohnarrangement hinausgeht. Eben dies ist bereits in einem anderen Steingedicht angezeigt, in dem ein ungenannter Sprecher, die Doppelbedeutung eines auch im Deutschen gebräuchlichen Substantivs ausnutzend, angibt, dem »quartier Monceau« das »pré Ponsot« vorzuziehen, also dem Pariser Stadtviertel im 17. Arrondissement die Unterkunft, hier: die Wiese der Familie Ponsot.20 Ähnlich akzentuiert ein eigentlich unübersetzbarer freundlicher Zweizeiler für den Sohn die Vorzüge der FerienUmgebung, wiederum von Christin Krüger buchstäblich (dialektal gefärbt) auf den Punkt gebracht: »Verdure et mer tout charme, il y / Faut du reste ajouter Willy.« (»Flora und Meer reizend, will i / Tüpferl nicht vergessen, Willy.«21 ) Und die gesamte Tischgesellschaft ist Gegenstand eines ausnahmsweise vierzeiligen Gedichts für 16

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Mindestens neun Gedichte sind zweifelsfrei der Mutter zugeordnet, etwas weniger den beiden Kindern, ein Ehemann/Vater ist in der Buchausgabe der Vers de circonstance von 1920 nicht namentlich genannt und entsprechend nirgends zweifelsfrei als Adressat auszumachen. Vgl. Roger Pearson: Stéphane Mallarmé. London: Reaktion Books 2010, 153. Mallarmé: Aile, mieux que sa main. In: Ders.: Vers de circonstance, 45, Nr. XVI. [Cornelia Ortlieb:] Flügel, besser als Hand. In: Mallarmé: Vers de circonstance/Verse unter Umständen. Mallarmé: Je préfère au quartier. In: Ders.: Vers de circonstance, 155, Nr. X. Mallarmé: Verdure et mer. In: Ders.: Vers de circonstance, 154, Nr. VIII; [Christin Krüger:] Flora und Meer. In: Mallarmé: Vers de circonstance/Verse unter Umständen.

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Agentialität und Affordanz: Schriftträger in Schreibverfahren

die metonymisch benannte Hausherrin, das neben der räumlichen Ausstattung auch die Atmosphäre eines solchen heiteren Beisammenseins zu Mariä Himmelfahrt am 15. August einfängt: »En Willy sourit sa maman – / Autour de la nappe fleurie / Fêtons avec ce gentleman / Une heureuse Sainte-Marie« (In Willy lächelt die Mama – / Um das Tischtuch mit Blumenzier/Feiern mit diesem Gentleman / Ein frohes Marienfest wir.«22 ) Mit ähnlichem Ton, aber anderer scherzhafter Akzentuierung nähert sich der Doppelvers eines anderen Kieselsteins einem weiteren guten Bekannten aus diesem Ferien-Umkreis: »Avec chacune ici comme en flagrant / Délit se plaît et va Monsieur Legrand«.23 Der sprechende Name des Herrn, wörtlich: Dergroße, mag Teil des Witzes sein, der sich im Enjambement, unübersetzbar, auch performativ ereignet. Denn der französische Ausdruck en flagrant délit, mit dem auch im Deutschen gebräuchlichen Latinismus zu übersetzen als ›in flagranti (bei einem Delikt) erwischt‹, ist hier sinnfällig an der Versgrenze zweigeteilt, so dass das Moment der Unterbrechung ebenso realisiert ist wie die Trennung eines Paars. Tatsächlich legt der halb juristische Ausdruck den Kontext einer illegitimen Liebesbeziehung nahe, da er traditionell für das plötzliche Entdecken von Untreue benutzt wird. Hier jedoch ist die Zahl der möglicherweise verdächtigen Gefährtinnen ins Unbegrenzte erhöht, so dass Christin Krüger und Vera Vogel übersetzen: »Mit jeder wie in flagranti-Manier / Gefällt sich und geht Monsieur Legrand hier.«24 Wie Bertrand Marchal recherchiert hat, war der besagte Herr ein Tischgenosse Mallarmés im Haus der Ponsots in Honfleur,25 und entsprechend mag der leicht despektierliche Scherz über sein offenbar ausgeprägtes Kavalier-Verhalten den gemeinsam verbrachten Ferienstunden entsprungen sein.

2. Impressionistische Miniaturen, Szenen geselligen Lebens auf Stein Sind solche gleichsam mit der Adressierung personifizierten Steingaben bereits interessante Beispiele für eine Kultur des geselligen Austauschs, womöglich auch des gemeinsamen Dichtens zu bestimmten Anlässen und Gelegenheiten, so vermehrt eine andere Sorte von beschrifteten Steinen noch den immateriellen Wert dieser vielfach verfügbaren Naturdinge. Denn eine ganze Reihe der Gedichte, die in der 22

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Mallarmé: En Willy sourit. In: Ders.: Vers de circonstance, 104, Nr. III; [Vera Vogel:] In Willy lächelt, in: Mallarmé: Vers de circonstance/Verse unter Umständen. Das Gedicht wurde ausweislich der Angabe Bonniots und Mallarmés-Bonniot im Jahr 1898 verfasst (Mallarmé: Vers de circonstance, 104), nur drei Wochen vor Mallarmés plötzlichem Tod am 9. September 1898. Mallarmé: Avec chacune ici. In: Ders.: Vers de circonstance, 154, Nr. II. [Christin Krüger/Vera Vogel:] Mit jeder hier in Flagranti-Manier. In: Mallarmé: Vers de circonstance/Verse unter Umständen. Vgl. Mallarmé: Vers de circonstance, 1996, 278.

Cornelia Ortlieb: Leicht wie Stein

Buchausgabe versammelt sind, gibt gleichsam impressionistische Ansichten vom sommerlichen Leben am Rand des Wassers. Abgesehen davon, dass Honfleur, wo sich bedeutende Künstler wie Courbet, Monet, Pissarro und Baudelaire zeitweilig aufhielten, zu einem Treffpunkt derjenigen Maler avancierte, die der Bewegung gleichen Namens in der Bildenden Kunst entscheidende Impulse gaben, lässt sich der Begriff auch halb metaphorisch für eine Konzentration auf den Moment, auf die Details der Wahrnehmung gebrauchen. Nicht eine wie auch immer ›realistisch‹ wiedergegebene Umgebung wäre dann in den kurzen Gedichten zu finden, sondern ein gleichsam aus der Fülle der Eindrücke kurz herausgehobener Augenblick, der auf dem Stein als dem klassischen Medium der Dauer womöglich ›für immer‹ festgehalten ist.26 Buchstäblich kann, wie bei allen stofflich-physisch vorhandenen Elementen, von einem solchen unbegrenzt langen Bewahren selbstredend nicht die Rede sein; keine Ressource ist in diesem Sinn dem Kreislauf des Vergehens entzogen. Dennoch ist mindestens in den Abschriften und der Druckausgabe des Buchs, paradox, bewahrt, was auf dem Stein womöglich längst verblasst, verwischt oder aus anderen Gründen verloren sein mag, wobei die Gedichte ohne diesen (abwesenden) Grund der Schrift nicht vollständig lesbar sind. Ein solch flüchtiger Moment, der zugleich den bereits bekannten Willy in seinen charakteristischen Zügen bewahrt, ist etwa im neunten Gedicht der Buchreihung festgehalten: »Willy modèle des troupiers / Soignez votre litre et vos pieds« Mit einem kühnen Kompositum übersetzt Christin Krüger sinnfällig: »Willy Bilderbuchhaudegen / Soll seine Buddel und Füße hegen.«27 Die Überlegung der Übersetzerin, die durch ein weiteres Gedicht aus der Abteilung Dédicaces (Widmungen) gestützt wird, ist, dass der junge Mann sich durch seinen exzessiven Gebrauch von Rauchwaren und Alkohol, ironisch, als Muster-Soldat erweist, getreu einer entsprechenden französischen Redewendung »boire, fumer comme un troupier« (trinken,

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Ein interessantes Vorbild hat das Schreiben auf Stein(mauern) in der französischen Literatur in den Aufzeichnungen Rétif de la Bretonnes: »Von seiner Jugend bis zu seiner Reifezeit, d.h. bis 1785 (als er bereits 51 Jahre alt ist), notiert Rétif zunächst in Hefte, dann – zwischen 1779 bis 1785 – auf die Mauern der Pariser Insel Saint-Louis die ›Daten‹ jener erinnerungswürdigen Ereignisse, deren Wiederkehr er feiern möchte – eine Form von persönlicher Liturgie, die dazu dient, den Tod auszutreiben.« Philippe Lejeune: Auf Mauern schreiben, im Gehen schreiben. In: Martin Stingelin/Matthias Thiele (Hg.): Portable Media. Schreibszenen in Bewegung zwischen Peripatetik und Mobiltelefon. Paderborn: Fink 2009, 71–88, hier: 73. Mindestens ein Mauer-Gedicht Mallarmés hat auch Eingang in die Vers de cironstance gefunden; es ist in die Wand einer Gemeinschaftstoilette im Garten seines Sommerhauses in Valvins sur Seine gemeißelt und umkreist scherzhaft die Besonderheit dieses Orts und seiner Nutzung, Mallarmé: Toi qui soulages ta tripe. In: Ders.: Vers de circonstance, Nr. 59; [Kristin Sauer:] Du, der du deinen Darm verwöhnst. In: Mallarmé: Vers de circonstance/Verse unter Umständen. [Christin Krüger:] Willy Bilderbuchhaudegen. In: Mallarmé: Vers de circonstance/Verse unter Umständen.

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rauchen wie ein [altgedienter] Soldat28 ). Womöglich gab es im Sommer 1892, in dem das Gedicht entstand, auch einen historisch-biographischen Anlass, den ehemaligen Schüler als (angehenden) Soldaten zu figurieren, so dass die angemahnte Pflege der Füße auf sein künftiges Marschpensum anspielen könnte. Rekonstruieren lassen sich solche Details eines zugleich privaten Umgangs und halb-öffentlichen geselligen Lebens kaum, doch in den beiden Versen wird, ganz im Sinne des Gelegenheitsgedichts, mit dem vergänglichen Moment auch eine unscheinbare Eigenschaft des ansonsten in der Anonymität vergehenden Willy bewahrt. Damit weisen die Gelegenheitsgedichte eine Nähe zum Impressionismus auf, der ephemere Augenblicke und unscheinbare Details festhält. Ein anderes Beispiel aus dieser Gruppe mag demonstrieren, dass auch dunklere Themen im Format des Zweizeilers auf Kieselstein extrem verdichtet angesprochen werden können: »Monsieur Fraisse n’a la frousse / Que si la mer se courrouce«.29 Beide Verse sind durch das stimmlose s und die lautlich dominante Wiederholung und Verdopplung des r-Lauts im Reimklang spürbar aufgeraut, wie bereits der Stabreim von »Fraisse« und »frousse« im ersten Vers mit den beiden harschen Anlauten eine gewisse Grobheit andeutet. Solchermaßen eigentlich unübersetzbar, lassen sich diese Effekte in einer ähnlich lautbewussten Fassung gleichsam simulieren, wie die Übersetzung von Christin Krüger eindrucksvoll beweist: »Monsieur Fraisse der Frack nur saust / Wenn das Meer erzürnt aufbraust.«30 Hier bringt die Vorsilbe vor dem letzten Reimwort die nötige Unruhe in den zweiten Vers, der zudem mit den aufeinanderfolgenden Binnenreimen von »Meer« und »erzürnt«, also dem zweimaligen »er«, wie schon die Doppelalliteration von »Fraisse« und »Frack« im ersten Vers, ähnliche lautliche Störelemente integriert. Tatsächlich ist auch hier ein Ferienbekannter adressiert, der einem Brief Geneviève Mallarmés zufolge offenbar Todesangst vor herannahenden Schiffen hatte.31 Die Konzentration auf das Detail ist hier maximal zugespitzt: Alle anderen Eigenschaften des ansonsten unbekannten Honfleur-Besuchers, dessen Name an den des heute nahezu vergessenen Kritikers Armand Fraisse erinnert, treten hinter seiner geradezu physisch übertragenen unbezwingbaren Angst zurück. Mit dieser ›impressionistischen‹ Momentaufnahme des angstschlotternden Mannes am Wasser ist jedoch auch ein Hinweis auf den Echoraum dieser kleinen Verse gegeben: Armand Fraisse, geboren 1830, starb schon 1877 und ist unter anderem für seine Essays über Gedichte und Prosagedichte Charles Baudelaires bekannt,32

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Ebd. Mallarmé: Monsieur Fraisse n’a la frousse. In: Ders.: Vers de circonstance, 155, Nr. XI. [Christin Krüger:] Monsieur Fraisse der Frack nur saust. In: Mallarmé: Vers de circonstance/Verse unter Umständen. Ebd., vgl. auch Mallarmé: Vers de circonstance, 1996, 278. Vgl. Honoré Champion: Armand Fraisse. In: Études Baudelairiennes 4/5 (1973), 160–163.

Cornelia Ortlieb: Leicht wie Stein

so dass der Name Fraisse auch wiederum den Bogen zu dessen Aufenthalten ebendort, in Honfleur, schlägt. Mit dem Steingedicht sind somit auch leichthin die etwa dreißig Jahre überbrückt, die zwischen der dichterischen Arbeit des berühmten Vorbilds und Mallarmés Versen liegen.33 Eines der frühesten Versgedichte Mallarmés, Brise marine, Meeresbrise, ist in der Evokation einer Szene am Ufer offensichtlich auch eine Antwort auf Baudelaires Gedichte über Schiffsreisen und das Meer, zu denen auch das in Honfleur geschriebene Gedicht La chevelure über das blauschwarz schimmernde Haar der Geliebten gehört, das dem verzückten Liebhaber zugleich Ozean und Schiffstau ist.34 Einen Reflex solcher (erotischen) Phantasmen vom Schwimmen und Untergehen mag noch das Steingedicht bieten, das einer Wasserfrau mit dem deutschen Namen Helga gewidmet ist: »Le seul rêve qui dans vos yeux purs navigua / Ne naufrage jamais Mademoiselle Helga«.35 (»Der einz’ge Traum, der trieb in Euren Augen klar / Lässt niemals untergeh’n Mademoiselle Helga«.36 ) Tatsächlich ›navigiert‹ auch in Mallarmés Versen ein »Traum« (»rêve«) durch die reinen, klaren oder hellen Augen mehrerer nicht näher bestimmter Beobachtenden, womöglich dem Versmaß geschuldet, das mehrsilbige Wörter des Wünschens oder Hoffens nicht toleriert hätte. Das gleichermaßen konkrete und komplett abstrakte Bild des schwimmenden Wunsches, die heute nicht näher bestimmbare weibliche Person möge gleichermaßen erfolgreich das Wasser bezwingen,37 ließe sich wiederum mit guten historischen Argumenten als impressionistisch bezeichnen, fasst es doch, geradezu mustergültig, nicht das beobachtete Ereignis selbst, sondern dessen Eindruck (»impression«), hier buchstäblich im Auge der (fiktiven) Betrachtenden. Dabei mag kurzfristig vergessen werden, dass das denkbar drastische Wort »Untergang« oder »Schiffbruch« (»naufrage«) in seiner drohenden Konkretheit innerhalb der Fiktion ein wiederum fiktives, nicht eintretendes Ereignis beschreibt. Mit dem Paradox der Verneinung ist dieses Unglück jedoch auf dem Stein eben so präsent wie offenbar in den hoffnungsvollen, wünschenden, träumerisch auf die Schwimmerin gerichteten Augen des Publikums.

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Die Geschichte der französischen Vers- und Prosadichtung lässt sich nach Baudelaires epochalem Werk entsprechend in die zwei Wege der Nachfolge aufteilen, die mit den Namen Stéphane Mallarmé und Arthur Rimbaud verbunden sind. Vgl. Paul Hoffmann: Symbolismus. München: Fink 1987. Vgl. zu Mallarmé: Brise marine ausführlich Ortlieb: Weiße Pfauen, 49–59. Mallarmé: Le seul rêve qui. In: Ders.: Vers de circonstance, 153, Nr. III. [Christin Krüger:] Der einz’ge Traum. In: Mallarmé: Vers de circonstance/Verse unter Umständen. Wiederum nur mit der Anrede des Vornamens ist (offenbar) dieser Helga auch ein Albumvers gewidmet, dessen Original nicht erhalten ist; womöglich handelt es sich um Helga Obstfelder, die künftige Ehefrau des Malers Armand Point, so Mallarmé: Vers de circonstance 1996, 258.

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3. Ins Meer zurück. Steinwurf und Gedichtkreislauf Entscheidend für den besonderen Status der beschrifteten Steine ist jedoch, innerhalb und jenseits solcher virtuos konstruierten (fiktiven) Momente, der Umgang mit dieser besonderen Ressource dort, wo sie mehr oder weniger buchstäblich wieder in den großen Kreislauf der ›Natur‹ eingespeist werden soll. Denn zumindest der Suggestion ihrer Aufschrift nach sind die flachen, mehr oder weniger oval geformten Steine dem Meer, das sie an den Strand von Honfleur gespült hat, nur vorübergehend entnommen worden, um ihm in einer weiteren Variante geselligen Spiels bald zurückgegeben zu werden. Ihr besonderes Format, das ihnen offenbar in Jahrzehnten oder Jahrhunderten durch die ständige Arbeit des Wassers verliehen worden ist, macht sie nämlich besonders geeignet für das ›Steinehüpfen‹, das entsprechend gleich im ersten Gedicht der Buchausgabe explizit, selbstreflexiv und mindestens doppeldeutig genannt ist: »Avec ceci Joseph, ô mon élève / Vous ferez des ricochets sur la grève«.38 Der zweite Vers enthält geradezu den terminus technicus für das sportliche Kunststück, bei dem mit einer bestimmten Bewegung von Arm und Hand der flache Stein so auf die bewegte Wasseroberfläche geworfen wird, dass er idealerweise mehrere Sprünge macht; »faire des ricochets« heißt entsprechend »(Kieselsteine) springen/hüpfen lassen«, wobei »ricochets« wörtlich »Abpraller« oder, militärisch, »Querschläger« sind. Wie andernorts auch wird das universal einsetzbare Verb »faire« hier für ein Passiv verwendet, das im Deutschen mit »springen lassen« nachgebildet und verstärkt wäre, im Französischen aber, paradox, die aktive Handlung, das Veranlassen im Tun, betont. Entsprechend lässt sich die Momentaufnahme des hüpfenden Steins oder die dafür notwendige Handlung eines solchermaßen wirkmächtigen Subjekts betonen, wie zwei Übersetzungsvarianten herausstellen können: »Mit diesem hier Joseph, o mein Schüler/Macht Ihr am Gestade Steinehüpfer«; »Mit diesem, Joseph, oh, hier mein Schüler / Springt Ihr vom Ufer ab noch viel höher«.39 Denn im Akzent des Reimworts »grève« (»Strand, Ufer«) wird zugleich die Unschärfe des vermeintlich geläufigen Eindrucks vom heiteren Treiben am Wasser deutlich, da die Hüpfer beim Kieselsteinwurf ja, per definitionem, auf dem Wasser stattfinden. In der Überblendung des Stein-Schauspiels mit seinem Protagonisten, dem womöglich seinerseits vor Aufregung oder zur Verbesserung der Wurftechnik hüpfenden jungen Mann mit dem biblischen Namen Joseph, öffnet sich ein neuer Raum dieser

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Mallarmé: Avec ceci Joseph. In: Ders.: Vers de circonstance, 153, Nr. I. Der angesprochene Joseph, Nachname (mir) unbekannt, war Mallarmés Schüler und 1893 als Begleitung für Geneviève mit der Familie Mallarmé bei den Ponsots in Honfleur, so der Kommentar in Mallarmé: Vers de circonstance, 1996, 277. [Christin Krüger:] Mit diesem hier, sowie [Cornelia Ortlieb:] Mit diesem, Joseph. In: Mallarmé: Vers de circonstance/Verse unter Umständen.

Cornelia Ortlieb: Leicht wie Stein

Gedichte, der ohne Pathos als ›kosmisch‹ zu bezeichnen wäre. Denn das vieldeutige griechische Wort Kosmos bezeichnet die Ordnung, den Schmuck, aber auch das Weltganze, das eben nach antiker Vorstellung ein wohlgeordnetes, schönes ist. Der sportliche Spaß, der den Körper des Menschen oder Mannes, im Französischen mit demselben Wort »homme« bezeichnet, mit den anorganischen Elementen einer touristisch kultivierten Natur, den Steinen, und zugleich mit dem Ozean als Quell allen irdischen Lebens verbindet, kann so tatsächlich eine Ahnung von jenem kosmischen Ganzen geben, in das alle Lebewesen und alle Materie eingebunden sind. Dabei sollte jedoch das Paradox der drohenden Löschung eben dieser Inschrift nicht vergessen werden: Folgt Joseph, der Schüler, dem Imperativ und deiktischen Verweis des ersten Verses, so muss er womöglich sich selbst, aber vor allem eben diesen Stein, der die Aufschrift trägt, zum Hüpfen bringen, wobei das Ende der flüchtigen Bewegung zwischen kurzfristig berührtem Wasser und Luft absehbar der bereits zitierte Untergang wäre. Mit der Rückgabe des Steins an das Meer, das ihn einmal an Land gespült hat, wäre aber nicht nur der materielle Gegenstand und Schriftträger gleichermaßen physisch vorhanden wie unauffindbar, sondern dessen Aufschrift in der allmählichen Auflösung der Tinte oder Tusche im Wasser ebenso materiell präsent wie flüchtig.40 Die Aufschrift nimmt somit, in der Vorwegnahme ähnlicher Avantgarde-Techniken des 20. Jahrhunderts, ihre eigene Löschung vorweg, die in der Aufforderung zum Springen(lassen) indirekt formuliert ist – und ein zusätzlicher Witz der zitierten Redewendung des zweiten Verses mag sein, dass »par ricochet«, »auf Umwegen« ein geläufiger metaphorischer Ausdruck für »indirekt« ist. Dass der Stein solchermaßen leicht werden kann, wenn ihm die Versaufschrift nach Art einer traditionellen imperativen inscriptio eine entsprechende Aufforderung – Affordanz – verleiht, ist hier bei allen Anspielungen auf entsprechende Traditionen des Schreibens, Eingrabens oder Ritzens immer noch Teil einer heitergeselligen Anrede aus dem Moment. Buchstäblich und metaphorisch mehr Gewicht soll dann eine ähnlich selbstreflexive Aufschrift einem weiteren vielsagend beschrifteten Stein verleihen: »Pierre ne va pas, zélée / Par ton poids qui s’obstina / Couvrir l’écriture ailée / Que signe ce nom Dinah.«,41 in Christin Krügers etwas freieren, ›poetischeren‹ Fassung: »Stein bleib, sei doch im Eifer nicht / Deiner sturen Schwere Diener / Verdecke nicht die Flügelschrift / Die zeichnet der Name

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Der Experimentalphysikerin Janina Maultzsch verdanke ich die Einsicht, dass solche wie alle Materie aus der Sicht der Physik ohnehin flüchtig und von nur kurzem Bestand ist. Vgl. zur Kulturgeschichte des Meeres seit der Antike die vielfältigen Beiträge in Hannah Baader/ Gerhard Wolf (Hg.): Das Meer, der Tausch und die Grenzen der Repräsentation. Berlin/Zürich: Diaphanes 2008. Mallarmé: Pierre ne va pas. In: Ders.: Vers de circonstance, 154, Nr. V.

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Dinah.«42 Notgedrungen verschwunden ist, wie eine entsprechende Anmerkung ergänzt, das Homonym, das bereits im ersten Wort des Gedichts einen besonderen Witz entfaltet, der noch weitere Beachtung verdient: Pierre hieß einer der drei Söhne der langjährigen, vielfach in den ›Gelegenheitsgedichten‹ bedachten Freundin Dinah Seignobos.43 Er mag hier – scherzhaft – gleichermaßen ermahnt worden sein, wie der gleichsam aus dem Nichts angesprochene »Stein«, französisch »(la) pierre«. Mindestens dieser soll, im Imperativ des ersten Verses, wörtlich »nicht gehen«, nicht »allzu eilig« oder »dienstbeflissen«; im Fall des jungen Mannes eine womöglich väterlich-onkelhafte Mahnung, es in den Ferien etwas ruhiger angehen zu lassen. Deutlich komplizierter wird die Anordnung durch die nachgeschobene Ergänzung, wörtlich: »durch dein Gewicht, das sich hindert«, oder »das beharrt«. Und erst der dritte Vers bringt die Auflösung, dass das Verb »aller«, »gehen«, hier wie üblich für das Anzeigen einer nahen Zukunft genutzt ist, in der der Stein, wörtlich, »die geflügelte Schrift bedecken (wird)«, diejenige, nochmals mehrdeutig, »die von diesem Namen Dinah unterzeichnet ist«. Wiederum ›impressionistisch‹, aus dem Eindruck des Moments gewonnen und für einen Moment als flüchtige Szene festgehalten, enthält das vierzeilige Gedicht somit die Mahnung an den Stein, sich nicht so zu drehen, dass er mit seinem eigenen Gewicht eben diese Wörter auf seinem ›Rücken‹ verdecken würde. Die Verse weisen derart nicht nur auf ihren eigenen Grund, sondern, buchstäblich, auf dessen dunkle Unterseite und erinnern so einmal mehr daran, dass das am Strand gefundene Schreibmaterial dieselben Flächen bietet wie ein gleich großes Stück Papier, aber buchstäblich eine Dimension mehr, die dort nur verschwindend geringe Erhebung im Raum. Mit diesem Schriftkörper ist somit womöglich auch metonymisch das Buch im Codex-Format aufgerufen, das, gleichermaßen flach und dreidimensional, seit dem 3. Jahrhundert nach Christus das Standardformat der Schriftbewahrung zumal in der ›schönen‹ Literatur ist. Auch ohne diesen Bezug überzustrapazieren, ist doch der Reflex auf andere Ressourcen des Schreibens und Publizierens bei Mallarmé in jeder Hinsicht bedeutsam, da er selbst bekanntlich etliche Experimente mit neuen Formen und Formaten, sozusagen auf dem Weg zur Utopie des vielbeschworenen Livre, Buch durchgeführt hat.44 Nicht zuletzt erinnert der Verweis auf die spezifische Körperlichkeit dieses – und jedes Schriftträgers – auch an das Corpus der ›Gelegenheitsgedichte‹,

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[Christin Krüger:] Stein im Eifer. In: Mallarmé: Vers de circonstance/Verse unter Umständen. Vgl. den knappen Hinweis in Mallarmé: Vers de circonstance 1996, 277 und Millan: Marie Mallarmé, 56. Annette Gilbert: Im toten Winkel der Literatur. Grenzfälle literarischer Werkwerdung seit den 1950er Jahren. Paderborn: Fink 2018, bes. 111–155, mit weiterführenden Hinweisen, zur künstlerischen Reflexion von Publikationsformaten und -praktiken auch dies.: Publishing as Artistic Practice. London: Sternberg 2016.

Cornelia Ortlieb: Leicht wie Stein

die, wie bereits erwähnt, auch auf ungewöhnliche und schwierige Oberflächen wie Calvados-Krüge und gefaltete Papierfächer aufgetragen sind, im letzteren Fall somit auch ›geflügelt‹.45 Auch die hier fiktiv unterzeichnende »Dinah« wurde in der jahrzehntelangen Beziehung zur Familie Mallarmé selbst zur Adressatin eines solchen Fächers mit Gedicht, der heute noch im Mallarmé-Museum in Valvins zu sehen ist – die Gastgeberin im Haus Ponsot hat nachweislich zum Fest der heiligen Marguerite, ihrem Namenstag, am 20. Juli 1893 das bereits erwähnte Fächergedicht, das sie am Strand figuriert, von Mallarmé geschenkt bekommen.46 Im Vers »die von diesem Namen Dinah unterzeichnet ist« steht »signe« als konjugiertes Verb, das als Substantiv (»Zeichen«) und als Bestandteil rhetorischer Figuren in Mallarmés poetischem Kosmos omnipräsent ist, auch, weil es das Homonym »(le) cygne«, »der Schwan«, mithören lässt, das antike und in der Moderne wiederaufgenommene und vielfach variierte Sinnbild des Dichters.47 Beide Formen stehen somit auch für die Frage nach Sinn und Bedeutung von (sprachlichen) Zeichen, hier prägnant auf die ihrerseits implikationsreiche Signatur bezogen, oder aber tatsächlich auf den Namen Dinah, der, deutsch gesprochen und gehört, sinnfällig eine Person bezeichnen kann, »die nah« ist. Mit dem Verweis auf »ce nom« kehrt das Gedicht aber offensichtlich dezidiert und programmatisch zu seinem Anfang zurück: »[D]ieser Name« steht ja, wie zitiert, bereits an seinem Anfang, ununterscheidbar als gleichsam individualisierter Gattungsname für diesen Stein und für einen männlichen menschlichen Träger, in dem man neben dem bereits erwähnten Sohn der Adressatin auch jenen griechisch benannten ersten Jünger Jesu erkennen kann, dessen Name Petrus gleichfalls Stein bedeutet. Petrus, der Fischer, der nach seiner Bekehrung zum ›Menschenfischer‹ im Dienst Jesu wird, ist nach dessen Rede mit dem ihm verliehenen neuen Namen der feste Grund der künftigen Gemeinde; zugleich wird ihm die ›Schlüsselgewalt‹ über das Himmelsreich verliehen. Unübertrefflich bindet somit das quatrain, der Vierzeiler, den Mallarmé in den Vers de circonstance für eine Serie von mehreren Hundert Gedichten nutzt, auf dem Stein den charakteristischen Moment des Schreibanlasses und seine Transzendenz zusammen: Fingiert als Rede der fiktiv unterzeichnenden Adressatin, die gleichermaßen den Sohn und den Stein zur Vorsicht vor unbedachten Bewegungen mahnt, ist die komplexe Schreibszene der Herstellung eines solchen implikationsreichen 45

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Zahlreiche Fächergedichte figurieren gleichsam sich selbst – in der poetischen Rede der ersten Person Singular – als Flügel oder umkreisen den Flügelschlag. Vgl. zu Mallarmés Fächersammlung und ihrem Kontext Philippe Rollet (Hg.): Rien qu’un battement aux cieux. L’éventail dans le monde de Stéphane Mallarmé. Ausst.-Kat. Montreuil-sous-Bois: LienArt Ed. 2009 und die Einzeluntersuchungen in Ortlieb: Weiße Pfauen, 96–109. Vgl. Mallarmé: Vers de circonstance, 1996, 241. Vgl. zu Mallarmés Arbeit mit dieser klanglichen Ununterscheidbarkeit und der metonymischen Ersetzung von weißem Pfau und Schwan Ortlieb: Weiße Pfauen, 107f., 155ff., 174ff., 227.

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Artefakts diesem buchstäblich auf- und in gewisser Hinsicht auch eingeschrieben. Das gefundene (Natur-)Ding, in den Avantgarde-Künsten als objet trouvé programmatisch wieder aufgegriffen, verkörpert somit zugleich eine christlich geprägte westliche Kulturgeschichte mit ihren grundlegenden Glaubenssätzen und Ritualen der Beglaubigung, zu denen prominent die hier hervorgehobene Unterschrift gehört, die per definitionem zugleich einmalig und wiederholbar ist.48 Dieses besondere Ding oder Artefakt zumindest fiktiv wieder der Natur zurückzugeben, aus der es vorübergehend entnommen wurde, hier in der antizipierten Drehung, die seine Aufschrift verbergen und in Wasser oder Sand auch physisch vernichten würde, ist aber seinerseits eine kulturelle Praktik, die sich in die Reihe der zitieren geselligen Freuden einreiht – schon Mallarmés Zeitschrift La Dernière Mode hatte auf dem Titelblatt der ersten Ausgabe vom 6. September 1874 solchermaßen das Beisammensein bei Tisch, das besondere Essen und das Baden im Meer in einzelnen Titelabbildungen zusammengestellt und auch Rezepte für ein Picknick am Meer geboten.49 Mallarmés Nutzung der einzigartigen und buchstäblich im Überfluss vorhandenen Ressource Stein ist somit nicht Teil eines neuerdings vieldiskutierten Nature Writing, sondern eine respektvolle Annäherung an dessen Quellen und Grundlagen, wie sie buchstäblich am äußeren Ende von Mallarmés Pariser Kosmos zu finden waren, an der Mündung der Seine und dem Strand von Honfleur.

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Die Implikationen der Eigenschaft von Unterschriften, gleichermaßen individuell/einmalig und vielfach identisch wiederholbar zu sein, entfaltet Jacques Derrida: Signature. Event. Context. In: Margins of Philosophy. Chicago: University of Chicago Press 1982, 308–330. [Stephane Mallarmé:] La Dernière Mode. Gazette du monde et de la famille, Première Livraison, Dimanche 6 Septembre, Paris 1874, Cover. Vgl. zur einst unbekannten, dann umstrittenen Autorschaft Mallarmés, der in der Forschung zeitweise auch fälschlich als Herausgeber der Zeitschrift bezeichnet wurde, den einlässlichen Kommentar Bettina Rommel: Subtext, Kontext, Perspektiven von Mallarmés kritischen Schriften. In: Stéphane Mallarmé: Werke in 2 Bde. Französisch und Deutsch. Bd. 2: Kritische Schriften. Übers. von Gerhard Goebel. Hg. von Gerhard Goebel und Bettina Rommel. Gerlingen: Lambert Schneider 1998, 315–380, hier: 320.

Franz Fühmanns Klebetyposkripte Zur Verbindung proletarischer und künstlerischer Arbeit in der DDR mittels Beschreiben und Zerschneiden von Schriftträgern Sergej Rickenbacher

Um 1900 erhielt der Schnitt der Schere ins Papier eine neue Qualität. Zwar gehörte das Ausschneiden von Schriftstücken seit dem Beginn des Buchdruckes zur Gelehrtenkultur,1 aber die maß- und planlose Tätigkeit, die dem Stoff wortwörtlich verfallen war, galt bis ins 20. Jahrhundert als Gegenpol zu einem zielgerichteten, geistreichen, auktorialen Schreiben. Ihre Produkte wie Scherenschnitte bildeten das Negativ von Papier und Buchstabe: Statt dauerhaft, stabil und autoritär2 waren solche Gebilde flüchtig, ephemer und kollektiv. Nachdem sich die Holzschliffproduktion von Papier zum Ende des 19. Jahrhunderts durchgesetzt und im Verbund mit dem florierenden Zeitungswesen für ungekannte Mengen an Altpapier gesorgt hatte,3 gingen jedoch Autor*innen der Avantgarde wie Tristan Tzara, Karl Kraus oder Hannah Höch dazu über, Texte auch ›zusammenzuschneiden‹, anstatt sie nur zu schreiben. Die Konstanzer Germanistin Juliane Vogel zeichnet diese neue Verbindung von Schneiden und Schreiben im 20. Jahrhundert wesentlich in zwei Aufsätzen nach.4 Der Buchstabe und das Wort auf eigentlich aus der Zirkulation gefallenem Papier werde durch Schnitt, Anordnung und Kleben revalorisiert, erneut in den Umlauf gebracht und somit rezykliert. Diese Praxis habe zudem verschiedene Auswirkungen

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Vgl. Anke te Heesen: Der Zeitungsausschnitt. Ein Papierobjekt der Moderne. Frankfurt a.M.: Fischer 2006, 25–45. Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 2018, 179–197. Vgl. Anke te Heesen: Der Zeitungsausschnitt, 16–21. Juliane Vogel: Kampfplatz spitzer Gegenstände. Schneiden und Schreiben nach 1900. In: Helmut Lethen/Annegret Pelz/Michael Rohrwasser (Hg.): Konstellationen. Versuchsanordnungen des Schreibens. Wien: Vandenhoeck und Ruprecht 2013, 68–81, sowie dies.: Ephemeriden der Schere: Scherenschnitt und Zeitungsausschnitt. In: Maren Jäger/Ethel Matala de Mazza/ Joseph Vogl (Hg.): Verkleinerung. Epistemologie und Literaturgeschichte kleiner Formen. Berlin: de Gruyter 2021, 15–38.

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auf die Konzepte von künstlerischer Autorschaft. Sie durchkreuze die klare Linie der (Hand)Schrift, untergrabe die Kontinuität und Autorität der Autor*innen und stelle den Text als Montage aus einer fremden materiellen Welt aus, die als neuer Impulsgeber der Schreibbewegung die Innerlichkeit des Schriftstellersubjekts ersetze.5 Dass sich die materielle Welt der Druckerzeugnisse zuweilen chaotisch ausnahm und im Verbund mit der Schere die Kontrolle über den Schreibprozess behauptete – besonders wenn eine Papierschneidemaschine verwendet wurde –, setzte nach Vogel die Vorstellungen schriftstellerischer Arbeit und den Status des Künstlersubjekts seit der Aufklärung außer Kraft. Im äußersten Fall klebten oder legten Autor*innen ihre Texte nicht einmal mehr zusammen, sondern kopierten schlicht, was zufällig oder von anderer Hand kombiniert wurde. Diese Verfahren wirkten, so Vogel weiter, ebenfalls auf die Funktionalität und den Status des Schriftträgers zurück: Erstens wurden die Qualitäten sowie die Eigenaktivitäten des Materials im Schreibprozess einkalkuliert, zweitens ließ sich kaum mehr beantworten, was Text, was Ressource und was Abfall war.6 Vogel zeichnet somit nach, wie leitende Gegensätze bürgerlicher Kultur durch die Integration der Schere und ihrer Produkte in die literarischen Verfahren zu einem produktiven Verhältnis gewandelt wurden: »In der Ordnung evoziert sie [die Schere, SR] den Abfall, im Mann das Weib, in der Tiefe die Oberfläche, im Geist das Material, in der Eins die Zwei.«7 Im Folgenden will ich mich einem spezifischen Beispiel annehmen, das in mancher Hinsicht in der Tradition der modernen Schreib-/ Schneide-Arbeit steht, jedoch eine literaturhistorische Leerstelle markiert und zu einem grundlegend anderen Verhältnis von Schere, Papier, Buchstabe und Autor*in führt.

1. Schere und Leim im Sozialismus Unter den beispielhaft behandelten Autor*innen in Vogels Aufsatz findet sich niemand, dessen literarisches Werk im Wesentlichen unter den sozialen und politischen Bedingungen der DDR entstanden ist. Dass gerade die Literatur des deutschen Realsozialismus eine relevante Ergänzung für die Frage nach dem Zusammenhang von Schneiden und Schreiben im 20. Jahrhundert bietet, wird bereits aus einer kleinen Akzentverschiebung ersichtlich: Was Vogel unter ›Tiefe‹ und ›Oberfläche‹ fasst, subsumiert auch das Verhältnis von Kunst und Arbeit. Bereits zum Beginn des 20. Jahrhunderts werden mit der Schere die Grenzen zwischen

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Da dieses Schriftstellersubjekt um 1900 in den allermeisten Fällen maskulin gedacht war, verzichte ich an dieser Stelle auf eine gender-neutrale Schreibweise. Vgl. Juliane Vogel: Kampfplatz spitzer Gegenstände, 66–70. Vgl. ebd., 81.

Sergej Rickenbacher: Franz Fühmanns Klebetyposkripte

künstlerischer Tätigkeit und Lohnarbeit neu verhandelt. Wie sie bewertet wurde, hing wesentlich vom politischen Standpunkt ab: Während aus bildungsbürgerlicher Sicht das Schneiden von Texten die Autorität der Schriftsteller*in, die Bedeutung von Schrift auf Papier sowie den Ausgangs- oder Referenzpunkt der Literatur bedrohte, war dasselbe Verfahren aus sozialistischer Perspektive eine willkommene Annäherung der Literatur ans Handwerk, mit der Papiermaschine sogar an die Industrieproduktion. Nutzte die künstlerische Avantgarde der ersten Jahrhunderthälfte collagierende Verfahren und gefundene Objekte als Abgrenzung gegen den elitär verstandenen Kunstbegriff des Bürgertums, war spätestens in der DDR und ihrer kulturpolitischen Doktrin des Bitterfelder Weges die Annäherung von Künstler*innen und Arbeiter*innen eine politische Forderung. Scherenschnitte oder collagierte Texte hätten eigentlich diese Forderung bestens erfüllt. Allerdings waren geschnittene Schriften in den Publikationen der DDR eher eine Seltenheit.8 Die raren Beispiele sind zum einen damit zu erklären, dass in der Frühphase der DDR die moderne Formsprache als kapitalistisch und sogar faschistisch verstanden wurde.9 Zum anderen bergen Künste, die den Materialien einen Freiraum für eigene Aktivität und Sinnstiftung gewähren und die Verantwortung nicht völlig einem Urheber und damit auch seiner politischen Gesinnung übertragen, ein nicht kontrollierbares Kritikpotenzial, das der autoritäre Staat nicht begrüßen konnte.10 Was öffentlich verpönt oder nur beschränkt möglich war, konnte jedoch im nicht-öffentlichen Raum und im händischen Umgang mit Schriftträgern dennoch zur Grundlage des (selbst)kritischen Schreibprozesses werden. Diese Konstellation trifft auf den Autor Franz Fühmann zu. Fühmanns literarisches Werk ist sehr heterogen und reicht von Erzählungen über Nachdichtungen aus dem Tschechischen und Ungarischen bis zu Kinderbüchern. Er schrieb zudem auch Ballettstücke, verfasste Reportagen und konzipierte Hörspiele. Mit zunehmendem Alter waren seine Publikationen nicht nur illus-

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Roland März stellt 1975 im Katalog zur Ausstellung Die Collage in der Kunst der DDR in der Berliner National-Galerie fest, dass die Technik zwar eine bis ins 16. Jahrhundert zurückreichende Tradition besitzt und im 20. Jahrhundert seit den Kubisten ein etabliertes Verfahren der westlichen Kunst ist, aber »[d]ie Collage in der Kunst der DDR bislang wenig Beachtung gefunden [hat], und ihre Publizität gering [ist].« (Rolf März: Die Collage in der Kunst der DDR. Ausstellung im Alten Museum, 14. Februar bis 6. April. Berlin: National Galerie 1975 [unpag.]. Simone Barck/Dietrich Mühlberg: Arbeiter-Bilder und Klasseninszenierung in der DDR. Zur Geschichte einer ambivalenten Beziehung. In: Peter Hübner/Christoph Kleßmann/Klaus Tenfelde (Hg.): Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit. Köln: Böhlau 2005, 163–189, hier: 168. Vgl. hierzu z.B. Roland Berbig: DDR-Demontage mit Schere und Stift. Zeitungsausschnitte in Franz Fühmanns Taschenkalendern. In: Ders. (Hg.): Auslaufmodell »DDR-Literatur«. Essays und Dokumente. Berlin: Links 2018, 164–176 sowie Johanne Hähner: Sammeln gegen »gestockte Widersprüche«. Franz Fühmanns Zeitungsdokumentation. In: ebd., 177–187.

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triert11 , sondern experimentell konzipiert.12 Woran er trotz aller Lust auf Abwechslung und Experimenten jedoch in den Veröffentlichungen nicht rüttelte, war das gewohnte Erscheinungsbild der Buchstaben und Bilder auf Papier: Seine Publikationen erschienen in den herkömmlichen Buch-, Zeitschriften- und Zeitungsformaten. Gegenteilig verfuhr Fühmann im nicht-öffentlichen Raum. Er schnitt fleißig Zeitungsausschnitte aus der DDR-Tagespresse aus.13 Einen Teil stellte er in Mappen mit dem Zweck zusammen, diese Schnipsel allenfalls literarisch zu verwerten,14 einen anderen Teil klebte er zu den entsprechenden Tagen in einem Taschenbuchkalender und kommentierte sie – meist mit einem farbigen Stift.15 Wie Roland Berbig feststellt, überführte Fühmann somit das gedruckte, aber von Zensur und Propaganda entstellte öffentliche Wort in den nicht-öffentlichen Raum, wo Kritik, aber auch Selbstreflexion möglich war.16 Jedoch benutzte Fühmann Schere und Leim nicht nur, um Zeitungen zur Ressource für eigene künstlerische Projekte und die Bildung eines kritischen Selbst zuzuschneiden, er fertigte auch für größere Vorhaben plakatgroße Collagen an.17 Diese bildeten eine Art Gravitationspunkt während des Schreibprozesses.18 Durch ihre Materialien schließen sie zudem, so Eckhard Schinkel, an eine moderne ›Ästhetik von unten‹ sowie eine surrealistische,

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Vgl. z.B. Franz Fühmann: Kabelkran und blauer Peter. Hinstorff: Rostock, 1962. Z.B. Franz Fühmann/Dieter Riemann: Was für eine Insel in was für einem Meer. Leben mit geistig Behinderten. Rostock: Hinstorff 1985 oder Franz Fühmann: Urworte Deutsch. Das einfallsreiche Rotkäppchen. Aus Steputats Reimlexikon. Rostock: Hinstorff 1989. Die westdeutschen Zeitungen durfte er nur unter Aufsicht sichten. Vgl. Berbig: DDR-Demontage mit Schere und Stift, 165. Vgl. Hähner: Sammeln gegen »gestockte Widersprüche«, 186f. Vgl. Berbig: DDR-Demontage mit Schere und Stift, 164–176. Vgl. ebd., S. 167. Die Existenz von mindestens vier Collagen ist gesichert, allerdings sind drei nur auf Fotos überliefert. Die einzig erhalten gebliebene Collage ist jene zum Bergwerk-Projekt, das bezeichnenderweise unabgeschlossen blieb. Vgl. Eckhard Schinkel: Franz Fühmanns Collage zum Bergwerk-Projekt – ein Beitrag zu seiner Poetik des Vorläufigen. In: Ders. u.a. (Hg.): Bergbaukulturen in interdisziplinärer Perspektive. Diskurse und Imaginationen. Essen: Klartext 2018, 174–184, hier: 177. Vgl. Margarete Hannsmann: Franz, sie wollen dich ausstellen: In: Barbara Heinze (Hg.): Franz Fühmann. Es bleibt nichts anderes als das Werk. Katalog zur Ausstellung der Stiftung Archiv der Akademie der Künste, 18. März bis 15. April 1993. Berlin: Akademie der Künste 1993, 6–7.

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teils dekonstruktivistische Formsprache an,19 und bilden für Fühmann »eine erste Versuchsanordnung auf dem langen Weg zum eigenen Text«.20 Während das Ausschneiden von Zeitungsausschnitten und das Kleben von Collagen trotz der Skepsis gegenüber der Moderne etablierte Kulturtechniken darstellen, möchte ich mich im Folgenden einer Singularität Fühmanns zuwenden: seinen Klebetyposkripten. Wenn Franz Fühmann ab 1973 schrieb, arbeitete er nicht nur mit Papier und Stift, sondern auch mit Schere und Leim. Sobald ein Projekt den Status von Notizen überschritten hatte, wechselte Fühmann vom Stift zur Schreibmaschine. Er strich und korrigierte die so entworfenen Texte jedoch nur selten von Hand. Vielmehr überklebte er ganze Passagen mit neuem Text, häufig mit der Schreibmaschine auf ein Papier anderer Art und Färbung getippt. Durch dieses Vorgehen entstanden DIN-A4-große Klebetyposkripte, auf denen mehrere Schichten Papier übereinander lagen. Die Arbeit mit diesen ›Brettern‹, wie die Klebetyposkripte von Fühmann genannt wurden,21 erlaubte die ganze Buchseite im Blick zu behalten, ohne dass sie von zahlreichen Korrekturen, Streichungen oder Varianten entstellt gewesen wäre. Das Phantasma des fertigen Buches22 ist ein Vorteil dieses Schreibverfahrens. Es steht jedoch nicht im Vordergrund. Vielmehr ermöglichen die Klebetyposkripte, wie im Folgenden ausgeführt wird, eine textmaterielle Auseinandersetzung mit der Frage nach der schriftstellerischen Arbeit in der DDR.

2. Der ›Arbeiter‹ Fühmann Die Arbeit ist für Fühmann während seines gesamten Schaffens »die Instanz, vor der sich die Literatur zu legitimieren hat.«23 Weshalb sie diese Orientierungskraft besitzt und in welchem Verhältnis er das Schreiben zur industriellen Arbeit sieht, wandelt sich jedoch über die Jahrzehnte. Versucht er in der ersten Phase der DDR im Einklang mit Walter Ulbrichts Aufruf, »tief und mitfühlend in die Arbeit, das 19

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Vgl. Schinkel: Franz Fühmanns Collage, 182. Selbst der Kurator Roland März sieht eine Eigenheit der Collage darin, »objektiv Gegebenes mit seiner subjektiven Handschrift und die Absicht mit dem Zufall in Einklang zu bringen. Die Einfügung realer Stofflichkeit in das Bild gewährt nicht nur sinnfällige Verweise auf die Wirklichkeit selbst, sondern auch einen eigenen Spielraum für die Phantasie und die ›montierte Poesie‹.« (März: Die Collage in der DDR, [unpag.]). Schinkel: Franz Fühmanns Collage, 186. Vgl. Sigrid Damm: »Am liebsten tät ich auf die Straße gehen und brüllen« – zu Franz Fühmanns »Im Berg«. In: Heinze (Hg.): Franz Fühmann, 8–15, hier: 9. Vgl. Hannsmann: Franz, sie wollen dich ausstellen:, 6. Zum Phantasma des ganzen Buches vgl. auch Anke Bosse in diesem Band. Vgl. Andrea Jäger: »War denn mein Schreiben überhaupt Arbeit?« Franz Fühmanns Sinnsuche in der Arbeitswelt der Werften und Bergwerke. In: Franz Fühmann. München: edition text + kritik 2014, 94–102, hier: 98.

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Denken und Fühlen der Werktätigen einzudringen«,24 wovon auch die Reportage aus der Warnow-Werft Warnemünde zeugt,25 wendet er sich bereits vor der zweiten Konferenz 1964 entschieden vom Bitterfelder Weg ab. Die Forderungen der Politik seien nicht mit den Anforderungen der Literatur vereinbar. Als ehemaliger Bürgerlicher und jetziger Intellektueller sieht er sich außer Stande, literarisch – nicht politisch! – über die Arbeiter im Sozialismus zu schreiben.26 In der Literatur müssen, so Fühmann, geteilte Gefühle in einer individuellen Ausprägung erzählt werden, um glaubhaft zu sein. Da er weder die Herkunft und Erinnerung der Arbeiter noch ihre Berufe teile, könne er nicht zum Spezifischen vorstoßen und müsse im Allgemeinen bleiben:27 »Ich war kein Bergmann, ich war kein Arbeiter, und man kann nur schreiben, was man erfuhr.«28 Trotz der Emanzipation vom offiziellen Programm der sozialistischen Kulturpolitik richtet er sein Schreiben an der industriellen Arbeit aus, was sich nicht zuletzt im Bergwerk-Projekt, für das er zwischen 1974 und 1976 mehrfach in die Schächte der Kali- und Kupferbergwerke in Sangerhausen und Sonderhausen einfährt,29 manifestiert. Bereits im Jahr der ersten Einfahrt unter Tage steht der Titel für eine literarische Verarbeitung dieser Erlebnisse, die weder Roman noch Reportage sein sollen, fest: »Schriftsteller und Arbeiter; Platz der Literatur im Arbeiterstaat«.30 Der Titel des Projekts wie auch seine Anlage wird bis zu seinem Tod 1984 noch mehrfach ändern, vier zentrale Fragen, die sich Fühmann nicht erst zu jener Zeit stellt, auf die er jedoch neue Antworten findet, begleiten es durchgehend: 24

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Walter Ulbricht: Der Siebenjahrplan des Friedens, des Wohlstands und des Glücks des Volkes. In: Elimar Schubbe (Hg.): Dokumente zur Kunst-, Literatur- und Kulturpolitik der SED 1975–1980. Stuttgart: Seewald 1972, 572–578, hier: 577. Vgl. Fühmann: Kabelkran und blauer Peter. Fühmann verschreibt sich mindestens zwei Mal in seinem Leben autoritären Ideologien: zunächst dem Nationalsozialismus und dann dem Stalinismus. Ebenso überzeugt, wie er sich diesen Denkweisen zuwendet, kehrte er sich von ihnen wieder ab. Wie schonungslos kritisch dabei Fühmann verfährt und inwiefern die Auseinandersetzung mit der eigenen – vor allem nationalsozialistischen – Vergangenheit zum Ausgangspunkt des literarischen Schreibens wird, zeigt Stephan Braese: Unmittelbar zum Krieg – Franz Fühmann und Alfred Andersch. In: Mittelweg 36 (2001), 49–70. Vgl. Jäger: »War denn mein Schreiben überhaupt Arbeit?«, 9. Franz Fühmann: Schieferbrechen und Schreiben. In: ders.: Bagatelle, rundum positiv. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, 101–110, hier: 106. Hans Richter vertritt in seiner Fühmann-Biographie die Ansicht, er habe mit Bagatelle, rundum positiv 1974 jenen Betriebsroman geschrieben, zu dem er sich 1964, dem Jahr der 2. Bitterfelder Konferenz, noch unfähig gesehen hat. Angesichts der Gattung und der Ironie der Erzählung Bagatelle, rundum positiv erscheint diese Behauptung unplausibel. Vgl. Hans Richter: Franz Fühmann. Ein deutsches Dichterleben. Eine Biographie von Hans Richter. Berlin: Aufbau Verlag 2001, 298–299. Vgl. Franz Fühmann: Im Berg. Texte und Dokumente aus dem Nachlaß. Hg. von Ingrid Prignitz. Rostock: Hinstorff Verlag 1991, 310–311. Vgl. Fühmann: Im Berg, 310.

Sergej Rickenbacher: Franz Fühmanns Klebetyposkripte

Wie kann er als Schriftsteller überhaupt Arbeit bzw. Arbeiter verstehen? Kann das Schreiben überhaupt als Arbeit bezeichnet werden? Besitzt Literatur einen gesellschaftlichen Nutzen, der mit handwerklicher und industrieller Arbeit vergleichbar ist? »Wo war der Ort eines Schriftstellers meiner nichtproletarischen Herkunft, Tradition, Mentalität und Leistung in einer Gesellschaft, deren Führung sich in ihrer stattlichen Form als Diktatur des Proletariats versteht?«31 Die letzten beiden Fragen werden von Fühmann selbst nie abschließend beantwortet.32 Sie werden auch in meinem Argument keine größere Bedeutung haben. Allerdings findet Fühmann für die ersten beiden Fragen sowohl eine Antwort, die für die zeitgenössische Öffentlichkeit bestimmt ist, als auch eine vorläufig private. In der publizierten Antwort versucht Fühmann die Arbeit von der gesellschaftlichen Bedeutung zu befreien und an die Anstrengung des Individuums zu binden. Sie kann im 1976 veröffentlichten Essay Schieferbrechen und Schreiben nachgelesen werden und wird im Fragment Im Berg nochmals mit einer Einschränkung wiederholt: »[I]ch wußte daß ich vor diesem [dem Bergmann, SR] gegenüber nicht anders konnte als von meiner Arbeit so zu sprechen, wie meine Arbeit nun einmal war […]. [I]ch dachte an die verzweifelten Stunden vor den Bergen bekritzelten Papiers, allein in der Finsternis der Erfahrung […], und [ward] jäh von einer noch nie gekannten Sicherheit eines Bewußtseins erfüllt, das ich, wenn es so etwas gäbe, Klassenbewußtsein eines Schriftstellers nennen würde, dachte ich, auch die Literatur sei ein Bergwerk, durch Jahrtausende Generationen befahren, und jeder Schriftsteller selbst sei eine Grube, und das Flöz, drin er haue, sei seine Erfahrung […], und mir fiel ein, daß ein Metall namens Nickel jahrhundertelang verworfen wurde, weil man es für nutzlos hielt und es als Ärgernis ansah, wenn es auftrat. Doch es konnte nichts anderes sein als Nickel. Auch Schreiben sei so etwas wie Schiefermachen.«33 Über verschiedene rhetorische Operationen konstruiert Fühmann in dieser Passage die Analogie zwischen der Geschichte der Literatur und den geologischen Sedimenten bzw. dem literarischen Schreiben und dem Bergbau. In einem ersten Schritt wird der Schreibtisch des Schriftstellers als Ort seiner Tätigkeit metaphorisch mit dem Bergbau überlagert, indem das Papier ›Berge‹ bildet, in denen der Schreibende in der ›Finsternis‹ umherirrt. Als zweiter Schritt wird ebenfalls mit einer Meta-

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Fühmann: Schieferbrechen und Schreiben, 108. In dem Fragment Im Berg wendet sich Fühmann zwar gegen die Erwartung eines ökonomischen Nutzens von Literatur, gesteht aber gleichzeitig, dass »der Begriff des Nützens unangetastet [blieb].« (Fühmann: Im Berg, 34) Vgl. Fühmann: Schieferbrechen und Schreiben, 108–109 (Hervorhebungen SR). Ferner: Fühmann: Im Berg, 79–80.

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pher postuliert, dass jede Literatur gleich wie ein Bergwerk sei und sowohl aus der Geschichte der Literatur als auch aus dem Leben der Autor*innen gebildet werde, die ›abgebaut‹ werden müssen. Zuletzt wird die genuine Tätigkeit der Schriftstellerin und des Schriftstellers mit der Aufgabe eines Häuers verglichen, wobei auffällig ist, dass Fühmann im Gegensatz zum Titel von der Destruktion im Titel – »Schieferbrechen« – zur Konstruktion – »Schiefermachen« wechselt und den Bergbau der Poesie als schaffender Tätigkeit insofern auch semantisch annähert. Wie der rhetorische Aufwand, das wiederholte Erklären sowie auch die Relativierung der Geltung durch die situationsgebundene, blitzhafte Erkenntnis nahelegt, besitzt Fühmann einen nie abgelegten Vorbehalt gegenüber seiner Analogie von Literatur und Bergbau bzw. von Schreiben und Schieferbrechen.34 Dennoch bietet sie eine sinnstiftende Antwort mit den Qualitäten eines Mythos auf die Fragen, wie ein Verständnis von Arbeiter durch Schriftsteller möglich und ob Schreiben Arbeit sei.

3. Das erste Klebetyposkript: Bagatelle, rundum positiv (1974) Gesteinsschichtung und Bergbau dienen Fühmann jedoch nicht nur in einem metaphorischen Sinne zur Gleichsetzung von literarischem Schreiben und proletarischer Arbeit. Der öffentlichen Antwort zeitlich unmittelbar vorgelagert ist ein privater, produktionsästhetischer Wandel, aus dem sowohl die öffentliche als auch die private Antwort hervorgehen. Sie ist geprägt durch einen Umgang mit der Ressource Schriftträger, die die Analogie textmateriell prädisponiert und sinnlich formt. Fühmann war dafür bekannt, dass er Unmengen von Schriften – nicht nur Bücher – sammelte,35 und besonders in seiner Arbeitsklause in Märkisch-Buchholz hortete.36 Eine Voraussetzung hierfür war auch die Verfügbarkeit von Schriften, die in seinem Fall nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch bedingt war: Fühmann hatte Zugang zu Büchern, Zeitschriften und Zeitungen, die aus dem Westen stammten.37 Von Fühmanns Sammel- und Lesewut zeugt nicht zuletzt

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Vgl. Fühmann: Im Berg, 80. Vgl. Volker Scharnefsky: »Er hat viel Bücher und viel Obst geschleppt«. Die Arbeitsbibliothek Franz Fühmanns in den Historischen Sammlungen der Zentral- und Landesbibliothek Berlin. In: Ders./Roland Berbig/Stephan Krause (Hg.): Literarisches Bergwerk. Arbeitswelt und Bibliothek Franz Fühmanns. Berlin: Zentral- und Landesbibliothek Berlin, 13–23, hier: 22. Ferner: Gunnar Decker: Franz Fühmann. Die Kunst des Scheiterns. Eine Biographie. Rostock: Hinstorff 2009, 298. Vgl. z.B. Franz Fühmann an Manfred Steingans, 1. Januar 1977. In: Heinze (Hg.): Franz Fühmann, 37: »Den Artikel für ECHO schicke ich euch, ich muß ihn bloß rauskramen. Das ist mein heikelster Punkt. Ich habe doch keine Sekretärin und bin umlagert von Stapeln von Kisten und Taschen und Schränken vollgestopft mit Papieren, doch finde nichts, weiß nicht, wo was ist.« Vgl. Berbig: DDR-Demontage mit Schere und Stift, 12.

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auch sein umfangreicher Nachlass, den er zum einen Teil bereits zu Lebzeiten der Akademie der Künste in Berlin vermachte und der zum anderen Teil heute in der Berliner Zentral- und Staatsbibliothek zu finden ist. Im Nachlass findet sich auch jene Auseinandersetzung mit Literatur und Bergwerken, die dem analogischen Denken vorausgeht und es auch überschreitet: die Klebetyposkripte. Ein Jahr vor den Einfahrten in die Kali- und Kupferbergwerke begann Fühmann in der mittleren Phase der Textgenese Sätze und Passagen der maschinengeschriebenen Entwürfe mit ebenfalls getippten und ausgeschnittenen Korrekturen zu überkleben.38 Dieses Schreibverfahren ist kein rein privater Spleen des Autors. Im Gegensatz zu den Collagen, die von Schinkel als »ein fragiles Experiment im poetischen Prozess, eine unsichere Positionsbestimmung im Schutz des privaten Rückzugsraums«39 bezeichnet wird, zerstörte Fühmann diese Klebetyposkripte nach Abschluss der Projekte nicht. Im Gegenteil, er überließ sie zum Teil schon zu Lebzeiten der Akademie der Künste. Ebenfalls präsentierte er sie Freunden und Bekannten. Gegenüber Margarete Hannsmann soll Fühmann bedeutungsschwer gesagt haben: »›Ich will es sehen. Man soll es sehen, […] wie langsam, wie schwer ich arbeite.‹«40 Allerdings sind die Klebetyposkripte nicht einfach Zeugnisse der ›harten Arbeit‹ eines Autors und beziehen sich häufig auch thematisch auf die industrielle Produktion oder den Bergbau. Vielmehr ermöglichte dieser Umgang mit der Ressource Schriftträger überhaupt, das Schreiben mit der Arbeit im Bergwerk zu verbinden, was ich anhand von zwei frühen Klebetyposkripten im Folgenden genauer darlegen werde. Das Klebetyposkript zur Erzählung Bagatelle, rundum positiv ist die früheste datierbare Archivalie dieses Typs und entspricht abgesehen von wenigen Abweichungen und Korrekturen dem publizierten Text. Erzählt wird von einer voreilig geschriebenen Reportage eines Schriftstellers über einen Helden der Arbeit, der

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Das früheste bislang datierbare Klebetyposkript ist eine weitgehend fertige Fassung der Erzählung Bagatelle, rundum positiv, die Fühmann laut Richter im August 1973 bei der Zeitschrift NDL eingereicht haben soll, also rund ein Jahr vor der ersten Einfahrt in den Thomas-Müntzer-Schacht (Vgl. Richter: Franz Fühmann, 297 und Akademie der Künste: Franz-Fühmann-Archiv, Fühmann 3). Das Klebetyposkript fällt mit einer veränderten Einstellung zum Schreiben zusammen, von der Fühmann laut Manfred Hahn am 26.3.1974 anlässlich eine Berliner Lesung berichtete: »Fühmann hat in einem Gespräch mit Lesern erklärt, daß sich seine Arbeitsweise während des Schreibens an diesem Buch [Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens, SR] verändert habe, daß er sich nunmehr dem Schreiben als Prozeß anvertraue, ohne gleichsam alles schon im vorhinein im Kopf zu haben.« (Manfred Hahn: Franz Fühmann – Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie 10 (1974), 143–155, hier: 154.) Schinkel: Fühmanns Collage zum Bergwerks-Projekt, 186. Hannsmann: Franz, sie wollen dich ausstellen: 7 (Hervorhebung SR).

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auf viel Lohn verzichtet habe, um einer schlecht geleiteten Brigade auf den politisch richtigen Weg zu verhelfen. Nur aufgrund eines Missverständnisses trifft der Schriftsteller nach der Veröffentlichung der Reportage anstatt auf den ›Helden‹ auf den abgekanzelten früheren Brigadier und erfährt im Gespräch, dass die Gründe für seine Absetzung keineswegs derart stichhaltig sind, wie es die Betriebsleitung vorgängig dargestellt hat. Er mag vielleicht wenig politisches Gespür besitzen, jedoch hat er seine Entscheidungen immer im Sinn des Betriebs und seiner ihm zugeteilten Brigadisten getroffen. Den Schriftsteller plagt nun wiederum die Erkenntnis, dass er entgegen der Annahme der Gesellschaft mit seiner Reportage erneut nicht nützlich war, sieht dafür aber – gleichermaßen trotzig wie ironisch – ein, dass der Stoff des Schriftstellers seine eigene Legitimation hat und weder den Arbeitern noch der Gesellschaft von Nutzen sein muss, um »rundum positiv«41 zu sein. Mit dem ersten Klebetyposkript entstand eine Erzählung, die sich – wie häufig bei Fühmann – mit dem Verhältnis von Schreiben und Arbeit bzw. Schriftsteller und Arbeiter auseinandersetzt. (Abb. 1) Das Klebetyposkript hat einen Umfang von 19 Blatt, wobei nur die Blätter 1 bis 9 Seitennummerierungen aufweisen. Viele Charakteristiken späterer Klebetyposkripte sind bereits in diesem frühen Beispiel zu finden. Mit Vorliebe verwendet Fühmann ein unbeschriebenes, liniertes Papier als Grundlage des Klebetyposkripts. Die erste aufgeklebte Schicht ist meistens die erste Fassung der entsprechenden Seite. Die folgenden Schichten stammen dagegen nicht aus anderen Fassungen, sondern müssen angesichts der genauen Passung in den Text eigens für das Klebetyposkript getippt und dann ausgeschnitten worden sein. Nie ist der darunterliegende Text auch nur in Ansätzen offen sichtbar.42 Die Dicke der Klebetyposkripte variiert stark und reicht von drei bis zu über 20 Schichten. Gelegentlich verwendete Fühmann bereits zu anderen Zwecken, von ihm sowie anderen handschriftlich oder maschinell beschriebenes Papier. Sobald der Text sich der Fassung annäherte, die Fühmann als mehrheitlich fertig erachtete, wurden die ›Bretter‹ nochmals abgetippt. Allerdings gibt es auch zwei wichtige Differenzen zu späteren Klebetyposkripten festzustellen: Erstens schien es Fühmann noch kein Anliegen gewesen zu sein, dass die verschiedenen Schichten des Textes sichtbar bleiben: Er klebte meist seitenbreite, rechteckig ausgeschnittene Schnipsel über den ursprünglichen Text, sodass die Schichten sich kaum voneinander abheben und in ein41

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Franz Fühmann: Bagatelle, rundum positiv. In: Ders.: Bagatelle, rundum positiv. Erzählungen. Frankfurt a.M.: Fischer 1978, 23–42, hier: 42. Sinnbildlich ist, dass Fühmann auf seiner eigenen Arbeitsmappe einen alternativen Titel verwendete: Nach dem Wort »rundum« findet sich ein gezeichneter Hintern sowie die Worte »so tief«. Vgl. Akademie der Künste: Franz-FühmannArchiv, Fühmann 3. Die Klebetyposkripte dürfen aus evidenten konservatorischen Gründen nicht aufgetrennt werden. Besonders im Gegenlicht werden allerdings einzelne Wörter, Sätze, Streichungen oder Bilder sichtbar. Eine weitergehende Erschließung, z.B. mit einer Röntgen-Fluoreszenzanalyse, wäre wünschenswert, scheint aber aufgrund der Kosten kaum realisierbar.

Sergej Rickenbacher: Franz Fühmanns Klebetyposkripte

zelnen Fällen nur an der horizontalen Linie erkennbar sind. Zweitens variieren die Farbe und die Art des Papiers – abgesehen von der Grundlage – nur selten.

Abb. 1: Ausschnitt von erster Manuskriptseite des Klebetyposkripts zu ›Bagatelle, rundum positiv‹.

Akademie der Künste: Franz-Fühmann-Archiv, Fühmann 3.

Obwohl auch die Handlung der Erzählung die Arbeit des Schriftstellers thematisiert, erlaubt das Klebetyposkript zu Bagatelle, rundum positiv keine Rückschlüsse auf die Relationen zwischen Schriftträger, Text und Autor, die über ein herkömm-

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liches Manu- oder Typoskript hinausgehen würden.43 Wichtig ist aber die Differenz im textmateriellen Verfahren zum zweiten, nur kurz später entstandenen Beispiel, dem Essay Schieferbrechen und Schreiben, in dem die prägende Analogie zwischen Literatur und Bergwerk bzw. zwischen Schriftsteller und Bergmann entwickelt wird.44

4. Zurichtung des Schriftträgers zur Ressource: Schieferbrechen und Schreiben (1976) Der Essay, der das erste Mal am 4. Juli 1976 in der Wochenzeitung Sonntag mit dem Untertitel »Der Brigade Wilmar Siebenhüner ein GLÜCKAUF! Zum Tag des Bergmanns« erschien, vermischt Erlebnisschnipsel aus den Kupfer- und Kalibergwerken, literarische Zitate und poetologische Reflexionen, deren Höhepunkt die bereits zitierte Bergwerk-Analogie als Grundlage eines schriftstellerischen Klassenbewusstseins und einer Rechtfertigung des Schreibens als Arbeit bildet. Die metaphorische Überlagerung von Gesteinsschichten, Abbauschächten und literarischem Schreiben wird sorgsam vorbereitet. Eingeleitet wird sie durch den Bericht von einem undatierten Treffen mit einem Bergbaugeologen, der das Gebiet dem Autor in zwei verschiedenen Formen wissenschaftlicher Aufbereitung präsentiert: als mit einem Papierschnitzel versehene Bohrprobe in Messgläsern sowie als eine vier Meter lange Papierrolle, auf der »rund 240 Millionen Jahre Erdgeschichte in achthundert Meter Gesteinslagerung«45 schematisch dargestellt und somit zum zweiten Mal verdichtet werden. Ohne Übergang zitiert Fühmann dann den russischen Futuristen Wladimir Majakowski, der in Gespräch mit dem Steuerinspektor über Dichtkunst Literatur und Bergbau in einem Gleichnis kurzschließt: »Dichten ist dasselbe wie Radium gewinnen. / Arbeit: Ein Jahr. Ausbeute: Ein Gramm. / Man braucht, um ein einziges Wort zu ersinnen, / Tausend Tonnen Schutt oder Schlamm.«46 Als Fremdzitat,

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So kann zum Beispiel anhand des Bearbeitungsgrads bzw. der Dicke der ›Bretter‹ darauf geschlossen werden, dass der Wendepunkt der Handlung, also die Erkenntnis, dass der alte Brigadier keineswegs ein verantwortungsloser »Blindgänger« (Fühmann: Bagatelle, 26) ist, auffällig häufig umgeschrieben wurde. Die entsprechende Seite schichtet mehr als 20 Blätter. Vgl. Akademie der Künste: Franz-Fühmann-Archiv, Fühmann 3. Aus der Zeit zwischen Bagatelle, rundum positiv und Schieferbrechen und Schreiben ist nur ein einziges Klebetyposkript erhalten: Sprachspiele aus dem Jahr 1975. Es stellt insofern eine Zwischenstufe dar, als die einzelnen Schnipsel rechteckig geschnitten sind, jedoch nicht die ganze Blattbreite ausfüllen, sodass die Schichtung sichtbar bleibt. Vgl. Akademie der Künste: Franz-Fühmann-Archiv, Fühmann 585. Fühmann: Schieferbrechen und Schreiben, 101. Wladimir Majakowski: Gespräch mit dem Steuerinspektor über Dichtkunst, zit.n. Fühmann: Schieferbrechen und Schreiben, 102.

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auf das der Autor keinen Bezug nimmt, steht Majakowkis poetologisches Fragment unvermittelt neben dem subjektiven Bericht, der in der Folge mit den Erfahrungen unter Tage und besonders mit der Frage eines Häuers, was Fühmann schreibe, weitergeht, in der Analogie ihren Höhepunkt erreicht und mit einem Plädoyer für einfache Fragen und unvoreingenommene Verständigung endet. Was im Essay Schritt für Schritt zusammengeführt wird, also Literatur und Bergwerk sowie Schriftsteller und Arbeiter, ist jedoch im Produktionsprozess bereits eine Einheit, wie das zugehörige Klebetyposkript zeigt.47 Trotz der Kürze des Essays umfasst die Archivalie Fühmann 455 insgesamt fünf Klebetyposkripte, zu denen auch der freundschaftliche Brief an die Jugendbrigade Wilmar Siebenhühner anlässlich des Tags des Bergmanns gehört. Anders als bei Bagatelle, rundum positiv gibt es kein Klebetyposkript, das mit dem Drucktext weitgehend identisch ist. Wichtiger als diese Fragmentarität ist aber, dass sich die Klebetyposkripte in auffälliger Weise von der ersten Erzählung unterscheiden: Erstens kommen Papiere von verschiedener Farbe und verschiedenen Typs zum Einsatz, sodass eine chromatisch-graphische Struktur entsteht, die auch die späteren Klebetyposkripte prägen wird. Diese Struktur wird zweitens durch die bearbeiteten Seitenränder nochmals betont,48 aber auch vertieft, da jede Schicht sichtbar ist und die wellenförmigen Muster zudem die Verschlungenheit der Textschichten betonen. Diese Änderungen im mutmaßlich knapp zwei Jahre nach Bagatelle, rundum positiv entstandenen Text haben keine Vorlage in früheren Klebetyposkripten und stehen darüber hinaus in einer vielfältigen Beziehung zum Text. Die Relationen manifestieren sich bereits in den ersten Seiten des Essays und den dazugehörigen Klebetyposkripten. (Abb. 2) Sowohl die Bohrproben des Geologen als auch sein Umgebungslängsschnitt korrespondieren dem Erscheinungsbild der entsprechenden Klebetyposkriptseite. Im Gegensatz zu anderen Seiten arbeitet Fühmann nur mit braunem und weißem Papier, was farblich an den Lehm in den Messgläsern, eine »braunrote Substanz«49 sowie das Packpapier erinnert, von denen im publizierten Text die Rede ist. Auch die horizontale und vertikale Organisation des Klebetyposkripts spiegelt Aspekte des fertigen Essays wider. Die gut sichtbaren Papierschichten imitieren die geologische Darstellung der Sedimente. Das Klebetyposkript als Ganzes wiederholt die vertikale Schichtung des Bodens und der linke Rand, an dem die verschiedenen Schichten sichtbar werden, gleicht dem

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Eine eingehende textgenetische Untersuchung der zahlreichen Klebetyposkripte und Typoskripte kann an dieser Stelle nicht geleistet werden und bleibt, wie bei allen Texten Fühmanns, ein Desiderat. Die Prägnanz der Bearbeitung ist unterschiedlich. Es sind auch einige rechteckige Schnipsel zu finden. Wellenformen dominieren aber eindeutig. Fühmann: Schieferbrechen und Schreiben, 101.

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viermeterlangen »Umgebungslängsschnitt«,50 der vom Geologen präsentiert wird. Dass diese erste Seite des Klebetyposkripts schließlich mit dem Zitat Majakowskis endet, betont einen Aspekt der Analogie nachdrücklich: Das Schaffen des Schriftstellers gleicht in Anstrengung und Geduld der Arbeit des Bergmanns, denn die Literatur ist gleich einem Boden, der mit Rohstoffen angereichert ist. Obwohl weitere Bedeutungsschichten gleichfalls auf der ersten Klebetyposkriptseite präsent sind, erschließen sie sich besser auf der vierten Seite, auf der die mythisch aufgeladene Arbeit des Bergmanns beschrieben wird, die wesentlich watschelnd, kriechend und liegend in den nass-dunklen Strebs geleistet werde und »deren Härte so augenfällig ist wie ihr Sinn als gesellschaftlicher Nutzen [sic!]«.51 (Abb. 3) Der Nutzen des Schriftstellers, Fühmanns Lebensthema und auch der Gegenstand dieses Aufsatzes, ist dagegen nicht unmittelbar ersichtlich. Dafür wird aber im Klebetyposkript offensichtlicher als im Drucktext die Überlagerung von materieller Grundlage, Schrift und Bergwerk greifbar. Bereits auf der dritten Seite des Klebetyposkripts wird das Bergwerk als ein »bogenlampenerhellte[s] Labyrinth durcheinandergeschnittener Tunnelgänge«52 beschrieben. Der Drucktext weicht nur minimal, dafür in signifikanter Weise von diesem Entwurf ab: »durcheinandergeschnitten« wird durch »ineinandergeschnitten«53 ersetzt. Anstatt das Trennende des Schnitts wird seine verbindende Potenz betont, was an die Ersetzung des »Schieferbrechen« durch das »Schiefermachen« erinnert. Diese Verbindung wird auch im Schriftträger sichtbar, denn der linke Rand der vierten Klebetyposkriptseite ist ausgeprägt bearbeitet. Labyrinthisch verschlungene Ranken liegen nicht nur übereinander, sondern gehen ineinander über. Damit enden jedoch die Korrespondenzen nicht. In zwei Klebetyposkripten, unter anderem auf dem hier besprochenen, ist von »Labyrinthsätzen«54 die Rede, die dem Leser zugemutet werden. Zwar finden sich diese ›Labyrinthsätze‹ nicht mehr im publizierten Essay, dafür wird die Literatur als Ganzes zum Bergwerk erhoben.

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Ebd. Akademie der Künste: Franz-Fühmann-Archiv, Fühmann 455/1. Der Satz ist im Drucktext verändert und findet sich an anderer Stelle wieder. Vgl. Fühmann: Schieferbrechen und Schreiben, 105. Ebd. Ebd., 103. In einem zweiten, wohl vorgeordneten Klebetyposkript lautet dieselbe Passage wie folgt: »[O]hrenzerstoßendes Rattern und Knattern, und dann, jäh, eine schwebende Stille, in der man nur den Berg knacken hört, und mit ihr der gefürchtete Augenblick, um dessentwillen ich dem Leser das Stolpern und Winden durch einen Labyrinthsatz zugemutet, um ihn, wie er sehn wird, ins Weglose zu stoßen.« Beide Akademie der Künste: Franz-Fühmann-Archiv, Fühmann 455/1, Hervorhebung von SR.

Sergej Rickenbacher: Franz Fühmanns Klebetyposkripte

Abb. 2: Erste Seite des ersten Klebetyposkripts zu ›Schieferbrechen und Schreiben‹.

Akademie der Künste: Franz-Fühmann-Archiv, Fühmann 455/1.

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Abb. 3: Vierte Seite des ersten Klebetyposkripts zu ›Schieferbrechen und Schreiben‹.

Akademie der Künste: Franz-Fühmann-Archiv, Fühmann 455/1.

Sergej Rickenbacher: Franz Fühmanns Klebetyposkripte

Wenn Fühmann im Fragment Im Berg die Analogie zwischen Bergwerk und Literatur sowie Bergmann und Schriftsteller nochmals aufgreift, aber auch deren Grenzen betont, tut er dies durchaus zu Recht. Ohne Rest geht dieser Vergleich nicht auf, was aber mit Blick auf sein Schreibverfahren nicht als Defizit gewertet werden muss. Im Gegenteil, er ermöglicht erst die Transformation des Schriftträgers zur Ressource. Anders als der Bergmann legt Fühmann nicht physisch einen Text aus der Literatur frei, sondern begräbt vielmehr frühere Fassungen unwiderruflich – die Klebetyposkripte können und dürfen ja nicht aufgetrennt werden – unter den Schichten des Papiers. Was in der Tiefe des Textes existiert, manifestiert sich nur an der Form des Schriftträgers, vor allem an seiner Dicke und seinen bearbeiteten Rändern. Mit diesem Vorgehen materialisiert Fühmann aber die Mühen des Schreibens textmateriell und macht sie wortwörtlich nachhaltig greifbar: Die Klebetyposkripte sind keine hingeworfenen, fragilen, vielleicht ephemeren, unter Umständen leicht zu verlierende oder zerstörende Textfassungen, sondern vielmehr dauerhafte, materielle Zeugnisse des schriftstellerischen Produktionsprozesses. In diesem sind verworfene Textfassungen kein Rest oder Abfall, sondern die Ressource des gültigen Textes. Somit vollzieht sich auf der Ebene des Schriftträgers eine Annäherung des literarischen Textes an das Bergwerk und des Schriftstellers an den Bergmann, wie sie Fühmann auch zum Ende des Essays Schieferbrechen und Schreiben als sozialer und intellektueller Austausch zwischen Arbeitern und Schriftsteller darstellt: »Wir versuchen, einander ernst zu nehmen, und das heißt auch, einander so zu nehmen wie wir sind, und wie es unsere Arbeit verlangt. […] Wir schreiben einander vierteljährlich. Und wenn es, wovor Gott schützen soll, je einen TAG DES SCHRIFTSTELLERS gäbe, schickten sie mir einen Bergmannsgruß.«55

5. Handfeste Bretter statt fliegender Scherenschnitte Obwohl sich Fühmann mit seinen Collagen und Zeitungsausschnittsammlungen an moderne Praktiken des Schneidens, Klebens und Schreibens hält, weichen seine Klebetyposkripte entscheidend von den Gebilden des ›Kampfplatzes spitzer Gegenstände‹ in der ersten Hälfte des Jahrhunderts ab. Sein Hantieren mit Schere, Leim und Papier führt nicht primär zu Spaltungen des Autorsubjekts oder zu einer Delegation der Textkontrolle an andere Instanzen.56 Allerdings restituiert Fühmann auch nicht schlicht die Autorität des Autors. Die Klebetyposkripte und die in der

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Fühmann: Schieferbrechen und Schreiben, 110. Vgl. Vogel: Kampfplatz spitzer Gegenstände, 68 und 77.

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Auseinandersetzung mit ihnen entwickelte Bergwerk-Analogie legen das Kräftefeld zwischen dem Willen zum Text des Autors und zahlreichen materiellen sowie immateriellen Widerständen an, die nicht Fühmanns Literatur bedingen, sondern darüber hinaus mit dem persönlichen und öffentlichen Ringen um eine gesicherte Position als Schriftsteller in der Gesellschaft der DDR gleichgesetzt werden. Sie vollziehen sich durch den Schnitt mit der Schere, an dem »eine gerichtete wie eine ungerichtete Kraft beteiligt [ist], das heißt ein Zugleich von Kontrolle und Eigenbewegung, Kontingenz und Steuerung.«57 Während Fühmann über die getippten Worte die autoritative Kontrolle zu behaupten versucht, zeugen die Schriftträger von seinem wiederholten Scheitern. Allerdings sollen die Klebetyposkripte keinesfalls ephemer wie Scherenschnitte oder Zeitungsausschnitte sein,58 ja anstatt die Gewichtlosigkeit als Wertlosigkeit zu befördern59 sind sie von einer stetigen Gewichtszunahme begleitet,60 die den Nutzen qua Wert der schriftstellerischen Arbeit im realsozialistischen Kontext der DDR schaffen soll. Der Schriftträger ›Klebetyposkript‹ bildet für Fühmann insofern eine materielle sowie immaterielle Ressource, als er am Ursprung der Analogien zwischen dem Bergwerk und der Literatur sowie dem Schriftstellers und dem Bergmann steht und gleichzeitig den literarischen Text den Bodenschätzen materiell angleicht. Sie sollen davon zeugen, wie schwer der Autor arbeitet.

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Vgl. ebd., 79. Vgl. Vogel: Ephemeriden der Schere: Scherenschnitt und Zeitungsausschnitt, 15–16. Vgl. ebd., 17–18. Ebenfalls könnte im Sinne von Carlos Spoerhase von einer Dreidimensionalität des Schriftträgers gesprochen werden – hier jedoch nicht von einem Buch, sondern von einzelnen Seiten. Vgl. Carlos Spoerhase: Linie, Fläche, Raum. Die drei Dimensionen des Buches in der Diskussion der Gegenwart und der Moderne (Valéry, Benjamin, Moholy-Nagy). Göttingen: Wallstein 2016, 47–61.

Freund, Fetisch, Phantasma Josef Winklers Notizbücher Anke Bosse

Der Büchnerpreisträger und Suhrkamp-Autor Josef Winkler wurde 1953 auf einem Kärntner Bauernhof geboren und hat, Außenseiter und Autodidakt, schon als Jugendlicher mit dem Schreiben begonnen. »Nur wenn ich schreibe, lebe ich«1 ist ein bei ihm insistent wiederkehrender, immer wieder variierter Satz. Schreiben und Leben werden in ein reziprokes Verhältnis gesetzt, existentiell und radikal ausschließlich. Dies ist Kern der Winkler’schen Poetologie. Ihre Spuren sind mitnichten nur in seinen publizierten Büchern zu finden und dort an ein Erzähler-Ich delegiert; vielmehr sind diese poetologischen Spuren auch in den Materialien seines umfänglichen ›Vorlasses‹ zu entdecken. Dieser wurde 2019 vom Land Kärnten und von der Landeshauptstadt Klagenfurt angekauft, seither liegt er als Dauerleihgabe im Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv: 44 umfängliche werkbezogene Konvolute mit Manu-, Typo- und Digiskripten, diverse Briefe und Materialien. Wertvollster Kernbestand sind die 100 einzigartigen Notizbücher Winklers.2 Materialien zu Winklers Roman Domra wurden bereits 1997 angekauft.3 Beide Bestände bilden einen ›Vorlass‹, der den Zeitraum von 1970 bis 2015 umspannt. Seit Winklers Schreibanfängen in den 1970er Jahren ist das Notizbuch materielle Ressource, ja Gelingensbedingung seines Schreibens. Es ist zugleich das Medium der autoreflexiven Auseinandersetzung mit dem eigenen Schreiben. Hier verschränken sich also praxeologische und poetologische Perspektiven. Dies möchte ich im vorliegenden Beitrag anhand von vier Konzepten erläutern.

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Josef Winkler: Der Leibeigene. Roman. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, 214. Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv der Universität Klagenfurt. 173_Winkler-Bestand I. Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv der Universität Klagenfurt. 10_Bestand Josef Winkler. Zu diesem Bestand gehören neben Notizbüchern auch Typound Digiskripte zum Werkkomplex Domra.

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1. Praxeologische Perspektive – die ›Schreibszene‹ Das Konzept der ›Schreibszene‹ wurde von Rüdiger Campe eingeführt und in der Forschungsgruppe Genealogie des Schreibens weiterentwickelt.4 Die Hintergrundkonstellation der ›Schreibszene‹ bilden vier turns in den Literatur- und Kulturwissenschaften: der linguistic turn, der material und medial turn sowie der performative turn. Denn in der Schreibszene verkreuzt sich die Sprachlichkeit des Schreibens (der Umgang mit Sprache, damit verständliche Sätze und Texte entstehen) mit der Instrumentalität des Schreibens (um sprachlich formulierte Gedanken festhalten zu können, kommen bestimmte Ressourcen wie Schreibinstrumente und Schriftträger zum Einsatz). Dies verschränkt sich mit der Körperlichkeit des Schreibens. Denn jedes dieser Instrumente und jeder dieser Schriftträger setzt je spezifische Fertigkeiten, Gesten und Körperhaltungen voraus. Hier verbindet sich die Instrumentalität des Schreibens mit seiner Körperlichkeit und erzeugt eine je spezifische Medialität. Nicht zuletzt vermittelt bereits der Begriff ›Schreibszene‹, dass Schreiben immer ein dynamisches Handeln und eine Performance vor Publikum ist. Dieses Publikum sind während des Schreibens die Autoren und Autorinnen selbst; ist das Geschriebene publiziert, sind die Leser und Leserinnen dieses Publikum. Schreiben als Performance ist insofern theatral, als es sich selbst und seine Gelingensbedingungen inszeniert. Deshalb habe ich Campes Kriterien um die ›Theatralität‹ ergänzt.5 Damit Schreiben gelingt, müssen Autoren und Autorinnen die eigenen, je spezifischen ›Schreibszenen‹ finden. In diesen bilden sie bestimmte Schreibpraktiken aus. Schreibszenen sind daher für praxeologische Untersuchungen interessant, auch in Hinblick auf Affordanz.

2. Affordanz Affordanz kommt an der Schnittstelle zwischen Instrumentalität und Körperlichkeit des Schreibens, zwischen Ressource und Schreibenden ins Spiel. Sie trägt dazu bei, dass sich die Sprachlichkeit des Schreibens und das Schreiben 4

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Rüdiger Campe: Die Schreibszene, Schreiben. In: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, 759–772; Martin Stingelin: ›Schreiben‹. Einleitung. In: Ders. (Hg.): »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München: Fink 2004, 7–21; Rüdiger Campe: Schreiben im Process: Kafkas ausgesetzte Schreibszene. In: Davide Giuriato/Martin Stingelin/Sandro Zanetti (Hg.): »Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: von Eisen«. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte. München: Fink 2005, 115–132. Anke Bosse: »Die Wortmaschine … wird jetzt in Betrieb genommen«. Schreibszene, Überlappungszone und Schreib-Szene bei Josef Winkler. In: Dies./Walter Fanta (Hg.): Textgenese in der digitalen Edition. Berlin/Boston: de Gruyter 2019, 291–304, hier: 292.

Anke Bosse: Freund, Fetisch, Phantasma

als Performance realisieren können. Affordanz ist ein von James J. Gibbons entwickeltes wahrnehmungspsychologisches Konzept, das ursprünglich einseitig vom Angebotscharakter eines Objekts ausging. Neuere Forschungen hingegen zielen auf das Konzept einer Affordance-in-Interaction. Sie verstehen darunter ein »wechselseitiges Bedingungs- und Ermöglichungsverhältnis«6 zwischen den Gegebenheiten des Objekts – in unserem Falle der Ressource ›Schriftträger‹ – und »sich einspielenden Nutzungspraktiken«.7 Affordance-in-Interaction zähle ich zu den Gelingensbedingungen literarischen Schreibens. Dies möchte ich am Beispiel der Ressource ›Notizbuch‹ bei Josef Winkler erläutern. Doch dazu muss ich noch zwei weitere Konzepte kurz vorstellen.

3. Poetologische Perspektive – die ›Schreib-Szene‹ Gegenüber der Schreibszene, dem konkreten materialen Akt des Schreibens, der unter anderem an die Ressource ›Schriftträger‹ gebunden ist, haben Rüdiger Campe und Martin Stingelin die ›Schreib-Szene‹ profiliert. Sie bezieht sich auf die autoreflexive Auseinandersetzung von Autoren und Autorinnen mit ihrem Schreiben.8 In der Schreib-Szene das Schreiben selbst zu reflektieren, zu thematisieren, zu problematisieren, ist zentraler Antrieb des Schreibens und Ansatzpunkt der autoreigenen Poetologie. Schreib-Szenen bieten sich also ganz besonders für poetologische Untersuchungen an.

4. Praxeologische und poetologische Perspektive – die ›Überlappungszone‹ Eine Unterscheidung allerdings haben Campe und Stingelin nicht genau in den Blick genommen: Es besteht ein grundlegender Unterschied zwischen SchreibSzenen, die im Buch publiziert wurden, und Schreib-Szenen, die während des Schreibens entstehen. Denn in der Schreib-Szene im Buch heben der Autor, die Autorin ihr Schreiben und ihre Poetologie auf eine öffentliche Bühne, inszeniert vor den Augen des Lesepublikums. Wenn wir allerdings im Literaturarchiv die dem Buch vorangehenden Materialien und Ressourcen aufsuchen, finden wir in ihnen Schreib-Szenen, die während 6

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Nicole Zillien: Die (Wieder-)entdeckung der Medien. Das Affordanzkonzept in der Mediensoziologie. In: Sociologica Internationalis. Internationale Zeitschrift für Soziologie, Kommunikations- und Kulturforschung 2 (2009), 18 (https://www.uni-trier.de/fileadmin/fb4/prof/SOZ/AM K/PDF_Dateien/Affordanz.pdf, zuletzt abgerufen am 01.10.2021). Ebd. Stingelin: ›Schreiben‹. Einleitung; Campe: Schreiben im Process.

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des Schreibens und somit in der Schreibszene entstanden. Ich habe dies die ›Überlappungszone‹ zwischen Schreibszene und Schreib-Szene genannt.9 Während ihres Schreibens schreiben Autoren und Autorinnen über ihr Schreiben. Die SchreibSzene im Buch ist fremdadressiert an die Leser und Leserinnen. Dagegen sind die während des Schreibens in der Überlappungszone entstehenden Schreib-Szenen selbstadressiert. Ihr Publikum ist der Autor, die Autorin selbst. Es entsteht ein autozentrierter Echoraum des Schreibens. Er ist das Labor der autoreigenen Poetologie. Wer die Überlappungszone zwischen Schreibszene und Schreib-Szene untersucht, verbindet also praxeologische mit poetologischen Perspektiven und richtet den Blick insbesondere auf die Gelingensbedingungen des Schreibens und damit auf Affordanz.

5. Winklers Notizbücher – Freund, Fetisch, Phantasma Im Winkler-Bestand des Musil-Instituts/Kärntner Literaturarchivs liegen kleine, unscheinbare Notizbücher des 17-, 18-Jährigen. Sie stammen von 1970/71. Auf ihren Plastikumschlägen tragen sie die Titelgravur »Film«, und jede ihrer Seiten ist mit Rubriken vorgedruckt für »Kinobesuche«. Minutiös protokollierte der Jugendliche seine häufigen Kinobesuche, füllte die vorgedruckten Rubriken zu jedem Film aus, darunter »Tag des Besuches« und »Kurze Kritik«. Dass Winkler von Jugend an ein Kino-Fan ist und dass das Kino seine Bildwelt als Erzähler zutiefst prägt, ist bekannt und wird von ihm selbst häufig thematisiert. Doch es sind diese frühen Notizbücher, die mittels Affordance-in-Interaction den Jugendlichen anregen, anhand des Kinos mit dem Erzählen zu beginnen: Denn seine Notate in der Rubrik »Kurze Kritik« geraten dem Jugendlichen immer wieder zu ultrakurzen Erzählungen. Wir haben hier allererste Ansätze eines literarischen Schreibens.10 Sie folgen schon jetzt einem bestimmten, von der Ressource ›Notizbuch‹ angeregten Setting: Die regelmäßigen Datierungen in der Rubrik »Tag des Besuches« spuren eine tagebuchartige Chronologie des eigenen Schreibens vor – die Winkler in sein Notizbuchschreiben übernimmt und bis heute beibehält, seit über 50 Jahren. Das Schreibinstrument ist die noch aus der Schule übernommene Füllfeder mit blauer Tinte – auch dies bis heute beibehalten, wenn auch manchmal mit Kugelschreiber oder Bleistift vorübergehend variiert. Die Ressource ›Schriftträger‹ hinge-

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Bosse: »Die Wortmaschine …«, 295–296. Vgl. dies.: Inter- und transmediales Schreiben bei Josef Winkler. Performance, Poetologie, posture. In: Dies./Christina Glinik/Elmar Lenhart (Hg.): Inter- und transmediale Ästhetik bei Josef Winkler. Berlin/Heidelberg: Metzler 2022, 275–296. Vgl. Bosse: Inter- und transmediales Schreiben bei Josef Winkler; und dies.: Die Inszenierung des Schreibens in Literatur, Film und Edition. Das Beispiel Josef Winkler. In: Thomas Betzwieser (Hg.): Aufführung und Edition. Berlin/New York: de Gruyter 2020, 251–262.

Anke Bosse: Freund, Fetisch, Phantasma

gen, das Notizbuch, ist entscheidend und bis heute beibehalten. Es ist klein genug, um es körpernah oder in einer Tasche bei sich zu tragen und um – reisend, flanierend, sitzend, beobachtend, nachdenkend – jederzeit Notizen machen zu können. Autor und Notizbuch beginnen eine lebenslange Affordance-in-Interaction. Schon mit den nächsten Notizbüchern entwickelt sie sich weiter. Der vorgedruckte »Tageskalender für das Jahr 1973« gibt nun selbst die chronologische Datierung vor, doch löst sich Winkler vom Vorgedruckten, indem er auf dem Titelblatt »Tagebuch« einträgt und den Tageskalender dergestalt umfunktioniert. Das individuelle Umfunktionieren geht noch weiter: dieses »Tagebuch« ist mehr als ein »Tagebuch«, denn es enthält nun erste eigenständige literarische Versuche. Die Funktion ›Tagebuch‹ wird erweitert um die Funktion ›Notizbuch‹ für literarische Versuche. Diese ressourcenspezifische Mischung hält in Winklers NotizbuchSchreiben bis heute an, aber sie wandelt sich und mit ihr die Affordance-in-Interaction zwischen Autor und Notizbuch. Dies ist schon am chronologisch nächsten Notizbuch erkennbar. Es ist ein kleines Heft aus dem Frühjahr 1974, eingebunden in grüne Pappe. Schreibinstrument ist diesmal meist der Bleistift. Das liegt daran, dass Winkler es während seines halbjährigen Wehrdiensts im Frühjahr 1974 zusammen mit dem Bleistift – und nicht etwa einer Füllfeder – in der Hosentasche bei sich trug. Instrumentalität und Körperlichkeit der Schreibszene konvergieren in einer situationsgemäßen Affordancein-Interaction. Sie zeigt sich auch darin, dass das Notizheft selbst keine Chronologie vorgibt, so dass Winkler hier erstmals das Setting des Tagebuchs ins eigene Schreiben übernimmt. Erstmals setzt er selbst kontinuierliche Datierungen – und sie geben bis heute seinem handschriftlichen Schreiben den Takt vor. Besonders spannend ist ein Eintrag, der sich ganz am Ende dieses Notizhefts findet: »7. Mai 1974. Ein neues Notizheft wird schon sehr bald notwendig sein um mit meinen Aufzeichnungen weiter fortfahren zu können. Ich werde am Freitag in Klagenfurt ein repräsentatives Heft in Tagebuchformat besorgen[,] um mich auch vom Format, das gewissermaßen wichtig ist, oder zumindest dessen Ausführung inspirieren [zu] lassen.« (Hervorhebungen A.B.) Markanter lässt sich kaum beschreiben, wie sehr die Materialität des Schreibmediums und dessen Affordanz Winklers Schreiben und dessen Gelingen bestimmen. Und es zeigt sich, dass er gerade dafür schon sehr früh ein ausgeprägtes Bewusstsein hatte. Dieses »repräsentative Heft in Tagebuchformat«, von dessen »Format« oder »Ausführung« er sich »inspirieren lassen« will, findet Winkler im Mai 1974 in der Traditionspapierwarenhandlung Strein in Klagenfurt. Dort kauft er ein Notizbuch, das in seinem Schreiben Epoche macht: Notizbuch »1«. Dies ist sein erstes Buch – haltbar, da gebunden und in Leinen eingeschlagen, im handlichen A 6Format (Abb. 1).

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Abb. 1: Notizbuch Nr. »1«, Vorderseite (NB 1_Mai-Jun74), 173_Bestand Josef Winkler.

Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv, Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Signatur 173/W6/6.

Hier hat Josef Winkler seine und nur seine Schreibszene gefunden. Ab jetzt wird das handliche Notizbuch zum Fetisch seines Schreibens, ja zum zuverlässigen Freund, der ihn immer begleitet. Das Notizbuch wird ein Teil seines Ich. Wie sehr es materielle Versicherung seines Ich und seines Autor-Werdens ist, zeigt sich darin, dass er seit dem Notizbuch »1« Vorder- und Rückseite jedes seiner Notizbücher ästhetisch mit Bildern verziert und sie anschließend haltbar foliert – beim Notizbuch »1« sind es Reproduktionen von Rötelzeichnungen Iacopo da Pontormos. Diese Bilder haben für ihn die Funktion einer Titelillustration wie beim gedruckten Buch. Es handelt sich um eine bewusste Theatralisierung dieses und aller nachfolgenden Notizbücher, um ihre Inszenierung als Buch. Damit verbindet sich eine äußerst

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stimulierende und anhaltende Affordance-in-Interaction. Denn ab jetzt und bis heute gilt: Josef Winkler schreibt nicht einfach in ein zum Buch stilisiertes Notizbuch, sondern er schreibt immer ein Buch. Diesem Phantasma folgend, kann er schreiben. Mit dem Notizbuch im Verbund mit Füllfeder und blauer Tinte hat Winkler entscheidende Stimulanzien für sein Schreiben gefunden, eine spezifische Affordancein-Interaction, die die Winkler’sche Schreibszene bestimmt. Deshalb schreibt er, einigermaßen verzweifelt, mit Kugelschreiber in Notizbuch »1«: »Ich habe meine Füllfeder verlegt, hoffentlich nicht verloren. […] Meine Füllfeder, mein Tagebuch; meine steten Begleiter. Jeden Weg, jede Gasse, jede Straße schreiten sie mit mir ab […]. Oder helfen mir die aufzeichnungswürdigsten Ereignisse des Tages festzuhalten. Sie helfen mir, meine Gedanken zu verwirklichen.« (Hervorhebungen A.B.) »Füllfeder« und »Tagebuch« werden zu für das Schreiben unverzichtbaren Begleitern und Helfern stilisiert, ja anthropomorphisiert. Dies liest sich wie eine Paraphrase von Nietzsches berühmter Erkenntnis »unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken«.11 Wie stark die Affordance-in-Interaction zwischen Autor und Notizbuch ist, zeigt sich am deutlichsten da, wo sie scheitert. Winklers erstes größeres literarisches Projekt ist, soweit wir es anhand der Vorlassmaterialien rekonstruieren können, Mutter Engelmacherin.12 Es spornt seine Ambitionen an – mit Auswirkungen auf die Wahl seiner Ressource, das Notizbuch. Er geht von den handlichen A 6-Notizbüchern über zu einem gleichfalls gebundenen A 5-Notizbuch von Strein, das noch deutlicher als Buch auftritt und das Phantasma eines ersten publizierten Buchs und damit öffentlichen Auftritts als Autor bedient. Doch die wachsende Ambition verleitet ihn, zu einem noch größeren Format zu greifen: Er wählt das ebenfalls gebundene A 4-Notizbuch von Strein. Doch dieses ist schwer wie eine Akte und unhandlich. Es lässt sich nicht mehr wie ein unverzichtbarer Fetisch am Leib tragen oder in der mitgeführten leibnahen Ledertasche transportieren. Es ist kein begleitender Freund beim Flanieren, Beobachten, Schreiben und kann nur, wenn der Autor am Tisch sitzt, für das Schreiben benutzt werden. Die Instrumentalität und die Körperlichkeit des Schreibens sind blockiert und mit ihnen die für das Schreiben nötige Affordance-inInteraction. Das Schreiben bricht ab und mit ihm das Projekt Mutter Engelmacherin. Winkler zerstört das A4-Notizbuch, indem er die 43 beschrifteten Blätter herausreißt und den Bucheinband und die restlichen 157 Blätter eliminiert. Nur diese 43

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Friedrich Nietzsche an seinen Sekretär Heinrich Köselitz alias Peter Gast (Ende 1882). Vgl. Friedrich Nietzsche: Schreibmaschinentexte. Vollständige Edition, Faksimiles und kritischer Kommentar. Aus dem Nachlass hg. von Stephan Günzel und Rüdiger Schmidt-Grépály. Weimar: Universitäts-Verlag 2 2003, 18. Der Winkler-Bestand I zeigt, dass Winkler seit 1974 mit kleineren lyrischen und dramatischen Projekten sowie Prosatexten beschäftigt war. Im Mittelpunkt stand aber das Projekt Mutter Engelmacherin, das schließlich in die Publikation Menschenkind mündete.

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Blätter sind im Vorlass überliefert, und ich hätte sie ohne einen Hinweis des Autors gar nicht als Teil eines großen gebundenen A4-Notizbuchs erkannt, sondern als Rest eines Kolleg-Blocks eingeschätzt. Deutlich ist: Die gestörte Affordance-in-Interaction führt Winkler zu der entscheidenden Erkenntnis, dass dies seine Schreibszene nicht ist. Diese Erkenntnis ist bis heute wirksam, denn er wählt seither bewusst jene Ressourcen, die erfahrungsgemäß eine verlässliche Affordance-in-Interaction und damit basale Gelingensbedingungen seines Schreibens garantieren. Er kehrt zu den handlichen A6-Notizbüchern zurück – für immer, bis heute. Damit die Notizbuch-Notate in ein literarisches Schreibprojekt und eine tatsächliche Buchpublikation münden können, entwickelt Winkler eine zweite, grundlegend neu konfigurierte Schreibszene: Er tippt die ihn überzeugenden Notate ab, überarbeitet sie, erweitert sie, tippt sie ab, collagiert ausgewählte Textpassagen, tippt sie erneut ab etc. In dieser zweiten Schreibszene, die im vorliegenden Beitrag nur am Rande interessiert, ist nicht die Ressource Papier, sondern die geradezu manisch traktierte Schreibmaschine entscheidend für die Affordance-in-Interaction. So nimmt die Genese seines ersten Romans Menschenkind Form an, den Winkler 1979 bei Suhrkamp publiziert. Und so arbeitet er noch heute, nur inzwischen am Laptop.

6. Affordance-in-Interaction: Konstanten, Veränderungen 6.1 Fetisch und Freund Seit mehr als 50 Jahren hat sich zwischen der Ressource Notizbuch und dem Autor Winkler eine Affordance-in-Interaction eingespielt, in der das Notizbuch zwei konstante Funktionen einnimmt: Fetisch und Freund. Im Klagenfurter Alltag beim Flanieren, aber vor allem auf seinen Reisen, die ihn nach Italien, Deutschland, Nordafrika, Mexiko, vor allem aber nach Indien führen, ist das Notizbuch als stets begleitender Freund dabei. Es ist der fetischisierte Garant für gelingendes Schreiben und trägt selbst durch Krisen. Dementsprechend groß inszeniert ist die Verlustangst, dementsprechend aggressiv bis zur Selbstverstümmelung ist die Verteidigung des Notizbuchs inszeniert: »Ich tastete meine Umhängetasche ab, um zu kontrollieren, ob ich mein Straßennotizbuch noch bei mir hatte. Lieber lasse ich mir ein Ohr abschneiden, als daß ich mein Notizbuch, […] mit dem ich monatelang Tag und Nacht unterwegs war, hergebe oder mir gar wegnehmen lasse. Wenn ich manchmal die Vorstellung habe,

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daß mir jemand mein Notizbuch stiehlt und davonläuft, sehe ich mich mit einem Messer hinterherrennen.«13 Die Funktion des Notizbuchs als Fetisch und Freund überträgt sich sogar auf andere und fungiert in der konkreten Schreibszene als Kontaktaufnahme: Auf der Rückseite des Notizbuchs von März und April 1993 – dem ersten, dessen Notate in den Roman Domra einfließen werden – ist eine Reproduktion von Michael Sweerts’ Gemälde Junge mit Turban zu sehen. Im Notizbuch findet sich folgende Textstelle: »Mehrere indische Jungen haben mich schon gefragt, ob der Junge auf dem Notizbuch (Gemälde von Pinturicchio) mein Freund sei.«14 Die Verwechslung Sweerts’ mit Pinturicchio ist nur ein Nebenschauplatz. Entscheidend ist, dass die indischen Jungen die Funktion ›Freund‹ auf die Illustration und damit metonymisch auf das Notizbuch projizieren, weil sie den intimen und zugleich für sie rätselhaften Umgang des Autors mit eben diesem Notizbuch beobachtet haben. Besonders faszinierend ist sein dauerndes Schreiben, die konkrete Schreibszene, die Winkler wiederum zur Kontaktaufnahme nutzt. Notate, die sich wie dieses autoreferentiell auf die Ressource beziehen, in der sie stehen, fungieren oft auch als Einleitung zu einer Schreib-Szene, die das Schreiben selbst thematisiert – ein typisches Phänomen in der Überlappungszone.

6.2 Phantasma Veränderungen zeigen sich hingegen in der Funktion des Notizbuchs als antizipierendes Phantasma des zu schreibenden und dann gedruckten Buchs. Die Nobilitierung der Notizbücher durch außen aufgeklebte Bilder ist eine inszenierte Mimikry an das gedruckte Buch und seine Titelillustrationen. Auf der Vorderseite desselben Notizbuchs von März und April 1993, aus dem Notate in den Roman Domra eingingen, sehen wir unter der Folierung einen aufgeklebten Zeitungsausschnitt mit dem Schwarz-Weiß-Bildnis eines kleinen, indischen Jungen, der zwei Frösche am Hals hält und hinter einem Haufen Froschschenkeln hockt (Abb. 2).

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Josef Winkler: Der Friedhof der bitteren Orangen. Roman [1990]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, 160–161. Vgl. ebd. 115, 237, 257, 263–264. Notizbuch von März-April 1993 (NB_Mar-Apr93). 10_Bestand Josef Winkler, Robert-MusilInstitut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv, Universität Klagenfurt, Signatur 10/ W1/2. Hervorhebung A.B.

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Abb. 2: Notizbuch von März–April 1993, Vorderseite (NB_Mar–Apr93). 10_Bestand Josef Winkler.

Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/ Kärntner Literaturarchiv, Universität Klagenfurt, Signatur 10/W1/2.

Schlägt man das Notizbuch auf, so findet man auf der ersten Seite den handschriftlichen Eintrag »Titelbild: Froschschenkelernte in India«, inklusive eines Pfeils, der auf das Bild verweist (Abb. 3).15 Winkler weist es für sich selbst explizit als »Titelbild« aus – eine Mimikry an das gedruckte Buch. Ziel ist, das phantasierte Buch bereits schreibend ›einzuholen‹, das Notizbuch als Schreibstimulanz zu nutzen. Doch je anerkannter der Autor als Autor, je zahlreicher seine Buchpublikationen, desto weniger hat das Notizbuch diese Phantasma-Funktion. Je routinierter der Autor und damit die Affordance-in-Interaction, desto mehr rückt eine zweite Funktion in den Blick, der materiale Wert der No-

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Zum Domra-Komplex vgl. Christina Glinik: Intermedialität und Inszenierung des Schreibens bei Josef Winklers Domra. In: Dies./Anke Bosse/Elmar Lenhart (Hg.): Inter- und transmediale Ästhetik bei Josef Winkler. Berlin/Heidelberg: Metzler 2022, 249–274.

Anke Bosse: Freund, Fetisch, Phantasma

tizbücher. Anders als Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen interessieren die Notizbücher Schätzer und Käuferinnen weniger als Zeugen literarischer Schreibprozesse denn als faszinierende unikale Kunstobjekte, die z.B. in Ausstellungen inszenierbar sind. Diese Form der Nachhaltigkeit löst die Notizbücher aus der Schreibszene und aus der Affordance-in-Interaction.

Abb. 3: Notizbuch von März–April 1993, Vorsatzblatt (NB_Mar–Apr93). 10_Bestand Josef Winkler.

Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv, Universität Klagenfurt, Signatur 10/W1/2.

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6.3 Tagebuch versus Notizbuch Von Anfang an vermischte Winkler im Medium Notizbuch die Funktion des autobiographischen ›Tagebuchs‹ mit der des ›Notizbuchs‹ für literarische Notizen. Diese Mischung bezeugt das eingangs dargestellte reziproke Verhältnis von Leben und Schreiben, Schreiben und Leben. Sie hält in Winklers Notizbuch-Schreiben bis heute an. Doch je mehr er sich als Autor etablierte, desto geringer wurde der Anteil selbstvergewissernder Tagebucheinträge und desto größer der Anteil von Notizen mit dem Potenzial literarischer ›Verwertbarkeit‹. Entsprechend verschiebt sich die Affordance-in-Interaction. Beim Übergang zu einem literarischen Projekt, markiert vom Abtippen ausgewählter Textpassagen aus den Notizbüchern, setzt schließlich ein Prozess der Fiktionalisierung ein, der zugleich einer der Entfernung aus dem autobiographischen Setting ist – auch wenn in den dann gedruckten Büchern Winklers das Alter Ego oder Erzähl-Ich in eigentümlicher Nähe zum Autor-Ich bleibt. Dies wird besonders deutlich in den autoreflexiven Schreib-Szenen im gedruckten Buch, in denen das Schreiben und das Notizbuch thematisiert werden und die, ganz wichtig, nun die Poetologie des Autors öffentlich vor dem Lesepublikum entfalten. Doch erst in dem Roman Friedhof der bitteren Orangen von 1990 hat das Notizbuch als »mein Straßennotizbuch« seinen Auftritt in der Schreib-Szene im Buch – seither immer wieder. Ich gehe davon aus, dass dies just mit der Funktionsverschiebung der Notizbücher weg vom Tagebuch hin zum literarischen Notizbuch zu tun hat, der Verschiebung der Affordance-in-Interaction von der Selbstvergewisserung zur literarischen Verwertbarkeit. Im Roman Friedhof der bitteren Orangen wird das Notizbuch mehr als 30 Mal erwähnt, und zwar mit einer identischen, geradezu obsessiv wiederholten Beschreibung: »… mein Straßennotizbuch, auf dem die eingetrockneten und eingekleideten Leichen der Bischöfe und Kardinäle aus dem Priesterkorridor in den Kapuzinerkatakomben in Palermo abgebildet sind.«16 Dieses Notizbuch gibt es tatsächlich – genau genommen gibt es zwei Notizbücher, die auf der Rückseite eine Postkarte mit diesem Motiv tragen (Abb. 4).17

16 17

Winkler: Friedhof, 86 u.ö. Es handelt sich um die Notizbücher vom Oktober 1982 (NB_Okt82) und Juli-November 1984 (NB_Jul-Nov84). 173_Bestand Josef Winkler I. Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/ Kärntner Literaturarchiv, Universität Klagenfurt, Klagenfurt. Signaturen 173/W6/33 und 173/ W6/43.

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Abb. 4: Notizbuch vom Juli–November 1984, Rückseite (NB_Jul–Nov84). 173_Bestand Josef Winkler.

Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv, Universität Klagenfurt, Klagenfurt. Signatur 173/W6/43.

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Agentialität und Affordanz: Schriftträger in Schreibverfahren

Doch sind es nur zwei von insgesamt 16 Notizbüchern aus den Jahren 1982 bis 1988, aus denen Notate in Friedhof der bitteren Orangen eingegangen sind.18 Die Schreib-Szenen im Buch, die um eben dieses eine »Straßennotizbuch« kreisen, gehen nur selten auf Notate in diesem Notizbuch zurück. Vielmehr haben wir im Roman insistente, fremdadressierte Notizbuch-Inszenierungen vor dem Lesepublikum. Und um dieses geht es. Vor diesem Publikum wird in den Schreib-Szenen des Buchs die Affordance-in-Interaction zwischen dem Notizbuch und dem Schreiben des Text-Ichs in Szene gesetzt, so dass sich dieses nunmehr nur schwerlich noch vom Autor trennen lässt. Die Affordance wird umfunktioniert zur theatralen posture des Autors,19 seiner Selbstinszenierung vor Publikum, wie sie sich bereits im »Nur wenn ich schreibe, lebe ich« präsentiert. Und die Schreib-Szenen im Buch werden Teil der vor Publikum ausgestellten ›offiziellen‹ Poetologie des Autors Winkler. Nicht zuletzt bewirken die insistenten Hinweise auf das »Straßennotizbuch, auf dem die eingetrockneten und eingekleideten Leichen der Bischöfe und Kardinäle aus dem Priesterkorridor in den Kapuzinerkatakomben in Palermo abgebildet sind«, dass diese Illustration 1990 auf das Buchcover der Erstausgabe von Friedhof der bitteren Orangen gelangt, zunächst spiegelverkehrt.20 Antizipierte das Notizbuch bisher das Buch, holt nun das Buch das Notizbuch ein und instrumentalisiert es für eine inszenierte Authentizitätsbeglaubigung.

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Vermutlich beginnend mit dem Notizbuch vom Oktober 1982, das auf der Rückseite die Postkarte mit den mumifizierten Bischöfen und Kardinälen trägt, bis zum Notizbuch von Juli-August 1988, die während diverser Italien-Reisen von Winkler benutzt wurden (NB_Okt 82 bis NB_Jul-Aug88). 173_Bestand Josef Winkler I. Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv, Universität Klagenfurt, Klagenfurt. Signaturen 173/W6/33 bis 173/W6/48. Drei dieser Notizbücher enthalten auf dem Vorsatzblatt die gleiche Postkarte oder weitere Postkarten mit Mumien-Motiven aus den Kapuzinerkatakomben in Neapel (173/W6/40, 173/W6/42, 173/W6/46). Auf Basis des Habitus-Konzepts Pierre Bourdieus hat Jérôme Meizoz das der posture entwickelt, in der diskursive und nicht-diskursive Darstellungen und Inszenierungen konvergieren, die durch den Autor, die Autorin selbst und – im Wechselspiel – durch Zuschreibungen aus dem literarischen und kulturellen Feld erstellt werden. Vgl. Jérôme Meizoz : Postures littéraires. Mises en scène modernes de l’auteur. Genf: Slatkine 2007. Vgl. ders.: Die posture und das literarische Feld. Rousseau, Céline, Ajar, Houellebecq. In: Markus Joch/Norbert Christian Wolf (Hg.): Text und Feld. Bourdieu in der literaturwissenschaftlichen Praxis. Tübingen: Niemeyer 2005, 177–188. Als Vorlage diente sichtlich das Notizbuch vom Juli-November 1984 (NB_Jul-Nov84). Auf dem Titelblatt der Neuauflagen ist die Spiegelverkehrung zurückgenommen (vgl. https://www.su hrkamp.de/buch/josef-winkler-friedhof-der-bitteren-orangen-t-9783518396919, zuletzt abgerufen am 21.10.2021).

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6.4 Schrift mit Bild/Objekt – Intermedialität Eine weitere wichtige Veränderung in der Affordance-in-Interaction zwischen Notizbuch und Autor besteht darin, dass Winkler über das Aufkleben von Bildmaterial als stimulierender und ästhetisierender Nobilitierung zum ›Buch‹ hinausgeht und das integrierende Einkleben von Fremdmaterial steigert: Fotos, Bildreproduktionen, Postkarten, Zeitungsausschnitte, gefundene und gesammelte Objekte. Die Ressource ›Notizbuch‹ wird zum intermedialen Sammlungsraum. Indem sie das eingefügte Fremdmaterial mit der Schrift verbinden, realisieren Winklers Notizbücher zugleich eine »Medienkombination«. Mehr noch: Zwar nicht systematisch, aber immer wieder thematisiert Winkler das Fremdmaterial während des Schreibens im Notizbuch. Dies entspricht zum einen der intermedialen ›Thematisierung‹, dem »telling«.21 Zum anderen wird das Fremdmaterial so zum Faktor in der das Schreiben thematisierenden Schreib-Szene. Da diese während des Schreibens entsteht, befinden wir uns hier in der Überlappungszone zwischen Schreibszene und Schreib-Szene. Mit der Integration von Fremdmaterial, seiner Kombination mit Schrift und seiner intermedialen Thematisierung ändert sich so auch die Affordancein-Interaction zwischen Notizbuch und Autor: Denn das konkrete Bild, insbesondere das originale, gesammelte und eingeklebte Objekt werden zum Schreibanlass. Dies gilt etwa für die in Abb. 5 sichtbaren Kindertotenscheine, die im indischen Varanasi den Kinderleichnamen beigegeben werden. Winkler sammelte sie ein und klebte sie in sein Notizbuch, um sie dann im Schreiben sogleich zu thematisieren. Medienkombination und intermediale Thematisierung fließen zusammen: »Ich habe am Hügel vor den drei Totenschiffen xx aus dem Sand ein paar Totenscheine von Kindern aufgesammelt im Halbdunkeln unter dem Vollmond und sie in mein Notizbuch geklebt.«22 Mit der Beifügung der gesammelten Fundstücke ist es ihm möglich, den vor der medialen Unterbrechung bestehenden Schreibfluss fortzuführen, indem er anschließend im ersten Satz der neuen Textpassage auf einer neuen Seite auf das Sammeln und das Einkleben der Kindertotenscheine Bezug nimmt: »Varanasi, 4. Mai 1993 […] Ich sammelte danach noch verstohlen ein paar von den im Sand herumliegenden 21

22

Zur ›Medienkombination‹ und ›Mediensynthese‹ sowie zu intermedialen Bezügen wie der Thematisierung/›telling‹ vgl. Irina Rajewsky: Intermedialität. Tübingen/Basel: Francke, 15–20, 57, 66; sowie Christine Lubkoll: Telling. In: Nicola Gess/Alexander Honold (Hg.): Handbuch Literatur & Musik. Berlin/Boston: de Gruyter 2017, 76–94. Notizbuch von März-April 1993 (NB_Mar-Apr93). 10_Bestand Josef Winkler, Robert-MusilInstitut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv, Universität Klagenfurt, Signatur 10/ W1/2.

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und verblichenen Kindertotenscheine auf und steckte sie ein[.] Im Hotel angekommen läuteten wir, und der Priesterjunge war da in unmittelbarer Nähe und öffnete die Tür. Er wartete dann auf mich an der warmgewordenen aufgeheizten Veranda, aber ich zog mich ins Zimmer zurück, ging unter die kalte Dusche, klebte dann die Kindertotenscheine ins Notizbuch.«23

Abb. 5: Notizbuch vom April–Mai 1993 (NB_Apr–Mai93).

Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv, Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Signatur 10/W1/1.

Der direkte Objekt-Schreiben-Bezug ist evident. Bei der Überführung in ein literarisches Projekt, beim Abtippen, verschwindet der direkte Objekt-SchreibenBezug und damit die spezifische Affordance-in-Interaction; sie werden konvertiert in Nur-Text. Die Medienkombination wird überführt in textliche intermediale Thematisierung, die den Verlust des konkreten Objekts durch inszenatorische Ausgestaltung kompensiert – vor allem im gedruckten Buch, vor den Augen des Lesepublikums: 23

Ebd.

Anke Bosse: Freund, Fetisch, Phantasma

»Vom Flußufer, vor den drei an Bambuspflocke gebundenen Booten, sammelte ich ein paar kleine, vergilbte, von der Hitze ausgebleichte Kindertotenscheine auf, die, mit einem violettblassen ovalen Stempel bedruckt, in drei verschiedenen Handschriften mit dem Geburtsdatum des Kindes beschrieben waren und die der Domra, nachdem er die toten, von Kopf bis Fuß in nahtlose weiße Baumwolltücher eingewickelten Kinder in die Flußmitte hinausgerudert und die Verwandten den Leichnam über den anderen, am Grunde des Flusses liegenden Kinderleichen und Kinderskeletten im Ganges versenkt hatten, am Flußufer weggeworfen hatte, und steckte sie, verlegen um mich blickend – ich wurde von einem herumstreunenden jungen Inder beobachtet –, in mein Notizbuch hinein, […].«24 »Nur wenn ich schreibe, lebe ich.«25 Denkt man an die Kindertotenscheine im Notizbuch und ihre Stimulanz für das Schreiben, dann haben solche Textpassagen im Buch mit dieser Selbstinszenierung eines gemein: Den Versuch, das, was da ist und vergänglich, zu bewahren – gegen den Tod.

24 25

Josef Winkler: Domra. Am Ufer des Ganges. Roman. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, 169–170. Josef Winkler: Der Leibeigene [1987]. Frankfurt a.M. 1990, 214.

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III. Kreisläufe: Recycling, Serialisierung und Zerstörung von Schriftträgern

Kosmischer Müll Papiervernichtung und -recycling als Basis der Weltwissenschaft Dominik Erdmann

1. Ein Aquarell mit einem Riesenpapierkorb

Abb. 1: Eduard Hildebrandt: Alexander von Humboldt in seinem Arbeitszimmer (Berlin, 1845).

SBB-PK Handschriften und Historische Drucke Portr. Slg. Bildnisschrank gr. 3262.

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Kreisläufe: Recycling, Serialisierung und Zerstörung von Schriftträgern

Die Lithographie des um 1845 angefertigten Aquarells Alexander von Humboldt in seinem Arbeitszimmer von Eduard Hildebrandt dürfte eines der Bilder sein, das unsere Vorstellung von dem Schriftsteller, Forschungsreisenden und Weltwissenschaftler am tiefsten geprägt hat. Das 1845 und 1848 in zwei leicht voneinander verschiedenen Versionen publizierte Blatt1 will offenbar intime Einblicke in das Arrangement von Humboldts Schreibszene bieten. In seiner Ausführung knüpft das Blatt an eine seit langem etablierte Darstellung des Gelehrten in seiner Arbeitsumgebung an, wie sie aus zahlreichen Bildern, beispielsweise des Heiligen Hieronymus im Gehäus, bekannt ist. Humboldt wird hier in seinem Studiolo dargestellt. Seit dem 14. Jahrhundert besteht dieser Raumtypus üblicherweise aus einem Ensemble von Schreibstube, Bibliothek und Schlafgemach2 Letzteres ist in Hildebrandts Aquarell durch die Tapetentüre angedeutet, die sich hinter dem Sitzenden Humboldt filigran an der Wand abzeichnet. Sie führte in jenen Alkoven, in dem er schlief und im Mai 1859 verstarb. In ihn wurden nach seinem Tod auch alle seine wissenschaftlichen Papiere eingesiegelt, darunter seine Kollektaneen zum Kosmos, um die es noch gehen wird. Humboldts Bibliothek, mit der das Ensemble seines Studiolos vervollständigt wird, und das an sein Arbeitszimmer angrenzte, ist in einem zweiten 1856 angefertigten Aquarell Hildebrandts zu sehen (Abb. 3). Bereits das Aufgreifen einer derart verbreiteten und traditionsreichen Bildgattung wie der Darstellung des Gelehrten in seinem Arbeitszimmer ist ein Hinweis darauf, dass es Hildebrandt (und Humboldt) um mehr ging, als darum, ein authentisches Zeugnis seiner Schreibumgebung zu vermitteln. Diese Vermutung lässt sich anhand einiger Details der Darstellung bekräftigen. Die Körperhaltung, in der Humboldt am Schreibtisch sitzt, erinnert beispielsweise an die Schreibhaltung, die der Forscher bei seinen Aufzeichnungen im Feld einnehmen musste. Der Schreibende hat dort in aller Regel keinen Tisch als Unterlage zum Schreiben, weshalb er das Papier behelfsmäßig auf seinen übereinandergeschlagenen Beinen platziert. In dieser Pose ist Humboldt auf verschiedenen Gemälden dargestellt, beispielsweise auf dem 1806 entstandenen Porträt von Friedrich Georg Weitsch, auf dem er sitzend beim Botanisieren im südamerikanischen Urwald gemalt ist oder dem 1859 fertiggestellten Altersporträt von Julius Schrader, das ihn beim Schreiben in ein auf seinen Knien liegendes Notizbuch vor der Kulisse des Chimborazo zeigt. Mehr als vierzig Jahre nach dem Ende seiner amerikanischen Expedition sollte diese Körperhaltung wohl suggerieren, dass Humboldt sich beim Schreiben nach wie vor auf Reisen befand. Die »für ihn fortbestehende höhere Autorität eines Schreibens im Angesicht der Dinge« übertrug er auf diese Weise auf Texte, »die fernab von ihren

1 2

Vgl. Petra Werner: Naturwahrheit und ästhetische Umsetzung. Alexander von Humboldt im Briefwechsel mit bildenden Künstlern. Berlin: Akademie-Verlag 2013, 285–289. Vgl. Wolfgang Liebenwein: Studiolo. Die Entstehung eines Raumtyps und seine Entwicklung bis um 1600. Berlin: Mann 1977.

Dominik Erdmann: Kosmischer Müll

Gegenständen«3 an seinen Schreibtischen in Paris, Berlin und Potsdam entstanden sind. Dass das Bild Hildebrandts von Humboldts Arbeitszimmer (wie übrigens auch dasjenige, das ihn in seiner Bibliothek zeigt) inszenatorische Absichten verfolgt, zeigt sich des Weiteren in einer ungewöhnlichen Häufung von Authentizitätsbeweisen. Denn das Bild ist nicht nur – wie allgemein üblich – vom Künstler signiert. Auch der dargestellte Alexander von Humboldt bestätigt, noch dazu in seiner fein säuberlich auf der Lithographie faksimilierten, auratischen Handschrift, dass es sich um ›ein treues Bild‹ seiner gewohnten Arbeitsumgebung handle. Mehr authentischen ›Humboldt‹ konnte man sich Mitte der 1840er Jahre schwerlich an die Wand hängen. Die Bilder vermitteln demnach nicht nur Einblicke in Humboldts Arbeits- und Lebensumgebung Ende der 1840er und zu Beginn der 1850er Jahre. Sie geben auch Einsichten, wie und mit welchen Mitteln Humboldt damals an seinem Image und mithin bereits an seinem Nachruhm4 als naturbeschreibender Schriftsteller arbeitete. Das lässt sich auch daran beobachten, dass die Lithographie des Bilds in den folgenden Jahren international vertrieben wurde und als Vorlage für verschiedene Kopien diente, die weltweit in illustrierten Zeitschriften reproduziert wurden.5 Doch nicht nur die Schreibhaltung und die Beglaubigungen, sondern auch das Arrangement der übrigen Gegenstände auf dem Bild können als eine Inszenierung verstanden werden. Das trifft zum Beispiel auf jene drei Kästen zu, die links unten im Vordergrund der Abbildung stehen. Es handelt sich bei ihnen um drei der insgesamt dreizehn Kästen der bereits erwähnten Kollektaneen zum Kosmos, in denen Humboldt bis zu seinem Lebensende an die 15.000 Briefe, Manuskripte, Zeitungsausschnitte, Zeichnungen, Notizzettel und Exzerpte zusammengetragen hatte und mit denen er alle seine späteren Publikationen schrieb: die selbständigen Werke6 sowie die unselbständigen Schriften.7 Diese Materialien verwaltete Humboldt im Inneren der Kästen in Form einer Loseblattsammlung. Um die Papiere in ihrer Ordnung zu halten, legte er sie lediglich in beschrifteten Mappen und Briefumschlägen

3 4

5 6 7

Ottmar Ette: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2001, 191. Vgl. Dominik Erdmann/Jutta Weber: Nachlassgeschichten. Bemerkungen zu Humboldts nachgelassenen Papieren in der Berliner Staatsbibliothek und der Biblioteka Jagiellońska Krakau. In: Alexander von Humboldt im Netz. Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien 16/31 (2015), 58–77. https://doi.org/10.18443/223 (zuletzt abgerufen am 01.07.2022). Vgl. beispielsweise Bayard Tylor: An Hour with Humboldt. In: New York Daily Tribune (9.1.1857), 3. https://bit.ly/3nDV4SO (zuletzt abgerufen am 06.07.2022). Vgl. Horst Fiedler/Ulrike Leitner: Alexander von Humboldts Schriften. Bibliographie seiner selbständig erschienenen Werke. Berlin: Akademie-Verlag 2000. Vgl. Alexander von Humboldt: Sämtliche Schriften. Berner Ausgabe. 10 Bände. Hg. von Oliver Lubrich und Thomas Nehrlich. München: dtv 2019.

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ab, die er mit Aufschriften versah, die sich auf die in ihnen enthaltenen Themengebiete oder auf die Publikationen beziehen, für die er sie bestimmt hatte. In Verbindung mit den ebenfalls mit Aufschriften versehenen Kästen ergab sich so ein maximal flexibles und zugleich gut geschütztes Aufschreibesystem, das Humboldt über Jahrzehnte aktualisieren konnte, um damit an seinen verschiedenen Textarbeiten zu schreiben. Das vielgerühmte ›netzwerkartige Denken‹ Humboldts, sein nichtlineares Verknüpfen von Wissensinhalten quer zu ihrer disziplinären Ordnung, hat seinen Grund in eben dieser netzwerkartigen Wissensverwaltung in Papierform. Die Kollektaneen zum Kosmos sind folglich die materielle Seite der ›Humboldtian science‹. Humboldt selbst war sich über diese Materialgestütztheit seiner Wissensund Naturkonzeption voll bewusst. Daher sind drei der Kollektaneenkästen prominent in dem Bild seines Arbeitszimmers platziert und zwei auf dem später entstandenen Bibliotheksgemälde zu finden. Die Bedeutung, die die Kästen für Humboldt hatten, lässt sich aber auch aus der Größe erschließen, in der sie in seinem Arbeitszimmer abgebildet sind. Denn obgleich sie sich im Vordergrund des Bildes befinden, erscheinen sie im Vergleich zur Figur Humboldts verhältnismäßig groß. Offenbar war Hildebrandt bestrebt, die Wichtigkeit, die die Kollektaneen zum Kosmos für Humboldts Konzeption seiner Weltwissenschaft hatten, bedeutungsperspektivisch zu erhöhen. Die Kollektaneenkästen waren der Ort, an dem Humboldt die Schriftstücke, die er selbst geschrieben hatte oder die ihm von anderen Autoren zugesandt wurden, sammelte und verzettelte. Die Produktion von Geschriebenem und dessen systematische Ordnung ist aber nur die eine Seite von Humboldts Schreibszene. Komplettiert wurde diese sprichwörtlich auf der anderen Seite durch Humboldts »Riesenpapierkorb«,8 der sich auf dem Bild Hildebrandts genau gegenüber den Kollektaneenkästen befindet. Zusammengenommen steht damit die Trias aus Produktion, Speicherung und Vernichtung von Schriftgut in einer sinnfälligen Dreiecksbeziehung, deren Zentrum der schreibende Humboldt bildet. Worauf diese Komposition aufmerksam macht, ist, dass dem Wegwerfen von Papieren in Humboldts schriftstellerischer und wissenschaftlicher Arbeit eine ebenso große Bedeutung zukam, wie der Produktion und Aufbewahrung von Schriftstücken. Mit anderen Worten ist die Vernichtung von Papieren als eine Säule von Humboldts Weltwissenschaft zu betrachten. Die folgenden Ausführungen verfolgen einige Spuren der Vernichtung von Papieren in Humboldts Schreiben und fragen, in welchem Verhältnis diese Praktik zu seiner Wissenschaft steht. Dabei lautet die These, dass dem Wegwerfen von Papieren für Humboldts Schreibarbeit eine ähnliche Funktion zukam, wie dem Erzeugen von Aufzeichnungen. Allerdings war die Vernichtung von Papier nur ein Fall 8

Conrad Müller: Alexander von Humboldt und das preußische Königshaus. Briefe aus den Jahren 1835–1857. Leipzig: Koehler 1928, 10.

Dominik Erdmann: Kosmischer Müll

von Humboldts Umgang mit der Ressource Schriftträger. Ein anderer war die Wiederverwertung von ehemals anders genutzten Papieren. Im letzten Teil des Aufsatzes werden daher Formen des Recyclings von Schriftträgern vorgestellt, die sich in Humboldts Kollektaneen zum Kosmos nachweisen lassen.

2. Spuren der Papiervernichtung Hildebrandts Bild von Humboldts Arbeitszimmer stellt eine Engführung der Produktion und der Vernichtung von Geschriebenem dar. Doch nicht nur im Bild, auch auf einer konzeptionellen Ebene überschneiden sich diese beiden Praktiken. Ebenso wie sich der Prozess des Schreibens nicht beobachten lässt (außer unter experimentellen Bedingungen),9 ist auch die Entsorgung von Papieren in der Regel unsichtbar. Wird das Weggeworfene vernichtet, was gewöhnlich der Fall ist, dann entziehen sich die Papiere der direkten Wahrnehmbarkeit und es lässt sich auf seine vormalige Existenz nur aus Indizien schließen. Der Papierkorb ist der Orkus, aus dem das Geschriebene nicht wiederkehrt – meistens jedenfalls. Denn bei Humboldt gibt es von dieser Regel eine Ausnahme, auf die später zurückzukommen sein wird. Was weggeworfen wurde, zeigt sich folglich vor allem in seiner Absenz. Das setzt jedoch voraus, dass es als absent erkannt wird. Bei Humboldt lässt sich dies zum Beispiel an seinen Manuskripten beobachten, die er für seine sogenannten Kosmos-Vorlesungen im Jahr 1827 und 1828 angefertigt hatte. Lange Zeit galten diese Manuskripte als inexistent, zumal Humboldt in der Vorrede des ersten Bandes seines Kosmos erwähnte, er habe die Vorträge in »freier Rede« gehalten und nichts von ihnen jemals »schriftlich aufgezeichnet«.10 Aus einigen zeitgenössischen Dokumenten lässt sich allerdings schlussfolgern, dass Humboldt seinen mündlichen Ausführungen doch schriftliche Aufzeichnungen zugrunde gelegt hatte. Anfang der 2000er Jahre konnten schließlich Reste dieser Vorlesungsmanuskripte in verschiedenen Mappen seiner Kollektaneen zum Kosmos identifiziert werden.11 Dabei zeigte sich, dass Humboldt das einst zusammenhängende Vorlesungsmanuskript aufgelöst hatte und die einzelnen Seiten entsprechend ihrer Inhalte auf seine thematisch sortierten Kollektaneen verteilt hatte. Bei der Durchsicht der Kästen stellte 9

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Stephan Kammer: Reflexionen der Hand. Zur Poetologie der Differenz zwischen Schreiben und Schrift. In: Ders./Davide Giuriato (Hg.): Bilder der Handschrift. Die graphische Dimension der Literatur. Frankfurt a.M./Basel: Stroemfeld 2006, 130–161. Alexander von Humboldt: Kosmos – Entwurf einer physischen Weltbeschreibung. Bd. 1. Stuttgart/ Tübingen: Cotta 1845, X. Vgl. Dominik Erdmann/Christian Thomas: ›… zu den wunderlichsten Schlangen der Gelehrsamkeit zusammengegliedert‹. Neue Materialien zu den ›Kosmos-Vorträgen‹ Alexander von Humboldts, nebst Vorüberlegungen zu deren digitaler Edition. In: Alexander von Humboldt im Netz. Internationale Zeitschrift für Humboldt-Studien 15/28 (2014), 34–45.

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sich zudem heraus, dass nicht mehr alle Vorlesungsmanuskripte vorhanden waren. Die meisten der erhalten gebliebenen Manuskripte konzentrieren sich auf Themen, die Humboldt im fünften, Fragment gebliebenen Band des Kosmos nicht mehr hatte behandeln können. Unter diesen finden sich seine Vorlesungsmanuskripte zur Pflanzen- und Tiergeographie sowie zum Thema »Menschenracen«.12 Damit liegt die Annahme nahe, dass Humboldt die Vorlesungsmanuskripte, die er bei der Ausarbeitung der Inhalte des Kosmos benutzt hatte, nach Fertigstellung seines Manuskriptes aus den Kollektaneen zum Kosmos entfernte und wegwarf. Noch an weiteren Dokumenten aus den Kollektaneen zum Kosmos lassen sich Spuren finden, die darauf hindeuten, dass Humboldt in sie nicht nur Papiere einsortierte, sondern auch wieder aus ihnen entfernte. Eine erste Spur hat mit Humboldts Gewohnheit zu tun, zusammengehörende Manuskripte und Notizzettel mit Klebepunkten zu verbinden. Er machte von dieser collagierenden Praxis intensiven Gebrauch, weshalb Klebstoffe zu Humboldts bevorzugten Schreibwerkzeugen zu zählen sind. In den Kollektaneen zum Kosmos finden sich an vielen Stellen zuweilen recht umfangreiche papierne Klebegebilde.13 In einem Manuskript, das Humboldt für die Herstellung des sechsten, nicht publizierten Bandes seines Examen critique de l’histoire de la géographie du nouveau continent et des progrès de lʼastronomie nautique aux quinzième et seizième siècles verwenden wollte, klebte er an ein Grundblatt insgesamt 26 kleinere und größere Zettel an. Das ganze Gebilde lässt sich leporelloartig entfalten und gibt ganz nebenbei einen anschaulichen Eindruck davon, wie Humboldt seine vielgerühmte Netzwerkwissenschaft praktizierte. Als Klebstoff dienten Humboldt vor allem bunte Siegeloblaten, ein damals verbreitet gebrauchtes Produkt, um Papiere zusammenzukleben.14 Die dabei entstandenen Klebeverbindungen sind erstaunlich robust. Noch heute können die Klebegebilde Humboldts entfaltet werden, ohne dass die Klebepunkte sich lösen. Bei einigen Zetteln ist dies im Lauf der Zeit gleichwohl geschehen. Beim Ablösen hinterlassen die Oblaten an den Stellen, an denen sie angebracht waren, Rückstände und gelegentlich können abgefallene Zettel durch diese wieder den entsprechenden Klebepunkten zugeordnet werden. Bei der genauen Analyse der Kollektaneen zum Kosmos zeigt sich aber, dass sich keineswegs für alle Stellen, an denen Klebstoffreste an Papieren zurückgeblieben sind, entsprechende Zettel finden, die ehemals dort angebracht waren. Einige der Klebestellen sind sozusagen ›verwaist‹, was darauf hindeutet, dass die Zettel, die an ihnen befestigt waren, gelöst und aus den Kollektaneen zum Kosmos entfernt wurden.

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SBB-PK IIIA Nachl. Alexander von Humboldt, Gr. K. 13, Nr. 15, Bl. 33a. Vergleiche zu Praktiken des Schneidens und Klebens von Schriftträgern auch den Beitrag von Sergej Rickenbacher in diesem Band. Vgl. zur Herstellung und zum üblichen Gebrauch von Siegeloblaten: Johann Georg Krünitz: Oblate. In: Oeconomische Encyclopädie. Allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft in alphabetischer Ordnung. Bd. 103. Berlin: Pauli 1806, 161–168.

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Ein anderes Indiz für Humboldts Papiervernichtung hängt mit einem weiteren Schreibwerkzeug zusammen, dem eine große Bedeutung zukommt: der Schere. Humboldt fügte an seine Manuskripte nicht nur Papiere an, er entfernte auch Teile von ihnen. Ganz ähnlich wie bei den zusammengeklebten Manuskripten finden sich diese aus- und abgeschnittenen Teile in einigen Fällen an anderen Stellen der Kollektaneen zum Kosmos – in anderen wiederum nicht. Letzteres deutet darauf hin, dass Humboldt die Ausschnitte weggeworfen hatte. Allerdings bleiben in dem Fall deutliche Indizien für Fehlstellen erhalten. Der Rest des Manuskripts, von dem der Ausschnitt angefertigt wurde, blieb erhalten. Das Ausschneiden ist damit eine Funktion der Tilgung. Von der Streichung unterscheidet sie sich graduell. Die Tilgungsgeste fällt deutlicher aus, denn es lässt sich nur noch feststellen, dass etwas getilgt wurde, nicht mehr, was getilgt wurde.

3. Eine Mappe mit Zetteln aus der Staatsbibliothek zu Berlin Es wurde bereits darauf aufmerksam gemacht, dass es bei Humboldt Ausnahmen von der notorischen Absenz des Weggeworfenen gibt. Einige der Schriftstücke, die bei ihm im Papierkorb landeten, erfuhren eine ›Wiedergeburt‹. Wiedergeburtshelfer war Johannes Seifert, Humboldts Kammerdiener. Seifert hatte einen exklusiven Zugang zu Humboldts Wohnung. Aus verschiedenen brieflichen Mitteilungen, auch von Angehörigen, geht hervor, dass Seifert zerrissene und in den Papierkorb geworfene Manuskripte Humboldts wieder aus diesem herausholte und aufbewahrte. Eigenen Angaben zufolge soll er über ›fünf Centner‹ solchen Materials besessen haben. Die Mengenangabe ist wahrscheinlich übertrieben. Sie könnte aber ein Hinweis darauf sein, dass Humboldt ein ausgeprägtes Wegwerfverhalten hatte. Würde die Mengenangabe Seiferts stimmen, dann müssten allerdings viele der von ihm ›geretteten‹ Papiere später verloren gegangen sein. Bis jetzt sind nur wenige hundert Gramm dieses Materials bekannt. Eine Spur zu ihnen führt in die umfangreiche Humboldt-Sammlung des Apothekersohns Arthur Runge, über dessen Leben recht wenig bekannt ist. Runge war ein besessener Humboldt-Sammler, der in seinem Wohnhaus in Berlin Lichterfelde ab den 1890er Jahren eine Art privates HumboldtMuseum einrichtete. In einem Artikel, der im Sommer 1940 im Lichterfelder Anzeiger erschien, berichtet eine Journalistin über einen Besuch der Sammlung und erwähnt dabei unter anderem eine Mappe mit zerrissenen und wieder zusammengeklebten Notizzetteln.15 Die Runge-Sammlung existiert heute indes nicht mehr. Als sich drei Jahre nach Erscheinen des Zeitungsartikels die Luftangriffe auf Berlin intensivierten, brachte Runge einen Teil seiner Humboldt-Sammlung nach Frankfurt an der 15

Vgl. Ilse Nicolas: Eine Humboldt Sammlung in Lichterfelde. In: Lichterfelder Anzeiger 197 (22. 8.1940).

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Oder, um sie dort in einem Banktresor zu sichern. Nach allem, was wir über das weitere Schicksal der Sammlung wissen, ist sie dort gegen Ende des Zweiten Weltkriegs verbrannt. Ob sich auch die Mappe mit den zerrissenen Zetteln unter diesen Dokumenten befand, ist fraglich. Denn in der Berliner Staatsbibliothek wird unter der Signatur Autogr. I/1889 eine Mappe mit etwa 230 Papierschnipseln und Manuskriptfragmenten aus Humboldts Hand verwahrt, bei denen es sich womöglich um die Runge-Mappe handelt. Die genaue Provenienz dieser Mappe ist jedoch unklar. Doch selbst wenn die Schnipsel nicht aus der Runge-Sammlung stammen, sind diese Zetteln mit einiger Sicherheit Dokumente aus Humboldts Papierkorb. Für diese Annahme spricht, dass die Zettel in vielen Fällen zerrissen und offenbar nachträglich mit Klebestreifen wieder zusammengefügt wurden. Daneben scheinen einige der Zettel zerknüllt und später wieder geglättet worden zu sein. Ein weiteres Indiz, dass die Dokumente aus Humboldts Papierkorb stammen, ist die große inhaltliche Heterogenität der Papiere. Neben Listen mit durchgestrichenen Arbeitsaufträgen oder Personennamen befinden sich unter den Dokumenten verworfene Gliederungen, etwa für die ab 1853 erscheinenden Kleineren Schriften, fragmentarische Briefe, Manuskripte, darunter Fragmente von Entwürfen zu unselbständigen Publikationen, die nie gedruckt wurden sowie ehemals an andere Dokumente angeklebte Notizzettel und Exzerpte – sprich, die ganze Bandbreite an Dokumenten, die Humboldt in seinen Kollektaneen zum Kosmos gesammelt hatte.16 Unter den Papieren sind auch einige Fragmente der vorhin erwähnten Kosmos-Vorlesungen, was wiederum die Annahme stützt, dass Humboldt die Vorlesungsmanuskripte nach ihrer Auswertung im Papierkorb entsorgte. Indes wirft der nachträgliche Umgang mit solchen von Humboldt eigentlich abgelegten Dokumenten ein Licht auf das ausgeprägte und weit verbreitete gesellschaftliche Bedürfnis, authentische Schriftstücke von Forschern, Dichtern und anderen bekannten Personen zu sammeln und zu archivieren. Dieses Bedürfnis, das sich erst kurz vor 1800 zusammen mit der Aufwertung der literarischen Handschrift ausprägte,17 erhebt diese Schriftstücke in den Status von Berührungsreliquien und ist Teil einer bis heute andauernden bildungsbürgerlichen Selbstbespiegelung.18 Welche Auswirkungen dieser Ahnenkult hat, lässt sich an den Schnipseln aus Humboldts Papierkorb ermessen, deren Bedeutung sich wegen ihrer Fragmentarität nicht mehr vollumfänglich ermitteln lässt. Für die quasireligiöse Verehrung

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Vgl. Dominik Erdmann: Verzettelte Gesamtschau. Alexander von Humboldts Notizen als Basis seines vernetzten Schreibens. In: Marcel Atze/Volker Kaukoreit (Hg.): ›Gedanken reisen, Einfälle kommen an‹. Die Welt der Notiz. Wien: praesens 2017, 155–178. Vgl. Christian Benne: Die Erfindung des Manuskripts. Zu Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit. Berlin: Suhrkamp 2015. Gerhard Kölsch (Hg.): Köstliche Reste. Andenken an Goethe und die Seinen. Frankfurt a.M.: Freies Dt. Hochstift 2002.

Dominik Erdmann: Kosmischer Müll

Humboldts war und ist es offensichtlich weniger entscheidend, was auf den Zetteln geschrieben steht, als der Umstand, dass die Schriftzeichen auf den Blättern aus seiner Hand sind. Die Sinnhaftigkeit solcher Sammelleidenschaft lässt sich kritisch hinterfragen – sie setzt uns heute aber in den Stand, Humboldts Wegwerfpraxis besser zu verstehen.

Abb. 2: Ein offensichtlich zerrissener und nachträglich zusammengeklebter Zettel mit Aufzählungen Humboldts zur Geologie.

SBB-PK IIIA Autogr. I/1889.

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Kreisläufe: Recycling, Serialisierung und Zerstörung von Schriftträgern

4. Ein Kachelofen in der Oranienburger Straße 67 Was in Humboldts Papierkorb landet, dürfte – sofern Johann Seifert es nicht zuvor herausgefischt hatte – dann in einem der Kachelöfen der Humboldt’schen Wohnung in der Oranienburger Straße 67 verfeuert worden sein. Ein solcher ist auf dem zweiten, eingangs bereits erwähnten Aquarell Eduard Hildebrandts abgebildet, das Humboldt in seiner Privatbibliothek zeigt.

Abb. 3: Eduard Hildebrandt: Alexander von Humboldt in seiner Bibliothek (Berlin, 1856).

Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin [ohne Signatur]. Bildarchiv preussischer Kulturbesitz.

Wie das Bild seines Arbeitszimmers ist auch dieses Teil von Humboldts Pflege seines Schriftstellerimages und dient seinerseits ebenfalls der internationalen Popularisierung. Humboldt verfasste zum Beispiel eine Beschreibung des Bildes und

Dominik Erdmann: Kosmischer Müll

seiner Inhalte, die gemeinsam mit der französischen und englischen Übersetzung19 zur Lithographie des Bildes vertrieben wurde und als Werbetext in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften im In- und Ausland erschien. Auch in seiner Bibliothek lässt sich Humboldt mit seinen, nun allerdings geöffneten Kollektaneenkästen, abbilden, umgeben von einem Sammelsurium aus Kunst- und Naturgegenständen, die das Zimmer als Wunderkammer erscheinen lassen. Der Kachelofen im rechten Bildmittelgrund, auf dem ein ausgestopfter Vogel steht, scheint noch einer der gewöhnlichsten und unscheinbarsten Gegenstände zu sein. Allerdings, so weiß es jedenfalls Alfred Dove, einer der ersten Biographen Humboldts, 1872 zu berichten, war ihm «,[t]ropische‹ Wärme, immer an 20° Reaumur, […] in seinen Zimmern [ein] Bedürfnis.«20 Sofern eine Zimmertemperatur von ca. 25° Celsius zu den gewohnten Arbeitsumständen Humboldts gehörte, war auch der Kachelofen ein selbstverständlicher Teil seiner Schreibszene. Belegen lassen sich solche Anekdoten natürlich nicht – genauso wenig wie die Verfeuerung der Papiere in den Öfen von Humboldts Wohnung. Allerdings stützt sich die Vermutung, dass er gelegentlich regelrechte Autodafés betrieb, auf seine eigenen Aussagen. In einem Brief an den Journalisten Gustav Schlesier vom 12. Oktober 1843 schreibt er: »Leider! habe ich, der ich freilich in unwichtigeren Verhältnissen mich bewegt, dieselbe Unlust an dem selbst erlebten, persönlichen. Nicht bloß, daß ich keine Papiere, derer wichtige durch meine Hände gegangen, aufgehoben, ja mein Hass gegen eigenes Aufsammeln ist so kindisch, dass ich stets alle Briefe (Schiller, Goethe, Wilhelm, Frau von Stael, Canning, Jefferson, Hardenberg mit inbegriffen) lustig verbrannt habe […].«21 An einer Autographensammlung der vielen tausend Schreiben, die ihn jährlich aus aller Welt und von den damals bedeutendsten Persönlichkeiten erreichten, war Humboldt nicht interessiert. Dieser Umstand sollte aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Humboldt ein ausgeprägtes Nachlassbewusstsein hatte. Briefe bedeutender Korrespondenten überreichte er nachweislich befreundeten Autographensammlern wie Karl August Varnhagen von Ense oder Josef Maria von Radowitz. In deren Sammlungen sind diese Schreiben erhalten geblieben. Von den zigtausenden Schreiben, die Humboldt erhielt, ist indes nur ein kleiner Teil überliefert. Nahezu ganze Korrespondenzen, beispielsweise die Briefe seines Sekretärs Eduard Buschmann hat Humboldt vernichtet, höchstwahrscheinlich zuerst

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Vgl. Alexander von Humboldt: Alexander von Humboldt in seiner Bibliothek nach einem Aquarell von Ed. Hildebrandt. Berlin, 1856, 3. www.deutschestextarchiv.de/humboldt_hildebrandt_185 6/3 (05.07.2022, 12:00). Karl Bruhns (Hg.): Alexander von Humboldt. Eine wissenschaftliche Biographie. Bd. 2. Leipzig: Brockhaus 1872, 476. SBB-PK, Abteilung Handschriften und Historische Drucke, Nachl. Gustav Schlesier, Mappe 4.

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in seinem Papierkorb und später in einem seiner Kachelöfen. Damit waren die Kachelöfen ein weiteres wichtiges Element zur Eindämmung der Papierflut, die Tag für Tag in Humboldts Berliner Wohnung anbrandete.22

5. Weiterverwendete Briefe und andere recycelte Materialien Humboldt warf Briefe, Manuskripte, Notizzettel und andere Dokumente, die ihn aus persönlichen oder wissenschaftlichen Gründen nicht interessierten, aber keineswegs nur weg oder verbrannte sie. In den Kollektaneen zum Kosmos sind auch Spuren des Papierrecyclings nachweisbar. Um nur einige Beispiele zu nennen: Es finden sich dort an verschiedenen Stellen Fragmente von an ihn gerichteten Briefen, deren weitgehend unbeschriftet gebliebene Rückseiten Humboldt zerschnitt, um die so gewonnenen Zettel für eigene Notizen oder Manuskriptzusätze zu nutzen. Über die Briefinhalte und Schreiber lässt sich aus diesen Fragmenten oft nur wenig erfahren. In einigen Fällen befinden sich auf den Rückseiten der Zettel Unterschriften, so dass wenigstens der Absender der Briefe identifiziert werden kann. Das ist bei einem Brieffragment des Astronomen Johann Franz Encke der Fall, dessen Rückseite Humboldt für eine Anmerkung über Pendelschwingungsmessungen von Christiaan Huygens benutzte, die er an eine Manuskriptseite für die Anmerkungen des ersten Bandes seines Kosmos anklebte.23 Wiederverwendete Papiere nutzte Humboldt aber auch als Notizzettel. Sie finden sich in den umfangreichen, gelegentlich über einhundert Blatt umfassenden Notizzettelkonvoluten und Exzerptsammlungen, die in fast allen Mappen der Kollektaneen zum Kosmos enthalten sind. Offenbar hatte Humboldt einen eher pragmatischen Umgang mit dem Recycling von Schreibmaterial. Er nutzte es bei Gelegenheit, weshalb sich solche Zettel überall nachweisen lassen, selbst unter den weggeworfenen Papieren in der vorhin beschriebenen Mappe, die mutmaßlich aus der Sammlung von Arthur Runge stammt. Der Grund, warum Humboldt gelegentlich Briefrückseiten zum Schreiben verwendet hatte, ist allerdings nicht klar. Ein naheliegendes Argument wäre, dass er durch das Weiterverwerten von Schriftträgern Papier und damit Kosten einsparte. Diesem Argument steht jedoch entgegen, dass er ansonsten einen großzügigen 22

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In seinem kurz vor seinem Tod am 15. März 1859 geschriebenen und in zahlreichen Zeitungen verbreiteten Ruf um Hülfe (die Berner Ausgabe zählt weltweit 84 Presseorgane, in denen die Notiz erschien) schreibt Humboldt, dass er im Jahr im Mittel 1600 bis 2000 Briefe zu den unterschiedlichsten Themen und mit diversen Anfragen erhielt. Vgl.: Alexander von Humboldt: A. v. Humboldt’s »Ruf um Hülfe.« In: Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen 67 (20.3.1859), ohne Seitenangabe. https://humboldt.unibe.ch/text/1859-xxx_Ruf_um_Huelfe001 (zuletzt abgerufen am 06.07.2022). Biblioteka Jagiellońska, Kraków, Nachlass Alexander von Humboldt, Bd. 5/1, Bl. 167.

Dominik Erdmann: Kosmischer Müll

Umgang mit Papier hatte. Anzeichen dafür, dass er gelegentlich oder dauerhaft unter Papiernot litt oder sich das von ihm verwendete Schreibpapier aus Kostengründen einteilen musste, lassen sich nicht nachweisen. Im Gegenteil beschriftete Humboldt einen Großteil seiner Manuskripte und Notizzettel nur einseitig. Und auch die Abschriften seiner Manuskripte, die er durch Eduard Buschmann anfertigen ließ, waren auf Humboldts Wunsch hin einseitig und in einer raumgreifenden Schönschrift geschrieben. Für diesen verschwenderischen Umgang mit der Ressource Schriftträger gab es natürlich einen programmatischen Grund: Humboldt konnte die einseitig beschriebenen Schriftstücke bei Bedarf mit der Schere zerteilen und neu arrangieren ohne Textverluste auf den Rückseiten herbeizuführen. Auch das Abschneiden von nicht mehr benötigten Textteilen, das sich an den überlieferten Manuskripten wiederholt nachweisen lässt und bereits thematisiert wurde, wurde so erst möglich. Die unbeschriebenen Rückseiten waren eine Voraussetzung für die in der Forschung immer wieder hervorgehobene Beweglichkeit seines Schreibens und die Vernetzung seiner Schriften. Diese Praxis hatte selbstredend einen höheren Papierverbrauch zur Folge. Ein Grund dafür, dass Humboldt sich diesen Umgang mit Papier leisten konnte, waren die im 19. Jahrhundert fallenden Papierpreise, infolge der um die Jahrhundertwende zunehmenden Mechanisierung der Papierproduktion.24 Dass er dennoch Papiere recycelte, bleibt aus dieser Hinsicht erklärungsbedürftig. Es waren indes nicht nur Manuskripte und Briefe von fremder Hand, die Humboldt wiederverwendet hatte, sondern auch eigenhändig verfasste Dokumente. An verschiedenen Stellen der Kollektaneen zum Kosmos finden sich auf den Rückseiten von Notizzetteln verworfene Briefentwürfe Humboldts, die unvermittelt abbrechen oder nur fragmentarisch erhalten sind. An anderer Stelle liegt ein Umschlag, den Humboldt wiederverwendet hatte und in dem er zuletzt eine Materialsammlung für den sechsten, nicht mehr realisierten Band seines Examen critique25 aufbewahrte. Die Mappe trägt auf der vorderen Umschlagsseite den Titel »Tables des matières des Sections«.26 Auf der rückwärtigen Innenseite dieser Mappe befindet sich aber ein weiterer, älterer Titel: »II Météorologie Thermomtre«. Die römische Zahl vor diesem Titel deutet an, dass es noch eine erste Mappe mit dem entsprechenden Titel gibt. Und tatsächlich befindet sich in Kasten fünf der Kollektaneen zum Kosmos eine Mappe mit der Aufschrift »I Météorologie Thermomtre«.27 Entsprechend ihrer

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Lothar Müller: Weisse Magie. Die Epoche des Papiers. München : dtv 2014, 198–200. Alexander von Humboldt : Examen critique de lʼhistoire de la géographie du nouveau continent et des progrès de lʼastronomie nautique au quinzième et seizième siècles. 5 Bde. Paris: Librairie de Gide 1836–1839. Biblioteka Jagiellońska, Kraków, Nachlass Alexander von Humboldt, Band 9/1, Bl. 308–506. SBB-PK, Abteilung Handschriften und Historische Drucke, Nachl. Alexander von Humboldt, gr. Kasten 5, Umschlag 36–52a.

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Kreisläufe: Recycling, Serialisierung und Zerstörung von Schriftträgern

Aufschrift enthält sie Materialien zu Barometer- und Thermometermessungen. Die für eine andere Sammlung wiederverwendete Mappe deutet demnach darauf hin, dass dieses Themengebiet ehemals umfangreicher gewesen sein muss, im Lauf der Zeit aber mehr und mehr Dokumente aus der Mappe »II Météorologie Thermomtre« verschwunden sind, bis die Dokumente alle in die erste Mappe passten und die zweite überflüssig wurde. Aus der Existenz dieser wiederverwerteten Mappe lässt sich der Schluss ziehen, dass sich die Kollektaneen zum Kosmos ihrem Umfang nach dynamisch entwickelt haben. Offensichtlich ordnete Humboldt in sie nicht nur sukzessive Materialien ein, sondern sonderte immer wieder auch Materialien aus ihnen aus. Wurden die Mappen umfangreicher, ergänzte er sie um weitere Mappen mit denselben Titeln und einer fortlaufenden Zählung. Nahm der Umfang hingegen ab, verschwanden sie oder wurden wie im dargelegten Fall für andere Materialsammlungen wiederverwendet. Doch nicht nur, was die Prozessualität von Humboldts Schreiben betrifft, stellen die recycelten Dokumente, die in den Kollektaneen zum Kosmos enthalten sind, eine Erkenntnisquelle dar. Auch hinsichtlich der Bandbreite seiner Interessensgebiete und Fähigkeiten geben die wiederverwendeten Papiere Aufschluss. Das lässt sich an einem Beispiel aus Humboldts graphischem Werk zeigen. Zeitlebens war Humboldt nicht nur ein Forscher und Schriftsteller, sondern auch ein versierter und ausgebildeter Zeichner und Graphiker.28 Bekannt ist, dass Humboldt schon früh Zeichnen lernte und bereits in Jugendjahren mit eigenen Arbeiten in den Berliner Akademieausstellungen vertreten war. In Ermangelung anderer Bildaufzeichnungsverfahren fertigte er während seiner amerikanischen Reise zahlreiche Zeichnungen eigenhändig an. In vielen Fällen waren sie die Vorlagen für die Drucke, mit denen er sein Reisewerk illustrierte. Während seiner Pariser Zeit in den 1810er und 1820er Jahren bildete sich Humboldt zudem über Jahre hinweg in der Ateliergemeinschaft von François Gérard, Marie-Eléonore Godefroid und Karl von Steuben im Zeichnen weiter. In Briefen dieser Zeit erwähnt er auch, Kopien nach Gemälden, beispielsweise von Nicolas Poussin, angefertigt zu haben.29 Nur sehr wenige solcher Zeichnungen sind erhalten geblieben – eine davon lediglich deshalb, weil Humboldt das Papier, auf dem er die Zeichnung angefertigt hatte, in der eben beschriebenen Weise recycelt hatte. Es handelt sich bei der Zeichnung um eine Kopie des Gemäldes »L’Amour et Psyché«, das François Gérard 1798 gemalt hatte und das 1822 aus dem Nachlass des Grafen Jean Rapp in den Louvre gelangte. Möglicherweise hatte Humboldt das Gemälde dort gesehen und eine grobe Kopie von ihm angefertigt. Zu einem späteren Zeitpunkt mag diese ihm nicht mehr be-

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Vgl. Alexander von Humboldt: Das zeichnerische Werk. Hg. von Dominik Erdmann und Oliver Lubrich. Darmstadt: wbg 2019. David Blankenstein/Benedicte Savoy: Kunst. In: Ottmar Ette (Hg.): Alexander von Humboldt Handbuch. Stuttgart: Metzler 2018, 183–192, hier: 184.

Dominik Erdmann: Kosmischer Müll

deutend genug erschienen sein, um als solche weiter aufbewahrt zu werden. Humboldt zerschnitt daher das rückseitig unbeschriftete Blatt und verwendete die Rückseiten für Notizen, die er mit anderen Zetteln zu kleinen Konvoluten zusammenklebte. Diese Konvolute hinterlegte er in verschiedenen Mappen seiner Kollektaneen und sie wurden erst im Zuge der Herausgabe seines zeichnerischen Werks wieder zusammengeführt. Nur weil Humboldt diese Papiere recycelt hatte, sind wir über seine Auseinandersetzung mit dem Werk seines Zeichenlehrers François Gérard informiert.

Abb. 4: Alexander von Humboldt: Amour et Psyché. Kopie nach einem Gemälde von François Gérard (ohne Datum).

SBB-PK, Abteilung Handschriften und historische Drucke, Nachl. Alexander von Humboldt, gr. Kasten 9, Nr. 21a Bl. 25v und Nachl. Alexander von Humboldt, gr. Kasten 5, Nr. 49a Bl. 19.

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Kreisläufe: Recycling, Serialisierung und Zerstörung von Schriftträgern

6. Die erkenntnisfördernde Funktion des Wegwerfens Abschließend lässt sich konstatieren, dass die geschilderten Spuren des Vernichtens von Geschriebenem und die Wiederverwendung von Papieren uns heute in die Lage versetzt, bestimmte Schlussfolgerungen über Humboldts Arbeitsweise zu ziehen, die wir sonst nur erahnen könnten. Das recycelte und auch das weggeworfene Papier haben in dieser Hinsicht ihr eigenes Erkenntnispotential. In Humboldts Fall lässt sich aber eine noch weitreichendere Schlussfolgerung ziehen: Das Recyceln und insbesondere das Wegwerfen von Papieren ist eine Basis für das Gelingen seiner Weltwissenschaft. Humboldts Blick war bekanntlich auf das Ganze der Natur gerichtet. Sein Ziel, von dem er selbst aber dachte, es nicht erreichen zu können, war es, das ganze Weltwissen der Menschen in seiner Geschichte und Gegenwart zu erfassen und seinen Leserinnen und Lesern als Totalität zu präsentieren. Bei diesem Anspruch liegt es zunächst nahe anzunehmen, Humboldt müsse zu diesem Zweck fortlaufend Papiere akkumuliert haben. Die Spuren der Papiervernichtung in den Kollektaneen zum Kosmos zeigen hingegen, dass das Entfernen und das Vernichten von Papieren für die Umsetzung seines Darstellungsanspruches ebenso bedeutsam waren wie das Sammeln von Informationen. Die Praxis und die Werkzeuge der Materialvernichtung hatten die Funktion, die Kollektaneen zum Kosmos auf die wesentlichen Informationen zu verdichten und auf diese Weise ein Schreiben über das Ganze der Welt überhaupt erst zu ermöglichen. Für das Gelingen seiner Weltbeschreibung hatte Humboldts Papierkorb einen ebenso hohen Stellenwert wie seine Federn, Tinten und Papiere, mit denen er diese Informationen herstellte und festhielt. Diese Funktion wurde umso wichtiger, je mehr Informationen sich aufgrund des sich rasant vermehrenden Weltwissens in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in seinen Kollektaneen zum Kosmos ansammelten. Eben dies lässt sich auch aus einem Brief erfahren, den Humboldt am 27. März 1852, kurz nachdem er den dritten Band seines Kosmos veröffentlicht hatte, an Christian Carl Josias Bunsen schrieb. Darin klagt er: »Nach der Vollendung meines rein astronomischen Bandes, der mir glänzendes Lob in einem schönen Briefe von Sir John Herschel zugeführt, habe ich, um den Druck des 4. und letzten Theils des Kosmos zu beginnen, von Pappkasten und Notaten-Registern umgeben, suchen müssen Herr der Materialien zu werden, die ich aufgehäuft, um den tellurischen Theil zu bearbeiten, wahre Säuberungen von einem Augias-Stalle bei dem beständigen Wechsel, den die naturhistorischen Wissenschaften erleiden.«30

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Briefe von Alexander von Humboldt an Christian Carl Josias Bunsen. Hg. von Ingo Schwarz. Berlin: Rohrwall-Verlag 2006, 146.

Dominik Erdmann: Kosmischer Müll

Um sich mit seinem Zettelkasten nicht zu verzetteln, musste Humboldt sein zentrales Arbeitsinstrument, die Kollektaneen zum Kosmos regelmäßig ausmisten. Sein Papierkorb war damit nicht allein ein pragmatischer Gegenstand, eine arglose ›Rundablage‹. Indem der Papierkorb die Informationsökonomie der Kollektaneen zum Kosmos aufrechterhielt, war er ein integraler Teil von Humboldts Schreibszene und letzten Endes ein erkenntnisförderndes Schreibinstrument. Über diese Bedeutung seines Papierkorbes war sich Humboldt offensichtlich bewusst. Denn anderenfalls hätte er ihn vermutlich nicht neben seinen weitaus berühmteren Kollektaneen zum Kosmos in dem ›treuen‹ Bild seines Arbeitszimmers verewigen lassen.

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Das UNIKAT in SERIE Die Autographensammlung als Ressource der Wissenschaftsgeschichte Julia Steinmetz

Im Jahr 1919 erreichte zahlreiche Wissenschaftler und Gelehrte ein Schreiben der Preußischen Staatsbibliothek mit ungewöhnlichem Anliegen. Es rief dazu auf, den Aufbau der Autographensammlung Darmstaedter zu unterstützen, die sich der Geschichte der Wissenschaften und Technik verschrieben hatte. Gesucht wurde handschriftliches Material von »Persönlichkeiten aus allen Gebieten der Wissenschaften, der Kunst und der Technik«, das »diese Sammlung nach jeder Richtung hin« ergänzen und zu einer »unentbehrliche[n] Fundgrube zur Geschichte der Wissenschaften« ausbilden sollte.1 Hinter der Anfrage stand das ambitionierte Projekt des Industriellen Ludwig Darmstaedter, durch die Anlage einer Sammlung von Autographen die Historisierung von Wissenschaften und Technik anzustoßen, deren Entwicklung zu Beginn des 20. Jahrhunderts nur unzureichend belegt war. »Das noch Vorhandene vor der Vernichtung oder weiterer Verzettelung«2 bewahrend war das zentrale Anliegen, »im Interesse späterer Zeiten für die Ansammlung und Aufbewahrung solcher für die Geschichte der Wissenschaften wichtigen Dokumente zu sorgen«3 . Gleichzeitig sollten »die Namen aller derer« festgestellt werden, »die in ihren Gebieten Hervorragendes geleistet haben«4 . Als Sammelobjekte fasste Darmstaedter Autographe ins Auge, die von einer wegweisenden Leistung kündeten, die

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Ludwig Darmstaedter an Eugen Stübler, 14.08.1919, Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Handschriften und Historische Drucke, Slg. Darmstaedter: Schriftwechsel ab 1910. K, o.P. Im Folgenden wird die besitzende Institution mit SBB-PK abgekürzt. Ludwig Darmstaedter/Julius Schuster: Die Dokumenten-Sammlung Darmstaedter der Preußischen Staatsbibliothek. Ihre Bedeutung für die Geschichte der Kunst und Wissenschaft. In: Der Kunstwanderer. Zeitschrift für alte und neue Kunst, für Kunstmarkt und Sammelwesen 1./2. Juliheft (1920), 419–421, hier: 419. Ludwig Darmstaedter an Max Weber, 02.02.1910, SBB-PK, Handschriften u. Hist. Drucke, Slg. Darmstaedter, 2g 1900: Max Weber, Bl. 3. Darmstaedter an Stübler, 14.08.1919.

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Kreisläufe: Recycling, Serialisierung und Zerstörung von Schriftträgern

aber zugleich in der Handschrift selbst als Unikat eine Spur dieser Leistung vermuten ließen. Dies konnten handgeschriebene Briefe, Notizen, Manuskripte, aber auch Lebensläufe sein, die der Sammler für die historische Forschung speichern wollte. Wie die Autographe zu einer Ressource der Wissenschafts- und Technikgeschichte organisiert wurde und welche Aufgabe der chronologischen Serie dabei zukam, ist Gegenstand dieses Aufsatzes. Am Beispiel der Sammlung Darmstaedter möchte ich aufzeigen, dass sich die frühen Anfänge der Wissenschaftsgeschichte im Spannungsverhältnis von ›Einzigartigkeit‹ und ›Serialität‹ entzündeten und auf spezifische Materialsammlungen als Ressourcen zurückgriffen.5 Eingebettet in das Feld historiographischer Bemühungen im Bereich der (Natur-)Wissenschaften an der Schwelle zum 20. Jahrhundert wird Ludwig Darmstaedters Sammelprojekt als materielle Voraussetzung wissenschaftshistorischer Forschung um 1900 untersucht, das sich zwischen den Polen des auratischen Autographen und der chronologischen Serie verortet.

1. Historiographische Projekte im 19. Jahrhundert und ihr Material Das Bemühen um eine Historisierung wissenschaftlicher Disziplinen war um 1900 nicht neu. Ab Mitte des 19. Jh. lässt sich jedoch ein erstarkendes Interesse beobachten. So erschienen historische Gesamtübersichten einzelner Disziplinen, die wie Hermann Kopps Geschichte der Chemie (1843–1847) »zur Hebung des wissenschaftlichen Standpunktes dieser Wissenschaft« beitragen wollten.6 Oder auch biographische Lexika, von denen Johann Poggendorffs Biographisch-literarisches Handwörterbuch zur Geschichte der exacten Wissenschaften (1863–1904) als das prominenteste gilt. Die Janus hatte sich als periodisch erscheinende Zeitschrift für Geschichte und Literatur 5

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An dieser Stelle sei auf Studien verwiesen, die sich der Geschichte (wissenschafts-)historiographischer Forschung bereits mit Blick auf ihre Orte, Praktiken und Materialität widmen. Exemplarisch: Rens Bod u.a.: Practical and Material Histories of the Humanities. In: History of Humanities 2/1 (2017), 1–2; Lorraine Daston (Hg.): Science in the archives. Pasts, presents, futures. Chicago: The University of Chicago Press 2017; Michael Hagner/Christoph Hoffmann (Hg.): Nach Feierabend 2018: Materialgeschichten. Zürich: Diaphanes 2018; Philipp Müller: Quellen sammeln, Geschichte schreiben. Zur Materialität historischen Wissens im 19. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 311/3 (2020), 603–632. Zum Begriff der ›Ressource‹, siehe u.a. Mitchell G. Ash: Wissenschaft und Politik als Ressourcen füreinander. Programmatische Überlegungen am Beispiel Deutschlands. In: Jürgen Büschenfeld (Hg.): Wissenschaftsgeschichte heute. Festschrift für Peter Lundgreen. Bielefeld: Verl. für Regionalgeschichte 2001; Roland Hardenberg/Martin Bartelheim/Jörn Staecker: The ›Resource Turn‹. A Sociocultural Perspective on Resources. In: Anke K. Scholz u.a. (Hg.): ResourceCultures. Sociocultural Dynamics and the Use of Resources – Theories, Methods, Perspectives. Tübingen: Universität Tübingen 2017, 13–23. Hermann Kopp: Geschichte der Chemie. 1. Theil. Braunschweig: Friedrich Vieweg und Sohn 1843, XIII.

Julia Steinmetz: Das UNIKAT in SERIE

der Medicin dem Ziel verschrieben, »geleitet vom Genius der Geschichte […] das Grab der Vergangenheit […] mit dem Schlüssel mühsamen Studiums, und […] besonnener Forschung«7 aufzuschließen, wie das Vorwort von 1846 deutlich macht. Für diese verschiedenen Ansätze wurden in der Regel gedruckte Schriften als »Hülfsmittel«8 herangezogen, also wissenschaftliche Publikationen, Nekrologe oder auch Gedächtnisreden. Handschriftliches Material wurde als Quelle kaum erwähnt und das Abfragen von »ausführlicheren Nachrichten über Lebende« zeigte laut Poggendorff wenig Erfolg, denn »die Meisten scheuen sich, nähere Umstände ihres Lebens an die Oeffentlichkeit zu bringen.«9 Zeigten Poggendorffs Abfragen von biographischem Material bis in die 1860er Jahre hinein schlechte Ergebnisse, sollte sich dies binnen weniger Jahrzehnte ändern. Um 1900 waren autobiographische Informationen aus ›erster Hand‹, die »authentische Nachricht«10 geben konnten, das zentrale Material, um die Historisierung der einzelnen Wissensfelder und die Herausgabe biographischer Nachschlagewerke voranzutreiben. Erhoben wurde der benötigte Materialkorpus mittels umfangreicher postalischer Abfragen, wie die Projekte des Lexikographen Franz Brümmer (1836–1923) und des Medizinhistorikers Julius Pagel (1851–1912) exemplarisch zeigen. Brümmers Vorwort im »Deutschen Dichter-Lexikon« steht paradigmatisch für den Befund, dass noch in den 1880er Jahren nur »sehr dürftige Notizen« von Schriftstellern vorlagen und für noch lebende Autoren nur »mangelhaftes biographisches Material«.11 Anliegen Brümmers war es daher, diese Leerstellen zu beheben und biographisches Material insbesondere noch lebender Personen zusammenzutragen. Durch schriftliche Abfragen erbat er Informationen zur Vita

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August Wilhelm Hentschel (Hg.): Janus. Zeitschrift für Geschichte und Literatur der Medicin 1 (1846), 13. Weiterführend zur Bedeutung der Gründung von Janus siehe Karl-Heinz Leven: »Das Banner dieser Wissenschaft will ich aufpflanzen«. Medizinhistorische Zeitschriften in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: Andreas Frewer (Hg.): Die Institutionalisierung der Medizinhistoriographie: Entwicklungslinien vom 19. ins 20. Jahrhundert. Stuttgart: Steiner 2001, 163–186. Hermann Kopp: Geschichte der Chemie, VII; Johann Christian Poggendorff: Biographisch-literarisches Handwörterbuch zur Geschichte der exacten Wissenschaften. Bd. 1. Leipzig: Johann Ambrosius Barth 1863, IV. Zur Bedeutung der Gedächtnisreden als genealogisches Material vgl. Anna Echterhölter: Schattengefechte. Genealogische Praktiken in Nachrufen auf Naturwissenschaftler (1710–1860). Göttingen: Wallstein 2012. Poggendorff: Biographisch-literarisches Handwörterbuch zur Geschichte der exacten Wissenschaften, IV. Gustav Hellmann: Repertorium der deutschen Meteorologie. Leistungen der Deutschen in Schriften, Erfindungen und Beobachtungen auf dem Gebiete der Meteorologie und des Erdmagnetismus von den ältesten Zeiten bis bis zum Schlusse des Jahres 1881. Leipzig: Engelmann, 1883, XIV. Franz Brümmer: Deutsches Dichter-Lexikon. Biographische und bibliographische Mittheilungen über deutsche Dichter aller Zeiten; unter besonderer Berücksichtigung der Gegenwart. Bd. 1. Eichstätt: Krüll 1876, III. Das Lexikon erschien zwischen 1876 und 1913 in drei Auflagen.

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Kreisläufe: Recycling, Serialisierung und Zerstörung von Schriftträgern

und autobiographische Schriften von Schriftsteller*innen, aber auch nachgelassene Dokumente der Autor*innen für sein Lexikonprojekt.12 Nach alphabetischer Ordnung zu Materialbänden gebunden stellten diese Zuschriften die Quellengrundlage für das lexikalische Projekt dar.13 Der Medizinhistoriker Julius Pagel14 hingegen setzte auf Fragebögen, die er für sein 1901 erschienenes Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte des 19. Jahrhunderts entwarf und an die betreffenden Personen versandte.15 Diese erfassten persönliche Lebensdaten, den beruflichen Werdegang sowie wissenschaftliche Publikationen und trugen die relevanten Informationen für die Arbeit am Lexikon als »Handschriften-Material«16 zusammen. Dabei nimmt der Fragebogen durch sein formularhaftes und standardisiertes Format starken Einfluss auf die Eintragungen.17 Gleichwohl stellten die Abfragen von biographischen Informationen und die damit einhergehende Anlage einer Materialsammlung18 aus losen Papierobjekten sowohl für Brümmer als auch für Pagel die Grundlage ihrer lexikalischen Projekte dar. Das Sammelprojekt Ludwig Darmstaedters stand ebenfalls im Kontext solcher Unternehmungen, nahm aber

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Zu Brümmers Projekt vgl. Gerhard Pachnicke: Der Nachlaß Brümmer in der Staatsbibliothek der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 11 (1967), 577–613. Lucia Hackers Studie über schreibende Frauen um 1900 zeigt eindrücklich, welches Potential diese Sammlung auch für heutige Arbeiten besitzt. So stellt der Materialkorpus einen »repräsentativen Querschnitt durch die schreibende und publizierende deutschsprachige Bevölkerung« dar, der Frauen wie Männer berücksichtigt, ebenso wie weniger bekannte Autor*innen. (Lucia Hacker: Schreibende Frauen um 1900. Rollen, Bilder, Gesten. Berlin: LIT 2007, 12.) Die Originale befinden sich als Nachlass Brümmer im Bestand der Abteilung Handschriften und Historische Drucke der Staatsbibliothek zu Berlin PK. Zur Rolle Julius Pagels für die Medizingeschichte siehe auch Heinz-Peter Schmiedebach: ›Bildung‹ in a Scientific Age. Julius Pagel, Max Neuburger, and the Cultural History of Medicine. In: Frank Huisman/John Warner (Hg.): Locating Medical History. The Stories and Their Meanings. Baltimore: John Hopkins University Press 2006, 74–94. Julius Leopold Pagel (Hg.): Biographisches Lexikon hervorragender Ärzte des neunzehnten Jahrhunderts. Berlin: Urban & Schwarzenberg 1901. Julius Pagel an Ludwig Darmstaedter, 24.10.1909, SBB-PK, Handschriften u. Hist. Drucke, Slg. Darmstaedter 3o 1875: Pagel, Julius Leopold, Bl. 7r . Das Formular wurde zuletzt in einem von Peter Plener, Burkhardt Wolf und Niels Werber herausgegebenen Sammelband in seiner Vielschichtigkeit untersucht: Peter Plener/Niels Werber/Burkhardt Wolf (Hg.): Das Formular. Berlin/Heidelberg: Springer 2021. Dass Sammlungen einen besonderen Stellenwert im Prozess der Wissensgenerierung einnehmen, verdeutlicht folgender Sammelband: Anke te Heesen/Emma C. Spary (Hg.): Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung. Göttingen: Wallstein 2001. In Bezug auf Autographensammlungen und ihre Bedeutung für die Editionswissenschaft vgl. Bodo Plachta: Schriftträger oder Textträger? Über das Sammeln von Autographen. In: Martin Schubert (Hg.): Materialität in der Editionswissenschaft. Berlin/NY: de Gruyter 2010, 78–88.

Julia Steinmetz: Das UNIKAT in SERIE

ganz eigene Dimensionen an. Denn obgleich ebenfalls handschriftliches Material sowie auch biographische Informationen in Form von Tätigkeitsberichten, Briefen oder Manuskripten abgefragt und gesammelt wurden, war für dieses Projekt ein weiterer Aspekt formgebend: Die Anlage der Autographe zur chronologischen Serie, die einen nach Wissensfeldern geordnet Gesamtüberblick hervorbrachte. Indem die Papierobjekte systematisch nach wissenschaftlichen Disziplinen sowie deren industriellen Anwendungsfelder geordnet wurden, transformierte sich die Sammlung von Autographen zur epistemischen Ressource und machte Wissenschaftsund Technikgeschichte im Material sichtbar.

2. Sammler und Sammlung Die Anfänge der Sammlung Darmstaedter lassen sich im Milieu der Berliner Sammelkultur der 1880er Jahren verorten, wo sie zunächst als private Autographensammlung angelegt wurde. In Berlin hatten ab den 1870er Jahren Privatsammler*innen rund um den Kunsthistoriker und Museumsdirektor Wilhelm von Bode damit begonnen, namhafte (Kunst-)Sammlungen aufzubauen und die Königlichen Museen durch Schenkungen zu unterstützen.19 Darunter war auch der chemische Industrielle und Projektemacher20 Ludwig Darmstaedter (1846–1927), der sich als Sammler europäischer Porzellane21 einen Namen machte und ebenfalls Autographe sammelte. Seine Autographensammlung trug zunächst Handschriften aller Art zusammen, um sich schließlich auf solche der Wissenschaften und Technik zu spezialisieren. 1907 an die Königliche Bibliothek zu Berlin gestiftet, erhielt sie den Status einer öffentlichen Sammlung und bezog 1914 als »Darmstaedter’sche Autographensammlung zur Geschichte der Wissenschaften und der Technik« schließlich eigene Räume in der Bibliothek. Auch nach der Schenkung nahm 19

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Zur Geschichte des Autographensammelns im Allgemeinen: Günther Mecklenburg: Vom Autographensammeln. Versuch einer Darstellung seines Wesens und seiner Geschichte im deutschen Sprachgebiet. Marburg: Stargardt 1963; Eckart Henning: Eigenhändig. Grundzüge einer Autographenkunde. Berlin: Stargardt 2006. Zur Geschichte der Autographensammlung Darmstaedter: Martin Hollender: Chemiker, Industrieller, Kunstmäzen, Universalstifter. Ludwig Darmstaedter und seine Dokumentensammlung in der Staatsbibliothek zu Berlin. In: Andrea Baresel-Brand (Hg.): Sammeln, Stiften, Fördern. Jüdische Mäzene in der deutschen Gesellschaft. Magdeburg: Koordinierungsstelle für Kulturgutverluste 2008, 157–196. Projektemacher definiert Markus Krajewski als »randständige Figuren, die an den Peripherien der etablierten Wissensproduktionen ihre Interventionen beginnen, von außen her in die Institutionen der Macht vorstoßen, um ihren unorthodoxen Ideen Geltung zu verschaffen.« (Markus Krajewski: Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch 2006, 16.) Zu Darmstaedters Porzellansammlung vgl. Ludwig Schnorr von Carolsfeld: Meisterwerke aus den Anfängen der Porzellankunst. In: Velhagen & Klasings Monatshefte 40/6 (1926), 653–656.

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Ludwig Darmstaedter als Mitglied des Kuratoriums eine vielseitige Funktion ein und erweiterte die Kollektion durch Ankäufe auf dem Autographenmarkt, aktiven Abfragen und Anschreiben sowie den Zugriff auf Aktenmaterial der Ministerien beständig.22 Zählte der Bestand im Jahr 1907 6.000 Autographe, war er bis 1927 auf knapp 170.000 angewachsen, darunter Handschriften des Physikers und Astrologen Isaac Newton, der Zoologin Marie von Chauvin und des Mediziners Rudolf Virchow.23 Auch bedeutende Nachlässe, wie der des Schriftstellers Gustav Freytag (1920), des Juristen Josef Kohler (1920) und des Physiologen Emil du Bois-Reymond (1924), konnten erworben werden. 1944 wurden die aktive Sammeltätigkeit und die Erweiterung des Bestandes eingestellt. Die Sammlung Darmstaedter zählt heute rund 250.000 Papierobjekte.

3. Quellen für die Wissenschaftsgeschichte Unterstützung fand das von Ludwig Darmstaedter initiierte Sammelprojekt und sein Aufruf zur Rettung handschriftlichen Materials von Personen aus Wissenschaft und Politik, aber auch Industrie oder Gesellschaft. Wissenschaftliche Vereine wie die Gesellschaft für Erdkunde oder die Deutsche Chemische Gesellschaft stellten Material zur Verfügung und Persönlichkeiten aus der Forschung, etwa der Mediziner Paul Ehrlich und der Mathematiker Gottlob Frege, schenkten Teile ihrer Korrespondenz und verfassten Tätigkeitsberichte.24 Aber auch staatliche Institutionen wie das Kultusministerium und die Friedrich-Wilhelm-Universität gewährten

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Wie das Sitzungsprotokoll vom 07.06.1909 festhält, bestand das Sammlungskuratorium aus dem Bibliotheksdirektor Adolph von Harnack, dessen Stellvertreter Paul Schwenke, Ludwig Darmstaedter und den Bibliothekaren Ludwig Stern und Emil Jacobs. (»Protokoll der Sitzung vom 07.06.1909 im Zimmer des Generaldirektors«, 07.06.1909, SBB-PK, Handschriften u. Hist. Drucke, Nachlass Darmstaedter Kiste 8, o.P.) Mehrheitlich fallen die Autographe auf männliche Personen, obgleich sich auch Handschriften von Frauen unter den Papierobjekten finden. Diese stammen vor allem von Protagonistinnen aus dem Bereich des Alpinismus, der Pädagogik und der Frauenrechtsbewegung. Das Anwachsen des Bestandes ist in den jeweiligen Jahresberichten der Preußischen Staatsbibliothek mit genauen Zahlen erfasst. Vgl. exemplarisch Jahresbericht der Preußischen Staatsbibliothek 1916–1920. Berlin 1922. Siehe hier das Akzessionsjournal der Sammlung Darmstaedter, welches das eingegangene Material verzeichnet und gleichzeitig auf die Person oder Institution verweist, die das Material abgab. (SPP-PK, Handschriften u. Hist. Drucke, Slg. Darmstaedter, Akzessionsjournal, 1911–1944.) Für Paul Ehrlich: SBB-PK, Handschriften u. Hist. Drucke, Slg. Darmstaedter 3a 1875: Ehrlich, Paul. Für Gottlob Frege: SBB-PK, Handschriften u. Hist. Drucke, Slg. Darmstadter H 1884: Frege, Gottlob.

Julia Steinmetz: Das UNIKAT in SERIE

Zugang zu ihren Dokumenten.25 Dennoch stieß die Sammeltätigkeit des keineswegs gewöhnlichen Projekts auf Widerstände. So drückte Max Weber 1910 seine Verwunderung darüber aus, dass eine »öffentliche Bibliothek sich mit Derartigem befassen will«26 und der Physiker Arnold Sommerfeld befand den »wissenschaftliche[n] Wert einer Autographensammlung«27 grundsätzlich für zweifelhaft. Albert Einstein indes stand 1911 ratlos vor der Frage, ob das »Material für das vergleichende Studium von Handschriften« gesammelt würde und ob es wichtig sei, »was auf das eingesendete Papier geschrieben wird?«28 Die Wahl des Sammelobjektes und die Ziele der Unternehmung waren also durchaus erklärungsbedürftig, wie aus diesen Zuschriften deutlich wird. Denn Autographe wurden im 19. Jahrhundert in erster Linie als beliebtes Sammelobjekt von Privatsammler*innen rege getauscht und angekauft, wodurch sich ein florierender Autographenmarkt etablierte.29 Ganz allgemein als »diejenige Schrift« bezeichnet, »welche mit eigener Hand des Verfassers geschrieben [wurde]«, versprachen Autographe vor allem ein hohes Maß an Authentizität.30 Mit Vilém Flusser kann das Schreiben als »eindringende, eindringliche Geste«31 beschrieben werden, die eine »ganze Dimension unseres Seins innerhalb der Welt in eine Form bringt«.32 Als Autograph verweist diese ›Form‹ einerseits auf den abwesenden Körper des Individuums, dessen »Lebensspuren«33 sich im 25

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Siehe auch hier das Akzessionsjournal. Darmstaedters Zugriff auf Archivbestände des Staatsarchivs wurde zunächst von den Ministern unterstützt, bis 1924 die Entnahme von Originalen aus Akten verboten wurde. Vgl. Kuratorium der Autographen-Sammlung Darmstaedter an den Minister für Handel und Gewerbe Staatsminister Sydow, 26.04.1911, GStA PK, I. HA Rep. 120, A I 2 Nr. 46 Bd. 2, o.P. und Kultusminister an Generaldirektor der Staatsbibliothek in Berlin, 19.03.1924, SBB PK, Handschriften u. Hist. Drucke, Slg. Darmstaedter, Akten & Nachträge, Akzessionslisten Nr. 1–69, Mappe »Akten 1911–1932«, o.P. Max Weber an Ludwig Darmstaedter, 31.01.1910, SBB-PK, Handschriften u. Hist. Drucke, Slg. Darmstaedter, 2g 1900: Weber, Max, Bl. 2. Arnold Sommerfeld an Ludwig Darmstaedter, 22.10.1910, SBB-PK, Handschriften u. Hist. Drucke, Slg. Darmstaedter F1d 1894: Sommerfeld, Arnold, Bl. 2. Albert Einstein an Ludwig Darmstaedter, 02.01.1911, SBB-PK, Handschriften u. Hist. Drucke, Slg. Darmstaedter F1e 1908: Einstein, Albert, Bl. 2. Exemplarisch für diese Sammelkultur, die sich um 1850 im deutschsprachigen Raum etablierte, stehen folgende Publikationen: Joseph Maria von Radowitz: Die Autographen-Sammlungen. In: Ders. (Hg.): Gesammelte Schriften. Bd. 1. Berlin: G. Reimer 1852, 409–440; Johannes Günther/Otto August Schulz: Handbuch für Autographensammler. Leipzig: Schulz 1856. Art. Autographum. In: Johann Heinrich Zedler (Hg.): Grosses vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Supplement 2. Halle/Leipzig 1751, Sp. 1051. Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie. Düsseldorf: Bollmann 1991, 39. Ebd. 41. Für Flusser gilt dies für das Schreiben mit der Feder wie für das Tippen mit der Schreibmaschine gleichermaßen, was jedoch den wesentlichen Aspekt der Individualität ausklammert. Stefan Zweig: »Die Welt der Autographe (Teil 1)«. In: Die Autographen-Rundschau 15 (1923), 159–161, hier: 161.

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Moment der Aufzeichnung im doppelten Sinne – als historischer Augenblick und unikale Handschrift34 – eingeschrieben haben. Gleichzeitig gelten Autographe als die »sichtbaren Reliquien des Geistes«35 und sind sprachliche Verkörperungen geistiger Leistungen, die zwischen Vergangenheit und Gegenwart oszillieren.36 Gleichzeitig wurden um 1900 Versuche unternommen, handschriftliche Studien auf wissenschaftliche Grundlagen zu stellen und die Graphologie als Wissenschaft zu etablieren.37 So war die Untersuchung der Handschrift als Indikator eines schöpferischen Geistes von Interesse, da man sich Rückschlüsse auf bestimmte Veranlagungen und den Ursprung von Genialität versprach. Andererseits kann ein verstärktes Interesse an Manuskripten und Arbeitsnotizen bekannter Persönlichkeiten beobachtet werden, die als vermittelnde Medien zwischen der geistigen Arbeit eines Individuums und seiner gedruckten Werke verortet wurden.38 Inspiriert durch diese Diskussionen betrachtete Ludwig Darmstaedter die Autographe als »Anschauungsmaterial«,39 das zwischen Gegenwart und Vergangenheit vermitteln kann. In Summe vereinigen sich die Unikate zu einer Repräsentation bedeu-

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Zur Handschrift siehe Sonja Neef: Abdruck und Spur. Handschrift im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Berlin: Kadmos 2008, 41–102; Stephan Kammer: Relikte als Reliquien? Die materialen Reste der Literatur um 1800. In: Kay Malcher u.a. (Hg.): Fragmentarität als Problem der Kultur- und Textwissenschaften. München: Wilhelm Fink 2013, 169–190, hier: 181–182; Urs Büttner u.a. (Hg.): Diesseits des Virtuellen. Handschrift im 20. und 21. Jahrhundert. Paderborn: Wilhelm Fink 2015. Günther/Schulz: Handbuch für Autographensammler, III. Stephan Kammer verweist auf die »synekdochisch gesetzte Präsenz insbesondere der Dichter und Denker in ihren Manuskripten« und »das Versprechen, darin nicht etwa einen medial vermittelten, partikularisierten, sondern unmittelbaren und totalen Zugriff auf den Urheber zu erhalten.« (Kammer: Relikte als Reliquien?, 186.) Für den deutschsprachigen Raum sind die Anfänge der Graphologie mit dem Namen Ludwig Klages verbunden. (Ludwig Klages: Handschrift und Charakter. Gemeinverständlicher Abriß der graphologischen Technik. Leipzig: Barth 1917) Zur Handschrift als Untersuchungsgegenstand der Individualität siehe: Stephan Kammer: Symptome der Individualität. Das Wissen vom Schreiben (1880–1910). In: Barbara Wittmann/Christoph Hoffmann (Hg.): Spuren erzeugen. Zeichnen und Schreiben als Verfahren der Selbstaufzeichnung. Zürich: Diaphanes 2009, 39–68. Die Graphologie als wesentlichen Bestandteil der Charakterologie untersucht Per Leo: Der Wille zum Wesen. Weltanschauungskultur, charakterologisches Denken und Judenfeindschaft in Deutschland 1890–1940. Berlin: Matthes & Seitz 2 2020. Dem waren bereits Diskussionen zum Umgang mit Dichternachlässen und deren Aufbewahrung vorausgegangen. Vgl. Kai Sina/Carlos Spoerhase (Hg.): Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750–2000. Göttingen: Wallstein 2017. Ludwig Darmstaedter, mt. Manuskript, o.D., SBB-PK, Handschriften u. Hist. Drucke, Slg. Darmstaedter Kiste 8, Bl. 1. Darauf geht auch Darmstaedters Mitarbeiter Julius Schuster ein: Julius Schuster: Autographensammlung und Wissenschaft. In: Antiquariat Altmann (Hg.): Autographen aus allen Gebieten. Beaumarchais, Beethoven, Chopin, Darwin, Goethe; Versteigerung: Montag, den 7. Mai 1923. Berlin: Josef Altmann 1923, 3–4.

Julia Steinmetz: Das UNIKAT in SERIE

tender Persönlichkeiten in ihrer Handschrift, die Geschichte (be)greifbar machen. Somit knüpfte Ludwig Darmstaedter den Wert der handschriftlichen Papierobjekte für die Erforschung der Wissenschaftsgeschichte an zwei Aspekte: 1) die Belegkraft des Autographen, die an die Handschriftlichkeit gekoppelt ist und 2) die physische Präsenz des Schriftträgers, die nach einer Ordnung verlangt.

4. Ordnen – Verwalten – Serialisieren Als fragmentarische Papierobjekte verfügen Autographe über eine materielle Beschaffenheit, die das Anlegen der losen Papiere zu Reihen und Stapeln geradezu herausfordert. Somit impliziert die Materialität der Autographe deren aktive Organisation, die aus einer ungeordneten Menge eine verwaltete Sammlung hervorbringt. Denn sie sind handhabbar, können zu vergleichenden Zwecken nebeneinander angeordnet oder in immer neue Zusammenhänge gebracht werden. In der Sammlung Darmstaedter verband sich mit dem Ordnungsgedanken nicht nur die Verwaltung der Autographe zum Zwecke der Aufbewahrung oder Nutzung. Gleichzeitig war die Organisation der losen Autographe ein systematisches »in-Reihe-Bringen [sic!]«40 von Wissenschaftsgeschichte im Material. Denn die Unikate, »von denen jedes selbstständig ist«, vereinen sich in der Sammlung zur Serie, die »zusammen ein ganzes bilde[t]« und einen Gesamtzusammenhang stiftet.41 Der polnische Epistemologe und Bakteriologe Ludwik Fleck hat die »Geschichte eines Wissensgebietes« als Konglomerat »aus vielen sich überkreuzenden und wechselseitig sich beeinflussenden Entwicklungslinien der Gedanken« beschrieben, »die in ihrem jedesmaligen Zusammenhang miteinander darzustellen wären«.42 Wie dieser Zusammenhang abzubilden wäre, führt er nicht weiter aus, doch verweist er auf die Darstellung im Miteinander. Übertragen auf die Sammlung Darmstaedter können die Autographe als materielle Stellvertreter eben jener, von Fleck beschriebenen, Entwicklungslinien verstanden werden, die in ihrer Summe zu einem »historische[n] Bild der Entwicklung der Wissenschaften«43 angeordnet wurden. Somit werden die Papierobjekte zu Repräsentanten eines historischen Moments, einer wissenschaftlichen oder technischen Errungenschaft, auf die sie stellvertretend verweisen. 40 41

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Gabriele Schabacher: Serialisieren. In: Heiko Christians u.a. (Hg.): Historisches Wörterbuch des Mediengebrauchs. Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2015, 498–520, hier: 501. Art. Serie. In: Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (Hg.): Deutsches Wörterbuch. Bd. X, Abt. I. Leipzig 1905 [Fotomechan. Nachdr. d. Erstausg., Bd. 16, 1984], Sp. 626. Vertiefend zur Etymologie der »Serie« siehe: Schabacher: Serialisieren, 498–501. Ludwik Fleck: Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiven [1935]. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 10 2015, 23. Ludwig Darmstaedter, hs. Manuskript, o.D., SBB-PK, Handschriften u. Hist. Drucke, Nachlass Darmstaedter Kiste 8, Bl. 1r .

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Abb. 1a und b: Sammlungssystematik [Ausschnitt].

Ludwig Darmstaedter (Hg.): Verzeichnis der Autographensammlung. Berlin: Stargardt 1909, 4–5.

Mit der ›Serie‹ drang außerdem ein Topos in das Sammlungsvorhaben ein, der im 19. Jahrhundert in vielen Bereichen virulent geworden war.44 Zum Ausdruck kam die »Produktivität der Serie«45 in der seriellen Industrie, im Medium der Zeitung, in wissenschaftlichen Experimentalreihen oder in künstlerischen Arbeiten.46 Damit verbunden waren unter anderem Gleichförmigkeit und Standardisierung, die Reihung oder Anordnung von Elementen und deren Verknüpfung. Charles Darwin

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Allgemein zur ›Serie‹ als Untersuchungsgegenstand: Benjamin Beil u.a.: Die Serie. Einleitung in den Schwerpunkt. In: Zeitschrift für Medienwissenschaft 7/2 (2012), 10–16; Schabacher: Serialisieren; Simon Rothöhler: Theorien der Serie zur Einführung. Hamburg: Junius 2020. Rothöhler: Theorien der Serie, 11. Zur Serialität in den Bereichen der Wissenschaft und der Kunst seien exemplarisch angeführt: Christine Blättler (Hg.): Kunst der Serie. Die Serie in den Künsten. München: Brill 2010; Nick Hopwood/Simon Schaffer/Jim Secord: Seriality and Scientific Objects in the Nineteenth Century. In: History of Science 48/3-4 (2010), 251–285; Hans-Jörg Rheinberger: Experimentelle Serialität in Wissenschaft und Kunst. In: Olaf Knellessen u.a. (Hg.): Serialität. Wissenschaften, Künste, Medien. Wien: Turia + Kant 2015, 68–77; Gerhard Scholtz (Hg.): Serie und Serialität. Konzepte und Analysen in Gestaltung und Wissenschaft. Berlin: Reimer 2017.

Julia Steinmetz: Das UNIKAT in SERIE

bezeichnete etwa die Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Organismen als »verzweigte Kette von Lebensformen«, deren vielfältige Varianten als dynamisch verzeitlichte Serie verstanden wurde, wie er in Entstehung der Arten ausführt.47 Das »Eindringen der Zeit«48 hatte die Vorstellungswelten verändert und kam in neuen Denkmodellen zum Ausdruck. In die Autographensammlung hielt die Serialität Einzug mit der Anwendung von Verwaltungspraktiken und der Einführung der Signaturenstruktur, die als Ordnung nur die Reihe kennt.49 Die Signatur transformierte die Handschrift als Unikat zu einer Nummer, hinter der sich dessen Authentizität und Materialität verbargen und in eine Ordnung aus Wissensgebieten übergingen: ›2a Philosophie‹ – ›2b Philologie‹ – … – ›F2 a3 technische Physik – Gas‹ – ›G1 wissenschaftliche Chemie‹.50 Das Liebhaberobjekt des 19. Jahrhunderts ging in einer solchen Serie auf, die als »Signum der Moderne«51 an industrielle Fertigung und serielle Verfahren denken lässt. Für die einzelnen Autographe bedeutete dies, in einer Mappe zu verschwinden und auf wenige Informationen reduziert zu werden, aus denen sich die Signatur generierte: Albert Einstein kondensierte zu ›F1e 1908: Einstein‹ und wurde der ›wissenschaftlichen Physik‹ zugeschrieben, Marie Curies Entdeckung von Radium verortet sich im Feld der ›wissenschaftlichen Chemie‹ unter ›G1 1898: Curie‹ und Max Weber ordnet sich mit der Signatur ›2g 1900: Weber‹ in die ›Nationalökonomie‹ ein (Abb. 1).52

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Charles Darwin: Charles Darwin, über die Entstehung der Arten im Thier- und Pflanzen-Reich durch natürliche Züchtung, oder, Erhaltung der vervollkommneten Rassen im Kampfe um’s Daseyn. Stuttgart: E. Schweizerbart’sche Verlagshandlung 1860, 309. Philipp Sarasin: Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, 133–186. Arthur O. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, 292. Zur Serie als ordnendes Muster vgl. Christine Blättler: Die Serie als Ordnungsmuster. In: Sarah Schmidt (Hg.): Sprachen des Sammelns. Literatur als Medium und Reflexionsform des Sammelns. Paderborn: Wilhelm Fink 2016, 205–217. Zur Signatur als Element einer Ordnungssystematik in Bibliotheken, die sich von der lokalen Verortung löst, um die jeweiligen Bücher direkt und als bewegliche Medien zu adressieren, siehe Markus Krajewski: ZettelWirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek. Berlin: Kadmos 2017, 39–42; Uwe Jochum: Kleine Bibliotheksgeschichte. Stuttgart: Reclam 2007, 85–88. Ludwig Darmstaedter (Hg.): Verzeichnis der Autographensammlung. Berlin: Stargardt 1909, 3–6. Weiterführend Jutta Weber: Die Sammlung Darmstaedter. In: Dies. (Hg.): Sternstunden eines Mäzens. Briefe von Galilei bis Einstein aus der Sammlung Ludwig Darmstaedter. Eine Ausstellung der Staatsbibliothek zu Berlin. Berlin 2008, 45–50. Beil u.a.: Die Serie. Einleitung in den Schwerpunkt, 10. Zur Aufschlüsselung des jeweiligen Signaturenkürzels: Darmstaedter: Verzeichnis der Autographensammlung, 3–6; und die jeweiligen Autographenmappen, SBB-PK, Handschriften u. Hist. Drucke, Slg. Darmstaedter F1e 1908: Einstein, Albert; SBB-PK, Handschriften u. Hist. Drucke, Slg. Darmstaedter G1 1898: (Sklodowska-)Curie, Marie; SBB-PK, Handschriften u. Hist. Drucke, Slg Darmstedter 2g 1900: Weber, Max.

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Jeder noch so kleine Autographenschnipsel wurde auf diese Weise in die Sammlung eingegliedert, die dem Diktum einer »systematische[n] Organisation und Totalität im Kleinteiligen« folgte.53 Physisch wurde die Mappe schließlich nach der Signaturensystematik in den Sammlungsschrank einsortiert, der Speicher- und Ordnungsbehälter in einem war und als ›wissenschaftlicher Apparat‹ bezeichnet werden kann.54 Das Leitsystem der Signaturen war jedoch nicht nur zur Navigation des Suchenden durch das Material angelegt. Die einzelnen Signaturen markierten gleichzeitig Ankerpunkte in Darmstaedters historiographischem Entwurf, welche die Taten von Persönlichkeiten innerhalb der historischen Serie verorten. Die Signaturenstruktur präsentiert sich dabei als chronologische und nach Wissensgebieten differenzierte Ordnung, welche die Autographensammlung als ein historisches Nebenund Aufeinander strukturiert. Unter dem Einfluss der Verwaltungspraktiken hatte eine Serienbildung eingesetzt, die aus isolierten historischen Daten eine »chronologische Reihenfolge«55 schuf und Geschichte gleich einem automatisierten Prozess erzeugte.

5. Von der Autographensammlung zur Geschichte Auf diese Weise zusammengetragen und durch die (Daten-)Verwaltungsstruktur aufbereitet, bildete die Autographensammlung die Ressource für die Publikation 4000 Jahre Pionier-Arbeit in den exakten Wissenschaften, die Darmstaedter 1904 gemeinsam mit René du Bois-Reymond herausgab und die erste umfangreiche Nutzung des Sammlungsmaterials darstellte (Abb. 2).56 Als Auflistung aneinandergereihter Informationsbruchstücke spiegelt sich hier das Bemühen, eine chronologische Ordnung in Entdeckungen und Innovationen aus Wissenschaft und Technik einzuführen, die sich in der Sammlung bereits abbildete. Besonders dicht reihen sich die Einträge für das 19. Jahrhundert aneinander und erzeugen eine detaillierte Abfolge verschiedenster Ereignisse.57 Die »in Form

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Krajewski: Restlosigkeit, 21. Anke te Heesen/Anette Michels: Der Schrank als wissenschaftlicher Apparat. In: Dies. (Hg.): auf/zu. Der Schrank in den Wissenschaften. Berlin: Akademie Verlag 2007, 8–15, hier: 8. René du Bois-Reymond/Ludwig Darmstaedter (Hg.): 4000 Jahre Pionier-Arbeit in den exakten Wissenschaften. Berlin: J. A. Stargardt 1904, II. Das Reihen von Serien als beziehungsstiftendes Moment kann zeitgleich auch in der Objektpräsentation der Museen beobachtet werden. Ebd. Eine zweite Auflage erschien 1908 unter dem Titel Ludwig Darmstaedters Handbuch zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik. In chronologischer Darstellung bei Julius Springer. Mehr als die Hälfte der chronologischen Auflistung fällt auf das 19. Jahrhundert. Die Zeitspanne 2650 v. Chr. bis 1799 fällt vergleichsweise dünn aus. (Du Bois-Reymond/Darmstaedter: 4000 Jahre Pionier-Arbeit.)

Julia Steinmetz: Das UNIKAT in SERIE

einer Tabelle« gegliederte Chronologie versteht sich vor allem als »Grundlage«, die in aller »Kürze eine allgemeine Übersicht gestattet«58 und weiterführenden Arbeiten als Basis dienen soll. Konstruiert aus einzelnen historischen Ereignissen, die ein Narrativ des naturwissenschaftlichen und technischen Fortschritts entwerfen, ist dieser historiographische Entwurf ganz der Idee eines »naturwissenschaftlichen Zeitalters«59 verschrieben.

Abb. 2a und b: 4000 Jahre Pionier-Arbeit in den exakten Wissenschaften [Ausschnitt].

René du Bois-Reymond und Ludwig Darmstaedter (Hg.): 4000 Jahre Pionier-Arbeit in den exakten Wissenschaften. Berlin: J. A. Stargardt 1904, 216–217.

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Ebd., II. Den Zusammenhang von Fortschritt und Naturwissenschaft fasst Werner von Siemens mit dem Begriff des »naturwissenschaftlichen Zeitalters«. (Werner von Siemens: Das naturwissenschaftliche Zeitalter. Vortrag gehalten in der 59. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte am 18. September 1886. Berlin: Carl Heymann 1886.)

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Der Autographensammlung Darmstaedter sind somit zwei zentrale Momente eingeschrieben: Sie möchte die Handschrift mit den Geistesleistungen einzelner Personen verbinden und als Serie ein historisches Gewebe von 4000 Jahren Pionierarbeit erzeugen. Sie ist Forschungsmaterial und historische Chronologie in einem. Die frühe Wissenschaftsgeschichte, so zeigt die Sammlung, folgte hierbei der Prämisse, das historische Narrativ durch die physische Ordnung hervorzubringen. Das Durchblättern der Autographenmappen gleicht dann dem Abtasten historischer Ereignisse, die sich in den Autographen als Schriftträger materialisiert finden. Im Moment der Serie verbanden sich diese Einzelereignisse schließlich zu einer »chronologischen Darstellung«60 , die aus schriftlichen Zeugnissen in Kleinformat bestand. Die Summe der Autographe war also die Voraussetzung zur Anlage der Sammlung als epistemische Ressource, die durch serielle Verfahren geformt, Wissenschaftsgeschichte aus dem Material heraustreten ließ. Dieses Potential ist der Sammlung Darmstaedter eingeschrieben, auch wenn es heute kaum noch eine Rolle spielt. Das Durchblättern und Durchschreiten des historischen Materials im Sammlungsraum bleibt heutigen Nutzer*innen verwehrt, die Nutzung beschränkt sich vielmehr auf einzelne unikale Papierobjekte.61 Nur noch selten blitzt die ursprüngliche Idee aus dem Material oder den Signaturen hervor und erinnert an eine frühe Wissenschaftsgeschichte, die vom Autographen aus gedacht wurde.

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Ludwig Darmstaedter (Hg.): Ludwig Darmstaedters Handbuch zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik. In chronologischer Darstellung. Berlin: Julius Springer 1908. Exemplarisch zeigte dies auch die Ausstellung »Sternstunden eines Mäzens. Briefe von Galilei bis Einstein aus der Sammlung Ludwig Darmstaedter«, die vom 22.02. bis 12.04.2008 in der Staatsbibliothek zu Berlin stattfand und vornehmlich Papierobjekte aus bekannter Feder oder von besonderer Kunstfertigkeit ausstellte. (Jutta Weber (Hg.): Sternstunden eines Mäzens. Briefe von Galilei bis Einstein aus der Sammlung Ludwig Darmstaedter. Berlin: Staatsbibliothek zu Berlin 2008)

Eugenische Publikations-Szene Wilhelm Ostwald zwischen Recycling und Veredelung Laura Basten

Das publizistische Walten Wilhelm Ostwalds (1853–1932) unter den theoretischen Vorzeichen der Schreibprozessforschung zu lesen, ist schon deswegen interessant, weil beides in einiger Spannung zueinander zu stehen scheint. Ostwald hatte sich um die Wende zum 20. Jahrhundert einen Namen als Mitbegründer der Physikochemie gemacht und erhielt 1909 den Chemienobelpreis für seine Arbeiten über die Katalyse.1 Zu diesem Zeitpunkt war er bereits von einer Professur an der Universität Leipzig zurückgetreten; 1910 wurde er auf Anregung Ernst Haeckels Vorsitzender des »Deutschen Monistenbundes« [DMB]. Wenig später gründete er mit den unternehmerisch umtriebigen Autoren Karl Wilhelm Bührer und Adolf Saager die »Brücke. Internationales Institut zur Organisierung der geistigen Arbeit«. Auf Grundlage des von Ostwald berechneten ›Weltformats‹2 wurden hier ab 1912 Vorschläge für die Gestaltung, Sortierung und Normierung aller Papiersachen ausgearbeitet – vom Flaschenetikett über das Buch bis hin zur Banknote. Der Brücke-Selbstverlag veröffentlichte in dem Zusammenhang zahlreiche Broschüren, in welchen außerdem die Pläne für eine ›Welt-Registratur‹ zur Erfassung und Kategorisierung des »gesamte[n] menschliche[n] Wissen[s]«3 in einem ›Weltarchiv‹ dargelegt wurden. Auf diese Weise sollte nicht zuletzt die »Formatfrage […] ein für allemal [Kursivierung L.B.] und zwar in zweckmäßigster Weise aus der Welt«4 geschafft werden, damit die »Geistesarbeiter«5 ihre Energie zukünftig nicht mehr sinnlos vergeuden müss-

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Wilhelm Ostwald: Über Katalyse. Stockholm: Imprimerie Royale. P.A. Norstedt & Fils 1910. Ostwald verband auf Georg Christoph Lichtenberg zurückgehende Berechnungen mit dem metrischen System, nahm also den Zentimeter als Ausgangspunkt. Nach dem Ersten Weltkrieg ergänzte Walter Porstmann die Weltformat-Berechnungen seines ehemaligen Vorgesetzten Ostwald um das metrische Flächenmaß und wurde so zum Begründer der DIN 476 Papierformate. Vgl. Markus Krajewski: Restlosigkeit. Weltprojekte um 1900. Frankfurt a.M.: Fischer 2006, 122. Karl Wilhelm Bührer/Adolf Saager: Die Welt-Registratur. Ansbach: Seybold 1912, 7. Wilhelm Ostwald: Die Weltformate I. Für Drucksachen. In: Ders./Karl Wilhelm Bührer/Adolf Saager (Hg.): Schriften über »Die Brücke«. Ansbach: Seybold 1911, unpaginiert 1r[ecto]. Ebd.

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ten. Er selbst habe, so Ostwald, im Laufe seiner »eigenen vielfältigen Autorentätigkeit […] niemals einen Grund einsehen«6 können, weshalb er gerade ein bestimmtes Format und »nicht irgendein anderes für [s]eine Sachen wählen sollte.«7 In den Schilderungen von Ostwalds Tochter Elisabeth Brauer stellt sich die väterliche Arbeitsweise freilich deutlich weniger flexibel dar: »Vom Papierkorb habe ich noch zu erzählen. Er enthielt große Mengen handgeschriebener Manuskripte. Mein Vater schrieb mit einer dunkellila Tinte […] in schöner, klarer Handschrift mit deutschen Buchstaben. Er benutzte Bogen in der Größe eines Schulheftes, aber quer. Die unbeschriebenen Rückseiten schätzten wir Kinder ungemein.«8 Erinnert wird hier keine kontingente, sondern vielmehr eine standardisierte, ortsgebundene und dabei bis in die Tintenfarbe hinein individualisierte Schreibszene. Ostwald, der zu diesem Zeitpunkt bereits seinen Landsitz »Energie« in Großbothen bei Leipzig bezogen hatte, besaß dort zwar ein Labor, widmete sich jedoch längst nicht mehr in erster Linie einem ›Schreiben im Forschen‹, wie es Christoph Hoffmann genannt hat.9 Was Ostwald und zeitweise die Brücke im Sinn hatten, war nicht weniger, als der gesamten Wissenschaftswelt die eigene Arbeitsweise, Ordnungs- und Nachlassstruktur zu oktroyieren. Die Brücke-Schriften lassen dabei durchaus den Schluss zu, dass mittels Affordanznormierung auch Schreibanlässe kategorisiert werden bzw. sich Schriftbilder einander angleichen sollten. So sah das Weltarchiv etwa die Abteilung »A: TEXTLICHES« mit der Untergruppe »I: Handschriftliches: a. veröffentlichte und ungedruckte Arbeiten – b. Auszüge (Zettelsammlung) – c. Briefe – d. Namenszüge«10 vor. Die Brücke meldete schon Ende 1913 wieder Konkurs an; Ostwald hatte zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits den Verlag Unesma gegründet und übernahm nun u.a. die Herausgabe der Vereinszeitschrift des DMB, die er in »Das Monistische Jahrhundert« [MJHR] umbenannte.11 Wenn ich für diesen Beitrag die von Uwe Wirth vorgenommene Erweiterung der ›Schreib-Szene‹ um eine ›Editions-‹ bzw. ›Druck-

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Ebd., 5. Ebd. Elisabeth Brauer: Erinnerungen an meinen Vater Wilhelm Ostwald. In: Mitteilungen der Wilhelm-Ostwald-Gesellschaft 1 2003, 34–57, hier: 35. Christoph Hoffmann: Schreiben im Forschen: Verfahren, Szenen, Effekte. Tübingen: Mohr Siebeck 2018. Vgl. hier insbesondere die Ausführungen zu Ostwalds Vorbild Ernst Mach, 160–162. Karl Wilhelm Bührer: Weltarchiv der Brücke. Abteilung Kleingraphik. München: Die Brücke 1912, 4. Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel: 11.04.1913. http://digital.slub-dresden.de/id399 46221X-19130411/20 (14.10.2022, 14:00).

Laura Basten: Eugenische Publikations-Szene

Szene‹ zur einer ›Publikations-Szene‹ zusammenfasse,12 dann, weil ich Ostwalds (Selbst-)Verlegertum als eine Art Kontrollzentrum auffasse, in dem die Beziehungen zwischen literaler und übertragener Rede bzw. theoretischer Äußerung und praktischer Ausführung bewusst im Unklaren gehalten sind. Nicht nur, wie Markus Krajewski schreibt, weil der »Projektemacher mit fiktionalen Elementen arbeitet[e], um das Visionäre gleichwohl greifbar erscheinen zu lassen«.13 Schon in der Dankesrede zum Nobelpreis beschrieb Ostwald seine »rein gedankliche oder begriffliche Leistung«14 der Katalysedefinition als eine größere, weil allgemeingültigere Errungenschaft als die Entdeckung von »konkreten Entitäten«.15 Seine Wissenschaftsauffassung beruhte wesentlich auf der Voraussetzung, dass einmal festgelegte Definitionen bzw. Normen keiner weiteren Überprüfung bedürften.16 Für eine »Zukunft, die wir so gesund und so gut wie möglich gestalten wollen«,17 sei es notwendig, so Ostwald, die »Zeugen einer ehrwürdigen Vergangenheit zu beseitigen«18 und den Geisteswissenschaften die ›Seele‹ auszutreiben. Mithilfe der beständigen Arbeit an vitalistischen Zukunftsvisionen wie dieser erschrieb sich Ostwald ironischerweise einen extensiven Nachlass. Wirths Analyse von Jean Pauls Roman Leben Fibels ist vor diesem Hintergrund ein geeigneter Bezugspunkt, wenn nicht nur die Frage danach gestellt werden soll, was ›Schreiben‹ ist und wie »es sich selbst reflektiert, thematisiert und problematisiert«19 , sondern wenn diese Frage, wie hier, auf das ›Publizieren‹ (von Selbstgeschriebenem) ausgeweitet werden kann. Wirth nimmt in Anlehnung an u.a. Friedrich Kittler »die Funktion Autor als Funktion Herausgeber«20 in den Blick. Die Besonderheit liegt demzufolge in der »doppelten Performativität des Rahmens« – Schreib-, Druck- und Editions-Szene sind »als Aufführung zugleich Ausführung von Rahmungsakten«.21 Zweifelsohne hatte Ostwald die Inszenierungsprinzipien nicht nur des Wissenschaftsbetriebs, sondern auch des Verlagswesens

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Uwe Wirth: Die Schreib-Szene als Editions-Szene. Handschrift und Buchdruck in Jean Pauls Leben Fibels. In: Martin Stingelin (Hg.): »Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum«. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München: Wilhelm Fink 2004, 156–174, hier: 158 [Kursivierung i.O.]. Krajewski: Restlosigkeit, 70. Julian Drews: Lebenswissen und Autobiographik. Santiago Ramón y Cajal und Wilhelm Ostwald. Berlin: Kadmos 2015, 135. Ebd. Wilhelm Ostwald: Die Pyramide der Wissenschaften. Eine Einführung in wissenschaftliches Denken und Arbeiten. Stuttgart/Berlin: J.G. Cotta’sche Buchhandlung 1929, 105. Ebd. Ebd., 104. Martin Stingelin: ›Schreiben‹. Einleitung. In: Ders. (Hg.): Säkulum, 7–21, hier: 15. Wirth: Editions-Szene, 157. Ebd.

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und der Politik seiner Zeit umfassend verinnerlicht: »[A]uch in Monarchien«22 würden heute die wesentlichen Entscheidungen durch Mehrheiten getroffen – die Reklame sei daher eine neue Form der Wissenschaft, mithilfe derer sich Kaufentscheidungen von Menschen auf ähnliche Weise beeinflussen ließen wie politische Wahlen. Der Absatz schließt süffisant: »Und der Inhalt dieses meines Buches ist eine fortgesetzte Werbung für die darin niedergelegten Gedanken.«23 Die Stelle stammt aus einem Text, den Ostwald durchgängig als »Zwiegespräch«24 zweier Figuren oder Stimmen konzipiert hatte, nämlich »DER SCHREIBER« und »DER LESER«. Die Rückfragen und Einwände, die der LESER wiederholt gegen die Ausführungen des SCHREIBERS hervorbringt, ähneln dann auch dem scheindemokratischen Programm einer Partei, welche überhaupt nur existiert, damit eine Wahl simuliert werden kann. Beide Figuren stammen nicht nur aus der gleichen Feder Ostwalds, sondern kommen auch auf Textebene stets dadurch zügig wieder ›überein‹, dass der LESER nach weiteren Ausführungen des SCHREIBERS bereitwillig eingesteht, eine bestimmte Sache so noch gar nicht bedacht zu haben. Das pseudo-dialogische Verfahren und die gattungstypische Textgestalt, dessen bzw. derer Ostwald sich auch in anderen Zusammenhängen bediente, modellieren dabei letztlich sein Folgsamkeitsideal. Lesern und Leserinnen des Gedruckten wird eine Kritikfähigkeit und Offenheit des Schreibers Ostwald suggeriert, die mit der inhaltlich vorgetragenen Normierungsprogrammatik unvereinbar ist. Die ›Rahmungsakte‹, die Wirth für einen literarischen Text betrachtet hat, werden in Ostwalds Verlag und den zugehörigen Publikationen also nicht nur vollzogen, um allen schriftstellerischen und editorialen Tätigkeiten das gleiche, überhistorische Schema aufzuerlegen. Sie erheben vielmehr einen umfassenderen gesellschaftspolitischen Gestaltungsanspruch, dessen Inszenierung sich von heute aus besehen nicht zuletzt entlang der Materialität der Schriftlichkeit freilegen lässt. So war über den Ersten Weltkrieg das Druckbild im Verlag Unesma politisch geworden. Ostwald, der einstige Verfechter von Arbeitsteilung und Internationalismus, machte nun für das Layout und auch den Produktionsprozess weitreichende Anpassungen: Anlässlich des Bayerischen Farbentags 1921 erklärte er, er werde seine Bücher fortan in einer modernisierten Frakturtype setzen lassen, um die darin enthaltenen Kenntnisse »dem Ausland vorzuenthalten«.25 Albrecht Pohlmann zufolge hatte Ostwald den Versailler Vertrag als Mittel der wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Aushungerung betrachtet, »weshalb Deutschland seinerseits wissenschaftliche Ergebnisse für sich behalten

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Ostwald: Pyramide, 146. Ebd., 145. Ebd., 7. Albrecht Pohlmann: Zwischen »ABC-Buch der Farbe« und »Farbenkommunismus«. In: Mitteilungen der Wilhelm-Ostwald-Gesellschaft 1 (2018), 8–25, hier: 11.

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und ausschließlich selbst ausbeuten«26 sollte. Tatsächlich war Goethe, Schopenhauer und die Farbenlehre bereits 1918 in einer Frakturschrift erschienen; weitere Bücher folgten.27 Ostwald wandelte sich mit der Gründung des Verlags nicht einfach nur selbst vom forschenden ›Schreiber‹ zum ›Autor‹.28 Aus heutiger Perspektive lässt sich die herbeigeführte Zentralisierung von Diskurs- und Gestaltungsmacht vielmehr als ein gewichtiger Bestandteil einer Art frühen Metapolitik deuten – »also einer sich philosophisch gebenden Lehre von der Politik, die jedoch so kommuniziert werden soll, dass sie als ›Gramscianismus von rechts‹ kulturelle Kommunikationsmuster bereits im vorpolitischen Raum verändert […].«29 Die seiner »Diktatur über das Papier«30 unterworfenen Schriftträger erweisen sich dem gegenüber und im Sinne des vorliegenden Bandes allerdings nicht selten als Ressourcen des Widerstands – etwa wenn einzelne Exemplare produktionsbedingt über das Weltformat hinausragen.

1. Normierter Abfall Ostwalds Programm des Energetismus bzw. energetischen Monismus kulminiert in der vielzitierten Formel des ›energetischen Imperativs‹: »Vergeude keine Energie, verwerte sie«.31 Dieser nahm abgrenzend Bezug auf Immanuel Kants kategorischen Imperativ. Ein ›Sittengesetz‹ jenseits einer »Grenze des Wissens«32 konnte es nach Ostwald nicht geben. Er lehnte jede Form von theologischer Ethik und Auslegungswissen rigoros ab und vertrat stattdessen eine naturwissenschaftlich hergeleitete »soziale Nützlichkeitsmoral«.33 Seine Überlegungen waren dabei von einer allumfassenden begrifflichen Aneignung und fortwährenden Überzeugungsarbeit begleitet. Eine Schriftenreihe Ostwalds, in der nur er publizierte, trug etwa den sprechenden Namen Monistische Sonntagspredigten. Aus heutiger Perspektive sind diese kleinformatigen, achtblättrigen Heftchen (auch) auf der Materialebene 26 27

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Ebd. Wilhelm Ostwald: Goethe, Schopenhauer und die Farbenlehre 1918, später: Die Harmonie der Formen 1922 sowie Die Farbschule. Eine Anleitung zur praktischen Erlernung der wissenschaftlichen Farbenlehre 1924. Jeweils Leipzig: Unesma. Wirth: Editions-Szene, 167. Vgl. auch Hoffmann: Schreiben, insb. 160–162 sowie 129–138. Micha Brumlik: Das alte Denken der neuen Rechten. https://bit.ly/3yDArME (zuletzt abgerufen am 14.10.2022). Krajewski: Restlosigkeit, 257. Wilhelm Ostwald: Der energetische Imperativ. Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft 1912, 85. Wilhelm Ostwald: Die wissenschaftlichen Grundlagen der Ethik. Monistische Sonntagspredigt Nr. 95. Leipzig: Unesma 1913, 302–303. Wilhelm Ostwald: Wissenschaftliche oder Gefühlsethik. In: Ders. (Hg): Das Monistische Jahrhundert 2/21 (1913), 584–587, hier: 585.

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ein besonders geeignetes Beispiel für die Verdunkelung, die in Ostwalds voraussetzungsreiches und teilweise erratisches Denken von vornherein einprogrammiert scheint: Seine Pläne zur Umgestaltung der Welt sind nicht zuletzt deswegen so schwer in ihrer vollen Tragweite zu erfassen, weil die unzähligen, häufig kurzen Beiträge eben auf verschiedene Zeitschriften und Heftchen verteilt sind. Das war freilich Sinn des zunächst von Bührer und Saager entwickelten, sogenannten Monographieprinzips: Die Normierung und Aufteilung von Papier und Wissen sollte die kombinatorisch-experimentelle Forschung befördern. Auf Einzelblätter bzw. Kleinpublikationen verteilt, erschien es bald auch Ostwald leichter, auf diese Weise »segmentierte Gedanken direkt miteinander zu vergleichen und gegebenenfalls Überflüssiges auszusondern […].«34 Mit Julia Kristeva ist ein solcher Vorgang aber auch als ein Prozess der Abjektion zu verstehen, also der Absonderung dessen »what disturbs identity, system, order«.35 Für Ostwald wird diese psychoanalytische Lesart dadurch umso plausibler gemacht, als dass er wiederholt körperlichen Ekel vor dem »wiederwärtigen Anblick«36 von unordentlichem Papier bzw. der »Unruhe der Zeichnungen«37 (im Vergleich zum Lichtbild) schilderte. Der Rückblick der Tochter auf den väterlichen Papierkorb verdeutlicht auch, wie verschwenderisch man sich Ostwalds Arbeit an der ›Energetik‹ vorzustellen hat. So erinnert sich Brauer an einen »beständigen Nachschub«38 an Blättern, die sich die Kinder zum Bemalen aus dem großen, frei zugänglichen Papierkorb neben dem Schreibtisch nehmen durften. Auch Grete Ostwald, die erstgeborene Tochter und posthume (!) Nachlassverwalterin Ostwalds, beschreibt den Inhalt als »unerschöpfliches Material«.39 Die Blätter scheinen dabei von Ostwald nicht zerknüllt oder zerrissen worden zu sein – womöglich auch deswegen, weil die Ehefrau, Helene Ostwald, zu kontrollieren pflegte, ob er nicht versehentlich ein »übersehenes Blatt, eine Briefmarke oder gar Geldscheine«40 aussortiert hatte. Weiterhin hatte Ostwald – der ja durchaus nicht nur mit Tinte und Malfarben, sondern teilweise immer noch mit Chemikalien hantierte – diverse Routinen für die Reinigung von Werkzeugen und Pinseln sowie der Verwertung von Farbresten, Schreibpapier und Zeitungsresten etabliert. Routinen, die er auch seinen Kindern vermittelte, mit dem Ziel, das Verworfene zumindest »nicht unschön fortzuwerfen«.41 In dieser ästhetisierten Durchgeformtheit trat selbst das von Ostwald Abgelegte für ihn nicht als etwas in 34 35 36 37 38 39 40 41

Krajewski: Restlosigkeit, 115. Julia Kristeva: Powers of Horror. An Essay on Abjection. New York: Columbia UP 1982, 4. Krajewski: Restlosigkeit, 104. Wilhelm Ostwald: Alte und neue Bücher. Festrede anlässlich der Fünfzigjahrfeier der Buchhandlung Gustav Fock GmbH. Leipzig: Fock 1929, 4v[erso]. Brauer: Erinnerungen, 35. Grete Ostwald: Wilhelm Ostwald. Mein Vater. Stuttgart: Berliner Union 1953, 43. Ebd., 106. Ebd., 117.

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Erscheinung, »which opposes the I«.42 Den Schilderungen Grete Ostwalds zufolge war der Vater überdies – editionswissenschaftlich ausgedrückt – ein Kopfarbeiter, der seine Schriften bei einem Spaziergang so weit wie möglich durchdachte und anschließend »ohne jeden Abfall«43 zu Papier brachte. Damit meint sie ausdrücklich nicht nur das Papier, sondern auch Überarbeitungsspuren auf dem Blatt. Betrachtet man mit Laura Moisi und über Kristeva hinaus die konkret historischen bzw. »sozialen Dimensionen des Abfalls«,44 so erfolgte die finale Abscheidung und Umwandlung von Material zu Müll typischerweise – und so auch hier – allerdings ohnehin erst unter den Händen der Hausfrau.45 Der Papierkorb diente in dieser Szene somit nicht nur der bürgerlichen Kindererziehung zur Reinlichkeit, sondern auch der Zementierung patriarchaler Macht. So wohlgeformt die von Ostwald verworfenen Ausführungen bzw. weggeworfenen Papiere gewesen sein mögen, sie wanderten doch zu seinen Füßen und mussten von den weiblichen Familienmitgliedern auch von dort wieder heraufgeholt werden. Beachtenswert ist außerdem, dass die Funktionen Autor, Herausgeber und Verleger aus heutiger Sicht kaum voneinander zu unterscheiden sind – womöglich auch deswegen, weil die den Beobachterinnen zugewiesenen Rollen bzw. damit verbundenen räumlichen Positionierungen die hierfür notwendigen Einblicke nicht erlaubten. Auf diese Weise lässt sich jedoch der Widerspruch zwischen dem erinnerten Kopfarbeiter, der ›ohne Abfall‹ schreibt, und einem sich nichtsdestotrotz beständig füllenden Papierkorb auflösen: Der Autor Ostwald mag makellose Manuskripte produziert haben, aber das Schreiben ist nicht die einzige Arbeit, die er – und im Übrigen die beiden Söhne, mit denen er den Unesma Verlag gegründet hatte –46 am Schreibtisch verrichteten. Zu »jene[n] performativen Inszenierungs- und Verkörperungsbedingungen, die für die editoriale Tätigkeit und den Akt der Publikation konstitutiv sind«,47 ließe sich demnach auch ›Männlichkeit‹ zählen. Noch als Marie Curie bereits den zweiten Nobelpreis – auf Ostwalds eigentlichem Fachgebiet, der Chemie – erhalten hatte, schrieb dieser, »daß die besonderen Arbeiten, die ein großer Mensch leistet, nur von Männern verrichtet werden, nicht von Frauen. Das ist ein erfahrungsmäßiges Naturgesetz.«48 Zusammenfassend lässt sich mit Wirth sagen: »Der Kontext, in dem die Direktive imprimatur! gegeben wird, ist die Editions-Szene, die den Akt des Druckens zu einem Teilaspekt des Akts der Publikation werden läßt«49 – sowie hier konkret eine Publizis42 43 44 45 46 47 48 49

Kristeva: Horror, 3. Ostwald: Vater, 50. Laura Moisi: Die Politisierung des Abfalls. Elemente einer Kulturtheorie häuslicher Müllentsorgung. Berlin/Boston: de Gruyter 2020, 93. Ebd., 51. Pohlmann: ABC-Buch, 17 Wirth: Editions-Szene, 158. Ostwald: Pyramide, 67–68. Wirth: Editions-Szene, 158.

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tik, die u.a. sicherzustellen gedachte, dass es ›gesunde‹, ›deutsche‹ Männer bleiben, die die (Druck)Anweisungen geben.

2. Energetismus: Effizienz und Interferenz Am Beginn all dieser Überlegungen steht ein Vortrag Ostwalds mit dem Titel Die Überwindung des wissenschaftlichen Materialismus, den er 1895 in Lübeck hielt und der unter anderem von Max Planck und Ludwig Boltzmann scharf angegriffen wurde.50 Die ›Lübecker Kontroverse‹ löste bei Ostwald eine massive psychische Krise aus, in deren Folge er sich hilfesuchend an einen Universitätskollegen wandte – den Mediziner und Professor für Psychiatrie Paul Flechsig.51 Dieser behandelte Ostwald bis 1896 und publizierte noch 1905 in dessen Zeitschrift Annalen der Naturphilosophie.52 Für die »Umwertung des Verhältnisses der beiden Konzepte von Materie und Energie«53 scheint Flechsig nicht unerheblicher Impulsgeber gewesen zu sein. Erwähnenswert ist außerdem, dass Flechsig bis kurz zuvor der behandelnde Arzt von Daniel Paul Schreber gewesen war. Dessen erstmals 1903 in einem Leipziger Kleinverlag erschienenen Buch Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken entlehnte Friedrich Kittler den Terminus »Aufschreibesystem«54 sowie damit verbundene Ausführungen. Ostwalds ›Aufschreibesystem‹ und seine rhetorischen Strategien sind als solche bisher kaum untersucht – ebenso wenig wie seine herausgeberischen Entscheidungen. Wie fein ins Detail dabei zu gehen wäre, zeigt eine Änderung kurz nach Ostwalds Übernahme der Herausgeberschaft des MJHR. Dieses trug zunächst noch den Vorgänger-Untertitel »Zeitschrift für wissenschaftliche Weltanschauung und Kulturpolitik«, ab dem 15. April 1912 lautete dieser »Zeitschrift für wissenschaftliche Weltanschauung und Weltgestaltung«. Auffällig ist neben der programmatischen Expansion die Art und Weise, mit der Ostwald die Änderung des Untertitels gleichsam scheinthematisierte. So enthielt das erste MJHR nach der Umstellung einen Beitrag mit dem Titel DER TITEL UNSERFR [!] ZEITSCHRIFT, in welchem Ostwald allerdings nicht auf den Untertitel, sondern lediglich auf den Unmut einiger Vereinsmitglieder den neuen Haupttitel betreffend einging, die darin einen »Mangel

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Drews: Autobiographik, 142. Zu einem Abriss der Position, die Ostwalds Energetismus vor dem Hintergrund von Materialismus- und Ignorabimus-Streit einnahm, vgl. ebd. 143–145. Krajewski: Restlosigkeit, 68. Paul Flechsig: Hirnphysiologie und Willenstheorie. In: Wilhelm Ostwald (Hg.): Annalen der Naturphilosophie 4 (1905), 475–498. Drews: Autobiographik, 144. Daniel Paul Schreber: Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken nebst Nachträgen. Berlin: Kadmos 1995, 92.

Laura Basten: Eugenische Publikations-Szene

an Bescheidenheit« ausgedrückt sahen.55 Die hier nur angedeuteten Konflikte zwischen DMB und Ostwald, die 1915 in dessen Rücktritt mündeten, lassen sich bereits durch einen flüchtigen Blick auf das Cover erahnen (Abb. 1).

Abb. 1: Das Monistische Jahrhundert 2/21 (1913)

In der Kombination aus Schriftgröße und Platzierung ergibt sich hier beinahe eine Gleichwertigkeit zwischen dem Namen des Herausgebers bzw. Vorsitzenden sowie des Vereins- bzw. Publikationsorgans, in dessen Dienst dieser eigentlich zu stehen hätte. Die ›Weltgestaltung‹ Ostwalds ist nicht einfach nur anankastisch, sondern autoritär. In diesem Zusammenhang ließe sich auch auf den Satzfehler »UNSERFR« zurückkommen (Abb. 2) und mit Thomas Rahn über die »hermeneutische […] Relevanz detailtypographischer Störmomente«56 im Sinne einer »semantische[n] Inter55 56

Wilhelm Ostwald: DER TITEL UNSERFR ZEITSCHRIFT. In: Ders. (Hg.): Das Monistische Jahrhundert 1/2 (1913), 63f. Thomas Rahn: Gestörte Texte. Detailtypographische Interpretamente und Edition. In: Wolfgang Lukas u.a. (Hg.): Text – Material – Medium. Zur Relevanz editorischer Dokumentationen für die literaturwissenschaftliche Interpretation. Berlin/Boston: de Gruyter 2014, 149–171, hier: 150 [Kursivierung i. O.].

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ferenz«57 mit dem Text nachdenken: Was auf eine Hand zurückzuführen ist, die im Setzkasten zufällig danebengegriffen bzw. sich hier möglicherweise schon an einer Satzmaschine vertippt hat, wird lesbar als Hinweis auf (fehlgeschlagene) Gruppenaushandlungs- wie Kooperationsprozesse sowie nicht zuletzt als Erinnerung an die Widerstandskraft des Einzelnen bzw. marginalisierter Gruppen.

Abb. 2: Das Monistische Jahrhundert 1/21 (1913), Seite 63.

Das gilt umso mehr, als hier ein im Plural stehendes Possessiv auseinander zu brechen beginnt und damit Ostwalds übergeordneter Programmatik ›konkret‹ zuwiderläuft: »[…] individuality means limitations and unhappiness«58 erklärte er schon 1906 und konnte auch insofern bei Kriegsbeginn nahtlos zur militaristisch-nationalistischen Einschwörung ansetzen: »Während bei den Franzosen und Engländern die persönliche Freiheit am höchsten steht«, paraphrasiert ein mitschreibender und nur mit Initialen als Autor in Erscheinung tretender Monist eine Rede Ostwalds vor der Hamburger Ortsgruppe des DMB am 6. Oktober 1914, »haben wir Deutsche die höhere Stufe der Organisation dadurch erreicht, daß hochentwickelte Persönlichkeiten sich zu gemeinsamer Arbeit zusammenschlossen. So ist z.B. das 42cm-Geschütz ein sichtbarer Beweis für die Wirkung der organisierten Wissenschaft.«59 Bemerkenswert ist die Freiwilligkeit bzw. zumindest zielgerichtete Aktivität, die in der Rede vom Zusammenschluss der ›hochentwickelten‹ Persönlichkeiten mitschwingt und in krassem Gegensatz zu jenen Konstellationen und Bedingungen steht, unter denen sich Menschen begegnen, die Waffen produzieren oder auf andere Menschen richten müssen.60 57 58 59 60

Ebd., 153. Wilhelm Ostwald: Individuality and Immortality. The Ingersoll Lecture. Boston/New York: Cambridge UP 1906, 46. G. H.: Deutschlands Zukunft. In: Wilhelm Ostwald (Hg.): Das Monistische Jahrhundert 29/30 (1914), 620–624, hier: 621. Ariane Tanner hat zurecht darauf hingewiesen, dass die »hochgradige[n] Ambivalenz der politischen Position Ostwalds während des Ersten Weltkriegs« noch nicht ausreichend unter-

Laura Basten: Eugenische Publikations-Szene

Insofern stehen Satzfehler, auch stellvertretend für solche Dynamiken, in einem Zusammenhang mit den Arbeitsbedingungen der Setzer*innen: Sie weisen auf Eile genauso zurück wie sie als Spurenelemente der Arbeitsverweigerung bzw. Einwand gegen die zügellose Optimierung von Arbeitsabläufen gelesen werden können. Ostwald war etwa Verfechter des sich in dieser Zeit zunehmend durchsetzenden Taylorismus, den er als »Wissenschaftliche Betriebsleitung« bezeichnete.61 Auch in diesen Ausführungen wurde theoretisch auf die Optimierung einer Gesamtheit aller technischen Betriebe abgezielt. In der Praxis scheiterten bereits kleinere Vorhaben auch an Ostwalds vorauseilender Regulierungswut. Seine Dauerpension »Kloster Unesma« war auch deswegen ein Misserfolg, weil die von Ostwald verfassten Statuten eine Einteilung der Bewohner in drei Gruppen vorsahen: Nur wer bestimmte Geldbeträge ins Kollektiv eingebracht hatte, sollte seine Arbeit frei auswählen können, während die dritte Gruppe gegen Kost und Logis zu erledigen hatte, was sonst niemand übernehmen wollte.62 Das wirkt auch in der Unveränderlichkeit der Einteilung beinahe wie ein Eingeständnis, dass es eben doch nicht ausschließlich die »Maschinen und Mechaniken [sind], die uns die Drecksarbeit abnehmen.«63 Es war dieses Menschenbild und das damit eng verbundene, antihumanistische Bildungsideal,64 das zu einem der größten Eklats in Ostwalds Publikationsgeschichte führen sollte. Unter den eingangs erwähnten Büchern, die nach dem Ersten Weltkrieg in Fraktur gesetzt wurden, war auch eine Farbfibel, auf deren Grundlage Ostwald eine eigene Didaktik ausgearbeitet hatte.65 Als er begann, an

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sucht ist. Vgl. Ariane Tanner: Die Mathematisierung des Lebens. Alfred James Lotka und der energetische Holismus im 20. Jahrhundert. Tübingen: Mohr Siebeck 2017, 45f. Seither ist erschienen Christoffer Leber: Arbeit am Welträtsel. Religion und Säkularität in der Monismusbewegung um 1900. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, dort insb. 142–143, 177–180, 197–199. Darüber hinaus warten zahlreiche Texte Ostwalds auf genauere Auswertung, so etwa die Schrift »Patriotismus und Internationalismus«. Ostwalds übersteigerter Kulturexpansionismus, der u.a. dort zum Ausdruck kommt, ist meines Erachtens von Anfang an nur die eine Seite der Medaille: Bereits 1900 war Ostwald eigeninitiativ an die BASF herangetreten und hatte den Verantwortlichen sein Verfahren zur Synthese von Ammoniak angeboten, weil er u.a. seit Ende des Salpeterkriegs 1884 fürchtete, Deutschland könnte es zukünftig an dem für die Sprengstoffherstellung zentralen Rohstoff mangeln. Vgl. Jeffrey Allen Johnson: Die Macht der Synthese. In: Werner Abelshausen (Hg.): Die BASF. Eine Unternehmensgeschichte. München: C.H. Beck 2003, 128 sowie Wilhelm Ostwald: Patriotismus und Internationalismus. Monistische Sonntagspredigt Nr. 93. Leipzig: Unesma 1913. Wilhelm Ostwald: Wissenschaftliche Betriebsleitung. Monistische Sonntagspredigt Nr. 86. Leipzig: Unesma 1913. Victor Noack: Kloster Unesma. In: Heinrich Ilgenstein (Hg.): Die Gegenwart 18 (1913), 275–279, hier: 278. Friedrich Kittler: Philosophien der Literatur. Berliner Vorlesung 2002. Berlin: Merve 2013, 34. Leber: Welträtsel, 97. Vgl. Anm. 27.

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Schulen dafür zu werben, seine Materialien als Lehrstoff einzusetzen, regte sich massiver und letztlich erfolgreicher Protest sowohl im Werkbund als auch am Bauhaus.66 Paul Renner kommentierte einige Jahre später: »Ich wünschte, daß wir kein Wort mehr zu verlieren brauchten über das allzu simple Rezept Ostwalds […]. Es hat deshalb im Gewerbe einen so großen Schaden angestiftet, weil es systematisch verhindert, daß auch einmal die blinde Henne ein Korn findet. […] Wer sich um gar keine Regel kümmert, kann doch wenigstens durch Schaden klug werden. […] Und so ist doch wenigstens der Anfang gemacht zu einer persönlichen Erfahrung.«67 Was Renner hier sprichwörtlich einfordert, ist eine voraussetzungslose Orientierung am lernenden Individuum. Vor diesem Hintergrund ließe sich mit Rosemarie Garland-Thomson im Sinne eines »intense visual exchange that makes meaning«68 auf eine weitere Lesart der ›UNSERFR-Stelle‹ bestehen: Im Jahr 1906 fand der Behinderungsbegriff erstmals »Eingang in die sozialpolitische Terminologie«.69 Als die »erste Zählung jugendlicher ›Krüppel‹«70 durchgeführt wurde, lag ebendieser Verzeichnung die Definition von einem »in dem Gebrauch seines Rumpfes oder seiner Gliedmaßen behinderte[n] Krank[en]« zugrunde.71 Bereits die Maßnahmen der im Deutschen Kaiserreich zu dieser Zeit entstehenden sogenannten ›Krüppelfürsorge‹ lassen erahnen, dass mit dieser Definition eine Einschätzung der Tauglichkeit zum Arbeiten einherging.72 Ruft man sich die Begriffsanatomie des (lateinischen) Alphabets in Erinnerung, nach der die horizontale Linie bei Großbuchstaben auch als ›Arm‹ bezeichnet wird, so ließe sich indes ebenso gut überlegen, ob in dem – weiterhin problemlos lesbaren – Wort UNSERFR an dieser Stelle nicht sehr wohl zweimal das ›E‹ enthalten ist – und eines davon eben (›nur‹) einen Arm hat.

3. Gehirn und ›Geniologie‹ Ostwald überführte die vorgestellte Verbindung von Normierung und Nützlichkeit in eine ›Geniologie‹, die er als die »alleroberste Wissenschaft«73 bezeichnete. Er ar66 67 68 69 70 71 72 73

Drews: Autobiographik, 246–247. Paul Renner: Praktische Vorschläge zum Farben-Unterricht. In: Walter Riezler (Hg.): Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit 14 (1929), 396–398, hier: 396. Rosemarie Garland-Thomson: Staring: How We Look. New York: Oxford UP 2009, 9. Anne Waldschmidt: Disability Studies. Eine Einführung. Hamburg: Junius 2020, 26. Ebd., 25. Ebd. [Kursivierung i.O.] Ebd., 26. Ostwald: Imperativ, 111.

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beitete in diesem Zusammenhang auf eine klar umrissene Gesellschaftsordnung hin: »Die Entstehung […] von Führern und Geführten ist ein naturgemäßer und notwendiger Prozeß. Auf ihm beruht die Entwicklung unserer Kultur.«74 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Ostwalds Text »Genie und Vererbung« von 1911, in welchem er die Thesen von Francis Galton – der Titel ist unverkennbar eine Anspielung auf dessen Buch »Hereditary Genius« – mit Überlegungen zum Energetismus zusammenzuführen suchte.75 So wird etwa der dort unveränderlich gedachte Abstand zwischen ›Genie‹ und ›Rest‹ nach Ostwald durch die »durchschnittliche[n] Gleichheit der durch ein Menschenhirn verarbeitbaren Energiemenge«76 berechenbar. Spiegelbildlich lassen sich die Druckerzeugnisse des Verlag Unesma insofern nicht trotz, sondern aufgrund der Normierungsprogrammatik als eine Art materialsymbolische Philosophenherrschaft lesen. Es sind nämlich weitgehend die tagesaktuellen Debatten und vorläufigeren Einlassungen, die in der Masse der normierten und immergleich gestalteten Kleinformate und Hefte aus Wegwerfmaterial untergebracht sind. Den (Selbst-)Biographien der wissenschaftlichen und selbstredend männlichen, weißen Genies sind üppig ausgestattete, durch u.a. Prägungen veredelte und ganz unzweifelhaft auf Überdauern angelegte Prachtbände gewidmet. Das gilt beispielsweise für Bücher über Auguste Comte,77 Ernst Haeckel78 oder Johann Wolfgang von Goethe,79 auch die 1909 gegründete Reihe Große Männer. Studien zur Biologie des Genies passt in dieses Schema.80 Ostwalds zweifelsohne vorhandenes Verständnis der Zusammenhänge zwischen Ausstattung, Wertigkeit und jenen Mechanismen, die Annette Gilbert als »literarische Werkpraxis«81 zusammengefasst hat, zeigt sich nicht zuletzt in dem Umstand,

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Wilhelm Ostwald: Die Abweichungen des Einzelnen. Monistische Sonntagspredigt Nr. 96. Leipzig: Unesma 1914, 304. Wilhelm Ostwald: Genie und Vererbung. In: George Sarton (Hg.): ISIS. Revue consacrée a l’histoire de la science 2 (1913), 208–214, hier: 208. Ebd., 209. Wilhelm Ostwald: August Comte. Der Mann und sein Werk. Leipzig: Unesma 1914. Heinrich Schmidt (Hg.): Was wir Ernst Haeckel verdanken. Ein Buch der Verehrung und Dankbarkeit. Leipzig: Unesma, 1914. Wilhelm Ostwald: Goethe [!] der Prophete. Leipzig: Oskar Brandstedter 1932. Ostwalds Texte sind von Goethe-Zitaten regelrecht durchzogen. Vgl. dazu: Philip Ajouri: Wissenschaft. In: Carsten Rohde u.a. (Hg.): Faust-Handbuch. Konstellationen – Diskurse – Medien. Stuttgart: J.B. Metzler 2018, 383–389, hier: 384. Wilhelm Ostwald: Große Männer, Studien zur Biologie des Genies. Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft, ab 1909. Annette Gilbert: Im toten Winkel der Literatur. Grenzfälle literarischer Werkwerdung seit den 1950er Jahren. München: Wilhelm Fink 2018.

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dass Ostwald seine späte Autobiographie eben nicht im Selbstverlag herausbrachte, sondern ihre Bedeutung gewissermaßen extern beglaubigen ließ.82 In diesem Zusammenhang wird auch augenfällig, dass die Brücke ihr bioenergetisches Programm bereits im Namen trug. Der Pons ist Teil des Hirnstamms und, vereinfacht ausgedrückt, der Umschlagplatz zwischen Gehirn und Rückenmark. »Die Funktionsvereinigung«, schreibt Ostwald 1912 in der Brücke-Schrift Das Gehirn der Welt, »geschieht in den Organismen durch ein Zentralorgan.«83 ›Brücke‹ oder ›Zentralorgan‹ waren dabei nicht die einzigen medizinischen Terme, die Ostwald von seinem Psychiater Paul Flechsig gelernt haben könnte,84 in jedem Fall findet sich hier aber u.a. Flechsigs Forderung wieder, die »Psychologie als einen Teil der Hirnphysiologie zu behandeln«.85 Gemeinsam hatten die beiden überdies den Kontakt zu Wilhelm Wundt, der wie Ostwald in Großbothen lebte.86 Martin Stingelin schreibt über Flechsig: »Eine empirisch exakte physikalisch-chemisch-anatomische Hirnlehre […] erweist sich als aristokratische Moralphysiologie des Gehirnadels, der sich der ständischen Organisation dieses Organs versichert, was ihr nichts von der strategischen Geschmeidigkeit im Dispositiv der Kontroll- und Normalisierungspraktiken nimmt, im Gegenteil.«87 Dieser Einschätzung würde ich mich mit der Ergänzung anschließen, dass es immerhin Flechsigs Profession entsprach, Überlegungen zu Gehirnen anzustellen. Massiv übertrat Ostwald seine Kompetenzen in einem weiteren, hochsensiblen Bereich, der Rechtswissenschaft. Die von ihm entwickelte ›Juristische Energetik‹ scheint später intensiv von Oswald Spengler rezipiert worden zu sein.88 In seiner Autobiographie schildert Ostwald ferner, sich mit dem »feinsinnigen [Karl, L.B.] Binding«, einem Professor für Strafrecht, ausgetauscht zu haben. Binding, den Ostwald als einzigen der »Leipziger Kollegen von der Juristenfakultät« als »ge-

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Wilhelm Ostwald: Lebenslinien. Eine Selbstbiographie. 3 Bde. Berlin: Klasing & Co., 1926–27. Wilhelm Ostwald: Das Gehirn der Welt. Ansbach: Seybold 1912, 1r. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Kritik Max Webers an Ostwald: Matthias Neuber: Max Weber, Wilhelm Ostwald und die »energetischen Grundlagen« der Kulturwissenschaft. In: Gerhard Wagner u.a. (Hg.): Max Webers vergessene Zeitgenossen. Beiträge zur Genese der Wissenschaftslehre. Wiesbaden: Harrassowitz 2016, 29–54, hier: 37–40. Flechsig: Hirnphysiologie, 477. Brauer: Erinnerungen, 44. Martin Stingelin: Die Seele als Funktion des Körpers. Zur Seelenpolitik der Leipziger Universitätspsychiatrie unter Paul Emil Flechsig. In: Friedrich Kittler u.a. (Hg.): Diskursanalysen 2. Institution Universität. Opladen: Westdeutscher Verlag 1990, 101–115, hier: 104. Lutz Martin Keppeler: Oswald Spengler und die Jurisprudenz. Tübingen: Mohr Siebeck 2014, 39–41 und 75–76.

Laura Basten: Eugenische Publikations-Szene

nießbar, ja erfreulich«89 empfand, legte 1920 zusammen mit dem Psychiater Alfred Hoche das Buch Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens vor und schuf den Nationalsozialisten somit das allesentscheidende Schlagwort. Versteht man Eugenik mit Antonio Gramsci als eine hegemoniale Ideologie, die sich – einmal als solche ausgebildet – unter dem Einfluss verschiedener Gruppen und Interessen permanent verändert, lässt sich festhalten, dass Ostwald an deren Produktion, im Sinne eines Aufgreifens und Konzentrierens der Vorläufer, zu Beginn des 20. Jahrhunderts ganz zweifelsohne beteiligt war. Sie schlägt sich dabei sodann nicht nur gedanklich in stetig neuen, mitunter gut getarnten Formen nieder, sondern »ist immer auch eine materielle Praxis«, die über die »›Hegemonieapparate‹ wie Schule, Universität, Kirche, Familie etc. tradiert, gelernt, vermittelt«90 wird. Elitenrekrutierung, Ideologieproduktion und Verlagspraxis gehen dabei vielfach eine enge Verbindung ein. An wiederum der 1912/13 im MJHR geführten ›Euthanasie‹-Debatte ist insofern interessant, dass Ostwald daran nicht nur als Autor beteiligt war, sondern sie in seiner Rolle als Herausgeber und Verleger auch angestoßen hat. Die Ausgestaltung geht dabei einher mit einer Bedeutungsverschiebung, die sich im Titel des Beitrags ankündigte: »Euthanasie«.91 Walter Müller-Seidel hält diesbezüglich fest: »Für Tötung dieser Art, für Tötung auf Verlangen, wird das Wort ›Euthanasie‹ mehrfach und auch schon im Titel dieser Beiträge gebraucht, so auch vom Herausgeber, von Wilhelm Ostwald selbst. Das ist neu. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war das Wort im Sinne von Sterbehilfe verwendet worden, aber ohne jeden Nebengedanken einer Lebensabkürzung.«92 Es handelt sich hierbei also um einen Umdeutungsakt nicht (nur) qua Niederschrift, sondern qua Publikation – ein anderer Herausgeber als Ostwald selbst hätte an dieser Stelle womöglich eine Erläuterung des Autors eingefordert. Die Debatte wird aus heutiger Sicht mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung diskutiert.93 Ich schätze sie als den Augenblick ein, in dem Ostwald die Grenze zwischen sogenannter ›positiver Eugenik‹ – d.h. dem Befürworten oder Ergreifen von Maßnahmen mit dem Ziel 89 90 91 92 93

Ostwald: Lebenslinien [1927]. Band 3, 2 1933, 318. Lia Becker u.a.: Gramsci lesen. Einstiege in die Gefängnishefte. Hamburg: Argument 2013, 111. Roland Gerkan: Euthanasie. In: Wilhelm Ostwald (Hg.): Das Monistische Jahrhundert 2/7 (1913), 169–174, hier: 169. Walter Müller-Seidel: Rechtsdenken im literarischen Text. Berlin/Boston: de Gruyter 2017, 156. Zur Einbettung der Debatte in u.a. den rechtlichen Hintergrund der Zeit vgl. Karl Heinz Hafner/Rolf Winau: »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens«: Eine Untersuchung zu der Schrift von Karl Binding und Alfred Hoche. In: Medizinhistorisches Journal 9 (1974), 227–254. Der Debattenverlauf im Monistischen Jahrhundert lässt sich nachvollziehen bei: Gerd Grübler: Quellen zur deutschen Euthanasie-Diskussion 1895–1941. Bd. 2: Geschichte in Quellen. Berlin: LIT Verlag 2020.

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einer ›Veredelung‹ der Menschheit oder einer Menschengruppe – und ›negativer Eugenik‹ – das Verhindern einer ›Vermehrung‹ von (Menschen mit) ›unerwünschtem‹ Erbgut – öffentlich überschreitet.94 Bemerkenswert erscheint dabei insbesondere die Art und Weise, mit der Ostwald die Debatte wieder beendet – nämlich indem er zuvor abgedruckte, ›eigene‹ Autoren, die sich gegen eine Sterbehilfe ›auf Wunsch‹ ausgesprochen hatten, nicht einfach nur hart, sondern persönlich angriff. Seine Vorredner hätten das wissenschaftliche Denken, so Ostwalds Polemik, wohl noch nicht verinnerlicht und ferner nicht verstanden, dass die soziale Nützlichkeitsmoral »den einzigen möglichen Weg weist […], diesen gedrückten Existenzen auf jede mögliche Weise eine sozial verbesserte Stellung zu schaffen. Damit erst erhalten sie die Möglichkeit, ihr inneres Leben vollständiger mit ihrer äußeren Pflichterfüllung in Einklang zu bringen«.95 Mit anderen Worten: Ostwald ging es nicht um das Austarieren von Grenzfällen, sondern die Einbindung auch dieser Frage in den Energetismus.

4. Weltliche Vernichtung, göttliches Recycling? 1929, drei Jahre vor seinem Tod, hielt Ostwald eine Festrede anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens der Leipziger Buchhandlung Gustav Fock, die sich zügig als kulturpessimistische Polemik entpuppte: »Prüfe ich meine eigenen Gefühle, so muß ich bekennen, daß es mir ebenso geht wie der Mehrzahl meiner deutschen Zeitgenossen. Ich mag weniger und weniger Romane lesen. Sie sind mir – ich bitte um Verzeihung für das Wort – zu dumm geworden.«96 Interessant ist im Folgenden, dass hier nicht mehr vom Monographieprinzip bzw. der Loseblattsammlung, sondern ausdrücklich vom Buch als »Dauerform der Wissenschaft«97 die Rede ist. Im hohen Lebensalter scheint Ostwald das (von ihm) Bleibende umzutreiben: Menschen müssten nun einmal »den Tribut der Vergänglichkeit zahlen«, aber Bücher überdauerten »zehn Geschlechter oder mehr […] solange es Menschen gibt, die sie der Ewigkeit wert halten.«98 Das Gesellschafts- und Menschenbild, das sich zuvor in der konkurrierenden Materialität zwischen billigen Heften und veredelten Bücher ausgedrückte, zeigt sich hier nun deutlich(er) auch auf der Text- bzw. Gattungsebene: »Ewigkeit! Das Wort mahnt uns, daß es neben den unsterblichen Büchern auch sterbliche gibt, daß es neben der Literatur zum dauernden Gebrauch stets eine 94 95 96 97 98

Michael Wunder: Was heißt Eugenik?, https://www.gedenkort-t4.eu/de/wissen/was-heissteugenik (zuletzt abgerufen am 14.10.2022). Wilhelm Ostwald: Gefühlsethik, 586. Wilhelm Ostwald: Bücher, 4r. Ebd., 3v. Ebd., 4r.

Laura Basten: Eugenische Publikations-Szene

zum Verbrauch und Vergessen bestimmte oder verdammte gegeben hat. […] Ich bin weit davon entfernt, dies zu beklagen; beide Arten haben ihren Wert und daher ihre Daseinsberechtigung.«99 Das Wort »Literatur« ist hier bereits umgedeutet und beschreibt bei Ostwald immer das, was er gerade als wissenschaftliches Wissen oder Feld auffasste. Die Grenzziehung ist wiederum einerseits von seiner ›Genieologie‹ abgeleitet, andererseits nicht zuletzt eine logische Konsequenz der eingangs angedeuteten Profanierung der Geisteswissenschaften. Die Aufwertung des eigenen Wissen(schaft)sideals ging bei Ostwald einher mit einer starken Abwertung der »Altphilologie und mitunter auch […] Geschichts- und Altertumswissenschaften«.100 Das Wissen bzw. die Arbeit von Historiker*innen sowie Philolog*innen sei unter anderem deswegen nutzlose »Papierwissenschaft«,101 weil es aus dem bestehe, was zufällig geschrieben und überliefert sei und weil es »in der Vergangenheit bereits das Höchsterreichbare beschlossen sieht«.102 An obenstehendes Zitat unmittelbar anschließend steuert er in der Rede nun auch in diesem Sinne auf das titelgebende Herzstück zu: »Wenn ich etwas […] beklage, so ist es, daß auch die vergänglichen Drucksachen mit Druckerschwärze hergestellt werden, die man hernach nicht mehr von der Papierfaser entfernen kann, weil sie einen unüberwindlichen chemischen Widerstand gegen jedes Bleichmittel betätigt. Vergängliche Schriften sollten mit vergänglicher Farbe gedruckt werden, damit die Papierfaser, welche den Text überdauert, fähig gemacht werden kann, neuen Druck aufzunehmen, wie das Glas, aus dem man getrunken hat, gewaschen und für neuen Inhalt geeignet gemacht werden kann.«103 Das ist nicht weniger als die Aufkündigung des zuvor Gesagten, nämlich dass beide ›Arten‹ ihre Daseins-Berechtigung hätten. Wie so häufig bei Ostwald hält die Prämisse des argumentatorischen Aufbaus der Überprüfung nicht stand. So wurde zur betreffenden Zeit zwar relativ wenig recycelt – Carina Leitner beziffert die Altpapiereinsatzquote für das Jahr 1925 auf circa 10 Prozent –,104 desungeachtet erscheint es völlig ausgeschlossen, dass jemand wie Ostwald nicht sehr wohl um sowohl die prinzipielle Möglichkeit des Recyclings als insbesondere auch die konkreten Arbeitsschritte der Praktik (inklusive Zerfaserung der Beschreibstoffe) wusste. Vielmehr 99 100 101 102 103 104

Ebd. [»Ewigkeit« gesperrt i.O.]. Leber: Welträtsel, 96. Ostwald: Imperativ, 107. Ebd. Ostwald: Bücher, 4r. Carina Leitner: Grenzen und Innovationen im papierbasierten Recyclingprozess. Fallstudie für Grafische Papiere und Verpackungspapier. Hildesheim: Georg Olms 2022, 43.

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drückt sich dieses Wissen in der Überbetonung der Unmöglichkeit aus: »[U]nüberwindlich« ist der Widerstand einmal aufgetragener Druckerschwärze, immun ist sie gegen »jedes« Bleichmittel. Die tabula rasa, die hier bildlich bemüht wird, weist nicht auf Aristoteles, sondern auf John Lockes blank slateism bzw. Galtons ›Nature vs. Nurture‹ zurück. Anders ausgedrückt tritt Ostwalds Bildungsideal bzw. konkrete Didaktik der Zurichtung noch einmal als Druck-Szene zutage – nicht nur mit Bier und Sport hat man sich ihm zufolge schnell die »Kräfte ruiniert«, sondern eben auch mit Literatur die Hirne sowie die Druckerpressen verstopft.105 Das war im Übrigen keine rein metaphorische Volte: Die von Ostwald entwickelte Farbensystematik bzw. Pigment- und Farbstoffmischung für Mal- und Druckfarbe wurden von der Industrie auch deswegen nicht aufgegriffen, weil diese nicht lichtecht war.106 Wie todernst es den Monisten mit der Ersetzung unterschiedlicher Vorstellungen von kreisläufiger Wiederauferstehung durch einen weltlichen Entwicklungsgedanken war, zeigt unter anderem das intensive Engagement des DMB für die Verbreitung der Kremation. Wenn es kein Jenseits gibt und so oder so kein Partikel jemals dem irdischen Kreislauf entzogen ist, ist auch die Bestattung rationalisierbar. Die wohlwollende Lesart des Diktums über die ›alten und neuen Bücher‹ ist, dass Ostwald die Vorstellung von einer ›wiederauferstehenden‹ Ressource Papier für ein allzu biblisches Motiv gehalten hat.

105 Ostwald: Bücher, 2r. 106 Rolf Sachsse: Malen nach Zahlen. Die Farbenlehre Ostwalds im Kontext von Moderne und Pädagogik. In: Frank Hartmann (Hg.): Wilhelm Ostwald. Farbenlehre, Formenlehre. Eine kritische Rekonstruktion. Hamburg: Avinus 2017, 21–38, hier: 33.

Das Korpus der Autor*in Die ›Autorenbibliothek‹ als Ort des Stoffwechsels Martina Schönbächler

Als prototypisch für eine ›Autorenbibliothek‹ charakterisiert das Editorial der 2010 einschlägig zu diesem Thema erschienenen Ausgabe der Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs Folgendes: Die private Bibliothek eine*r Autor*in dient als Stätte des Austauschs, wo ein Mensch mit seinen Büchern via Annotation in einen Dialog tritt, als Ort der »Rekreation und Lektüre«, und »gleichzeitig als Inspirationsraum und Schreibwerkstatt«, wo »das Material zu eigenen Gedanken« aus dem Gelesenen »[ge]schöpft[]« wird.1 Umrissen ist damit ein Verständnis des Gegenstands, das im zugehörigen Forschungsfeld nach wie vor Gültigkeit hat.2 Das Begriffskompositum ›Autorenbibliothek‹, das ein Label für den Gegenstand der (literaturwissenschaftlichen) Forschung an Nach-, seltener auch Vorlassbibliotheken von Schriftsteller*innen liefert, erweist sich indessen sowohl terminologisch wie auch konzeptuell als mehrdeutig. ›Autor‹ kann darin eine schreibende und publizierende, also textförmiges Werk verantwortende Person meinen, deren Büchersammlung sich zur Untersuchung anbietet; gilt hingegen die Sammlung selbst als ›Werk‹, bezeichnet ›Autor‹ eine bestandsbildende Instanz, die weder eine Einzelperson sein noch zwingend eigene Texte hervorbringen muss.3 Geht es also um eine Autor*in als konkretes menschliches Individuum oder um eine diskursive AutorFunktion im Sinn Michel Foucaults? Die Polyvalenz des Konzepts kristallisiert sich am (Nicht-)Gendering des Begriffs aus: Für die Rede von menschlichen Personen

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Editorial. Über den Umgang mit Büchern. In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs 30/31 (2010), 7–8, hier: 7. Als ›Prototyp‹ beschrieben ist hier der ›Bücherturm‹ Michel de Montaignes. Diese Gültigkeit ist keine ausschließliche, vgl. stellvertretend zwei rezente Sammelbände: Stefan Höppner u.a. (Hg.): Autorschaft und Bibliothek. Sammlungsstrategien und Schreibverfahren. Göttingen: Wallstein 2018; Anke Jaspers/Andreas Kilcher (Hg.): Randkulturen. Lese- und Gebrauchsspuren in Autorenbibliotheken des 19. und 20. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein 2020. In den Beiträgen beider Bände wird deutlich, dass mit ›Autorenbibliothek‹ zugleich mehr und weniger gemeint sein kann als die Privatbibliothek eines Individuums. Vgl. die Beiträge in Höppner u.a.: Autorschaft und Bibliothek.

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Kreisläufe: Recycling, Serialisierung und Zerstörung von Schriftträgern

ist ›Autor*innenbibliothek‹ der exaktere Terminus; um lediglich die Funktion anzusprechen wäre – bislang unüblich – ›Autor-Bibliothek‹ geeigneter. Auf der »-bibliothek«-Seite des Kompositums stellen sich Fragen nach Konzeptualisierung und Ausdehnung der (›realen‹ und ›virtuellen‹4 ) Konvolute: Was gehört überhaupt dazu, und warum? Interesse verdienen zudem die Affordanz und Agentialität von Stoff – im doppelten Sinn als physische Substanz und literarisches Substrat. Die folgenden Überlegungen zur Stofflichkeit stammen als Gedankenexperiment aus meiner konkreten Beschäftigung mit der Nachlassbibliothek im ThomasMann-Archiv der ETH Zürich und jüngst auch der Büchersammlung, die 2022 noch in Klagenfurt im ehemaligen Haus der Familie Ingeborg Bachmanns stand.5 Dass immaterieller ›Sinn‹ und materieller ›Sinnträger‹ konzeptuell schwer vereinbar, zugleich aber real untrennbar bleiben, lässt sich bei der literaturwissenschaftlichen Arbeit mit Autor*innenbibliotheken nicht ausblenden. Weiter vergegenwärtigen das Bestehen der Sammlung selbst sowie die darin zurückbleibenden Stift- und Gebrauchsspuren immer auch die biographische und biologische Realität von lesenden, schreibenden Menschen – obwohl wie gesagt gerade die sogenannte ›Autorenbibliothek‹ auch ein materielles Abbild von zumindest konzeptuell ›autorloser‹ Intertextualität geben kann.6 Im Fokus meines Beitrags steht die Verschränkung von Autorschaft und Bibliothek, insbesondere der funktionale Anteil, den die Bibliothek selbst an der Hervorbringung von neuem Werk hat. Handarbeit und Haptik gehen der Theorie dabei über weite Strecken voraus; in Büchersammlungen zu blättern, fördert zunächst nicht abstrakte Autorschaftskonzepte, sondern Greifbares zutage. Da sind die erwartbaren Lektüre- und Gebrauchsspuren von menschlicher Hand sowie vielleicht weniger erwartet auch die Spuren tierischer Körper – von Papiermilben, gepressten

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Vgl. Daniel Ferrer : Bibliothèques réelles et bibliothèques virtuelles. In: Quarto. Zeitschrift des Schweizerischen Literaturarchivs 30/31 (2010), 15–18. Der darin befindliche Bücher- und Medienbestand wurde mit dem Haus im Sommer 2021 von Stadt und Land Kärnten angekauft und ist bislang noch nicht systematisch wissenschaftlich erschlossen. Ein unveröffentlichter Bibliothekskatalog von Robert Pichl umfasst die 1973 aus Bachmanns letzter Wohnung von Rom nach Klagenfurt überführten Bücher, nicht aber den gesamten Umfang inklusive auch der Familienbibliothek. Vgl. zur im Sommer 2022 noch aktuellen Situation des (römischen) Bestands und des Katalogs Robert Pichl: Ingeborg Bachmanns Privatbibliothek. Ihr Quellenwert für die Forschung. In: Dirk Göttsche/Hubert Ohl (Hg.): Ingeborg Bachmann – neue Beiträge zu ihrem Werk. Internationales Symposion Münster 1991. Würzburg: Königshausen & Neumann 1993, 381–388, hier: 381, 387f. Intertextualität hier in Julia Kristevas räumlich-synchronem Verständnis (vgl. Julia Kristeva: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Jens Ihwe (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, II. Frankfurt a.M.: Athenäum 1972, 345–375).

Martina Schönbächler: Das Korpus der Autor*in

Insekten und Spinnen bis zu Hundegebissspuren – in den Büchern zu finden. Darüber hinaus gibt es die Indizien alltäglicher menschlicher Körperverrichtungen, von Praktiken, die also vom Umgang mit Büchern nicht getrennt stattfinden: Zur Bucheinlage geworden sind eine Nagelfeile bei Mann,7 ein fachärztlich ausgestelltes Rezept für Hautcrème bei Bachmann,8 Teile von Zigarettenverpackungen bei beiden. Bei Bachmann zu verzeichnen ist zudem auch der Abriss einer Knäckebrotschachtel,9 dort hinterlassen von einem Menschen, der vielleicht lesend seinen Hunger stillte oder essend seine Lektüre unterbrach. Dass auch Bücher ›verschlungen‹ und Gedanken und Eindrücke ›verdaut‹ werden, ist redensartlich fixiert und im Literaturdiskurs traditionsreich topisch.10 Einleitend geht es mir im ersten Teil des Beitrags darum, diese Rezeptionsmetapher in einen Zusammenhang mit der Prokreationsmetaphorik für das Schreiben zu bringen, der im literarischen und biologischen Körperdiskurs an der Schwelle zum 19. Jahrhundert zu finden ist. Das soll die historische Nähe von biologischen Körpermodellen und Autorschaftskonzepten darlegen, die die Basis der folgenden Überlegungen bildet. Daran lässt sich ein Konzept der Autor*innenbibliothek als Ort der metaphorischen Verdauung anschließen, das die Prozesse von Stoffaufnahme und Textproduktion unter die Organisation eine*r Schriftsteller*in stellt. Der zweite Teil gilt den Prozessen von Textverarbeitung und -produktion in der Bibliothek. Der lesende und schreibende Mensch rückt aus deren Zentrum und weicht einer aus unterschiedlichen Akteuren und Aktanten sich wechselnd neu zusammensetzenden Autorinstanz. Der einzelne Mensch ist so gesehen lediglich noch ein Faktor innerhalb eines viel komplexeren (Hyper-)Metabolismus, der von materiellen und immateriellen Logiken und Affordanzen bestimmt ist. Im dritten Teil schließlich schlage ich vor, diesen als den Stoffwechsel eines ›organlosen‹ Pilzmyzels zu beschreiben.

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Vgl. zu den Einlagen in Manns Bibliothek detaillierter Manuel Bamert: Stifte am Werk. Phänomenologie, Epistemologie und Poetologie von Lesespuren am Beispiel der Nachlassbibliothek Thomas Manns. Göttingen: Wallstein 2021, 60–63. Das Rezept, offenbar für Ilse Aichinger bestimmt, ist in ein Exemplar von Hermann Hesses Unterm Rad eingelegt. Vgl. Robert Pichl: Katalog der Privatbibliothek Ingeborg Bachmanns [unveröffentlicht]. In: André Maurois: Auf den Spuren von Marcel Proust. Hamburg: Claassen 1956 (vgl. Pichl: Katalog). Zur Metaphorisierung des Buchs als Nahrungsmittel vgl. Monika Schmitz-Emans: Metaphern des Lesens. In: Rolf Parr/Alexander Honold (Hg.): Grundthemen der Literaturwissenschaft: Lesen. Berlin: de Gruyter 2018, 588–613, hier: 597–599; Mona Körte: Bücheresser und ›Papiersäufer‹. Kulturelle Bedeutungen der Einverleibung von Schrift. In: Mona Körte/Cornelia Ortlieb (Hg.): Verbergen – Überschreiben – Zerreißen. Formen der Bücherzerstörung in Literatur, Kunst und Religion. Berlin: Schmidt 2007, 271–292.

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1. Körper und Bibliothek In der Bibliothek interagieren Büchermaterial und Menschenkörper. Und zwar geschieht das auf eine Weise, welche die Aufnahme von literarischem oder literarisierbarem Stoff ins literarische Korpus der Autorinstanz, die Wiederverwendung, Anverwandlung und Weiterverarbeitung von Text, und damit die Produktion, das Wachstum und die Reproduktion dieses Korpus ermöglicht. Ernährungsvorgänge und Prokreation liefern zwar von jeher die Metaphorik für Textproduktion. Die Arbeit mit ›Autorenbibliotheken‹ führt jedoch spezifischer auf eine Engführung von literarischem und (reproduktions)biologischem Diskurs des 18. und 19. Jh. zurück.11 Körpervorstellungen und Autorschaftskonzepte dieser Zeit stehen in ideellem Austausch. 1781 postuliert der Naturforscher Johann Friedrich Blumenbach als Prinzip biologischer Selbstorganisation den sogenannten ›Bildungstrieb‹, als »eine der ersten Ursachen aller Generation, Nutrition und Reproduction«:12 Abläufe der Prokreation werden von Phänomenen der Wundheilung sowie der Nahrungsaufnahme und -metabolisierung nicht getrennt gedacht. Wissenschaftlich bedeutsam entwickeln sich im ausgehenden 18. Jahrhundert die Reproduktionsbiologie und Reproduktionsmedizin: die eine mit Theorien zur Hybridisierung von Arten, die andere mit ersten erfolgreichen Versuchen von künstlicher Befruchtung.13 Moderne Hereditätstheorien lösen die traditionelle Präformationslehre ab, was sich auch in einer Verschiebung der Begrifflichkeiten zeigt.14 Bedeutete Fortpflanzung vorher die Neuschöpfung, die ›Generation‹ eines Wesens,15 tritt nun der Aspekt einer (auch materi-

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Vgl. zur Organismus-Metaphorik im Archivdiskurs des 19. Jh. Wolfgang Ernst: Nicht Organismus und Geist, sondern Organisation und Apparat. Plädoyer für archiv- und bibliothekswissenschaftliche Aufklärung über Gedächtnistechniken. In: Sichtungen 2 (1999), 129–139, hier: 132–134. Friedrich Blumenbach: Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte. Göttingen: Dieterich 1781, 13. Vgl. Frederick Noël Lawrence Poynter: Hunter, Spallanzani, and the History of Artificial Insemination. In: Lloyd G. Stevenson (Hg.): Medicine, Science and Culture. Historical Essays in Honour of Oswei Temkin. Baltimore: Johns Hopkins Press 1968, 97–113; Barbara Orland: The Invention of Artificial Fertilization in the Eighteenth and Nineteenth Century. In: History and Philosophy of the Life Sciences 39 (2017), 1–24. Das gilt, auch wenn sich der begriffliche Wandel (vgl. Caroline Arni: Reproduktion und Genealogie: Zum Diskurs über die biologische Substanz. In: Nicolas Pethes/Silke Schicktanz (Hg.): Sexualität als Experiment. Identität, Lust und Reproduktion zwischen Science und Fiction. Frankfurt a.M.: Campus 2008, 293–309, hier: 304) nicht in Form scharf abgrenzbarer Brüche vollzieht (vgl. Nick Hopwood: The Keywords ›Reproduction‹ and ›Generation‹. In: Nick Hopwood/Rebecca Flemming/Lauren Kassell (Hg.): Reproduction. Antiquity to the Present Day. Cambridge: Cambridge University Press 2018, 287–304). François Jacob: The Logic of Life. A History of Heredity. New York: Pantheon Books 1974.

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ellen) ›Reproduktion‹ des bereits Vorhandenen in den Vordergrund. Kurz: Während die Idee des aus sich selbst schöpfenden Individuums ihren Aufschwung im literarischen Diskurs der Autonomieästhetik erlebt, entwickelt sich aufgrund neuer Versuchsmöglichkeiten in der Naturwissenschaft allmählich die Vorstellung, dass Material vom intentional handelnden Individuum fast unabhängig interagieren und Neues hervorbringen kann. Im literarischen und literaturtheoretischen Autorschaftsdiskurs an der Wende zum 19. Jahrhundert konkurriert ein autonom schöpfender poeta creator nicht nur mit dem fremdverbürgte Stoffe fortschreibenden poeta doctus und imitator, sondern auch mit Präfigurationen einer intertextuelle Zitate kompilierenden Schreiber-Instanz.16 Jean Pauls Fibel-Figur, die sich aus fremdtexttragenden Papierschnipseln die eigene Biographie zusammenleimt und sich damit als Autor installiert, ist dafür nur ein prominentes Beispiel.17 Mit einem Zeitsprung von anderthalb Jahrhunderten wäre man damit in medias res der literaturwissenschaftlichen Diskussionen um Autorschaft, wie sie Mitte der 1960er-Jahre bei Julia Kristeva zur Theoretisierung der Intertextualität, bei Roland Barthes und Michel Foucault zu den Fragen nach dem ›Tod des Autors‹ und der Funktion von Autorschaft führen. Die Theorieentwicklung braucht hier nicht erneut ausgefaltet zu werden, doch führt sie zur Einsicht, dass ›Autor‹ und ›Werk‹ sich gegenseitig konstituieren18 und die beiden Begriffe nur in Abhängigkeit voneinander anwendbar sind. Die Bibliothek eine*r Autor*in bezeichnet Dirk Werle demgemäß als »Werk zweiter Ordnung«,19 dem Gesamtwerk gegenüber steht sie als ›gesammeltes Werk‹. Die Vorstellung der schillernd sogenannten Autorenbibliothek ist eng an ein modernes Nachlass-Verständnis gekoppelt, das sich ebenfalls am Beginn des

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Vgl. Monika Schmitz-Emans: Entwürfe und Revisionen der Dichterinstanz – poeta vates, poeta imitator, poeta creator. In: Anne Betten/Ulla Fix/Berbeli Wanning (Hg.): Handbuch Sprache in der Literatur. Berlin: de Gruyter 2017, 205–235. Vgl. Uwe Wirth: Zitieren Pfropfen Exzerpieren. In: Martin Roussel/Christina Borkenhagen (Hg.): Kreativität des Findens. Figurationen des Zitats. München: Fink 2012, 79–98, hier: 92f. Ferner: Britta Herrmann: »So könnte dies ja am Ende ohne mein Wissen und Glauben Poesie sein?« – Über ›schwache‹ und ›starke‹ Autorschaften. In: Heinrich Detering (Hg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart: Metzler 2002, 479–500. Vgl. Carlos Spoerhase: Was ist ein Werk? Über philologische Werkfunktionen. In: Scientia Poetica 11 (2007), 276–344, hier: 280f.; Lutz Danneberg/Annette Gilbert/Carlos Spoerhase: Zur Gegenwart des Werks. In: Dies. (Hg.): Das Werk. Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs. Berlin: de Gruyter 2019, 3–26, hier: 4f. Dirk Werle: Autorschaft und Bibliothek. Literaturtheoretische Perspektiven. In: Stefan Höppner u.a. (Hg.): Autorschaft und Bibliothek. Sammlungsstrategien und Schreibverfahren. Göttingen: Wallstein 2018, 23–34, hier: 30.

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19. Jahrhunderts entwickelt.20 Wolfgang Ernst, der sich kritisch mit der diskursiven Biologisierung und Anthropomorphisierung von Archiven im 19. Jahrhundert auseinandersetzt, sieht die »Organismus-Metaphorik« im Diskurs insbesondere um das »archivische[] Hybrid des ›Nachlasses‹« zentral: Nirgendwo sonst würden »Person und Papierkorpus so häufig verwechselt.«21 Wer sich seither mit den Büchern aus dem Besitz von Schriftsteller*innen beschäftigt, hofft entsprechend je nach Sensorium, entlang dieser Sammlungen den ›intellektuellen Horizont‹ oder sogar die »intellektuelle Physiognomie«22 einer Schriftstellerpersönlichkeit abzutasten. Traditionell galt das Interesse der Literaturwissenschaft an Autor*innenbibliotheken der schreibenden Person und dem Quelleneinfluss in ihr literarisches Werk.23 In der Einleitung zu einem für die jüngere Autor*innenbibliotheksforschung wegweisenden Band charakterisiert Daniel Ferrer die Bibliothèques d’écrivains erneut mit der Metapher des Lesens als Nahrungsaufnahme. Mit nun textgenetischem Interesse erscheinen die Bibliotheken als Ort, wo schreibende Menschen die Gehirne und Gedanken anderer Menschen verspeisen.24 Die in den Materialsammlungen nebeneinanderstehenden verschiedenen Textstufen – Notizen, Exzerpte, Entwürfe etc. – sind die Zwischenprodukte von Verdauungsprozessen einer Instanz, die bei Ferrer »créateur« heißt.25 Die Bibliothek fungiert damit nicht nur als Extended Mind, sondern zugleich auch als verdauender Magen des schreibenden Menschen, als Ort des geistigen Stoffwechsels eines agierenden Individuums. So wird in der Bibliothek auch das, was im Sinn von Vergesellschaftung und Veröffentlichung schon Werkform hat, als Drucktext wieder zum potenziellen Rohmaterial. Was sich aber in den Räumen physischer Autor*innenbibliotheken bei einer ersten Annäherung noch als geschlossenes Korpus, als die ›Arbeitsbücher Thomas Manns‹ oder die ›Handbibliothek Ingeborg Bachmanns‹ zu präsentieren scheint, 20

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Vgl. dazu Kai Sina/Carlos Spoerhase: Nachlassbewusstsein. Zur literaturwissenschaftlichen Erforschung seiner Entstehung und Entwicklung. In: Zeitschrift für Germanistik N.F. 23 (2013), 607–623. Ernst: Nicht Organismus und Geist, 135. Pichl: Ingeborg Bachmanns Privatbibliothek, 385. Der Werkbegriff ermöglicht als Kehrseite der Autorschaft die Konzeptualisierung der ›Autorenbibliothek‹ erst mit, doch muss er zudem juristische, institutionelle und verlegerische Komponenten mitberücksichtigen (vgl. Anke Jaspers: Suhrkamp und DDR. Literaturhistorische, praxeologische und werktheoretische Perspektiven auf ein Verlagsarchiv. Berlin: de Gruyter 2022), die im nahen Fokus auf die hier zentralen Phänomene innerhalb der Bibliothek in ihrer materiell-immateriellen Beschaffenheit aus dem Gesichtsfeld geraten. Im Folgenden ist daher die Rede von ›Gesamttext‹ (vgl. zur textuellen ›Überlieferung‹ als Werkbegriff Spoerhase: Was ist ein Werk?, 286; Danneberg/Gilbert/Spoerhase: Zur Gegenwart des Werks, 16). Daniel Ferrer : Introduction. »Un imperceptible trait de gomme de Tragacanthe…«. In : Ders./ Paolo D’Iorio/Elisabeth Décultot (Hg.) : Bibliothèques d’écrivains (Textes et manuscrits). Paris: CNRS Éd 2001, 7–27, hier: 8. Ferner: Körte: Bücheresser und ›Papiersäufer‹, 275, 290. Ferrer: Introduction, 11.

Martina Schönbächler: Das Korpus der Autor*in

zerfällt mit dem Griff ins Regal und ans einzelne Buchobjekt in materielle, strukturelle, und wie noch zu sehen, auch in personelle Heterogenitäten: Versammelt sind Texte, Bücher und Lesespuren unterschiedlichster Provenienz. Vom literarischen abgesehen, lässt sich sodann auch das ›gesammelte Werk‹ selbst als Materialisierung von Intertextualität begreifen.26 Eine solche Perspektive erfordert nun einerseits eine Abstraktion von individueller und autonomer menschlicher Agentialität. Wie eingangs illustriert, bringt aber andererseits die Sichtung des Materials aufs Neue die Menschen in den Blick, die über verschiedene Zeiträume in und an der Büchersammlung tätig waren. So stehen das schaffende menschliche (immer auch körperliche) Individuum und die wirkende Intertextualität einander zwar polar gegenüber, aber beide zugleich im konzeptuellen Kern der ›Autorenbibliothek‹.

2. Metabolismus Zu zeigen bleibt, wie sich die Instanz, die den Zusammenhalt der Bibliothek gewährleistet, in eine Vielheit materieller, struktureller und personeller Akteure auflöst;27 selbst dann, wenn man Fragen nach Verantwortlichkeiten und Ursachen für die Bestandsbildung ausspart. Dafür lohnt es sich, mit Blick auf die Vorgänge innerhalb der Bibliothek das metaphorische Allgemeingut rund um das Lesen als Nahrungsaufnahme erneut zu prüfen. Weil immaterielle und materielle Qualitäten bei der Rezeption und Produktion von Text untrennbar verflochten sind, sei Stofflichkeit dabei sowohl im übertragenen wie auch im wörtlichen Sinn gedacht. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit möchte ich auf folgende vier Beobachtungen näher eingehen: Erstens gehen textgenetische Stufen derart ineinander über, dass sich die Grenze zwischen Bibliothek und Gesamttext der Autor*in als kategoriell durchlässig zeigt. Daran sichtbar wird zweitens eine Multiplizität ihrer Urheberschaft oder – sofern man davon mit Bezug auf Phänomene wie Marginalien und andere Lesespuren sprechen will – auch ihrer Autorschaft. Drittens werden geistiger Gehalt und materielle Anteile von Büchern in der Bibliothek extrahiert, verarbeitet, und die Abfallprodukte ausgeschieden, und viertens sind offenbar nicht alle Stoffe gleich geeignet für die Aufnahme und Assimilation ins Korpus. Zusammengeführt ergeben diese Beobachtungen, dass in der ›Autorenbibliothek‹ Menschenkörper 26

27

Vgl. Martina Schönbächler: »[F]ehlerhafte Thatsächlichkeit«? – Thomas Manns Bibliothek als Medium seiner Poetologie. In: Anke Jaspers/Andreas Kilcher (Hg.): Randkulturen. Lese- und Gebrauchsspuren in Autorenbibliotheken des 19. und 20. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein 2020, 293–314, hier: 307–314. Vgl. Joseph Nicholson: Cataloging Writers’ Private Libraries. In: Richard W. Oram/Joseph Nicholson (Hg.): Collecting, Curating, and Researching Writers’ Libraries. A Handbook. Lanham: Rowman & Littlefield Publishers 2014, 29–51, hier: 30.

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Kreisläufe: Recycling, Serialisierung und Zerstörung von Schriftträgern

und -geist mit Material- und Textkorpus in einer Weise zusammen funktionieren, die als metabolischer Prozess beschrieben werden kann; analog zur Physiologie, wo als Metabolismus die über mehrere Zwischenstufen erfolgende chemische Umwandlung von Stoffen bezeichnet wird, die dem Aufbau, Abbau und Erhalt von Körpersubstanz und der Energiegewinnung für die Aktivitäten eines Organismus dient. Zu 1.) Die erste Beobachtung ist mit dem geistigen Verdauungsprozess des in der Bibliothek lesenden und schreibenden Menschen bereits angesprochen: Die Produkte der Textverarbeitung stehen von der ersten stiftlichen Markierung28 im fremden Drucktext bis zur Autor*in-eigenen Publikation in einem Kontinuum. Flüchtigste Anstreichungen, zusammenfassende Stichwörter am Seitenrand oder ganze Exzerpte in Vor- oder Nachsatz, ausformulierte Kommentare und Gedankenentwicklungen, bis hin zu Entwürfen literarischer Texte findet sich alles in den Büchern. Dass die Publikation dabei keinen Schlusspunkt darstellt, ist handschriftlich bearbeiteten Druckversionen eigener Texte unmittelbar anzusehen: Mit dem Exemplar der in die Bibliothek zurückkehrenden Buchausgabe wird lediglich ein weiteres Zwischenprodukt in einen kreisläufigen Prozess wiedereingespeist. Diese erneute Rohmaterialwerdung von Gedrucktem ist bei der autographen Annotation Autor*innen-eigener Werke – diene sie nun der Druckfehlerkorrektur, der Textanpassung in Leseausgaben oder der Inspirationssuche für weiteres Schreiben – der exakt gleiche Vorgang wie bei der allographen Annotation von Büchern des gesammelten ›Werks zweiter Ordnung‹, die von externer Autorschaft stammen. Zu 2.) Damit zerfällt das lesende, annotierende und schreibende Individuum, an das gekoppelt die Gesamttext sowie (Bücher-)Sammlung bündelnde Autorschaft gedacht wird, intrapersonell in einzelne Instanzen. Das gilt in Analogie zu Barthes’ scripteur für jede Textstufe und auch dort, wo nicht neue Schrift, sondern mittels nicht-alphabetischer Lesespuren neuer Text entsteht. Prototypisch zeigen das die bereits angesprochenen Korrekturexemplare: Die jetzt nur noch je nach Betrachtungsweise ›eigenen‹ Texte werden quasi auto-allograph annotiert und umgeschrieben; von der Hand eine*r Schreiber*in, die zu diesem späteren Zeitpunkt eben nicht mehr mit dem gedruckten Text eine*r Autor*in einverstanden ist. Oder ein*e älter gewordene Leser*in liest und annotiert einen fremden Text zum wiederholten Mal und gewichtet andere Passagen des Drucktexts oder kommentiert und korrigiert gar die vorgefundenen Marginalien ›von eigener Hand‹ des jüngeren Ich. Textkorrekturen formaler und inhaltlicher Art zeigen zudem einen interpersonellen Übergang. In der Thomas-Mann-Nachlassbibliothek findet man, wo sich der Leser an unsorgfältigem Drucksatz gestoßen haben muss, simple Druckfehlerkorrekturen von Manns Hand auch in fremden Büchern. Darüber hinaus sind Zitate korrigiert, wo Manns eigene Texte in fremden Publikationen 28

Zum Begriff vgl. Bamert: Stifte am Werk, 23–25.

Martina Schönbächler: Das Korpus der Autor*in

nicht korrekt wiedergegeben sind, wo Autorschaften also interferieren.29 Weiter kommen auch Marginalien am fremden Text vor, die nicht den Drucksatz, sondern den Text selbst mit einem korrigierenden Gestus kommentieren; beispielsweise, wenn der annotierende Thomas Mann das Metrum in Johann Wolfgang von Goethes Torquato Tasso in Frage stellt: Die gedruckten Verse »Den Schatten breit besessen, soll er nicht / Auch etwas Menschlichs in dem Busen fühlen?« sind in Manns TassoAusgabe mit der Marginalie »Warum nicht: Menschliches im?« versehen.30 Wesentlich über Druckfehlerkorrektur und inhaltlichen Kommentar geht es hinaus, wo Drucktext und Textaussage handschriftlich ergänzt sind. Dort wird, um jetzt die erste Beobachtung betont zu wiederholen, die kategorielle Grenze zwischen den beiden Korpora – Gesamttext und Bibliothek – offensichtlich durchlässig. »[W]ir haben in jedem Momente eben nur den Gedanken, für welchen uns die Worte zur Hand sind, die ihn ungefähr auszudrücken vermögen«, steht im Drucktext eines Nietzsche-Bands in Manns Nachlassbibliothek.31 Handschriftlich ist der Punkt am Satzende in ein Komma korrigiert und ein Relativsatz hinzugefügt: »die ihn schön auszudrücken vermögen…«32 Ein junger Leser Thomas Mann hat im Text des Autors Friedrich Nietzsche einen Satz weitergedacht, ihn korrigiert und weitergeschrieben, sodass es angesichts der handbeschriebenen Druckseite keine triviale Frage ist, wo nun der ›fremde‹ Text aufhört und der ›eigene‹ Text beginnt. Von dieser ersten Frage nicht trennbar stellt sich auch gleich eine zweite: Wessen Person ist Urheber und wer ist ›Autor‹ des Satzes, der da lautet: »Wir haben in jedem Momente eben nur den Gedanken, für welchen uns die Worte zur Hand sind, die ihn ungefähr auszudrücken vermögen, die ihn schön auszudrücken vermögen…«? Mit Johnny Kondrups Termini gesagt, ist hier der im Buch gedruckte ›Materialtext‹ handschriftlich ebenso verändert, wie ein neuer immaterieller ›Idealtext‹ entstanden ist.33 Auf der Buchseite steht nun, gemäß Manuel Bamerts den materiellen und den immateriellen Aspekt vereinendem Begriff, »Textʹ« (gelesen als »Text

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31

32 33

Z.B. Signatur: Thomas Mann 4562: Ernst Kris: Zur Psychologie älterer Biographik. Wien: Internationaler Psychoanalytischer Verlag 1935, https://doi.org/10.24448/ethz-1826, Bild 16, Phänomen 1 (zuletzt abgerufen am 31.08.2022). Signatur: Thomas Mann 532:5: Johann Wolfgang von Goethe: Goethes sämtliche Werke, Bd. 5, hg. v. Ludwig Krähe. Berlin: Tempel [1909/1910], https://doi.org/10.24448/ethz-1121, Bild 298, Phänomen 1 (zuletzt abgerufen am 31.08.2022). Vgl. die Beispiele für Korrekturen und eingreifende Kommentare inklusive einer Abbildung der Textstelle in Torquato Tasso bei Bamert: Stifte am Werk, 246–249. Signatur: Thomas Mann 621:4: Friedrich Nietzsche: Nietzsche’s Werke. Erste Abtheilung, Bd. 4. Leipzig: Naumann 1895, https://doi.org/10.24448/ethz-1234, Bild 251, Phänomen 4 (zuletzt abgerufen am 31.08.2022). Nietzsche: Nietzsche’s Werke. Bd. 4, Bild 251; Hervorhebung im Original als Unterstreichung. Vgl. Johnny Kondrup: Text und Werk – zwei Begriffe auf dem Prüfstand. In: Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 27 (2013), 1–14.

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Kreisläufe: Recycling, Serialisierung und Zerstörung von Schriftträgern

strich«).34 Das Kontinuum schreibt sich über die Bibliothek hinaus fort: Die Lesespur konstituiert im Buch einen neuen Text, der Vorstufe zu einem eigenständigen literarischen Text außerhalb des annotierten Buchs sein kann, welchen wiederum die Druckausgabe zum Werk vergesellschaftet, von der das konkrete Korrekturexemplar in der Bibliothek aufs Neue bearbeitet wird, bis das so erneut Textgewordene dann in einer Gesamtausgabe erscheint und mit dieser wieder in der Bibliothek ankommt usf. Doch bereits die in der Bibliothek aufzufindenden Textstufen lassen sich nicht eine*r einzelnen empirischen Autor*in zuordnen; auch dann nicht – besonders dann nicht –, wenn wie im Fall Mann/Nietzsche die Handschrift des Annotators zweifelsfrei identifizierbar ist.35 Zu 3.) In den Nachlasssammlungen haben mitunter ausgerechnet die materiellen Buchexemplare, deren Texte inhaltlich am nachhaltigsten ins Gesamttextkorpus eine*r Autor*in eingegangen sind, nur zu Teilen oder gar nicht überdauert. Das kann den banalen Grund haben, dass frühe Lektüren oft in Leih- oder Schulbüchern stattfinden; oder dass die in der Jugendzeit angeschafften Bücher im bewegten Lauf einer Biographie schlicht öfter Gelegenheit haben, verloren zu gehen. In Manns Nachlass stehen von den Schopenhauer- und Nietzschelektüren des jungen Mann, die fortwährend sein gesamtes Schreiben prägen, längst nicht alle der ursprünglich gelesenen Originalbände. Offen bleibt hier die Frage, inwieweit die inhaltliche Nachhaltigkeit solcher Lektüren im literarischen Werk auch mit der materiellen Affordanz der Bücher zusammenhängt, in denen sie stattgefunden haben. Nicht jedes Buch bietet dem ›Lesen mit dem Stift‹ die gleiche Grundlage, sei es, weil Weißraum auf der Druckseite fehlt, die Dimensionen des Buchs ein bequemes Abstützen der stifthaltenden Hand nicht erlauben oder ein Band zu kostbar für diese Art der materiellen Aneignung scheint.36 In Manns Beispiel ging wie oben gesehen zumindest die frühe und prägende Nietzsche-Lektüre mit der Annotation von Bänden einer stattlichen Gesamtausgabe einher. Bekannt ist von Mann zudem, dass er ältere – vermutlich günstigere und weniger repräsentative – Handexempla-

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Bamert: Stifte am Werk, 258–261. Das gilt in Fällen oben beschriebener ›autographer‹ Annotation durch intrapersonell verschiedene Instanzen genauso. Vgl. auch Manuel Bamert: Gelesenes Gedrucktes. Textzentrierte Erklärungsansätze zur Entstehung von Lesespuren. In: Anke Jaspers/Andreas Kilcher (Hg.): Randkulturen. Lese- und Gebrauchsspuren in Autorenbibliotheken des 19. und 20. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein 2020. Die kognitionswissenschaftlichen Aspekte der Praktik des Lesens mit dem Stift wären hier unbedingt mitzubedenken. Vgl. dazu z.B. Kornelia Engert/Björn Krey: Das lesende Schreiben und das schreibende Lesen. Zur epistemischen Arbeit an und mit wissenschaftlichen Texten. In: Zeitschrift für Soziologie 42 (2013), 366–384.

Martina Schönbächler: Das Korpus der Autor*in

re mitunter bewusst mit jenen Gesamtausgaben ersetzte,37 die jetzt kaum berührt im Nachlass stehen. Nicht erhalten ist insbesondere auch seine Reclam-Sammlung aus der Jugendzeit.38 Es ist vielleicht die Praktik, für die sich Reclam-Hefte ökonomisch und materiell von jeher besonders anbieten: Textinhalte werden daraus extrahiert und die Reste der Bändlein selbst am Ende zerlesen und verschrieben aussortiert. Extraktion ist also durchaus so zu verstehen, dass der Materialtext auf dem Papier den ursprünglichen Idealtext kein zweites Mal hergeben könnte. Soll im Zug eines Denk- und Schreibprozesses nicht das ausgewertete Substrat einer älteren Lektüre wiedergekäut, sondern ein Text ein weiteres Mal ›im Original‹ gelesen werden, muss daher im Dienst von sowohl Bereinigung als auch Erneuerung das alte Exemplar durch ein unbenutztes ersetzt werden. Was verwertbar ist, was geistige Energie oder textuelle Substanz für das Wachstum des eigenen Textkorpus liefert, wird resorbiert und assimiliert, der Ballaststoff bedruckter Zellulose anschließend ausgeschieden. Wann allerdings etwas als ausgeschieden gelten kann, steht auf anderen Blättern: Unter den Büchern, die Ingeborg Bachmann ausgelesen in ihrem Elternhaus zurückgelassen hat, befindet sich eine Reihe von Taschenkriminalromanen, deren Schmutztitelseiten systematisch ausgerissen sind39 und dort also jetzt fehlen. Zu welchem Zweck die Seiten aus den Büchern getrennt wurden, ob sie vielleicht als Lektüreerinnerungen an die Buchinhalte selbst, als Notizpapier in einem davon losgelösten (Schreib-)Prozess oder nur als Butterbrotverpackung dienten, bleibt der Mutmaßung überlassen. In jedem dieser Fälle aber handelt es sich um eine Nach- und Neunutzung von materiellem, je nachdem auch metaphorischem ›Stoff‹, der innerhalb des Buchzusammenhangs seinen Dienst getan hat. Zu 4.) Für solche Resorption und Assimilation ist offenbar nicht alles gleichermaßen geeignet, was in einer Bibliothek steht. Und nicht alles liefert gleich viel oder gleich nachhaltig Energie für Schreibprozesse und den Aufbau des Textkorpus. Das Prinzip der Resorbierbarkeit – anders gesagt der Affordanz für einen bestimmten Organismus – von Stoffen, also die Leichtigkeit, mit der sie verdaut, aufgenommen und in den eigenen Körper verbaut werden, kann zumindest die in Manns Nachlassbibliothek wichtigsten Muster von Rezeptionsspuren besonders gut erklären.40 Je nach Leser*in wird vieles gar nicht gelesen, oder es wird gelesen

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Vgl. z.B. Manns Brief vom 22.12.1903 an Samuel Fischer, in: Samuel Fischer/Hedwig Fischer: Briefwechsel mit Autoren. Hg. von Dierk Rodewald und Corinna Fiedler. Frankfurt a.M.: Fischer 1989, 404. Vgl. Renate Böschenstein: Eichendorff im Werk Thomas Manns. In: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft 47 (1987), 31–52, hier: 34. Freundlicher Hinweis von Heinz Bachmann vom 22.09.2021. Vgl. zur Aufnahme des ›Fremden‹ und Auffindung des ›Eigenen‹ als Muster der Rezeption in Manns Nachlassbibliothek Schönbächler: »[F]ehlerhafte Thatsächlichkeit«, 308–312.

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und trotzdem nicht aufgenommen, oder dann aufgenommen, aber wieder ausgeschieden. Die Markierung des Texts ist, mit Kornelia Engert und Björn Krey gesagt, »die körperlich-perzeptive Fundierung epistemischer Arbeit«, mit der Textstellen kognitiv verfügbar gemacht werden, und »fungiert als additive Reduktion von Komplexität, die durch das Hinzufügen weiterer Farb- und Zeichenschichten auf dem Text geleistet wird.«41 Manns Sachbücher sind für letzteres ein Beispiel. Heftig annotiert, liefern sie für Manns Texte reichhaltige Detailinformationen, die rasch rezipiert, in einem einzelnen Text verarbeitet, und ebenso rasch wieder vergessen sind. Ein etwas anderes Bild geben Bücher, in deren umfangreichen Texten nur ganz selektiv Stellen markiert sind, die sich auf Manns zum Lektürezeitpunkt bereits etablierte eigene Themen beziehen lassen. Man könnte sie als nahezu unverdaut bezeichnen: Erfasst wurde davon nur, was stofflich in bereits korpuseigener Form vorlag und einer Zerlegung und Aufbereitung nicht bedurfte. Dem gegenüber stehen die erwähnten Texte, die dem Korpus wiederholt und über lange Zeit hinweg Inspirationsenergie liefern und seine Gestalt anhaltend prägen.

3. Vom Rhizom zum Myzel? Rekapitulieren lässt sich: Aus der Affinität von Vorstellungen des biologischen Körpers und des literarischen Korpus eine*r Autor*in geht die Metapher der Autor*innenbibliothek als Ort der (geistigen) Verdauung eine*r Schriftsteller*in hervor; Textstufen im Schreibprozess sind als metabolische Zwischenprodukte zu verstehen. Mit der Bibliothek als ›Werk zweiter Ordnung‹ erweitert sich das AutorKorpus vom bloßen Gesamttext um zusätzlich die Materialsammlung, wobei deutlich wird, dass sich die kategorielle Abgrenzung dieser beiden Teilkorpora in einer Vielzahl von textuellen Zwischenstufen auflöst. Aus den Textstufen wird damit eine Überpersonalität von deren Urheber- oder Autorschaft ersichtlich. Autor*innenbibliotheken fordern also das theoretische Wissen um die Intertextualität der Texte selbst sowie das Bewusstsein, dass Lesen, Denken und Schreiben nicht in Einzelköpfen, sondern in deren Interaktion stattfindet. Diese Unabgeschlossenheit auf textlicher und auf menschlicher Seite zeigt sich jedoch materiell nur in diskreten Stufen.42 Steht auf einem Stück Papier eine Notiz von der Schreibhand eines Individuums, ist es daher sinnvoll, solche Papierstücke nach Schreibhänden in textgenetische Dossiers zu bündeln. Ähnlich wird das Buch mit einem Drucktext, den das Lesegehirn desselben Individuums rezipiert hat, dessen Autor*innen-

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Kornelia Engert/Björn Krey: Das lesende Schreiben und das schreibende Lesen, 378f. Vgl. Wolfgang Lukas: Archiv – Text – Zeit. Überlegungen zur Modellierung und Visualisierung von Textgenese im analogen und digitalen Medium. In: Anke Bosse/Walter Fanta (Hg.): Textgenese in der digitalen Edition. Berlin: de Gruyter 2019, 23–49, hier: 23–25.

Martina Schönbächler: Das Korpus der Autor*in

bibliothek zugeschlagen. Doch zeigt wie gesehen gerade dieses gesammelte Material die Spuren von wesentlich komplexeren Verbindungen und Interaktionen. Weder die Schreibinstanzen noch die Textmassen lassen sich in geschlossene Kategorien sortieren. Und nach wie vor bleibt die Frage, wo Fremdstoff aufhört, fremd zu sein, und wem oder was er denn eigentlich zu eigen wird. Zu entscheiden ist außerdem nicht eindeutig, wer in den Rezeptions- und Produktionsvorgängen wen umformt. Wenn ein*e annotierende Leser*in mit dem physischen Materialtext auf der Buchseite auch den Idealtext verändert, dann lässt sich das literaturwissenschaftlich auf Seite des Textkorpus beobachten, ließe sich aber kognitions- und neurowissenschaftlich genauso auf Seite der menschlichen Physiologie befragen; Physiologie allerdings nicht des Magens, sondern des Gehirns, wirken sich Lektüreakte doch auf dessen neuronale Vernetzung und chemische Prozesse aus. Bibliothek und Autor*in arbeiten gegenseitig aneinander, auch und gerade körperlich. Daraus muss nun eine Erweiterung der Stoffwechselmetapher folgen, die über ihre ursprüngliche Individualität hinausreicht, jedenfalls insofern sie noch an ein einzelnes menschliches Agens gebunden war. Vorstellbar ist eine solche Erweiterung, weil offensichtlich Büchersammlung, Gesamttext und menschliche Akteure nicht einfach in ihre Heterogenität zerfallen oder in einem Raum unendlicher Intertextualität haltlos ausfransen. Als Vielheit können sie gefasst werden; genauer, als rhizomförmige Vielheit, wie sie Gilles Deleuze und Félix Guattari durch ihre dezentrale Form und die vernetzte Funktionalität charakterisieren.43 In ihr spielt sich der Hyper-Stoffwechsel ab, mit dem sich die Literaturwissenschaft in der ›Autorenbibliothek‹ eigentlich beschäftigt. Zu denken wäre dementsprechend ein Hyper-Organismus, der den agierenden »créateur«, das wachsende Gesamttextkorpus sowie das fluktuierende Korpus der Autor*innenbibliothek miteinfasst. Will man sich darauf einlassen, so gleicht die Funktionsweise eines solchen Organismus nicht mehr dem tierischen Metabolismus eines Wesens mit Lesegehirn und Schreibhand, das in der Autor*innenbibliothek die Stoff- und Energiequelle für seine geistige Verdauung findet, sich knäckebrotkauend durch die Büchersammlung bewegt und dabei neuen eigenen Text schafft. Sie ähnelt auch nicht dem Stoffwechsel einer Pflanze. Deren Wurzelstock gibt zwar dem Rhizomkonzept die Form, ihr Körper bringt sich aber aus wenigen simplen Molekülen (H2 O und CO2) und von substanzielleren Nahrungsquellen weitgehend unabhängig mittels Lichtenergie selbst hervor. Er wächst dabei dem eigenen inneren Bauplan gemäß, entspräche also am ehesten einem genieästhetischen Ideal. Nach dem Ausschlussverfahren bleibt die Analogie daher noch bei den Pilzen zu suchen, die wie Tiere und Pflanzen unter den eukaryotischen Lebewesen ein eigenes Reich bilden. Pilze wachsen als untergründiges, rhizomförmig sich verzweigendes 43

Gilles Deleuze/Félix Guattari: Rhizom. Berlin: Merve 1977.

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Kreisläufe: Recycling, Serialisierung und Zerstörung von Schriftträgern

und vernetzendes Myzel, ernähren sich aber im Unterschied zu Pflanzen nicht photosynthetisch. Wie tierische Organismen bauen sie bereits vorhandene organische Verbindungen, also Pflanzen- und Tierkörper ab und um, ohne dazu wie jene einen spezialisierten Ingestionsapparat zu benötigen. Ihre Verdauung funktioniert hingegen osmotroph im Austausch mit ihrer äußeren Umgebung,44 indem sie nämlich ihre Enzyme in Kontakt mit dem Substrat bringen und die so gelösten Metaboliten osmotisch aufnehmen. Myzelien stelle man sich in ihrer weitläufigen Unabgeschlossenheit dabei, so Merlin Sheldrake, »besser nicht als Gegenstand vor, sondern als Prozess«.45 Sie haben die Fähigkeit, mit anderen Myzelien zu verschmelzen,46 Hybride zu bilden und damit ihr Erbgut zu diversifizieren.47 Sich auf diese Weise im Nährboden fortpflanzend, können Myzelien vieler Arten auch überirdisch sichtbare Fruchtkörper ausbilden, die landläufig als ›Pilze‹ bezeichnet werden und der Dissemination von Sporen dienen. Stendhal, beschreibt Ferrer, ließ Teile seiner Bibliothek an den wechselnden geographischen Stationen seines Lebens jeweils zurück und verfügte testamentarisch, dass nach seinem Tod die Bücher weiter zerstreut werden – als sei die Sammlung für ihn kein fremder Körper (»corps étranger«), so dass er gleichsam Fragmente seiner selbst verteilte.48 Oder erstrecken sich hier die Hyphen eines Myzels mit textlichen, materiellen, menschlichen Anteilen durch den Raum?49 Entspricht die materielle Anreicherung, welche eine Bleistiftspur auf der Papierseite bedeutet, der Funktionsweise osmotropher Verdauung? Sind die Graphitpartikel das Enzym, das die Extraktion von Textsinn ermöglicht? Gibt die ›Genetik‹ eines Korpus vor, welche Textversatzstücke oder Denkfiguren überhaupt resorbierbar sind? Und kann sich diese Genetik verändern, wenn unterschiedliche Bücherkonvolute ineinander aufgehen? Kommt es – beispielsweise über Textfragmente im brieflichen Austausch – zu lateralem Gentransfer, der sich potenziell auf den metabolischen Prozess auswirkt?50 Wenn Stendhal gewisse seiner Bücher mit zusätzlichen leeren Seiten neu binden lässt,51 so dass sie durchschossen von Notizpapier die Grundlage für sein eigenes schriftliches Denken bilden, sind daran Hybridisierungserscheinungen am Material sichtbar?

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Miguel A. Naranjo-Ortiz/Toni Gabaldón: Fungal evolution: cellular, genomic and metabolic complexity. In: Biological Review 95 (2020), 1198–1232, hier: 1199. Merlin Sheldrake: Verwobenes Leben. Wie Pilze unsere Welt formen und unsere Zukunft beeinflussen. Berlin: Ullstein 2020, 17. Sheldrake: Verwobenes Leben, 58. Naranjo-Ortiz/Gabaldón: Fungal evolution, 1207f. Ferrer: Introduction, 19. Vgl. Sheldrake: Verwobenes Leben, 75–78. Vgl. Naranjo-Ortiz/Gabaldón: Fungal evolution, 1220. Ferrer: Introduction, 20.

Martina Schönbächler: Das Korpus der Autor*in

Der ›organlose Körper‹ eines Autor-Organismus inkorporiert Materialtext und Textmaterial, verzweigt sich intrapersonell, vernetzt sich intertextuell und sozial, um aus seinem Geflecht wie Fruchtkörper neue Publikationen hervorzutreiben. Das darin enthaltene Gedankengut kann, als Textpartikel wie Sporen in die Umwelt entlassen, dort weiteres (text)genetisches Potential entfalten. Wie weit die Analogie tatsächlich trägt, wäre im Einzelnen zu prüfen. Jedenfalls scheint es, dass die Pilzmetapher das unmittelbar Einleuchtende der Verdauungsmetapher beibehalten und zugleich die eingangs dargelegten beiden Pole von Autorschaft in der ›Autorenbibliothek‹ miteinander vereinen kann. Denn die Interaktion von Mensch, Material und Text bewirkt erst den Stoffwechselprozess, der und den eine Autorinstanz konstituiert. Und der Pilz ist zugleich einzelner Organismus und Vernetzung, Individuum und Intertext.

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IV. Transformationen: Ressourcen und Nachhaltigkeit

Erzählstoff Papier Sprechendes Flachs und stinkende Haderlumpen Martina Wernli

Wenn Johann Wolfgang Goethe in seinem Werk Geologie und Mineralogie. Studien um Teplitz 1813 notiert: »Die Papiermühle, von Unterleidensdorf, weiter nach Abend gelegen, hat uns endlich mit einem guten Papiere versorgt, welches in Teplitz nicht aufzutreiben war; nun müßte sich noch eine Tintenquelle auftun, und so wäre unser Schreibzeug in ziemlicher Ordnung«1 und wenn Friedrich Schiller in einem Gedicht schreibt: »Ich kraze mit dem Federkiel auf den gewalkten Lumpen«,2 so wird damit deutlich: Wissenschaft und Literatur, Mineralogie und Poesie sind insofern miteinander verbunden, als sie Schreibmaterial benötigen, um festgehalten zu werden. Was auf dem »guten Papiere« oder »gewalkten Lumpen« notiert wurde, erfüllte die Bedingungen, um damals memoriert, danach archiviert und überliefert zu werden, und es kann auf Grund dieser Prozesse heute noch gelesen werden. Hinter dem Inhalt, um den es vordergründig geht, und auf den sich die Rezeptionsgeschichte vornehmlich konzentriert, nämlich Goethes Lehre von den Mineralien oder Schillers Abfassung des Dramentextes Don Karlos, steckt auch eine Materialgeschichte, die am Rande miterzählt wird. Erwähnung findet das Material vor allem dann – das hat vor zwanzig Jahren Bill Brown in seiner Thing Theory festgehalten –, wenn es fehlt oder stört.3 Während Brown diese Beobachtung ohne historische Zuschreibung präsentiert, kann die Zeit um 1800 als eine bezeichnet werden, die in der Folge der Genieästhetik vermehrt Dokumente von Autoren (deutlich seltener: von Autorinnen) aufbewahrt, und damit auch solche, die die Widerständigkeit von Schreibzeug bezeugen. Schreibprozesse finden innerhalb eines Netzwerkes statt, historisch betrachtet wird dazu ein Zusammenspiel unterschiedlicher Akteure wie Schreibwerkzeug (Feder, Griffel oder

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Johann Wolfgang Goethe: Geologie und Mineralogie. Studien um Teplitz. Zinnformation. Aus Teplitz 1813. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 1: Briefe, Tagebücher und Gespräche. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, 454. Friedrich Schiller: Werke. Hg. von Julius Petersen u.a. Weimar: Böhlau 1943, 159f. Vgl. Bill Brown: Thing Theory. In: Critical Inquiry 28/1 (Herbst 2001): Things, 1–22.

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Transformationen: Ressourcen und Nachhaltigkeit

Bleistift), Tinte, Beschreibstoff (Pergament, Papyrus, Wachs, Papier), Körper, Gesten, Möbel und Licht benötigt. Wie die obigen Zitate von Goethe und Schiller zeigen, besteht das um 1800 in Europa aktuelle Schreibensemble aus Gänsekiel und Papier. Beide befinden sich in einer Phase vor einem größeren Umbruch – die tierliche Feder wird ab den 1830er Jahren sukzessive von der Stahlfeder4 abgelöst und auch beim Papier verändert sich das Ausgangsmaterial grundlegend: Die Haderlumpen werden ab 1840 langsam durch Holz ersetzt.5 Während Schiller und Goethe noch in der Zeit lebten, in der Flachs am Anfang der Papierproduktion stand, eröffnete die Erfindung des Holzschliffs und damit die Erschließung von Holz als Rohstoffquelle im 19. Jahrhundert sowohl in quantitativer als auch in qualitativer Hinsicht ganz neue Möglichkeiten.6 Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich mit der Vorgeschichte dieser neuen Art der Papierfabrikation und damit mit dem Rohstoff Flachs und den Formen seiner weiteren Verarbeitung. Es geht also um diejenige Zeit, in der aus einer Pflanze Textilien und aus diesen wiederum der Beschreibstoff Papier gefertigt werden konnte. Ausgegangen wird von der These, dass Flachs dabei ein Erzählstoff ist, der den Beschreibstoff Papier erst ermöglicht und der wiederum auf ihm erzählt wird – dem also eine materiell basierte Selbstreferentialität zukommt. Um dies zu verdeutlichen, ist eine Verbindung von Materialgeschichte, Technikgeschichte, Wissensgeschichte, dem Erzählen und dem literarischen, metaphorisierten ›Stoff‹ gewinnbringend. Die vorliegenden Ausführungen nehmen eine heuristische Trennung der Textsorten in Technikgeschichte und Literaturgeschichte vor, um damit Einblicke zu bieten in eine Stoffgeschichte im doppelten Wortsinn, nämlich diejenige des Materials und des dargestellten Materials. Ein erster Teil widmet sich der Material- und Technikgeschichte des Papiers, der zweite Teil dem sprechenden Material, wobei dort unterschieden wird zwischen dem Flachs als Gefahrenstoff im Märchen und dem sprechenden Flachs in der Dinggeschichte. Nach einem Fazit wird ein Epilog auf eine besondere Briefmarke verweisen.

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Vgl. dazu Martina Wernli: Federn lesen. Eine Literaturgeschichte des Gänsekiels von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert. Göttingen: Wallstein 2021, 439–490. Zur Geschichte des Papiers vgl. Lothar Müller: Weisse Magie Die Epoche des Papiers. München: Hanser 2012; Therese Weber: Die Sprache des Papiers. Eine 2000-jährige Geschichte. Bern/ Stuttgart/Wien: Haupt 2004. Davide Giuriato verweist auf die Erfindung des Holzschliffs im Jahr 1844 in Sachsen. Holzschliffpapier sei aber schnell brüchig und gelblich braun geworden, Lumpenfasern hingegen bewirken eine höhere Festigkeit des Papiers: Davide Giuriato: Briefpapier. In: Anne Bohnenkamp/Waltraud Wiethölter (Hg.): Der Brief – Ereignis & Objekt. Katalog der Ausstellung im Freien Deutschen Hochstift – Frankfurter Goethe-Museum. Frankfurt a.M.: Stroemfeld 2008, 1–18.

Martina Wernli: Erzählstoff Papier

1. Material- und Technikgeschichte des Papiers Die Verwendung von Papier nimmt im europäischen Raum ihren Anfang rund tausend Jahre später als in China; die Erfindung verbreitete sich über arabische Gebiete nach Italien und von dort nach Deutschland. Wattenbach gibt als ersten Nachweis für die Herstellung von Papier aus Lumpen ein Zitat von Petrus Cluniacensis (1120–1150 Abt von Cluny) an.7 Basis für diese Lumpen bildet die Pflanze Flachs, oder auch »Lein« genannt, wie sie in der Oekonomischen Encyklopädie von Krünitz zu finden ist: »Lein Flachs, Linum usitatissimum, Linn. ist dasjenige Gewächs, aus dessen Bast vorzüglich Garn gesponnen, und Leinewand verfertigt wird. Der Nahme Lein scheint sehr alt zu seyn, und man will behaupten daß er aus ältern Sprachen auf uns fortgepflanzet worden, weil man ihn fast in allen europäischen Sprachen findet.«8 Die Enzyklopädie beschreibt ausführlich die unterschiedlichen Verwendungsweisen der Ausdrücke ›Lein‹ und ›Flachs‹, die teilweise auch als Synonyme vorkommen. Außerdem wird in dem langen Eintrag landwirtschaftliches sowie arbeitstechnisches Wissen vermittelt.9 Eine simple Zuordnung von historischen Epochen zu Beschreibstoffen (also das europäische Mittelalter als Zeit von Pergament und Wachstafel zu beschreiben und die Frühe Neuzeit als der Zeit des Papiers) greift zu kurz. Vielmehr geht die Forschung von einer Überlappung aus, ja sogar von einer vorübergehenden Zunahme des Pergamentgebrauchs im Verlauf des 15. Jahrhundert, wenn vor allem der Einsatz von Papier erwartet würde.10 Die Verwendung von lokal produziertem Papier in größeren Mengen konnte überhaupt erst mit der Errichtung und Inbetriebnahme von Papiermühlen ihren Anfang nehmen. Auf deutschem Gebiet wurden die ersten

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Vgl. Wilhelm Wattenbach: Das Schriftwesen im Mittelalter. Leipzig: S. Hirzel 4 1896, 142. Wer im Krünitz nach ›Flachs‹ sucht, wird zu ›Lein‹ weitergeleitet. Vgl. Johann Georg Krünitz: Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft. Bd. 76. Berlin: Pauli 1799, 1-125, hier: 1. Für eine historische Analyse des Leinenhandels vgl. die Dissertation von Christof Jeggle: Leinen aus Münster/Westfalen im 16.und 17. Jahrhundert (eingereicht an der FU Berlin, 2009). http s://d-nb.info/1063934559/34 (zuletzt abgerufen am 12.10.2022). Vgl. Bernd Schneidmüller: Papier im mittelalterlichen Europa. Zur Einführung. In: Ders./Carla Meyer/Sandra Schultz (Hg.): Papier im mittelalterlichen Europa. Herstellung und Gebrauch. Berlin/München/Boston: de Gruyter 2015, 3.

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Mühlen um 1400 eingerichtet, Nürnberg und Ravensburg sind dabei zentrale Orte. Davor wurde Papier aus Frankreich und Italien importiert.11 Verglichen mit dem Pergament bringt das Papier mit der möglichen Verwendung von Wasserzeichen eine zusätzliche Ästhetisierung des Materials und für die Nachgeborenen eine Datierbarkeit mit sich,12 die beide (also Ästhetisierung und Datierbarkeit) sogar noch ohne Schriftzug auskommen. Das Produkt Papier und die im Wasserzeichen durch eine Drahtvorlage im Sieb verdünnte Materialität sichtbar gemachte Zeitlichkeit werden im neueren Beschreibstoff miteinander verbunden. Weniger Material im mit dem Wasserzeichen ›bezeichneten‹ Papier verstärkt in diesem Fall die zeitliche Indexikalität. Das Wasserzeichen bietet in seiner höheren Lichtdurchlässigkeit eine Ästhetisierung durch die Form und deiktische Verweisstruktur auf eine bestimmte Zeitlichkeit. Diese Zeitlichkeit liegt im Material selbst, das wiederum durch die Beschriftung auf dem Material, etwa in einem Brief oder einer Urkunde, zusätzlich datiert werden kann. Mit Wasserzeichen versehene Beschreibstoffe bieten die Möglichkeit einer doppelten zeitlichen Inskription. Außerdem konnten Wasserzeichen auch zum Markenzeichen werden, wobei eine Papiermühle durchaus auch unterschiedliche Wasserzeichen mit allgemeineren Symbolen wie etwa Kronen verwendete und diese Zeichen daher nicht direkt mit dem Entstehungsort des Papiers verbunden sein mussten.13 Als Ausgangsstoff für Gewebe und späteres Papier durchlief Flachs nach dem Anbau und der Ernte verschiedene Verarbeitungsstufen; er musste getrocknet, gebleicht, gesponnen und gewoben werden. Die daraus genähten Kleidungsstücke waren daher kostbar und Lumpen eine begehrte Ware. Mit der erhöhten Nachfrage nach Papier wurde das zu einem Problem. Entsprechend gab es politische Versuche, diese materiellen Kreisläufe zu reglementieren, was über Bewilligungen und Verbote vonstatten ging: »Die Papierherstellung war in erster Linie von der Altstoffbeschaffung abhängig. Um diese zu gewährleisten, erließ Venedig 1366 ein Ausfuhrverbot für Lumpen und Papierabfälle, um die Produktion der Papiermühlen in Treviso zu schützen; Privilegien zum Lumpensammeln wurden erteilt (1424 Genua).«14 11

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Vgl. Elisabeth Vavra: Art. »Papier und Druck«. In: Enzyklopädie des Mittelalters. Bd. II. Hg. von Gert Melville und Martial Staub. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2008, 212. Ferner: Wattenbach: Das Schriftwesen im Mittelalter, 10. Stromers Papiermühle in Nürnberg ist bereits auf der Schedelschen Weltchronik von 1493 abgebildet. Zu den modernen Methoden der Datierung von Papier vgl. Peter F. Tschudin: Grundzüge der Papiergeschichte. Stuttgart: Hiersemann 2 2012, 41. Zu den naturwissenschaftlichen Methoden der Papieruntersuchung vgl. ebd., 49–56 sowie zu den Kosten, die in Handpapiermühlen anfielen ebd., 122f. Karin Schneider: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung. Tübingen: Max Niemeyer 2 2009, 113f. Vavra: Art. »Papier und Druck«, 212f.

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Die Lumpen als Ausgangsstoff für Papier galt es also mit juristischen Mitteln für den Eigengebrauch zu schützen – sie wurden damit zu ökonomischen und politischen Stoffen. In den Papiermühlen waren die sogenannten Papiermacher tätig – dabei handelte es sich um einen eigenständigen, handwerklichen Beruf. So wird der »Papyrer« auch vorgestellt bei Jost Ammans respektive in Hans Sachs’ Eygentlicher Beschreibung aller Stände auf Erden von 1568. (Abb. 1)

Abb. 1: Hans Sachs: »Der Papyrer«, 1568

Hans Sachs: Eygentliche Beschreibung Aller Staende auff Erden/Hoher und Nidriger/Geistlicher und Weltlicher/Aller Künsten/Handwercken und Händeln. Frankfurt a.M.: Feyerabents 1568, 47.

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»Ich brauch Hadern zu meiner Mül/Dran treibt mirs Rad deß wassers viel/Daß mir die zschnitn Hadern nelt/Das zeug wird in wasser einquelt/Drauß mach ich Pogn/auff de filtz bring/Durch preß das wasser darauß zwing. Denn henck icks auff/laß drucken wern/Schneweiß und glatt/so hat mans gern.«15 Auf der Schwelle zur Industrialisierung wurde die Herstellung von Papier stark ausgebaut und vom Handwerk zu einer eigenen Wissenschaft. Als L’Art de faire le papier wird sie vom Astronomen und Mathematiker Joseph Jerom François de la Lande (1732–1807) für die Pariser Akademie beschrieben und von Johann Heinrich Gottlob von Justi 1762 auf Deutsch übersetzt und publiziert. Das Werk umfasst mehr als 200 Seiten und zeigt mit über einem Dutzend Kupfertafeln auch bildlich, wie Papier hergestellt wurde.16 Dabei vermittelt das Werk das zeitgenössische Wissen um die Papierherstellung ebenso wie das unsichere Wissen – woher nämlich die besten Lumpen stammten und die Frage, ob die Lumpen vor dem Stampfen gewaschen werden sollten, stellt das Buch als Gegenstand von Diskussionen dar (L, 33f.). Die Sammlung von Lumpen muss man sich als Arbeit an äußerst dreckigen und stinkenden Orten vorstellen. Dabei handelte es sich in der Darstellung de la Landes um eine Form von Kleinsthandel: »Die Lumpensamler, oder Hadernkrämer […], welche die Dörfer durchwandern, bringen eine große Menge von Hadern, oder Lumpen zusammen, zuweilen in denen Kothhaufen auf den Straßen, am meisten aber vermittelst einiger Kleinigkeiten, die sie denen Bedienten, oder den Armen davon geben, die nicht wissen, was sie damit machen sollen.« (L, 33) Das Sammeln ging also mit einem Tauschprozess mit mehreren Akteuren und Aktanten (den »Kleinigkeiten«) einher. Bereits aus einer Art Retrospektive preist de la Lande in seiner Einleitung Papier als ein scheinbar einfach zu gewinnenden Beschreibstoff: »Hätte man wohl eine mehr gemeinere Sache anwenden können, als die alten Ueberbleibsel von unsern Kleidungen, und ganz abgenutztes Leinenzeug, die nicht zu dem geringsten andern Endzweck gebrauchet werden können, und deren Menge sich alle Tage erneuert? Hätte man wohl eine mehr einfachere Arbeit ausfin15

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Hans Sachs: Eygentliche Beschreibung Aller Staende auff Erden/Hoher und Nidriger/Geistlicher und Weltlicher/Aller Künsten/Handwercken und Händeln. Frankfurt a.M.: Feyerabents 1568. Weitere Berufe, die Sachs vorstellt und die mit Papier in direkter Verbindung stehen, sind der Formschneider, der Buchdrucker sowie der Briefmaler. Die einzelnen (nicht wenigen!) Schritte der europäischen Handpapiermacherei fasst Tschudin: Papiergeschichte, 101f. zusammen. Die Kunst Papier zu machen. Nach dem Text von Joseph Jerom François de la Lande übersetzt und kommentiert von Johann Heinrich Gottlob von Justi 1762. Hg. von Alfred Bruns. Münster: Landschaftsverband Westfalen-Lippe 2 1993. Auf diese Publikation wird fortan im Text direkt mit der Sigle L und der entsprechenden Seitenzahl referenziert.

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dig machen können, als die Stampfung von einigen Stunden vermittelst der Mühlen? Man ist erstaunt, wenn man bemerket, daß diese Arbeit dergestalt geschwind von statten gehet, daß fünf Arbeiter in einer Mühlen ganz bequehm das nöthige Papier zu der unaufhörlichen Arbeit von 3000 Schreibern verschaffen können.« (L, 27) Was de la Lande in dieser Textpassage aus der Sicht des Enzyklopädisten als »bequem« bezeichnet, sieht auf den Tafeln eher nach harter Arbeit aus. Eine erste Darstellung (Tafel I, Abb. 2) zeigt die Auswahl und die Sortierung der Lumpen und deren Zerschneidung. Auffallend ist hier, dass im oberen Teil ausschließlich Frauen arbeiten, es sind laut Bildbeschreibung die »Ausleserinnen/Sortirerinnen«, de la Lande schreibt dazu später: »Dieses sind Weiber, die gebraucht werden, die Lumpen abzuschaben und nach ihren verschiedenen Beschaffenheiten auszulesen. […] Eine jede von diesen Ausleserinnen hat eine mit einer groben Leinwand umgebene Pappe, die an ihrem Gürtel hänget, und auf ihre Knie geleget wird, auf welcher sie mit einem langen und sehr scharfen Messer, die Nähte aufmacht, wenn dergleichen vorkommen, und alle Unreinigkeiten abschabet.«17 Beim unteren Bildteil handelt es sich um das Fäulnisgewölbe – den dazugehörigen Gestank muss man sich zur Abbildung dazu denken. Für diese Arbeit wurden ältere Frauen bevorzugt: »Uebrigens, da die Verrichtung der Ausleserinnen Aufmerksamkeit, Unterscheidungskraft und Genauigkeit erfordert; so bemühet man sich Persohnen von einem reifen Alter dazu anzustellen; und man kann es nicht Kindern anvertrauen.« (L, 36) Die Lumpen wurden gesammelt (in unterschiedlichen Mengen, je nach Fabrikgröße) und dann erst zum »Faulungsort«18 gebracht. Auch die Dauer des Fäulnisprozesses konnte sehr unterschiedlich ausfallen, je nach Verarbeitungsort. Die kleineren Orte wie die Papiermühlen hatten die Möglichkeit, die Lumpen länger faulen zu lassen, »denn weil die Haufen kleiner sind, so erhitzen sie sich weniger und schwehrer.« Als eine mögliche Zeitdauer für den Fäulnisprozess gibt de la Lande fünf bis sechs Wochen an (L, 39). Als Zeichen der erfolgreich erfolgten Verfaulung wird das Wachstum von »Champignons« (ebd.) auf den Lumpen gewertet. Wird der Faulung zu wenig Zeit eingeräumt, dann wurde der »Papierteig« von den Arbeitern »eine wilde Materie« (L, 41) genannt. Nicht nur das Zielmaterial, das Schreibpapier, kann 17 18

L, 35f. In weiteren Arbeitsschritten werden dann die »Zählerinnen« und »Ausschießerinnen« als weitere zentrale Akteurinnen beschrieben. (L, 141) De la Lande schreibt, dass für eine Fabrik rund »dreyßig tausend Lumpen« gesammelt wurden, in den kleinen Manufakturen beginne man bereits mit zwei- bis dreitausend Lumpen zu arbeiten (L, 38).

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sich durch Widerständigkeit auszeichnen, sondern schon der »Papierteig« als Stoff muss in der Produktion gezähmt werden – Fäulungsprozesse müssen in Gang gesetzt und zugleich kontrolliert werden, denn auch zu langes Faulen-Lassen würde durch Verdünnung des Materials nicht zum gewünschten Produkt führen.

Abb. 2: »Aussuchung und Sortirung der Lumpen, ihre Zerschneidung und Faulung.« (Tafel I)

Die Kunst Papier zu machen. Joseph Jerom François de la Lande übersetzt und kommentiert von Johann Heinrich Gottlob von Justi 1762. Hg. von Alfred Bruns. Münster: Landschaftsverband Westfalen-Lippe 2 1993, Tafel I.

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Die weiteren Verarbeitungsschritte umfassen die Verkleinerung der Lumpen (im verfaulten Zustand) mit einem »Scheidemesser« oder »Haderschneider« (L, 44), worauf das Stampfen des Lumpenbreis mit hölzernen Hämmern, Stampfen oder Zylinder folgt. Auch für die weiteren Produktionsabschnitte, die hier nicht weiter ausgeführt werden können, finden sich bei de la Lande genaue Beschreibungen sowie die Nennung weiterer Berufe wie etwa des »Eintauchers« oder »Bütgesellen« (L, 105). Das fertige Papier sei dann nach diesen Schritten, so der Autor, für Bleistiftschriften nutzbar, Tinte jedoch würde auf dem unbehandelten Papier zerfließen (L, 118). Daher muss das Papier mit Leim bestrichen werden. Dieser wiederum wird aus tierlichen Resten hergestellt; Papier aus Haderlumpen ist also alles andere als vegan. De La Lande schreibt, der Leim werde aus »Stückchen und Abschnitzeln von Leder, Ohren, Schnautzen, Füßen, Gedärmen, und andern Schnitzeln von dem Leder der vierfüßigen Thiere, die Schweine ausgenommen« (L, 119) hergestellt. Auch das Kochen des Leims wird beschrieben (Tafel XII, Abb. 3).

Abb. 3: »Die Leimung des Papieres«. (Tafel XII)

Die Kunst Papier zu machen. Joseph Jerom François de la Lande übersetzt und kommentiert von Johann Heinrich Gottlob von Justi 1762. Hg. von Alfred Bruns. Münster: Landschaftsverband WestfalenLippe 2 1993, Tafel XII.

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Außerdem wird dazu auch Fischleim verwendet. Die weiteren Details seien hier vernachlässigt, aber mit der Verweis auf de la Landes Tafel 13 (Abb. 4) wird deutlich, dass für die Trocknungsprozesse der Papierproduktion außerdem viel Platz gebraucht wurde.

Abb. 4: »Aufhängesäle zum Papiere«. (Tafel XIII)

Die Kunst Papier zu machen. Joseph Jerom François de la Lande übersetzt und kommentiert von Johann Heinrich Gottlob von Justi 1762. Hg. von Alfred Bruns. Münster: Landschaftsverband Westfalen-Lippe 2 1993, Tafel XIII.

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Wie schon beim erwähnten Ausfuhrverbot aus Venedig ersichtlich, sind Lumpen ein wertvoller Rohstoff. Vor der Verwendung von Holz wurde daher intensiv nach Alternativen gesucht, denn der Bedarf an Papier stieg an.19 De la Landes Kunst Papier zu machen erwähnt am Rande auch Versuche, mit anderen Pflanzenrohstoffen zu arbeiten und sogar Raupennester (L, 205) für die Papiergewinnung zu verwenden, allerdings habe man bei entsprechenden Versuchen dann störende schwarze Punkte auf dem Papier – nämlich Raupenkot – vorgefunden. Die Suche nach alternativen Materialien wie auch die Abbildungen von unterschiedlichen Berufsgruppen lassen de la Landes rhetorische Fragen danach, ob es eine alltäglichere und damit einfachere Art der Papiergewinnung als leichte Arbeit gäbe, anzweifeln. Die historische Papierherstellung war eine anstrengende Arbeit, die mit prekärem Stoff umgehen musste, und die auf (aus heutiger Sicht betrachtet) ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen mit klaren Geschlechterrollen gründete. Rund 80 Jahre nach de la Lande beschreibt der Papierfabrikant und Autor Louis Piette (1803–1862) die zugespitzte Situation wie folgt: »Da seit einigen Jahren die Fabrikation des Papieres außerordentlich zugenommen hat, und die Fortschritte der Bildung den Gebrauch dieses unerläßlichen Agens derselben noch täglich vermehren, so scheint bei der zugleich wachsenden Seltenheit des Urstoffes die Zeit gekommen zu sein, wo es unumgänglich nöthig ist, ernsthaft daran zu denken, wie man durch irgend einen andern geigneten [sic!] Stoff jenem Mangel zu Hilfe kommen könne.«20 Sein Vorschlag ist, Papier mit Stroh und anderen pflanzlichen Stoffen herzustellen. Dabei zeigt schon ein Blick in das Inhaltsverzeichnis seiner Schrift, dass bei den meisten Versuchen nicht auf Lumpen verzichtet wurde – Piette kombinierte beispielswiese Heu, Haferstroh und Lumpen, Maisstroh und Lumpen oder Gerstenstroh mit Linsenstroh und Lumpen: »Die Lumpen werden dabei fortwährend der Haupturstoff des Papieres bleiben, und Stroh, von welchem es doch eine unglaubliche Menge gibt, ihnen nur zu Hilfe kommen.«21 Aber nicht nur auf der materiellen Ebene werden Neuerungen gesucht und gefunden, auch auf der Ebene der Maschinen erleichtert die neuere Technik etwa mittels des sogenannten ›Holländers‹, einer

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Eine Analyse des niederländischen Papierhandels bietet Daniel Bellingradt: Vernetzte Papiermärkte. Einblicke in den Amsterdamer Handel mit Papier im 18. Jahrhundert. Köln: Herbert von Halem 2019. Louis Piette: Die Fabrikation des Papieres aus Stroh und vielen anderen Substanzen. Köln: DümontSchauberg 1838, I. Piette: Fabrikation des Papieres, V.

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Walze,22 die Produktion. Piette beschreibt die Veränderung wie folgt: »Es ist außer Zweifel, daß ein guter Holländer, welcher in einer sehr kurzen Zeit die härtesten Lumpen zu feinem Zeug mahlt, die Gährung unnöthig macht und die Lumpen ohne weiteres zu verarbeiten erlaubt.«23 Mit der Auslassung der Gährung wird Zeit gewonnen und die Gesundheit der Arbeitenden verbessert.24 Für die weitere Entwicklung der Papierindustrie zentral waren also die technischen Geräte sowie das chemische Wissen, das um 1800 auch in Bezug auf Papier (etwa mit der Bleiche oder Leimung) große Fortschritte machte. Dieser linear dargestellten Entwicklung gegenüber stehen narrative Verfahren, die stärker auf zyklischen Prozessen beruhen.

2. Sprechendes Material Wie die Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts und die Fabrikanten der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über Materien und Techniken schreiben, ist eine der möglichen Annäherungsweisen (hier: an den Stoff Papier). Eine andere ist die der Literatur, die literarische Imaginationsräume zu eröffnen mag und die auch Dingen eine Stimme geben kann. Die oben kurz umrissene Technik- und Materialgeschichte wird daher im Folgenden angereichert mit literarischen Beispielen und unterschiedlichen Textsorten, nämlich einem Märchen und einer It-Narrative oder einer Dinggeschichte.25 In der Folge geht es also um literarisiertes Material, um Flachs im ersten Beispiel sowie um Flachs und Papier im zweiten Beispiel, die ein poetisches Stoffwissen präsentieren. Im Sinne einer wissenspoetologischen Herangehensweise wird hier davon ausgegangen, dass die Technikgeschichte sowie die Literaturgeschichte zwei Narrative sind, die sich mit demselben ›Stoff‹ beschäftigen. Von beiderlei Textsorten, der wissenschaftlichen Abhandlung und der literarischen Erzählung geht eine Wissenstradition und -produktion aus. Im spezifischen Fall des Papiers sind die Genres mit dem Beschreibstoff als Reflexionsmaterial und Speichermedium untrennbar verbunden. Was sie darstellen, stellen sie auf Papier dar – worüber sie auf Papier schreiben, ist das Papier selbst. Historisch betrachtet sind Beschreibstoffe immer schon Thema beim Schreiben, die literarische Ausgestaltung umfasst Kurz-

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Wie der ›Holländer‹ funktioniert, zeigt ein auf Wikipedia verlinktes Video: https://de.wikipe dia.org/wiki/Papierholl%C3%A4nder (zuletzt abgerufen am 12.10.2022). Piette: Fabrikation des Papieres, 14. Ebd., 23f. Vgl. Mark Blackwell u.a. (Hg.): British It-Narratives, 1750–1830, 4 Bde. London: Routledge 2012; zu deutschsprachigen It-Narratives vgl. Mirna Zeman (Hg.): Dinggeschichten I. Zyklographische Erzählungen des 18. und 19. Jahrhunderts. Hagen: Hagen UP 2022; Christiane Holm/ Martina Wernli/Johanna Wildenauer (Hg.): Dinggeschichten II. Zyklographische Erzählungen des 18. und 19. Jahrhunderts (erscheint 2023).

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formen wie die mittelalterlichen Rätsel, etwa über Pergament,26 sie beinhaltet aber weiter auch Märchen oder Erzählungen, wie sie im Folgenden behandelt werden. In der Doppelrolle als Beschreib- und Erzählstoff muss Papier nicht unbedingt sprachlich zum Thema gemacht werden. Papier wird auch wahrnehmbar in inszenierten Lücken, Auslassungen oder Schwärzungen (etwa in Laurence Sternes Tristram Shandy), in der Bricolage im Künstlerbuch27 oder in ›stofflichen‹ Neubearbeitungen mit haptisch greifbaren Löchern im Papier wie etwa Jonathan Safran Foers Tree of Codes (2010).

2.1 Flachs als Gefahrenstoff im Märchen In Giambattista Basiles Pentamerone, dem cunto de li cunti, also dem Märchen von den Märchen aus den 1630er Jahren, findet sich auch ein Text mit dem Titel Sonne, Mond und Talia, worin Flachs als Material eine Rolle spielt. Das Märchen beginnt wie folgt: »Es war einmal ein großer Herr, der ließ, als ihm eine Tochter namens Talia geboren wurde, die Weisen und Wahrsager seines Landes zusammenkommen, damit sie ihr das Schicksal voraussagten. Diese gelangten nach verschiedenen Beratungen zu dem Schluß, dem Mädchen drohe große Gefahr von einer Flachsfaser. Deswegen erließ ihr Vater, damit sie diesem bösen Geschick entgehen möchte, ein Gebot: Weder Flachs noch Hanf noch irgend etwas Derartiges dürfe je in sein Haus kommen. Als aber Talia herangewachsen war und einmal am Fenster stand, sah sie eine alte Frau vorbeigehen, die spann. Und da sie noch nie weder Kunkel noch Spindel zu Gesicht bekommen hatte und ihr das Drehen der Spindel an der Kunkel gar sehr gefiel, wurde sie von so großer Neugier ergriffen, daß sie die Alte nach oben kommen ließ, die Kunkel selbst in die Hand nahm und den Faden zu streichen begann. Dabei geriet ihr unglücklicherweise eine Flachsfaser unter den Fingernagel, und sie fiel tot zu Boden.«28

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In der Sammlung der Aenigmata von Tatwin, Erzbischof von Canterbury, (ca. 670–730), findet sich ein Rätsel, dessen Lösung Pergament lautet. Vgl. Original auf Latein: De membrano. Tatvini Opera Omnia. Ars Tavini. Hg. von Maria de Marco. Turnhoult 1968, 172. Vgl. Tom Phillips: A Humument. A Treated Victorian Novel. London: Thames & Hudson 1980. Phillips überschrieb und übermalte W. H. Mallocks viktorianischen Roman A Human Document (1892). Siehe auch die Künstlerbücher von Martha A. Hall, etwa Holding In, Holding On (2003) aus dem medizinisch-künstlerischen Bereich sowie die einschlägige Forschung von Stella Bolaki dazu. Giambattista Basile: Das Märchen der Märchen. Das Pentamerone. Nach dem neapolitanischen Text von 1634/36 vollständig und neu übersetzt und erläutert von Hanno Helbing u.a. Hg. von Rudolf Schenda. München: C.H. Beck 2000, 442f.

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Das Märchen zeigt Flachs als gefährlichen Stoff. Wer sich der Handarbeit verschreibt, den Stoff in die Hand nimmt, lebt gefährlich. Gleichzeitig geht vom Gefahrenstoff, vom Verbot und von der arbeitenden Akteurin, der geheimnisvollen Alten, eine Faszination aus, die zur Überschreitung der Grenzen und zum Griff nach dem Flachs führt. Um es vorwegzunehmen: Flachs kommt im restlichen Märchen bei Basile nicht mehr vor. Er dient hier am Eingang des Textes als Stoff der Prophezeiung und zur Herstellung des tiefen Schlafs von Talia. Damit ermöglicht er eine Vergewaltigung in diesem Schlaf29 durch den König und damit die darauffolgende Schwangerschaft und Geburt der Zwillinge Sonne und Mond. Charles Perrault wird diesen Stoff für sein Märchen La Belle au Bois Dormant aufgreifen und die Brüder Grimm werden daraus Dornröschen verfassen. Bis die Thematik in die Form des Dornröschens überführt wird, ist der Flachs kein explizites Thema mehr, die Prophezeiung und deren Einlösung konzentriert sich auf die Spindel, die stechen wird. Der Stoff Flachs hat somit eine Erzählung und ihre Tradierung und intertextuelle Bearbeitung ausgelöst, ist selbst aber in dieser Entwicklung unsichtbar geworden und in den Hintergrund getreten. Mit Genette gesprochen findet sich der Flachs an einer Schwellenposition, und dies kann hier auf mehreren Ebenen beobachtet werden: Flachs führt erstens zum Erzählen und zur Handlung, indem Talia zum Schlafen gebracht und damit stillgestellt wird – der sexuelle Übergriff durch den König wird dadurch erst ermöglicht. Zweitens findet dieses Erzählen von einer drohenden Gefahr durch Flachs (und damit natürlich auch durch die mit ihm verbundene Handarbeit) an der für die Märchen typischen Schwelle zwischen Oralität und Schriftlichkeit statt. Drittens wird hier eine Substanz erwähnt, die zur materiellen Grundlage ebendieses Erzählens wird, ein Erzählstoff, der die Schriftlichkeit erst ermöglichen wird, wenn aus dem gesponnenen Flachs gewobene Stoffe, daraus genähte Kleider und schließlich Lumpen geworden sind, die nach langer Gärungszeit, viel Gestank und Arbeit zu Papier verarbeitet werden können. Flachs ist auch in anderen Märchen Thema, wo es verstärkt in Zusammenhang mit vorbildhaftem Fleiß – oder umgekehrt mit Faulheit auftaucht.30 Ökonomische Quellen zeigen den Flachsanbau und das Spinnen 29

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Vgl. zu einer psychoanalytisch orientierten Lesart und zur Kontextualisierung dieses Schlafes: Iris Schäfer: Verliebt, verkannt vergessen: Zum literaturhistorischen Ursprung des nicht ganz so märchenhaften Zauberschlafs und weiterer prominenter Märchenmotive. In: ixypsilonzett. Theater für junges Publikum. Hg. von Birte Werner und Meike Fechner. Verlag: Theater der Zeit 2022, 24–28. Beispiele für Märchen mit Flachs aus der Sammlung der Grimms sind Von dem bösen Flachsspinnen und Die drei Spinnerinnen, in denen Flachs zu spinnen als harte Arbeit geschildert wird, vor der man sich nicht drücken sollte und Spindel, Weberschiffchen und Nadel, in dem fleißiges Flachs-Spinnen in Kombination mit den belebten, titelgebenden Dingen zum Ziel (der heteronormativen Hochzeit) führt.

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als Alltagsbeschäftigungen, die im vorindustriellen Zeitraum neben der Arbeit hergehen müssen.31 Das hier gewählte literarische Beispiel aus Basiles Märchensammlung zeigt Flachs in der Funktion, eine Erzählung zu initiieren, in dem gleichzeitig auf diese Alltagserfahrung referiert, sie aber um die Konnotation der Gefahr ergänzt wird.

2.2 Sprechender Flachs Während in Märchen Dingen vorübergehend eine Stimme gegeben wird (beispielsweise in Hans Christian Andersens Märchen Der Flachs von 1862) stellt das Genre der It-Narratives32 sprechende Dinge ganz ins Zentrum. Es sind darin in der Nachfolge und Adaption pikaresken Erzählens nicht die Schelme, sondern die Dinge, die ihre Lebensgeschichte beschreiben. Mit der rhetorischen Figur der Prosopopoiia wird Dingen eine Stimme gegeben, mit der Personifikation werden Gegenstände menschenähnlich gemacht. Das Genre hat zwischen 1750 und 1850 auch deshalb Konjunktur, weil es die technischen Neuerungen darstellt, weil es die neuen Medien der Popularisierung zu nutzen weiß – und weil die Texte einen Unterhaltungswert haben. Entsprechend sind sie oft als anonyme Nebenprojekte von seriösen Autor*innen entstanden. In wenigen Fällen haben aber auch zeitgenössisch berühmte Verfasser*innen die Texte unterzeichnet. Das hier ausgewählte Beispiel stammt von Helmina von Chézy (1783–1856). Chézy war als Autorin und Journalistin eine scharfe Beobachterin der politischen Umstände in Deutschland und Frankreich – Bénédicte Savoy nennt die von ihr herausgegebene Schrift Chézys, nämlich Leben und Kunst in Paris seit Napoleon I., »das bedeutendste Werk deutscher Sprache über das kulturelle Leben in Paris während des Empire«.33 Helmina von Chézy ist eine Autorin, die sehr breit publizierte und zu ihrer Zeit sehr bekannt war. Sie schrieb beispielsweise auch Reisebücher, etwa Norika neues ausführliches Handbuch für Alpenwanderer (1833) oder Briefessays wie Die Günderode an Bettina von 1844, in dem sie auf Bettina von Arnims Günderode-Buch als fiktive Günderode reagierte. Ihr Drama Rosamunde wurde von Franz Schubert vertont und ihr Libretto Euryanthe von Carl Maria von Weber.34 Mit Bezug zur Papierherstellung besonders interessant ist aus der Feder Chézys eine Erzählung, die 1829 in Wien erschienen ist und den Titel Jugendschicksale, Leben 31 32 33 34

Im Lexikon von Krünitz wird diese Arbeit als Sonntagsarbeit beschrieben. Vgl. Krünitz: Lein, 76, 66. Der Ausdruck stammt von einer Gruppe Forschender um Mark Blackwell. Vgl. Blackwell u.a.: British It-Narratives. Helmina von Chézy: Leben und Kunst in Paris seit Napoleon I. Hg. von Bénédicte Savoy. Berlin: de Gruyter 2009, IX. Vgl. Oswald Panagl: Bewundert wenig und viel gescholten. Helma von Chézy als Textdichterin für Carl Maria von Weber (»Euryanthe«) und Franz Schubert (»Rosamunde«). In: Studia niemcoznawcze 48 (2011), 33–46.

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und Ansichten eines papierenen Kragens. Von ihm selbst erzählt trägt.35 Der Text beginnt wie folgt: »O, wie herrlich war meine Blütezeit! Seit ich auch dem reich bewegten Jugendtreiben zu einem nützlichen Dasein gelangt, hatte ich schon verschiedene Male Gelegenheit, die Entzückungen dichtender Schüler zu Papier gebracht zu sehn – wie matt und schal erschienen sie mir gegen das, was ich empfunden, als ich, schlank und hoch emporgesprosst, leuchtend im Morgentau, von reiner Gebirgsluft umweht, auf des Hochlands reizenden Fluren blühte.«36 Mit diesem emphatischen Anfang könnte eine Persiflage auf einen Bildungsroman beginnen, der den Ausdruck »Blütezeit« zuerst in seinem doppelten Sinne nutzt, im Sinne nämlich von einer bildlichen ›Hochzeit‹/Konjunktur und zum anderen in einer wörtlichen Bedeutung, die dadurch deutlich wird, dass am Schluss »blühte« als Verb verwendet und daher auf eine Pflanze verwiesen wird. Lässt der Anfang noch offen, ob hier ein Mensch spricht, wird schnell klar, dass es sich um eine Pflanze handelt – ein früher Text, der sich für die heutigen Plant Studies anbietet, deren Ziel es ist, Pflanzen als Akteure im künstlerischen und biologischen Bereich kulturwissenschaftlich zu analysieren.37 Chézys pflanzliche Erzählinstanz hält in der Retrospektive fest: »Bewegter und ereignisvoller als manch menschliches Dasein war mein Pflanzenleben« (J, 137). Das »stolze[] Blühen« wird dann durch das Pflücken von Mädchenhand beendet. »Weibliche[] Sorgfalt« spielt dabei eine zentrale Rolle, wenn zwei Figuren, nämlich die Spinnerin Luise und die Weberin Veronika vorgestellt werden. Damit wird nicht etwa ein Absterben des pflanzlichen Stoffs, sondern lediglich eine Transformation des Flachses als »vital materiality«38 im Sinne Jane Bennetts beschrieben. Denn auch eingebettet in ein stofflich bestimmtes Niedergangsnarrativ, wie es einigen It-Narratives gemein ist, behalten der Flachs und das spätere Papier ihre Handlungsmacht. Wie der Titel es vorwegnimmt, wird aus dem Flachs ein papierener Kragen werden, ein modernes Accessoire also, das ein Kleidungsstück ersetzen kann, welches

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Vgl. in Bezug zur Handarbeit der Romantik die luzide Analyse und Kontextualisierung des Kragens von Christiane Holm: Romantische Handarbeiten. Text- und Textilpraktiken bei Bettine von Arnim und Helmina von Chézy. In: Martina Wernli (Hg.): »jetzt kommen andere Zeiten angerückt«. Schriftstellerinnen der Romantik. Heidelberg: J.B. Metzler 2022, 31–54. Helmina von Chézy: Jugendschicksale, Leben und Ansichten eines papierenen Kragens. Von ihm selbst erzählt. In: Christiane Holm (Hg.): Handarbeit. Berlin: Secession Verlag 2020, 137–164, hier: 137. In der Folge wird auf diesen Text mit der Sigle J und der entsprechenden Seitenzahl referenziert. Vgl. stellvertretend Urte Stobbe: Plant Studies: Pflanzen kulturwissenschaftlich erforschen – Grundlagen, Tendenzen, Perspektiven. In: Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 1 (2019), 91–106. Jane Bennett: Vibrant Matter. A Political Ecology of Things. Durham/London: Duke UP 2010, 14.

Martina Wernli: Erzählstoff Papier

häufig verschmutzt wird. Die papierene Variante bietet sich als Wegwerfprodukt an, wenn die Ressourcen dafür vorhanden sind. In seiner Form ist der Kragen nichts Neues, in seiner Materialität aus Papier jedoch durchaus. Die beschriebenen Stationen bis dahin sind das Pflücken (J, 137), das Weben (J, 138), die Bleiche (J, 139) und der Aushang. Erst dann kann die Erzählinstanz sagen: »Ich bin itzt Papier« (J, 140). Die fiktive Papiermühle ist dabei nicht nur wie bei de la Lande ein technischer Ort der Fabrikation, der in seiner Anlage einmalig ist, sondern auch narrativ ein Ort der Wiederkehr. Die Lumpen, die Leinwand und das bereits bedruckte Papier kommen alle immer wieder in die Papiermühle und dadurch wird auch das technische Wissen der Zeit erzählt. Das Recycling des Materials erlaubt die Rückkehr zum und die Wiederaufnahme des Erzählstoffes. Der erzählende Kragen lernt dabei viele andere materielle Akteure kennen, so auch Zeitschriftenpapier, das viel zu erzählen weiß: »Die Zeitungsblätter waren, wenn auch nicht immer wahrheitsliebende dennoch sehr unterrichtete Wesen und von einer Art Allseitigkeit der Wissenschaft, indem sie neben den politischen Ereignissen, die sie freilich nur so mangelhaft und unsicher, als sie sie selbst empfingen, wiedergeben konnten, die Nekrologe berühmter und verdienstvoller Männer, die neuen Erfindungen, die Bücher- und KunstwerksAnzeigen, alles Praktische, sogar die Subhastationen wussten, und das All der Begebenheiten und Betriebsamkeit des Tages, wie in einer camera obscura konzentriert, reflektierten. Ich hielt mich bald ausschließlich zu ihnen und begann die Journale zu vernachlässigen; diese nahmen das nicht sehr zu Herzen, weil ich nur poetisch war, für die Rechnungen hatten sie schon mehr Rücksicht.« (J, 147f.). Diese medientheoretisch interessante Stelle verbindet die Aufnahme des politischen (Halb-)Wissens der Zeitungen und das Wissen um die darin versammelten Textsorten mit dessen Spiegelung im bildgebenden Verfahren der Camera obscura. Die unterschiedlichen Speicherfunktionen des Beschreibstoffs Papier (»konzentriert[] reflektierten«) werden damit gebündelt wiedergegeben. Die ironische Nebenbemerkung, dass das Papier nicht ernstgenommen würde, »weil ich nur poetisch war«, verweist auf die Sprecherlizenz der (materialisierten) Poesie, von der der Kragen Gebrauch macht. Dabei ist Papiersein für das sprechende Ding kein idealer Zustand, vielmehr sagt der Kragen rückwirkend: »Gibt es denn etwas Erbärmlicheres als Papier?« (J, 140f.) Dieser Beschreibstoff verfügt durchgehend über eine Innensicht und eine reflektierende Außensicht auf sich und die anderen Schreibmaterialien. Der Text lässt daher nicht nur Material sprechen, sondern auch den aktuellen Literaturbetrieb kommentieren – über die Schriftstellerinnen »in dieser bereits schreibfleißigen Zeit« (J, 143) etwa macht sich der Kragen sogar lustig. Er zeigt sich damit auch als lesender Kragen: »Ich hatte in der Papiermühle von der Gottschedin, von der Unzerin, dann von der Karschin gehört, das waren lauter alternde und gar nicht schöne Frauen; ich aber

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Transformationen: Ressourcen und Nachhaltigkeit

träumte von einer Huldin mit Rosenwangen und wehenden Goldlocken, auf deren reiner, blendend weißer Stirn die Verklärung des Genius leuchtete. Ich dachte mich auf ihrem Tisch als zartes Blatt.« (J, 142) Freut sich das Papier erst, »eingedruckte Ränder und Goldschnitt« (J, 143) zu erhalten, so muss es später merken, dass es »schon ein wenig vergelbt, und die Ranken waren nicht mehr modern.« (J, 143) Damit präsentiert der Text nicht nur die Vergänglichkeit des vergilbenden Stoffes Papier selbst, sondern auch die der Moden, zu welchen dieses Material ästhetisiert und verzeitlicht wird. Die Zeit, die in diesem Text erzählt wird, dauert über 50 Jahre und so ist es möglich, dass der Kragen Jahrzehnte später als Schaustück der modernen Zeit auf den Landsitz seiner inzwischen über siebzigjährigen Spinnerin gerät, wo er, selbst nicht schreibfähig, seine Geschichte »einer teilnehmenden Freundin in die Feder sagte« (J, 162). Der Beschreibstoff, der für die Schriftlichkeit steht, geht hier paradoxerweise also über in eine Tradierung durch Mündlichkeit. Das überliefernde Papier ist damit nicht mehr der sprechende, sondern nur noch ein speichernder Stoff, das Medium, das die Erzählung aufnimmt. Betrachtet man die Sprecherposition aus dieser Überlagerung von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, von den sich immer wieder transformierenden Stoffen, dann bleibt eine Verunsicherung, wer es denn ist, der spricht: Während es zuerst die Pflanze (Flachs) ist, spricht später der Beschreibstoff (Papier) und danach das Artefakt (Kragen)? Zu vermuten ist eine Kombination – es sprechen alle drei.

3. Fazit Die wissenspoetologische Verbindung von Literatur und Technikgeschichte, von Stoff im Sinne von Substanz und gleichzeitig als literarischem ›Material‹, ermöglicht es, blinde Flecken im jeweils anderen Zugang überhaupt festzustellen und Lücken möglicherweise zu füllen. Literatur und Technikgeschichte vermögen gemeinsam die Ontologie und Epistemologie von Dingen in ihren Abhängigkeiten zu denken. Denn in der historischen Perspektivierung liegen die Textsorten oft erstaunlich nahe in ihrer rhetorischen Durchformung. Ein Blick zurück in den Krünitz zeigt die Belebung des Stoffes Flachs auch im Genre der Enzyklopädie: »Der Flachs ist der Begleiter unsers Lebens; er reichet uns zuerst die Windel, umgiebt uns als Hemd, und geht so mit uns wieder ins Grab. Als Papier verfeinert er die Kräfte unserer Seele von der Fibel an, durch Bücher und Schriften, und begleitet und beschließt unsern Lebenslauf durch ein Recept -- ein Zeitungsblatt --ein Leichengedicht -- oder -- ein Todesurtheil. Durch ihn werden wir für diese und je-

Martina Wernli: Erzählstoff Papier

ne Welt unterrichtet, wodurch sich diese edle Pflanze unzertrennlich von unserm Körper und unserer Seele macht.«39 Die Genrekonventionen werden in dieser Passage ebenso aufgehoben wie die Grenzen zwischen Mensch und Pflanze, zwischen Körper und Seele. Das Wissen von den Dingen, wie es bei de la Lande durchaus auch im technischen Sinne verstanden präsentiert wird, birgt wiederum die Möglichkeit, literarische Gattungen und poetologische Verfahren neu zu reflektieren. Flachs hat in der Literatur seinen bestimmten narratologischen Ort – bei Basile etwa nimmt Flachs eine Schwellenposition am Rande des Textes ein, er ist ein handlungsauslösender Stoff und sorgt als vitaler Gefahrenstoff für den Spannungsaufbau. In der Technikgeschichte ist Flachs der landwirtschaftliche Ursprungsstoff, von dem aus eine Papierproduktion ihren Anfang nimmt. In der Erzählung dieser Produktion gibt es in den technischen und poetischen Varianten Parallelen. Gemeinsam ist der wissenschaftlichen und der literarischen Darstellung der Papierherstellung und der Papiernutzung die dichotome Einteilung von Gender: Es sind die Arbeiterinnen bei de la Lande, es sind die einzelnen, weiblichen Figuren bei Chézy, die den Stoff verarbeiten. Die Belebung des Stoffes hat eine literarische Tradition, sie findet sich im mündlich erzählten Märchen ebenso wie in der Dinggeschichte, die ihr eine eigene Stimme gibt. Daher ist für den New Materialism nicht nur ein Blick auf die chemischen Stoffe, sondern auch auf die literarisierten gewinnbringend. Flachs und das spätere Papier bieten sich dafür besonders an, weil sie als sprechendes Material ihre eigene Materialität thematisieren und diese Reflexion auf und in sich selbst, nämlich dem Papier als Beschreibstoff, festgehalten wird – insofern birgt das Material eine autoreferentielle Komponente.

Epilog Papiermühlen, so könnte angenommen werden, haben außerhalb von historischen Studien oder musealen Inszenierungen keine Bedeutung mehr. Eine Meldung des Österreichischen Rundfunks ORF aber zeigt die Aktualität einer niederösterreichischen Papiermühle auf: Denn in jener Mühle wurden Dienstuniformen von Postangestellten nicht nur zu Papier, sondern konkreter noch zu Briefmarken umgearbeitet.40 Damit wurde die Papiermühle für die Fabrikation eines aktuellen Gebrauchsgegenstandes eingesetzt, der eine historische Form des Recyclings wiederaufnahm und aktualisierte. Auf der vom Künstler David Gruber gestalteten Briefmarke steht »Ein Postlerhemd zum Frankieren und Sammeln!« Dazwischen 39 40

Krünitz: Lein, 76, 21f. Vgl. https://wien.orf.at/stories/3178913/ und https://papiermuehle.at/ (zuletzt abgerufen am 21.10.2022).

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Transformationen: Ressourcen und Nachhaltigkeit

sind im Vordergrund die Symbole abgedruckt, die sich üblicherweise auf Textilien angebracht finden, sie lauten »nicht waschen«, »nicht bügeln« und »nicht bleichen«. Damit sind die Anweisungen doppelt strukturiert, einmal für den Gebrauchsgegenstand Briefmarke (nämlich: frankieren und sammeln) und einmal für das transferierte Material, das einmal Postlerhemd war und nun nicht (mehr) gewaschen, gebügelt und gebleicht werden soll. Hemd und Papierbriefmarke werden außerdem durch eine Figur der mise-en-abyme miteinander verbunden: Im Hintergrund der Marke sind die Konturen eines Hemdes abgebildet, das einem Wasserzeichen gleicht. Historische Herstellungsformen und die tradierte Verwendung von Materialien (von Textilien zu Papier), Praktiken der Datierung, Ästhetisierung und zur Angabe einer Herkunft (Wasserzeichen) werden hier zusammengebracht und gemeinsam mit der ökonomischen Bedeutung, dass nämlich mit der Verwendung dieser Marke auf einem adressierten Umschlag die Kommunikation mittels Brief ermöglicht wird, zu einem neuen Erzählstoff gemacht.

Die Ressourcen der Interlinearversion und der nachhaltige Umgang mit dem Original bei Goethe, Pannwitz und Benjamin Alexander Nebrig

Franz Rosenzweigs Bemerkung, dass am Anfang der Übersetzungsgeschichte »anspruchslose Interlinearübersetzungen«1 stünden, betrifft nicht selten den Anfang der Geschichte von Schriftsprachen. Die Interlinearversion entstand im frühen Mittelalter, als das Latein in Westeuropa unverständlicher wurde und sich die Schreiber und Leser in den Klöstern den Wortlaut schriftlich verständlich machen mussten.2 Indem sie in den Codices interlinear oder marginal volkssprachliche Entsprechungen notierten, wurde die von ihnen gesprochene Sprache als verna-

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Franz Rosenzweig: Die Schrift und Luther [1926]. In: Martin Buber/Franz Rosenzweig: Die Schrift und ihre Verdeutschung. Berlin: Schocken 1936, 88–129, hier: 99. – Nikolaus Henkel: Die althochdeutschen Interlinearversionen. Zum sprach- und literaturhistorischen Zeugniswert einer Quellengruppe. In: Joachim Heinzle/L. Peter Johnson/Gisela Vollmann-Profe (Hg.): Übersetzen im Mittelalter. Cambridger Colloquium 1994. Berlin: Schmidt 1996, 46–72, leitet (46f.) in seinem grundlegenden Aufsatz einen Perspektivwechsel innerhalb der mediävistischen Betrachtung von Interlinearversionen ein, die nun nicht mehr wie einst noch bei Stefan Sonderegger (Althochdeutsche Sprache und Literatur. Eine Einführung in das älteste Deutsch. Berlin/ New York: de Gruyter 1974, 100) als Übersetzungen, sondern als »Teile eines umfassenden und differenzierten Instrumentariums zur Erschließung lateinischer Texte im Bildungswesen dieser Zeit« (ebd., 47) anzusehen seien. Dennoch verliert meiner Ansicht nach Rosenzweigs Satz seine Berechtigung nicht, weil sich das eine und das andere nicht ausschließen. Rosenzweig spricht ohnehin gleichermaßen von ›Lesehilfen‹ (Rosenzweig: Die Schrift und Luther, 99). Neben Glossen und Interlinearversionen in lateinischen und griechischen Texten entstand im Mittelalter unter den deutschsprachigen Juden, den Aschkenasi, eine hermeneutische Auseinandersetzung vor allem mit hebräisch-aramäischen Bibel- und Talmudkommentaren auf Jiddisch. Glossen und Interlinearversionen konnten Teil der weiteren handschriftlichen Tradierung werden: »Wurden die Glossen einem bedeutenden Gelehrten zugeschrieben, achteten die Kopisten allerdings darauf, sie beim Abschreiben zu bewahren« (Marion Aptroot/Roland Gruschka: Jiddisch. Geschichte und Kultur einer Weltsprache. München: Beck 2010, 31).

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Transformationen: Ressourcen und Nachhaltigkeit

kuläre Sprache erstmals zwischen den Zeilen sichtbar.3 Zu unterscheiden ist dabei zwischen punktueller Glossierung und ganzheitlicher Version eines Textes, der eigentlichen Interlinearversion.4 Von dieser zu trennen sind ebenfalls die marginale Paraphrase oder der Randkommentar. Ein weiterer Unterschied zur punktuellen Glosse, mit der manchmal irritierenderweise auch Interlinearversionen bezeichnet werden,5 ist, zumindest innerhalb der mittelalterlichen Codex-Kultur, die Planmäßigkeit der Interlinearversion, die nicht bloß konzeptionell ist, sondern sich auch in der Einrichtung des Codex zeigt: »Kodikologisch gesehen zeichnen sich die Trägerhandschriften von Interlinearversionen im Besonderen dadurch aus, dass sie von vornherein für den Eintrag vollständiger, interlinearer Übersetzungen eingerichtet sind. Sie sehen für die Übersetzung eine eigene Zeile vor.«6 Hellgardt erwähnt unter den nicht planmäßig durchgeführten Interlinearversionen, die den volkssprachlichen Text zwischen die Zeilen quetschen, auch solche, die kollektiv und sukzessive entstanden sind.7 Zu den für die deutsche Sprachgeschichte bekanntesten Interlinearversionen gehört die althochdeutsche einer Benediktinerregel aus Sankt Gallen vom Anfang des 9. Jahrhunderts.8 Interlinearversionen von »Regel, Hymnen und Psalmen«9

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Ausführlich dazu Alderik H. Blom: Glossing the Psalms. The Emergence of the Written Vernaculars in Western Europe from the Seventh to the Twelfth Centuries. Berlin: de Gruyter 2017, bes. 131–140. Lothar Voetz: Durchgehende Textglossierung oder Übersetzungstext: Die Interlinearversionen. In: Rolf Bergmann/Stefanie Stricker (Hg.): Die althochdeutsche und altsächsische Glossographie. Ein Handbuch. Bd. 1. Berlin/New York: de Gruyter 2009, 887–926, hier: 888, sieht keinen qualitativen Unterschied zwischen Glosse und Interlinearversion, versteht letztere zugleich als idealerweise vollständige Wort-für-Wortübertragung (ebd., 889). Vgl. Ernst Hellgardt: Einige altenglische, althoch- und altniederdeutsche Interlinearversionen des Psalters im Vergleich. In: Rolf Bergmann/Elvira Glaser/Claudine Moulin-Fankhänel (Hg.): Mittelalterliche volkssprachige Glossen. Internationale Fachkonferenz des Zentrums für Mittelalterstudien der Otto-Friedrichs-Universität Bamberg, 2. bis 4. August 1999. Heidelberg: Winter 2001, 261–296, hier: 263. Ebd., 262. Ebd., 264. Vgl. Achim Masser: Kommentar zur lateinisch-althochdeutschen Benediktinerregel des Cod. 916 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Untersuchungen, Philologische Anmerkungen, Stellennachweis, Register und Anhang. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. – Elias von Steinmeyer (Hg.): Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler. Berlin: Weidmannsche Buchhandlung 1916, 190–289 (Nr. 36). Steinmeyers Edition druckt den Text leider nicht als Interlinearversion, sondern zweispaltig. Kritisiert wird diese Praxis von Hellgardt: Einige altenglische, althoch- und altniederdeutsche Interlinearversionen des Psalters im Vergleich, 262. Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter (ca. 700–1050/60). In: Joachim Heinzle (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur von den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 1.1. Tübingen: Niemeyer 2 1995, 196.

Alexander Nebrig: Ressource der Interlinearversion

dienten zunächst der Einübung in die monastische Lebensform10 und waren »so gut wie ausnahmslos in der Erziehungsanstalt der Klöster verankert.«11 Nach Einführung des Buchdruckes blieb das interlinguale Modell als didaktisches und vor allem sprachdidaktisches Mittel weiter in Gebrauch.12 Entweder wurde direkt in die Drucke geschrieben wie zuvor in die Handschriften oder aber die Drucke fremdsprachiger Texte erschienen mit zwischen die Zeilen eingeschobener Wort für Wort-Übersetzung wie im Augsburger Wiegendruck von Donats Ars minor aus dem Jahr 1481, der zwischen den Zeilen den deutschen Text druckt.13 Ein Unterschied zur herkömmlichen Übersetzung besteht darin, dass der interlineare Wortlaut, wie Lothar Voetz betont, keinen »selbstständig zu lesenden Text«14 bildet, sondern abhängig vom Original bzw. Ausgangstext bleibt. Nikolaus Henkel erinnert daran, dass es sich zumindest bei den althochdeutschen Versionen um eine Form handelt, die von der mündlichen Kommunikation über Texte abhing: »Eigenart dieses Prozesses ist, daß er zwar ausgeht von dem im Buch niedergelegten Text und wieder zu ihm hinführt, im übrigen aber weitgehend im Rahmen mündlicher Vermittlung und Unterweisung abläuft.«15 Interlinearversionen waren oftmals einfach

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Ebd. Herbert Thoma: Interlinearversion. In: Werner Kohlschmidt/Wolfgang Mohr (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Bd. 1. Berlin: de Gruyter 2 2001, 750–752, hier: 750. Vgl. Haubrichs: Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen Mittelalter, 195–211, und ders.: Das monastische Studienprogramm der »Statuta Murbacensia« und die altalemannischen Interlinearversionen. In: Albrecht Greule/Uwe Ruberg (Hg.): Sprache – Literatur – Kultur. Studien zu ihrer Geschichte im deutschen Süden und Westen. FS Wolfgang Kleiber. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 1989, 237–262. Vgl. auch Henkel: Die althochdeutschen Interlinearversionen, 71: »Die Handschriften mit althochdeutschen Interlinearversionen haben ihr spezifisches Profil im Kontext der klösterlichen Buchproduktion und Bildungsarbeit dieser Zeit.« Der Sprachlehrer Dumarsais [César Chesneau, sieur Du Marsais] empfiehlt sie 1729 (und öfter) ausdrücklich als Methode des Spracherwerbs: Les véritables principes de la grammaire ou nouvelle grammaire raisonnée pour apprendre la langue latine. s.l.n.d. [Paris 1729], III–VI. Aelius Donatus: Ars minor. Mit deutscher Interlinearglosse. Augsburg: Hermann Kästlin 1481. In die sprachdidaktische Tradition der Interlinearversion gehören die französische Übersetzung von John Miltons Paradise Lost in [Pierre-Joseph-François] Luneau de Boisjermain: Cours de langue angloise. Bd. 1. Paris: Selbstverlag 1784, oder von Gotthold Ephraim Lessings Fabeln: Fables de Lessing. En allemand et en français, avec deux traductions, dont une interlinéaire et propré a faciliter de l’étude de l’allemand. Paris: A.A. Lottin 1799. – Ein anderer Kontext ist die christliche Missionsarbeit, die mit Beginn des Buchdruckes auch in der Bereitstellung der Evangelien in interlinearen Versionen für nicht christianisierte Sprachkulturen bestand. Vgl. die arabische Interlinearversion von: Evangelium Sanctum Domini nostri Jesu Christi conscriptum a quatuor evangelistis sanctis. Rom: Typographia Medicea 1591. Voetz: Durchgehende Textglossierung oder Übersetzungstext: Die Interlinearversionen, 890. Vgl. Blom: Glossing the Psalms, 136. Henkel: Die althochdeutschen Interlinearversionen, 51.

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nur Lesehilfen.16 In neuerer Zeit fand die Interlinearversion als Übersetzungshilfe Verwendung, indem sie als Grundlage für Übersetzungen aus zweiter Hand diente – vor allem im Raum der sozialistischen Weltliteratur.17 Mit wenigen Ausnahmen wie den Aufsätzen von Hellgardt, Voetz und Henkel ist die übersetzungsgeschichtlich bedeutsame Interlinearversion bislang unzureichend theoretisiert worden.18 Hervorzuheben ist vor allem, dass die Interlinearversion nicht horizontal von links nach rechts gelesen wird, sondern vertikal von der oberen Zeile zur unteren.19 Ihre Besonderheit innerhalb des translatorischen Gattungsgefüges besteht in ihrer Verwobenheit mit dem Ausgangstext und seiner fremden Sprache, ob nun planmäßig oder nachträglich vorgegangen wurde. Die Interlinearversion gehört zu jenen »Ökonomie[n] des Schreibens«20 , die das Verständnis des Ausgangstextes ressourcenschonend auf demselben Schriftträger herstellen, vorausgesetzt, es gibt einen Zwischenraum. Die für die Interlinearversion eingerichtete Handschrift beispielsweise21 verfügt über mehr Platz als die ungeplante Interlinearversion. Je größer der Zwischenraum handschriftlicher oder gedruckter Textzeilen ist, desto besser sind die Voraussetzungen für eine Übersetzung zwischen den Zeilen. Es bestehen also auch unterschiedliche Schreibökonomien der Interlinearversion. Für alle Interlinearversionen lässt sich gleichwohl sagen, dass 16 17

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Rosenzweig: Die Schrift und Luther, 99. Vgl. auch Henkel: Die althochdeutschen Interlinearversionen, 50, der von Verständnishilfen spricht. In der UdSSR und »im gesamten Ostblock« (Reinhard Lauer: Die Übersetzungskultur in Bulgarien. In: Harald Kittel u.a. (Hg.): Übersetzung – Translation – Traduction. Ein internationales Handbuch zur Übersetzungsforschung. Bd. 3. Berlin/Boston: de Gruyter 2011, 2103–2105, hier: 2104) schufen bekannte Dichterinnen wie Anna Achmatova und Dichter wie Boris Pasternak auf der Grundlage von Interlinearversionen Übersetzungen von Texten beispielsweise aus dem Koreanischen oder dem Georgischen: Petr Zaborov: Die Zwischenübersetzung in der Geschichte der russischen Literatur. In: ebd., 2066–2073, hier: 2071. Vsevolod Bagno/Nikolaj Kazanskij: Die zeitgenössische russische Übersetzung, ihre Rolle in Russlands internationaler Verortung und bei der russischen Aneignung der Weltkultur. In: ebd., 2082–2090, hier: 2086. Vgl. Lucia Kornexl: Die Regularis concordia und ihre altenglische Interlinearversion. München: Fink 1993, CCXIII: »Für ihre Analyse und Bewertung fehlt bislang eine theoretische Grundlage ebenso wie eine ausreichend differenzierte Terminologie und das nötige Hintergrundwissen über ihre praktische Nutzung (wofür und für wen diese Übersetzungshilfen jeweils gedacht waren, über welche lateinischen Vorkenntnisse die intendierten Benutzer verfügten, ob sie zusätzlich zur Glosse noch andere Hilfen in Anspruch nehmen konnten usw.).« Hellgardt: Einige altenglische, althoch- und altniederdeutsche Interlinearversionen des Psalters im Vergleich, 261. Jay D. Bolter: Das Internet in der Geschichte der Technologien des Schreibens. In: Sandro Zanetti (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2 2015, 318–337, hier: 319. Vgl. Hellgardt: Einige altenglische, althoch- und altniederdeutsche Interlinearversionen des Psalters im Vergleich, 262.

Alexander Nebrig: Ressource der Interlinearversion

im Moment ihrer Einschreibung der Schriftträger und das darauf befindliche Original zur Ressource einer hermeneutischen Bewegung werden. Wie Marginalien und Glossarien sind Interlinearversionen Ausdruck einer schreibenden Lektüre. Die Lesenden verschriftlichen ihr Verständnis über der Zeile des Originals Wort für Wort, so dass der originale Text auf paradigmatischer Ebene ersetzt wird, die syntagmatische Ordnung jedoch erhalten bleibt.22 Auch für künftige Leser bleibt die Identität zwischen dem originalen Schriftraum und dem der Übersetzung bestehen. Die Interlinearversion kann ohne Sinnverlust nicht getrennt vom Originaltext wiedergegeben werden. Sie erzeugt die parallele Wahrnehmung von fremder und eigener Sprache mit der Folge, dass beide Sprachen interferieren. Sie ähnelt den Untertiteln im Film, indem sie synchron mit dem Original und mit diesem im selben Raum gelesen wird; sie unterscheidet sich jedoch durch die Identität des Schriftmediums. Untertitel stehen in medialer Differenz zur mündlichen Rede – wobei es auch den Fall gibt, dass filmische Rede synchron übersetzt wird, indem über sie drüber gesprochen wird. Ein weiterer Unterschied der Interlinearversion besteht in der Konzentration auf die paradigmatische Achse der Sprache. Untertitel übersetzen dagegen ganzheitlich: sowohl paradigmatisch als auch syntagmatisch. Eine Interlinearversion verzichtet auf die Übersetzung der Syntax – ein Vorgang, der ihre Umstellung miteinschlösse – und gibt nur die einzelnen Wörter wieder. Daher gehören bilinguale Ausgaben nicht mehr zum Kreis der Interlinearversion. Druckte man Interlinearversionen auf der gegenüberliegenden Seite statt zwischen den Zeilen, entstünde der falsche Eindruck eines ganzheitlichen Textes. Tatsächlich ergänzt die Interlinearversion das Original, anstatt es zu übersetzen und dadurch zu verdoppeln.

1. Die Interlinearversion von Benjamin zu Goethe Eine Ergänzung der Sprachen ist auch das Ideal von Walter Benjamins Übersetzungstheorie, die als Vorwort seiner mit dem Original gedruckten Übersetzung von Charles Baudelaires Tableaux parisiens erschien. Ihr letzter Satz lautet: »Die Interlinearversion des heiligen Textes ist das Urbild oder Ideal aller Übersetzung.«23 Benjamin orientierte sich wiederum an zwei Autoren, die für ihn das »Beste« geschrieben hätten, was in »Deutschland zur Theorie der Übersetzung veröffent-

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Rainer Kirsch bezeichnet seine Umstellung der Wörter von Matthias Claudius’ »Abendlied« als Interlinearversion, obwohl weder eine Ersetzung auf paradigmatischer Ebene stattfindet noch die Syntagmatik beibehalten wird. Zu Kirschs Umstellung vgl. Ulla Fix: Prosaauflösung, Umdichtung und Interlinearversion von Dichtung. Indizien für poetische Verwendung von Sprache. In: Neuphilologische Mitteilungen 84/3 (1983), 318–328, hier: 320f. Walter Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers. In: Charles Baudelaire: Tableaux parisiens. Übers. von Walter Benjamin. Heidelberg: Richard Weißbach 1923, VII–XVII, hier: XVII.

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licht wurde.«24 Der eine ist Rudolf Pannwitz, der andere Goethe. Beide sind nicht als Theoretiker der Übersetzung in dem Sinne hervorgetreten, dass sie große Traktate geschrieben hätten. Pannwitz veröffentlichte seine von Benjamin zitierten Anschauungen in dem Buch Die Krisis der europäischen Kultur von 1917. Goethes Bemerkungen von 1819 sind ebenso kurzgehalten. Benjamin verweist auf das triadische Übersetzungsmodell, das in den Noten und Abhandlungen zu besserem Verständnis des West-östlichen Divans steht. Benjamin zitiert aus dem Anhang von Pannwitz’ Buch, wo dieser auf Übersetzungen indischer und chinesischer Literatur zu sprechen kommt, jeweils die Anfangssätze der beiden Absätze 6 und 7: »unsere übertragungen auch die besten gehn von einem falschen grundsatz aus sie wollen das indische griechische englische verdeutschen anstatt das deutsche zu verindischen vergriechischen verenglischen . sie haben eine viel bedeutendere ehrfurcht vor den eigenen sprachgebräuchen als vor dem geiste des fremden werks . […] der grundsätzliche irrtum des übertragenden ist dass er den zufälligen stand der eignen sprache festhält anstatt sie durch die fremde gewaltig bewegen zu lassen . er muss zumal wenn er aus einer sehr fernen sprache überträgt auf die letzten elemente der sprache selbst wo wort bild ton in eins geht zurück dringen er muß seine sprache durch die fremde erweitern und vertiefen man hat keinen begriff in welchem masze das möglich ist bis zu welchem grade jede sprache sich verwandeln kann sprache von sprache fast nur wie mundart von mundart sich unterscheidet dieses aber nicht wenn man sie allzu leicht sondern gerade wenn man sie schwer genug nimmt .«25 Unter Berufung auf diese das verfremdende Übersetzen favorisierende Passage entwickelt Benjamin seine schwer nachvollziehbare Idee der virtuellen Interlinearversion.26 Es folgt erstens ein Hinweis auf Hölderlins Sophokles-Übertragungen, in denen sich der Sinn in »bodenlosen Sprachtiefen«27 zu verlieren drohe. Darauf wendet

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Ebd., XVI. Rudolf Pannwitz: Die Krisis der europäischen Kultur. Nürnberg: Hans Carl 1917, 240 und 242. Vgl. Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, XVIf., der zusätzliche Interpunktionszeichen einführt. Diesen Begriff führt Caroline Sauter ein, da Benjamin im vorletzten Satz von der virtuellen Übersetzung spricht, die jeder große und heilige Text zwischen den Zeilen enthalte, vgl. Caroline Sauter: Die virtuelle Interlinearversion. Walter Benjamins Übersetzungstheorie und -praxis. Heidelberg: Winter 2014, die allerdings nicht die historische Praxis der Interlinearversion behandelt. Vgl. die Rezension von Arne Klawitter in: Wirkendes Wort 65/1 (2015), 163–166. Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, XVII.

Alexander Nebrig: Ressource der Interlinearversion

sich Benjamin zweitens von profanen Texten ab und priorisiert heilige Texte, in denen Sprache und Offenbarung zusammentreffen. So wie sich im Sinn der heiligen Texte Sprache und Offenbarung vereinigten, so in der interlinearen Übersetzung »Wörtlichkeit und Freiheit«28 . Der heilige Text sei übersetzbar »allein um der Sprachen willen.«29 Vielleicht hätte Benjamins Argumentation, die zum Teil wegen einer mehrdeutigen Pronominalstruktur mir zumindest unklar bleibt, gewonnen, wenn er die von Pannwitz gemachten Überlegungen zur Interlinearversion, von denen er, ohne es zu sagen, ausgeht, berücksichtigt hätte. Denn sie schließen sich unmittelbar an das ausgewählte Pannwitz-Zitat an. Stattdessen stellt er seine eigene Idee der Interlinearversion vor, bestehend aus den beiden Schlusssätzen. Benjamin versteht ähnlich wie Pannwitz die Übersetzung als Medium der »Sprachergänzung«30 und nicht der Verdopplung des Sinns in einer anderen Sprache. Pannwitz’ Bemerkungen zur Interlinearversion werden im Folgenden ausführlich zitiert, um die Nähe zu Benjamin deutlich zu machen. Pannwitz verlangt nicht einfach nur nach besseren, d.h. die Zielsprache verfremdenden Übersetzungen, sondern nach ihrer radikalsten Form als »interlinearversionen«31 : »nur worte und satzglieder keine gebauten sätze ! wie glücklich wären wir die ja doch nicht alle uns nötigen sprachen erlernen können ! auf einer gefühlsmäszigen interlinearversion nur dass die gesamte verkettung der wörter lebendig werde muss eine wahre übertragung ruhn ihr stolz muss sein fast jedes wort fast die ganze wortfolge streng wieder zu geben in dem denkbar höchsten grade der interlinearversion zu bleiben. ›ungeschicklichkeit‹ ist hier fast immer mehr tugend als fehler und wer überhaupt etwas zu leisten fähig ist der wird zu seiner meisterschaft allein dadurch gelangen dass er mit allen mitteln und über alle mittel hinaus strenge die urform nachbildend die selbe immer inniger und eigentlicher empfängt als umformender wie eine zweite sprache von der ersten empfängt aber die zweite ist die eigene und die erste die fremde .«32 In der ›Verschmelzung‹ der »europäischen halbkulturen mit den groszen orientalischen klassischen kulturen«33 erkennt Pannwitz einen Weg aus der Krise der europäischen Kultur, deren Eigenschaften der Subjektivismus und das Experiment seien.34 Pannwitz nennt mit Karl Eugen Neumanns Verdeutschungen Vorbilder einer

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Ebd. Ebd. Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, XV. Pannwitz: Die Krisis der europäischen Kultur, 243. Ebd. Ebd., 226 Ebd.

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solchen Verschmelzung. Mit dem Hinweis auf Neumann wird deutlich, dass auch Pannwitz einen Gewährsmann für die Interlinearversion hat. Allerdings sind Neumanns Übersetzungen nicht im buchstäblichen Sinn Interlinearversionen, sondern eher im metaphorischen. Pannwitz erklärt sie einfach zu solchen. Neumann, der Übersetzer indischer Schriften ins Deutsche, habe die Pali-Texte in ein Pali-Deutsch gebracht: »pāli-deutsch nicht verdeutschtes pāli . es ist aber kein geringeres wunder wenn zwei sprachen eins werden wie wenn zwei menschen eins werden .«35 Es folgt eine emphatische Erörterung der Neumannschen Übertragung unter dem Aspekt ihrer »verschmolzenheit«36 der Sprachen – Benjamin spricht ähnlich von »Sprachergänzung«37 . Neumann selbst formulierte diesen von Pannwitz unterstellten Anspruch in seiner Vorrede, in der er sich wiederum auf Benjamins zweite Autorität in Sachen Übersetzung beruft. In der Vorrede zu seiner Übersetzung Die Reden Gotamo Buddhos aus dem sechsten vorchristlichen Jahrhundert, die auf Deutsch zuerst 1896 erschien, 1922 die dritte Auflage bei Piper erlebte und die Literatur der Klassischen Moderne, namentlich Hermann Hesses Siddharta beeinflusste,38 äußert sich Neumann kurz zu seinem Übersetzungsverfahren unter Verweis auf Goethes Divan-Noten.39 Goethe unterscheidet darin drei Arten der Übersetzung im Sinne von geschichtlichen Epochen: Erst mache man das Publikum mit dem Original durch eine prosaische Übersetzung vertraut, dann könne man das Original kunstvoll parodieren, womit gemeint ist, es in eine Sprache zu übersetzen, die den Übersetzungscharakter verdeckt und als eigenständiges Nebenstück zum Original Geltung beansprucht. In der dritten Epoche gehe es um Identifikation. Goethe setzte die Interlinearversion an das Ende der Übersetzungsgeschichte eines Textes. Erst, wenn in einer Sprache künstlerisch autonome Übersetzungen vorlägen, strebten Übersetzer danach, die Übersetzung mit dem Original identisch zu machen und in letzter Konsequenz nach der Interlinearübersetzung.40 35 36 37 38 39

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Ebd., 243. Ebd., 244. Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, XV. In aller Ausführlichkeit Julia Moritz: Die musikalische Dimension der Sprachkunst. Hermann Hesse, neu gelesen. Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, 231–334. Hier zitiert nach der dritten Auflage: Karl Eugen Neumann: Die Übersetzung. In: Die Reden Gotamo Buddhos. Aus der mittleren Sammlung Majjhimanikāyo des Pāli-Kanons. Übers. von K.E.N. Bd. 1.1. München: R. Piper 1922, XLI–XLIII. Johann Wolfgang Goethe: Uebersetzungen. In: Ders.: West-östlicher Divan. Stuttgart: Cotta 1819, 526–532. – Die von Goethe skizzierte Entwicklungslinie wurde von den Translation Studies bestätigt, vgl. Paul Bensimon: Présentation. In: Palimpseste XIII/4 (1990), ix–xiii; Antoine Berman: La retraduction comme espace de la traduction. In: ebd., 1–7. Die Diskussion um die sogenannte ›Retranslation Hypothesis‹ referieren kritisch: Outi Paloposki/Kaisa Koskinen: A thousand and one translations. Revisiting retranslation. In: Gyde Hansen/Kirsten Malmkjær/Daniel Gile (Hg.): Claims, Changes and Challenges in Translation Studies. Selected con-

Alexander Nebrig: Ressource der Interlinearversion

In schriftsprachengeschichtlicher Hinsicht dagegen steht die Interlinearversion, wie eingangs bemerkt, am Anfang. Erst später, sobald sich eine funktionierende und differenzierte Literatursprache gebildet hatte, folgten freie Bearbeitungen. Der Widerspruch zu Goethes Epochenmodell, das die Interlinearversion ans Ende und nicht an den Anfang setzt, ist nur scheinbar: Die anfängliche Interlinearversion bezieht sich auf den geschichtlichen Zustand der Schriftlichkeit, Goethes abschließende Interlinearversion auf den geschichtlichen Zustand des Originals in einer bestimmten Schriftsprache. Allerdings sagt Goethe auch, dass sich jene drei Epochen »wiederholen, umkehren« oder »gleichzeitig ausüben lassen«.41 Wie später Benjamin in seinem Übersetzer-Aufsatz beschließt auch Goethe seine kurze ›Note‹ mit der Interlinearversion, die er ausdrücklich mit jener dritten Epoche verbindet: »Eine Uebersetzung die sich mit dem Original zu identificiren strebt nähert sich zuletzt der Interlinear-Version und erleichtert höchlich das Verständniß des Originals, hiedurch werden wir an den Grundtext hinangeführt, ja getrieben und so ist denn zuletzt der ganze Zirkel abgeschlossen, in welchem sich die Annäherung des Fremden und Einheimischen, des Bekannten und Unbekannten bewegt.«42 In der dritten Epoche gelte die Übersetzung, deren höchste Stufe die Interlinearversion ist, nicht mehr »anstatt des andern, sondern an der Stelle des andern«43 . Angezeigt werden soll mit dieser irritierenden Unterscheidung, dass Übersetzung und Original einen gemeinsamen Raum stiften, also an selber ›Stelle‹ stehen und das Original nicht mehr substituiert wird. Hendrik Birus zitiert in seinem Divan-Kommentar aus dem Eintrag des Deutschen Wörterbuchs zu ›anstatt‹,44 wo argumentiert wird, dass ›anstatt‹ (pour l’original) abstrakter sei als ›an der Stelle‹ (au lieu de l’original) und substituierend gemeint sei. ›An der Stelle‹ dagegen drücke aus, dass sich das Original nicht ersetzen lasse, sondern mit der Übersetzung zusammensteht am selben Platz.45 Die Theorie der Interlinearversion, die bei Benjamin das translatorische Postulat der Sprachergänzung verwirklichen soll, geht auf Goethe zurück. Der sich auf Goethe berufende Neumann hat Pannwitz und dieser Benjamin darin bestärkt, die Übersetzungstheorie in einer Theorie der Interlinearversion gipfeln zu lassen. Eine mögliche Antwort darauf, warum um 1900 die Interlinearversion als interlinguales Modell so viel Aufmerksamkeit erhielt, gibt Pannwitz, wenn er schreibt, dass sich die Interlinearversion von der ›Schundliteratur‹, zu der er die meisten

41 42 43 44 45

tributions from the EST Congress, Copenhagen 2001. Amsterdam: John Benjamins Publishing Company, 2004, 27–38. Goethe: Uebersetzungen, 530. Ebd., 532, bzw. Neumann: Die Übersetzung, XLII. Goethe: Uebersetzungen, 529. Johann Wolfgang Goethe: West-östlicher Divan. Teil 2. Hg. von Hendrik Birus. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1994, 1575. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Bd. 1. Leipzig: Hirzel 1854, 476.

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Transformationen: Ressourcen und Nachhaltigkeit

Übersetzungen zählt, abhebe. Den auserwählten Kennern sollten »anstatt der vorherrschenden übersetzungen schundliteratur texte mit interlinearversion geboten werden.«46 Der Begriff der Schundliteratur ist ein kulturkritisches Signal. Wer ihn verwendet, bringt zum Ausdruck, dass viel und vor allem zu viel Schlechtes geschrieben und gedruckt werde – nicht erst seit dem Buchdruck, bedenkt man, dass schon Platons Schriftkritik aus dem Unbehagen sophistischer Überproduktion erwuchs. Auch die Bibliophilie um 190047 war eine Reaktion darauf, dass die längst etablierten neuen Leserschichten auf billiger werdende Bücher zurückgreifen konnten. Aus Sicht der Gebildeten wurde der Markt mit schlechter Literatur in minderwertigen Büchern überschwemmt, und es war konsequent, diese Klagen von der Originalproduktion auf die Übersetzungsliteratur auszuweiten. Eduard Engel, Herausgeber des Magazins für die Literatur des Auslandes, konstatierte beispielsweise eine ›Übersetzungsseuche‹.48 Der Kulturkritiker Pannwitz und verdeckt auch der der Übersetzung jegliche Vermittlungsfunktion absprechende Benjamin sahen die Kultur in den vielen ›schlechten Übersetzungen‹49 sich verwässern, sahen, wie sich durch Übersetzungen die Leserschaft zunehmend vom Ursprung entfernte. Gegen solche Verlust- und Entfremdungsängste wird die Interlinearversion als nachhaltiges Modell in Stellung gebracht, das auf die Ressource des Originals zurückgreift, ohne es zur bloßen Quelle zu degradieren, die nach Anfertigung der Übersetzung überflüssig wäre. Die Kritik an der Übersetzung als Versuch, das Original zu ersetzen bzw. sich an seiner Statt zu setzen, geht auf die frühromantische Übersetzungstheorie zurück. Friedrich Schlegel unterstellte dem Homer-Übersetzer Johann Heinrich Voß, dass er das Original annihilieren wolle und Homer nur in seiner Übersetzung genießen 46 47

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Ebd., 243. Zur unter dem Eindruck der Industrialisierung entstandenen und im Kontext der Arts and Crafts-Bewegung zu sehenden Buchkunstbewegung um 1900 sowie in europäischer Perspektive Fritz Funke: Buchkunde. Ein Überblick über die Geschichte des Buches. München: Saur 6 1999, 230–255. Zu ihren Aporien am Beispiel des Philologen Georg Witkowski vgl. Christian Benne: Ästhetik der verpaßten Chancen. Georg Witkowski zwischen Philologie und Bibliophilie. In: Gert Mattenklott/Rainer Falk (Hg.): Ästhetische Erfahrung und Edition. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2007, 199–211. Eduard Engel: Die Übersetzungsseuche in Deutschland. Leipzig: Friedrich 4 1881. Engel hatte zuvor als Herausgeber des Magazins für die Literatur des Auslandes Artikel ebenda zum Thema veröffentlicht. Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, VII, definiert eine schlechte Übersetzung als solche, die sich »anheischig macht, dem Leser zu dienen.« Die Frage (ebd.): »Gilt eine Übersetzung den Lesern, die das Original nicht verstehen?«, wird verneint. Gleich der erste Satz lautet: »Nirgends erweist sich einem Kunstwerk oder einer Kunstform gegenüber die Rücksicht auf den Aufnehmenden für deren Erkenntnis fruchtbar.« (Ebd.) Am Ende des ersten Absatzes wird Benjamin ganz deutlich: »Denn kein Gedicht gilt dem Leser, kein Bild dem Beschauer, keine Symphonie der Hörerschaft.« (Ebd.)

Alexander Nebrig: Ressource der Interlinearversion

könne.50 Eine solche Praxis war für ihn nicht bloß ein hypothetisches Problem, sondern in bestimmten geschichtlichen Situationen zu beobachten, dort nämlich, wo nach Anfertigung der Übersetzung die weitere Tradierung des Originals unwichtig geworden war. Friedrich Schlegel, blind für die Verdienste der arabischen Übersetzer des Mittelalters einerseits und die Palimpseste des christlichen Mittelalters andererseits, bezeichnet im Athenäums-Fragment 229 die mittelalterlichen Araber als »eine höchst polemische Nazion, die Annihilanten unter den Nazionen. Ihre Liebhaberei, die Originale zu vertilgen, oder wegzuwerfen, wenn die Uebersetzung fertig war, charakterisiert den Geist ihrer Philosophie.«51 Dass angesichts der Knappheit von Schriftträgern sowohl im muslimischen als auch im christlichen Mittelalter ökonomische und nicht philosophische Gründe für die vertilgende Praxis bestanden haben könnten, kommt für Schlegel nicht in Betracht. Gleichwohl erinnert sein Hinweis daran, dass sich mit der Übersetzung eine das Original negierende Einstellung verbindet. Goethes parodistisches Übersetzen impliziert einen ähnlichen Vorgang: Das Original wird durch die Übersetzung ersetzt und als Ressource für die Lektüre nutzlos. Der Umgang ist damit gleichfalls verschwenderisch, und auch dann, wenn die materielle Entsorgung von Originalen im Druckzeitalter überwunden wurde, impliziert die gewöhnliche Übersetzung die Annihilierung des Originals. In der Interlinearversion, die seit Goethe als Gegenmodell in der Übersetzungstheorie existiert, wird ein ethisch anderer Ansatz propagiert, der auf eine nachhaltige Pflege des Originals abzielt – nachhaltig auch deshalb, weil das Original und seine zwischen den Zeilen gesetzte Version weiterhin in der Lektüre als Ressourcen nutzbar gemacht werden müssen. Mit der translatorischen Gattung interlinearer Sprachergänzung wird auch ein von der Theorie noch nicht erfasstes Ressourcenproblem gelöst, das die dominante substituierende Übersetzungspraxis – Goethes ›anstatt‹Übersetzung – aufwarf.

2. Die Ressource als Quelle, semiotisches Mittel und materieller Träger Die substituierende, nicht-interlinear verfahrende und ausschließlich horizontal zu lesende Übersetzung bringt die Sprachen nicht zueinander. »Sprachergänzung«52 erreicht allein die mit dem Original im selben Schriftraum interferierende Interlinearversion. Der substituierende Charakter der gewöhnlichen, nicht-interlinearen Übersetzung zeigt sich darin, dass sie meist getrennt vom Original zirkuliert. Eine

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Abgedruckt in: Josef Körner: Friedrich Schlegels Philosophie der Philologie. In: Logos 17/1 (1928), 1–72, hier: 55. Friedrich Schlegel: Athenaeums-Fragmente. In: Kritische Ausgabe seiner Werke. Hg. von Ernst Behler. Abt. I. Bd. 2. Hg. von Hans Eichner. Paderborn: Schöningh 1967, 165–255, hier: 201. Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, XV.

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Transformationen: Ressourcen und Nachhaltigkeit

solche Übersetzung kann nur bedingt zum Verstehen beitragen, weil sie als ein einheitlicher und in sich geschlossener Text nicht unmittelbar auf den originalen Sinn rückführbar ist. Erst ein Übersetzungsvergleich auf unterschiedlichen sprachlichen und stilistischen Ebenen würde Original und Übersetzung wieder zusammenführen. Aber selbst dann würde sich zeigen, dass man zwei verschiedene Texte vor sich hat. Genau aus dem Grund untersucht die gegenwärtige Übersetzungsforschung die Differenz als produktive Differenz, anstatt Übersetzungsfehler zu dokumentieren. Die Interlinearversion hingegen bleibt ans Original gebunden, das intertextuelle Quelle im Sinne der source und zugleich ein semiotisches Mittel im Sinne der resource ist. Aktuell erlebt der Begriff der Ressource innerhalb der Multimodalitätsforschung Konjunktur. Vor allem digitale Texte werden durch den Ansatz in ihrem multimodalen Zusammenspiel visueller und auditiver Elemente unterschiedlichster Formate verständlicher. ›Semiotische Ressourcen‹53 sind beispielsweise Rahmen, Bilder, Texte, Piktogramme, die sich im Rezeptionsprozess multimodal ergänzen. Die Interlinearversion wäre demnach eine multimodale Sonderform, die auf textuelle Ressourcen beschränkt ist. Statt verschiedener Medien wie bei Text-Bild-Relationen liegen in der Regel zwei verschiedene Qualitäten desselben Mediums, d.h. der Schriftsprache, vor. Es handelt sich um zwei verschiedene Ressourcen, die semiotisch als zwei einander fremde Sprachen dieselbe Referenz haben. Sie ergänzen sich einerseits wie Text und Bild, überschneiden sich aber zugleich, weil die WortWort-Relation äquivalent gedacht ist. Sie dient nicht der Verdopplung des Sinns, sondern der gegenseitigen Reflexion oder der ›wiederholten Spiegelung‹, womit Goethe meint, dass ein und dieselbe Sache aus zwei und mehreren Perspektiven betrachtet wird.54 Durch die Interlinearversion wird eine multimodale Einheit geschaffen, die auf »Sprachergänzung«55 abzielt. Von gewöhnlichen Übersetzungen, 53

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Von ›semiotischen Ressourcen‹ sprechen Gunther Kress/Theo van Leeuwen: Reading Images. The Grammar of Visual Design. London: Routledge 1996, 7. Vgl. auch Volker Eisenlauer: Facebook als multimodaler digitaler Gesamttext. In: Nina-Maria Klug/Hartmut Stöckl (Hg.): Handbuch Sprache im multimodalen Kontext. Berlin: de Gruyter 2016, 437–454, bes. 442f. – Gunther Kress, Pionier der Multimodalitätsforschung, diskutiert auch den Zusammenhang von Übersetzung und Multimodalität, jedoch ohne den naheliegenden Bezug zur Interlinearversion zu sehen. Ressource wird von ihm als bedeutungskonstitutives und semiotisches Mittel bezogen auf textexterne Mittel und weniger eng gefasst, vgl. Gunther Kress: Transposing meaning. Translation in a multimodal semiotic landscape. In: Monica Boria u.a. (Hg.): Translation and Multimodality. Beyond Words. London: Routledge 2019, 24–48, vgl. auch den Beitrag in ebd. von Klaus Kaindl: A theoretical framework for a multimodal conception of translation, 49–70. Johann Wolfgang Goethe: Wiederholte Spiegelungen. In: Ders.: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Hg. von Karl Richter. Bd. 14. Hg. von Reiner Wild. München: Carl Hanser 1986, 568f. Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, XV.

Alexander Nebrig: Ressource der Interlinearversion

die autonom vom Original sind, kann dies nicht gesagt werden: Als monomodale Artefakte schaffen sie gerade keine Ergänzung, sondern eine Ersetzung. Sie sind aus sich selbst heraus verstehbar wie das Original. Da die Ressource erst aus der Differenz zu anderen Ressourcen entsteht, wären gewöhnliche Übersetzungen und ebenso Originale als monomediale Texte ressourcenlos. Auf den ersten Blick ist ein solcher Ressourcenbegriff nicht naheliegend, weil im Deutschen mit der Ressource eine bestimmte Materialität assoziiert wird. Gleichwohl wird seit der Antike auch die materielle Quelle (source) als verblasste Metapher zur Beschreibung abstrakter textueller Beziehungen gebraucht. Folglich kann analog zur ›Quelle‹ das Konzept der ›Ressource‹ poetologisch bzw. semiotisch verwendet werden. Diese relationale Auffassung entlehnt den Begriff der Ressource aus dem Multimodalitätsdiskurs und fasst sowohl das Original als auch dessen Interlinearversion als semiotische Ressourcen desselben semiotischen Raumes auf. Sind Übersetzung und Original getrennt, bezieht sich ›Ressource‹ ausschließlich auf das Original. Dann ist das Original eine materielle und immaterielle Ressource für interlinguale, intralinguale und intersemiotische Übersetzungen.56 Der Umgang mit der Ressource Original unterscheidet sich, je nachdem, ob es sich um eine gewöhnliche Übersetzung oder um eine Interlinearversion handelt. Man könnte einwenden, dass die gewöhnliche, d.h. substituierende Übersetzung das Original nicht als semiotische Ressource nutzt, da es unsichtbar ist und eher den Status einer Quelle (source) im Sinne des Prätextes besitzt. Unterscheidet man allerdings zwischen dem Akt des Übersetzens und dem Akt der Lektüre einer Übersetzung, wird der Sachverhalt deutlicher. Im Fall der Produktion handelt es sich um eine semiotische Ressource, die mit dem neuen Text multimodal interagiert. In der Rezeption verschwindet diese semiotische Ressource, wird sozusagen aufgebraucht oder paratextuell als Quelle (source) oder Prätext an die Übersetzung gebunden, um sie zu autorisieren und zugleich als sekundär und abgeleitet zu kennzeichnen. Doch für den empirischen Lektüreprozess ist das unerheblich, weil das Original fehlt. Das Original bleibt eine Fiktion. Die gewöhnliche Übersetzung, die ohne das Original gelesen wird, bezeugt den materiellen sowie immateriellen Reichtum des Originals. Das Original produziert in verschiedenen Sprachen Versionen seiner selbst, weil es die Möglichkeit seiner Übersetzbarkeit in sich trägt. Der Preis für die Übersetzbarkeit ist die Pluralisierung des Originals in seinen Übersetzungen und die Spaltung des einheitlichen Sinnkerns, denn die neuen Formen stehen für die Identität und die Differenz zum Original zugleich ein. Die Übersetzungsverbote, die in verschiedenen Epochen und Kulturen in Bezug auf die sakralen Texte ausgesprochen worden sind, erinnern an die 56

Zu dieser Trias vgl. Roman O. Jakobson: On Linguistic Aspects of Translation. In: Reuben E. Brower (Hg.): Translation. Cambridge, MA: Harvard University Press 1959, 232–239.

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Transformationen: Ressourcen und Nachhaltigkeit

Angst vor der Sprengkraft des heiligen Originals und seiner Pluralisierung in Übersetzungen. Die Interlinearversion hingegen begreift das Original sowohl im Akt der Übersetzung als auch im Akt ihrer Lektüre als semiotische Ressource. Das Ressourcenbewusstsein geht mit ihr nicht verloren. Für die Interlinearversion folgt aus dieser Prämisse ein nachhaltiger Umgang mit dem Original in materieller Hinsicht (a) – zumindest innerhalb der analogen Schriftkultur –, vor allem aber in hermeneutischer Hinsicht (b), wie abschließend kurz erläutert werden soll. a) In materieller Hinsicht ist die Interlinearversion materialschonend, weil sie nicht mehr Trägermaterial benötigt, als dem Original zur Verfügung steht; und ihr materieller Mehrbedarf beschränkt sich allein auf die Schreibstoffe wie Tinte oder Druckerschwärze oder Lettern. Die unplanmäßigen Interlinearversionen benötigen weniger Material als solche, die, wie viele mittelalterliche, planmäßig mit eigenen Leerzeilen angefertigt worden sind. Dennoch bleibt der Materialbedarf gegenüber gewöhnlichen Übersetzungen geringer. Dieser verdoppelt sich mit jeder Übersetzung, wobei in gleicherweise denkbar ist, dass Originale und Übersetzungen jeweils mehr Material durch beispielsweise höhere Auflagen oder höherwertige Schriftträger wie Velinpapier verbrauchen. Auch übersetzte Bücher können gegenüber dem Original hinsichtlich ihres Materialverbrauches in einem asymmetrischen Verhältnis stehen. Den Verbrauch auszurechnen wäre müßig; von Interesse ist allein das Faktum der Potenzierung des Originals in seinen Übersetzungen. Im digitalen Raum würde diese Besonderheit relativiert, weil der Unterschied zwischen gewöhnlicher Übersetzung und Interlinearversion im Bedarf des Speicherplatzes messbar ist, wobei es kaum möglich ist, belastbare Aussagen aufgrund fehlender Beispiele zu treffen.57 b) In hermeneutischer Hinsicht konkurriert die Interlinearversion nicht mit dem Original. Weder verdoppelt noch potenziert sie es. Sie respektiert die Singularität seiner Form, von der sie nicht zehrt, indem sie sich auf die paradigmatische Ebene der Wörter beschränkt. Damit ist die obige Auffassung der Ressource als eines semiotischen Mittels angesprochen, das sich mit einem anderen semiotischen Mittel denselben Raum teilt und in diesem mit ihm interferiert. Der Nutzen oder Zweck dieses anderen Mittels besteht darin, die Form des Originals transparent zu machen, indem zwischen die Zeilen eine wörtliche Differenz

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Digitale Editionsprojekte beispielsweise der Germanistik (http://faustedition.net, https://go ethe-biographica.de, zuletzt abgerufen am 12.01.2023) nutzen für ihre Transkriptionen die Möglichkeit, verschiedene Textversionen direkt über dem jeweiligen Wort oder Syntagma bei Bedarf sichtbar zu machen. Für die Edition fremdsprachiger Texte eröffnen sich im digitalen Raum ungeahnte und kaum genutzte Potentiale interlinearer Darstellung.

Alexander Nebrig: Ressource der Interlinearversion

eingefügt und, mit Benjamin gesprochen, das Original durch eine »Arkade« betrachtet wird, anstatt wie in der gewöhnlichen Übersetzung von einer »Mauer« verstellt zu werden: »Die wahre Übersetzung ist durchscheinend, sie verdeckt nicht das Original, steht ihm nicht im Licht, sondern läßt die reine Sprache, wie verstärkt durch ihr eigenes Medium, nur um so voller aufs Original fallen. Das vermag vor allem Wörtlichkeit in der Übertragung der Syntax und gerade sie erweist das Wort, nicht den Satz als das Urelement des Übersetzers. Denn der Satz ist die Mauer vor der Sprache des Originals, Wörtlichkeit die Arkade.«58 Beim gewöhnlichen Übersetzen wird die originale Ressource von der Übersetzung komplett verschlungen. Wer eine lesbare und in sich geschlossene Übersetzung anfertigt, versucht, ein lexikalisch und syntaktisch kohärentes Äquivalent zu erzeugen, das für sich selbst stehen soll. Ist die Übersetzung aus sich selbst heraus verständlich, besitzt sie auch eine eigene Form, einen eigenen Sinn und eine eigene Moralität. Als aufeinander bezogene semiotische Ressourcen sind dagegen Originaltext und Interlinearversion Teil derselben hermeneutischen Konstellation, weshalb die Interlinearversion einer nachhaltigen Hermeneutik angehört, die im Unterschied zur substituierenden Übersetzung Sinn und Form des Originals nicht pluralisiert, sondern dessen Identität bewahrt.

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Benjamin: Die Aufgabe des Übersetzers, XV.

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»Papierbedarf: 0,3 Tonnen« Umgang mit Ressourcen im Mitteldeutschen Verlag (Halle/Saale) in den 1960er Jahren Marlene Kirsten Bei der Lyrikanthologie Sonnenpferde und Astronauten1 handelt es sich um ein aufwendig gestaltetes Buch: Ein Querformat von 19×24 cm mit Schmuckumschlag und blauem Leineneinband, beide bedruckt mit stilisierten Seepferden in gelben Sonnen. Versammelt sind Gedichte von zehn Autoren. Als Zwischentitel dienen fast leere Seiten, mit Autornamen und der vom Umschlag übernommenen Sonnenvignette. Weiteres Ausstattungsmerkmal sind zwölf seitenfüllende, teils doppelseitige Illustrationen. Die Anthologie ist 1964 im Mitteldeutschen Verlag (MDV) in Halle erschienen, als Nachfolgeband der drei Jahre zuvor erschienenen Gedichtauswahl Bekanntschaft mit uns selbst. Gedichte junger Menschen.2 Auch dieser Band ist illustriert, beschränkt sich aber auf eher klassische Text-Bild-Kombinationen. Die Grafiken weisen gleichwohl eine stilistische Vielfalt auf, unter anderem als Resultat unterschiedlicher Urheber. Beide Anthologien wurden von Gerhard Wolf zusammengestellt und präsentieren dem Lesepublikum der DDR Texte junger Lyriker*innen, die noch keinen Einzelband publiziert haben. Die in beiden Buchprojekten großzügigen Investitionen hinsichtlich Gestaltung, Material und Personal versetzen in Erstaunen, handelt es sich bei den versammelten Texten doch um Gedichte von Autor*innen, die 1961 respektive 1964 noch am Anfang ihrer Karrieren standen, unter ihnen Volker Braun, Heinz Czechowski und Sarah Kirsch. Die Anthologie Sonnenpferde und Astronauten wird zwar bereits wenige Jahre nach Erscheinen als »legendär«3 und auch in jüngster Zeit als

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Gerhard Wolf (Hg.): Sonnenpferde und Astronauten. Gedichte junger Menschen. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 1964. Gerhard Wolf (Hg.): Bekanntschaft mit uns selbst. Gedichte junger Menschen. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag 1961. Gregor Laschen: Lyrik in der DDR. Anmerkungen zur Sprachverfassung des modernen Gedichts. Frankfurt a.M.: Athenäum 1971, 99.

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Transformationen: Ressourcen und Nachhaltigkeit

»eine der literarisch bedeutendsten Anthologien Mitte der 60er Jahre«4 beurteilt, aber im Entstehungsprozess des Bandes war dies nicht ohne Weiteres abzusehen. Wie motiviert sich die Anlage der Anthologien in dieser Form? Neigte der MDV zur Verschwendung oder lassen sich die beiden Bände als nachhaltige Publikationsform begreifen? Das Konzept der Nachhaltigkeit berührt drei voneinander in Wechselbeziehung stehende Dimensionen und meint, »Umweltgesichtspunkte gleichberechtigt mit sozialen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu berücksichtigen.«5 Das ressourcenbewusste Wirtschaften und Handeln ist nicht allein auf die Gegenwart ausgerichtet, sondern denkt zukünftige Generationen mit. Die jüngere Forschung zur Umweltpolitik in der DDR zeigt Debatten zu Umweltthemen bereits in den 1950ern und 1960ern auf.6 Wie sehr die Papierindustrie über eine nachhaltige Produktion nachdachte, wurde durch die Wirtschaftsgeschichte bislang nicht in den Blick genommen.7 In diesem Aufsatz beschränken sich die Überlegungen auf den Einzelfall des MDV in den 1960ern und die verlagsbezogenen, produktionsseitigen Entscheidungen und Diskussionen. Um diese nachzuvollziehen und den Umgang mit Ressourcen zu kontextualisieren, wurden neben Zeitungsartikeln Werbemittel und Akten des MDV gesichtet. Außerdem hinzugezogen wurden Korrespondenzen zwischen Halle und dem Druckerei- und Verlagskontor (DVK), die heute im Bundesarchiv Berlin-Lichterfelde aufbewahrt werden. Dem Kontor war der MDV bis Mitte der 1960er unterstellt und musste diesem als zentralgeleitete volkseigene Industrie jährlich Rechenschaft über sein Wirtschaften ablegen.

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Carmen Ulrich: Bericht vom Anfang. Der Buchmarkt der SBZ und frühen DDR im Medium der Anthologie (1945–1962). Bielefeld: Aisthesis 2013, 242. Rat für Nachhaltige Entwicklung: Nachhaltige Entwicklung, https://www.nachhaltigkeitsra t.de/nachhaltige-entwicklung/ (zuletzt abgerufen am 13.06.2022). Der Rat schließt mit diesem Verständnis an die weiterhin maßgebliche Definition der Brundtland-Kommission von 1987 an: »Dauerhafte Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, daß künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.« (Volker Hauff (Hg.): Unsere gemeinsame Zukunft. Der Brundtland-Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung. Greven: Eggenkamp 1987, 46). Vgl. Tobias Huff: Über die Umweltpolitik der DDR. Konzepte, Strukturen, Versagen. In: Geschichte und Gesellschaft 40 (2014), 523–554. Die DDR verabschiedete als zweites europäisches Land nach Schweden schon 1970 ein Umweltschutzgesetz zur »planmäßige[n] Gestaltung einer sozialistischen Landeskultur« (Landeskulturgesetz), vgl. Gesetzblatt der DDR 1970, Teil 1, Nr. 12. Die wirtschaftsgeschichtliche Forschung zur Papier- und Druckindustrie der DDR wurde bisher nur in Ansätzen unternommen (vgl. Heinz Schmidt-Bachem: Aus Papier. Eine Kultur- und Wirtschaftsgeschichte der Papier verarbeitenden Industrie Deutschlands. Berlin/Boston: de Gruyter Saur 2011, 18, außerdem die für die Nachkriegszeit leicht tendenziöse Darstellung bei Klaus B. Bartels: Papierherstellung in Deutschland. Von der Gründung der ersten Papierfabriken in Berlin und Brandenburg bis heute. Berlin: be.bra Wissenschaft 2 2011).

Marlene Kirsten: »Papierbedarf: 0,3 Tonnen«

In der Gegenwart beschränkt sich die Diskussion um Nachhaltigkeit im Verlagswesen bislang auf die ökologische Dimension des Begriffs. Projekte wie »Nachhaltig publizieren – Neue Umweltstandards für die Verlagsbranche«, das Schlagwort des Green Publishing oder das Label »Klimaneutraler Verlag« der Holtzbrinck Unternehmensgruppe sind Beispiele dafür.8 Die seit August 2021 auch in der breiteren Öffentlichkeit diskutierte Papierknappheit lenkt den Blick auf die Abhängigkeit des Buchmarkts von anderen Branchen.9 Zur Erklärung der Strategie des MDV reicht diese Dimension alleine jedoch nicht aus. Die gesellschaftlichen Kontexte der DDRVerlagswirtschaft und das kulturpolitische Selbstverständnis des Verlags müssen mitberücksichtigt und als Maßstab für die Nachhaltigkeit verlegerischen Handelns in Betracht gezogen werden. Der Sinn der Buchausstattung erschließt sich erst, wenn man die Motivation nicht allein in der Dependenz von ökonomischen Erwägungen und ökologischer Ressourcennutzung sucht. Das Verhältnis von ökonomischen Entscheidungen und sozialen Gesichtspunkten spielt gleichfalls eine Rolle. Junge Autor*innen sind eine Humanressource für einen Verlag der Gegenwartsliteratur und bedürfen einer nachhaltigen Förderung, um zur Entwicklung des Verlages beizutragen.

1. Zwischen Kulturpolitik und eingefrorenen Vorsätzen Die Buch- und Verlagsgeschichtsschreibung der DDR analysiert bislang vor allem Verhandlungsprozesse zwischen Autor*innen, Verlagen und staatlichen Institutionen, und zeichnet inhaltliche Abstimmungsprozesse nach. Fragen der Materialität konnten weniger das Interesse der Forschung auf sich ziehen.10 Dabei entstehen 8

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Oekom: Nachhaltig publizieren – Über das Projekt, https://www.oekom.de/special/nachhal tig-publizieren/ueber-das-projekt/c-405 (zuletzt abgerufen am 13.06.2022). Die Diskussion aus buchwissenschaftlicher Perspektive betrachten Corinna Norrick-Rühl/Anke Vogel: Green Publishing in Germany: A Passing Trend or a True Transition? In: Publishing Research Quarterly 29 (2013), 220–237. Die Praxis der Verlage in den größeren Kontext der materialorientierten Medienökologie stellte Evi Zemanek: Medienwissenschaft. In: Ursula Kluwick/dies. (Hg.): Nachhaltigkeit interdisziplinär. Konzepte, Diskurse, Praktiken. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2019, 396–420. Vgl. beispielhaft Lothar Müller: Suhrkamp gehen die Pappen aus. Papiermangel in der Verlagsbranche. In: Süddeutsche Zeitung, 22.08.2021, https://www.sueddeutsche.de/kult ur/papiermangen-papierknappheit-verlage-corona-holz-1.5388888 (zuletzt abgerufen am 13.06.2022). Auch wenn die Gründe für Papierknappheit in Umstrukturierungen der Papierindustrie liegen, also auf einer der Ressource nachgelagerten Ebene, erinnert der Mangel an den Ursprung des Begriffs der Nachhaltigkeit in der Forstwirtschaft des 18. Jahrhunderts. Ganz aktuell erschienen ist Christoph Links/Siegfried Lokatis/Klaus G. Saur (Hg.): Deutsche Demokratische Republik. Teil 1: SBZ, Institutionen, Verlage 1 (Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 5). Berlin/Boston: de Gruyter 2022. Im zweiten Teilband zur

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Transformationen: Ressourcen und Nachhaltigkeit

die Druckerzeugnisse der DDR-Verlage zwischen zwei gegenläufigen Tendenzen: Einerseits erinnert man noch heute gerne an die gute Ausstattung der Bücher. Illustrierte Bücher waren Projekte der großen Publikumsverlage. Das »bibliophile Massenbuch«11 , das für den breiten Markt produziert wurde, war in der DDR keine Besonderheit, sondern die Regel: »Das schöne, gut gedruckte und gestaltete, geistreich illustrierte Buch in hoher Auflage gehört zu den wesentlichen Aufgaben der belletristischen Verlage in der DDR.«12 Die Buchgestaltung wurde über verschiedene Maßnahmen unterstützt und war Teil der künstlerischen Ausbildung, so Julia Blume: »Mitte des 20. Jh. nahm die Bedeutung der belletristischen B[uchillustration] ab. Eine besondere Förderung erfuhr die künstlerische B[uchillustration] jedoch in der DDR im Zusammenklang mit dem Ausbau der graphischen Kunst und deren fester Verankerung in den Bildungsprogrammen der Kunsthochschulen.«13 Schon im Studium sollte praxisgebunden und im Kollektiv gearbeitet werden; zu diesem Zweck wurden von den Hochschulleitungen entsprechende Abschlussprojekte gefördert und Kooperationsvereinbarungen für Beiträge zu Büchern, Zeitschriften und Ausstellungen abgeschlossen.14 Der guten Buchausstattung und dem hohen Stellenwert, der der Buchkunst von verschiedenen Stellen zugestanden wurde, stehen andererseits der Papiermangel und die minderwertige Qualität des verwendeten Papiers und der Farben gegenüber, mit denen die Verlage zu kämpfen hatten. DDR-Verlage waren an Papierzuteilungen gebunden, die knapp kalkuliert waren.15 »Die Verlage konnten ihr Programm also nur auf der Basis eines Papierkontingents aufstellen, das sie selbst nicht bestimmen konnten. Die Papierzuteilung

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DDR, geplant für Oktober 2023, ist ein Kapitel zur Buchherstellung vorgesehen. Ich danke Siegfried Lokatis für diese Auskunft. Lothar Lang: Von Hegenbarth zu Altenbourg. Buchillustration und Künstlerbuch in der DDR. Stuttgart: Hauswedell 2000, 2. Lothar Lang: Malerei und Graphik in der DDR. 2., verbesserte Aufl. Luzern/Frankfurt a.M.: Bucher 1980, 261. Dieses Selbstverständnis zeigt sich auch in der alljährlichen Prämierung der schönsten Bücher der DDR, damit verbundenen Ausstellungen und weiteren staatlichen Maßnahmen. Julia Blume: Buchillustration. In: Ursula Rautenberg (Hg.): Reclams Sachlexikon des Buches. 3., vollständig überarb. und aktual. Aufl. Stuttgart: Reclam 2015, 84–88, hier: 88. An den Kunsthochschulen wurde eine Bandbreite an graphischen Techniken gelehrt u.a. wurde der Holzschnitt wiederbelebt. Wichtige Ausbildungsorte waren Leipzig, Dresden und die Kunsthochschule in Berlin-Weißensee. Vgl. Albert Kapr: Aufgaben und Ziele der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig, in: Bildende Kunst 19 (1971), 59–64, hier: 63. Der Papiermangel ergab sich durch die Demontage von Fabriken in den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, später fehlte es an modernen Maschinen (vgl. Bartels: Papierherstellung in Deutschland, 437f.). Außerdem stand die Produktion für den Binnenmarkt in Konkurrenz zu Aufträgen für das nicht-sozialistische Ausland.

Marlene Kirsten: »Papierbedarf: 0,3 Tonnen«

steckte den Umfang der Produktion ab. Auflagenerhöhungen, Nachauflagen etc. mussten innerhalb des Kontingents ausgeglichen werden.«16 Im Falle des Mitteldeutschen Verlags schwankten die Papierzuteilungen zwischen Ende der 1950er und Mitte der 1960er. »Seit 1958 […] verschoben sich [zunächst] die Proportionen der Papierkontigentierung massiv in Richtung ›sozialistischer Gegenwartsliteratur‹«,17 dem Marktsegment, dem der MDV besonders verpflichtet war. Die größere Papierzuteilung hing mit der 1. Bitterfelder Konferenz vom 24. April 1959 zusammen, die der MDV mit ausrichtete.18 Die Neuausrichtung der Kulturpolitik förderte die Zusammenarbeit von Amateuren und professionellen Kunst- und Literaturakteur*innen, und fokussierte die aktuelle, auf die sozialistische Gegenwart bezogene Literatur; beides beeinflusste die Buchproduktion der DDR in den Folgejahren. 1959 waren von 5781 Tonnen, die für Bücher und Zeitschriften zur Verfügung standen, 3000 Tonnen für Belletristik veranschlagt.19 Der Anteil der Gegenwartsliteratur bestand mit 1145 Tonnen aus etwas mehr als einem Drittel. Das Kontingent des MDV belief sich 1959 auf 225 Tonnen;20 das entspricht 7,5 Prozent des Gesamtanteils, wurde jedoch nach einer ersten Erhöhung mit den Jahren zusammengestrichen, 1964 auf nur noch 208 Tonnen, da die Verkäufe der Gegenwartsliteratur sich nicht wie erwartet fortgesetzt hatten und Papier für das weitere Sortiment fehlte.21 Eine mit der Papierzuteilung mittelbar verbundene Restriktion für die Verlagsarbeit war, dass die Auflage passgenau kalkuliert werden musste. Das Vermeiden von Überbeständen gelang dem MDV jedoch nur ungenügend: »Der Wert der unverkauften Bücher des MDV stieg im Verlauf des Jahres 1961 von 350000 DM auf 1,657 Millionen DM. Im Sommer 1962 meldete der LKG aus Leipzig, daß die Bestände des Verlages auf 2,2 Millionen angewachsen waren.«22 Das Druck- und Verlagskontor bat um Makulierung der Bestände und eine Vermeidung einer solchen Anhäufung in der Zukunft. Der Verlag versuchte bereits seit 1961, eine bessere Umsetzung der zugeteilten Papiermittel und einen höheren Anteil verkaufter Bücher zu erreichen. Die Maßnahme der Auflagenkürzung neu erscheinender Bände führte allerdings zu Protest seitens einiger Autor*innen. In einer Stellungnahme gesteht der Verlag 16 17

18 19 20 21 22

Dietrich Löffler: Buch und Lesen in der DDR. Ein literatursoziologischer Rückblick. Berlin: Christoph Links 2011, 169. Siegfried Lokatis: Der Aufstieg des Mitteldeutschen Verlags (MDV) auf dem »Bitterfelder Weg«. In: Simone Barck/Martina Langermann/ders. (Hg.): Jedes Buch ein Abenteuer. Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre. Berlin: Akademie 1997, 127–172, hier: 156. Vgl. ebd. für die Rolle des MDV bei der Organisation der Bitterfelder Konferenz 1959 und die parallel erfolgende Profilierung des MDV. Der Rest entfiel auf Kinder- und Jugendbücher, Kunst- und Musikliteratur. Vgl. ebd., 156. Vgl. ebd., 158. Vgl. ebd., 165–168. Ebd., 158.

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Transformationen: Ressourcen und Nachhaltigkeit

weitere Fehlentscheidungen der Vergangenheit ein. Dazu gehörten die »serienweise Publikation von Anthologien, [das] Überwiegen der Erzählliteratur, mangelnde literarische Qualität und Ausstattung«.23 Im letzten Punkt zeigt sich wiederum das Vertrauen der DDR-Verlage in den besseren Abverkauf der Bücher durch eine gute Buchgestaltung. Implizit wird eine Steigerung des Anteils von Gedichtbänden am Verlagsprogramm angedacht. Anthologien werden ohne weitere Erläuterung als problematische Publikationsform erfasst. In der Gesamtdiskussion um angemessene Auflagenzahlen der Gegenwartsliteratur erfahren sie eine ambivalentere Bewertung. So sind Anthologien schreibender Arbeiter*innen im Kontext des Bitterfelder Weges zu Beginn seitens der staatlichen Institutionen mehr als erwünscht, treffen aber, so lässt sich die Bemerkung des Verlags deuten, nicht auf eine große Nachfrage. Ferner waren Anthologien ein Ausweg aus der zu geringen Papierzuteilung: Für die Sonnenpferde etwa wurden nur 0,3 t Papier veranschlagt.24 Mit selbstständigen Publikationen allein wäre es nicht zu leisten gewesen, »ein möglichst breites Spektrum an Autoren und Texten vorzustellen«25 . Anthologien boten diese Möglichkeit und waren so auch eine Chance für den Verlag. Der Abverkauf von Bänden hing nicht allein am Verlag, eine fehlende Unterstützung des Handels war gleichfalls problematisch und wurde offen kritisiert. Das zeigt ein im November 1960 erschienener Artikel des damaligen MDV-Cheflektors Heinz Bär im Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel. Er bemängelt den Umgang mit Lyrik. Eigentlich sei geplant gewesen, Gedichtbände allgemein zu Schwerpunkttiteln der neuen Saison werden zu lassen.26 Diese Absicht würden die Buchhandlungen durch ihre Bestellungen jedoch nicht unterstützen; entsprechend seien die Verlage gezwungen, die Auflagenhöhen einzuschränken. Für Gedichtbände und Lyrikanthologien bedeutet das Kleinstauflagen von um die 1000 Stück. Bekanntschaft mit

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26

Bundesarchiv (BArch), DY 63/4183: DVK (Lemmer) an MDV, 20.02.1962ff. (Schreiben des MDV an den Vorsitzenden des FDGB Warnke), 121–128, hier: 123. Die Papiernutzung zu optimieren, ist wiederkehrendes Thema in der Kommunikation zwischen DVK und Verlag. Auch Erfolge werden notiert: »Wesentlich war, daß z.B. durch eine bessere Ausnutzung des Satzspiegels 3,57 t Papier eingespart werden konnten« (BArch, DY 63/4183: Abteilung Verlagswesen an Thomas, Kaderabteilung, 28.04.1961). Dieser Wert lässt sich dem Herstellungsauftrag, aber auch den Deckblättern der Druckgenehmigungsbögen entnehmen, auf denen jeweils anzugeben war, wie viel Papier für die geplante Auflagenzahl benötigt werden würde. Dietrich Löffler: Anthologien und ihr Potential für Innovationen im Literatursystem der DDR. In: Günter Häntzschel (Hg.): Literatur in der DDR im Spiegel ihrer Anthologien. Wiesbaden: Harrassowitz 2005, 15–27, hier: 15. Heinz Bär: Gute Vorsätze – eingefroren? Auch eine Betrachtung nach der Herbstmesse. In: Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel [Leipzig], Nr. 47 (19.11.1960), 740–742, hier: 740.

Marlene Kirsten: »Papierbedarf: 0,3 Tonnen«

uns selbst wird in einer Auflage von 2000 Stück hergestellt, von Sonnenpferde und Astronauten werden 1500 Exemplare gedruckt; Zweitauflagen hat es nicht gegeben. Bär kommentiert diese Entwicklung unter Verweis auf den gesellschaftlichen Stellenwert der Dichtung kritisch: »Aber ist es unser aller würdig, daß wir unsere jungen Lyriker mit Auflagen zwischen 1000 und 2000 Exemplaren abspeisen müssen? […] Es ist eine Mißachtung echter, gesellschaftlich wichtiger Leistungen, und das paßt in unsere Gesellschaftsordnung nicht hinein.«27 Bär entwickelt sein gattungstheoretisches Argument unter Rückgriff auf den russischen Lyriker Michail Issakowski, Johannes R. Becher und Prinzipien des sozialistischen Realismus. Die entstandene Lyrik zeige die Verbundenheit der Autor*innen mit der sozialistischen Welt und sei nicht bloß individueller Ausdruck.28 Nur die Gegenwartslyrik könne die »Wirklichkeit von 1960«29 angemessen verbildlichen; sie diene somit auch als Vorbild für schreibende Arbeiter*innen. Mit dem Publizieren dieser Texte erfüllten die Verlage ihre kulturpolitische Aufgabe: »Das wenige, was gesagt wurde, dürfte die Frage eindeutig bejahen, warum die belletristischen Verlage Gegenwartslyrik herausbringen: um der Dichter, um der Gesellschaft, um der Leser und insbesondere um der aktiven Literaturpflege auf der Bitterfelder Linie willen. Sie tun das, obwohl es mit dem Vertrieb dieser Produktion höchst miserabel bestellt ist.«30 In der öffentlichen Darstellung fokussiert der Cheflektor Bär die gesellschaftliche Verantwortung des Verlags und stellt die Gedichtbände eher als Verlustgeschäft dar, das man jedoch aus ideellen Gründen weiter verfolge. Die kleinen Auflagenzahlen machen die Lyrikanthologien (und Gedichtbände) allerdings zu überschaubaren Risiken. Interne Korrespondenzen und Gutachten zeigen, dass ökonomische Erwägungen und Eigeninteressen des Verlags durchaus dafür sprechen, Lyrikanthologien zu verlegen.

2. Nachwuchs, Innovation, Talentprobe Der MDV verschreibt sich seit Mitte der 1950er verstärkt der Nachwuchsförderung und avanciert in den 1960er Jahren »für die Gegenwartsliteratur [der DDR] zum sogenannten ›Leitverlag‹«.31 Auch die Lyrik hat ihren festen Platz im Programm. 1961 wählt der MDV Bekanntschaft mit uns selbst zum Spitzentitel. Die Anthologie eröffnet

27 28 29 30 31

Ebd., 741, Hervorhebung im Original. Vgl. ebd., 740. Ebd., 741. Ebd. Lokatis: Aufstieg des MDV, 156.

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Transformationen: Ressourcen und Nachhaltigkeit

den Gesamtkatalog zur Frühjahrsmesse in Leipzig. In der Werbezwecken dienenden Broschüre wird das Selbstverständnis des Verlags deutlich: »Die Erkenntnisse der Bitterfelder Konferenz im Jahre 1959 bestätigen dem ›Verlag junger Autoren‹, daß er auf seinem Arbeitsgebiet – einem Teilgebiet der schönen Literatur – nützliche Beiträge zum Werden der sozialistischen Nationalliteratur liefert und daß dies […] auch seine Aufgabe für die nächsten Jahre bleibt.«32 Anthologien boten nicht nur die Chance, das eigene Verlagsprogramm innerhalb der zur Verfügung stehenden Papiermittel vorzustellen; gleichzeitig konnte mit ihnen das eigene Profil erweitert werden. Die Anthologien Bekanntschaft mit uns selbst und Sonnenpferde und Astronauten stellen Texte junger Autor*innen vor. Im Unterschied zu einer gängigen Gattungsdefinition der Anthologie33 handelt es sich dabei in der Mehrheit um unveröffentlichte Texte. Sammlungen diesen Zuschnitts lenken die Aufmerksamkeit auf zeitgenössische Texte, können die Bekanntheit der in ihnen vertretenen Autor*innen erhöhen und Kanonisierungsprozesse vorbereiten.34 Anneli Hartmann, die in den 1980ern zur Lyrikanthologien der DDR arbeitete, fasst unter Referenz auf Pforte Anthologien unter anderem als »Grenz- und Umschlagsort literarischer Innovationen«35 und stellt für die 1960er eine Literarisierung der Gattung fest. Anthologien dienten nun nicht mehr nur der sozialistischen Bildung, mit einem Gebrauchswert für Feier- und Festtage, sondern werden auch zum »Forum der neuen Dichtung«.36 Die Funktion, Debütant*innen vorzustellen und ungedruckte Texte zu publizieren, ist dabei kein Spezifikum der DDR-Anthologie, sondern findet sich zur selben Zeit auch in der BRD.37 Im Falle des MDV haben die für die Anthologien ausgewählten jungen Autor*innen das Potential, zu Hausautor*innen zu werden. In der Vorbereitung der Anthologien im Verlag diskutiert das Lektorat über die Begabung der Lyriker*innen und ihre Erfolgschancen. Der Lektor Martin Reso schreibt in seinem internen Gutachten zu Sonnenpferde und Astronauten: 32 33

34

35 36 37

Landesarchiv Sachsen-Anhalt (LASA), I 129, Nr. 1 Abs. 97/7: MDV Gesamtkatalog. Frühjahr 1961, 2. Vgl. Günter Häntzschel: Anthologie. In: Georg Braungart u.a. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. I: A–G. 3., von Grund auf neu erarb. Aufl. Berlin: de Gruyter 2007, 98–100, hier: 98. Vgl. Dietger Pforte: Die deutschsprachige Lyrikanthologie. Ein Beitrag zu ihrer Theorie. In: Joachim Bark/ders. (Hg.): Die deutschsprachige Anthologie 1. Ein Beitrag zu ihrer Theorie und eine Auswahlbibliographie des Zeitraums 1800–1950. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1969, XIII–CXVI, hier: CXII. Anneli Hartmann: Lyrik-Anthologien als Indikatoren des literarischen und gesellschaftlichen Prozesses in der DDR (1949–1971). Frankfurt a.M./Bern: Peter Lang 1983, 288. Ebd., 289. Beispiele wären Wolfgang Weyrauch: expeditionen. deutsche lyrik seit 1945. München: Paul List 1959 oder die Reihe Junge Lyrik im Hanser Verlag. Auch in der Geschichte der Gattung finden sich immer wieder Anthologien als Erstpublikationsort für Gedichte.

Marlene Kirsten: »Papierbedarf: 0,3 Tonnen«

»Die vorliegende Anthologie Gerhard Wolfs vermittelt eine ausgezeichnete Übersicht über die momentan dominierenden Potenzen junger Lyriker und setzt organisch die Bemühungen der vor 2 Jahren vorgelegten Anthologie ›Bekanntschaft mit uns selbst‹ fort.«38 Gerhard Wolf wiederum erwähnt die erfolgreiche Entwicklung der Autoren von Bekanntschaft mit uns selbst in seinem Nachwort zu den Sonnenpferden: »Vor zwei Jahren konnten wir Gedichte junger Menschen veröffentlichen, die inzwischen schon ihren Platz als junge Lyriker in unserer Literatur eingenommen haben.«39 Die Gedichte für die Anthologien sind eine Talentprobe, an ihnen erwägen die Lektoren ihre Wertmaßstäbe. In Werner Lierschs Gutachten zur Anthologie Erlebtes Hier von 1966, dem dritten Band mit derselben inhaltlichen Ausrichtung, wird der Konnex zu den Verlagsinteressen noch deutlicher: »Zusammenfassend, der Band gibt einen guten Überblick über Schwierigkeiten und Möglichkeiten der jüngsten Lyrikergeneration. Vieles ist noch Halbfabrikat, geistig und künstlerisch noch nicht bewältigt, künstlerisch zu wenig neu. […] Davon heben sich Autoren wie Gosse, Kirsten, Reimann und Richter ab, die echte Potenzen darzustellen scheinen […], auf sie sollten wir uns in Zukunft in unserer Arbeit orientieren.«40 Die große Zahl an Schreibenden korreliert in den 1960ern mit der sogenannten ›Lyrikwelle‹. Lesungen von Lyriker*innen füllen Säle mit bis zu 1000 Zuschauern und führen zu einem gesteigerten Interesse an der Gattung. Parallel zu den Lesungen, gleichwohl diesen nicht notwendig nachgeordnet, beginnt der MDV, Lyrikanthologien zu publizieren.41 Die vorbereitende Arbeit der Herausgeber vereinfacht die Identifikation von talentierten Autor*innen und die Anthologien knüpfen erste Bande zwischen Verlag und Autor*innen. Gleich mehrere Debütbände erscheinen in der Folge beim MDV, etwa Volker Brauns Provokation für mich (1965) und Peter Gosses Antiherbstzeitloses (1968); angedacht waren auch Bände von Sarah und Rainer Kirsch. Der MDV kommt mit diesen Verträgen der Forderung des DVK nach, den Anteil an Ersterscheinungen am Verlagsprogramm zu erhöhen.42 Gleichzeitig rentiert sich die in die Anthologien investierte Arbeit. So sind die im Nachgang realisierten Bände deutlich schlichter gestaltet, Illustrationen fehlen teilweise

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BArch, DR 1/5079a, Druckgenehmigungsvorgang Sonnenpferde und Astronauten, Verlagsgutachten Dr. Reso, 258. Wolf: Sonnenpferde und Astronauten, 108. LASA, I 129, 1331, 39–41: Werner Liersch, Verlagsgutachten vom 15.04.1966. In den Paratexten zu Sonnenpferde und Astronauten wird auf die Lesungen explizit Bezug genommen. Vgl. BArch, DY 63/4183, Bemerkungen zum Jahresbericht des Mitteldeutschen Verlages, 07.02.1961, 141–142.

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Transformationen: Ressourcen und Nachhaltigkeit

ganz. Aber Volker Brauns Provokation für mich verkauft sich und wird bis 1975 in fünf Auflagen erscheinen. Acht von neun Gedichten, die schon in Sonnenpferde und Astronauten publiziert wurden, werden, teilweise in überarbeiteter Form, in den Band übernommen.43 Neben den Autor*innen wird jungen, freischaffenden Grafikern die Gelegenheit geboten, sich vorzustellen. Für Bekanntschaft mit uns selbst werden sechs Illustratoren beauftragt, für Sonnenpferde und Astronauten noch zwei, Ronald Paris und Horst Zickelbein. Außerdem arbeiten Typographen an der Gestaltung mit. Mehr noch als Gedichtbände oder allgemeiner Publikationen eines Autors werden die Anthologien so zu Projekten eines Kollektivs und zur Bühne für die junge Generation. Dies betrifft auch die Herstellung der Bände, die beim zweiten Band an Lehrlinge abgegeben wurde. 1961 ist der VEB Offizin Andersen Nexö in Leipzig noch für die Gesamtherstellung verantwortlich. 1964 setzt der VEB nur noch den Text; den Druck, die Reproduktionen und die Buchbindearbeiten werden durch die Betriebsberufsschule in Pößneck (Thüringen) übernommen. Praktischer Hintergrund könnte sein, dass die Druckereien die Herstellung von Lyriktiteln verweigerten. »Der Satz war kompliziert, die Herstellungszeiten lang und die Auflagen klein«, vermerkt Siegfried Lokatis als Gründe.44 Allgemein beabsichtigte die Politik in den 1960er Jahren eine Modernisierung der Lehre, zu der gehörte, dass die Jugendlichen eigene Aufträge umsetzten. Die Einbindung der Lehrlinge fügt sich in die Gesamtanlage der Anthologie als Projekt für und vom Nachwuchs ein.

3. Profilierung als Verlag Beim Verlegen von Gegenwartsliteratur stellt sich die Frage der Nachhaltigkeit auch in Hinblick auf die Autor*innen. Wer wird über mehrere Bände hinweg schreiben? Wie lässt sich seine oder ihre Etablierung und Bekanntheit beim Publikum unterstützen? Der MDV wählt als einen Weg die Anthologie. Über den Verlauf des gesamten Jahrzehnts der 1960er – parallel und nach der sogenannten ›Lyrikwelle‹ – gibt der Verlag in regelmäßigem Abstand Lyrikanthologien junger Autor*innen heraus. Für die Bände wählt man ungewöhnliche Formate und investiert in typographische und graphische Gestaltung, um ihnen im Buchhandel die nötige Aufmerksamkeit

43

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Vgl. zu einigen Anpassungen, die Volker Braun vor Veröffentlichung des ersten Gedichtbands vornahm Anke Jaspers: Suhrkamp und DDR. Literaturhistorische, praxeologische und werktheoretische Perspektiven auf ein Verlagsarchiv. Berlin/Boston: de Gruyter 2022, 438–471. Lokatis: Aufstieg des MDV, 159. Die tatsächlichen Entscheidungsgründe der Herstellungsabteilung lassen sich im Verlagsarchiv des MDV nicht nachvollziehen, da sich die Akten nicht erhalten haben. Überliefert sind nur Durchschläge der Herstellungsaufträge in den Lektoratsakten zu den entsprechenden Titeln.

Marlene Kirsten: »Papierbedarf: 0,3 Tonnen«

zukommen zu lassen. Der MDV beteiligt eine Vielzahl junger Menschen an den Bänden – im Bereich Text, Bild und Herstellung – und bietet so der nächsten Generation Raum. Er stellt ihnen materielle Kapazitäten zur Verfügung; vielversprechende Lyriker*innen werden ins Programm übernommen. Gleichzeitig geben die Anthologien dem Verlag die Gelegenheit, sich insgesamt als Verlag für Nachwuchsförderung und Gegenwartsliteratur weiter zu profilieren und gegen andere abzusetzen. Das Handeln des Verlags folgt nicht nur ökonomischen Erwägungen. Der MDV kommt so auch kulturpolitischen Forderungen nach.45 Die Praxis des MDV zeigt, dass manchmal das gelungen zusammen- und hergestellte Buch die Grundlage für die Entstehung von längerfristiger Beziehungen zwischen Autor*in und Verlag bildet. Die Anthologien junger Gegenwartslyrik sind ein Versuch, die nachhaltige Etablierung von Autor*innen in der literarischen Öffentlichkeit zu betreiben. Das Beispiel kann zum Anlass genommen werden, Nachhaltigkeit abseits ihrer im Verlagsbereich gemeinhin üblichen ökologischen Bedeutung zu betrachten und um materialökonomische und kulturpolitische Aspekte zu erweitern. Neben der Ressource Papier, die wegen ihrer Knappheit in der DDR stets mitlaufendes Thema der Verlagsplanung war – sowohl intern wie im Austausch mit anderen Verlagen und Behörden –, sind junge Autor*innen eine Ressource für die Entwicklung der Literatur, auch in nicht-sozialistischen Ländern.

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In diesem Aufsatz standen der Schriftträger Buch und seine Herstellung im Mittelpunkt. Offen bleibt daher, wie sich die Autor*innen in ihren Gedichten und auch der Herausgeber Gerhard Wolf jeweils zum Bild einer sozialistischen Jugend und Lyrik verhalten; Einheitlichkeit ist jedoch schon wegen der Textmenge von 86 Gedichten nicht anzunehmen. Gleichwohl gibt es wiederkehrende Themen: Das Verhältnis von Einzelnem zur Gesellschaft, die Unterschiede der Generationen, aber auch Alltagserlebnisse und Liebesgedichte. Die Hinwendung zu eigenen Standpunkten wurde für die DDR-Lyrik der 1960er wiederholt konstatiert (vgl. u.a. Hermann Korte: Deutschsprachige Lyrik seit 1945. 2., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart: Metzler 2004, 132).

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Die Rückkehr des Schriftträgers Postdigitale Literatur und ihre Nachhaltigkeit Martin Bartelmus

Ist elektronische oder digitale Literatur noch durch eine Abwesenheit einer materiellen Kommodifizierung des Textes als Buch gekennzeichnet, die sich in PDFs und EPUBs aktualisiert, sucht postdigitale Literatur1 die Materialisierung auf Papier erneut auf. Das Materielle kehrt zurück, aber auf eine etwas andere Art und Weise. Gerade die Nicht-Notwendigkeit eines Schriftträgers setzt ein Spiel in Gang, das das Verhältnis zwischen Nachhaltigkeit und Verschwendung sichtbar werden lässt: Weder ist der Text als narrativer Text nur auf Schriftträgern lesbar, noch ist der Schriftträger schlicht der Unter- oder Hintergrund für den Text. Vielmehr wird deutlich, dass es gar nicht mehr so sehr um Inhalt, sondern um Konzepte geht, die materialisiert werden.2 Doch was bedeutet das für das Buch, den Text und die Umwelt? Die folgenden Seiten widmen sich dem Verhältnis von postdigitaler Literatur zu möglichen Materialisierungen als Buch und ihren Implikationen für die Begriffe »Ressource«, »Verschwendung« und »Nachhaltigkeit. Wie geht diese Form der Literatur mit Tinte, Druckerschwärze, Papier und allgemein den Produktions- und Distributionsbedingungen von analogen Büchern um? Welche ökonomischen und

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Vgl. Florian Cramer: What Is ›Postdigital‹? In: David M. Berry/Michael Dieter (Hg.): Postdigital Aesthetics. London: Palgrave Macmillan 2015, 12–26 und Florian Cramer/Petar Jadric: Postdigital: A Term That Sucks but Is Useful. In: Postdigit Sci Educ 3 (2021), 966–989. Vgl. Zum PostDigitalen auch Felix Stadler: Digitale Kultur. Berlin: Suhrkamp 5 2021, 18f. Vgl. dazu Kenneth Goldsmith: Uncreative Writing. Sprachmanagement im digitalen Zeitalter. Berlin: Matthes & Seitz 2017, 135; Christiane Frohmann: Instantanes Schreiben. In: Fachtag Literatur. Schöne Aussichten, 29.5.2015, online: https://frohmannverlag.de/blogs/newfrohmannti c/instantanes-schreiben (zuletzt abgerufen am 07.10.2022). Wie daraus wiederum ein Erhabenheitsgefühl abstrahiert wird, verhandelt Hannes Bajohr: Infradünne Plattformen. Printon-Demand, Autofaktografie und postdigitales Schreiben. In: Ders. (Hg.): Schreibenlassen. Texte zur Literatur im Digitalen. Berlin: August Verlag 2022, 39–68, hier: 52; Susan Sontag: Die Einheit der Kultur und die neue Erlebnisweise [1965]. In: Dies.: Kunst und Antikunst. 24 literarische Analysen. Frankfurt a.M.: Fischer 11 2015, 342–354 hier: 347.

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Transformationen: Ressourcen und Nachhaltigkeit

ökologischen Folgen zeitigt dieser Umgang? Und lassen sich darüber Rückschlüsse auf analoge Literatur und ihr Verhältnis mit dem »klassischen« Buch ziehen? Für die Betrachtung gehe ich in drei Schritten vor: Zuerst will ich die Unterschiede und Gemeinsamkeiten von analoger, elektronischer, digitaler und postdigitaler Literatur betrachten. Dann will ich anhand von Materialisierungen Nachhaltigkeit und Verschwendung verhandeln, um dann in einem letzten Schritt das Konzept Buch im ökologischen Kontext zu perspektivieren. Oder anders gesagt: Schriftträger für post-digitale Literatur erscheinen als Zombies, die sich (nicht mehr) biologisch abbauen lassen.

1. Von analogem bis zum digitalen Schriftträger und zurück Ganz grob gesagt ist jene Literatur analog, die mit Schreibmitteln hergestellt wird, die nicht elektrifiziert oder elektrisch unterstützt wurden, sprich mit Federn, Keilen, Stiften, Kugelschreibern und Schreibmaschinen verfasst ist. Wird eine Schreibmaschine elektronisch unterstützt, dann beginnt die klare Trennung zu verschwimmen. Elektronische Literatur dagegen ist nicht unbedingt Literatur, die nur mit elektronischen Schreibwerkzeugen wie Computern verfasst wurde, aber auch: Vielmehr beginnt sich nun auszudifferenzieren, wie und wo Literatur erscheint. Literatur, die im Internet stattfindet, kann durch Websites repräsentiert,3 aber auch als downloadbares PDF zur Verfügung gestellt werden.4 Dabei »existiert« sie meist gar nicht mehr auf der heimischen Festplatte, sondern in der Cloud, das heißt in Serverfarmen auf dem Globus verteilt.5 Sie wird dann, wenn überhaupt, am Bildschirm – interaktiv oder nicht – gelesen. Digital wird Literatur im emphatischen Sinne, wenn, wie Hannes Bajohr erklärt, sie »[]um ihre Digitalität [weiß]«.6 Darunter fallen Schreibexperimente mit Schere und Papier genauso wie mit Algorithmen und KI gestützte Schreibverfahren, die allesamt aber eine Bedingung haben: Sie produzieren nicht einfach nur klassische Texte, sondern verweisen in ihrer Gemachtheit auf die digitale Produktion, auf Coding, den digitalen Raum,

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Vgl. Christiane Heibach: Literatur im elektronischen Raum. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, 160–238. Ferner: vgl. Beat Suter: Von Theo Lutz zur Netzliteratur. Die Entwicklung der deutschsprachigen elektronischen Literatur. https://www.netzliteratur.net/suter/Geschicht e_der_deutschsprachigen_Netzliteratur.pdf (zuletzt abgerufen am 07.10.2022). Zur Funktion des PDF vgl. Lisa Gitelman: Paper Knowledge. Towards a Media History of Documents. Durham: Duke University Press 2014. Vgl. Evi Zemanek: Medienwissenschaft. In: Ursula Kluwick/dies. (Hg.): Nachhaltigkeit interdisziplinär. Konzepte, Praktiken. Ein Kompendium. Stuttgart: UTB 2019, 396–420, hier: 410. Hannes Bajohr: Vorbemerkungen. In: Ders.: Schreibenlassen. Texte zur Literatur im Digitalen. Berlin: August Verlag 2022, 9–10, hier: 9.

Martin Bartelmus: Die Rückkehr des Schriftträgers

das Internet bzw. nicht-menschliche technische und technologische Akteure sowie die Verstrickungen von Mensch und Maschine, Schrift und Code.7 Als Schriftträger wählen diese Texte entweder klassische Buchformate – dann sind sie aber nicht mehr aktiv digital oder elektronisch – oder digitale Formate wie das PDF, wodurch der Bildschirm als Computer-, Tablet-, oder E-Book-ReaderBildschirm zum »Simulacrum« des Schriftträgers wird.8 Der Bildschirm »trägt« die Schrift virtuell, indem er den alphanumerischen Code, der vom Prozessor ausgeführt wird, als Text anzeigt,9 und je nach Gerät das Anzuzeigende skaliert.10 Niemand hat auf den Bildschirm geschrieben. Somit sehen Leser*innen nur das Abbild, eine Re-Präsentation, eine Wieder-Vergegenwärtigung von Schrift und Schriftträger: Der Schriftträger aktualisiert hier den virtuellen Text des digitalen Codes. Dazu kommen verschiedene Varianten der Simulation des Schriftträgers: Microsofts Word simuliert das weiße Blatt Papier und den Papiereinzug einer Schreibmaschine. Das PDF suggeriert die Buchform und in E-Book-Readern lässt sich bekanntlich auch blättern, wobei das Blättern selbst wieder nur Simulation ist. Daran ändert auch das Wischen als haptische Geste nichts, die nur medialen Zeichencharakter besitzt. Zudem simulieren Bildschirmoberflächen das weiße Papier durch eine spezifische Lichtintensität. Licht, Geste und Format werden zu medialen Zeichen, die wiederum auf digitale Medien verweisen. Verdrängt wird die Materialität der Schriftträger. So werden Speicherplatinen, Kabel, Elektroden und Chips zum Schriftträger des Datensatzes, dem der Text als anderer Text, nämlich als Abfolge von 0 und 1 eingeschrieben ist. Schließlich liest der Prozessor dann diesen anderen Text und gibt ihn für uns lesbar aus. So hängt der Schriftträger davon ab, welche Literatur gemeint ist: Konventionelle Bücher können auf Bildschirmen ebenso gelesen werden wie Literatur, die für Website-Architekturen konzipiert sind. Beide können, müssen aber nicht etwas mit Coding und Programmieren zu tun haben. Ferner kann zwischen Netzliteratur, Literatur im Netz und digitaler Literatur unterschieden werden: Literatur im Netz findet im Internet, auf Websites, Twitter, Instagram und auf anderen Plattformen statt, auf denen Text eingegeben werden kann. Netzliteratur macht die genuine Plattform zum Schriftträger.

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Ebd. Vgl. Jean Baudrillard: Simulation and Simulacra. Ann Arbor: The University of Michigan Press 1994, 6 und 79–86 und ders.: Der symbolische Tausch und der Tod. Berlin. Matthes & Seitz 2005, 77–130. Vgl. Goldsmith: Uncreative Writing, S. 29f. Ebd., 94.

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Transformationen: Ressourcen und Nachhaltigkeit

Digitale Literatur geht über die Anwendung digitaler Medien hinaus.11 Wo sie aber zurückkommt auf analoge Schriftträger, wird sie postdigital. Postdigitale Literatur weiß deshalb nicht nur um ihre Digitalität, sondern auch um ihre Materialität und sucht damit das analoge Setting heim. Sie verlässt den Bildschirm und durchkreuzt den Buchmarkt ebenso wie menschliche Lese- und Umgangsgewohnheiten mit dem Buch als Medium.

2. Nachhaltigkeit und Verschwendung postdigitaler Schriftträger Postdigitale Schriftträger sollen nun nicht mehr nur den Text transportieren, damit ein*e Leser*in diesen Text rezipieren kann, sondern sie werden selbst zu Aktanten im literarischen Feld. Damit invertieren sie Goethes Paradigma der Gelegenheitsdichtung:12 Für die Gelegenheitsdichtung, so ließe sich mit Martin Heidegger argumentieren, ist jeder Schriftträger nur mehr Bestand.13 Wie Bäume als Bestand nur noch dazu da sind, gefällt zu werden, erweisen sich Schriftträger nur noch dazu da zu sein, beschrieben zu werden.14 Die Digitalisierung scheint dieses Verhältnis umzukehren, weil Schriftträger nicht mehr beschrieben werden, sondern Beschreibbarkeit anzeigen. Das gilt letztendlich für Disketten ebenso wie für CD-ROMs. Doch das konventionelle Buch forciert in Bezug zu postdigitaler Literatur die Differenz von Daten- und Schriftträger. Bleiben Datenträger schlicht Speichermedien, avancieren Schriftträger zu Artefakten. Konzeptionelle Texte finden erst durch die Digitalisierung der Buchproduktion zu ihrem Schriftträger, sie werden druckbar. Erst die »Print-on-Demand-Technik macht es möglich, sowohl die Permutation des Satzes zu automatisieren als auch direkt, ohne den Umweg über eine eigens anzufertigende Druckplatte, ein einzelnes Exemplar von der Digitalvorlage zu drucken.«15 Nanni Balestrinis Werk Tristano von 1966, das durch »Computerpermutation« entstand, wird erst durch Digitaldruck materiell erfahrbar. Würde es aber gedruckt 11 12

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Hannes Bajohr: Schreibenlassen. Gegenwartsliteratur und die Furcht vorm Digitalen. In: Ders.: Schreibenlassen. Texte zur Literatur im Digitalen. Berlin: August Verlag 2022, 25. Die Gelegenheit benötigt einen immer zur Verfügung stehenden Schriftträger. Vgl. Zum Gelegenheitsgedicht: Ernst M. Oppenheimer: Goethe’s poetry for occasions. Toronto: Toronto UP 1974; Wulf Segebrecht: Das Gelegenheitsgedicht. Ein Beitrag zur Geschichte und Poetik der deutschen Lyrik. Stuttgart: J.B. Metzler 1977 und ders.: Goethes Erneuerung des Gelegenheitsgedichts. In: Goethe-Jahrbuch 108 (1991), 129–136. Martin Heidegger: Die Frage nach der Technik [1953]. In: Ders.: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910–1976. Bd. 7: Vorträge und Aufsätze. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2000, 5–36, hier 18f. Vgl. Kate Rigby: Deep sustainability. In: Adeline Johns-Putra/John Parham/Louise Squire (Hg.): Literature and sustainability. Concept, text, and culture. Manchester: Manchester UP 2017, 52–75, hier: 67. Bajohr: Infradünne Plattformen, 39.

Martin Bartelmus: Die Rückkehr des Schriftträgers

werden, ergäbe es »hundert Billionen Bücher«.16 Das mithilfe computergestützter Verfahren geschriebene Buch, vielmehr die verschiedenen Bücher eines Autorenkollektivs »Mensch-Maschine«, würde den Büchermarkt überschwemmen und damit anders als Raymond Queneaus Cent mille milliards de poèmes aus demselben Jahrzehnt (1961), das in einem Buch Platz findet, ökonomisch wie ökologisch nicht nachhaltig sein. Der Schriftträger »entbirgt« sich,17 indem er aus der »Bestellbarkeit«, das heißt, aus der Funktionalisierung, als Schriftträger zu dienen, heraustritt und das Bedienen unterbricht. Was zudem unterbrochen wird, ist das Anzeigen der Schrift und die Manipulierbarkeit der Texte, die auf jene von Peter Sloterdijk benannte »Souveränitätssimulation« verweist.18 Analoge wie digitale Benutzer*innenoberflächen suggerieren Kontrolle und Herrschaft über Computer und Bücher. Erst wenn diese Oberflächen eigensinnig werden, unterlaufen sie die Benutzbarkeit. Dass das digitale Buch als Ergebnis von Permutation das analoge Buch heimsucht, offenbart nicht nur die Grenze nicht-digitaler Drucktechniken und die Verheißungen digitaler, sondern auch, dass der konventionelle Buchmarkt, in dem Texte immer noch auf Papier und damit in und als Bücher gedruckt werden, energetisch und ressourcenbezogen ins Verschwenderische tendiert. Dass diese Verschwendung genuin kapitalistisch ist, wird an einem Beispiel deutlich, das Kenneth Goldsmith in seinem Text Uncreative Writing darstellt: »Da ist der verarmte Autor, der jeden ihm zugesandten Kreditkartenantrag in ein achthundertseitiges Print-on-Demand-Buch packt, dass so teuer ist, dass er sich selbst keine Ausgabe leisten kann«.19 Die Materialität des druckbaren Buches übersteigt das private Vermögen des Autors und unterschreitet den vom Publikum erwartbaren Gewinn, da das Buch nicht etwas Lesbares, sondern den kapitalistischen Sachverhalt des Kalküls selbst verhandelt. Ein solches post-digitales Buch verunsichert den kapitalistischen Zugriff auf die Ware »Buch«, wenn es das Verhältnis von (privaten) Investitionskosten für den Buchdruck zu einem möglichen Gewinn für das künstlerische Konzept aufs Spiel setzt. Natürlich, so ließe sich einwenden, gäbe es für den Buchmarkt Gatekeeper, die dafür sorgen, dass nur qualitativ Hochwertiges (was immer das auch sei) publiziert und gedruckt wird und nicht etwa Computergeneriertes, das letztendlich ohne die

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Ebd. Heidegger: Die Frage, 17–19. Peter Sloterdijk: Das Zeug zur Macht. In: Ders./Sven Voelker: Der Welt über die Straße helfen. Designstudien im Anschluss an eine philosophische Überlegung. München: Fink 2010, 7–26, hier: 16. Goldsmith: Uncreative Writing, 12.

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Funktion menschlicher Autorschaft und von Menschen lesbarem Inhalt auszukommen scheint. Es werden doch immer noch »echte« Geschichten gedruckt. Und auch sogenannte Social-Media-Literatur generiert über die Buchpublikation noch einen Wertzuwachs sowie eine den Inhalt wie die Rezeption verändernde Rahmung. »Digitale Literatur«, so Bajohr, »verträgt sich durchaus mit analogen Trägermedien.«20 Aber erst post-digitale Literatur problematisiert diese Verträglichkeit, kehrt dabei vielleicht auch Unverträglichkeiten hervor. Sowohl Balestrinis Tristano als auch Goldsmiths Beispiel, die Digitalität und analoge Schriftträger auf je eigene Weise kombinieren, problematisieren eine Unverträglichkeit, die ich als ökologisch kennzeichnen möchte. Das Postdigitale also ist die Verschränkung von digitalen und analogen Technologien.21 Bajohr erkennt darin drei Aspekte, die mit dem Begriff postdigitaler Literatur einhergehen: »[D]ie praktische Durchmischung und das Zusammenwachsen analoger und digitaler Medien; die Sehnsucht nach der Humanisierung digitaler Technologien – der dann oft die bewusste Rückwendung zur ›Wärme‹ und ›Qualität‹ analoger Werkstoffe folgt –; und das Gefühl, die digitale Revolution bereits hinter sich gelassen zu haben.«22 Allerdings ist dieses »Zusammenwachsen« fraglich: Denn es sind eben analoge Technologien, die in einem dialektischen Verhältnis von Herr und Knecht funktionalisiert werden. Souverän ist, wer über die analogen und digitalen Produktionsmittel für Bücher verfügt: Die Book-on-Demand-Technik macht dieses Verhältnis im neo-liberalen Kontext erfahrbar. Sie unterscheidet sich aber von der (illegalen) Raubkopie oder einem Abzug eines Schreibmaschinentextes.23 So unterlaufen die gedruckten Texte von Gauss PDF, Troll Thread, Traumawien, Plattformen wie Lulu, Ubu oder 0x0a nicht nur die »Nostalgie für materielle Buchkultur«,24 sie schaffen auch einen materiellen Präzedenzfall in Sachen Nachhaltigkeit und Verschwendung, Autorschaft und Copyright. Gerade weil die digitalen Texte ins Materielle überführt werden, wird das Digitale erst (für den Menschen) auf eine spezifisch (bekannte) Weise erfahrbar. Dieser Erfahrungshorizont ist typisch (neo-)kapitalistisch: Es geht um Ressourcenverbrauch, Auflage, Produktionskosten

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Bajohr: Infradünne Plattformen, 40. Der Begriff »postdigital« stammt vom italienischen Netzkünstler und Publizisten Alessandro Ludovico. Vgl. ebd., 40. Ebd., 41. Goldsmith: Uncreative Writing, 15. Vgl. Bajohr: Infradünne Plattformen, 42.

Martin Bartelmus: Die Rückkehr des Schriftträgers

und -bedingungen, aber auch um ökonomischen und kulturellen Mehrwert bzw. Gewinn.25 »Print-on-Demand«, gedruckt auf Nachfrage, gibt dem Ganzen einen einleuchtenden Namen: Gedruckt wird nur noch, was auch nachgefragt, im besten Fall sogar gelesen wird. Das heißt, der Bestand lesbarer Texte kann exponentiell anwachsen, insofern sie virtuell bleiben, während nur aktualisiert, das heißt materialisiert wird, was auch wirklich eine*n Leser*in hat. Gemessen wird diese*r wirkliche Leser*in an dem Klick und dem Kauf des digitalen Buches, das dann gedruckt wird – Literatur steht wie eine Ressource bereit, ist auf und im Vorrat – Repository – angelegt: Heideggers Albtraum.26 Lauren Klotzmanns Meat Joy Failur (2015) zum Beispiel, ein »als Rohtext geöffnetes Video«, ist »gedruckt, als Print-on-Demand-Buch bei Lulu, [als] auf Papier gebrachte Datenstruktur mit 5500 Seiten in acht Bänden auch praktisch unlesbar.«27 Mit der Hinwendung auf die Unlesbarkeit wird nicht nur der Literaturbegriff infrage gestellt und das betreffende Objekt eher als Artefakt in den Bereich bildender Kunst transferiert, die Frage, ob solche Verfahren nachhaltig sind (sind sie nicht oder selten), gerät so erst in den Blick. Dabei offenbaren diese Arbeiten nicht nur eine »Lust am Exzess«,28 oder eine Verweigerung hermeneutischer Prozesse. Vielmehr verhandeln sie, wie Bajohr meint, »die Bedingungen ihrer eigenen Herstellung«.29 Was Bajohr mit Bezug auf den russischen Formalismus »Faktografie« nennt, kann um das ökologische Moment erweitert werden. Dabei geht es nicht mehr so sehr um das ›Sagen‹, sondern um das ›Zeigen‹, »indem sie das Verhältnis von digital und analog anhand ihrer eigenen Materialität zur Aufführung bringen.«30 Demgegenüber ließe sich Nancy Katherine Hayles Begriff des HyperReadings durch Lyotards Konzept des »gaze« weiterentwickeln: Der Blick gleitet über das Artefakt, nicht um es zu entziffern, zu decodieren, sondern um sich am Rande des Diskurses von Literatur und Buch wiederzufinden31 und die ökologische Dimension der Buchkultur zu erblicken.

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Kritisch beleuchtet diesen Aspekt die Verlegerin digitaler Literatur Christiane Fohrmann in: Dies.: Vom Verlegen. Ein Wirkstättenbericht. In: Hannes Bajohr/Annette Gilbert (Hg.): Text + Kritik X/21, Sonderband Digitale Literatur II. München: Richard Boorberg Verlag 2021, 186–197, hier: 195. Vgl. Yuk Hui: Die Frage nach der Technik in China. Ein Essay über die Kosmotechnik. Berlin: Matthes & Seitz 2020, 13. Bajohr: Infradünne Plattformen, 48. Ebd., 52. Ebd., 62. Ebd. Catherine Malabou: Plasticity at the dusk of writing. Dialectic, Destruction, Deconstruction. New York: Columbia UP 2009, 56.

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Eindrücklichstes Beispiel ist Jean Kellers The Black Book, auf das auch Hannes Bajohr zu sprechen kommt. 740 schwarze Seiten, die aufgrund der Produktionsbedingungen der Plattform Lulu, auf der das Buch zum Verkauf angeboten wird, Keller am wenigsten kosten:32 Je mehr Seiten, desto günstiger eine Seite (die Maximallänge beträgt 740) und ob mit oder ohne Text, macht dabei keinen Unterschied.33 Wie Keller auf der Homepage erklärt, kostet eine Gallone (ca. 3,8 Liter) Druckertinte 4000 US-Dollar. In einem Artikel in Die Zeit von 2010 wird ein Preis von 2700 US-Dollar kalkuliert.34 So ist die Tinte, die für das Buch gebraucht wird, teurer als das Buch selbst. Das Buch kann bereits für 26 Euro bestellt werden. Kellers Buch offenbart ein Spannungsverhältnis zwischen Herstellung und Konzept, zwischen Schreiben und Drucken – denn wer viel schreibt, zahlt weniger –, zwischen analog und digital sowie zwischen Zeichenhaftigkeit und Referenz. Denn erst mit dem Verlassen der Paradigmen von Lesbarkeit, Einzigartigkeit, Verkaufbar- bzw. Publizierbarkeit treten die Ressourcen als materielle, eigenständige Akteurinnen auf den Plan, aus denen die Bücher bestehen: Tinte und Papier, Chemikalien, Metalle, seltene Erden für Computerchips, Erdöl für Plastikgehäuse und vieles mehr.35 Der Exzess der Verschwendung von Ressourcen in der kapitalistischen Produktionslogik kippt in eine Aufmerksamkeit für die Ressource selbst: Sie werden als Bestand entstellt, obwohl sie gerade als Schriftträger (Tinte und Papier) absolut geund bestellt sind.36 Die Tinte zeigt sich als verschwendbare Ressource, die einen Preis besitzt. Diese Rohstoff-Logik aber führt zu einer ökologischen Perspektive nicht nur auf das Buch, sondern auch auf die geistige Arbeit Kellers: Je nachdem, ob Nachhaltigkeit als ökonomisches oder ökologisches Konzept verstanden wird, verändert sich das »Werk«. In ökonomischer Perspektive verhindert das Book-onDemand-Verfahren, dass das Buch ohne Publikum gedruckt wird. Eine nachhaltige Regelschleife verhindert den Exzess. Da sich das Buch als Artefakt wiederum kommodifizieren lässt, erhält es die auratische Wertigkeit eines künstlerischen Artefakts. Aus ökologischer Perspektive zeigt sich ein Nachhaltigkeitsbegriff, der solche Projekte regulieren, wenn nicht sogar verbieten würde: Gekoppelt an Ideologien der Les- und Nutzbarkeit, ist ein solches Buch kein Buch, und damit nutzlos. Als

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https://www.lulu.com/de/shop/jean-keller/the-black-book/paperback/product-21008894.h tml?page=1&pageSize=4 (zuletzt abgerufen am 22.12.2022). Bajohr: Infradünne Plattformen, 64. https://www.zeit.de/digital/mobil/2010-05/teure-drucker-tinte (zuletzt abgerufen am 22.12. 2022). Für einen Überblick vgl.: Richard Maxwell/Toby Miller: Greening The Media. Oxford: Oxford UP 2012. Vgl. Heidegger: Die Frage, 16.

Martin Bartelmus: Die Rückkehr des Schriftträgers

Kunstgegenstand dagegen und vor allem als Marker für die Produktionsbedingungen wird es wiederum aufgewertet und damit nützlich – ob es aber auch nachhaltig nützlich wird, bleibt abzuwarten. Zumindest lassen sich aber zwei Nachhaltigkeitskonzepte ableiten: ein materiell-ökologisches und ein kulturelles, die nicht zwingend Hand in Hand gehen. Der Logik der Nachhaltigkeit ist folglich eine Gesetzeskraft eingeschrieben: Drucken oder Nicht-Drucken (dürfen bzw. können), das ist hier die Frage.

3. Das (biologisch) abbaubare postdigitale Buch Kellers Konzept postdigitaler Literatur bzw. postdigitaler Produktion von ökologisch und ökonomisch einsetzbaren Artefakten markiert die Grenzen der Nachhaltigkeit. Inwieweit, ließe sich im Anschluss fragen, liefert die Perspektive auf Nachhaltigkeit Erkenntnisse bei der Interpretation der postdigitalen Literatur und ihres Umgangs mit ihren eigenen Schriftträgern? Ich möchte nun im letzten Schritt die benannten Beispiele und Verfahren mit einem Begriff von Jacques Derrida konterkarieren: »biodegradability«.37 »Biodegradability« taucht bei Derrida in einem Wiedergänger-Szenario auf: Über die biologische Abbaubarkeit von Texten denkt Derrida in seinem letzten Beitrag zur Causa Paul de Man nach. Nur kurz zur Erinnerung: Nach Paul de Mans Tod tauchten Zeitungsartikel aus den Jahren 1940 bis 1942 auf, in denen de Man für eine belgische Zeitung faschistoide und antisemitische Beiträge verfasste. Diese Texte verfolgen de Man und darüber hinaus die Dekonstruktion, da sie von den Gegnern der Dekonstruktion zum Anlass genommen werden, die Methode grundsätzlich infrage zu stellen. Dagegen wehrt sich Derrida und antwortet minutiös auf jeden Kritikpunkt. Er antwortet aber auch auf den misslichen Umstand, dass sein Freund nie über diese Texte geredet hat. Das Verschweigen der ideologischen und antisemitischen Texte verhindert aber nicht, dass sie wieder auftauchen und eine Wirkung zeigen, die mindestens als vergiftend zu bezeichnen sind.38 Derrida schreibt: »To be (bio)degradable means at least two things: on the one hand, the annihilation of identity; on the other hand, the chance to pass into the general milieu of culture, into the ›life‹ of ›culture‹ while enriching it with anonymous

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Jacques Derrida: Biodegradables: Seven Diary Fragments. In: Critical Inquiry 15 (1989), 812–873. Für eine bessere Zusammenfassung siehe die beiden Texte von Michael Peterson: Responsability and the Bio(non)degradable und Michael Nass: E-Phemera: Of Deconstruction, Biodegradability, and Nuclear War, beide in: Matthias Fritsch/Philippe Lynes/David Wood (Hg.): Eco-Deconstruction: Derrida and Environmental Philosophy. New York: Fordham UP 2018, 187–205 und 249–260.

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but nourishing substances.«39 Dass Bücher, die aus organischem Material gemacht sind, sich unter »normalen« Bedingungen zersetzen und auflösen, ist verständlich: »Everything that is ›biodegradable‹ lets itself be decomposed or returns to organic nature while losing there its artificial identity.«40 Mit der materiellen Verfasstheit aber könnte so auch der Inhalt des Textes verloren gehen, also das, was auf den Schriftträgern geschrieben steht. Einerseits passiert das ganz einfach dann, wenn noch niemand den Text kennt und der Zahn der Zeit Löcher in das Papier frisst und damit tatsächlich Buchstaben und Wörter verschwinden. Andererseits passiert das aber auch mit Texten, die bekannt sein könnten. Ihre Zersetzung aber führt nicht unbedingt zu einem Verlust, sondern markiert einen Disseminationsprozess: Der Inhalt, detailliert oder vage, diffundiert in das Denken, Handeln und Sprechen der Lesegemeinschaft (selbst wenn die nur aus einem*r Leser*in besteht): »Derrida«, so Michael Naas, »at once proposes a relationship between the biodegradability of things and the (bio)degradability of culture or of writing.«41 Bei den postdigitalen Schriftträgern ist es relativ egal, ob die on demand gedruckten Bücher überleben. Auch scheint es irrelevant, ob sie gelesen wurden und so in einen kulturellen Metabolismus eingespeist werden. Ganz im Gegenteil, sie können gar nicht mehr auf traditionelle Weise gelesen, und damit auch gar nicht wieder und wieder gelesen werden, wie es Derrida im Sinn hat. Die postdigitalen Schriftträger sind zwar ganz im Sinne Derridas Artefakte, bestehend aus künstlichen und organischen Bestandteilen, und erst eine solche Form erlaubt das Label »biodegradable«, bei dem der Gegenstand seine »artifical identity«42 verliert, – aber diese hat das postdigitale Buch nie besessen. Das macht diesen Schriftträger so problematisch. Weder gilt er als besonders schön oder luxuriös, noch als besonders heilig, da er noch nicht einmal Träger eines konventionell zu bezeichnenden Textes ist, also keines Textes, der mit der modernen souveränen Autor*infunktion und den modernen ästhetischen und poetologischen Merkmalen einer Geschichte ausgestattet ist. Vielmehr verwandelt sich das postdigitale Buch in einen analogen Schriftträger, der ihm zwar ähnelt wie der Zombie einem Menschen, aber nicht mehr mit diesen Eigenschaften übereinstimmt.43 Konzepte digitaler Literatur und analoge Schriftträger gehen dabei ein komplexes und

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Derrida: Biodegradables, 837f. Ebd., 828. Nass: E-Phemera, 192. Derrida: Biodegradables, 828. Zum Zombie siehe Peter Schuck: Viele tote Körper. Über Zombies in der Literatur und des Kinos. Bielefeld: transcript 2018. Insbesondere das Kapitel zum Archiv (319–368) perspektiviert das Motiv des Zombies in der Differenz und Wiederholung kapitalistischer Zusammenhänge inklusive des Bedürfnisses nach kultureller (Selbst-)Erhaltung und dem Topos der Dauerhaftigkeit.

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anderes Verhältnis als konventionelle Literatur und ihre Materialität ein. Kennzeichen dieses Verhältnisses ist die Iterabilität von Materialität und Zeichenhaftigkeit, die es erlaubt, »to find and then recycle things from within the tradition, and then [] to reinscribe or repurpose them in a new context.«44 Derrida unterscheidet noch »the survival of the support (paper, magnetic tape, film, diskette, and so on) from the semantic content«.45 Sicherlich interessiert sich Derrida mehr für den semantischen Gehalt als für die Materialität, aber im Falle der postdigitalen Literatur ist diese Unterscheidung hinfällig. Denn »the survival of the support« ist gleichbedeutend mit dem »semantic content«. Das postdigitale Buch beinhaltet nun keinen, es ist semantischer Inhalt. Damit referiert das postdigitale Buch auf jene »amnesia of which a culture is made«46 , wie Naas erklärt, »a sort of ›originary amnesia‹ that allows a culture to live on and live off what it has forgotten.«47 Ein Spiel mit dem, was bleibt und dem, was vergessen wird, verhandelt in Bezug auf die Poesie Novalis. Novalis’ Göttin »tauchte die Blätter jedesmal hinein, und wenn sie beim Herausziehn gewahr wurde, daß einige Schriften stehen geblieben und glänzend geworden war, so gab sie das Blatt dem Schreiber zurück, der es in ein großes Buch heftete, und oft verdrießlich zu sein schien, wenn seine Mühe vergeblich gewesen und alles ausgelöscht war.«48 »Semantic contant« und »support« ist hier sichtbar getrennt. Was (in der Romantik) bleibt, ist einerseits die weibliche Bestätigung männlicher Autorschaft durch die Mutter-Muße. Andererseits aber auch das leere, bereinigte Papier, das das Geschriebene vergessen macht, sich aber als beschreibbar jungfräulich anbietet. Eine patriarchale Fantasie, die aber mit Prozeduren der Kultur, wie Naas identifiziert, decken. Denn »after a time of being recalled and identified«, wird Literatur wieder »simply […] part of the white noise of culture itself, of the archive[.]«49 Was also der biologischen Abbaubarkeit im romantischen Auswahlprozess widersteht »[…] is not the uniqueness of some sense or meaning but, precisely, an insignificance, something that is unable to be repeated or reiterated, summarized and digested, assimilated into culture.«50 Diese Einzigartigkeit des Ereignisses spiegelt sich aber nicht im geschriebenen Wort, das Novalis’ Göttin sortiert, sondern in der Materialisierung des Digitalen im Schriftträger: ein schwarzes Buch 44 45 46 47 48 49 50

Nass: E-Phemera, 194. Derrida: Biodegradables, 815. Ebd., 813. Ebd., 837 und Nass: E-Phemera, 198. Novalis: Heinrich von Ofterdingen. In: Ders.: Werke. Hg. von Gerhard Schulz. München: C.H. Beck 3 1987, 236. Nass: E-Phemera, 198. Ebd.

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oder ein aus Millionen Bänden bestehendes »Werk«. Weil es kein zeitloses Meisterwerk ist, dessen »meaning would be so monumental as to be assimilated into culture completely«, also auch keinen Inhalt als »event of meaning« besitzt, sondern in seiner materiellen Form zum »event of meaning« wird, kommt jetzt dem Ereignis Schriftträger eine »non-biodegradability« zu.51 Postdigitale Literatur »sustains itself beyond meaning as a mark or trace that is always in excess of, or remains above and beyond, any of the communicated and shared senses that it enables.«52

4. Was bleibt? – oder die Rückkehr des Schriftträgers als Kompost Als Zombie taucht die analoge Buchkultur im postdigitalen Zeitalter auf. Sie lebt nicht mehr, ist aber auch nicht totzukriegen. Allein die Frage nach ihrer biologischen Abbaubarkeit suggeriert eine Hoffnung auf eine letzte Ruhe für das Buch. Wenn ich also Derridas Text aufgreife, dann beginne ich meinerseits mit einem Re-cycling, einem Kompostieren jener Frage, die Derrida umtreibt: »What remains?« – Was bleibt? »Biodegradability«, sprich die biologische Abbaubarkeit betrifft unmittelbar das Reden über diese Abbaubarkeit, weil auch hier das Echo der Frage zu hören ist: Was bleibt von einem Text, der über die Überbleibsel (organisch und/oder anorganisch) und die Möglichkeit des Übrigbleibens (bei Derrida »survivre«) schreibt? Zerfallsprozesse, wie sie im Wort »biodegradability« anklingen, sind in Kulturtheorien Usus: Der Pessimismus der Anthropologie um 1900 sowie die sogenannte Sprachkrise scheinen sich an einem Zerfall der Kultur abzuarbeiten. Die vielleicht berühmteste literarische Zeile zum Zerfall stammt aus Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief: »[D]ie abstrakten Worte, deren sich doch die Zunge naturgemäß bedienen muß, um irgendwelches Urteil an den Tag zu geben, zerfielen mir im Munde wie modrige Pilze.«53 Losgelöst und aus dem Kontext zitiert signalisieren zwar die modrigen Pilze einen unangenehmen Beigeschmack, aber dass abstrakte Worte einem Zerfallsprozess unterliegen, muss nichts Schlechtes bedeuten. Was »wie modrige Pilze« schmeckt, sind hier die laut vorgelesenen Worte ebenso wie der Schriftträger, auf dem jemand kaut wie ein Zombie am Gehirn, jenem organischen Speicher für Texte. Auch bei Derrida gibt es einen Zerfallsprozess, wie Michael Peterson nahelegt. In Derridas Limited Inc. wird dieser Prozess durch das Zitieren der Zeichen in An-

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Ebd. Claire Colebrook: The Twilight of the Anthropocene: Sustaining literature. In: Adeline JohnsPutra/John Parham/Louise Squire (Hg.): Literature and Sustainability. Concept, Text, and Culture. Manchester: Manchester UP 2017, 115–136, hier: 117. Hugo von Hofmannsthal: Ein Brief. In: Ders.: Sämtliche Werke XXXI. Erfundene Gespräche und Briefe. Hg. von Ellen Ritter. Frankfurt a.M.: Fischer 1991, 45–55, hier: 48f.

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führungszeichen in Gang gesetzt.54 Das bedeutet aber, dass der Kontext, in den das Zeichen so gebracht wird, mit dafür verantwortlich ist, dass sich das Zeichen in seiner stabilen Bedeutungstiefe zersetzt, mithin seine Bedeutung verändert oder verliert.55 »Biodegradable« ist, was in einem spezifischen Kontext, einer Umwelt (bios), existiert. Nur in einer spezifisch biologischen Umwelt kann etwas biologisch abgebaut werden. Ist die Umwelt nicht auf den Abbau, auf den Zersetzungsprozess eingestellt, dann gelingt er nicht. Oder anders gesagt: Er verweist dann auf eine Abbaubarkeit ohne bios, eine Materialität ohne Materie.56 Ebenso bei Hofmannsthal: Damit der Zersetzungsprozess gelingen kann, damit die Worte wie modrige Pilze zerfallen, bedarf es auch der Umwelt »Mund«, der auf den feuchten Waldboden verweist. Es ist nicht der Materialität der Wörter geschuldet, sondern ihrer biochemischen Reaktion im medialen wie materiellen Sinne, in dem sie auch im ›Chandos-Brief‹ in Anführungszeichen gesetzt, das heißt aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgenommen und ›zitiert‹ werden. Sie erscheinen mündlich im schriftlichen Milieu. Es geht um die Kommunizierbarkeit bzw. NichtKommunizierbarkeit von Zeichen – mit anderen Worten, um die Idiosynkrasie poetischer Sprache.57 Nachhaltigkeit in diesem Kontext würde bedeuten, die Idiosynkrasie poetischer Sprache und damit ihre Unmöglichkeit zur Dechiffrierung zu garantieren. Es geht dabei nicht um den platonischen Wert der Identität im Sinne einer Tradition, sondern um den Eigensinn der Worte, die sich letztendlich einer Kompostierung verweigern sollen: Sie sollen nicht zum Humus neuer kultureller Ideen werden, da sie sich sonst auflösen müssten. Die Pilze dagegen zerfallen, modrig oder nicht, in Nährstoffe für den Humus, den Waldboden, auf dem dann wieder neue Pflanzen (oder Pilze) wachsen können. Es scheint fast so, als betreffe die Nachhaltigkeit dieser Texte den Diskurs, den diese Texte eröffnen: Während etwas zerfällt, biologisch, chemisch oder auch einfach symbolisch bzw. metaphorisch abgebaut wird, wird gleichzeitig das, was übrig bleibt, in diskursive Zusammenhänge überführt. Das, was bleibt, ist also keine Frage der Texthermeneutik mehr, sondern der Diskursanalyse. Die Frage »Was bleibt?« konstituiert einen Diskurs um das, was übriggeblieben ist. Mit Tze-Yin Teo gesprochen, versucht Derridas Konzept, »to question the ›material thought of materiality‹[]«.58 54 55 56 57

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Vgl. Peterson: Responsability, 254. Vgl. Ebd. Tze-Yin Teo: Responsibility, Biodegradability. In: Oxford Literary Review 32/1 (2010): Deconstruction, Environmentalism, and Climate Change, 91–108, hier: 105. Vgl. Peterson: Responsability, 255: »If a sign could not be in-formed and taken up anew in a context other than its own, the sign would remain radically idiosyncratic and unable to communicate.« Teo: Responsibility, 93.

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Dabei beschreibt Michel Foucault »Genealogie« als Erforschung des Bodens »aus dem wir stammen, die Sprache, die wir sprechen, und die Gesetze, die uns beherrschen, um die heterogenen Systeme ans Licht zu bringen, welche uns unter der Maske des Ich jede Identität untersagen.«59 Die Genealogie erforscht das, was Zerfalls- und Zersetzungsprozesse allenfalls übrig gelassen haben. Sie ist gleichsam eine Kompostwissenschaft. Auch bei Nietzsche erscheint so schon eine Form der »biodegradability«, also eine Form der Zersetzung. Foucault schreibt: »Der historische Sinn umfasst drei Arten der Historie, die sich jeweils deren platonischen Spielarten entgegensetzen: die wirklichkeitszersetzende Parodie widerstreitet der Erinnerung oder Wiedererkennung; die identitätszersetzende Auflösung stellt sich gegen die Historie als Kontinuität oder Tradition; das wahrheitszersetzende Opfer stellt sich gegen die Historie als Erkenntnis.«60 Drei Spielarten der Zersetzung, nach denen aber nur die zweite passgenau auf die Identitätszersetzung gemünzt zu sein scheint. Im Umkehrschluss bedeuten aber die platonischen Spielarten Formen der Nachhaltigkeit. »Sustainability«, »sustain«, also die Fähigkeit, zu bleiben, unterhält somit eine spezifische Beziehung zu Derridas Konzeption. Ist »sustainability« demnach genuin platonisch? Und wenn ja, ist »biodegradability« nietzscheanisch? Derridas Auseinandersetzung mit dem Begriff »biodegradabiltiy« verweist nicht nur auf die Wiederkehr von Zeitungsartikeln,61 sondern, wie Peterson herausarbeitet, auf den Kalten Krieg, einen möglichen nuklearen Fallout und Atommüllendlager. Derrida spiele auf eine »intergenerational responsibility« an, so Peterson,62 und erklärt: »The practical problems that arise from this project are enormous: how to ensure that our language is comprehensible to people whose identities and sociocultural context are necessarily unknowable to us?«63 Im Zeichen der Klimakrise bekommt diese Verantwortung auch in Bezug auf das Archivieren und Speichern von kulturellen Artefakten eine neue Rolle, nämlich sowohl als Gedächtnis als auch als materielle Überforderung der Umwelt. Was Foucault in Bezug auf Nietzsche und Hofmannsthal mit Pilzen verhandelt, nämlich der Zusammenhang von kulturellem Gedächtnis und Umwelt, in dem Wörter, Zeichen, Einschreibungen kompostiert werden, erscheint auf eine Zukunft 59 60 61

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Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Ders.: Von der Subversion des Wissens. Frankfurt a.M.: Fischer 1996, 69–90, hier: 87. Ebd., 85. Für eine differenzierte Auseinandersetzung mit Derrida vgl. auch: Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 2018, 348–358. Peterson: Responsability, 253. Ebd., 252.

Martin Bartelmus: Die Rückkehr des Schriftträgers

gerichtet. Die digitalen Schriftträger verweisen auf den Horizont eines Diskurses um Literatur, der nicht mehr dem Zeichensystem und dem Diskurs gegenwärtiger Buchkultur entsprechen mag. Colebrook schreibt auf das Verhältnis von Literatur und Nachhaltigkeit blickend: »By contrast, literature is not only tied to the specificity of inscription, it is also undecidable as to how one might think the relation between sustainable sense and dispensable text.«64 Nachhaltigkeit meint hierbei insbesondere die Fähigkeit, zu dauern. Postdigitale Literatur besitzt diese Gewissheit (noch) nicht. Vielmehr stellt sie die Dauer infrage: Als abrufbares Produkt und als materialisiertes ist es nicht auf Dauer angelegt. Postdigitale Schriftträger verweigern sich (noch) dem kulturellen Endlager, weil sie das Lagern selbst thematisieren. Als Zombies kompostieren sie ihre Dauerhaftigkeit: »This opens two senses of sustainability and promise: a text is sustained into the future and promises infinite futures if its matter is such that it releases other material iterations. But a text is also sustained in a certain non-biodegradability; a text is this inscription, and no other, and may promise a future that is not what we want it to be not a sustainability of sense but a nonbiodegradable mark.«65 Colebrook argumentiert für einen Materialismus und eine Lesbarkeit des Materiellen: »Why are some matters privileged as the sign or appearance that allows us to read all other matters; how have we stopped reading by seeing some traces as ways of closing down counter-inscriptions?«66 Und so verweisen postdigitale Schriftträger darauf, dass »matter (regardless of how we might discern its human promises) sustains itself beyond all our thoughts of a world that would be in accord with our imaginings.«67 Der Zombie-Schriftträger widersteht der biologischen Abbaubarkeit im digitalen Milieu. Dabei verändert sich aber auch, was ein Buch, ein Text, ein Zeichen, mithin Literatur sein kann. Ein gutes Konzept, diese Prozesse der Transformation zu unterstützen, wäre das des Kompostierens von digital und analog, Materialität und Medialität.

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Colebrook: The Twilight, 121. Ebd., 127. Ebd., 131. Ebd.

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Abbildungsverzeichnis

Assmann Abb. 1a und 1b: Nachlass Georg Heym. In: Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, NGH Inventarnummer 9. Abb. 2: Georg Heym: Gedichte 1910–1912. Historisch-kritische Ausgabe aller Texte in genetischer Darstellung. Hg. von Günter Dammann, Gunter Martens und Karl Ludwig Schneider. Bd. I. Tübingen: Niemeyer 1993, 155.

Torra-Mattenklott Abb. 1: Blaise Cendrars/Sonia Delaunay-Terk: La Prose du Transsibérien et de la Petite Jehanne de France. Paris 1913. Princeton University Art Museum, aus: Wikipedia, Art. »La prose du Transsibérien et de la Petite Jehanne France«, https://en.wikipedia.or g/wiki/La_prose_du_Transsibérien_et_de_la_Petite_Jehanne_de_France. Abb. 2: Blaise Cendrars/Sonia Delaunay-Terk: La Prose du Transsibérien et de la Petite Jehanne de France. Paris 1913, oberstes Segment (Ausschnitt). Quelle: Musée d’Art moderne de la Ville de Paris (Hg.): Sonia Delaunay. Les couleurs de l’abstraction. Ausst.-Kat. Paris 2014, 63. Abb. 3: Blaise Cendrars/Sonia Delaunay-Terk: La Prose du Transsibérien et de la Petite Jehanne de France. Paris 1913, unterstes Segment (Ausschnitt). Quelle: Musée d’Art moderne de la Ville de Paris (Hg.): Sonia Delaunay. Les couleurs de l’abstraction. Ausst.Kat. Paris 2014, 68f.

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Anhang

Rickenbacher Abb. 1: Ausschnitt von erster Manuskriptseite des Klebetyposkripts zu Bagatelle, rundum positiv. Quelle: Akademie der Künste: Franz-Fühmann-Archiv, Fühmann 3. Abb. 2: Erste Seite des ersten Klebetyposkripts zu Schieferbrechen und Schreiben. Quelle: Akademie der Künste: Franz-Fühmann-Archiv, Fühmann 455/1. Abb. 3: Vierte Seite des ersten Klebetyposkripts zu Schieferbrechen und Schreiben. Quelle: Akademie der Künste: Franz-Fühmann-Archiv, Fühmann 455/1.

Bosse Abb. 1: Notizbuch Nr. »1«, Vorderseite (NB 1_Mai-Jun74), 173_Bestand Josef Winkler. Quelle: Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv, Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Signatur 173/W6/6. Abb. 2: Notizbuch von März–April 1993, Vorderseite (NB_Mar–Apr93). 10_Bestand Josef Winkler. Quelle: Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv, Universität Klagenfurt, Signatur 10/W1/2. Abb. 3: Notizbuch von März–April 1993, Vorsatzblatt (NB_Mar–Apr93). 10_Bestand Josef Winkler. Quelle: Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv, Universität Klagenfurt, Signatur 10/W1/2. Abb. 4: Notizbuch vom Juli–November 1984, Rückseite (NB_Jul–Nov84). 173_Bestand Josef Winkler. Quelle: Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv, Universität Klagenfurt, Klagenfurt. Signatur 173/W6/43. Abb. 5: Notizbuch vom April–Mai 1993 (NB_Apr–Mai93). Quelle: Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv, Universität Klagenfurt, Klagenfurt, Signatur 10/W1/1.

Erdmann Abb. 1: Eduard Hildebrandt: Alexander von Humboldt in seinem Arbeitszimmer (Berlin, 1845). SBB-PK Handschriften und Historische Drucke Portr. Slg. Bildnisschrank gr. 3262.

Ressource »Schriftträger«: Abbildungsverzeichnis

Abb. 2: SBB-PK IIIA Autogr. I/1889. Abb. 3: Kunstbibliothek, Staatliche Museen zu Berlin [ohne Signatur]. Bildarchiv preussischer Kulturbesitz. Abb. 4: Alexander von Humboldt: Amour et Psyché. SBBPK, Abteilung Handschriften und historische Drucke, Nachl. Alexander von Humboldt, gr. Kasten 9, Nr. 21a Bl. 25v und Nachl. Alexander von Humboldt, gr. Kasten 5, Nr. 49a Bl. 19.

Steinmetz Abb. 1: Ludwig Darmstaedter (Hg.): Verzeichnis der Autographensammlung. Berlin: Stargardt 1909, 4–5. Abb. 2: René du Bois-Reymond und Ludwig Darmstaedter (Hg.): 4000 Jahre PionierArbeit in den exakten Wissenschaften. Berlin: J. A. Stargardt 1904, 216–217.

Basten Abb. 1: Cover Das Monistische Jahrhundert 2/21 (1913). Quelle: Bestand der Autorin. Abb. 2: Das Monistische Jahrhundert 2/21 (1913), Seite 63. Quelle: Bestand der Autorin.

Wernli Abb. 1: Hans Sachs: »Der Papyrer«, 1568. Quelle: Hans Sachs: Eygentliche Beschreibung Aller Staende auff Erden/Hoher und Nidriger/Geistlicher und Weltlicher/Aller Künsten/ Handwercken und Händeln. Frankfurt a.M.: Feyerabents 1568, 47. Abb. 2: Die Kunst Papier zu machen. Joseph Jerom François de la Lande übersetzt und kommentiert von Johann Heinrich Gottlob von Justi 1762. Hg. von Alfred Bruns. Münster: Landschaftsverband Westfalen-Lippe 2 1993, Tafel I. Abb. 3: Die Kunst Papier zu machen. Joseph Jerom François de la Lande übersetzt und kommentiert von Johann Heinrich Gottlob von Justi 1762. Hg. von Alfred Bruns. Münster: Landschaftsverband Westfalen-Lippe 2 1993, Tafel XII.

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Abb. 4: Die Kunst Papier zu machen. Joseph Jerom François de la Lande übersetzt und kommentiert von Johann Heinrich Gottlob von Justi 1762. Hg. von Alfred Bruns. Münster: Landschaftsverband Westfalen-Lippe 2 1993, Tafel XIII.

Autor*innen

David-Christopher Assmann ist Research Fellow am Dipartimento di Lingue, Letterature e Culture Straniere der Universität Bergamo. Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Kulturwissenschaft des Mülls, Literaturbetriebsforschung, Paratexte. Neueste Publikation: Verwalten – verwerten – vernichten. Kulturpoetische Formationen des Abfalls seit 1930. Berlin: Kadmos 2023 (Hg. mit Falko Schmieder und Jörg Schuster). Martin Bartelmus ist Postdoc am Institut für Germanistik der Heinrich-HeineUniversität Düsseldorf. Seine Forschungsschwerpunkte sind French Theory, Object-Oriented Ontology, Animal und Plant Studies sowie Materialität, Medialität und Schriftlichkeit. Laura Basten studierte Politik- und Literaturwissenschaft in Marburg, Editionswissenschaft in Berlin sowie Crossmedia Management in Leipzig. Nach langjähriger Arbeit im Verlagswesen war sie u.a. 2021 Graduiertenstipendiatin am Deutschen Literaturarchiv Marbach. Derzeit ist sie Doktorandin an der Freien Universität mit einem Stipendium der Hans-Böckler-Stiftung. Anke Bosse ist Professorin für Neuere deutschsprachige Literatur und Direktorin des Musil-Instituts für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchivs an der Universität Klagenfurt (Österreich). Ihre Schwerpunkte liegen in der Editionsphilologie, ›critique génétique‹/literarisches Schreiben, Literatur der Goethezeit und Gegenwartsliteratur, Intertextualität, -kulturalität, -medialität sowie Digital Humanities. Dominik Erdmann ist Literaturwissenschaftler und Wissenschaftshistoriker. Er katalogisierte den Nachlass Alexander von Humboldts, verfasste eine Monographie zur Materialität und Praxis seiner Werke und edierte verschiedene seiner Schriften und Zeichnungen. Für die Berliner Staatsbibliothek hat er den schriftlichen Nachlass von Leni Riefenstahl erstverzeichnet.

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Marlene Kirsten ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Graduiertenkolleg »Gegenwart/Literatur. Geschichte, Theorie und Praxeologie eines Verhältnisses« an der Universität Bonn. Ihr Dissertationsprojekt widmet sich Lyrikanthologien, die zwischen 1960 und 1990 in der BRD oder DDR erschienen. Dabei interessieren sie der diskursive Kontext der Anthologien, die Wechselwirkung mit anderen Medien und buchgestalterische Aspekte. Yashar Mohagheghi ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft an der RWTH Aachen. Seine Forschungsinteressen umfassen Hölderlin, die Kulturgeschichte des Festes, Zeittheorie, materielle Kulturen, den europäischen Ästhetizismus, kleine Formen und den frühneuzeitlichen Prosaroman. Reinhard M. Möller ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören Neuere deutsche und internationale Literaturgeschichte vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Ästhetik und Literaturtheorie im kulturwissenschaftlichen Kontext, Serendipität und Literatur, Szenarien heteronomer und zufallsbasierter Kreativität sowie ›Kleine Formen‹ des Erzählens und der Reflexion. Alexander Nebrig ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Zu seinen aktuellen Forschungsgebieten zählen die Geschichte und Theorie der Schrift, die Beziehung der Literatur zur Ethik und die Geschichte des interlingualen Lizenzraumes. Cornelia Ortlieb ist seit 2019 Professorin für Neuere deutsche Literatur mit einem Schwerpunkt in der Literatur der klassischen Moderne an der FU Berlin. Zu ihren Forschungsgebieten gehören die Materialität des Schreibens und Publizierens, Übersetzung und literarische Mehrsprachigkeit und die Literaturgeschichte der Objekte (in Sammlungen, Museen und Archiven). Unter den neueren Publikationen ist vor allem die Monographie Weiße Pfauen, Flügelschrift. Stéphane Mallarmés poetische Papierkunst und die Vers de circonstance · Verse unter Umständen (Dresden: Sandstein 2020) zu nennen. Sergej Rickenbacher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft der RWTH Aachen. Zu seinen Forschungsinteressen zählen die Wissensgeschichte der Literatur, materielle Praktiken und Materialitätstheorien, literarische Mediologie und vor allem Literatur und Olfaktion.

Ressource »Schriftträger«: Autor*innen

Martina Schönbächler ist seit September 2022 Mitarbeiterin in den Literaturarchiven der ETH Zürich, zuvor war sie Postdoc am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung/Kärntner Literaturarchiv. Ihre Forschungsinteressen sind Autor*innenbibliotheken, Schreibprozesse und New Materialism sowie Genderkonstruktionen in der Literatur ab 1800. Julia Steinmetz ist Doktorandin an der Humboldt-Universität zu Berlin und seit 2020 Kollegiatin des DFG-Graduiertenkollegs »Literatur- und Wissensgeschichten kleiner Formen«. Mit Fokus auf die Materialität historischen Wissens arbeitet sie zur Geschichte der Wissenschaftsgeschichte und geisteswissenschaftlichen Forschungssammlungen um 1900. Caroline Torra-Mattenklott ist Professorin für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Wissensformen an der RWTH Aachen. Promotion 1999 in Konstanz, Habilitation 2014 in Bern. Forschungsschwerpunkte: deutsche und französische Literatur, Poetik und Ästhetik des 18. bis 20. Jahrhunderts, Literatur und Wissen, Literatur und andere Künste. Martina Wernli ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität Frankfurt am Main am Institut für deutsche Literatur und ihre Didaktik. Ihre Forschungsschwerpunkte sind materielle Kultur und Literaturwissenschaft, Kanonfragen, Gegenwartsliteratur sowie Romantikerinnen.

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Literaturwissenschaft Julika Griem

Szenen des Lesens Schauplätze einer gesellschaftlichen Selbstverständigung 2021, 128 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5879-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5879-2

Klaus Benesch

Mythos Lesen Buchkultur und Geisteswissenschaften im Informationszeitalter 2021, 96 S., Klappbroschur 15,00 € (DE), 978-3-8376-5655-8 E-Book: PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5655-2

Werner Sollors

Schrift in bildender Kunst Von ägyptischen Schreibern zu lesenden Madonnen 2020, 150 S., kart., 14 Farbabbildungen, 5 SW-Abbildungen 16,50 € (DE), 978-3-8376-5298-7 E-Book: PDF: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-5298-1

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Literaturwissenschaft Elias Kreuzmair, Magdalena Pflock, Eckhard Schumacher (Hg.)

Feeds, Tweets & Timelines – Schreibweisen der Gegenwart in Sozialen Medien September 2022, 264 S., kart., 27 SW-Abbildungen, 13 Farbabbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-6385-3 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-6385-7

Renate Lachmann

Rhetorik und Wissenspoetik Studien zu Texten von Athanasius Kircher bis Miljenko Jergovic Februar 2022, 478 S., kart., 36 SW-Abbildungen, 5 Farbabbildungen 45,00 € (DE), 978-3-8376-6118-7 E-Book: PDF: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-6118-1

Wilhelm Amann, Till Dembeck, Dieter Heimböckel, Georg Mein, Gesine Lenore Schiewer, Heinz Sieburg (Hg.)

Zeitschrift für interkulturelle Germanistik 13. Jahrgang, 2022, Heft 1 August 2022, 192 S., kart., 1 Farbabbildung 12,80 € (DE), 978-3-8376-5900-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5900-3

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de