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German Pages 392 Year 2014
Jens Adam, Asta Vonderau (Hg.) Formationen des Politischen
Kultur und soziale Praxis
Jens Adam, Asta Vonderau (Hg.)
Formationen des Politischen Anthropologie politischer Felder
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Inhalt
Formationen des Politischen. Überlegungen zu einer Anthropologie politischer Felder Jens Adam und Asta Vonderau | 7
I. (T RANS -)F ORMATIONEN
STAATLICHER
P OLITIKEN
Das Ende der Hauptschule in Berlin. Zur ideologischen Dimension von Bildungsmythen Stefan Wellgraf | 35
Vertagte Anerkennung. Teilwerdung des Islams und die Grenzen der Zugehörigkeit im politischen Dialog der Deutschen Islam Konferenz Fabian Engler | 67
Klassifizieren für einen guten Zweck. Wie psychologische Traumaatteste begannen, im ausländerrechtlichen Verwaltungshandeln relevant zu werden Anne-Kathrin Will | 95
Staatliche Definition nationaler Zugehörigkeit und ausschließende Verwaltungspraxis in der Dominikanischen Republik Tobias Schwarz | 123
II. M OBILE K ONZEPTE –
IMPROVISIERTE
O RDNUNGEN
Die Improvisation einer Politik. Katastrophenbewältigung, neoliberale Experimente und die Grenzen ökonomischen Wissens Ignacio Farías | 153
The Policy of Mothering. Praktiken und Effekte der Politik einer internationalen Hilfsorganisation Sarah Speck | 183
Energie-Kollektiv – Energie-Autarkie. Lokale Energieproduktions- und -konsumgemeinschaften vor dem Hintergrund politisch induzierter Energieregulierung Franziska Sperling | 215
III. R ESKALIERUNGEN
POLITISCHER
F ELDER
Das Regieren der Migration als wissensbasierte Netzwerkpolitik. Eine ethnografische Policy-Analyse des International Centre for Migration Policy Development Sabine Hess | 241
»Niemand darf sich sicher fühlen!« Anthropologische Perspektiven auf die Politik der Inneren Sicherheit Alexandra Schwell | 275
Zettelwirtschaft. Consumer Citizenship, Europäisierung und Krisenpolitik in Griechenland Kerstin Poehls | 305
IV. M ETHODISCHE Z UGÄNGE – ETHNOGRAFISCHE P OSITIONIERUNGEN Das Bohren der Bretter – Zur trans-sequentiellen Analyse des Politikbetriebs Thomas Scheffer | 333
Troubling policies. Gender- und queertheoretische Interventionen in die Anthropology of Policy Beate Binder | 363
Autorinnen und Autoren | 387
Formationen des Politischen Überlegungen zu einer Anthropologie politischer Felder Jens Adam und Asta Vonderau
R EL ATIONEN
DES
U N -/S ICHTBAREN
Ende der 1990er Jahre beschwerten sich israelische Siedler über den schlechten Mobilfunkempfang, wenn sie von Jerusalem in Richtung Norden fuhren. Sie forderten die Errichtung einer neuen Antenne und schlugen hierfür eine Anhöhe vor, auf der bereits einige Jahre zuvor erfolglos die Anlage einer neuen Siedlung versucht worden war. Zwar befand sich dieser Hügel im Besitz palästinensischer Bauern, doch verfügte die israelische Armee über das Recht, Mobilfunkantennen auf privatem Grund zu errichten, indem sie diese zu einer »Sicherheitsangelegenheit« erklärte. Dies geschah und in der Folge schlossen die israelischen Elektrizitäts- und Wasserwerke die Anhöhe an ihre Netzwerke an, um den Bau einer Antenne zu ermöglichen. Der Mobilfunkanbieter zögerte, die Antenne aufzustellen und so errichteten die Siedler zunächst eine Attrappe, um den Prozess dennoch voranzutreiben. Zur Absicherung der »Baustelle« wurde dort ein Wohnwagen platziert, in dem sich der Mitarbeiter eines privaten Sicherheitsunternehmens niederließ. Dieser holte bald darauf Frau und Kinder nach und verband seinen Wohnwagen mit den inzwischen vorhandenen Wasser- und Elektrizitätsleitungen. Fünf weitere Familien folgten und »da nun dort schon Familien wohnten, sorgte das israelische Ministerium für das Bau- und Wohnungswesen für einen Kindergarten und ein paar Spenden aus Übersee für eine Synagoge«. Im Jahre 2006 umfasste Migron als damals größter Siedlungsvorposten in der Westbank »etwa 60 Wohnwagen und Container, in denen über 42 Familien wohnten« (Weizman 2008: 8).
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Mit der Entstehungsgeschichte dieses Siedlungsvorpostens eröffnet der israelische Architekt Eyal Weizman sein Buch Sperrzonen. Israels Architektur der Besatzung. Er schildert hier, wie eine Mobilfunkantenne zum »Brennpunkt der territorialen Auseinandersetzung« um das besetzte Westjordanland und zum »Mittelpunkt für die Mobilisierung, Kanalisierung, Zusammenführung und Organisierung politischer Kräfte und Prozesse« werden konnte (ebd.). Weizmans Bericht vermittelt ein Bild von der Komplexität und Verwobenheit zeitgenössischer politischer Prozesse, an dem uns für die Diskussion einer Anthropologie politischer Felder drei Aspekte besonders relevant erscheinen. Zunächst zeigt er, dass sich solche Prozesse und mit ihnen verbundene machtdurchzogene Raumordnungen realisieren können, ohne dass eine zentrale Stelle sie initiiert oder kontrolliert: Keine Behörde und kein Regierungsvertreter hatten entschieden, dass auf dieser Anhöhe eine neue Siedlung entstehen sollte. Weizman spricht von einem »›strukturierten Chaos‹, wobei das – häufig beabsichtigte – selektive Regierungshandeln einen wildwüchsigen Prozess der gewaltsamen Enteignung fördert« (ebd.: 11). Zweitens verweist er auf die Vielfalt der Akteure, die an solchen politischen Prozessen ohne zentrale Steuerung beteiligt sein können: »Junge Siedler, das israelische Militär, der Mobilfunkanbieter und andere kapitalistische Firmen, Menschenrechts- und politische Aktivisten, bewaffnete Widerstandskämpfer, Fachleute im humanitären und juristischen Bereich, einzelne Ministerien, ausländische Regierungen, ›Unterstützungsgemeinden‹ im Ausland, staatliche Planungsinstanzen, die Medien, der israelische Oberste Gerichtshof« (ebd.: 11) – mit unterschiedlichsten Intentionen und Rollen wurden sie Teil eines politischen Feldes, als dessen sichtbarer Effekt ein Siedlungsvorposten entsteht. Drittens schließlich lenkt Weizman den Blick auf materielle Formen und räumliche Arrangements und legt nahe, sie als Ausdruck politischer Rationalitäten, als Effekte von Konflikten und somit als Materialisierungen von Machtstrukturen zu verstehen. »Details der Fassadenverkleidung oder der Bedachung, Steinbrüche, Konzepte der Straßenbeleuchtung, die zweideutige Architektur von Wohnungsbauten, die Gestalt von Siedlungen, [...] juristische Taktiken zur Annexion von Land, die physische Organisation von Krisen- und Katastrophengebieten, hoch entwickelte Waffentechnologien und komplexe Theorien militärischen Vorgehens« bilden demnach Bestandteile einer politischen Formation, anhand derer untersucht wer-
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den kann, »wie gesellschaftliche, wirtschaftliche, nationale und strategische Kräfte zu Infrastruktur und Siedlungen gerinnen« (ebd.: 12). Solche empirisch greifbaren, materiellen Spuren im physischen Raum stellen einen möglichen Zugang dar, um im Rahmen einer Anthropologie politischer Felder unterschwelligen, zunächst schwer fassbaren politischen Rationalitäten, Regierungslogiken und Machtrelationen ethnografisch nachzuspüren. Ein zweiter, etwas anders gelagerter Zugang verläuft über die Untersuchung lokalisierbarer Interaktionsfelder unterschiedlicher Personengruppen und der sich hier kreuzenden Lebenswege, politischen Dynamiken und historischen Bezüge: So nimmt der amerikanische Kulturanthropologe Philippe Bourgois eine Straßenecke im Mission-Distrikt in San Francisco zum Ausgangspunkt, um das translokale Zusammenwirken unterschiedlicher politischer Prozesse, Gewaltformen und Machteffekte aufzuzeigen (2009: 29f.). Hier begegnet er undokumentierten Migranten, die sich den vorbeifahrenden Autoinsassen als preisgünstige Tagelöhner anbieten und hierdurch ungewollt den Gentrifizierungsprozess des Stadtteils sowie die Verdrängung seiner Latino-Bevölkerung unterstützen; er begegnet den Söhnen dieser ursprünglichen Bewohner, die als Gangmitglieder in einem System von Drogen, Kriminalität, Gewalt und Perspektivlosigkeit operieren und über die Jahre allmählich ihren zum Wegzug gezwungenen Eltern in die Vorstädte folgen; und er begegnet arabischen corner-store-Besitzern, die weiterhin den amerikanischen Traum in die Tat umzusetzen versuchen. Die sichtbaren Präsenzen und Interaktionen dieser Gruppen führen in der ethnografischen Analyse zu neoliberalen Arbeitsmarkt- und Stadtentwicklungspolitiken ebenso wie zu restriktiven Einwanderungsregulierungen; sie führen aber auch zu den vergangenen US-Militärinterventionen in zentralamerikanischen Bürgerkriegen und zu gegenwärtigen amerikanischen Handelspolitiken: Denn die undokumentierten Tagelöhner sind zumeist Veteranen dieser Konflikte, die nach den Kriegen ihre Lebensgrundlage als Kleinbauern durch die subventionierten Exporte der US-Agrarindustrie verloren haben – kurz: Die Straßenkreuzung repräsentiert für Bourgois einen »post-Kalten-Krieg, neoliberalen, globalisierten öffentlichen Raum, in dem die sozial Verletzbaren einander ausbeuten und sich gleichzeitig den Wohlhabenden als Quelle flexibler Niedriglohnarbeit anbieten« (ebd.: 29, Übersetzung der Autoren). Beide Zugänge eröffnen somit ethnografische Perspektiven auf Formierungsprozesse politischer Felder, in deren Rahmen Räume geordnet, Ressourcen verteilt, Menschen kategorisiert und kulturelle Bedeutungen
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produziert werden. Sie regen dazu an, ausgehend von den sichtbaren materiellen Spuren, Machteffekten und sozialen Interaktionen nach den zunächst verborgenen politischen Rationalitäten und längerfristigen Prozessen zu fragen. Es ist das Anliegen einer Anthropologie politischer Felder, eben diese Dynamiken und Relationen zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren in gegenwärtigen Machtkonstellationen und somit das Zusammenfließen heterogener Elemente zu komplexen Formationen des Politischen in den Blick zu nehmen. Diese Zielsetzung bringt eine Reihe konzeptioneller Fragen mit sich: Wo beginnt ein politisches Feld, wo endet es? Welche Akteure können in dieses Feld eingreifen und seine Dynamiken mitbestimmen? Gibt es eine dominante Logik, die ein solches Feld strukturiert oder eine zentrale Instanz, die es maßgeblich zu kontrollieren vermag? Ist davon auszugehen, dass ein Kreis von Personen, eine Institution oder eine Gemeinschaft über die Macht verfügen, einen politischen Prozess grundlegend zu verändern? Oder löst sich die Vorstellung eines zusammenhängenden Feldes angesichts der Komplexität und der Translokalität politischer Konstellationen nicht vielmehr in einer Kaskade von Interaktionen, materiellen Formen und Effekten auf? Diese Fragen berühren zugleich die Praxis ethnografischen Forschens in politischen Feldern: Wie etwa lassen sich die qualitativen empirischen Methoden der Kulturanthropologie und Europäischen Ethnologie in soziopolitischen Kontexten anwenden, deren maßgeblichen Dynamiken und Rationalitäten häufig abstrakt und unsichtbar sind oder auf translokale Beziehungen verweisen? Welche Orte, Personen, Institutionen und Objekte gilt es einzubeziehen, um ein politisches Feld ethnografisch zu erfassen? Liegt in den Vorgehensweisen der teilnehmenden Beobachtung – die zumindest im etablierten Verständnis eine langfristige Präsenz in überschaubaren lokalen Kontexten erfordert – ein Unvermögen begründet, die komplexen politischen Prozesse in einer solchen »post-Kalter-Krieg, neoliberalen, globalisierten Welt« zu erkennen? Oder verfügen gerade ethnografische Methoden über besondere Potentiale, um auch die verborgenen Rationalitäten, Relationen und Dynamiken aufzuzeigen? Solche Fragen möchten wir mit diesem Sammelband aufgreifen. Unser zentrales Anliegen ist es, die Möglichkeiten ethnografischen Forschens in politischen Feldern zu diskutieren, unterschiedliche methodische Herangehensweisen vorzustellen und somit zur Weiterentwicklung solcher Ansätze der qualitativen Politikforschung beizutragen. Hierzu bringen wir
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eine Auswahl von Forschungsarbeiten zusammen, die in den letzten Jahren im Umfeld von deutschsprachigen Instituten für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie sowie in Nachbardisziplinen oder interdisziplinären Forschungsverbünden entstanden sind. Die hier versammelten Beiträge bilden dabei im Hinblick auf ihre analytischen Interessen, theoretischen Bezüge und empirischen sites eine Vielfalt ethnografischer Forschungen zu Politik und Macht ab.
A UFBAU
DES
S AMMELBANDES
In der ersten Sektion des vorliegenden Bandes finden sich Beiträge, die unterschiedliche analytische und ethnografische Perspektiven auf gegenwärtige (Trans-)Formationen staatlicher Politiken werfen: Stefan Wellgraf untersucht auf Basis seiner empirischen Forschung in Berliner Schulen staatliche Bildungspolitiken und betrachtet hierbei die Abschaffung der Schulform Hauptschule als einen Moment, an dem grundlegende Bildungsideologien und -mythen zugleich brüchig und sichtbar werden. Fabian Engler liefert in seinem Artikel eine dichte Beschreibung der staatlich initiierten Deutschen Islam Konferenz und arbeitet hierbei sowohl den Prozess der Formierung eines »deutschen Islam« als auch die bleibenden Ambivalenzen einer staatlichen »Integrationspolitik« heraus, die sich etwa anhand der politischen Metapher vom »Dialog« oder anhand der Sitzordnung der Konferenz ethnografisch nachzeichnen lassen. Einen Ausgangspunkt des Beitrags von Anne-Kathrin Will bildet das Auftauchen von Psychiatern und Psychologen als »Experten mit Definitions- und Entscheidungsmacht« im Feld der Flüchtlings- und Ausländerpolitik in Berlin. Im Zentrum ihres Artikels stehen Prozesse und Bedingungen der Aushandlung eines Aufenthaltsrechts für bosnische Kriegsflüchtlinge zwischen unterschiedlichen Akteursgruppen sowie die Effekte, die in diesem Rahmen durch die Diagnose »Posttraumatische Belastungsstörung« erzielt werden können. Der Beitrag von Tobias Schwarz führt in das politische Feld der Definition nationaler Zugehörigkeit in der Dominikanischen Republik. Er entwickelt eine historische Genealogie der politischen Kategorie Staatsbürgerschaft und zeichnet auf Basis einer ethnografischen Analyse politischer Dokumente und bürokratischer Techniken die Verschärfung eines Ausschlussregimes nach, das insbesondere haitianischen Einwanderern und deren Nachfahren die nationale Zugehörigkeit verweigert.
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Die Artikel der zweiten Sektion Mobile Konzepte – improvisierte Ordnungen verbindet ein Interesse an Experimenten, Improvisationen oder Übersetzungen als formgebende Praxen und Strategien in politischen Feldern: So untersucht Ignacio FarÍas am Beispiel der Formierung politischer Instrumente zum Wiederaufbau zerstörter Wohnungen nach dem Erdbeben von 2010 in Chile die vielschichtigen Beziehungen zwischen Wissensordnungen, sozialen Kontexten und unterschiedlichen Akteursfeldern. Im Zentrum steht dabei die Analyse von »Improvisation« als einer zunehmend bedeutungsvollen politischen Wissenspraxis und Regierungstechnik im Zeitalter »neoliberaler Schockpolitiken«. Auch der Artikel von Sarah Speck liest sich als eine ethnografische Annäherung an epistemologische Ordnungen und ihre soziopolitischen Effekte. Am Beispiel der Hilfsorganisation SOS-Kinderdorf erforscht sie die Bedingungen und Konsequenzen der transnationalen Übersetzung eines Modells von Mutterschaft und Familie in unterschiedliche lokale Kontexte in Bolivien und Österreich und zeigt hierdurch, wie (post-)koloniale Wissensformationen auch weiterhin in den Konzepten und Arbeitspraxen einer weltweit operierenden Organisation wirksam sind. Franziska Sperling eröffnet mit ihrem Beitrag ethnografische Perspektiven auf den politisch initiierten Prozess der Transformation der klassischen Agrarwirtschaft zur Energiewirtschaft. Auf Basis ihrer empirischen Forschung zur Umstrukturierung einer bayerischen Gemeinde zu einem »Bioenergiedorf« verdeutlicht sie, wie Akteure und Gruppen eine solche Politik in ihre Arbeits- und Alltagswelten inkorporieren und somit übersetzen. Die dritte Sektion Reskalierungen politischer Felder versammelt Beiträge, die unterschiedliche Dynamiken, Konfliktlinien und politische Transformationen in lokalen, institutionellen oder staatlichen Kontexten im Zuge von Europäisierungsprozessen nachzeichnen und hierdurch neuartige transnationale Macht-Topografien sichtbar machen: Sabine Hess untersucht ausgehend von einem institutionellen Akteur des »europäischen Migrationsmanagements« – dem International Centre for Migration Policy Development – die Entstehung von neuartigen Netzwerken der Regierungsführung, die neben staatlichen Stellen, Forschungseinrichtungen, NGOs andere zivilgesellschaftliche Akteure und internationale Organisationen einbeziehen. Greifbar werden hierdurch neue Regierungstechniken, die einerseits stark auf der Erfassung von quantifizier- und visualisierbaren Daten sowie andererseits auf »Moderation«, »Konsensfindung« und »Dialogen« aufbauen. Alexandra Schwell schildert in ihrem Beitrag die von
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der Aufhebung der EU-Innengrenzen verursachte Umgestaltung der nationalen Sicherheitspolitik Österreichs. Sie zeigt, wie lokale polizeiliche Maßnahmen der europäischen Öffnungs-Rhetorik entgegenstehen und die transnationale Mobilität bestimmter Menschengruppen begrenzen, indem sie flexible Kontrollpraktiken und ein neues Verständnis von Sicherheit zu etablieren versuchen. Dieses empirische Beispiel nimmt Schwell zum Ausgangspunkt für Überlegungen zum Programm einer kulturanthropologischen Sicherheitsforschung. Kerstin Poehls analysiert am Beispiel der aktuellen Steuerpolicies in Griechenland widersprüchliche Effekte, die sich aus dem Zusammenspiel von nationalen und supranationalen (EU-europäischen) Spar- und Krisenpolitiken sowie dem individuellen Umgang mit diesen Politiken ergeben. Sie zeigt, wie Rolle und Bedeutung des Staates sich in diesem Kontext ändern und neue Formen der Bürgerschaft (consumer citizenship) entstehen. Abschließend diskutiert die vierte Sektion des vorliegenden Sammelbands methodische Zugänge und epistemologische Positionierungen einer ethnografischen Politikforschung. Am Beispiel seiner Forschung in Abgeordnetenbüros des Deutschen Bundestages stellt Thomas Scheffer einen spezifischen ethnografischen Zugang zum parlamentarischen politischen Feld vor – die trans-sequentielle Analyse. Der Schwerpunkt liegt dabei weniger auf dem »Alltag der Abgeordneten«, sondern auf der »fortwährenden Arbeit parlamentarischer Betriebe«. Scheffers Ansatz zielt darauf ab, sowohl »die praktische Orientierung der Teilnehmenden« als auch »die vielschichtigen Bedingungen der Teilnahme« zu analysieren, und er zeigt, wie der »diskurspraktische Betrieb« den alltäglichen Arbeitssituationen politische Relevanz verleiht. Beate Binder wiederum unterzieht den Anthropology of Policy-Ansatz von Cris Shore und Susan Wright einer kritischen Lektüre und erweitert ihn um feministische und queetheoretische Perspektiven. Sie fragt, wie das in Policies aktivierte Wissen von Vorstellungen des Normalen strukturiert wird und weist auf die Notwendigkeit hin, diese Normalitäten zu hinterfragen. Binder plädiert für eine radikalisierte Reflexivität und bewusste Positionierung der Forscherin sowie für eine ethnografische Politikforschung, die aus der Politik heraus forscht und sich als politisch engagiertes Unterfangen versteht. Die Beiträge wählen also sehr unterschiedliche ethnografische Zugänge zu politischen Feldern: etwa politische Kategorien und Metaphern (Schwarz, Speck, Binder), Momente eines grundlegenden Wandels oder politisch initiierter Veränderungsprozesse (Wellgraf, Engler, Farías, Sper-
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ling, Poehls), politisch produzierte Probleme und Diskurse (Will, Schwarz, Schwell, Binder), bürokratische Praxen und politische Strategien (Farías, Hess, Scheffer), Objekte (Will, Poehls) oder politische Netzwerke (Hess). Häufig verbinden die Beiträge mehrere dieser Herangehensweisen. Sie führen gleichfalls zu den unterschiedlichsten empirischen sites: zu Unterrichtssequenzen und Abschlussfeiern in Berliner Hauptschulen, zu dominikanischen Gesetzestexten und den Entstehungskontexten medizinischer Diagnosen in Deutschland, zur öffentlichen Präsentation von Haustypen in Chile, zu SOS-Kinderdörfern in Bolivien, zu Bahnhofshallen in Wien oder zu Postschaltern und Lebensmittelläden in Griechenland. Zugleich greifen die Autoren auf die unterschiedlichsten theoretischen Positionen der internationalen Diskussionen zu einer anthropologischen und ethnografischen Politikforschung zurück, um Prozesse, Dynamiken und Machtverhältnisse in ihren Feldern zu analysieren und zu interpretieren. Gemeinsam ist den Beiträgen ihre Perspektive auf die Prozesshaftigkeit und den experimentellen Charakter politischer Felder, auf die komplexen Akteurskonstellationen, die an den Aushandlungen von Politiken beteiligt sind, auf informelle Politikformen, auf die Verknüpfungen unterschiedlicher Dynamiken, die sich in einem lokalen Kontext zeigen, auf die Beziehungen zwischen materiellen Spuren, politischen Diskursen und Rationalitäten sowie auf die intendierten und nicht intendierten Effekte politischer Operationen und Entscheidungen. Sie verweisen somit auf zentrale Bestandteile einer Anthropologie politischer Felder, deren Fragestellungen und Forschungsprogramm wir nun mittels der drei Begriffe politische Felder, Formationen des Politischen und ethnografische Momente weiter erläutern wollen.
V OM
POLITISCHEN
F ELD
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Politische Zentren und ihre Produkte Viele der aktuellen öffentlichen und politischen Debatten erscheinen wie Gegenentwürfe zu den komplexen Konstellationen, die anhand der beiden Sequenzen von Eyal Weizman und Philippe Bourgois oder anhand der Beiträge zu diesem Buch sichtbar werden. Oft zirkulieren in diesen Diskussionen Bilder der Eindeutigkeit, Übersichtlichkeit, der inneren Logik und Kontrolle über gesellschaftliche Entwicklungen oder es werden rationale Pläne und Maßnahmen zur Lösung von politischen Problemen
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vorgestellt: Alternativlos ist dabei in den letzten Jahren zu einem Schlüsselbegriff politischer Auseinandersetzungen in Zeiten der Krise avanciert. Alternativlos waren aus der Perspektive von Angehörigen der politischen Elite etwa die erzwungenen Sparmaßnahmen in Griechenland und andere Umgangsformen mit der Euro-Krise, die Schuldenbremse im deutschen Grundgesetz oder beispielsweise das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 – kurz: politische Projekte, die jeweils darauf ausgerichtet sind, umfangreiche finanzielle Ressourcen auf eine jeweils spezifische Weise zu verteilen und zugleich gesellschaftliche und ökonomische Ordnungen in lokalen, nationalen oder sogar europäischen Feldern zu gestalten. Aus der Perspektive einer anthropologischen Politikforschung erwecken solche Gestaltungsansprüche und Steuerungsversuche einerseits Skepsis im Hinblick auf deren Legitimität und Umsetzbarkeit, andererseits aber auch ein analytisches Interesse an ihren Entstehungskontexten und Wirkungen. Solche Rede- und Handlungsweisen lassen sich als Elemente von Machttechniken und diskursiven Strategien verstehen, die darauf abzielen, politische Praxis- und Diskussionskontexte nachhaltig zu strukturieren. Den öffentlich artikulierten Anspruch, im Besitz der einzig denkbaren Lösung für eine gesellschaftliche Problemstellung zu sein, deuten wir als einen »Einsatz« im Ringen der Eliten um die »Durchsetzung der legitimen Sicht der sozialen Welt« und somit um die »Bewahrung oder Veränderung der Wahrnehmungskategorien der Welt« – eine Auseinandersetzung, die nach Pierre Bourdieu den Kern und den eigentlichen Charakter des politischen Kampfes kennzeichnet (Bourdieu 2001: 17). Bourdieu hatte primär die Zentren staatlicher Macht im Sinn, als er von dem »politischen Feld« als einem kleinen, relativ autonomen, von seinen sozialen Kontexten weitgehend abgelösten »Mikrokosmos« sprach. Aus seiner Sicht sind es vor allem die »Eingeweihten« – Politiker, Abgeordnete, Journalisten, politische Kommentatoren oder Meinungsforscher (ebd.: 30) – die im Rahmen ihrer Allianzen und Konkurrenzkämpfe die »politischen Produkte« erzeugen, »unter denen die auf den Status von ›Konsumenten‹ reduzierten gewöhnlichen Bürger wählen sollen«. Zu solchen Produkten zählen demnach »Probleme, Programme, Analysen, Kommentare, Konzepte, Ereignisse« (ebd.: 13), die im politischen Feld ausgehandelt werden und erst danach die breitere Öffentlichkeit erreichen, aber gerade in ihren symbolischen Dimensionen – also etwa in den Narrativen und Botschaften von der angemessenen »Ordnung der Welt« – weitreichende Folgen für die Gesellschaft insgesamt mit sich bringen. Bourdieu spricht von den
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»Sicht- und Teilungsprinzipien« (ebd.: 21), die sich im Zuge solcher Kämpfe herausbilden und die zur Kategorisierung von Menschen, zur Konstituierung von Gruppen und damit zur Formierung oder Verfestigung einer sozialen Ordnung führen. Auch wenn die Position eines Politikers im politischen Feld, wie Bourdieu es versteht, weitgehend auf seinem Vermögen beruht, Menschen für seine Standpunkte zu mobilisieren, so sei das »politische Universum« in einer »Trennung von Eingeweihten und Nicht-Eingeweihten« (ebd.: 42) begründet, die sich in der Tendenz – etwa durch Professionalisierungen der beteiligten Berufsgruppen oder ein erforderliches implizites Wissen – zunehmend verstärke und verselbständige. Neue soziale Bewegungen finden demnach nur dann Gehör, wenn sie einen Insider – also einen hochrangigen Politiker oder Journalisten – davon überzeugen können, ihr Anliegen in das politische Feld einzubringen. In der Vorstellung Bourdieus sind es also vorrangig die Macht- und Statuskämpfe der Eliten, in denen sich politische Positionen und Debatten konstituieren. Für eine Anthropologie politischer Felder betrachten wir dieses Modell weiterhin als relevant, da es unmittelbar den Blick auf Mechanismen des Ausschlusses, auf elitäre Mikrofelder der Macht, auf Hierarchien, symbolische Kämpfe und Ordnungen und somit auf die Entstehungsbedingungen »politischer Produkte« und gesellschaftlicher Diskussionen lenkt. Zugleich, so meinen wir, lassen sich gegenwärtige politische Felder in ihrer Komplexität, in ihren Dynamiken und Verflechtungen durch einen solchen Fokus auf staatliche oder staatsnahe Institutionen, Regulierungen und Akteurskonstellationen allein kaum greifen. (National-)Staaten sind im Zuge von Globalisierungs- und Europäisierungsprozessen sicherlich nicht verschwunden, aber sie durchlaufen eine grundlegende Transformation, deren zentrale Faktoren bereits vielfach herausgearbeitet worden sind: etwa die transnationale Mobilität von Menschen und medialen Bildern, politischen Konzepten und rechtlichen Kategorien, materiellen Gütern und finanziellen Kapitalien; die wachsende Bedeutung supranationaler Organisationen mit ihren grenzüberschreitenden Gestaltungsmöglichkeiten und Interventionsansprüchen; das Vermögen zivilgesellschaftlicher Bündnisse und Initiativen politische Debatten und Prozesse zu initiieren; oder die zunehmende Präsenz kulturell, ethnisch, geschlechtlich oder intersektoral definierter Positionen im öffentlichen Raum. Dies sind nur einige der Prozesse, die gegenwärtig zur Entbündelung staatlicher Autorität und Auto-
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nomie beitragen und neuartige politische Konstellationen ins Leben rufen (Trouillot 2001, Sassen 2008, Hess/Tsianos 2010, Römhild 2010). Eine Anthropologie politischer Felder, wie wir sie verstehen, bewegt sich in dieser Spannung zwischen der Analyse von elitären Mikrofeldern der Macht, die auch weiterhin gesellschaftliche Debatten und politische Probleme wirkmächtig zu strukturieren vermögen und der Erforschung komplexer politischer Konstellationen, in denen sich Macht immer schwieriger verorten und Autorität immer weniger personifizieren lassen. Eben diese Spannung spiegelt sich in der gegenwärtigen anthropologischen Politikforschung wider: Auf der einen Seite finden sich Untersuchungen zu überschaubaren Akteursgruppen und Elitenetzwerken, die fern von demokratischen Prozessen über so grundlegende Fragen wie den Eintritt Großbritanniens in den Krieg gegen den Irak (Shore 2011) oder die gesamte Ausrichtung der amerikanischen Außenpolitik gegenüber dem Nahen und Mittleren Osten (Wedel 2011) (mit-)entscheiden. Auf der anderen Seite stehen Forschungen, die unter Rückgriff auf theoretische Modelle wie Assemblage, Dispositiv oder Apparatus (Foucault 2004 Collier/Ong 2005, Rabinow 2004) der Komplexität temporärer politischer Konstellationen analytisch und empirisch gerecht zu werden versuchen (Feldman 2012, Müller 2011). Die Spannung zwischen beiden Polen prägt auch diesen Sammelband, der Bourdieus Begriff des politischen Feldes erweitert und zugleich solchen Konstellationen der Machtausübung besonderes Augenmerk schenkt, die über die politischen Zentren hinausführen und entsprechend nach weiteren Analysemodellen verlangen. Politische Felder unterliegen kontinuierlichen Formierungsprozessen: sie konstituieren und verändern sich; sie können sich überlappen, verflechten oder wieder an Bedeutung verlieren. Unser Anliegen ist es zu zeigen, dass eine anthropologische Politikforschung über das analytische und empirische Instrumentarium verfügt, um solche Komplexitäten nachzuzeichnen.
P OLICIES
ALS ANTHROPOLOGISCHE
F ORSCHUNGSFELDER
Ein wesentlicher Impuls zur Erweiterung und Pluralisierung der anthropologischen Politikforschung und des Konzepts von einem politischen Feld ging seit den 1990er Jahren von den Vertretern des Forschungsprogramms einer Anthropology of Policy aus (Ferguson 1994 Shore/Wright 1997, Mosse 2005, Wedel et al. 2005, Wedel/Feldman 2005, Shore/Wright/Però 2011
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etc.). Dieser Ansatz, auf den sich auch viele Beiträge zu diesem Buch beziehen, hinterfragt ein Verständnis von Policies1 als Ensemble von rationalen, logischen und linearen Handlungen zur Lösung »objektiver Probleme«, das bei der Formulierung durch Entscheidungsträger und dem Gesetzgebungsverfahren beginnt, verschiedene administrative Ebenen durchwandert, um schließlich institutionell und lokal umgesetzt zu werden (Shore/ Wright 2011: 8). Policies werden in dieser Forschungsrichtung stattdessen als »analytische Fenster« betrachtet, deren Öffnung – auch über den jeweiligen Politikbereich hinaus – zu Erkenntnissen über grundlegende gesellschaftliche Transformationsprozesse, Regierungstechniken und Machtkonstellationen in der Gegenwart beiträgt (ebd.: 12). Die anthropologische Relevanz von Policies ergibt sich demnach aus ihrer Eigenschaft als einem »zentralen Organisationsprinzip« spätmoderner Gesellschaften, das, »like ›family‹, ›nation‹, ›class‹ or ›citizenship‹, provides a way of conceptualising and symbolising social relations, and around which people live their lives and structure their realities« (ebd.: 2). Policies sind demnach »produktiv, performativ und immer umstritten« (ebd.: 1), insofern sie verschiedene gesellschaftliche Kontexte miteinander verknüpfen und beständig neue soziale Beziehungen, materielle Konfigurationen und kulturelle Bedeutungen hervorbringen. Sie lassen sich eher als »Assemblagen« (ebd.: 20) denn als feststehende Phänomene verstehen, weil sie ihre Zusammensetzung und Ausdehnung kontinuierlich verändern und entsprechend ein eigenes »soziales Leben« führen. Policies besitzen somit gewissermaßen Handlungsfähigkeit (agency) und werden im Rekurs auf Bruno Latour als »Aktanten« beschrieben: »they shift action; and, like machines, they perform tasks and are endowed with certain competencies. Importantly, actants typically interact with other social agents in processes that are dynamic and contingent, and therefore have unpredictable effects.« (Ebd.: 3) Solche teils geplanten, teils unplanbaren Effekte zeigen sich etwa an Kategorisierungen und Klassifizierungen, die neue Kollektive oder Sub1 | Für das englische Wort policy gibt es im Deutschen keine unmittelbare, eindeutige Entsprechung, da es ebenso wie politics mit Politik übersetzt wird. Seine Bedeutung lässt sich am direktesten über Bezeichnungen wie Gesundheitspolitik, Rentenpolitik oder Energiepolitik erschließen – also über das Ensemble von Praxen, Techniken und Interaktionsfeldern der Konzipierung, Planung, Aushandlung, Umsetzung, die einen solchen Politikbereich jeweils ausmachen. Aus diesem Grunde behalten wir hier die englische Bezeichnung bei.
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jektpositionen formen. Policies können bestimmte Handlungsweisen unterstützen und andere unterbinden; sie ordnen Räume und begründen neue institutionelle Strukturen; sie rufen öffentliche Diskurse hervor und etablieren deren Schlüsselbegriffe; sie privilegieren bestimmte Zukunftsvorstellungen oder Visionen vom »guten Leben«. Aufgrund der Verflechtung der Policies mit allen Bereichen des sozialen Lebens führt ihre Untersuchung zu Kernthemen der Kultur- und Sozialanthropologie: »Normen und Institutionen; Ideologie und Bewusstsein; Wissen und Macht; Rhetorik und Diskurs; Bedeutung und Interpretation; das Globale und das Lokale – um nur einige zu erwähnen.« (Shore/Wright 1997: 4, Übersetzung der Autoren) Policies, so halten die beiden Autoren fest, »sind inhärent und unmissverständlich anthropologische Phänomene« (ebd.: 7). Übersetzt in ein empirisches Forschungsprogramm bedeutet dies, dass die Topografie des ethnografischen (Forschungs-)Feldes durch die assemblageartigen Beziehungen zwischen Orten und Institutionen, Individuen und materiellen Formen, Praktiken und Diskursen, Objekten und symbolischen Bedeutungen bestimmt wird, die sich im Rahmen des Konstituierungs- und Wirkungsprozesses einer Policy entwickeln. Das Feld einer anthropologischen Politikforschung setzt sich somit aus der Gesamtheit der Akteure und Aktanten zusammen, die über die Potentiale oder »Kapitalien« verfügen, innerhalb des Aushandlungsraums einer Policy »Effekte« zu erzielen.2 Für die ethnografische Forschungspraxis haben Susan Wright und Sue Reinhold die Vorgehensweise des »studying through« entwickelt, um die Beziehungen und Netzwerke nachzuzeichnen, die ein politischer Prozess zwischen lokalen und institutionellen Kontexten, gesellschaftlichen Ebenen, Medien und alltagsweltliche Praktiken herstellt (Shore/Wright 1997, Wright/Reinhold 2011, Shore/Wright 2011: 11). Konkret geht es hierbei um die Kombination einer »multi-sited ethnography« (Marcus 1995) mit unterschiedlichen Verfahren der Diskursanalyse und akteurszentrierten Forschungsmethoden, um die Wege nachzuzeichnen, »in which power creates webs and relations between actors, institutions and discourses across time and space« (Shore/Wright 1997: 14).
2 | Der Begriff des Feldes hier im Anschluss an Bourdieu (2006: 266).
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Solche konzeptionellen und methodischen Überlegungen der Anthropology of Policy führen somit also aus den politischen Zentren oder sichtbaren Elite-Netzwerken hinaus zu den weitläufigen, im ständigen Wandel begriffenen Verknüpfungen und Effekten, die im Rahmen eines Policy-Prozesses entstehen. Die Frage nach der empirischen und analytischen Greifbarkeit solcher komplexen, räumlich schwer begrenzbaren und institutionell vielfältig verflochtenen Gefüge stellt eine zentrale Problemstellung innerhalb der gegenwärtigen Diskussionen zu einer Anthropologie politischer Felder dar. Wir verstehen den vorliegenden Sammelband als einen Beitrag zu diesen Debatten: Der in seinem Titel gesetzte Begriff Formationen des Politischen ist dabei deutlich inspiriert von den Diskussionen zu Assemblagen, Dispositiven oder Apparaten als theoretischen Konzepten und Analysemodellen, welche die Überlegungen zu einer anthropologischen Politikforschung in den letzten Jahren nachhaltig geprägt haben (Collier/ Ong 2005, Foucault 2004, Marcus/Saka 2006, Rabinow 2004). An dieser Stelle möchten wir nur einen Aspekt aus diesen Diskussionen aufgreifen: In deren Rahmen wurde die Bedeutung des Zusammenwirkens von stabilen Strukturen und flüchtigen Bestandteilen, des »Unbeständigen« oder »Vorübergehenden« und der sich permanent neu entwickelnden Zusammenballungen so heterogener Elemente wie etwa politischer Rationalitäten, Akteursgruppen, Regierungstechnologien, Wissensbestände, materieller Ressourcen usw. überzeugend herausgearbeitet, dennoch wurde die Frage nach der Übersetzung dieser Konzepte und Modelle in ein ethnografisches Forschungsprogramm nicht abschließend geklärt (siehe hierzu die wichtigen Beiträge von: Feldman 2012, Müller 2011, Römhild 2010, Welz 2009). Entsprechend verstehen wir Formationen des Politischen praxis- und empirienah und somit als eine Möglichkeit der ethnografischen Annäherung an politische Felder, ohne dabei den Anspruch nach theoretischer Fundierung und analytischer Tiefe aus den Augen zu verlieren. Die beiden Sequenzen zu Beginn dieser Einleitung und viele Beiträge zu diesem Sammelband zeichnen solche Formationen und deren Elemente nach: sie führen zu komplexen Akteursfeldern, deren konkrete Zusammensetzung eben erst durch ethnografische Analysen sichtbar werden; sie unterstreichen die Bedeutung von Objekten und architektonischen Arrangements als Effekte und Bestandteile eines politischen Prozesses; sie untersuchen Formen der Machtausübung und der politischen Gestaltung, die sich ohne
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klares Zentrum vollziehen; sie dokumentieren die Verknüpfungen von Akteuren, Institutionen, bürokratischen Verfahren, Diskursen und Technologien, die im Rahmen einer Policy entstehen; und sie verdeutlichen das Zusammenwirken von politischen Transformationsprozessen und Gewaltformen, das in einem konkreten lokalen Kontext greifbar wird. Formationen des Politischen verweist somit zunächst auf Relationen und Verknüpfungen, die sich im Zuge eines politischen Prozesses herausbilden und der ethnografischen Analyse zugäglich sind. Zugleich verbinden wir mit diesem Begriff den Anspruch, von den sichtbaren Elementen solcher wandelbaren Gefüge zu ihren unsichtbaren Bestandteilen vorzudringen. Unser Vorschlag lautet daher, im Zuge eines Forschungsprozesses von den empirisch greifbaren Handlungen, materiellen Objekten, Beziehungen und Produkten her sukzessive die unsichtbaren politischen Rationalitäten, Regierungslogiken und Machtrelationen zu erschließen. Denn eine Formation des Politischen wird erst dann verständlich, wenn es gelingt, ihre sichtbaren und unsichtbaren Bestandteile empirisch und analytisch in den Griff zu bekommen. In einer zweiten Bedeutung verstehen wir Formationen des Politischen daher auch als einen Oberbegriff für die theoretischen Modelle – Assemblagen, Dispositive, Apparate, Netwerke usw. –, die wir hinzuziehen, um ein solches relationales Gefüge zu analysieren.
Zur Emergenz politischer Formationen : Verknüpfungen und Reibungen In Anbetracht der situativen und partiellen Sichtbarkeit solcher politischer Formationen und der fortwährenden Dynamik zwischen ihren materiellen und immateriellen Bestandteilen zielt eine Anthropologie politischer Felder also weniger darauf ab, diese endgültig zu definieren, sondern vielmehr fragt sie danach, wie sie als Effekte von Policies entstehen und wie sie sich wandeln. So lässt sich im Anschluss an Cris Shore und Susan Wright das Entfaltungsprinzip politischer Formationen als Prozess vielfältiger Verknüpfungen verstehen, die etwa im Rahmen einer Policy angestoßen werden. Anfänglich durch eine politische Entscheidung oder Handlung induziert, können sich solche Verknüpfungsprozesse verselbständigen und Folgen nach sich ziehen, die sich kaum oder gar nicht auf eine konkrete politische Maßnahme zurückgeführen lassen. Temporalität und Situativität bedeuten indes nicht, dass die zeitlichen und räumlichen Ausprägungen solcher Formationen oder ihre materiellen Spuren rein zufälli-
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ge wären. Sie sind vielmehr ein Produkt konkreter Aushandlungen und Machtkämpfe und können in diesem Sinne dennoch als Effekte der durch Policies ausgelösten Verknüpfungen verstanden werden. Im Laufe solcher Verknüpfungsprozesse entstehen beispielsweise Ausgrenzungen und Inklusionen, neue Subjektivitätsformen, Freiräume oder repressive Strukturen, die weitere Formationen des Politischen ermöglichen. Der Moment, in dem Akteure, institutionelle Strukturen, Dinge, Technologien und Diskurse aufeinandertreffen und in dem sich Effekte einer Policy zu Formationen materialisieren, ist also kein eindeutiger, sondern ein ambivalenter und umkämpfter »moment of friction« (Tsing 2005), in dem der normale Lauf der Dinge unterbrochen wird oder eine neue Richtung einschlägt. Anna Tsing hat in einem anderen Zusammenhang vorgeschlagen, solche Momente als widersprüchliche, situative Verdichtungen von Beziehungen zu begreifen, die Möglichkeiten und Potentiale für soziale Transformationen und Veränderungen des politischen Machtgefüges in sich bergen: als »the akward, unequal, unstable and creative qualities of interconnection across differences« (Tsing 2005: 4). Auf empirischer Ebene werden solche Momente der Reibung und potentieller Transformation in Form grundlegender politischer Ereignisse (wie etwa eines Regime- oder Systemwechsels), sozialer und politischer Krisen (von gesellschaftlichen Konflikten bis hin zu Kriegen) oder in Form gewaltiger struktureller Veränderungen (wie sie beispielsweise auf Naturkatastrophen folgen) greifbar; sie manifestieren sich aber auch in den »kleinen Reibungen« zunächst unscheinbarer Alltagsituationen, in denen unterschiedliche Handlungslogiken aufeinandertreffen, in unbedachten Routinen, die ins Stocken geraten – selbst bei der Errichtung einer Funkantenne oder der zufälligen Begegnung verschiedener Akteure an einer Straßenecke, um unsere einführenden Beispiele aufzugreifen. Die moments of friction sind also nicht immer offensichtlich, sondern müssen von einer Forscherin aufgespürt, als Teil einer Formation identifiziert werden – »at a specific historical, political and economic conjuncture in which an issue becomes a problem« (Collier/Ong 2005: 14) –, und sie müssen ethnografisch als Wege hin zu den weniger sichtbaren politischen Rationalitäten und abstrakten Formen der Machtausübung genutzt werden. Trotz ihres empirischen Charakters verstehen wir solche Reibungen somit nicht nur als empirische Tatsachen, sondern als Situationen der Reflektion und Konzeption, in deren Rahmen situiertes ethnografisches Wissen entsteht (vgl. Haraway 1988, Feldman 2011).
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E THNOGR AFISCHE M OMENTE Infrastrukturen der Macht Solche netzartigen, sich über verschiedene soziale Kontexte und gesellschaftliche Ebenen (scales) erstreckenden Formationen des Politischen lassen sich zugleich als Infrastrukturen der Macht untersuchen – als relationale Gebilde, welche die sichtbare, materielle und empirisch beobachtbare Seite politischer Formationen darstellen und mit ihren diskursiven Elementen unmittelbar verbunden sind. Infrastrukturen der Macht bilden nicht nur eine für die ethnografische Forschungspraxis günstige Objektivation von Machtmechanismen und Regierungslogiken, sondern sie sind diesen Mechanismen und Logiken inhärent: »It is both a support-system that makes it possible (or impossible) for other things to exist and a way of making up a particular kind of social world. And it is ›infra‹ less in the sense of constituting a ›base‹ than in the sense of a swarming omnipresence that is implied in Foucault’s (1980) idea of ›infra-power‹«. (Ferguson 2012: 559) Mit ihrem Interesse an den materiellen Ausformungen der Politik weist die Anthropologie politischer Felder, wie wir sie verstehen, eine Nähe zu den interdisziplinären Infrastructure Studies auf (Bowker et al. 2010, Star 1999, Larkin 2013), die sich mit den infrastrukturellen Voraussetzungen des heutigen Lebens beschäftigen, darunter den Transport-, Rohr- oder Kabelsystemen oder auch dem World Wide Web, und die nach den Machtverhältnissen, politischen Aushandlungen und kulturellen Wertevorstellungen, die solchen Infrastrukturen eingeschrieben sind, fragen. Infrastrukturen werden also als machtdurchzogene, in diverse soziokulturelle Kontexte eingebettete, materielle Formationen verstanden, deren scheinbare Neutralität, Allgegenwärtigkeit und Un-/Sichtbarkeit mit dem Ziel hinterfragt wird, empirisch schwer greifbare politische Prozesse zu rekonstruieren und sichtbar zu machen: »Understanding the nature of infrastructural work involves unfolding the political, ethical, and social choices that have been made throughout its development«. (Bowker et al. 2010: 99) Die Auseinandersetzung solcher Forschungen mit der infrastrukturellen Komplexität und ihrer scheinbaren Selbstverständlichkeit nimmt häufig ebenfalls in »moments of friction« oder »infrastructural inversions« (ebd.: 98) ihren Ausgang, in Situationen des Zusammenbruchs, in Kontexten technologischer Implementierungen oder organisationeller
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Innovationen. Denn diese Momente zeichnen sich dadurch aus, dass die Selbstverständlichkeit der infrastrukturellen Netzwerke und damit auch die ideologischen Normalitäten gestört sind, sodass die Beziehungen zwischen den involvierten Akteuren neu gestiftet und legitimiert werden müssen – und dadurch sichtbar und spürbar werden. Mehrere Autoren dieses Bandes suchen den Zugang zu politischen Formationen über räumlich und materiell markierte Infrastrukturen der Macht und Momente der »infrastructural inversions« (Star 2002: 116), und sie verdeutlichen damit, wie fruchtbar dieser Zugang für eine Anthropologie politischer Felder sein kann. Drei Beispiele: Ignacio Farías nimmt, wie oben ausgeführt, den infrastrukturellen Zusammenbruch im chilenischen Wohnungsmarkt als empirischen Ausgang für seine Überlegungen zur Rolle von »Improvisation« in politischen Aushandlungs- und Gestaltungsprozessen. Er verdeutlicht, dass Improvisation als »die einzig mögliche Handlungsweise in ungewissen Situationen« fungiert, in denen etabliertes Wissen weitgehend außer Kraft gesetzt ist. Stefan Wellgraf beschäftigt sich mit einer grundlegenden Reform des Bildungssystems in Berlin, nämlich der Abschaffung der Hauptschule. Diese Situation bezeichnet er als einen »Moment der Brüchigkeit«, in dem »Herrschaftsstrukturen aufbrechen und neu justiert werden« – und laut Wellgraf sind es eben solche »Momente der Brüchigkeit«, die für ethnografische Forschungen besonders wertvoll sind, weil in ihnen »die brutale Ungleichheit und Ungerechtigkeit des Klassensystems zeitweise aus ihrem ideologischen Schatten hervortritt« und der Kritik unterzogen werden kann. Alexandra Schwell schließlich analysiert die Aufhebung der europäischen Innengrenzen, die nicht nur eine räumliche und institutionelle Neuorganisation des Grenzregimes bedeutet, sondern auch eine Neuordnung der Machtverhältnisse zwischen europäischen und nationalstaatlichen politischen Akteuren mit sich bringt. Sie zeigt, wie im Kontext dieser infrastrukturellen Transformation neue Formen von »securitization« und »othering« entstehen. Auch diese Beispiele verdeutlichen, wie eine Anthropologie politischer Felder – mit ihrem Interesse an den sichtbaren und materiellen Formen von Macht – empirische Zugänge zu den schwer greifbaren politischen Formationen bietet. Die im Rahmen einer Policy angestoßenen Verknüpfungsprozesse stellen also nicht nur spannungsvolle Aushandlungssituationen (Tsings »moments of friction«) dar, sondern auch genuin ethnografische Momente, die den Einstieg in ein anthropologisches Forschungsfeld
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ermöglichen. Solche ethnografischen Momente sind dabei nicht auf die konkreten lokalen Erfahrungen einer Feldforscherin reduzierbar. Zugleich bedeutet das Interesse einer Anthropologie politischer Felder an sichtbaren Materialitäten kein Plädoyer für einen vereinfachenden Empirismus (empiricism), wie ihn etwa Gregory Feldman kürzlich im Rahmen seines Ansatzes zu einer »nonlocal ethnography« kritisiert hat (Feldman 2011). Ethnografische Momente entstehen vielmehr als Ergebnis gleichzeitiger empirischer und konzeptioneller Bemühungen, die vielschichtigen Formationen des Politischen zu (be-)greifen.
Beyond the Locality : politische Rationalitäten und Regierungslogiken Mit seinem Ansatz der »nonlocal ethnography« fordert Feldmann dazu auf, politische Rationalitäten ins Zentrum einer ethnografischen Untersuchung von gegenwärtigen Feldern politischer Regulierung und Machtausübung zu stellen. Entsprechend betrachtet er überschaubare Orte, Institutionen oder Akteursgruppen nicht als die eigentlichen sites, deren lokale Wirklichkeiten es im Rahmen einer Feldforschung zu analysieren gälte, sondern als Ausgangspunkte zur Untersuchung von translokalen (Macht-) Beziehungen: »from location specific practices to discourses that integrate many disparate policy practices beyond the locality«. (Feldmann 2011: 33) Die nonlocal ethnography nimmt im Vergleich zu den Infrastructure Studies somit eine fast diametral entgegengesetzte Blickrichtung ein – sofern sie vor allem auf die nicht-materiellen, diskursiven Aspekte politischer Prozesse fokussiert – und verfolgt dennoch die gleiche Absicht, das Verhältnis zwischen den sichtbaren und unsichtbaren Elementen einer Formation des Politischen zu analysieren. Ihr Ziel besteht in der Sichtbarmachung und Rekonstruktion von politischen Rationalitäten und Diskursen, die als »great conversation taking place indirectly, in dispersed sites and in many venues« verstanden werden und zur Entstehung eines »Apparatus« – eines komplexen Systems zur Regulierung von Bevölkerungen und zur Steuerung politischer und ökonomischer »Probleme« – führen (Feldman 2011: 45). In der Konsequenz relativiert die non-local ethnography somit die Bedeutung des Lokalen und des direkten sinnlichen Kontaktes zu einem Ort oder einer Akteursgruppe für die ethnografische Wissensproduktion und versucht stattdessen, in den Handlungen einzelner Personen oder Akteursnetzwerke politische Rationalitäten und Regierungslogiken nach-
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zuweisen, die zur Regulierung und Disziplinierung ganzer Bevölkerungsgruppen dienen – etwa solche, die Flüchtlinge an den EU-Außengrenzen als »Problem« definieren, das es im Rahmen eines europäischen »Migrationsmanagements« zu kontrollieren und abzuwehren gilt. Trotz der Fokussierung auf »Diskurse«, »Rationalitäten« und abstrakte »Apparate« folgt auch die nonlocal ethnography einem ähnlichen Interesse an ethnografischen Momenten, in denen das Zusammenwirken von sichtbaren und unsichtbaren Elementen politischer Prozesse empirisch greifbar wird. Das Im-Feld-Sein steht hier also weniger für die langfristige Immersion in einen überschaubaren lokalen oder sozialen Kontext, sondern für die analytische und empirische Einnahme unterschiedlicher Standpunkte, von denen aus sich wirkmächtige Diskurse und Machtsysteme als historische Produkte von sozialen Kämpfen, Konflikten und Gewaltformen dezentrieren lassen: »›being there‹ shows what is actually happening in contested moments«. (Feldman 2011: 46) Solche Verschiebungen der ethnografischen Perspektive begründen auch die methodische Vielfalt einer nonlocal ethnography: Feldforschung im Sinne von teilnehmender Beobachtung stellt in diesem Falle nur eine Vorgehensweise zur Erforschung »ortloser« Rationalitäten, Apparate und Regierungslogiken dar; zu ihren Methoden gehören zugleich Interviews, Medien- und Dokumentenanalyse, Archivarbeit oder die Auswertung statistischer Daten (ebd.: 45). Mit ihrem Interesse an politischen Rationalitäten und Regierungslogiken stehen einige der hier veröffentlichten Beiträge in der Nähe zur nonlocal ethnography. So schildert Tobias Schwarz auf Grundlage der historischen Analyse von politischen Dokumenten und Diskursen die Genese einer Regierungsrationalität, welche die aktuelle Bürgerschaftspolitik der Dominikanischen Republik prägt. Sabine Hess zeigt am Beispiel eines transnationalen politischen Akteurs, dem International Centre for Migration Policy Development, wie dessen diskursive Praktiken zur Formierung neuartiger transversaler Regierungstechniken führen, die wiederum für die Genese eines EU-europäischen Apparatus des Migrationsmanagements ausschlaggebend werden. Wir betrachten Infrastructure Studies und nonlocal ethnography trotz ihrer unterschiedlichen Herangehensweisen als komplementär; beide entwickeln ihr methodisches Instrumentarium jenseits eines vereinfachenden Empirismus. Zugleich verdeutlichen sie, dass eine Anthropologie politischer Felder unterschiedliche Ausgangspunkte wählen kann, um Formationen des Politischen empirisch und analytisch zu erschließen.
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Ethnografische Momente der Reibung und Verknüpfung werden dabei als Möglichkeiten betrachtet, das Sichtbare und empirisch Greifbare mit dem Un-Sichtbaren zu verbinden, das Abstrakte zeitlich und räumlich zu situieren und damit auch hinterfragbar zu machen.
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Letztlich zielt eine Anthropologie politischer Felder auch darauf ab, Policies selbst ihrer Selbstverständlichkeit zu entheben und die ihnen eingeschriebenen Normativitäten zu problematisieren. Möglich wird dies, indem sich Forscher und Forscherin reflexiv und kritisch innerhalb der von ihnen untersuchten politischen Formationen positionieren und situativ auch an den diesen Formationen inhärenten Aushandlungen als Akteur und Akteurin teilnehmen. Dabei geht es neben dem ethnografischen Nachzeichnen eines Prozesses also auch um ein Nachdenken darüber, wie die eigene Präsenz die Beziehungen zwischen den Akteuren in einem politischen (Forschungs-)Feld beeinflussen und möglicherweise verändern kann. Wie Beate Binder in ihrem Beitrag festhält, wird die anthropologische und ethnologische Politikforschung nicht einfach mit politischen Prozessen konfrontiert; vielmehr argumentiert sie immer schon aus einem solchen Prozess heraus. So sehen wir im Einklang mit Binders Forderung nach radikaler Reflexivität das methodologische Ziel und die Herausforderung einer Anthropologie politischer Felder auch in der bewussten und fortwährenden Identifizierung von Aussichtspunkten, von denen aus sich Verflechtungen, Netzwerke, Bedeutungsproduktionen und Regierungstechniken ethnografisch beobachten lassen. Reflexivität bezieht sich hier sowohl auf die zu analysierenden Prozesse und Phänomene als auch auf die Frage nach der Positioniertheit, dem Selbstverständnis und der gesellschaftlichpolitischen Verantwortung, die eine Forscherin durch ihr Involvement in einem politischen Prozess übernimmt. Die Tatsache, dass die Anthropologie politischer Felder gesellschaftlich besonders aktuelle Themen erforscht und umkämpfte Räume betritt, macht diese Frage umso relevanter und die Grenze zwischen wissenschaftlicher Analyse und aktivistischer Intervention umso durchlässiger. Das Verhältnis zwischen der politisch-gesellschaftlichen Positioniertheit der Forscher und Forscherinnen und ihrem Anspruch, übergreifende
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Regierungslogiken und komplexe politische Formationen zu analysieren, ist dabei gewiss kein spannungsloses. Während im politischen Feld, wie Bourdieu es verstand, Entscheidungsträger und verantwortliche Akteure noch unschwer zu identifizieren sind, so ist dies mit der Pluralisierung politischer Felder und der Hinwendung des Forschungsinteresses zu komplexen und vielfältig verflochtenen Formationen des Politischen nicht mehr der Fall. Wie James Ferguson festhält, ist die Frage der gesellschaftlichen Verantwortung politischer Akteure sowie der Positionierung der Forscherin heute besonders relevant und neu zu diskutieren (Ferguson 2012). Ferguson weist darauf hin, dass Verantwortung in der Anthropologie traditionell Nationalstaaten und »Gesellschaften« zugeschrieben war, die räumlich und politisch als klar identifizierbare Größen galten. Mit der Transformation der Nationalstaaten und dem veränderten Verständnis von Politik und Macht wurde sowohl das Konzept der Gesellschaft als auch der Begriff des Sozialen einer kritischen Diskussion unterzogen oder gar für obsolet erklärt (Rose/Miller 2008). Politische Verantwortung lässt sich entsprechend heute nicht mehr in gleicher Weise auf einfach zu definierende soziale Einheiten oder eindeutig identifizierbare Akteure beziehen. Zugleich kann eine Disziplin wie die Anthropologie, so Ferguson, auch nicht ohne die Idee einer sozialen Kausalität existieren, sondern muss nach neuen Formen des Sozialen suchen und neue Wege finden, Gesellschaftlichkeit und Verantwortung zu verbinden (Ferguson 2012: 562). Wie also ließen sich konkrete Adressaten einer politischen Kritik bestimmen? Und sollte eine anthropologische oder ethnologische Politikforschung dies tun? Wenn bestimmte Ausgrenzungen und Repressionen nicht auf konkrete Akteure und Netzwerke zurückgeführt werden können, bedeutet dies dann, dass die politischen Zentren und Eliten ebenso aus ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zu entlassen wären wie die Forschung selbst? Welche Formen politischen und gesellschaftlichen Engagements sind für Forscherinnen und Forscher und ihre Disziplinen denkbar, wenn die Kausalität politischer Prozesse uneindeutig, situativ oder gar nicht vorhanden zu sein scheint? Der Blick auf die Formationen des Politischen und auf die materielle Form ihrer Infrastrukturen der Macht stellt Forscherinnen und Forscher vor die Aufgabe, soziale Kausalitäten und Konstellationen neu zu denken und sichtbar zu machen. Wenn sich eine Anthropologie politischer Felder als aus der Politik heraus forschend verstehen möchte, dann ist ein Nachdenken darüber notwendig, wie die eher kausal und abgrenzbar gedachten, akteursorientierten
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Konzeptionalisierungen eines politischen Feldes (wie etwa bei Bourdieu) mit den als heterogen, prozessual und situativ konzipierten Formationen (den Apparaten, Assemblagen und Machtformen bei Foucault 2004, Rabinow 2003 oder Collier/Ong 2005) in Verbindung gebracht werden könnten. Denn genau diese Verbindung zwischen konkreten Akteursnetzwerken und Kausalitäten einerseits und den scheinbar neutralen und abstrakten Materialitäten andererseits ergibt ein ethnografisches Raster (ethnographic grid), welches das strategische Manövrieren und die radikale Reflexivität der Forscherin oder des Forschers ermöglicht. Wenn eine (Macht-)Formation oder Infrastruktur als materiell greifbarer und ethnografisch beobachtbarer Effekt der durch Policies ausgelösten Verknüpfungen zu verstehen ist, dann stellt sich mit der Frage nach der Materialität des Politischen zugleich auch die Frage nach Moral und Verantwortung. Die Herausforderung für eine Anthropologie politischer Felder besteht somit auch darin, das Materielle und das Moralische zur Deckung zu bringen (Ferguson 2012: 562) – ein Ziel, das durch die ethnografische Auseinandersetzung mit Politik und Macht erreicht werden kann.
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I.
(Trans-)Formationen staatlicher Politiken
Das Ende der Hauptschule in Berlin Zur ideologischen Dimension von Bildungsmythen Stefan Wellgraf
Bildungspolitik gehört zu den am stärksten umstrittenen politischen Feldern. Sowohl die Inhalte und Vermittlung von Bildung als auch die Strukturen von Bildungssystemen und Bildungsinstitutionen werden in häufig vehement geführten Kontroversen stets neu verhandelt. In staatlichen Institutionen wie Schulen und Universitäten wird über die Auswahl und Weitergabe des kulturellen Erbes das nationale Selbstverständnis reproduziert und gleichzeitig nimmt das Bildungssystem eine wichtige Rolle in der Zuweisung von Statuspositionen und somit im Prozess sozialer Reproduktion ein. Eine Anthropologie von Bildungspolitik sollte, auch wenn sie sich auf konkrete Fälle fokussiert, diese spannungsvolle Verschränkung von Versuchen nationalstaatlicher Selbstvergewisserung mit Mechanismen sozialer Spaltung im Blick behalten. Das Feld der Berliner Hauptschule und die theoretischen Begriffe Ideologie und Mythos dienen mir im Folgenden dazu, diese in einem grundlegenden Sinne politische Dimension von Bildungspolitik kenntlich zu machen. Das Feld der Berliner Schulpolitik ist durch fortlaufende Neuarrangements und eine dementsprechend starke Veränderungsdynamik gekennzeichnet. Hauptschulen stehen spätestens seit dem als unrühmlich wahrgenommenen Abschneiden Deutschlands bei der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 sowie den darauffolgenden internationalen und nationalen Bildungsrankings in der Kritik. Hinzu kamen hitzige Mediendebatten, wie etwa jene um die Neuköllner Rütli-Schule im Jahr 2006. In verschiedenen Bundesländern steht seitdem die Abschaffung der Hauptschule auf der politischen Agenda. In Berlin wurde dieser Schritt im Jahr 2010 mit einer Schulstrukturreform vollzogen, in deren Zuge die Hauptschule durch das Modell einer integrierten Sekundarschule ersetzt wurde, welches die
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bisherigen Haupt-, Real- und Gesamtschulen zu einer Ganztagsschule zusammenfasst. Eine ideologiekritische Perspektive auf das Ende der Hauptschule in Berlin macht die Art und Weise kenntlich, in der Schulpolitik Machtverhältnisse reproduziert und Subjektivierungsmodelle propagiert. Dabei stellt sich die Frage, wie es dem Schulsystem gelingt einerseits systematisch Ungleichheiten zu reproduzieren und gleichzeitig den Eindruck zu vermitteln, Bildung stehe für die Emanzipation von herkunftsbedingten Einschränkungen und für gesellschaftliche Aufstiegsmöglichkeiten. Der machtvolle Mythos von Bildung als individueller Chance erscheint in dieser Blickweise als pure Ideologie. Bildungsideologien werden zunächst am Beispiel von ethnografischen Beobachtungen in einer Hauptschule in Berlin-Wedding im Schuljahr 2008/09 – ich anonymisiere und nenne sie die Anna-Seghers-Schule – und Bildungsmythen anschließend anhand der dort im Unterricht häufig verwendeten Publikationen der von der Bundesanstalt für Arbeit herausgegebenen Planet-Beruf-Reihe analysiert. Dieses Material wurde im Rahmen einer insgesamt 18-monatigen Feldforschung zu Berliner Hauptschülern in den Bezirken Lichtenberg, Neukölln und Wedding erhoben (vgl. Wellgraf 2012). Mir ging es dabei zunächst um ein Nachzeichnen der Umgangsweisen von Hauptschülern mit Stigmatisierungen und beständigen Demütigungen. Mehr und mehr interessierte ich mich im Verlauf dieser Forschung auch für die institutionellen Bedingungen, in denen die Ausgrenzung und Abwertung von Hauptschülern produziert wurde und gelangte auf diese Weise zu den hier vorgestellten Überlegungen zur Bildungspolitik. Die Berliner Hauptschule eignet sich gerade aufgrund ihrer Abwicklung als Untersuchungsfeld. An einigen Berliner Hauptschulen fand während meiner Forschung kaum noch Unterricht im Sinne einer systematischen Vermittlung von Lehrinhalten statt, da die Hauptschule in den Augen von Schülern und zum Teil auch der Lehrer ihre Glaubwürdigkeit bereits weitgehend verloren hatte, und es aufmüpfigen Schülern immer wieder gelang, den Unterricht lahmzulegen. In dieser Phase der verstärkten ideologischen Brüchigkeit wurden Fragen danach, was Schule bewirkt, wie sie funktioniert und wofür Bildung stehen sollte, in der Hauptschule selbst in zum Teil bemerkenswerter Offenheit artikuliert. Es soll deshalb hier nicht nur nachgezeichnet werden, wie Bildungsideologien und Bildungsmythen ihre Wirksamkeit entfalten, sondern auch, wie sie in bestimmten historischen Konstellationen wieder an Überzeugungskraft
D AS E NDE
DER
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IN
B ERLIN
verlieren können. Eine solche Perspektive auf ideologische Bruchstellen soll gleichzeitig veranschaulichen, was ein anthropologischer Blick auf das umstrittene Feld der Schulpolitik leisten kann.
I DEOLOGIE : D AS
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In den Augen seiner Kritiker reproduziert und legitimiert das staatliche Schulsystem in Deutschland herkunftsbedingte Ungleichheiten (Solga 2008). Gleichzeitig scheint die sogenannte »allgemeinbildende« Schule jedoch an universellen Bildungsidealen ausgerichtet zu sein und gilt weithin als eine überparteiliche, allen Bevölkerungsgruppen offenstehende Institution. Dabei wird häufig aus dem Blick verloren, dass Bildung selbst keine klassenneutrale Kategorie ist und zudem die Startvoraussetzungen und Zugangsmöglichkeiten zu staatlich anerkannten Bildungskarrieren ungleich verteilt sind. Mit Hilfe von Schulnoten, Zeugnissen und Beurteilungen zertifizieren Bildungsinstitutionen bestehende Ungleichheiten und liefern auf diese Weise staatlich anerkannte Selektionskriterien für den Arbeitsmarkt. In der Zuschreibung von Bildungserfolg als individuelles Leistungsmerkmal liegt der ideologische Zug des Bildungssystems verborgen. Bildung gilt demnach als Ausdruck von Begabung, Motivation oder Intelligenz. Gesellschaftlich bedingte Ungleichheiten werden auf diese Weise naturalisiert und schulischer Misserfolg der Verantwortung des Einzelnen zugeschrieben. Ideologie kann deskriptiv zunächst als ein mehr oder weniger geschlossenes Überzeugungssystem verstanden werden, dem in einer kritischen Lesart jedoch meist vorgeworfen wird, gesellschaftliche Konflikte zu verschleiern. In dieser hier angewendeten kritischen Perspektive steht Ideologie für ein normatives Set von handlungsleitenden Ideen und Zielvorstellungen, das bestehende Machtverhältnisse gleichsam legitimiert und verschleiert. Mit Louis Althusser und Pierre Bourdieu haben zwei französische Wissenschaftler in den 1960er und 1970er Jahren auf jeweils unterschiedliche Weise die ideologische Dimension von staatlichen Bildungseinrichtungen herausgearbeitet. Der Philosoph Louis Althusser bezeichnet das Bildungssystem als einen »ideologischen Staatsapparat« (Althusser 1977: 119). Staatsapparate fördern und sichern die Unterwerfung unter die herrschende Ideologie und die Reproduktion des Klassensystems (Althusser 1977: 112). Die Schu-
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le dient in dieser Sichtweise der Einübung in die Produktionsverhältnisse und somit der Unterwerfung unter den herrschenden Kapitalismus. Althusser unterscheidet zwischen »repressiven Staatsapparaten« wie der Polizei und dem Militär sowie »ideologischen Staatsapparaten« wie dem Bildungssystem, der Kirche und den Massenmedien. Der »schulische ideologische Staatsapparat« nimmt für Althusser im Zusammenspiel mit der Familie im entwickelten Kapitalismus eine Schlüsselstellung in der Reproduktion von Ausbeutungsverhältnissen ein (Althusser 1977: 126ff.). Etwa zur gleichen Zeit kommt der Sozialwissenschaftler Pierre Bourdieu im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem französischen Bildungssystem zu einem ähnlichen Ergebnis: Auch er sieht die gesellschaftliche Funktion des Bildungssystems in der Reproduktion eines auf machtbedingter Ungleichheit basierenden Klassensystems (Bourdieu/ Passeron 1970). Gerade die relative Autonomie des Bildungssystems verschleiert Bourdieu zufolge seine gleichzeitige Abhängigkeit von eben diesem Klassensystem und ermöglicht somit dessen spezifischen Beitrag zur Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung. Dieser besteht vor allem in der durch die pädagogische Autorität des Lehrers vermittelten Weitergabe und Zertifizierung von kulturellem Kapital. Diesen Prozess bezeichnet Bourdieu als eine Form der symbolischen Gewalt, da in ihm arbiträre, die herrschenden sozialen Schichten bevorteilende Bewertungsmaßstäbe unter dem falschen Banner der Universalität durchgesetzt werden (Bourdieu/ Passeron 1970: 22ff.). Symbolische Gewalt und Habitus bewirken gleichzeitig auf subtile Weise ein Sich-Einfügen der von Seiten der Schule benachteiligten Bevölkerungsgruppen in die bestehende Ordnung: die Anerkennung der schulischen Wertmaßstäbe und die Herausbildung eines mit der zugewiesenen sozialen Stellung kompatiblen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsmusters. Sowohl Althusser als auch Bourdieu entwickeln ihre kritische Einschätzung des Bildungssystems in der Auseinandersetzung mit der IdeologieKritik von Karl Marx. Dieser hatte in Schriften wie Die Deutsche Ideologie und Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte in der Mitte des 19. Jahrhunderts betont, dass der moderne westliche Staat und seine Institutionen keine neutralen und überparteilichen Instanzen sind, sondern die Interessen der Bourgeoisie gegenüber der Arbeiterklasse vertreten. Angesichts der gescheiterten Revolution von 1848 beschäftigte sich Marx zunehmend mit der Frage, warum bestimmte Gruppen Ideen vertreten, die nicht in ihrem Interesse liegen und entwickelte, aufbauend auf einer – heute nicht
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mehr überzeugenden – Unterscheidung zwischen einem universalen Interesse des Proletariats und dem partikularen Interesse der Bourgeoisie, ein Verständnis von Ideologie als einer Form der Organisation des Sozialen auf der Grundlage der partikularen Interessen der herrschenden Klasse. Die an die Überlegungen von Marx anschließende Ideologie-Kritik erreichte in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt, geriet jedoch seit den 1980er Jahren zeitweise aus der Mode. Die berechtigte Kritik an der Ideologie-Kritik lautete, dass die Entlarvung ideologischer Mechanismen einen erhöhten Beobachterstandpunkt beanspruche und somit selbst ideologisch sei (Žižek 1994: 3). Die Aufdeckung von verschleierten Machtverhältnissen und dem »falschen Bewusstsein« der Unterdrückten lege demnach nahe, dass man selbst das richtige Bewusstsein habe und die richtige – marxistisch inspirierte – Gesellschaftsordnung vertrete. In der spät- oder postmodernen Gesellschaft lässt sich dagegen kaum noch auf eine so eindeutige Art und Weise zwischen Gut und Böse unterscheiden, wie es beispielsweise die klassenkämpferische Rhetorik eines Louis Althusser nahelegt. Bildungssoziologen wie Margaret Archer haben zudem neo-marxistische Deutungen des Schulsystems dahingehend kritisiert, dass diese sowohl strukturelle Unterschiede zwischen den Bildungssystemen verschiedener Nationalstaaten als auch deren jeweils spezifische historische Entwicklungslinien vernachlässigen (Archer 1989). Bourdieus universale Theorie der sozialen Reproduktion durch Bildung erscheint in dieser Blickweise als ahistorisch und ethnozentristisch. Strukturelle Reformen von Bildungssystemen haben darin ebenso wenig einen Platz wie beispielsweise die Unterschiede zwischen dem zentralistischen Bildungssystem Frankreichs und dem föderal organisierten Bildungsmodell in Deutschland. Auch in historischen Studien wird die Entstehung des modernen Bildungssystems, als dessen Prototyp übrigens die preußische Volksschule des 18. Jahrhunderts gilt, weniger als linearer Prozess oder als Ausdrucksform vorgängiger ökonomischer Machtinteressen interpretiert, sondern als eine improvisierte, national stark divergierende Assemblage neuer administrativer Technologien mit vorhergehenden Formen pastoraler Führung (Hunter 1994). Die Kritik an Autoren wie Althusser und Bourdieu bedeutet jedoch nicht, dass deren grundlegende Einschätzungen zur Funktion des staatlichen Bildungssystems an Bedeutung verloren hätten. Vielmehr haben vergleichende Studien wie PISA (2006) und IGLU (2006) dem deutschen Bildungssystem in den letzten Jahren immer wieder Tendenzen zu sozia-
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ler Schließung attestiert und damit auch der ideologiekritischen Perspektive neue Aktualität verliehen (OECD 2006, Bos et al. 2006). Diese kann jedoch nicht mehr im Gestus eines verallgemeinernden Rundumschlages vorgetragen werden, sondern muss auf einer genauen Verortung der zu analysierenden Bildungsprozesse basieren.1 Zugleich gilt es nicht nur das Funktionieren, sondern auch das Brüchigwerden von Ideologien sowie das partielle Scheitern von ideologisch gestützten Reproduktionsmechanismen in den Blick zu nehmen. Um diese für eine Anthropologie politischer Felder zentralen Fragen von Ideologie, Macht, Subjektivierung und Kritik an einem konkreten Fall zu diskutieren, konzentriere ich mich deshalb im Folgenden auf die Situation der Anna-Seghers-Hauptschule in BerlinWedding im Schuljahr 2008/09. Beginnen wir zunächst mit einer Unterrichtszene, an dem sich die ideologische Dimension von schulischen Bildungsprozessen besonders gut veranschaulichen lässt: Im Geografie-Unterricht der Klasse 10b sollen die Schüler ein Arbeitsblatt mit dem Titel »Ein Überblick über unsere Heimat« ausfüllen. Viele von ihnen kennen jedoch nicht die Namen der darauf eingezeichneten Bundesländer und deren Hauptstädte, woraufhin sich folgender Dialog entwickelt: Marian: »Wir sind so dumm.« Frau Schnur: »Ihr seid nicht dumm, ihr seid nur faul. Meine Tochter ist am Gymnasium und arbeitet manchmal bis Nachts um Eins.« Hussein: »Das ist Ihre Welt, aber Sie kennen nicht unsere.« Imad: »Kann ich mich mit Ihrer Tochter vergleichen?« Frau Schnur: »Natürlich. Aber wenn man immer nur bei MSN am Chatten ist, dann lernt man auch kein Deutsch, das ist abgebrochene Gossensprache.« Imad: »Sie kriegt ihren Abschluss, ich nicht. Ist doch ok.« Frau Schnur: »Ihr seid selbst Schuld, ihr habt einfach nicht gelernt. Ihr habt keine Verantwortung für eure Schulaufgaben übernommen.«
Die Unterrichtssituation, in deren Kontext sich dieser Wortwechsel abspielt, ist bereits in dem Sinne ideologisch, dass die kartografische Darstellung Deutschlands auf dem Arbeitsblatt mit einem sprachlichen Verweis auf »Heimat« verbunden wird. Dabei sollte man berücksichtigen, dass keiner der anwesenden Schüler ethnisch deutscher Herkunft ist und mehrere 1 | Für ein Plädoyer zur Wiederbelebung der Ideologiekritik siehe Jaeggi 2009.
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von ihnen nicht dazu berechtigt sind, die deutsche Staatsbürgerschaft zu erwerben. Die im Geografie-Unterricht angewendeten Bewertungsmaßstäbe basieren folglich auf einem nationalstaatlich definierten Bildungskanon, der Schüler nichtdeutscher Herkunft von vornherein benachteiligt. Dessen ungeachtet empfinden die Schüler ihre Unkenntnis über die Bezeichnungen von Bundesländern und ihrer Hauptstädte auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland als persönliches Defizit. In Bemerkungen wie »wir sind so dumm« wird die subjektivierende Wirkung von Bildungsideologien erkennbar: Hauptschüler und Migranten werden als Bildungsverlierer kategorisiert und schreiben sich dennoch selbst die Schuld für ihr Scheitern zu, sie transformieren also die gesellschaftlichen Zuschreibungen in ein negatives Selbstbild. Der Lehrerin kommt im Prozess negativer Fremd- und Selbstzuschreibungen eine entscheidende Rolle zu: Sie agiert in dieser Szene ungewollt als eine Art ideologisches Sprachrohr, indem sie den schulischen Misserfolg in erster Linie der mangelnden Motivation der Schüler zuschreibt. Sie erwähnt das Beispiel ihrer Tochter, die ein Gymnasium besucht, mit der Absicht die Schüler zu motivieren. Die Schüler protestieren jedoch gegen diesen als ungerecht empfundenen Vergleich. Ihre Bemerkungen deuten ein Bewusstsein dafür an, dass die Tochter der Lehrerin im Gegensatz zu ihnen unter vorteilhaften Bedingungen in den Wettbewerb um Bildungsabschlüsse eintritt. Die Lehrerin lässt das Argument einer ungleichen Chancenverteilung jedoch nicht gelten und verweist stattdessen mit Nachdruck auf die individuelle Verantwortung für Erfolge und Misserfolge in der Schule. Die von der pädagogischen Autorität der Lehrerin maßgeblich bestimmte Form des Dialogs verdeutlicht die doppelte ideologische Dimension von Sprache, auf die Pierre Bourdieu in seinem Buch Was heißt sprechen? hingewiesen hat. Die erste ideologische Dimension besteht darin, dass Deutsch innerhalb der Grenzen des deutschen Nationalstaates als offizielle Amtssprache gilt, gegenüber der alle anderen Sprachvarianten abgewertet werden. Bourdieu argumentiert, dass die Einführung, Systematisierung und Durchsetzung der sogenannten Nationalsprache als ein staatliches Herrschaftsmittel zu verstehen ist, bei dem Schulen als den privilegierten Orten der Vermittlung und Messung von Sprachkenntnissen eine entscheidende Rolle zukommt. Die als mangelhaft empfundenen Deutschkenntnisse der Hauptschüler werden in dieser Szene von der staatlich autorisierten Lehrerin mit Devianz und Unreinheit, mit übermäßigem Medienkonsum sowie mit der räumlichen Sphäre der Straße
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assoziiert und auf diese Weise diskreditiert. Die Gosse, eine altmodische Bezeichnung für eine Abflussrinne, steht in diesem Zusammenhang als Hinweis für sprachliche Verwahrlosung und weist den Schülern symbolisch einen Platz im sozialen Unten zu. Durch die Bemerkungen der Lehrerin wird deutlich, wie mit Hilfe von Sprache soziale Kategorisierungen reproduziert werden. Die zweite ideologische Dimension betrifft die Situation der Sprecher im Rahmen des Unterrichtsgesprächs: Selbst wenn die Schüler sich im Sinne der herrschenden Sprachnormen korrekt artikulieren und zudem gute Argumente auf ihrer Seite haben, wird ihre Meinung aufgrund von mangelndem symbolischen Kapital nicht anerkannt. Der zitierte Wortwechsel kann dabei als typisch für den im deutschen Schulsystem vorherrschenden Diskussionsstil gelten: für das autoritäre Unterrichtsgespräch, bei dem die Schüler zwar die Möglichkeit erhalten ihre individuellen Standpunkte einzubringen, die Ergebnisse der Diskussion jedoch von vornherein feststehen und das Allgemeingültige vom Lehrpersonal in autoritärer Weise bestimmt wird.2 Überraschend und gleichsam ein wenig unheimlich wirkt in der beschriebenen Unterrichtsszene die Bemerkung eines Schülers: »Sie kriegt ihren Abschluss, ich nicht. Ist doch ok.« Die Äußerung zielt möglicherweise darauf, den als demütigend und nervend empfundenen Monolog der Lehrerin zu beenden. Zudem kommt darin eine negative Haltung von Imad gegenüber der Schule zum Ausdruck. Darüber hinaus finden sich in diesem Kommentar eines Hauptschülers Versatzstücke dessen, was der Philosoph Slavoj Žižek als eine zynische und eine kynische Position bezeichnet. Im Gegensatz zum klassischen Ideologieverständnis von Karl Marx geht Žižek nicht von einer grundsätzlichen Naivität der Unterdrückten aus, also von ideologisch Verblendeten, die ihre Situation nicht begreifen und folglich der Führung durch andere benötigen. Žižek argumentiert vielmehr, dass in modernen westlichen Gesellschaften ein Bewusstsein für die Diskrepanz zwischen den ideologischen Verheißungen und der sozialen Realität existiert. Im Anschluss an Peter Sloterdijk unterscheidet Žižek zwischen dem Zyniker und dem Kyniker (Sloterdijk 1983, Žižek 1989: 2 | Werner Schiffauer hat auf der Basis einer europäischen Vergleichsstudie nationalstaatliche Unterschiede in der vorherrschenden Unterrichtsmethode herausgestellt: In Frankreich dominiert demnach Frontalunterricht, in den Niederlanden die freie Diskussion, in Großbritannien Gruppenarbeit und in Deutschland das Unterrichtsgespräch (Schiffauer 2001: 240).
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25ff.). Der Zyniker vertritt die dominierende Position und gleichzeitig die herrschende Ideologie unserer Zeit. Zyniker sind sich der durch ihr Handeln gestützten Machtverhältnisse und gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten durchaus bewusst und machen dennoch wie gewohnt weiter. Einige Lehrer an der Anna-Seghers-Schule könnte man in diesem Sinne als Zyniker bezeichnen. Sie räumen beispielsweise im persönlichen Gespräch immer wieder ein, dass kaum ein Schüler dieser Schule die Chance habe, einen erfolgversprechenden Schulabschluss zu erwerben und dass das über die neunjährige Schulpflicht hinausgehende zehnte Schuljahr deshalb für die meisten Schüler »sinnlos« und »pure Zeitverschwendung« sei. Der Kyniker rebelliert dagegen von einer marginalisierten Position gegen die Scheinheiligkeit ideologischer Versprechungen. Die Aufmüpfigkeit von Hauptschülern kann als Ausdruck dieser populären Subversion der offiziellen Ideologie interpretiert werden. Sowohl Zyniker als Kyniker nehmen die Scheinheiligkeit von ideologischen Versprechungen wahr, agieren jedoch von unterschiedlichen Machtpositionen aus. Der Kynismus von Imad wirkt in diesem Fall gerade deshalb so zielsicher, da er den meist versteckten Zynismus der Herrschenden aufnimmt und auf trotzige Weise artikuliert. Die Selbstbezeichnung als dumm tritt, wie die folgende Szene illustriert, auch in anderen Unterrichtssituationen immer wieder auf: Frau Schnur: »Manche von euch können ja nicht einmal richtig ausschneiden und kleben.« Mohamad: »Weil wir doch dumm sind.« Frau Schnur: »Ich habe nicht gesagt, dass ihr dumm seid. So was lernt man im Kindergarten. Wer von euch war denn im Kindergarten?« (Drei Schüler melden sich.) Frau Schnur: »Und wer war nicht im Kindergarten?« (Mehrheit der Klasse meldet sich.) Frau Schnur: »Meint ihr es ist gut, in den Kindergarten zu gehen?« Mehrere Schüler: »Ja« Hussein: »Das beste war der Mittagsschlaf.« Schüler: »Da lernt man lesen. Die reden die ganze Zeit Deutsch. Die können viel besser Deutsch als wir.« Frau Schnur: »Genau, als kleines Kind lernt man eine Sprache viel leichter. Ab wann konntet ihr denn eure Schuhe zubinden?« Mehmet: »Mit fünf, ich schwöre.«
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Hussein: »Meine Mutter hat mir einfach immer Klebeband drüber gemacht.« Frau Schnur: »Ich kann euch nur empfehlen, eure Kinder in den Kindergarten zu schicken, wenn ihr mal Kinder habt. Das macht Spaß, da feiert man viele Feste und lernt sich an Regeln zu halten. Ihr habt damit Schwierigkeiten, weil ihr das nicht so gewohnt seid. Viele Regeln sind natürlich auch Unsinn, man muss sich aber auch mal an unsinnige Regeln halten. Das ist halt so.«
Die Bezeichnung »weil wir doch dumm sind« hat in dieser spezifischen Situation eine andere Konnotation. War sie im Geografie-Unterricht ein Ausdruck der wahrgenommenen tatsächlichen Unkenntnisse in Bezug auf die Bezeichnungen der deutschen Bundesländer, dient sie in diesem Fall einem durchaus zum Schneiden und Kleben fähigen Schülers als willkommene Ausrede, um sich nicht an einer Übung beteiligen zu müssen, bei der Sätze von einem Arbeitsblatt ausgeschnitten und anschließend in der richtigen Reihenfolge auf ein neues Blatt aufgeklebt werden sollen. Die Lehrerin interpretiert die Äußerung des Schülers nicht als eine implizite Kritik an der gestellten Aufgabe, sondern nutzt sie als Anlass zu einem zumindest den arbeitsunwilligen Schülern in dieser Situation durchaus willkommenen Unterrichtsgespräch. In Reaktion auf die Bemerkung Mohamads verweist Frau Schnur dieses Mal nicht auf die mangelnde Motivation der Schüler, sondern auf deren aus ihrer Sicht fehlgeleitete Sozialisation. In ihren rhetorischen Fragen, die bereits die als korrekt geltenden Antworten der Schüler vorwegnehmen, wird erneut die autoritäre Tendenz des Unterrichtsgesprächs deutlich. Hussein unterläuft die absehbare Lobrede der Lehrerin auf den Kindergarten mit seinem Hinweis auf den dort gehaltenen Mittagsschlaf. Zudem nimmt er die impliziten Negativ-Urteile der Lehrerin in Bezug auf die häusliche Erziehung der Schüler in der ironischen Bemerkung auf, seine Mutter hätte ihm lediglich mit Klebeband die Schuhe geschlossen. Die Bemerkungen der Lehrerin zielen auf die Bedeutung vorschulischer und außerschulischer Erziehung. Althusser hätte in diesem Zusammenhang wohl vom ideologischen Staatsapparat des Kindergartens sowie vom Nexus zwischen Schule und Familie gesprochen, der ihm zufolge im Verlauf des 20. Jahrhunderts die Verbindung von Schule und Kirche als ideologische Zentralachse abgelöst habe (Althusser 1977: 126ff.). Positionen innerhalb des Bildungssystems werden in dieser Sichtweise vor und außerhalb der Schule prädisponiert und anschließend im Rahmen des benoteten Schulunterrichts zertifiziert. Die Schüler, von denen eini-
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ge erst seit wenigen Jahren in Deutschland leben, erreichen aus der Sicht der Lehrerin auch deshalb keine schulischen Erfolge, da ihnen der dafür notwendige nationalstaatlich-familiäre Hintergrund fehlt. Die Lehrerin artikuliert somit, allerdings in affirmativer Weise, Grundprämissen der Ideologie-Kritik, der zufolge Schulkarrieren maßgeblich vom kulturellen und sozialen Kapital der Schüler abhängen. Die ideologische Dimension der beobachteten Unterrichtsszene zeigt sich mit besonderer Deutlichkeit in der den Wortwechsel abschließenden Betonung der Notwendigkeit des Einhaltens von Regeln. In der eben geschilderten Szene wird von Seiten der Lehrerin durchaus eingestanden, dass Regeln vielfach unsinnig seien, aber das Regelprinzip selbst wird dennoch vehement verteidigt. In der etwas grotesk anmutenden Tautologie, der zufolge Regeln nun einmal Regeln seien und deshalb befolgt werden müssten, verbirgt sich eine grundlegende Bestätigung der sozialen Ordnung, unabhängig davon, ob diese als gerecht oder als ungerecht angesehen wird. Slavoj Žižek vergleicht diese Form des Autoritätsgehorsams mit der Praxis eines religiösen Rituals, welches gerade aufgrund seiner Äußerlichkeit und Unverständlichkeit eine unbewusste Affirmation von Autorität mit sich bringt (Žižek 1989: 33ff.). Die Ideologie des staatlichen Bildungssystems besteht darin, zwar scheinbar demokratisch organisiert zu sein, letztlich jedoch vor allem die Interessen der privilegierten Schichten zu stützen. Die negative Selektion von Hauptschülern innerhalb des dreigliedrigen deutschen Schulsystems geht einher mit abwertenden Zuschreibungen von Hauptschullehrern gegenüber ihren Schülern, bei der Sprache und Sprecherpositionen eine entscheidende Rolle zukommen. Schüler begegnen diesen Demütigungen und Abwertungen auf unterschiedliche Weise, was beispielhaft an der je nach Situation variierenden Bedeutung der Selbstbezeichnung als »dumm« zum Ausdruck kommt: Zum einen steht diese für die Transformation von gesellschaftlichen Stigmatisierungen in ein negatives Selbstbild und beschreibt somit einen Herrschaftseffekt, bei dem die Beherrschten selbst die Wertmaßstäbe der Herrschenden akzeptieren und auf sich beziehen. Zum anderen steht die Bezeichnung für einen ironischen, kynischen oder eher spielerischen Umgang mit negativen Kategorisierungen, der mitunter von einer impliziten Kritik der Machtverhältnisse und seiner ideologischen Verschleierungen begleitet wird. Gerade im widerständigen und provozierenden Verhalten der Schüler wird deutlich, dass die Reproduktion der Machtverhältnisse durch staatliche Institutionen wie die Schu-
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le nicht reibungslos verläuft. In der Hauptschule geraten gesellschaftliche Reproduktionsmechanismen ins Stocken, da einige Schüler die dafür notwendige ideologische Unterwerfung verweigern.
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Die Annahme eines »falschen Bewusstseins« ist eines der zentralen Probleme einer zeitgemäßen Kritik von ideologischen Mechanismen in politischen Feldern. Gerade Anthropologen, denen es darum geht, die Selbstwahrnehmungen und Praktiken von marginalisierten Gruppen in den Mittelpunkt der Analyse zu stellen, können ihre Interviewpartner nicht einfach als politisch naiv oder ideologisch verblendet abwerten. Im vorigen Abschnitt wurde bereits auf die Ambivalenz und Vieldeutigkeit der Selbstbezeichnung als »dumm« hingewiesen und somit die These vom falschen Bewusstsein um eine auf ethnografischer Forschung basierenden differenzierten Betrachtung von Selbstwahrnehmungen ergänzt. Im Folgenden sollen die Versprechungen der Schule und des Bildungssystems als eine Form moderner Mythenbildung betrachtet und auf ihre ideologische Funktion hin befragt werden. Mythen waren ein zentrales Thema der klassischen Ethnologie, doch wurden sie selten in der westlichen Moderne verortet. Vielmehr machte in der Frühphase der Ethnologie die Beobachtung von scheinbar »exotischem« Mythenglauben den Fremden noch fremder und konstruierte ihn als Gegenstück zum rationalen europäischen Wissenschaftler (Rapport/ Overing 2007). Émile Durkheim beobachtete zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ordnungsstiftende Kraft von mythischem Glauben in traditionalen Gesellschaften, während Claude Lévi-Strauss in den 1960er Jahren versuchte, die elementaren Strukturen vornehmlich indigener Mythen herauszuarbeiten (Durkheim 1994, Lévi-Strauss 1967). Der französische Semiotiker Roland Barthes stellte dagegen in seinem Buch Mythologies aus dem Jahr 1957 eine Vielzahl moderner Alltagsmythen in den Fokus und wies gleichzeitig auf deren ideologische Funktion hin. So zeigte Barthes beispielsweise, dass die Reiseführer seiner Zeit stets »malerische Landschaften« und Orte der sogenannten »Hochkultur« wie Kirchen oder Museen anpriesen und auf diese Weise dazu beitrugen, den Mythos und die Ideale der bürgerlichen Bildungsreise des 19. Jahrhunderts fortzuschreiben (Barthes 1964: 59ff.).
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Eine besonders produktive Sphäre moderner Mythenbildung ist das Bildungs- und Ausbildungssystem. Die ideologische Funktion von Bildungseinrichtungen wie der Schule basiert auf der Existenz von machtvollen Bildungsmythen. Bildungsmythen kreisen häufig um Vorstellungen vom sozialen Aufstieg (»vom Tellerwäscher zum Millionär«) und folgen in der Regel einem meritokratischen Leitbild, in dem Bildung als eine Chance begriffen wird, deren Gebrauch von der Initiative des Einzelnen abhängt. Die Bildungssoziologin Heike Solga hat jedoch darauf verwiesen, dass die Idee eines fairen und lediglich auf individueller Leistung basierenden Wettbewerbs selbst ein Mythos ist. Bildungsmythen sollen an dieser Stelle am Beispiel des staatlichen Ausbildungsmagazins Planet Beruf sowie verwandter Publikationen diskutiert werden. Diese werden von Hauptschullehrern häufig zur Gestaltung des Unterrichts verwendet und können, auch angesichts des weitgehenden Verzichtes auf Schulbücher an der Anna-Seghers-Schule, als eine Art Schulbuch für die Hauptschule verstanden werden. Das Ausbildungsmagazin Planet Beruf wird alle zwei Monate von der in Nürnberg ansässigen Bundesagentur für Arbeit herausgegeben und ist an Schüler adressiert, die Hilfe beim Berufseinstieg benötigen. Die Auflage liegt bei etwa 850.000 Stück. Der Erwerb der Hefte ist für die Schüler kostenfrei, sie werden in der Regel von Lehrern während des Faches »Berufsorientierung« in der Klasse verteilt und anschließend laut vorgelesen. Hinzu kommen Sonderhefte wie das Themenheft Hauptschule – Ausbildung nach der Schule, Berufe live und Ausbildungsplatz finden, die ebenfalls zur Publikationsreihe von Planet Beruf gehören und im Folgenden genauer betrachtet werden. Darüber hinaus gibt es auch Broschüren für Lehrer und Eltern sowie vielfältige Angebote auf der Website www.planet-beruf.de. Auf der Titelseite des Themenhefts Hauptschule – Ausbildung nach der Schule prangt in großen Buchstaben die Überschrift: »DU HAST ES IN DER HAND«. Dazu sind die Gesichter des Komikers Mario Barth, der Sängerin LaFee und des Serien-Schauspielers Lars Steinhöfel zu sehen. Der Inhalt der 36-seitigen Publikation ist in drei Abschnitte gegliedert, die mit Schule, Übergang erleichtern und Berufswelt betitelt sind. Dazwischen sind Interviews mit den »Stars« vom Titelblatt eingefügt: Von Mario Barth heißt es darin: »Das Wichtigste ist, einfach an sich selbst zu glauben. Wenn man es will, dann schafft man es auch.« LaFee ermahnt die Schüler: »Wer einen Traum hat, sollte nie aufgeben, sondern weiter daran arbeiten und für sein Ziel kämpfen.« Und Lars Steinhöfel rät: »Mit Selbstvertrauen klappt’s.«
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Im Abschnitt Schule werden die Beispiele von erfolgreichen Schülern vorgeführt, die »durch Mühe und Arbeit« einen guten Schulabschluss und anschließend einen Ausbildungsplatz erhalten haben. Unter der Überschrift Vom Hauptschulabschluss zur Hochschulreife wird von Julia berichtet, einer Hauptschulabsolventin, die sich im Rahmen einer »Berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme« (BvB) für ein Studium qualifizierte. In der Rubrik Übergang erleichtern wird in ähnlicher Weise von Schülern berichtet, die für »Einsatz und Ausdauer« mit einem Ausbildungsplatz belohnt wurden: So berichtet Michael, dass er bei seinem Praktikum »immer pünktlich und zuverlässig« gewesen sei und auf diese Weise einen Ausbildungsplatz in einer Metzgerei erhalten habe. In der Rubrik Berufswelt werden schließlich diejenigen Berufe vorgestellt, »wo der Berufseinstieg leicht fällt«, wie »Verkäufer/in«, »Fachlagerist/in«, »Maschinen- und Anlageführer/in« und »Tiefbaufacharbeiter/in«. Daneben wird behauptet: »Hier hast du gute Aussichten. Hauptschüler/innen haben gute Chancen auf einen Ausbildungsplatz.« Zur Illustration wird unter anderem Axel vorgestellt, der nach seinem Hauptschulabschluss eine Lehre als Raumausstatter begonnen hatte und diese als Bester in ganz Deutschland abschloss, wodurch er »jetzt sogar das Recht, ein Studium anzufangen« erworben hat. Auch in den anderen an Hauptschüler adressierten Publikationen der Planet Beruf-Reihe werden vergleichbare Botschaften verbreitet: So heißt es in der Zeitschrift Berufe live – Ausgabe 2008/2009: »Viele Wege führen zu einem Ausbildungsplatz – auch für Schülerinnen und Schüler ohne Hauptschulabschluss oder mit schlechten Noten.« An einer anderen Stelle ist zu lesen: »Wenn man etwas wirklich will, dann hat man Selbstvertrauen und findet seine Nische.« Daneben wird unter anderem das von Berufsschulen angebotene »Berufsvorbereitungsjahr« (BVJ) angepriesen: Der 17-jährige Seyit Bas wird dafür mit den Worten zitiert: »Es gefällt mir hier besser als in der Hauptschule, man lernt mehr für das Berufsleben, zum Beispiel wie man mit Metall arbeitet. Das BVJ ist meine letzte Chance, deshalb gebe ich alles.« Der Abteilungsleiter BVJ, Siegmund Kopp, meint dazu: »Den Erfolg haben die Schüler zum großen Teil selbst in der Hand – indem sie aktiv mitarbeiten und sich immer wieder bewerben.« In staatlich finanzierten Publikationen dieser Art werden Bildungsmythen reproduziert. Die ideologische Dimension von Bildungs- und Aufstiegsmythen zeigt sich vor allem in Verweisen auf die »gute[n] Aussichten« von Hauptschülern auf dem Arbeitsmarkt sowie scheinbar leichtfallende Berufseinstiege und mündet in der Behauptung, die Schüler hätten ihre
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Zukunft »selbst in der Hand«. Individuelle Leistung und persönliche Motivation erscheinen als ausschlaggebend für den Erfolg oder Misserfolg im Bildungs- und Ausbildungssystem: »Mühe und Arbeit«, »Einsatz und Ausdauer« sowie »Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit« werden immer wieder als Erfolgskriterien angeführt. Als Bestätigung der ideologischen Botschaft eines meritokratischen Wettbewerbes werden die Erfolgsgeschichten von »Stars« und bemerkenswert erfolgreichen Jugendlichen vorgeführt. Die deutlich erkennbare Ausnahmestellung dieser Individuen impliziert jedoch bereits, dass die Mehrheit der Leser nicht deren Erfolg teilen wird. Berichte von Aufstiegshelden bestätigen somit auf indirekte Weise die bestehende Ordnung, der zufolge Hauptschulabgänger nur in seltenen Ausnahmefällen beruflich erfolgreich sein werden. Hinzu kommt, dass das Verständnis von sozialem Aufstieg bereits ideologisch geprägt zu sein scheint. An der Spitze der Bildungshierarchie steht demnach das Hochschulstudium, dessen Zugang für besonders eifrige Hauptschüler als gnadenvoller Akt herausgestellt wird, was die universitären Zugangsschranken für die überwältigende Mehrheit der übrigen Hauptschüler als eine Selbstverständlichkeit erscheinen lässt. Roland Barthes hat betont, dass Mythen konkret sein müssen, um effektiv zu sein. Barthes zufolge bestehen moderne und massenmedial verbreitete Mythen im Gegensatz zu den meist mündlich überlieferten traditionellen Mythen immer weniger aus Narrativen, sondern aus Sätzen, Satzfragmenten und Leerformeln (Barthes 1964: 85ff.). Demnach werden Bildungsmythen in den Publikationen der Bundeszentrale für Arbeit in scheinbar nebensächlichen Satzfragmenten wie »per Mausklick zum Erfolg«, »gute Vorbereitung ist alles« oder »der Job kommt« reproduziert. Platitüden und Redensarten dieser Art haben einen ideologischen Charakter, denn sie blenden komplexe Probleme der Berufsfindung zugunsten simplifizierender Botschaften aus und bestätigen sich gleichsam beständig selbst als scheinbar universelle Wahrheiten (Eagleton 1993: 29). Roland Barthes bezeichnet diese ideologische Form des Mythos als »gestohlene Sprache« und als »depolitisierte Sprache«, die Machtverhältnisse verberge und Ungleichheiten naturalisiere (Eagleton 1993: 115ff.). Der Satz »Wenn man etwas wirklich will, dann hat man Selbstvertrauen und findet seine Nische« kann als Beispiel für diese von Barthes kritisierte Form einer depolitisierten Sprache dienen: In diesem Satz erscheint Selbstvertrauen zunächst als eine Frage des Willens und nicht als ein Ergebnis von intersubjektiver Anerkennung. Der Philosoph Axel Honneth betont dagegen
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ein positives Selbstwertgefühl setze die Erfahrung gesellschaftlicher Wertschätzung voraus (Honneth 1992). Die Verweigerung von Anerkennung kann in dieser Sichtweise zu Identitätsproblemen führen, wobei Honneth zwischen den Ebenen der emotionalen, der rechtlichen und der sozialen Wertschätzung unterscheidet, denen auf individueller Ebene Formen des Selbstvertrauens, der Selbstachtung sowie der Selbstschätzung entsprechen. In Berufe live wird Selbstvertrauen als Ursache für beruflichen Erfolg dargestellt und dieser somit in die Sphäre individueller Verantwortung verlagert. Was aus diesem Satz »gestohlen« wurde, sind jegliche Hinweise auf strukturelle Ungleichheiten und verweigerte Anerkennung, auf Formen von Stigmatisierung und Diskriminierung, mit denen Berliner Hauptschüler häufig bereits bei der Suche nach einem unbezahlten Praktikumsplatz konfrontiert werden. Ein weiteres Beispiel für Formen von depolitisierter Sprache findet sich in dem Heft Ausbildungsplatz finden – Ausgabe 2008/2009, in dem auf Seite 26 mögliche Ursachen für eine gescheiterte Bewerbung aufgelistet werden: 1. »Die Bewerbungsmappe war unvollständig oder schlampig.« »Deine Unterlagen waren nicht ordentlich. Du hast Rechtschreibfehler gemacht. Oder du hast vergessen, deine Zeugnisse beizulegen.« 2. »Das Bewerbungsgespräch lief nicht gut.« »Du warst zu nervös, nicht gut vorbereitet und konntest viele Fragen nicht beant worten.« 3. »Es gab zu viele Bewerber.« »Gibt es Ausbildungsplätze in ähnlichen Berufen, bei denen der Andrang nicht so groß ist? Liegt’s an der Region? Wärst du bereit, für die Ausbildung umzuziehen?« 4. »Es fehlen wichtige Voraussetzungen.« »Hast du schlechte Noten in wichtigen Fächern? Fehlt dir der passende Schul abschluss?«
Von den vier aufgezählten Gründen für eine gescheiterte Bewerbung, fallen drei in den Verantwortungsbereich der Schüler. Beruflicher Misserfolg liege demnach an ihren Bewerbungsunterlagen, ihrer mangelnden Vorbereitung auf das Bewerbungsgespräch oder ihren schlechten Schulleistungen. Lediglich der Hinweis auf die mögliche Vielzahl an Bewerbern, deutet auf gesellschaftlich bedingte Problemlagen hin, diese können jedoch in
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der hier vertretenen Sichtweise durch räumliche Mobilität von Seiten der Hauptschüler kompensiert werden. Diese Auflistung basiert auf einem individuellen statt einem kategorialen Verständnis von Ungleichheit. Statt Klasse, Ethnizität oder Geschlecht werden individuelle Leistungs- und Motivationsunterschiede als Grundprinzip sozialer Differenzierung angesehen. Strukturelle Bedingungen ungleicher Bildungschancen werden auf diese Weise zugunsten eines meritokratischen Leitbildes in den Hintergrund gedrängt (Solga 2009). Ideologisch besetzte Bildungsmythen basieren zu einem wesentlichen Anteil auf visuellen Vorstellungen, beispielsweise auf der Vorstellung vom Aufstieg »nach oben«. Sie werden folgerichtig nicht nur in Sätzen oder Satzfragmenten, sondern vor allem auch in Bildern oder Bild-WortVerbindungen reproduziert. Als Beispiel für die visuelle Dimension von Bildungsmythen können die beiden Titelbilder der Zeitschrift Ausbildungsplatz finden aus den Jahren 2008/2009 und 2009/2010 dienen: Diese zeigen jeweils lachende junge Menschen in einer sonnigen Parkanlage und verbreiten auf diese Weise eine optimistische Grundstimmung. InIm Titelbild der linken Abbildung der Ausgabe 2008/09 werden drei Schilder mit den Aufschriften »informieren«, »bewerben« und »gefunden!« hochgehalten. Das Bild suggeriert im Kontext der Ausbildungsplatzsuche eine logische Abfolge zwischen der Information über einen möglichen Beruf, den anschließenden Bewerbungsbemühungen und dem Finden einer Ausbildungsstelle. Im Titelbild der rechten AbbildungAusgabe 2009/10 werden demonstrativ die Daumen als Symbol für eine positive Bewertung der Situation nach oben gestreckt. Die Botschaft des Bildes lautet: Die Schüler sollen sich mit Zuversicht und Selbstvertrauen um einen Ausbildungsplatz bemühen. Sprachliche oder visuelle Zeichen wie der nach oben gestreckte Daumen stehen hier nicht nur für Optimismus, sondern werden ihrerseits wiederum zu einem Baustein des Mythos vom sozialen Aufstieg. Barthes beschreibt diesen Mechanismus, wenn er darauf verweist, dass der Mythos als ein sekundäres semiologisches System zu begreifen ist, das auf einer bereits existierenden semiologischen Kette – wie hier dem nach oben gestreckten Daumen als einem positiv konnotierten Zeichen – aufbaut (Barthes 1964: 92f.). Visuell und sprachlich transportierte Bildungsmythen haben einen imperativen und interpellativen Charakter, die Bilder sprechen die Hauptschüler an und fordern diese unmissverständlich dazu auf, sich zu informieren, sich zu bewerben und einen Ausbildungsplatz zu finden. In Bil-
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dungsmythen werden demnach nicht nur beispielhafte Erfolgsgeschichten präsentiert, sondern diese haben gleichzeitig eine beispielgebende Funktion, indem sie als erfolgversprechend geltende Verhaltensweisen vorgeben. Ihre Wirkung basiert auf der ständigen Repetition eingängiger Slogans. Die ideologisch gefärbte Botschaft ist folglich keineswegs versteckt, sondern in den zitierten visuellen und sprachlichen Versatzstücken und deren klaren Botschaften deutlich erkennbar. Was leicht aus dem Blick gerät, ist jedoch die Herkunft der ideologischen Botschaften. Die Artikel der hier erwähnten Publikationen sind nicht mit Autorennamen gekennzeichnet, die massenhaft gedruckten Worte, Sätze und Bilder erscheinen nicht als ideologische Botschaft der Bundeszentrale für Arbeit, sondern als Ausdruck scheinbar natürlicher Gesetzmäßigkeiten des Arbeitsmarktes. Die ideologische Funktion moderner Bildungsmythen besteht darin, machtbedingte Unterschiede zu naturalisieren und in individuelle Leistungs- und Motivationsunterschiede umzudeuten. Bildung erscheint in dieser Sichtweise als Chance und beruflicher Erfolg als Ergebnis eines meritokratischen Wettbewerbs. Die Schüler der Anna-Seghers-Schule, an der zeitweise über Jahre hinweg kein einziger Absolvent einen Ausbildungsplatz gefunden hatte, entwickeln jedoch am Ende ihrer Schulzeit ein Gespür für die Diskrepanz zwischen Bildungsmythen und ihrer Situation auf dem Arbeitsmarkt. Als eine Lehrerin im Unterricht aus der Broschüre Planet Beruf vorliest, ruft ein Schüler wütend in den Klassenraum, er habe sich bereits bei 38 Firmen beworben und keine einzige positive Antwort bekommen. Die Antwort der Lehrerin, er habe nun immerhin auch 38 Bewerbungen mehr Erfahrung gesammelt, wird von mehreren Schülern mit lautstarkem, höhnischem Gelächter quittiert. Die etwas ratlose Lehrerin ermahnt die Schüler daraufhin, es »immer weiter zu probieren« und »nicht die Hoffnung zu verlieren«. Die Lehrerin steht in dieser Szene vor dem pädagogischen Dilemma, den Schülern Zuversicht und Mut für die Zukunft vermitteln zu wollen, obwohl sich gleichzeitig deren hoffnungslose Lage auf dem Arbeitsmarkt bereits deutlich abzeichnet. In dieser Szene wird erneut die bröckelnde ideologische Fassade von Bildungspolitik deutlich. Auch Bildungsmythen vermögen diese nicht mehr wirkungsvoll zu sichern, da ihre Botschaften, wie im kommenden Abschnitt weiter ausgeführt wird, zu unglaubwürdig geworden sind.
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Der Staat war im Verlauf der bisherigen Betrachtung des staatlichen Bildungssystems sowie staatlicher Publikationen für Jugendliche zwar stets im Hintergrund präsent, doch selbst nicht wirklich greifbar. Vielmehr erscheint der Staat selbst als ein Mythos, als eine machtvolle Fiktion, dessen Existenz mit jeder Evokation fortgeschrieben wird (Aretxaga 2003). Wie der Mythos lässt sich auch der Staat lediglich mit Blick auf seine spezifischen Ausdrucksformen, nicht jedoch in seiner Gesamtheit fassen. Der Staat ist kein kohärenter und autonomer Akteur oder irgendeine sonstige A-prioriRealität, sondern besteht aus Repräsentationen, Inszenierungen und alltäglichen bürokratischen Prozeduren, die erst in der Abstraktion als eine Einheit wahrgenommen werden. Die Idee des Staates und die Praktiken staatlicher Herrschaft bedingen sich dabei gegenseitig und erzeugen gemeinsam den State Effect – den Eindruck eines einheitlichen Staatsgebildes (Mitchell 2006). Politikwissenschaftler wie Philip Abrams und Timothy Mitchell haben darauf hingewiesen, dass der auf diese Weise konstruierte moderne westliche Staat als ein ideologisches Projekt zu verstehen ist, durch den klassenbedingte Machtbeziehungen reproduziert und legitimiert werden (Abrams 1988). Ideologie und Mythos wirken im Staat folglich erneut zusammen. An den Beispielen einer Diskussion im Klassenraum über Kindergeldzuweisungen sowie der Zeugnisvergabe an der Anna-Seghers-Schule sollen die alltäglichen Erfahrungen im Umgang mit staatlichen Bürokratien sowie die symbolischen Inszenierungen von Staatlichkeit mit Blick auf die Situation von Berliner Hauptschülern diskutiert werden. Die Perspektive von Weddinger Schülern migrantischer Herkunft auf den deutschen Staat lässt sich beispielhaft anhand der folgenden Unterrichtsszene veranschaulichen: Frau Schnur: »Wer sein Ziel hat und dafür arbeitet, der wird es auch schaffen. Man muss fleißig sein, man bekommt nichts hinterhergeschmissen, sondern muss sich selbst um seine Zukunft kümmern. Es gibt auch keine typischen Männer- und Frauenberufe mehr. Ich habe neulich im Fernsehen einen Bericht über eine weibliche Mechanikerin bei der Rallye Paris–Dakar gesehen. Ihr habt alle Möglichkeiten, ihr müsst nur gucken, wofür ihr euch eignet. Ihr müsst die Eignungstests beim Berufsinformationszentrum machen! Es gibt noch viel mehr
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Berufe und genug Lehrstellen – aber nicht genug Schüler, die diese ausfüllen, weil sie nicht lesen, schreiben oder rechnen können. Das ist das Problem!« Hussein: »Frau Schnur, können wir jetzt anfangen?« Marian: »Und wenn wir nur zu Hause sitzen?« Lehrerin: »Dann kriegst du nicht mal mehr Kindergeld.« Esma: »Sind doch eh nur 150 Euro.« Frau Schnur: »Der Staat zahlt nur bis zum 25. Lebensjahr und wenn ihr in der Aus bildung seid, nicht aber wenn ihr zu Hause sitzt, heiratet und Kinder be kommt.« Esma: »Und wenn ich erst heirate und dann Ausbildung mache?« Marian: »Der deutsche Staat ist eklig.« Frau Schnur: »Der deutsche Staat ist überhaupt nicht eklig. Er ist nur eklig, weil er Leuten, die nicht arbeiten wollen, Geld in den Hintern steckt. Aber bald könnt ihr nur noch zu Hause sitzen und schlafen.« Marian: »Nein, Arbeit wäre besser für mich, aber es geht nicht.«
Die Lehrerin verbreitet zunächst die ideologische Botschaft, der zufolge individueller Fleiß und persönliche Motivation für den beruflichen Werdegang von Hauptschülern ausschlaggebend seien. Sie erwähnt das Beispiel einer im als Männerdomäne geltenden Automobilrennsport beruflich aktiven Frau, um vor allem die Schülerinnen anzusprechen und auf die Vielfältigkeit möglicher Berufsoptionen hinzuweisen. Die Ursache für die derzeitige Ausbildungsmisere sieht sie nicht in einem Mangel an den Hauptschülern zur Verfügung stehenden Lehrstellen, sondern in der fehlenden Qualifikation der Schüler und schreibt diesen somit die Schuld für mögliche Misserfolge bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz zu. Die rhetorische Frage Husseins, ob Frau Schnur ihren Monolog beendet habe und man mit dem Unterricht beginnen könne, lässt erahnen, dass zumindest einige Schüler im Klassenraum der Deutung der Lehrerin keinen Glauben schenken. Marian greift daraufhin die in der Rede der Lehrerin mitschwingenden negativen Vorurteile gegenüber Hauptschülern auf und fragt provokativ, was bei einer kompletten Arbeitsverweigerung von Seiten der Schüler geschehen würde. An der folgenden Diskussion um das Kindergeld, einer monatlichen staatlichen Zahlung für Kinder und junge Erwachsene, nimmt auch eine Schülerin teil, die zum einen mit einer provokanten Bemerkung über den geringen Umfang des Kindergeldes auffällt und die zum anderen konkrete Fragen, beispielsweise ob man bei einer Heirat weiterhin Kindergeld beziehen kann, zu beschäftigen scheinen.
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An den Wortmeldungen der Schüler lässt sich eine negative Wahrnehmung des deutschen Staates erkennen: Dieser Staat erscheint den Schülern als abstoßend (»eklig«), da er ihnen einerseits nicht genügend Arbeitsplätze zur Verfügung stellt und andererseits finanzielle Hilfe zur Sicherung einer arbeitslosen Lebensphase nach dem Verlassen der Schule verweigert. Der schwierigen Frage, ob der Staat tatsächlich ausreichende und hilfreiche Unterstützung für ausbildungslose Jugendliche gewährt, kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden. Entscheidend ist hier die subjektive Wahrnehmung der Schüler, die sich angesichts einer drohenden materiellen Notlage von Seiten des Staates nicht in ausreichendem Maße anerkannt fühlen. Die Lehrerin verteidigt den deutschen Staat gegen die Anschuldigungen der Schüler. Halb verzweifelt, halb provokativ und aufrüttelnd kehrt sie das Argument der Schüler in eine Kritik an staatlich subventionierten Sozialschmarotzern um. Der Ausblick auf eine Zeit der Arbeitslosigkeit nach der Schule stellt Marian den Wunsch nach einer Arbeitstätigkeit entgegen, dessen Realisierung ihm jedoch gleichzeitig fraglich erscheint. In den Äußerungen der Schüler lässt sich eine kritische Haltung gegenüber dem Staat erkennen, die von einer Skepsis bezüglich den von Staatsbeamten verbreiteten ideologischen Botschaften begleitet wird. Die staatliche Fassade scheint an einer empfindlichen Stelle, dem Grundvertrauen in den Staat als einem guten und unterstützenswerten Herrschaftsgebilde, zu bröckeln. Die von Bildungsmythen gestützte Bildungsideologie kann zudem angesichts der desaströsen Ausbildungssituation von Absolventen der Anna-Seghers-Schule nicht mehr überzeugen. Auch bei der feierlichen Zeugnisvergabe am Ende des zehnten Schuljahres ist der Unmut der Beteiligten schon im Vorfeld deutlich zu spüren. Feldtagebuch: Die Abschiedszeremonie wird vorbereitet. Die Schüler gehen dafür in die Aula der Schule am Ende des Ganges. Dort prangt in großen Buchstaben an der Wand: »Bildung ist die Zukunft.« Frau Schnur wird angesichts des nahenden Abschieds bereits etwas wehmütig und erzählt, dass sie bestimmt heulen wird, da sie sich in den vier Jahren an die Klasse gewöhnt hat, »auch wenn es nicht immer einfach war«. Sie hat den Text zu dem berühmten Kanon-Lied »Danke« umgeschrieben und möchte das Lied nun mit den Schülern einüben. »Ohne Beat?«, fragt Mohamad etwas ungläubig. Hussein beginnt derweil mit einer eigenen Rap-Variante des Liedes, wird jedoch zugleich energisch zurechtgewiesen. Als das Lied schließlich angestimmt wird, singen le-
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diglich einige Mädchen mit, während die Jungen das Dankeslied boykottieren. Stattdessen imitieren sie nach der kläglich gescheiterten Gesangsübung die Förmlichkeit einer offiziellen Abschiedsveranstaltung in einer spontanen Performance. Dem Ausruf: »Einen Applaus für Frau Schnur, die beste Lehrerin der Welt«, folgt ein betont förmlich gehaltenes »Parteitagsklatschen«, ein kurzer, intensiver Applaus, bei dem die Hände sich kaum auseinanderbewegen, sondern in einem schnellen und intensiven Stakkato rhythmisch bewegt werden. Alle die zehnten Klassen betreuenden Lehrer der Schule werden auf diese Weise von den Schülern bedacht und gleichsam bewertet. So heißt es bei Frau Misch ke: »Einen Applaus für Frau Mischke, die strengste Lehrerin der Welt.«
Zeugnisverleihungen dienen in der Regel als eine rituell inszenierte Selbstvergewisserung des staatlichen Bildungssystems. Für die in diesem Fall zu beobachtende Weigerung vor allem der männlichen Schüler, trotz der Sympathien für die als engagiert und herzlich geltende Frau Schnur, ein Dankeslied auf ihre Schule anzustimmen, ließen sich eine Reihe von Gründen aufzählen: Den Jungen erscheint es möglicherweise uncool zusammen mit den Mädchen und der Lehrerin ein Lied zu singen. Ein deutscher Kanon »ohne Beat« entspricht wohl kaum ihrem Musikgeschmack und zudem hatten sie ohnehin im Verlauf ihrer Zeit auf der Hauptschule keinen Musikunterricht mehr, in dem gemeinsames Singen hätte gefördert werden können. Möglicherweise spielt jedoch noch ein anderes Motiv eine Rolle: Vielleicht wollen die Schüler sich einfach nicht bei einer Schule bedanken, die ihnen vor allem mit Demütigungen oder disziplinarischen Maßnahmen begegnete und die ihnen darüber hinaus kaum Hoffnung auf eine positive berufliche Entwicklung machen konnte.3 Die Anna-Seghers-Hauptschule erscheint in dieser Blickweise als eine Schule, die ihr Versprechen – »Bildung ist die Zukunft« – zwar propagiert, jedoch nicht eingehalten hat. Stattdessen ironisieren die Schüler das zeremonienhafte Element der nahenden Zeugnisvergabe und stellen durch ihr bewusst artifizielles Geklatsche die Fassadenhaftigkeit von derartigen Veranstaltun3 | An der Anna-Seghers-Schule galt während meiner Forschungszeit die Konfrontative Pädagogik als erzieherisches Leitbild, eine aus dem US-amerikanischen Jugendstrafvollzug entliehene Erziehungsmethode, die auf dem Prinzip des »harten Durchgreifens« durch strenge und häufig demütigend wirkende Bestrafungen basiert. Für eine Kritik der Konfrontativen Pädagogik vgl. Wellgraf 2012: 243ff.
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gen bloß. In ihrer spielerischen »Parteitags«-Performance verdrehen sie gleichzeitig die Machtposition zwischen Lehrern und Schülern: Diesmal werden nicht sie beurteilt, sondern die Schüler beurteilen eigenmächtig ihr Lehrpersonal, was ihnen sichtlich Freude bereitet. Bei der Interpretation dieser Szene stellt sich die grundlegende Frage, wozu Zeugnisse und Zeugnisverleihungen eigentlich dienen. Aus einer ideologiekritischen Perspektive könnte man Zeugnisse als einen Mechanismus staatlicher Machtausübung und die ihre Verteilung begleitenden rituellen Zeremonien als einen Versuch der Legitimierung des meritokratischen Leitbildes interpretieren. James Scott hat in seinem Buch Seeing like a State herausgestellt, dass schematische Kategorien, wie in diesem Fall numerische Schulnoten, stets die deutlich komplexere Realität verfehlen, gleichzeitig aber einen machtvollen Kategorisierungs-Effekt haben. Pierre Bourdieu verweist in einem ähnlichen Zusammenhang auf das »Meta-Kapital« des Staates, also auf seine Fähigkeit, die dominierenden Wahrnehmungskategorien und Klassifizierungsprinzipien festzulegen (Mitchell 2006, Bourdieu 1998). Dass die auf machtbedingten Ungleichheiten basierende staatliche Herrschaft regelmäßig durch öffentliche Zeremonien bestätigt und befestigt werden muss, deutet auf deren Kontingenz und Fragilität hin. Subversionen staatlicher Autorität durch die Schüler werden folglich von den Lehrern in der Regel rigoros bekämpft, da sie die Legitimität der gesamten Institution in Frage stellen können. Doch gegen Ende dieses Schuljahres fühlen sich an der Anna-Seghers-Schule auch viele Lehrer immer weniger verpflichtet, gegen das rebellische Verhalten zahlreicher Schüler vorzugehen. Schüler reagieren auf diese manchmal etwas grotesk anmutende Mischung aus Leistungsdruck, Machtausübung und Laissez-faire auf unterschiedliche Weise: Einige versuchen still den Anweisungen zu folgen, andere reagieren trotzig und aggressiv und wieder andere kommen einfach gar nicht mehr zur Schule, was ein Schüler damit kommentiert, dass »am Ende nur noch Stefan da ist.« Einige Tage nach der Gesangsprobe steht die Zeugnisvergabe auf dem Programm, bei der die Schüler der zehnten Klassen zum letzten Mal zusammenkommen. Ich ziehe mich etwas formeller als zur privaten Abschlussparty am Abend zuvor an. Bei den Schülern ist es dagegen genau umgekehrt: Die meisten tragen zwar noch die Anzüge vom vorigen Abend, einige Jungen haben jedoch auf die Krawatte und manche Mädchen auf ihre Hochsteckfrisuren verzichtet, eine trägt lediglich T-Shirt und Jogginghose. Kleine Reden werden gehalten und das eingeübte Dankeslied
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ziemlich schief gesungen. Die Stimmung ist nicht wirklich feierlich, eher gemütlich und ausgelassen. Soweit ich es überblicken kann, sind kaum Eltern und Verwandte anwesend. Viele Schüler laufen in der Aula umher und einige stimmen zwischendurch einen ironischen »Frau Mischke«-Sprechchor für die unbeliebteste Lehrerin der Schule an. Frau Schnur mahnt die Schüler in ihrem Grußwort, dass man »mit Ehrlichkeit, Pünktlichkeit und ein bisschen Fleiß viel erreichen kann«. Herr Fuchs, der Direktor, erinnert die Schüler anschließend noch mal an ihre Ankunft: »Viele kamen mit einem komischen Gefühl an diese Schule: Hauptschule, freiwillig war kaum einer hier. Viele wurden zugewiesen und fühlten sich ausgegrenzt. Es war nicht immer leicht, doch jetzt habt ihr einen Lebensabschnitt erfolgreich beendet.« Er verweist darauf, dass »jeder eine zweite Chance« habe, mahnt aber auch, dass viele »gnadenlos scheitern werden«, wenn sie diese nicht nutzen. Dass viele Schüler nicht stolz auf ihren Hauptschulabschluss sind, zeigt sich an der demonstrativ desinteressierten Art und Weise wie einige von ihnen ihre Zeugnisse abholen. Die Lehrer versuchen mit einer Mischung aus Formalität und Routine, die Schüler mit einer gewissen Coolness die Situation zu bewältigen. Beide Seiten wissen, dass es eigentlich kaum einen Grund zum Feiern gibt. Wichtiger als die unvermeidliche Zeugnisvergabe scheint den Schülern der Abschied von der Schule und vor allem voneinander zu sein, so werden später vor der Schule noch viele gemeinsame Fotos gemacht und einige Tränen vergossen. Die Reden der Klassenlehrerin und des Direktors repräsentieren in dieser Situation die offizielle Deutung der Geschehnisse und können, einen Begriff von James Scott aufgreifend, als Official Transcript bezeichnet werden. Scott unterscheidet in seinem Buch Domination and the Arts of Resistance zwischen Official Transcripts und Hidden Transcripts, also zwischen informellen und formellen Praktiken, Äußerungen und Gesten (Scott 1990). Auffallend an der offiziellen Deutung ist der weitgehende Verzicht auf die bei solchen Anlässen übliche Beschönigung der Situation und die dadurch hervortretenden Brüche in der ideologischen Fassade. Zwar wird das meritokratische Ideal bestätigt, doch offen gelassen, wie weit man es durch individuelle Anstrengungen schaffen kann. Bildung wird auch weiterhin als Chance begriffen, jedoch als eine, welche die Hauptschüler bisher scheinbar nicht genutzt haben. Zwar wird versucht, den Absolventen Mut zu geben und ihnen nicht die Hoffnung zu nehmen, doch ist zugleich von Ausgrenzungen, von Scheitern und von negativen Gefühlen die Rede. Die ideologische Fassade der Official Transcripts und die pädagogische Bot-
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schaft einer hoffnungsvollen Zukunft werden, angesichts der bevorstehenden Abschaffung der Hauptschule, nur noch mühsam und lückenhaft aufrechterhalten. Nicht einmal während der Zeugnisvergabe, dem offiziellen Höhepunkt des Schuljahres, gelingt es dem Lehr- und Aufsichtspersonal, die Schüler zu disziplinieren und die auf die Demütigung einer Lehrerin zielenden Sprechchöre zu verhindern. Hidden Transcripts umfassen dagegen jenes Set von Äußerungen und Handlungen von dominierten oder von dominierenden Gruppen, die öffentlich nicht kundgetan werden. Darin enthalten sind auch jene Ansichten und Bemerkungen von Lehrern, die nur heimlich, privat oder in der Vertrautheit des Lehrerzimmers geäußert werden und auf diese Weise vom offiziellen Diskurs ausgeschlossen sind. Lehrer waren erstaunlich offen, mir gegenüber ihre ausnahmslos negativen Meinungen über das Schulsystem und die Hauptschule mitzuteilen. Manche sahen in meiner Forschung möglicherweise auch eine willkommene Möglichkeit, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Da während des Schuljahres 2008/2009 in den Berliner Zeitungen bereits intensiv über das Versagen und die Abschaffung der Hauptschule diskutiert wurde, betrieben diese Lehrer kaum noch Aufwand, ihre Hidden Transcripts zu verbergen. In dieser Situation des bereits antizipierten Übergangs lässt sich an der AnnaSeghers-Schule ein Brüchigwerden der Official Transcripts und, parallel dazu, ein zunehmendes Hervortreten der Hidden Transcripts beobachten. Nach der Zeugnisvergabe versammeln sich die Lehrer noch zu einem kleinen Grillfest. Man sitzt entspannt zusammen und freut sich, wie angenehm die Schule ohne Schüler sein kann. Die Grillfeier muss jedoch kurzzeitig zugunsten eines Löscheinsatzes unterbrochen werden, da Schüler auf der anderen Seite des Schulgebäudes verbotenerweise ebenfalls ein Feuer machen. Lehrer, die die Schule verlassen, werden anschließend mit Geschenken und netten Worten verabschiedet und am Ende hält der Direktor noch eine kleine Rede: Herr Fuchs: »Vieles kam von außen: Mal dieses, mal jenes. Wir sollten das mit Gelassenheit nehmen, das nächste Jahr wird noch turbulenter. Wichtig ist, dass wir unser tolles Betriebsklima behalten. Auch wenn es mit dem MSA (Abkürzung für Mittlerer »Schulabschluss«, S.W.) nicht geklappt hat – das ist nicht unsere Schuld, sondern die der Schüler und Eltern. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir nur eine Hauptschule sind. Und wir arbeiten hier unter schwierigsten Bedingungen an einer Brennpunktschule. Unsere Schulentwicklung stockt. Weil
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keiner weiß, wie es weitergeht, macht es keinen Sinn, sich jetzt groß aus dem Fenster zu lehnen. Wichtig ist, dass wir so viel wie möglich von unserer Schule in die neue Schule einbringen können und dass wir so die Irrungen und Wirrungen von außen gut überstehen.«
Der Direktor versucht den Lehrern ein möglicherweise vorhandenes schlechtes Gewissen angesichts der fast ausnahmslos schlechten Noten und Prüfungsergebnisse der Absolventen zu nehmen, indem er den Schülern und ihren Eltern die Schuld für die offensichtliche Bildungsmisere zuschreibt. Die Abschlussrede blickt zudem bereits auf die kommende Schulreform in Berlin voraus, in deren Zuge die Hauptschulen abgeschafft und mit benachbarten Schulen zu größeren Sekundarschulen zusammengelegt werden sollen. Aus der Perspektive der Lehrer ist weniger der Bildungserfolg der Schüler, sondern die eigene Berufsperspektive in dieser neuen Schulform von Bedeutung. Pädagogische Ambitionen sind in dieser Zeit des Wartens und des Übergangs nicht mehr gefragt, denn jeder der Anwesenden weiß bereits: Das nächste Jahr wird das letzte Jahr Hauptschule in Berlin sein.
F A ZIT : A NTHROPOLOGISCHE P ERSPEK TIVEN AUF S CHULPOLITIK Eine Anthropologie politischer Felder ist – wie hier am Beispiel des Endes der Berliner Hauptschule dargestellt – in einem doppelten Sinne politisch: (1) Indem sie deren herrschaftsbedingten Charakter – die Art und Weise wie in politischen Feldern Herrschaftsmechanismen funktionieren und Machtverhältnisse reproduziert werden – herausarbeitet. Und (2) indem Fragen des Wandels institutioneller Arrangements anhand konkreter politischer Reformvorhaben adressiert werden. Etwa indem nachvollzogen wird, wie Machtverhältnisse stützende schulische Strukturen in Legitimationskrisen geraten, da sie ihre eigenen Versprechen nicht erfüllen können und somit den Widerstand von reflexiven Akteuren provozieren (vgl. Habermas 1975). Es geht demnach für Anthropologen nicht nur um eine möglichst detaillierte ethnografische Analyse politischer Felder, sondern darum, durch eine enge Verbindung von ethnografischen Erkundungen und sozialtheoretischen Überlegungen ein besseres Verständnis des Politischen und den damit verbundenen Subjektpositionen zu gewinnen.
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1.) Pierre Bourdieu hat zu bedenken gegeben, dass man beim Nachdenken über den Staat Gefahr läuft, selbst staatliches Denken zu übernehmen, da der Staat die herrschenden Denk- und Wahrnehmungskategorien etabliert und durchsetzt (Bourdieu 1998: 93). Der Staat verfügt demnach nicht nur über das Monopol zur legitimen Ausübung physischer Gewalt, sondern auch über symbolische Gewalt, mit deren Hilfe grundlegende gesellschaftliche Klassifikationsprinzipien durchgesetzt werden können. Um zu verstehen wie Ideologie und Mythos ihre subjektivierende Kraft entfalten, gilt es die Vorannahmen und Bewertungsmaßstäbe mitzudenken, die durch Bildungsideologien und Bildungsmythen reproduziert werden. Dabei habe ich mich zunächst auf die ideologische Dimension des staatlichen Bildungssystems konzentriert, die Autoren wie Althusser und Bourdieu mit Hilfe unterschiedlicher begrifflicher Apparate herausgearbeitet und kritisiert haben, wobei beide sich auf die von Karl Marx formulierte Kritik am Staat als einem Machtinstrument der herrschenden Klasse beziehen. Die ideologische Funktion des Bildungssystems basiert aus dieser Perspektive auf machtvollen Bildungsmythen, die Bildung als Chance und Bildungserfolg als das Ergebnis eines meritokratisch organisierten Wettbewerbes freier Individuen erscheinen lassen. Der Staat nimmt in diesem Prozess der sozialen Reproduktion durch institutionalisierte Bildung eine zentrale Rolle ein, bleibt in seiner ideologischen Dimension jedoch meist unsichtbar. Er wird vielmehr selbst zu einem Mythos, einer scheinbar über den alltäglichen Verteilungskämpfen stehenden Instanz. Diese Vorstellung vom Staat hat machtvolle Effekte, denn indem der Staat die für das Bildungssystem gültigen Rahmenbedingungen und Erfolgskriterien vorgibt und anschließend die Ergebnisse schulischer Selektionsprozesse legitimiert, trägt er zur Reproduktion bestehender Ungleichheiten bei. Das Potential einer anthropologischen Perspektive auf politische Felder besteht darin, Macht und Subjektivierung nicht als unveränderliche und absolute Wirkmechanismen zu begreifen, sondern herauszuarbeiten, wie Machtverhältnisse in Diskussionen über Bildung und Schule verhandelt werden und welche Formen von Subjektivität sie hervorbringen. 2.) Eine zeitgemäße ideologiekritische Perspektive auf das Feld der Schulpolitik muss sowohl Affirmationen als auch Widerstände gegenüber ideologischen Systemen umfassen, sie muss subjektivierende und subversive Kräfte berücksichtigen. Gleichzeitig gilt es Ideologien selbst nicht als zeitlose, hyperstabile und allumfassende Gebilde zu betrachten, sondern die Ambivalenzen, Instabilitäten und Widersprüche ideologischer Formen
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zu analysieren und dabei sowohl Tendenzen zur Verfestigung als auch das Brüchigwerden ideologischer Botschaften in jeweils spezifischen Kontexten im Blick zu behalten. Anhand der Schüler der Anna-Seghers-Schule lässt sich zeigen, dass einige Berliner Hauptschüler den deutschen Staat in abstrakter Weise als feindlich und abstoßend wahrnehmen, doch manche von ihnen gleichzeitig Elemente staatlich propagierter Bildungsideologien, wie beispielsweise das individualistische Leistungsimperativ, in ihre Selbstbeschreibungen aufnehmen. Während einige Schüler ihre gesellschaftliche Stigmatisierung in ein negatives Selbstbild transformieren, gehen andere wiederum eher auf eine spielerische Weise mit negativen Zuschreibungen um oder artikulieren – häufig mit Hilfe von Ironie – versteckte Kritik an ungleichen Chancenverhältnissen sowie der Scheinheiligkeit ideologischer Versprechungen. Gleichzeitig bröckelt aufgrund des sich abzeichnenden Endes der Berliner Hauptschule an der Anna-Seghers-Schule im Schuljahr 2008/09 merkbar die ideologische Fassade des staatlichen Bildungssystems. Die Übergangsphase vor der anstehenden Schulstrukturreform ist einerseits gekennzeichnet von einer zunehmenden Hilflosigkeit, aber auch von institutioneller Selbstkritik des Lehr- und Aufsichtspersonals, andererseits lässt sich eine kaum noch kontrollierte Aufmüpfigkeit und Resistenz vieler Schüler beobachten. In den auf diese Weise entstehenden Momenten der Brüchigkeit tritt die brutale Ungleichheit und Ungerechtigkeit des Klassensystems zeitweise aus ihrem ideologischen Schatten hervor. Für eine Anthropologie politischer Felder empfiehlt es sich, den Blick auf Zonen oder Phasen ideologischer Brüchigkeit zu richten, auf Momente, in denen Herrschaftsstrukturen aufbrechen und neu justiert werden. Die vielleicht altehrwürdig erscheinende Ideologiekritik kann in einer reformierten Form auch für die Neuorientierung der Ethnologie auf die Bruchzonen politischer Felder hilfreich sein und ihr gleichzeitig eine kritische Perspektive eröffnen. Die ideologiekritische Vorgehensweise beruht auf einer engen Verbindung von Analyse und Kritik, im hier vorgestellten Fall wird eine sozialwissenschaftliche Analyse der Selbstwahrnehmungen und Praktiken von Hauptschülern mit einer normativen Kritik verbunden, die gesellschaftliche Institutionen wie die Schule an ihren eigenen Maßstäben misst. Das kritische Potential dieser Form von Herrschaftskritik liegt im Aufdecken von Mechanismen der Verselbständigung und Universalisierung, die sich in Zeiten des Übergangs oder der Krise deshalb besonders gut ethnografisch erfassen lassen, da sie den Beteiligten selbst fragwürdig erscheinen.
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Vertagte Anerkennung Teilwerdung des Islams und die Grenzen der Zugehörigkeit im politischen Dialog der Deutschen Islam Konferenz Fabian Engler »Der Islam ist Teil Deutschlands und Teil Europas.« (Schäuble 2006: 1)
Mit dieser Feststellung begründet Innenminister Wolfgang Schäuble am 28.09.2006 in einer Regierungserklärung vor dem Deutschen Bundestag die Einrichtung der einen Tag zuvor von ihm eröffneten Deutschen Islam Konferenz (DIK). Damit bringt der Innenminister eine von hohen Staatsvertretern in Deutschland bis dato eher selten geäußerte Anerkennung gegenüber der Religion der in Deutschland lebenden Muslime zum Ausdruck; eine neu erworbene Anerkennung, die der verstärkt wahrgenommenen Präsenz von Muslimen in Deutschland und Europa geschuldet ist. Sie trägt einem insbesondere mit der im Jahr 2000 erfolgten Reform des Staatsbürgerschaftsrechts1 markierten Paradigmenwechsel Rechnung: 1 | Seit dem Inkrafttreten des reformierten Staatsbürgerschaftsrechts zum 1. Januar 2000 erhalten in Deutschland geborene Kinder die deutsche Staatsbürgerschaft auch unabhängig der Staatsangehörigkeit der Eltern und zwar dann, wenn ein Elternteil über einen geregelten und dauerhaften Aufenthaltstitel in Deutschland verfügt. Eine deutsche Staatsbürgerschaft der Eltern ist damit nicht mehr Voraussetzung dafür, dass ein Kind qua Geburt deutscher Staatsbürger ist (vgl. BMI 2011:132). Diese Neuregelung impliziert im deutschen Staatsbürgerschaftsrecht neben dem Abstammungsprinzip (jus sanguinis) nun erstmals auch das Geburtsortprinzip (jus soli). In der gleichen Gesetzesnovelle wurde eine Ausweitung der Möglichkeiten zur Einbürgerung vorgenommen. So kann jetzt der Anspruch auf Einbürgerung nach sechs bis acht Jahren Aufenthalt und nicht
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Deutschland sieht sich immer mehr in der Rolle eines Einwanderungslandes und knapp 50 Jahre nach ihrer Einwanderung können ehemalige Gastarbeiter und deren Nachkommen immer weniger als Ausländer verstanden werden. Die Initiierung des Dialogs zwischen Vertretern des Staates und einzelnen Islamvertretern auf der DIK kann als direkte Konsequenz dieser Anerkennung gelten, die im weiteren Sinne auch ein Bekenntnis zu einer pluralistischen Gesellschaft bedeutet. Dass Deutschland solch eine Gesellschaft ist, wird von Wolfgang Schäuble zur Eröffnung der DIK ebenfalls betont. Er wendet sich damit implizit gegen einen Gesellschaftsentwurf, der auf den Prinzipien ethnisch-nationaler Homogenität gründet und äußert die Hoffnung, mit der DIK »Vielfalt zu schaffen« (ebd.: 8). Es ist die Einrichtung der DIK durch den Bundesinnenminister selbst, die neben einem affirmativen Akt der Anerkennung von Vielfalt im Allgemeinen und dem Islam im Speziellen auch auf die Schwierigkeiten verweist, die die Teilwerdung des Islam den politischen Protagonisten und einem großen Teil der Öffentlichkeit bereitet. Die Anerkennung des Islam als »Teil Deutschlands« lässt die Auseinandersetzung um die Integration der Muslime in Deutschland notwendig erscheinen. Mit der DIK wird diese Integration als noch zu durchlaufender Prozess gedacht, eine unbewältigte Aufgabe, die es jetzt anzugehen gilt. Wolfgang Schäuble in der gleichen Rede: »Um Perspektiven für die gemeinsame Zukunft zu schaffen, müssen wir versuchen, die Probleme zu lösen, die das Zusammenleben mit Muslimen in unserem Land belasten.« (Ebd.: 1) Auf die im Eingangszitat erfolgte erste Feststellung der Zugehörigkeit des Islam, folgt hier eine zweite Feststellung, nämlich, dass das Zusammenleben mit den Muslimen belastet ist. In Verbindung mit der Progerst nach 15 Jahren bestehen (vgl. ebd.: 135f.). Dieser formalen Erleichterung und prinzipiellen Bejahung der Einbürgerung von langfristig in Deutschland lebenden Ausländern durch den Gesetzgeber stehen die inhaltlichen Kriterien und Einschränkungen (Mehrfachstaatsbürgerschaft, Sprachkenntnisse, Extremismusklausel, Einbürgerungstest) für den Neuerwerb der deutschen Staatsbürgerschaft gegenüber, die nun in der Debatte und in den gesetzlichen Regelungen zum Einbürgerungsverfahren immer wichtiger geworden sind. Ausführlich zum neuen Staatsbürgerschaftsrecht siehe: Spindler 2002, zu den unterschiedlichen Konzepten der Staatsbürgerschaft in Europa siehe: Stolcke 1995: 10-11, zum Wandel des Integrationsdiskurses zum neuen Jahrtausend siehe: Spielhaus 2006: 29.
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nose einer nun unweigerlich bevorstehenden »gemeinsamen Zukunft«, begründet dies für den Innenminister den politischen Handlungsbedarf, der zur Einrichtung des Islamdialogs auf höchster Ebene der politischen Vertretung – seinem Bundesministerium – geführt hat. Der zunächst auf drei Jahre angelegte und als politisches Großereignis inszenierte Dialog der DIK ist das ambitionierte Projekt einer im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit stehenden Integrationspolitik. Hohe Erwartungen sind daran geknüpft. Der Bundesinnenminister spricht im Vorfeld von einem »Gesellschaftsvertrag« mit muslimischen Organisationen, der am Ende des Dialogprozesses stehen soll und zur Konferenz geladene Vertreter von in Deutschland aktiven Moscheevereinen äußern die Hoffnung, dass mit der DIK die ersehnte »Gleichstellung des Islam mit anderen Religionsgemeinschaften« (KRM 2007) erreicht werden kann. Eineinhalb Jahre später, bei der Eröffnung zur dritten Plenarsitzung der DIK am 13.03.2008, ist die Stimmung weniger enthusiastisch. Der Gastgeber Wolfgang Schäuble ist nur teilweise mit dem Verlauf des Dialogs zufrieden und ungehalten kommentiert er den Umstand, dass die teilnehmenden Islam-Verbände Bedenken gegenüber dem zur Verabschiedung vorgelegten Zwischenresümee äußern und zum Teil die dort formulierten Positionen nicht mittragen wollen (vgl. Schäuble 2008). Er scheint enttäuscht, mahnt die »Partnerschaftstauglichkeit« der Beteiligten an und fordert eine stärkere Bereitschaft zur Annäherung nicht nur an die »gemeinsamen Positionen« des Zwischenresümees, sondern an Staat und Gesellschaft insgesamt: »[D]ie Annäherung an Staat und Gesellschaft unseres Landes, an Millionen Mitbürger, die mehr über ihre muslimischen Nachbarn erfahren wollen, kommt nur langsam voran. Ohne Annäherung aber wird es Muslimen schwer fallen, vollständig als Teil unseres Ganzen akzeptiert zu werden. Denn wie will man glücklich sein in einem Land, wenn man es nicht vollständig annimmt und als das eigene erkennt?« (Schäuble: 2008)
Die Enttäuschung Schäubles scheint daher zu rühren, dass die sich nur langsam an Staat und Gesellschaft »unseres« Landes annähernden Muslime nicht begreifen wollen, was gut für sie ist. Seine mahnenden Worte verraten etwas darüber, wie der Islamdialog als ein Politikinstrument funktionieren soll, um die Formierung eines deutschen Islam anzuleiten; die Formierung eines Islam, der in eine deutsche politische Kultur passt,
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welche sich im Umbruch befindet und deren (neuer) Teil der Islam anerkannter Weise zumindest irgendwie auch schon ist. Nimmt man das obige Zitat, dann scheint das Erkennen des Eigenen in diesem widersprüchlichen Prozess wesentlich. Es ist das unterstellte Unvermögen der Muslime selbst, Deutschland überhaupt als ihr Eigenes erkennen zu können und zu wissen, was die Zugehörigkeit zu diesem Staat und dieser nationalen Gemeinschaft bedeutet. Dieses Wissen markiert zum einen die Trennung zwischen Muslimen und (nicht-muslimischen) Deutschen im Islamdialog, zum anderen verhindert das Nicht-Wissen – so die Annahme Schäubles –, dass Muslime in Deutschland letztendlich glücklich werden können.
I SL AMDIALOG
DER
D EUTSCHEN I SL AM K ONFERENZ
Der Dialog mit dem Islam hat mit der 2006 einberufenen Deutschen Islam Konferenz (DIK) seine prominenteste und wichtigste Institution gefunden. Er kann als Instrument einer Anerkennungs- und Integrationspolitik verstanden werden. Anerkennung und Integration des Islam werden dabei europaweit als die zentralen Herausforderungen im politischen Umgang mit Vielfalt und Pluralität verhandelt. Der kongruent zu entsprechenden Institutionen in anderen europäischen Ländern eingerichtete deutsche Islamdialog beschreibt gleichzeitig auch ein politisches Feld, in dem die Prozesse einer Teilwerdung des Islam und die Neuverhandlung der Ideen von Nation und Staatsbürgerschaft untersucht werden können. Hier erfährt die Beziehung zwischen den in Deutschland lebenden Muslimen und dem deutschen Staat, der Idee der nationalen Gemeinschaft und einer zeitgemäßen europäisch-multikulturellen (Staats-)Bürgerschaft eine Neubestimmung. Prozesse der politischen Subjektivierung, die Produktion neuer Identitäten, und die Konkretisierung von Kategorien der Ein- und Abgrenzungen können beobachtet werden. Folgt man einer solchen Konzeption des politischen Dialogs der DIK als Instrument und Feld einer »border-strategy« (Kearney 2004: 133) zur Transformation und Verschiebung von Grenzen der Zugehörigkeit, wird eine grundlegende Problematik des Islamdialogs deutlich: Indem die DIK die vermeintliche Unterschiedlichkeit zwischen »den Muslimen in Deutschland« und der nationalen Gemeinschaft »der Deutschen« zum Thema macht, diese Unterschiedlichkeit problematisiert und auf Grundla-
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ge dieser festgestellten Verschiedenheit die Anerkennung und Integration des Islam befördern will, legt sie die Grenzen fest, innerhalb derer die Formierung eines »deutschen Islam« als religionspolitische Institution und imaginierte Gemeinschaft der Muslime vorstellbar wird. Von einem politikanthropologischen Standpunkt aus erscheint es hier lohnenswert, nach der Produktion der Grenzen der Zugehörigkeit zu Deutschland und den Auseinandersetzungen um deren Bestehen, Transformation und Aufhebung im dialogischen Prozess der DIK selbst zu fragen. Die in diesen Prozessen vorgebrachten Differenzen oder Gemeinsamkeiten und ihnen zugrunde gelegten Normen und Werte können nicht als gegeben betrachtet werden. Vielmehr sollen die in den beschriebenen Auseinandersetzungen politisch wirksam gemachten Kategorien selbst, ihre diskursive Herstellung und Bearbeitung zum Gegenstand der Betrachtung gemacht werden.2 Im vorliegenden Beitrag will ich den Bereich der Anerkennung untersuchen, der dem deutschen Islam mit der Einrichtung des Islamdialogs durch die Politik zuteil wurde. Hierzu bestimme ich zunächst den Islamdialog als Feld einer Politik-Anthropologie, indem ich versuche einen Begriff der politischen Grenzziehung theoretisch herzuleiten und für die Betrachtung von Prozessen der Identifizierung und Unterscheidung in der politischen Auseinandersetzung um Vielfalt sowie um Anerkennung der religiösen Minderheit nutzbar zu machen (Abschnitt 2). Daran anschließend werde ich in zwei Schritten den politischen Kontext, in dem sich der Dialog der DIK entfaltet, darstellen. Hierbei soll auf die diskursive Konfrontation von Illoyalitätsverdacht und Anerkennungsdilemma eingegangen werden, in der sich die Formierung eines deutschen Islam aktuell vollzieht (Abschnitt 3). Auf der DIK kommen beide Diskurse – der Integrationsdiskurs, der die Muslime in Deutschland nach ihrer Loyalität be2 | Wright und Shore insistieren in ihrem Aufsatz Towards an Anthropology of Policy: Morality, Power and the Art of Government von 1995 darauf, Policy-Forschung nicht als vermeintlich neutrale Untersuchung von Politikinstrumenten auf ihre »Wirksamkeit« hin zu betreiben (vgl. Wright/Shore 1995). Mit einem solchen »instrumental view« (Walsh 2004: 4), von dem sich Wright/Shore abgrenzen, betrachtet, wäre die Islam Konferenz wohl vor allem hinsichtlich der Steuerbarkeit von Integrationsprozessen zu untersuchen. Die Frage wäre hier: Zeigt sich der Islamdialog geeignet, Integration und/oder Anerkennung des Islam in Deutschland zu befördern?
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fragt und der Anerkennungsdiskurs, in dem die Muslime in Deutschland die Frage nach Zugehörigkeit stellen – zusammen. Somit stellt, wie ich in Abschnitt 4 argumentiere, die (neue) Verhandlung von Deutschland und Deutsch-Sein, das heißt die Idee von Nation und Staatsbürgerschaft, eine wesentliche, wenn auch nicht explizit thematisierte Funktion der DIK dar. Die Islam Konferenz lässt sich insofern auch als Deutschlandkonferenz beschreiben, wobei im Dialog eine Kompetenzverteilung angelegt zu sein scheint: Die Strukturierung des Dialogs, die nach einem Wir-Ihr-Schema vorgehend, Staats- und Islamvertreter als Dialogpartner einander gegenüberstellt, legt fest, wem es vorbehalten bleibt, einen Begriff von Deutschland vorzugeben, wenn es um die Integration des Islam geht. In Abschnitt 5 diskutiere ich entsprechend die DIK und den hier initiierten Dialog als Instrument einer Integrationspolitik, in der die Aufhebung dieser Trennung nicht vorgesehen ist. Mit dem exkursiv eingebrachten Beispiel der Sitzordnung der ersten Plenarsitzung der DIK soll dies illustriert werden. Auf die vorangehenden Überlegungen gründend, stelle ich dann in Abschnitt 6 zusammenfassend die Frage nach der tatsächlichen Teilwerdung des Islam in und durch die DIK.
I DENTIFIZIERUNG UND U NTERSCHEIDUNG DES G EMEINSAMEN : G RENZPOLITIK IM I SL AMDIALOG Der politische Umgang mit Vielfalt und Pluralität sowie mit der Konstituierung politischer Gemeinschaft trotz lebensformabhängiger Differenz ist seit längerem Gegenstand von Diskussionen, die in der politischen Theorie als die Frage nach der »Anerkennung des Anderen« (vgl. Taylor 1992) oder nach Formen »multikultureller Staatsbürgerschaft« (vgl. Kymlicka 1995) verhandelt werden. Nachdem ungefähr seit Ende der 1990er Jahre eine vermeintlich allzu große Offenheit gegenüber kultureller Vielfalt und Differenz als Ursache für die Herausbildung von sogenannter »Parallelgesellschaftlichkeit« von Einwanderergruppen europaweit verstärkte Problematisierung erfahren hat, ist in der politischen Debatte nun eine Akzentuierung der Forderung nach »Integration« dieser Gruppen festzustellen. Rufe nach dem dafür notwendigen Wertekonsens einer Gesellschaft oder gar einer »Leitkultur« sind laut geworden (siehe hierzu Schiffauer 2008: 7ff.). Zusammengefasst kann gesagt werden, dass es verschiedenen Ansätzen zum adäquaten politischen Umgang mit Vielfalt entweder um die
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Anerkennung von als kulturell oder identitär verstandenen Unterschieden oder aber um die Auflösung oder Angleichung dieser Unterschiede geht. Unbeantwortet in der politischen und theoretischen Auseinandersetzung um Anerkennung und Integration bleibt zumeist die Frage, wie die zur Debatte stehenden Unterschiede gesellschaftlich hergestellt und politisch bedeutsam gemacht werden. Eine politikanthropologische Forschung kann hier ansetzen und die Politiken des Abgrenzens und Unterscheidens zum Gegenstand ihrer Untersuchung machen. »It is not the cultural diversity per se that should interest anthropologists«, schreibt die Kulturanthropologin Verena Stolcke, »but the political meaning with which specific political contexts and relationships endow cultural differences« (Stolcke 1995: 12). Der Islamdialog mit seiner Institutionalisierung in der Deutschen Islam Konferenz stellt sich in solch einem Sinne als Feld und Instrument von »Grenzstrategien« (Kearney 2004: 133) dar. Hier werden Begriffe der Zugehörigkeit bestimmt, sowie ideationale Grenzen transformiert, relokalisiert und verschoben. Der Islamdialog in Deutschland kann somit zum Ausgangspunkt genommen werden, um Prozesse der politischen Grenzziehung, die Arbeit an Begriffen der Zugehörigkeit, der Staatsbürgerschaft sowie der nationalen Gemeinschaft zu beobachten. Der Begriff der politischen Grenze entstammt aus dem theoretischen Zusammenhang der Geopolitik-Forschung. Insbesondere die Ansätze der Politischen Geographie, die einen Fokus auf Praxen der Grenzziehung legen (z.B. Ashley 1987, Tuathail/Dalby 1998), erscheinen hier anschlussfähig für die anthropologische Untersuchung von Konstruktionsprozessen politischer Gemeinschaftlichkeit und Zugehörigkeit, von Prozessen der Identifizierung und Unterscheidung. Politische Grenzen werden hier zum einen in einem über ihre geographische Konkretisierung an den Rändern des nationalstaatlichen Territoriums hinausgehenden, symbolischen oder ideationalen Sinne verstanden: »Critical geopolitics is concerned as much with maps of meaning as it is with maps of states. The boundary-drawing practices we seek to investigate […] are both conceptual and cartographic, imaginary and actual, social and aesthetic.« (Tuathail/Dalby 1998: 4) Zum anderen werden die Praxen der Grenzziehung nicht allein auf Außengrenzen bezogen. Auch die innergesellschaftlichen sozialen »Landschaften« der Macht sind von Grenzen durchzogen, die sich in sozialen Praxen der Unterscheidung manifestieren (Paasi 2009: 226). Dies bedeutet auch, dass sich in der Betrachtung nationalstaatlicher Grenzpolitik das Augen-
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merk von der Außenpolitik auf das Feld der Innenpolitik erweitert: »All states lean on such landscapes, drawing on both the past heritage, current symbolism, and future societal expectations, when they try to produce and reproduce loyal citizens who will identify themselves with the nation, or at least with the political system.« (Paasi 2009: 226)
D ER UND
DEUTSCHE I SL AM Z WISCHEN I LLOYALITÄTSVERDACHT A NERKENNUNGSDILEMMA
Illoyalitätsverdacht Die Deutsche Islam Konferenz kann nach Levent Tezcan (2011a) verstanden werden als »Prüfungsintanz«, die im Anschluss an den europäischen Integrationsdiskurs versucht, sich der Loyalität der deutschen Muslime zu versichern (vgl. Tezcan 2011a: 126). Seit etwa Ende der 1990er Jahre stellen politische Diskurse um Integration und Einwanderung europaweit verstärkt die Zugehörigkeit von Einwanderern und deren Nachkommen zur jeweiligen nationalen Gemeinschaft (und zum neuen Europa) in Frage. Die Sozialwissenschaftlerin und Migrationsforscherin Eleonore Kofman beobachtet in den europäischen Ländern die Wiederbelebung einer »neo-assimilationist agenda« (Kofman 2005: 90ff.), die Migranten und deren Nachkommen beständig Nachweise ihrer Loyalität und Integrationsbereitschaft abverlangt und damit deren potenzielle Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft als ein fortwährendes gesellschaftliches Problem verhandelt: »Migrants are often depicted as threats to national harmony and peace, responsible for problems of unemployment, criminality and insecurity. There is a sense that they are disturbing a pre-existing national consensus and culture.« (Ebd.: 91) In Deutschland lässt sich die Ausrichtung des Integrationsdiskurs auf die Problematisierung bestimmter Formen kultureller Vielfalt und die Betonung der Notwendigkeit zur Anpassung der Anderen an die eigenen, europäisch-deutschen kulturellen Werte unter anderem festmachen an der Leitkulturdebatte (vgl. Pautz 2005, Habermas 2010), dem Ins-Visier-Nehmen von muslimischen Gemeinden durch Polizei und Verfassungsschutz (vgl. Schiffauer 2006), der Einführung von Einbürgerungstests und verpflichtenden Integrationskursen (vgl. Jäger 2007) sowie an den Angriffen,
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die das Konzept des Multikulturalismus durch verschiedene Politiker erfährt.3 Im besonderen Fokus dieser Integrationsdiskurse steht der Islam. Insbesondere seit den Ereignissen des 11. Septembers 2001 richtet sich die Illoyalitätsdebatte direkt auf die in den europäischen Ländern lebenden Muslime (vgl. Werbner 2004, 2005). Unter Rückgriff auf historische, in der Gegenüberstellung Europa-Orient/Islam angelegte Feindbilder und Stereotype (vgl. Attia 2007) und eingebettet in das huntingtonsche Apodikt eines globalen »Kampfes der Kulturen« (vgl. Cağlar 2002) wird Religion zu einer politischen Kategorie und der Islam erhält für eine kulturalisierende Integrations- und Sicherheitspolitik den Status des »Staatsfeinds Nr. 1« (z.B. Ruf 2007, Mamdani 2002). Das Auftreten der Unterscheidungskategorie Muslim kann allgemein infolge des Wandels von Abgrenzungsmustern in Reaktion auf aktuelle Integration und Sesshaftwerden der Gastarbeitergenerationen in Europa beschrieben werden (vgl. Augé 1995). Zum Beispiel schreibt die Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus: »Als die ehemaligen Türken nun nicht mehr der Staatsangehörigkeit nach als anders kategorisiert werden konnten, gewann die Zuschreibung aufgrund religiöser Zugehörigkeit an Bedeutung.« (Spielhaus 2006: 30)
Anerkennungsdilemma Die Konjunktur der Unterscheidungskategorie Muslim im Integrationsdiskurs, welche u.a. unter dem Aspekt medialer Feindbildkonstruktion (z.B. Schiffer 2005, Hafez/Richter 2007), der Gruppierung alter und neuer Rechts-Parteien in Europa um das Thema Islamkritik (z.B. Bunzl 2005, Häusler 2008) und der Neuausrichtung deutscher und europäischer Sicherheits- und Einbürgerungspolitiken (Schiffauer 2007, Tezcan 2007) untersucht wurden, wird begleitet durch einen Anerkennungsdiskurs, geführt von europäischen Muslimen. Seit etwa den 1990er Jahren ist von Muslimen in Europa – Individuen, Gemeinden und Organisationen – verstärkt eine »Suche nach Anerkennung« (Schiffauer 2004: 355) zu be3 | Im Rahmen der Sarrazin-Debatte erklärte z.B. Bundeskanzlerin Angela Merkel am 16.10.2010 in einer Rede das »Konzept Multikulti« für »gescheitert« (vgl. Mühe/Hieronymus 2011). Ihr britischer Amtskollege David Cameron wählte für seinen vielbeachteten Abgesang auf die »doctrine of state-multiculturalism« die Münchner Sicherheitskonferenz am 05.02.2011 (vgl. Fekete 2011).
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obachten. Diese Suche drückt sich z.B. in Bestrebungen von Gemeinden aus, repräsentative Moscheen zu errichten, um dadurch aus dem – mit der sprichwörtlichen Hinterhofmoschee assoziierten – gesellschaftlichen Abseits hinauszutreten (vgl. z.B. Cesarie 2005). Auch die von der Soziologin Nikola Tietze (2001) beschriebene Entwicklung neuer islamischer Identitätsentwürfe junger Männer der zweiten Einwanderergeneration in Deutschland kann in diesem Zusammenhang gesehen werden. In ihrer in den 1990er Jahren unter jungen Muslimen in Hamburg durchgeführten Untersuchung, schildert sie, wie die Hinwendung zu unterschiedlichen Formen muslimischer Religiosität für ihre Gesprächspartner eine Möglichkeit der Verortung in der deutschen Gesellschaft darstellt. Über einen jungen Deutsch-Türken, dessen Antrag auf Einbürgerung von den deutschen Behörden abgelehnt wurde und der sich nun als Mitglied einer muslimischen Gemeinde kommunalpolitisch zu engagieren beginnt, schreibt Tietze: »Er, der als ›Türke‹ bzw. ›Ausländer‹ seinen Platz in der Öffentlichkeit nicht finden konnte, tritt durch seine religiöse Identifikation mit der Gesellschaft in einen Dialog.« (Tietze 1999: 212) Entscheidendes Element dieser Anerkennungssuche ist die von Musliminnen und Muslimen geführte Auseinandersetzung um die Zugehörigkeit des Islam zur Einwanderungsgesellschaft (vgl. Schiffauer 2004) und zwar in dem Maße, in dem die Herkunftsländer vor allem für die Nachkommen der Einwanderergenerationen in den muslimischen Gemeinden als konkrete Orte der Zugehörigkeit an Bedeutung verlieren und Europa bzw. die jeweiligen nationalen Gesellschaften in diesem Sinne an Bedeutung gewinnen. Werner Schiffauer (2004) zeigt, wie in den Versuchen der Neuverortung des Islam die Idee eines »Exil-Islam« (dessen zentraler Referenzpunkt die ferne Heimat darstellt) durch Ideen eines »Diaspora-Islam« (mit dem hauptsächlichen Bezug auf die Gesellschaft der aktuellen Lebensumstände) ersetzt wird. Die versuchte Neuverortung des Islam findet auf unterschiedliche Art und Weise statt und die Ideen eines DiasporaIslam äußern sich in unterschiedlichen Strategien und Positionen.4
4 | Schiffauer unterscheidet zwischen werteplural-individuierten, orthodoxkommunalistischen sowie antihegemonial-ultraorthodoxen Ansätzen (vgl. Schiffauer 2004: 362f.). Die Ansätze spiegeln einerseits die alten Fraktionierungen und Strömungen des »Exil-Islam« wider und unterschiedliche Islamverbände entwickeln jeweils unterschiedliche Positionen im Umgang mit der Diaspora-
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Die Entwicklung eines Diaspora-Islam findet dabei vor dem Hintergrund eines Anerkennungsproblems statt, nämlich dem als problematisch erfahrenen Verhältnis zwischen der Forderung nach Gleichheit und der Forderung nach Differenz (vgl. ebd.: 355f.). Hiermit ist die Erfahrung gemeint, nach der für Muslime in den europäischen Gesellschaften entweder eine gewollte Gleichstellung oder Gleichbehandlung nur zum Preis der Assimilation d.h. der Aufgabe von Differenz möglich zu sein scheint, oder umgekehrt das Recht auf Differenz – das öffentliche Bekenntnis, das Tragen des Kopftuchs, die religiöse Erziehung der eigenen Kinder – nur zum Preis der eigenen Veranderung und zum Preis von Ausschlüssen (sei es vom Schuldienst, vom Arbeitsmarkt oder gar von der Staatsbürgerschaft) möglich ist. Aus diesen Überlegungen folgt, dass nicht erst mit dem affirmativen Willkommensgruß des Innenministers an die Muslime in Deutschland zur Eröffnung der DIK die Verortung des Islam in Deutschland und Europa Thema in den Vorstellungen, Bemühungen und Hoffnungen von Muslimen in Deutschland wurde. Im Gegenteil, war die Auseinandersetzung um Zugehörigkeit des Islam und dessen Beheimatung in Deutschland innerhalb des Diskursfeldes Islam und mit daraus folgender Fragmentierung und Ausdifferenzierung von Positionen bereits vor jeder Dialoginitiative der Bundesregierung intensiv geführt worden. Der Islamdialog der DIK stellt somit aus Sicht der Akteure eines sich im Selbstformierungsprozess befindenden deutschen Islam auch die Möglichkeit dar, entwickelte Positionen einem Praxistest zu unterziehen, sie dabei evtl. weiterzuentwickeln, Grenzen auszuloten und zu verschieben, bestehende Bündnisse und Identifikationen zu überprüfen und neue Vorstellungen zu erarbeiten oder sich auf alte Felder zurückzuziehen.
D EUTSCHL AND ALS B EGRIFF DES G EMEINSAMEN : D IE DIK ALS D EUTSCHL ANDKONFERENZ Das Dilemma der Anerkennung, das in dem scheinbar unauflösbaren Widerspruch zwischen Gleichheit und dem Recht auf Differenz besteht, zeigt sich exemplarisch auch im politischen Dialog der DIK. Hier treffen der Situation. Gleichzeitig werden die unterschiedlichen Ansätze auch innerhalb der Gemeinden und quer zu den Verbandsgrenzen verhandelt.
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Integrationsdiskurs, der nach einer Grundlage/Begründung des Gemeinsamen sucht und gleichzeitig nach Loyalität und Integrationsbefähigung des Islam fragt, mit dem Diskurs der Muslime um Verortung und Anerkennung des Islam in Deutschland und Europa aufeinander. Insofern, als dass dieses Aufeinandertreffen in der Verhandlung der Frage der Zugehörigkeit des Islam zu Deutschland kumuliert und die Beantwortung dieser Frage nicht nur die Beschäftigung mit dem Islam sondern auch eine Bestimmung Deutschlands – vielleicht im Sinne der von Schäuble formulierten »gemeinsamen Zukunft« – erforderlich macht, lässt sich die Islam Konferenz auch als Deutschlandkonferenz betrachten. Entgegen der von Schäuble formulierten thematischen Festlegung: »[W]ir [beschäftigen] uns in der Deutschen Islam Konferenz ausschließlich mit dem Islam und mit den Muslimen« (Schäuble 2006), kann die Auseinandersetzung um die Grenzen der deutschen, nationalen Gemeinschaft und die Arbeit am Begriff einer moralisch-kulturellen Staatsbürgerschaft als wichtiges Element der auf der DIK geführten Debatte um Integration und Anerkennung des Islam angesehen werden. Dies zeigen z.B. die in der Struktur der DIK vorgegebenen Arbeitskreise. In Arbeitsgruppe 1 wird »Deutsche Gesellschaftsordnung und Wertekonsens« behandelt und in Arbeitsgruppe 2 geht es um »Religionsfragen im deutschen Verfassungsverständnis«.5 Dem scheinbar zum Trotz, sieht das Programm der DIK, das den Islamdialog als »Aufklärungsprojekt« (Tezcan 2011b: 94f.) konzipiert, den Kompetenzbereich Deutschland für die teilnehmenden Vertreterinnen und Vertreter der Muslime in Deutschland gar nicht vor. Sie sind lediglich eingeladen sich zum Thema Islam und Muslim-Sein zu äußern. Und sie sind es, die es im Zweifelsfall zu belehren gilt – über Deutschland und darüber was es heißen könnte, deutsch zu sein. »In der Bundesrepublik leben heute mehr als drei Millionen Muslime. Die Mehrheit von ihnen lebt gerne hier, aber manchen ist Deutschland auch in der zweiten und dritten Generation immer noch fremd«, sagt Wolfgang Schäuble in seiner Regierungserklärung anlässlich des Beginns der DIK. Der »pädagogische Impetus« (AmirMoazami 2009: 188) der DIK, der in solch einer Ansprache deutlich wird, bezieht sich vor allem auf das Wissen um Deutschland und die Autorität 5 | Darüber hinaus gab es in der ersten Phase der DIK neben dem »Gesprächskreis Sicherheit und Islamismus« noch die »Arbeitsgruppe Wirtschaft und Medien als Brücke« (AG3). Die Arbeitsgruppen und der Gesprächskreis trafen sich in regelmäßigen Abständen zwischen den jährlich stattfindenden Plenarsitzungen.
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darüber zu sprechen. Er durchzieht sämtliche von den Organisatoren der DIK eingeplanten Elemente zur Strukturierung des Dialogs, angefangen von der Einladungspraxis über die Themensetzung bis hin zum formalen Aufbau einzelner Sitzungen. Die Grenze der Anerkennung, die die formale Einrichtung der DIK für den Islam in Deutschland als Dialogpartner des deutschen Staates bedeutete, wird an diesem Punkt der festgelegten Kompetenzbereiche und damit verbundenen Sprechpositionen besonders deutlich, was im Folgenden näher ausgeführt werden soll.
D IALOG
ALS I NSTRUMENT DER I NTEGR ATIONSPOLITIK
Die Einladung zur DIK konnte von den verschiedenen geladenen Teilnehmern der Konferenz zunächst als Auszeichnung verstanden werden. Als eine mit allen Zeichen der politischen Bedeutsamkeit ausgestattete Veranstaltung verhieß die DIK, das Thema »Islam in Deutschland« sozusagen auf »höchster Ebene« zu behandeln und die Teilnehmer – ob Einzelpersonen, Amtsträger, Verbandsfunktionäre, Staatsdiener – bekamen ein Forum geboten, hierzu ihren jeweiligen Beitrag zu leisten. Die Einladung zum Dialog stellte darüber hinaus insbesondere für die als Vertreter der muslimischen Verbände und Moscheevereine geladenen Teilnehmer eine Geste der Anerkennung dar. Die Einrichtung der DIK durch die Bundesregierung war verbunden mit der Anerkennung des Islam als eine in Deutschland (auch) von deutschen Männern und Frauen praktizierte Religion und der Einbezug der unterschiedlichen Vertreter des »organisierten Islam« schien auch deren jeweilige Arbeit und ihr Bemühen hinsichtlich von Teilhaberechten, aber auch Differenz- und Minderheitenrechten für Muslime in Deutschland zu würdigen. Das Angebot zum Dialog konnte als Zeichen interpretiert werden, dass diese Bemühungen von der Politik ernst genommen wurden. Gleichzeitig stellte sich das Angebot zum Dialog sehr schnell aber auch als das Instrument einer Integrationspolitik dar, die – insbesondere durch Rahmung und Themensetzung – den Islam vor allem als ein Problem definiert und behandeln will.6 Die Ambivalenz aus Erwartung und Ernüchterung, die 6 | Die thematische Ausrichtung der Konferenz (Plenarsitzungen und Arbeitskreise) fokussiert stark auf vermeintliche Integrationsschwierigkeiten sozio-kultureller Art von Einwanderern und ihren Nachkommen sowie auf Fragen der inne-
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dieses Verfahren der Problembehandlung durch die deutsche Innenpolitik im Kontext des Islamdiskurses bei geladenen Verbands- und Gemeindevertretern auslösen müsste, wird beispielhaft deutlich anhand der Äußerung eines DITIP-Funktionärs im Interview mit der Soziologin Kerstin Rosenow und dem Politologen Matthias Kortmann: »Ja es ist natürlich glücklich und unglücklich gleichzeitig. Also das Gespräch, auf das Gespräch freuen wir uns, aber dass das Gespräch nur im Rahmen der Sicherheitsdebatte zustande kommt…«. (zitiert nach Rosenow/Kortmann 2011: 74) Neben dem speziellen thematischen Rahmen, der für den Islamdialog vorgesehen war, schien noch ein weiterer Umstand die Anerkennungsgeste der DIK zu relativieren. Geladen waren als Repräsentanten der Muslime in Deutschland neben Vertretern der in Deutschland aktiven Moscheevereine, d.h. den Organisatoren islamischer Religionsausübung,7 auch sogenannte »nicht organisierte Muslime«. Dies waren Angehörige nicht-religiöser Migrantenorganisationen wie der Türkischen Gemeinde Deutschlands oder auch »unorganisierte Individualisten«, wie z.B. die islamkritische Publizistin Necla Kelek.8 Die heterogene Liste der Teilnehmer verweist darauf, ren Sicherheit und Terrorprävention, sowie die diesbezügliche Zusammenarbeit zwischen muslimischen Gemeinden und Sicherheitsbehörden. 7 | Als »organisierte Muslime« waren zur ersten Runde der DIK Vertreter der größten Moscheeverbände in Deutschland – DITIP (Yildirim), Zentralrat der Muslime in Deutschland (Köhler), Islamrat für die BRD (Kizilkaya) und VIKZ (Yilmaz) – sowie der Alevitischen Gemeinde Deutschlands (Tobrak) eingeladen. Für die zweite Runde wurde dem Islamrat lediglich eine ruhende Mitgliedschaft angeboten, was dieser als Ausladung empfand und deshalb die DIK verließ. Der ZMD zog sich ebenfalls zurück. Zusätzlich – »nicht als Ersatz«, wie es von Seiten der DIK heißt (vgl. Busch/Goltz 2011: 35) – wurden zur zweiten Runde die Islamische Ge mein schaft der Bosniaken in Deutschland und der Zentralrat der Marokkaner in Deutschland zur DIK eingeladen. 8 | Zur Gruppe der zum Auftaktplenum der DIK am 27.09.2006 geladenen »nichtorganisierten Muslime« zählten der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde Kenan Kolat, die Autoren Navid Kermani und Feridun Zaimo÷lu, die als Islamkritikerinnen gehandelten Necla Kelek und Seyran Ateú, die Lehrerin Havva Yakkar, der Unternehmer Badr Mohammed, der Volkswirt Nassir Djafari sowie die Zahnärztin Ezhar Cezairli. Die mit der Organisation der DIK betrauten Reinhard Busch und Gabriel Goltz sprechen hier von »muslimischen Einzelpersönlichkeiten […] also Vertreter[n] einer muslimisch geprägten Zivilgesellschaft« (Busch/Goltz
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dass die DIK den Islam vor allem als eine (kulturelle) Identität von Migranten begreift, unabhängig von religiösen Praxen oder eines Bekenntnisses. Hier wird der integrationspolitische Ansatz hinter der Anerkennungsgeste der DIK deutlich. In der Einrichtung der DIK, zusammen mit der Anerkennung des Islam als Dialogpartner auf nationaler Ebene, lässt sich ein Programm erkennen, das darin besteht, 1. die Frage der legitimen Zugehörigkeit zu Deutschland in einer über das formale Staats- und Religionsrecht hinausweisenden Kulturdiskussion zu verhandeln und 2. zu versuchen, indirekt und restriktiv Einfluss zu nehmen auf den Selbstformierungsprozess eines deutschen Islam.9 Politische Analysen der DIK beschreiben zwei, mit diesen beiden Zielsetzungen einhergehende, unmittelbare Effekte der DIK, nämlich »die ›Islamisierung‹ der Integrations- und Sicherheitsdebatte« (Schubert/Meyer 2011: 15) einerseits, und die »Ethnisierung der Religion« (Azzaoui 2011: 260) andererseits.10
2011: 31), die in das Plenum der DIK berufen wurden. Die für einige der Nicht-Organisierten im Verlauf der Konferenz (z.T. selbst)gewählte Bezeichnung »säkulare Muslime« nennt Levent Teczan eine »strittige Kategorie« (Tezcan 2011b: 85), die die Anbindung der verschiedenen Vertreter an den Islamdiskurs verdeutlicht (vgl. ebd.: 85ff.). 9 | Hierzu auch die gouvernementalitätstheoretischen Besprechungen der DIK von Levent Tezcan (2007, 2011a/b), Schirin Amir-Moazami (2009) und Frank Peter (2011), die die Initiierung des Islamdialogs und die Einrichtung der DIK als eine Neuausrichtung der Regierungspraxis gegenüber der (post)migrantischen Bevölkerung analysieren: eine Regierungspraxis, die einerseits die (Selbst-)Formierung eines deutschen Islam aufgreift, sich dazu verhält und andererseits den Islam gleichzeitig zum Gegenstand einer Integrationsdebatte erklärt und zwar zum Zweck der Produktion eines regierbaren muslimischen Subjekts. 10 | Die Islamisierung der Politik zielt auf die Überführung von Gegenständen der Integrationspolitik – vor allem Probleme des Arbeits- und Bildungsmarktes – in den Aufgabenbereich der in der DIK neu institutionalisierten Islampolitik. Die Ethnisierung der Religion beschreibt, wie gleichzeitig die Unterscheidungskategorie Muslim auch auf politischer Ebene Bedeutung gewinnt. Die Zuordnung zu dieser Kategorie erfolgt vor allem aufgrund des jeweiligen »Migrationshintergrunds« und einer vermeintlichen Verbindung zu einer vage definierten »muslimisch geprägten Zivilgesellschaft«, wie die Organisatoren der DIK argumentieren (Busch/Goltz 2011: 31).
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Diese Effekte des Islamdialogs der DIK zeigen sich konstitutiv für die im Islamdialog angerufenen politischen Subjekte – die Muslime in Deutschland. Sich auf den Islamdialog einzulassen und das Angebot zum Dialog anzunehmen bedeutete für die zur DIK geladenen Islamvertreter notwendigerweise sich zum einen als Muslime zu identifizieren und damit eine Form der Selbst-Ethnisierung zu betreiben und zum anderen die Problembehaftung des Verhältnisses zwischen Muslimen und Deutschland als Gegenstand des Dialogs zu akzeptieren und damit eine Problematisierung der eigenen Position, eine Selbst-Problematisierung vorzunehmen.11 Damit ist die Beschränkung der Anerkennung beschrieben, die die Einrichtung der DIK hinsichtlich eines gleichberechtigten Dialogs für die Muslime in Deutschland bereithielt. Sie beinhaltete die klare Zuordnung zu einer Differenzkategorie Muslime und damit die Abgrenzung gegenüber Nicht-Muslimen und die Problematisierung der Zugehörigkeit zu Deutschland. Die Stimme, die der deutsche Islam – in Person der multiplen Akteure des Dialogs – mit der DIK erst verliehen bekam, war bestimmt als die einer problematischen Identität. Die Zuweisung von spezifischen Sprechpositionen und Problembereichen auf der DIK resultiert aus den Vorstrukturierungen des Dialogs, welche sich – wie beschrieben – vor allem aus der spezifischen Themensetzung und der Auswahl der Teilnehmer ablesen lassen. Als eindrucksstarkes Beispiel für ein Ordnung vorgebendes Strukturelement der DIK und damit weitergehend ein Beispiel für den Islamdialog als Politikinstrument 11 | Von dieser das Dialogverhältnis der DIK grundlegend strukturierenden Zuschreibung sind wohlgemerkt nicht allein diejenigen Vertreter der Islamseite betroffen, die an der Konferenz explizit als Islam-Funktionäre und Sprecherinnen der unterschiedlichen Verbände und Moscheevereine teilnehmen. Entscheidende Bedeutung kommt in diesem Verhältnis den sogenannten »nicht organisierten Muslimen« zu. Die Dialogordnung der DIK erteilt ihnen die Sprechberechtigung als Muslime und platziert sie damit in das Feld der Islamvertreter. Gleichzeitig liegt ihre Aufgabe innerhalb des Arrangements des Islamdialogs darin, auf Distanz zu den »organisierten Muslimen«, den Vertretern der Verbände und Moscheevereine zu gehen. Hier sind sie praktisch gezwungen, sich mit ihnen über die angemessene Auslegung des Islam zu streiten und zwar nicht etwa als Experten, in der einen oder anderen Streitfrage, unabhängig des eigenen Glaubens oder der Selbstbezeichnung, sondern im Namen der von der Konferenz gezählten 3,5 bis 4 Millionen Muslime in Deutschland.
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zur Festlegung von Grenzen der Zugehörigkeit, werde ich im Folgenden den Sitzordnungsplan, der die Sitzordnung, wie sie zur Eröffnungssitzung der DIK festgelegt war, darstellt (Abbildung 1), vorstellen und dokumentanalytisch besprechen.
E XKURS : P L ATZ VERTEILUNG
IM I SL AMDIALOG
Seit der ersten Sitzung am 27.09.2006 im Berliner Schloss Charlottenburg ist das sogenannte Plenum, laut einer Selbstdarstellung auf der offiziellen Homepage, das »oberste Gremium der DIK« (DIK-Redaktion 2010). Der Onlineartikel gibt Auskunft über die Zusammensetzung des Plenums. Die Redaktion schreibt hier rückblickend über die erste Runde der DIK: »Die 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Plenums waren sozusagen das Herz der Deutschen Islam Konferenz. Ihr fester Kreis setzte sich zusammen aus 15 Vertretern von Bund, Ländern und Kommunen sowie 15 Muslimen. Darunter fünf Vertreter muslimischer Organisationen und zehn weitere Muslime«. Es folgt eine kurze Begründung dieser Auswahl: »Nur so gelingt es, der Vielfalt der Muslime in Deutschland annähernd gerecht zu werden.« (Ebd.) Anhand der Sitzordnung lässt sich wenig sagen über die tatsächlichen Verhältnisse, in denen die Teilnehmer zueinander standen. Auch ein Rückschluss auf den Verlauf der Diskussionen ist mittels dieses Dokuments nur bedingt möglich. Allerdings kann die formale Betrachtung der Sitzordnung einen Eindruck von der Konzeption des Dialogs vermitteln; davon, wie das erste Treffen der DIK angelegt war und welche Gesprächspolitik seitens des veranstaltenden Bundesinnenministeriums sich darin äußert. Zunächst ist es kein runder Tisch, an dem sich der Kreis der 30 Teilnehmer versammeln soll. Die Sitzordnung des Auftaktplenums der DIK sieht eine lang gezogene Tafel vor, an der sich 15 Vertreter des deutschen Staates und 15 eingeladene Islamvertreter einander gegenübersitzen. Den Platz in der Mitte des Tisches weist die Sitzordnung auf der Staatsseite dem »Minister« zu, womit der Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble gemeint ist. Er ist, neben der Bundesjustizministerin Brigitte Zypries, höchster anwesender Repräsentant der Bundesregierung und als Gastgeber der wichtigste Mann am Tisch. Links und rechts von ihm sitzen die »Vertreter von Bund, Ländern und Kommunen«. An der gegenüberliegenden Seite der Tafel sind die Plätze der »Muslime in Deutschland«. Die Anordnung
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Abbildung 1: Sitzordnung zum Auftaktplenum der Deutschen Islam Konferenz
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Quelle: Deutsche Islam Konferenz 2006, Tagungsunterlagen
der beiden gegenüberliegenden Tischseiten suggeriert zunächst, dass hier zwei geschlossene Parteien aufeinandertreffen, vielleicht vergleichbar mit Tarifparteien, die miteinander in Verhandlung treten. Während die Rolle des Verhandlungsführers auf der Staatsseite aber eindeutig mit dem Platz des Innenministers besetzt ist, fehlt das Prinzip einer hierarchischen Aufstellung auf der Islamseite völlig. Es scheint, als ob bei der Zuteilung der Islam-Plätze bewusst darauf geachtet worden wäre, das Feld aufzulockern, um die Vielfalt der eingeladenen Islamvertreter auch durch die Sitzplatzverteilung hervorzuheben und vielleicht um Blockbildungen zu vermeiden. Die Plätze der »organisierten Muslime« – man erkennt sie an der jeweiligen Organisationsbezeichnung, die den Namen der Teilnehmer hinzugefügt ist – sind immer umgeben von denen der »nicht-organisier-
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ten«, der weiteren Muslime. Es drängen sich zwei Vergleiche auf: Erstens, mit einer Festtafel, bei der die Gastgeberin darauf achtet, dass die unterschiedlichen Gäste im Laufe der Veranstaltung die Möglichkeit erhalten, miteinander ins Gespräch zu kommen und sich gegenseitig kennenzulernen. Zweites, mit der Sitzordnung einer Schulklasse, bei der die Lehrerin darauf bedacht ist, Unruhestifter voneinander zu isolieren und sie zu diesem Zweck auseinanderzusetzen. Was der Sitzplatzverteilung der Islamseite fehlt, ist die innere Ordnung der Staatsseite. Darin wird ein prinzipiell ungleiches Verhältnis ausgedrückt. Während die Position der Staatsseite fest und geschlossen wirkt, gesichert durch die zentrale Stellung des Ministers, sind die Positionen der Islamseite vakant. Es wird deutlich, dass sich hier nicht zwei Gesprächsparteien auf Augenhöhe gegenübersitzen. Mit der Gegenüberstellung der geordneten Staatsseite und der zusammengewürfelten Islamseite entsteht eher der Eindruck einer Prüfungssituation. In der Sitzordnung, die den Teilnehmern jeweils einen Platz zuweist, spiegelt sich das Programm des Islamdialogs in zweierlei Weise. Erstens, beschreibt die räumliche Gegenüberstellung der zwei Seiten die grundsätzliche Trennung der Sprechposition »deutscher Staat« und »Islam in Deutschland«. Zweitens, wird in der Konfrontation der staatlichen Ordnung einerseits mit der muslimischen Vielfalt andererseits der Dialog schon in der Sitzordnung als Musterung inszeniert. Die Aufgabe, die hiernach den Islamvertretern zufällt, ist es, sich zu erklären und darzustellen, während es den Staatsvertretern obliegt, Fragen zu stellen und zu beurteilen.
F A ZIT
UND
A USBLICK
Die Anerkennung, die dem Islam durch die Einrichtung der DIK zuteil wurde, beschränkt sich auf die Anerkennung einer Sonderstellung. Vorgesehen war für den Islamdialog allenfalls die identitätspolitische Arbeit zur Anerkennung und Integration von Unterschieden, nicht aber die Aufhebung von Unterschiedlichkeit, der Bruch mit einer Identität der Anderen und die Konstruktion einer Vorstellung von Zugehörigkeit, in der Muslime selbstverständlicher und nicht besonderer Teil des Gemeinsamen sind. Diese Beschränkung ergibt sich aus den Bedingungen, an die der Dialog mit dem Islam geknüpft war: Teilnehmende Islamvertreter waren angehalten 1. sich als Muslime zu identifizieren ([Selbst-]Ethnisierung) und 2. die
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Problembehaftung des Verhältnisses zwischen Muslimen und Deutschland zu diskutieren ([Selbst-]Problematisierung). Die kollektive Repräsentation der geladenen Islamvertreter als Muslime erfolgt dabei nicht allein in diskursiven Zuordnungen im Vorfeld oder im Rahmen des Dialogs, sondern erfährt auch in der Strukturierung des tatsächlichen Dialogs eine Wirkung, was das Beispiel der Sitzordnung zum Eröffnungsplenum zeigt. Entgegen der Eröffnungsformulierung des Innenministers ist »der Islam« nach wie vor kein selbstverständlicher »Teil Deutschlands«.12 Das Konfliktfeld Islam wird nach wie vor als zentrale Herausforderung in den aktuellen Auseinandersetzungen um den politischen Umgang mit Pluralität und Vielfalt, Fragen national-europäischer Identitätsfindung sowie der Bestimmung von transnationaler, multikultureller Staatsbürgerschaft verhandelt. Die anhaltenden Diskussionen um Integrationsschwierigkeiten von muslimischen Einwanderern und deren Nachkommen und die Frage nach der Anerkennung der islamischen Religion, wie sie in Konflikten um Moscheebauten, muslimischen Religionsunterricht, Terrorgefahr etc. verhandelt werden, lassen auch weiterhin politische Maßnahmen und die Einrichtung von Institutionen wie den Islamdialog notwendig erscheinen. Entsprechend fand die Islam Konferenz in der neuen Regierungslegislatur ab 2010 in einer zweiten Runde unter den Bundesinnenministern Thomas de Maizière und später Hans-Peter Friedrich ihre Fortsetzung. In diesem Beitrag habe ich versucht das Diskursfeld, in dem die DIK agiert und aus dem heraus sie entstanden ist sowie die binären Kategorien und möglichen Sprechpositionen, die den Islamdialog vorstrukturieren, darzustellen. Die im Diskurs um die Teilwerdung des Islam vorherrschende Teilung von Deutschen/Muslimen und die vereinheitlichende Großkategorie Muslim, die losgelöst von Religion als ethno-kulturelle Kategorie auch den sogenannten »säkularen Muslimen« die problematisierte Sprecherposition Muslim zuweist, zeigt sich im formalen Aufbau des Dialogs der DIK, der Themensetzung, der Einladepraxis bis hin zur räumlichen Strukturierung der Sitzungen. Es wäre allerdings verkürzt die DIK ledig12 | Dies zeigt sich auch an den bestürzten Reaktionen großer Teile der Öffentlichkeit auf die Äußerung Christian Wulffs am 03. Oktober 2010 kurz nach seinem Amtsantritt als Bundespräsident, in der er die Feststellung Schäubles, der Islam sei ein Teil Deutschlands, im Grunde wiederholt. Zum Beispiel titelt die Bild-Zeitung am 06.10.2010 auf Seite 1: »Warum hofieren sie den Islam so, Herr Präsident?«.
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lich als politisches Instrument zur Durchsetzung und Etablierung einer regierbaren Kategorie Muslim zu beschreiben. Gerade aus kulturanthropologischer Perspektive stellt sich die Frage nach den konkreten Akteuren, den Taktiken und Praxen, die in den vorgegebenen Strukturen vollzogen werden: Wie wird die binäre Spaltung Muslim/Deutscher von den als Muslime angesprochenen Vetretern auf der DIK angenommen, institutionalisiert oder herausgefordert? Wie wird das Angebot zum Dialog aufgegriffen und welche Formen der Dialogführung werden dabei – im Einklang oder im Widerstreit mit der anleitenden Ordnung des Dialogs – entwickelt? Einen Hinweis darauf, wie muslimische Teilnehmer der DIK auf die durch den Islamdialog erfolgte zuschreibende Ansprache antworten, und diese mit eigenen Aktivitäten und Erwartungen verknüpfen, liefert Frank Peter. Er beobachtet solche Gegendiskurse zum objektivierenden Islamdiskurs außerhalb des Dialogs der DIK und findet dafür – unter Rückgriff auf die politische Philosophie Jaques Rancières – den Begriff der »tolerance ›politics‹« (Peter 2010: 135). Auf den Aspekt des Zurücksprechens auf der Konferenz selbst, geht Schirin Amir-Moazami (2011) ein, wenn sie beobachtet, wie Vertreter der »organisierten Muslime« in Debatten der DIK in ihrer Argumentation auf Verfassungsnormen zurückgreifen (ebd.: 127) und damit den gegen sie latent erhobenen Vorwurf der potenziellen Verfassungsuntreue gewissermaßen umkehren. Die im deutschen Grundgesetz zugesicherte Religionsfreiheit und die Notwendigkeit eines säkularen Staates liefern dabei starke Argumente gegen den Versuch der Einflussnahme durch die Politik und für die Anerkennung des Islam als Teil Deutschlands. Damit wird ein Bruch mit der Gegenüberstellung von deutschem Staat und den Muslimen in Deutschland vollzogen. Indem hier die Grenze der verschiedenen Zuständigkeiten im Islamdialog überschritten wird, ist die in der Vorstrukturierung der DIK angelegte Sprechordnung herausgefordert.13 Der Verweis auf das deutsche Grundgesetz als gemeinsamen Bezugspunkt aller Anwesenden und die Betonung seiner universellen Gültigkeit und Legitimität ist Beispiel für ein Argumentationsmuster, nach 13 | Entsprechend fallen die Versuche der Staatsseite aus, die entstandene Unklarheit darüber, wer sich auf das Grundgesetz berufen kann, aufzulösen und ihre diesbezügliche Autorität im Dialog neu zu legitimieren, z.B. indem Wolfgang Schäuble bei der Eröffnung der dritten Plenarsitzung mit der Göttinger Verfassungsrechtlerin Christine Langenfeld darauf insistiert: »Formale Treue zur Verfassung reicht nicht« (Langenfeld 2007, vgl. Schäuble 2008).
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dem Islamvertreter auf der DIK zugleich als Deutsche, Muslime, religiöse und säkulare Bürger sprechen. Die als Muslime angesprochenen Akteure sind nicht in der Vorstrukturierung der DIK gefangen, sondern stellen diese in Frage und zwar durch ihr Eingreifen in die Auseinandersetzungen über die Bestimmung des Gemeinsamen und die strittige Frage, was es heißt, deutsch zu sein und auf welchen Grundlagen Integration und Anerkennung gefordert werden können. Hier ist es nicht allein die Konferenz und eine mit ihr vollzogene Integrationspolitik, die auf die Teilnehmer wirkt, sondern die Teilnehmer machen hier etwas mit der Konferenz. An dieser Schnittstelle eröffnet sich eine weitergehende Forschungsperspektive, die die Politiken der Grenzverschiebungen im politischen Dialog der Deutschen Islam Konferenz in den Blick nimmt und damit der Formierung von politischer Subjektivität in Verbindung mit den Prozessen der politischen Neustrukturierung des »Nationalstaats im Umbau« (Götz 2011: 348) nachzugehen versucht.
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Klassifizieren für einen guten Zweck Wie psychologische Traumaatteste begannen, im ausländerrechtlichen Verwaltungshandeln relevant zu werden 1 Anne-Kathrin Will
Zuwanderung und Abwehr von Flüchtlingen bilden ein stark umkämpftes politisches (Teil-)Feld im Sinne Bourdieus.2 Es spannt sich zwischen den Positionen »Grenzen auf für alle« und »das Boot ist voll« auf. Die erste Position ist eher im linken politischen Lager zu finden. Zu ihren Vertretern3 zählen auch Organisationen, Institutionen und Privatpersonen, die 1 | Ich danke Ann-Katrin Zöckler, Asta Vonderau und Jens Adam für wertvolle Hinweise und Anregungen im Entstehungsprozess dieses Textes. 2 | Bourdieu beschreibt ein politisches Feld als ein relativ geschlossenes, von Politikern und anderen Experten dominiertes Milieu: »Das Feld ist in der Tat ein Mikrokosmos, eine Art Welt für sich, eine zu einem guten Teil, aber nicht völlig, geschlossene Welt, sonst gäbe es kein politisches Leben, aber dennoch ziemlich geschlossen, ziemlich unabhängig von dem, was außerhalb vor sich geht. Und in dieser kleinen Welt, in diesem Mikrokosmos, wird ein ganz besonderes Spiel gespielt, in dem besondere Interessen generiert werden. Ich glaube, dies ist das Wichtigste: In diesem Spiel, an dem natürlich die Politiker, die Abgeordneten usw. teilnehmen, aber auch Journalisten, politische Kommentatoren, Meinungsforscher usw., werden Interessen definiert, die unabhängig sind von den Interessen der ein fa chen Wähler, der Klientel, und das wird von den Laien häufig gesehen, die dann eine Art Antiklerikalismus entwickeln.« (Bourdieu 2001: 30). 3 | Ich verwende im Text der besseren Lesbarkeit halber das generische Maskulinum. Das soll jedoch nicht vergessen lassen, dass sich in den beschriebenen Unterstützungsstrukturen für Flüchtlinge vor allem Frauen engagierten.
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sich in der Flüchtlingsarbeit engagieren. Die zweite Position findet sich überwiegend im konservativen politischen Spektrum. Sie wurde auch von allen Regierungsparteien seit Beginn der 1990er Jahre vertreten und bestimmte den Umgang mit Flüchtlingen seit dieser Zeit. Die Verwaltung ist der verlängerte Arm der Politik und deshalb betrachte ich sie als Teil des politischen Feldes. Neu im Feld der Aufenthaltsgewährung für Flüchtlinge sind Repräsentanten der Psy-Disziplinen, darunter versteht Nikolas Rose »all those disciplines which, since about the middle of the nineteenth century, have designated themselves with the prefix psy – psychology, psychiatry, psychotherapy, psychoanalysis.« (Rose 1998: 10) Dass Psy-Experten neuerdings einen Einfluss darauf haben, ob jemand als Flüchtling in Deutschland bleiben darf, ist im Sinne von Michel Foucault eine »Oberfläche des Auftauchens« (Foucault 1981: 62). Als solche charakterisiert er historische Zeitpunkte, in denen ein neuer Diskurs entsteht oder sich alte Diskurse neu formieren. Foucault selbst zeichnet dies für die Entstehung der Diskurse über Geisteskrankheit und Sexualität beispielhaft nach (Foucault 1973, 1983). In dem von mir beschriebenen Zusammenhang treten die Psy-Disziplinen in ein bestehendes Feld ein, das sich um die Flüchtlingsverwaltung gebildet hat – d.h. um die Registrierung, Unterbringung, Anerkennung oder Ablehnung als Flüchtling usw. – und strukturieren es neu. Diese »Oberfläche des Auftauchens«, ihre Bedingungen und weiteren Implikationen untersuche ich anhand des Phänomens »Kriegstraumatisierung« von bosnischen Flüchtlingen und zeichne beispielhaft nach, wie psychologisches Wissen in ausländerrechtliches Verwaltungshandeln einging und sich unter anderem dort materialisierte. Im Mittelpunkt meiner Forschung4 stehen die konkreten Aushandlungen eines Aufenthaltsrechts für traumatisierte bosnische Flüchtlinge in Berlin. Diese begannen Mitte der 1990er Jahre und materialisierten sich im Jahr 2002 u.a. in autorisierten Gutachterlisten für Berlin und einem Handbuch für die Begutachtung in aufenthaltsrechtlichen Kontexten (Haenel/Wenk-Ansohn 2004). Es handelt sich um ein Beispiel, das trotz seiner Begrenztheit die Wirkungsweise und alltäglichen Ausformungen von Experten-Diskursen verdeutlicht. Der spezielle Diskurs, der in den 1990er Jahren in Deutschland über »kriegstraumatisierte bosnische Flüchtlinge« entstand, veranschaulicht a) 4 | Der vorliegende Beitrag basiert auf meiner Dissertation, auf deren Ergebnisse ich auch im Text verweise.
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wie Definitions- und Entscheidungsmacht zwischen Fachleuten verschiedener Disziplinen (Psy-Vertreter und Ausländerverwaltung) verhandelt wurden, b) wie es Psychiater und Psychologen schafften, ein neues Kompetenzfeld für sich zu erschließen und c) wie durch die Berücksichtigung einer Traumatisierung eine konsequente und restriktive Rückkehrpolitik »humaner« erschien. In meinen Ausführungen konzentriere ich mich auf zwei Interessengemeinschaften: Zum Ersten die Berliner Ausländerverwaltung in Form der Ausländerbehörde und des ihr vorgesetzten Berliner Senats für Inneres und zum Zweiten Psychologen und Psychiater, die sich in der Flüchtlingsarbeit engagierten. Hinzu kommt als dritter Akteur die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung selbst, die verkürzt oft als Traumatisierung5 bezeichnet wird. Wenn ich die Diagnose als Akteur betrachte, so folge ich damit einer zentralen Forderung der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), nichtmenschliche Akteure explizit zu berücksichtigen (Clarke 2005: 60ff.). Diese Forderung resultiert aus der Beobachtung, dass gebräuchliche Technologien, Versuchstiere oder Konzepte in Analysen nicht einfach auf menschliche Hilfsmittel reduziert werden können, sondern ein Eigenleben führen und mit den beteiligten menschlichen Akteuren interagieren.
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MIT
R AUSCHEN
Die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung ist als Klassifikationskategorie derart flexibel, dass sie als »boundary object«6 (Star/Griesemer 5 | In diesem Artikel geht es um Kriegstraumatisierungen, also Traumatisierungen, die durch Kriegserlebnisse ausgelöst wurden. Die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung umfasst alle Arten von Traumatisierung und damit auch solche, die aus Erfahrungen wie Unfällen, Katastrophen oder kriminellen Übergriffen resultieren. 6 | »Boundary objects are both plastic enough to adapt to local needs and constraints of the several parties employing them, yet robust enough to maintain a common identity across sites. They are weakly structured in common use, and become strongly structured in individual-site use. They may be abstract or concrete. They have different meanings in different social worlds but their structure is common enough to more than one world to make them recognizable means of translation. The creation and management of boundary objects is key in de-
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1999) funktionieren konnte. Für die beteiligten Akteure standen jeweils ganz unterschiedliche – und zum Teil widersprüchliche – Bedeutungen im Vordergrund. Die Diagnose stellte das Bindeglied zwischen den sich in der Flüchtlingsarbeit engagierenden Psy-Vertretern und der auf Zuwanderungsbegrenzung ausgelegten Ausländerverwaltung dar. Kriegstraumatisierungen, genauer ihre Feststellung und Therapie, waren die Voraussetzungen, damit die Berliner Ausländerverwaltung und Psy-Vertreter interagierten und ein Netzwerk bildeten, selbst mit unterschiedlichen Vorstellungen von Traumatisierungen. »The point is not who believed what when but rather that the category itself became an object existing in both communities. It was the medium of communication, whatever else it may also have been.« (Bowker/Star 2000: 298) Beide Seiten sprachen miteinander über Kriegstraumatisierung, die sich in der Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung kristallisierte, und versuchten jahrelang ein praktikables Vorgehen zu etablieren. Weil die Diagnose inhaltlich schwammig ist, gelang es beiden Interessengemeinschaften an sich unvereinbare Ziele zu verbinden. So versuchten die Psychologen und Psychiater, den Flüchtlingen über die Bestätigung einer Posttraumatischen Belastungsstörung einen weiteren (und perspektivisch unbefristeten) Aufenthalt zu ermöglichen. Gleichzeitig sah die Ausländerbehörde in der Diagnose eine im Herkunftsland derzeit nicht behandelbare, vorübergehende psychische Erkrankung, die einen weiteren befristeten Verbleib – bis zur Heilung – in Berlin erforderte. Für Psy-Experten in der Flüchtlingsarbeit war die Diagnose leicht zu bestätigen, denn die Symptome sind bei näherer Betrachtung recht diffus und allgemein (vgl. Will 2010: 154). Darunter fallen Schlafstörungen und Nervosität. Beides sind Symptome, die bei verordneter Arbeitslosigkeit durch ein Arbeitsverbot, der Unterbringung in überfüllten Wohnheimen und der Ungewissheit über das Schicksal von Familie und Freunden für viele Flüchtlinge alltägliche Beschwerden waren. Für die Ausländerbehörde ist eine psychische Erkrankung ein Ausnahmetatbestand, der die Abweichung vom ausländerrechtlichen Credo der Zuwanderungsbegrenzung rechtfertigen muss. In der Regel sind dies lebensgefährliche Erkrankungen oder chronische Krankheiten, die sich bei einer Rückkehr verschlechtern können, wenn ihre Versorgung im Herkunftsland nicht gewährleistet ist. veloping and maintaining coherence across intersecting social worlds.« (Star/ Griesemer 1999: 509)
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Die notwendige Diagnostik von Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) in ausländerrechtlichen Verfahren kann als eine Technologie verstanden werden, die eine psychische Krankheit für eine Behörde bestätigt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die Art und Weise der Diagnosebestimmung in den Psy-Disziplinen seit der Formulierung verbindlicher Symptome im Diagnostic and Statistical Manual (DSM) der American Psychiatric Association im Jahr 1980 grundlegend verändert hat. Denn gleichzeitig mit der Einführung des DSM wurden diagnostische Checklisten entwickelt, die von Psy-Fachleuten objektivierend »Instrumente« genannt werden. Sie sollen eine präzise Diagnostik und die Vergleichbarkeit innerhalb epidemiologischer Studien gewährleisten (Möller 2008: 61). Die Berliner Psychiater und Psychologen berücksichtigten diese Checklisten und etablierten am Ende der Aushandlungsprozesse um ein Aufenthaltsrecht für traumatisierte bosnische Flüchtlinge ein verbindliches, standardisiertes Vorgehen für die Begutachtung von Flüchtlingen (und Asylbewerbern) und nicht zuletzt sich selbst als Expertenkreis. Diese ausformulierten Standards sollten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Diagnostik immer ein gewisses »Rauschen« enthält. Die Lebensumstände der Flüchtlinge, die die Symptomatik beeinflussten, wurden bereits erwähnt und auch die Flexibilität der Diagnose. Hinzu kam, dass Psy-Vertreter entweder die Flüchtlinge unterstützten oder sie (mit-)verwalten halfen und ihnen dementsprechend entweder mit Wohlwollen oder Skepsis begegneten. Alles in allem führte dies zu einer Klassifikation der Flüchtlinge als traumatisiert oder nicht-traumatisiert, die von vielen äußeren Einflüssen abhing. Bevor ich aber im Folgenden auf die konkreten Aushandlungsprozesse eingehe, möchte ich noch zwei theoretisch-methodische Verortungen meiner Forschung vornehmen.
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TOP - DOWN
– S TRUK TUREN
Theoretiker wie Michel Foucault und auf ihn aufbauend Nikolas Rose und Ian Hacking implizieren für die Analyse sozialer Praxen einen top-down Ansatz, in dem sie nach den Strukturen fragen, die menschliches Handeln bestimmen. Foucault schuf mit seinen Untersuchungen über totalitäre Institutionen wie das Gefängnis, die Klinik oder psychiatrische Anstalt sehr produktive theoretische Grundlagen zur Analyse von Machtverhältnissen. Nikolas Rose setzte dieses Vorhaben fort und nutzte Foucaults
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theoretische Konzepte, um sie auf die Psy-Disziplinen anzuwenden. Deren gesellschaftliche Popularität drückt sich nicht nur in steigenden Zahlen psychischer Erkrankungen und Behandlungen aus, sondern auch in einer Durchdringung des westlichen Alltags von Ratgebern, Selbsthilfegruppen und professionellen Coachings für Familie, Beruf und das Selbst (Rose 1998, 1990, Illouz 2011, Maasen et al. 2011). Ian Hacking entwickelte das Denken Foucaults ebenfalls weiter und ergänzte dessen Konzept der Bio- und Anatomopolitiken um das der Memoro- oder Gedächtnispolitiken. Dabei versteht er letztere als weiteren Regulierungsmechanismus, der sich nicht mehr auf Körper bezieht, d.h. den individuellen Körper oder den Körper als Teil einer nationalen oder ethnischen Gruppe (Foucault 1983: 166), sondern zusätzlich auch auf das Gedächtnis des Individuums. Mit direktem Bezug auf Foucaults Pole und deren Verbindungen schreibt Hacking: »The metaphor of poles and intermediary relations hardly gets at the complexities, yet I have found it useful to adopt it. What I call memoro-politics is a third extreme point from which (to continue the metaphor of mapping and surveying) we can triangulate recent knowledge. But I can’t talk about three poles (for there’s only North and South) unless I make a gross pun. I grow my runner beans – pole beans – on a tripod made of three poles. The lush growth at the top, as the beans planted around each pole tangle with the others, is the richest image of Foucault’s ›cluster of intermediary relations‹.« (Hacking 1996: 72)
Bio- und Anatomopolitiken waren auch im Umgang mit den bosnischen Flüchtlingen in Berlin während der 1990er Jahre wichtige strukturierende Vektoren. Biopolitische Definitionen von Bevölkerungsgruppen waren Grundlage für den unterschiedlichen Umgang mit Zuwanderern: Spätaussiedler, die aufgrund ihrer deutschen Abstammung zuwandern durften und bei ihrer Integration in die Gesellschaft unterstützt wurden, unterschieden sich ganz klar von den Flüchtlingen, die langfristig in Wohnheimen kaserniert und durch ein Arbeitsverbot von einer Integration in die Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Anatomopolitische Klassifikationen wurden mit der Aufforderung zur Rückkehr wichtiger. So erhielten »Alte« und »Kranke« – beide Kategorien beziehen sich auf Eigenschaften konkreter Körper – vorerst keine Rückkehraufforderungen. Einigen Regulierungen konnten sich bosnische Flüchtlinge auch über eine attestierte Kriegstraumatisierung entziehen. Traumatisierte durften
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in Wohnheime umziehen, die mehr Privatsphäre zuließen oder sogar in Wohnungen. Ihre Duldungen7 hatten eine längere Gültigkeit und am Ende durften sie sogar in Deutschland bleiben. In dieser neuen Klassifikationskategorie »kriegstraumatisiert« und in der Therapie sind Hackings Gedächtnispolitiken erkennbar. Sie definieren eine zusätzliche dritte Machtachse, um die sich das alltägliche Leben von Individuen strukturierte, denn die Flüchtlinge mussten sich zu speziellen Experten begeben und in den Therapien deren Anleitungen folgen, wenn sie bleiben wollten. Eine Expedition in den Alltag, der durch diese Pole ebenso gestützt wie auch bestimmt wird, unternehmen weder Foucault noch Rose oder Hacking. Alle drei bleiben bei diskursiven Analysen, in die sie im besten Fall noch die Produzenten der Diskurse einbeziehen. Doch die Diskurse der Mächtigen werden nicht ungebrochen zu den betroffenen Individuen transportiert und von diesen verinnerlicht. So war die Trennung zwischen Spätaussiedlern und Flüchtlingen für die meisten Menschen in Deutschland nicht alltagsrelevant und ihnen unbekannt; beide Gruppen sind Zuwanderer. Für die Ausländerverwaltung war es aber bedeutsam, ob jemand Spätaussiedler oder bosnischer Flüchtling war, denn für erstere waren sie nicht zuständig, für letztere hingegen schon. Und auch den Bosniern, die selbst Objekte der Zuwanderungsbegrenzungspolitik waren, war unklar, warum »die Russen«, die anfänglich zusammen mit ihnen in den Wohnheimen untergebracht waren – anders als sie – schnell in Wohnungen umziehen durften, sie aber nicht (Will 2010: 46). Die vielfältigen Unklarheiten und individuellen Interpretationen von äußeren Gegebenheiten interessieren die Entscheidenden nicht.8 Sie sind unwichtig, solange ihre 7 | Eine Duldung ist kein Aufenthaltstitel, sondern eine »Aussetzung der Abschiebung« wie die Aufschrift auf dem Vordruck verdeutlicht. Der inhabende Ausländer ist weiterhin ausreisepflichtig, er wird aber nicht gewaltsam aus dem Staatsgebiet entfernt, weil dem praktische Hindernisse entgegenstehen. Die bosnischen Flüchtlinge konnten wegen des Krieges in ihrem Herkunftsland nicht abgeschoben werden. Die Duldung ist ein Instrument Irregularität verwaltbar zu machen, denn die Betroffenen sind registriert und müssen regelmäßig wieder auf der Ausländerbehörde vorstellig werden, um ihre Duldung zu verlängern. Damit ist ein Zugriff des Staates gewährleistet und auch die Anzahl von Personen ohne Aufenthaltsstatus zähl- und verwaltbar. 8 | Bourdieu stellte dies ebenfalls fest als er auf die Irrelevanz der Wähler, bzw. der Klientel, im politischen Feld verwies (vgl. Fußnote 2).
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Politiken ausreichend kohärent wirken können und die Handlungen von Individuen in die gewünschte Richtung kanalisieren.
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BOT TOM - UP
– A USHANDLUNGEN
Neben den machtkritischen Theorien von Foucault, Rose und Hacking nutze ich die auf Interaktion und Praxen ausgerichtete Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), die ich am Anfang erwähnte. Die ANT stammt aus den Science and Technology Studies und beschreibt hauptsächlich die Entstehung von Expertenwissen und dessen Vermittlung in Anwendungskontexten von Nicht-Wissenschaftlern. Ihr Fokus auf Akteure – inklusive nicht-menschlicher – und deren Verbindungen miteinander innerhalb eines Netzwerks bietet produktive Beschreibungsmöglichkeiten für Aushandlungsprozesse. Den klassischen Studien der ANT wird berechtigterweise vorgeworfen, die Rolle von Wissenschaftlern zu Managern der jeweiligen Netzwerke zu stilisieren (vgl. Mathar 2010: 72). Neuere Forschungen der ANT, die interaktionistisch genannt werden, haben ein breiteres Themenspektrum und erkennen die Interessen aller beteiligten Akteure als gleichberechtigt an. Sie fragen, wie unterschiedliche Interessen miteinander in Einklang gebracht werden und welche Voraussetzungen dies begünstigen oder verhindern. Innerhalb der Aushandlungen um ein Aufenthaltsrecht für traumatisierte Flüchtlinge aus Bosnien in Berlin hatten weder Wissenschaftler, die zum Teil auch unter den behandelnden Psychologen und Psychiatern zu finden waren, noch andere Akteure eine Managementfunktion, weshalb der interaktionistische Ansatz für meine Analyse geeigneter ist. Die interaktionistische ANT benutzt das der Chicagoer Schule entlehnte Konzept der »sozialen Welten« (vgl. ebd.: 139), um Gruppen von Personen zu beschreiben, die eigene Sinnzusammenhänge und Logiken produzieren und in sogenannten »Arenen«9 mit anderen sozialen Welten 9 | Der Begriff Arena impliziert eine Öffentlichkeit, in der die als soziale Welten bezeichneten Interessengemeinschaften miteinander in Interaktion treten. Bourdieu beschrieb sein politisches Feld ähnlich, wobei er das Feld als »fast geschlossene Welt« charakterisierte. Hierin unterscheidet er sich von der ANT, welche die interagierenden Akteure als (soziale) »Welten« versteht und sich mit ihren internen Logiken beschäftigt. Bourdieu belässt es dabei, von unterschiedlichen Interessen zu sprechen und einige weitere involvierte Professionen ne-
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in Austausch treten. Im vorgestellten Beispiel betrachte ich die beiden bereits beschriebenen Akteure Ausländerverwaltung und Psy-Vertreter in der Flüchtlingsarbeit als eigene soziale Welten. Zwischen ihnen fand innerhalb der Arena »Aufenthalt für traumatisierte bosnische Flüchtlinge« am Anfang die Kommunikation in Form eines kooperativen Austausches statt. Eine wichtige Vertreterin der interaktionistischen ANT ist Adele Clarke. Sie hat mit ihrer situational analysis eine Methode entwickelt, die den topdown Ansatz Foucaults mit dem bottom-up Ansatz der grounded theory (vgl. Strauss/Corbin 1996) verbindet (Clarke 2005). Sowohl ANT als auch situational analysis sind handlungsbasiert. Ausgehend von beobachtbaren Interaktionen sozialer Gruppen, deren Zusammensetzung und Geschichte ebenfalls Teil der Analyse sind, werden Rückschlüsse auf die Machtfelder und umkämpften Positionen gezogen. Diese Herangehensweise ist bottom-up, allerdings nicht ohne bereits Vorannahmen über relevante Diskurse und Machtverhältnisse zu besitzen. Kein Forscher geht theorieleer und ohne Vorannahmen ins Feld und natürlich werden auch bekannte Muster wiedergefunden. Dennoch lenkt aber die Fokussierung auf Aushandlungen und Praxen den Blick eher auf Bruchstellen und illustriert nicht nur die alltägliche Umsetzung von Machtkonzepten. Im Konkreten heißt dies, dass die vielfältigen Möglichkeiten auf äußere Zwänge zu reagieren, die aus etablierten Machtformationen resultieren, erfasst und analysiert werden. Dabei wird klar, dass keine Ordnung vollkommen totalitär ist und Individuen immer sehr persönliche argumentative Aneignungsstrategien entwickeln bzw. mit verschiedenen Taktiken (de Certeau 1988) gegebene Ordnungszwänge modifizieren oder sogar unterlaufen.
ben Politikern aufzuzählen (vgl. Fußnote 2). Die Metapher »Welt« steht also bei ihm für das Feld, das der Arena ähnlich ist. Bei Clarke hingegen sind »soziale Welten« die gemeinschaftlichen Akteure. Einen weiteren wichtigen Punkt macht Adele Clarke in einer Fußnote, in der sie darauf hinweist, dass der europäische, insbesondere durch französische Theoretiker geprägte top-down Ansatz von einer zentral wirkenden Macht ausgeht. Dem stehen amerikanische Theoretiker gegenüber, die eine plurale Perspektive in den Vordergrund stellen, wie auch die Konzepte der sozialen Welten und Arenen verdeutlichen (Clarke 2005: 80). Ich gebrauche sowohl den Begriff Feld als auch Arena. Feld nutze ich, um die strukturierenden Machtverhältnisse zu betonen, Arena hingegen, wenn ich die Interaktion und die Aushandlungen zwischen den Akteuren im Blick habe.
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Mit der situational analysis wird somit versucht, alltägliche Praxen aufzufinden und aufzuzeigen, die durch existierende Machtformationen begrenzt sind und sie reproduzieren, aber auch verändern oder sich ihnen entziehen. Da meine Studie zu einem Großteil retrospektiv und rekonstruierend ist, birgt das die Gefahr, dass die geschilderten Konflikte und Lösungsstrategien alternativlos wirken. Ich versuche diesen Eindruck zu brechen, indem ich die zähen Aushandlungsprozesse schildere und aufzeige, dass deren Ausgang nicht klar war und auch anders hätte aussehen können.
B OSNISCHE F LÜCHTLINGE
IN
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Während des Krieges in Bosnien 1992 bis 1995 kamen etwa 35.000 Flüchtlinge nach Berlin. Das war ein Zehntel sämtlicher Flüchtlinge, die in Deutschland vorübergehend aufgenommen wurden, und etwa ein Hundertstel der Berliner Stadtbevölkerung. Mit diesem Zustrom einher gingen große logistische Herausforderungen in der Unterbringung und Verpflegung der Flüchtlinge. Berlin befand sich zudem so kurz nach der Wende in umfassenden Neustrukturierungsprozessen der Wirtschaft und Verwaltung. Die ohnehin hohe Arbeitslosigkeit stieg noch durch die geringe Wirtschaftskraft des Ostteils, und parallel gab es einen weiteren Zuwanderungsstrom von Spätaussiedlern aus den ehemaligen Sowjetrepubliken. Daraus entstanden vielfältige soziale Probleme für die bosnischen Flüchtlinge in Berlin (vgl. Will 2010: 56-76), aber auch eine starke Unterstützungsstruktur, deren Projekte auch vom Berliner Senat finanziert wurden. Zu den Unterstützenden gehörten von Anfang an Psychiater und Psychologen, die in Behandlungszentren oder sozialen Beratungsstellen arbeiteten. Sie entwickelten sich zu wichtigen Anlaufstellen für die Flüchtlinge, deren Alltag vor allem von den drei Institutionen Sozialamt, Ausländerbehörde und Wohnheim bestimmt wurde (vgl. ebd.: 56ff.). Recht früh wurde das Konzept der Traumatisierung in Verbindung mit den bosnischen Flüchtlingen verwendet, wenn es um bessere Wohnbedingungen im Wohnheim oder das Erhalten eines längerfristigen Aufenthalts ging. Explizit sahen Weisungen des Berliner Innensenats vor, dass traumatisierte Personen eine Duldung für zwölf Monate erhielten. Normalerweise wurde eine Duldung für sechs Monate ausgestellt, teilweise auch für
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kürzere Zeiträume. Insbesondere nach Kriegsende wurde so versucht, die Flüchtlinge zu einer schnellen freiwilligen Ausreise zu bewegen.
TR AUMATISIERUNG , D IAGNOSE , THER APIE Die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung, die ich bereits kurz als dritten Akteur vorstellte, war in der deutschen Öffentlichkeit unter dem Stichwort (Kriegs-)Traumatisierung zu Beginn der 1990er Jahre ein neues Thema. Zwar können die traumatische Neurose und die sogenannten »Kriegszitterer« nach dem Ersten Weltkrieg als Vorläufer bezeichnet werden, doch während des Zweiten Weltkrieges konnten solche Diagnosen ein Verfahren wegen Wehrmacht-Zersetzung nach sich ziehen und waren dementsprechend selten (Riedesser 1985: 101ff.). Auch fanden nach dem Krieg im Rahmen von Entschädigungsforderungen jüdischer Überlebender psychiatrische Begutachtungen statt, in denen geprüft wurde, ob aus der Verfolgung eine traumatische Neurose oder andere psychische Beeinträchtigungen resultierten (Pross 1988). Diese Begutachtungen bekamen aber wenig öffentliche Aufmerksamkeit in Deutschland. Das änderte sich Anfang der 1990er Jahre. Seitdem entwickelte sich ein auch medial präsenter Diskurs über Traumatisierungen, in dem traumatisierte bosnische Flüchtlinge nur eine betroffene Gruppe von vielen waren. Hier lässt sich eine foucaultsche »Oberfläche des Auftauchens« lokalisieren. Denn mit den Flüchtlingen, den Opfern der SED-Diktatur und Verkehrsunfallopfern wurde die Diagnose populär und trat außerhalb des psychiatrisch-psychologischen Expertendiskurses »zutage« (Foucault 1981: 61). Zuvor wurde die Diagnose Post-Traumatic Stress Disorder 1980 in das zum ersten Mal verbindliche Diagnostic and Statistical Manual (DSM) der American Psychiatric Association aufgenommen. In den folgenden zehn Jahren erfuhr die Diagnose mit jeder Neuausgabe des DSM insgesamt vier Überarbeitungen. Im Jahr 1990 wurde sie auch in die International Classification of Diseases (ICD-10) aufgenommen und damit weltweit eine verbindliche klassifizier- und diagnostizierbare Krankheit. Allan Young, der sich intensiv mit der Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung beschäftigte, führte ihre Aufnahme ins DSM auf zwei Entwicklungen in der US-amerikanischen Gesellschaft zurück: Dort kämpften zum einen Feministinnen für die Rehabilitation und Entschädigung von Opfern sexuellen Missbrauchs und zum anderen Vietnamveteranen für die Anerkennung
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ihrer Probleme bei der Reintegration in die US-amerikanische Nachkriegsgesellschaft. Als Kriegsfolgeerkrankung war die Diagnose relevant für Berentungen und die zukünftige Versorgung der Veteranen durch die Armee (Young 1997). Beide Lobbygruppen verbanden mit der Diagnose eine Anerkennung des von ihnen erfahrenen Leids und einen Anspruch auf Entschädigungen in Form von Abfindungen oder Renten. Auch im hier analysierten Beispiel der bosnischen Flüchtlinge ging es um Zugänge zu Ressourcen wie bessere Wohnheime, Anspruch auf einen längeren Aufenthalt oder später sogar ein (dauerhaftes) Aufenthaltsrecht. Diese Anrechte wurden durch eine Gedächtniskrankheit10 erworben. Die Betroffenen haben ihre Erinnerungen nicht unter Kontrolle. Das Erlebte drängt in Form störender Gedanken in die Gegenwart und auch Alpträume sind häufig. Das herausragende Symptom ist jedoch der sogenannte Flashback, in dem die Erinnerung so echt erscheint, dass sie von den Betroffenen für real gehalten wird. Obwohl dieses Symptom typisch für eine Posttraumatische Belastungsstörung ist, weil es in keinem anderen psychischen Krankheitsbild existiert, sind sich aber auch Psy-Experten nicht einig, wo die Grenze zwischen einer unangenehmen Erinnerung und Flashbacks zu ziehen ist (vgl. Will 2010: 154). Dies öffnet Spielräume in der Diagnostik und führt zum eingangs beschriebenen Rauschen. Nach ihrer Aufnahme in das internationale Klassifikationssystem ICD10 im Jahr 1990 wurde die neue Diagnose auch in Deutschland erforscht. Die ersten Studien beschäftigten sich mit Traumatisierungen nach politischer Haft in der DDR (Priebe et al. 1993, Maercker/Schützwohl 1995), nach Verkehrsunfällen (Frommberger et al. 1996, Ehlers et al. 1998) oder nach Arbeitsunfällen (Denis 2004) und machten damit die Diagnose sowohl in der deutschen psychiatrischen und psychologischen Fachwelt bekannter als auch über die Medien unter Psy-Laien. Ein neues Therapie- und Forschungsfeld waren die bosnischen Flüchtlinge, für die Diagnosen gestellt und Therapiemöglichkeiten angeboten werden mussten (Birck 2001, 2002). Psychotherapien sind eine klassische westliche Technik zur Formung des Individuums. In psychotherapeutischen Sitzungen erlernt es neue 10 | Im Klassifizierungssystem DSM wird die Posttraumatische Belastungsstörung unter den Angststörungen aufgeführt, was mit den körperlichen Symptomen zusammenhängt. Durch die Erinnerung an das auslösende Ereignis unterscheidet sich die Posttraumatische Belastungsstörung von anderen Angststörungen (vgl. Will 2010: 38) und kann genauso als Störung der Erinnerung verstanden werden.
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Erzähl- und Verhaltensmuster. Die Vergangenheit des Klienten wird mit Hilfe des Therapeuten neu interpretiert und Verfahren der Selbstkontrolle und -regulation eingeübt (Rose 1990: 215ff.). Ziele sind Glück, Erfolg und Zufriedenheit. Auf diese subtile Art gelingt es, dass gesellschaftliche Anforderungen von Individuen freiwillig und motiviert erlernt werden (Hacking 2001: 280). Die bosnischen Flüchtlinge übten zum Beispiel in den Therapien, sich von ihren Beschwerden abzulenken und weder an das Leid, das ihnen zu Hause zugefügt wurde, noch an die im Exil erlebten Erniedrigungen zu denken. So managten sie ihre negativen Gefühle, kontrollierten ihre Erinnerungen und wurden – mehr oder weniger erfolgreich – zu gut funktionierenden Mitbürgern. Dieses in Therapien erlernte Selbstmanagement der Erinnerung und der durch sie hervorgerufenen Emotionen sind Teil der von Hacking beschriebenen Gedächtnispolitiken. Sie bestimmten, wie die Vergangenheit erinnert und erzählt wird. Und gleichzeitig etablierte sich die Psychotherapie als einziger adäquater Umgang mit leidvollen Erfahrungen.
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Im Fall der bosnischen Flüchtlinge führte eine attestierte Kriegstraumatisierung auch zu einem Sonderstatus im Rückkehrprozess. »Traumatisierte Personen« wurden als erste Gruppe zurückgestellt, vor »Älteren«, »Zeugen des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag« und »Schülern und Auszubildenden, die in Kürze einen Abschluss erlangen« (IMK 1996: Punkt 4.3). Dass Traumatisierte als erste Gruppe genannt wurden, die aus humanitären Gründen zeitlich verzögert zurückkehren durfte, bezeugt, dass das Konzept bereits zu diesem Zeitpunkt im politischen Diskurs präsent war. Um bundesweit ein vergleichbares Vorgehen der Ausländerbehörden zu gewährleisten, sollte das Bundesland Berlin einen Mustererlass erarbeiten, in dem erklärt würde, wann eine Traumatisierung vorlag und wie sie festgestellt werden sollte. Diese Aufgabe verdeutlicht den Bedarf an Expertenwissen, den Politik und Verwaltung in Bezug auf Traumatisierungen hatten. Die beteiligten Innenminister und -senatoren der Bundesländer kannten offensichtlich bereits das Schlagwort »Traumatisierte« und hielten es für so wichtig, dass sie es vor allen anderen besonders schutzbedürftigen Gruppen nannten. Gleichzeitig existierte aber auch noch kein
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Fachwissen in den Verwaltungen, das diesbezüglich konsultiert werden konnte. Denn für die Ausarbeitung des Erlasses wurde eine Expertise beim Berliner Behandlungszentrum für Folteropfer (bzfo) angefragt. Die dort verfasste Stellungnahme wurde zum Teil im Wortlaut in den Mustererlass übernommen und führte zu folgender Definition von Traumatisierten: »Traumatisierte Personen […], die a) deswegen mindestens seit dem 16. Dezember 1995 in ständiger (fach)ärztlicher Behandlung stehen oder b) durch Attest eines niedergelassenen Facharztes, Psychologen/Psychotherapeuten, Kran kenhauses, sozialpsychiatrischen Dienstes, Behandlungszentrums für Folteropfer oder einer speziell benannten Einrichtung zur Beratung oder Unterbringung von traumatisierten Personen nachweisen, daß sie infolge einer näher beschriebenen posttraumatischen Belastungsstörung psychisch oder physisch in einem Zustand sind, der die Rückreise oder die selbstbestimmte Reintegration in die Lebensverhältnisse des Heimatlandes zur Zeit ausschließt, (längstens bis zum Abschluß einer – ggf. unverzüglich aufzunehmenden – Behandlung).« (Akte des Berliner Senats für Inneres)
Dieser Mustererlass bildete bundesweit die Grundlage für die Feststellung von Kriegstraumatisierungen bei bosnischen Flüchtlingen. Jedes Bundesland spezifizierte weiterhin in eigenen Weisungen, wie der Beschluss konkret umgesetzt werden sollte. In Berlin wurde das Landesgesundheitsamt damit beauftragt, die eingereichten Atteste zu prüfen und der Ausländerbehörde eine Rückmeldung zu geben, ob die Person als traumatisiert zu gelten hatte oder nicht. Diese Prüfungen fanden jedoch nur ein Jahr lang bis 1998 statt, danach war kein Personal mehr verfügbar (Will 2010: 183). Die Ausländerbehörde, bzw. der ihr vorstehende Berliner Senat für Inneres, musste ein neues Verfahren für die Überprüfung der Atteste finden, die von den Flüchtlingen bei der Verlängerung ihrer Duldung vorgelegt wurden. Im Mustererlass wurden eine Vielzahl von Institutionen und Personen aufgezählt, die eine »näher beschriebene Posttraumatische Belastungsstörung« diagnostizieren konnten. Im Sinne Callons, einem Vertreter der Akteur-Netzwerk-Theorie, gäbe es damit mehrere mögliche Passage- oder Durchgangspunkte. Wird ein solcher Durchgangspunkt passiert, folgt ein weiteres automatisches Verfahren, in dem die Voraussetzungen nicht erneut überprüft werden. Während die klassische ANT davon ausgeht, dass zwischen den Akteuren ein einziger und deshalb obligatorischer Durch-
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gangspunkt ausgehandelt wird und hier die Wissenschaftler durch ihre Professionszugehörigkeit das Monopol besitzen (Callon 1999), beschreibt die interaktionistische ANT auch Netzwerke mit mehreren Durchgangspunkten (Star/Griesemer 1999). Im vorliegenden Beispiel hätten die benannten Akteure wie (Fach-)Ärzte, Behandlungszentren, Krankenhäuser, Psychologen und sozialpsychiatrische Dienste die Entscheidungsgewalt über den weiteren Aufenthalt der Flüchtlinge in Berlin, wenn ihre Atteste von der Ausländerbehörde anerkannt worden wären. Ihre Attestierungen wären dann Durchgangspunkte. Doch sie wurden von der Berliner Ausländerbehörde nicht so wie im Mustererlass vorgeschlagen, einfach akzeptiert. Die eingereichten Stellungnahmen sollten überprüft werden. Aber die Sachbearbeiter der Ausländerbehörde verfügten nicht über die als notwendig erachtete Psy-Kompetenz. Hinzu kam, dass die meisten Atteste, die von bosnischen Flüchtlingen eingereicht wurden, aus der Praxis eines »ex-jugoslawischen« Neuropsychiaters stammten, von dem vermutet wurde, dass er die Atteste aus Gefälligkeit ausstellte. Er und seine Patienten wussten, dass die Diagnose Posttraumatische Belastungsstörung fast wie ein Zauberwort zur Verlängerung der Duldung genutzt werden konnte. Nach dem Wegfall der formalen Prüfung durch das Gesundheitsamt ergab sich ein Dilemma für die Ausländerbehörde: Ihr lagen zwar ärztliche Bescheinigungen vor, die bestätigten, dass der betroffene Flüchtling an einer Posttraumatischen Belastungsstörung erkrankt war, sie konnte diese Atteste aber weder einfach anerkennen noch selbst prüfen. Deshalb wurde 1999 eine Psychologin des Polizeiärztlichen Dienstes (PÄD) mit der Begutachtung betraut. Doch das Vorgehen änderte sich grundlegend: es wurden nicht mehr die eingereichten Atteste auf formale Kriterien und inhaltliche Nachvollziehbarkeit hin überprüft, wie es das Gesundheitsamt bis 1998 tat, sondern die Flüchtlinge selbst wurden zu einer Begutachtung einbestellt. Dieses Verfahren hätte sich wahrscheinlich in der Praxis bewährt, wenn die Psychologin die Stellungnahmen ihrer Psy-Kollegen bestätigt hätte. Aber das tat sie nur in Ausnahmefällen. In den meisten ihrer Begutachtungen stellte sie fest, dass die betroffenen Flüchtlinge nicht schwer traumatisiert seien und deshalb zurückkehren könnten. Die Psychologin des PÄD führte damit den Schweregrad als Ablehnungsgrund ins Feld. Im Mustererlass ist die Schwere der Erkrankung nicht relevant. Auch die Diagnostik nach ICD-10 oder DSM, den beiden verbindlichen Klassifikationssystemen, unterscheidet keine Schweregra-
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de, sondern nur, ob die Krankheit vorliegt oder nicht. Zudem war für die Entscheidung, ob die Duldung verlängert wird, nicht die Diagnose allein ausschlaggebend, sondern ihre psychotherapeutische Behandlung. Bereits der Mustererlass schrieb fest, dass eine Therapie »ggf. unverzüglich aufzunehmen« sei (siehe obiges Zitat). Sobald diese erfolgreich abgeschlossen würde, sollte eine Rückkehr möglich sein. Tatsächlich wurden die Psychotherapien aber zu Dauerbehandlungen. Denn sobald die Ausländerbehörde Flüchtlinge, die sich in Therapie befanden, aufforderte, Deutschland zu verlassen, attestierten die behandelnden Ärzte und Psychologen, dass sich der psychische Zustand ihrer Patienten aufgrund dieser Aufforderung massiv verschlechtert habe und eine Rückkehr aus gesundheitlichen Gründen unmöglich sei. Die negativen Begutachtungsergebnisse der Psychologin des PÄD führten nicht zu einer direkten Ausreise der Antragsteller, sondern zu einer Vielzahl von Berufungsklagen beim Verwaltungsgericht und dem Bleiben der Flüchtlinge in Berlin bis auf Weiteres. Denn solange über die Klagen nicht entschieden wurde, konnten sie auch nicht abgeschoben werden. Bis es zu einer Verhandlung kam, dauerte es mehrere Jahre, weil auch das Verwaltungsgericht, wie viele Berliner Verwaltungsinstitutionen in den 1990er Jahren, unter akutem Personalmangel litt.
D IE K ONFRONTATION So entwickelte sich eine zunehmend konfrontative Stimmung in der Arena, in der der Berliner Innensenat und die Psy-Vertreter in den Unterstützungsstrukturen am Anfang versuchten, eine Kooperation aufzubauen. Ein von den Kirchen initiierter Runder Tisch, der ursprünglich allgemein die Rückkehr bosnischer Flüchtlinge koordinieren sollte, dann aber nur noch die Psy-Experten mit der Ausländerverwaltung im Dialog hielt, wurde eingestellt. Die damalige Ausländerbeauftragte des Berliner Senats Frau Barbara John warf den Beratungsstellen vor, keine Rückkehr- sondern perspektivlose Bleibeberatung zu machen (Hohlfeld 2008: 152). Der »exjugoslawische« Neuropsychiater wurde auch im zuständigen parlamentarischen Ausschuss verdächtigt, Gefälligkeitsatteste auszustellen (Abgeordnetenhaus Berlin 06.07.2000: 11). Die Verwaltung versuchte durch eine Strafanzeige das Ausstellen weiterer Atteste zu unterbinden und die bis dahin erfolgten Attestierungen zu diskreditieren. Eine Durchsuchung sei-
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ner Praxis und Beschlagnahmung von Patientenakten stellte den ersten Höhepunkt der Konfrontation zwischen den beiden sozialen Welten bzw. Akteuren dar. Da jedoch keine offensichtlichen Unregelmäßigkeiten im Praxisbetrieb des Neuropsychiaters nachgewiesen werden konnten, war es auch unmöglich, ihm umgehend seine Berufszulassung zu entziehen. Aber die Verwaltung scheiterte nicht nur in diesem Anliegen, sie brachte auch die niedergelassenen Ärzte gegen sich auf. So führte die Praxisdurchsuchung zu einer engeren Vernetzung der Berliner Psychiater (und auch Psychologen), weil sie sich in ihrem Berufsethos angegriffen fühlten und weitere Durchsuchungen fürchteten. Sie erhielten Rückendeckung von der Berliner Ärztekammer, die die berufsständischen Interessen ihrer Mitglieder gefährdet sah. Zum einen kann das Berufsgeheimnis bei einer Beschlagnahmung von Patientenakten nicht gewahrt werden. Zum anderen wurden aber auch die ärztlichen Atteste der niedergelassenen und in Unterstützungsinstitutionen tätigen Psy-Vertreter durch die Zweitbegutachtung des Polizeiärztlichen Dienstes infrage gestellt. Als Antwort bezog der Vorsitzende der Ärztekammer im Jahr 2000 in den Medien Stellung gegen die Berliner Ausländerbehörde. Er griff ihr Vorgehen direkt an, indem er der Behörde unterstellte, die parteiische PsyExpertise der Psychologin des PÄD zu nutzen, um Abschiebungen traumatisierter Flüchtlinge nach Bosnien zu rechtfertigen (Soliman 2000).11 In dieser Situation befand sich das Geschehen in einem Patt-Zustand: Die Atteste niedergelassener und in Institutionen arbeitender Psy-Experten wurden nicht ungeprüft anerkannt, doch die Zweitbegutachtung durch die Psychologin des PÄD wurde im sehr häufigen Fall eines negativen Ergebnisses von der Gegenseite nicht akzeptiert und führte zu einer Klage. Beim Verwaltungsgericht stapelten sich die Akten. Und wenn es zu einem Verfahren kam, mussten andere Experten beauftragt werden, nochmals eine Begutachtung vorzunehmen. Doch alle Psy-Experten in Berlin arbeiteten entweder in behördennahen Institutionen oder in der Niederlassung und/ oder Unterstützungsinstitutionen. Somit gab es im Grunde keine neutralen Fachleute, deren Gutachten von beiden Seiten anerkannt worden wären, obwohl es nicht an Experten mangelte. Verwaltungsnahes Fachwissen 11 | Die Psychotherapeutenkammer als berufsständische Vertretung der Psychologen war noch nicht gegründet. Sie engagierte sich aber nach ihrer Gründung im Herbst 2000 stark für traumatisierte Flüchtlinge und im Themenfeld Begutachtung.
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und berufsständisch organisierte Expertise in den Unterstützungsstrukturen befanden sich in einer Art Machtprobe. Die Gruppe der Flüchtlingsunterstützenden fand nach der Positionierung der Berliner Ärztekammer einen weiteren Weg den Druck auf die Politik und die Verwaltung zu erhöhen. Das Behandlungszentrum für Folteropfer (bzfo), das dem Innensenat fünf Jahre zuvor noch als Garant für Fachwissen über Traumatisierung gegolten hatte, als er dort die Definition und das mögliche Verfahren für den Mustererlass anfragte, sammelte in Kooperation mit einer Anwaltskanzlei, die sich auf aufenthaltsrechtliche Streitigkeiten von bosnischen Flüchtlingen spezialisiert hatte, Stellungnahmen der Psychologin des PÄD und verglich sie mit den Attesten der niedergelassenen PsyExperten (Birck 2001). Was als wissenschaftliche Studie daherkam, stellte die Qualifikation der Psychologin, die für die Ausländerbehörde begutachtete, massiv infrage. Ihre Begutachtungsergebnisse wichen von den Diagnosen niedergelassener Kollegen in 26 Fällen ab und entsprachen nachweislich nicht den fachlichen Standards. Letzteres wurde durch ausführliche Zitate aus ihren Gutachten belegt, die allesamt nicht das verbindliche Vokabular des internationalen Klassifikationssystems ICD-10 enthielten. Doch auch nach diesem direkten Angriff auf die behördliche Fachkompetenz war unklar, welche Seite ihre Expertise durchsetzen und die Gegenseite zur Akzeptanz bewegen würde. Solche Konflikte sind fruchtbare Situationen für die situational analysis. Sie fordert dazu auf, dorthin zu schauen, wo es innerhalb der Arenen die meisten Diskussionen und Aushandlungsprozesse gibt (Clarke 2005). Hier ist eine solche Situation identifiziert – und zwar an einem Punkt, an dem die Verhandlungen gescheitert sind, ohne einen neuen Durchgangspunkt etabliert zu haben. Derartige unsichere Zwischensituationen werden im Nachhinein vergessen, wenn es nur noch um das funktionierende Netzwerk geht. Doch zwischen 1998 und 2002 funktionierte das beschriebene Netzwerk nicht. Dies ist vor allem bemerkenswert, weil im Herbst 2000 ein neuer Beschluss der Innenministerkonferenz der Länder (IMK)12 gefasst wurde, der es bosnischen
12 | Im Vorfeld zu dieser Innenministerkonferenz gab es massive Lobbyarbeit nicht nur von Berliner Flüchtlingsunterstützenden. Eine Petition für den Verbleib traumatisierter bosnischer Flüchtlinge in Deutschland wurde von über hundert Bundestagsabgeordneten aller Fraktionen unterschrieben und damit ein breiter politischer Konsens signalisiert (vgl. Bundestag 2000).
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Flüchtlingen ermöglichte, einen (Dauer-)Aufenthaltstitel zu erhalten. Er wurde aber in Berlin zunächst nicht umgesetzt. Die sogenannte Traumatisiertenregelung war die erste Regelung, die explizit kranken Flüchtlingen aufgrund eines überforderten Gesundheitssystems in ihrem Herkunftsland einen Aufenthaltstitel gewährte. Maßgeblichen Anteil daran, dass eine Traumatisierung als psychische Erkrankung aufenthaltsrechtlich überhaupt relevant wurde, hatten die Berliner Psy-Vertreter. Umso absurder war die Nicht-Umsetzung des neuen IMK-Beschlusses in dem Bundesland, dessen Experten den Diskurs geprägt haben und auch zahlenmäßig dafür sorgten, dass es ausreichend Therapieplätze für bosnische Flüchtlinge gab.
D URCHGANGSPUNK TE Und dann geschah etwas, womit niemand gerechnet hatte: die Psychologin des PÄD wurde in eine Nervenklinik eingewiesen. Damit hatte die Ausländerbehörde kein Personal mehr, das sie mit einer Begutachtung beauftragen konnte. Gleichzeitig wurde durch ihre eigene psychische Erkrankung die Expertise der Psychologin des PÄD mehr entwertet als durch den zuvor erschienenen Artikel aus dem bzfo. Auch wenn sie nach allen Regeln ihres Berufsstandes begutachtet hatte, wurde das durch ihre Einweisung in eine psychiatrische Klinik infrage gestellt. Im Dezember 2000 war der Bosnienkrieg seit fünf Jahren beendet. Etwa 3500 Flüchtlinge waren immer noch in Berlin und machten eine Traumatisierung geltend, die ihre Rückkehr verhinderte. Mittlerweile gab es für traumatisierte Bosnier theoretisch die Möglichkeit, einen Aufenthaltstitel zu erhalten. Nach der Erkrankung der Psychologin des PÄD musste der Berliner Innensenat schnell eine neue tragbare Lösung finden, denn es gab eine wachsende mediale und auch parlamentarische Aufmerksamkeit für die traumatisierten bosnischen Flüchtlinge in Berlin, die immer noch keinen geregelten Aufenthaltsstatus besaßen. Der Innensenat bat die Landesärztekammer, umgehend eine verbindliche Regelung zu finden (Abgeordnetenhaus Berlin 05.12.2000). Die von ihr erstellte Liste mit formalen Kriterien, die Stellungnahmen erfüllen sollten, um anerkannt zu werden, wurde jedoch nicht konsequent durch die Ausländerbehörde angewandt. Erneut gab es Streitfälle, ob ein Flüchtling als traumatisiert zu gelten habe oder nicht. Zwei Jahre lang existier-
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te weiterhin kein Verfahren mit praktikablen Durchgangspunkten. 2002 beschloss deshalb das Berliner Abgeordnetenhaus, dass die Senatsverwaltung für Inneres in Kooperation mit den beiden Kammern, denn auch die im Jahr 2000 gegründete Psychotherapeutenkammer wurde nun in die Kommunikation miteinbezogen, schnellstmöglich ein Verfahren entwickeln sollte, das rasche Entscheidungen über die Anträge traumatisierter Flüchtlinge aus Bosnien ermöglicht. Wieder gingen die Kammern in Vorleistung: Ihr neuer Vorschlag beschritt einen neuen Weg. So sollte ein Weiterbildungsprogramm für die Begutachtung etabliert und die danach zertifizierten Gutachter von den beiden Berufskammern auf jeweils einer Liste zusammengestellt werden. Damit kontrollierten die Kammern ihre Mitglieder und garantierten darüber hinaus für die Qualität der Begutachtungen. Im Gegenzug sollten diese qualitätsverbürgten Gutachten jedoch von der Ausländerbehörde ohne weitere Prüfung anerkannt werden. Dieses Verfahren fand die Zustimmung des Innensenats. Damit waren zwei Durchgangspunkte etabliert, die Gutachterliste der Berliner Ärztekammer und die Gutachterliste der Berliner Psychotherapeutenkammer. Die Stellungnahmen der Experten, die es auf diese Listen schafften, mussten durch die Ausländerbehörde anerkannt werden. Und dieses Verfahren funktionierte. Über diese Regulierung und Kontrolle ihrer Mitglieder erreichten die Kammern die uneingeschränkte Anerkennung der Expertisen, wenn sie den festgelegten Formalien entsprachen. Es wurden sogenannte Mindeststandards für die Gutachten formuliert, die sicherstellten, dass die wichtigsten Informationen zur Person, zur Fluchtgeschichte und zur Symptomatik enthalten waren. Für viele attestierende Psy-Fachleute bedeutete dies mehr Schreibarbeit. Die Ausländerbehörde prüfte aber nur noch nach diesen formalen Kriterien die Gutachten, wozu sie selbst in der Lage war und kein weiteres Fachwissen benötigte. In den folgenden Jahren wurde der entstandene Rückstau an Entscheidungen aufgearbeitet. Im Sommer 2006 wurde eine weitere Weisung erlassen, die noch nicht existierende Stichtagsregelungen aufhob und allen bosnischen Flüchtlingen, die jemals eine Posttraumatische Belastungsstörung geltend machten, eine Aufenthaltsbefugnis zusprach. Danach war das Netzwerk überflüssig. Die aktuellen Verfahrenshinweise der Berliner Ausländerbehörde enthalten keinen Hinweis mehr auf die Kammerlisten (Ausländerbehörde Berlin 20.10.2011), die noch im Jahr 2008 im Weisungsordner der Behörde integriert waren (Will 2010: 175).
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IN I NTER AK TION
An diesem Fallbeispiel kann sehr gut nachvollzogen werden wie außerbehördliches Fachwissen in Behördenhandeln eingebunden wurde. Die PsyVertreter selbst bzw. Institutionen wie das bzfo, in denen sie arbeiteten, wurden nur anfänglich als Verhandlungspartner akzeptiert. Nachdem die Situation verfahren war und explizit politischer Druck aufgebaut wurde, führten die Kammern den Dialog fort. Die Berufsverbände garantierten für die Expertise und die Verantwortlichkeit für die Qualität der Atteste wurde von der Behörde an die Kammern abgegeben. Letztere wiederum nutzten Instrumente der Selbstkontrolle, um dieser Verantwortung Rechnung zu tragen. Diese Entwicklung fand an der Schnittstelle unterschiedlicher politischer Felder statt. Das erste Feld umfasst die Steuerung von Zuwanderung. Seit den 1980er Jahren verschärfte sich die deutsche Zuwanderungspolitik und gipfelte 1993 im sogenannten Asylkompromiss, der eine Änderung des Grundgesetzes im Hinblick auf das bis dahin uneingeschränkte Recht auf Asyl in Deutschland beinhaltete. Dies wurde auch mit dem Zustrom der Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien begründet. Seit dieser Grundgesetzänderung haben es Verfolgte schwerer, in Deutschland Aufnahme zu finden. Die Hypothek des Zweiten Weltkrieges, die ursprünglich zu der grundgesetzlichen Festschreibung einer liberalen Asylgewährung führte, wurde zu Gunsten des neuen, größeren und selbstbewussteren Nationalstaats abgewertet. Axiomatisch könnte diese diskursive Formation (Foucault 1981: 58) mit der seit den 1980er Jahren artikulierten Regierungsposition »Deutschland ist kein Einwanderungsland« überschrieben werden. Das zweite politische Feld ist um den Berufsstand der Psychologen organisiert. In diesem Feld kann Ende der 1990er Jahre eine Materialisierung der zunehmenden Psychologisierung westlicher Gesellschaften beobachtet werden: Durch den Erlass des Psychotherapeutengesetzes wurden psychologische Psychotherapeuten teilweise Ärzten gleichgestellt. Auf der Homepage der Berliner Psychotherapeutenkammer wird auf den langen Vorlauf hingewiesen: »Nach 20jähriger Diskussion trat am 01.01.1999 das Psychotherapeutengesetz (PsychThG) in Kraft. Dieses regelt den Beruf der Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Es
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entstanden zwei13 staatlich anerkannte neue Heilberufe.« (Psychotherapeutenkammer Berlin) In der Folge wurden Psychologen zu eigenständigen Dienstleistern im Gesundheitssystem. Sie können seitdem Patienten selbst untersuchen und deren Therapiebedarf feststellen. Zuvor mussten Ärzte eine Psychotherapie verschreiben. Damit erweiterte sich der potentielle Patientenkreis niedergelassener Psychotherapeuten von Privatversicherten und privat Zahlenden auf alle Mitglieder gesetzlicher Krankenkassen. Gleichzeitig stieg der Anteil in einer Niederlassung tätiger psychologischer Psychotherapeuten. Mit der Gründung der Berliner Psychotherapeutenkammer im Jahr 2000 erhielten die therapeutisch tätigen Psychologen auch eine eigene berufsständische Vertretung, die Lobbyarbeit macht, psychologisches Wissen weiterverbreitet und neue Zielgruppen zu gewinnen sucht. Bezeichnend für die Verfestigung der Struktur zu einer Formation ist die Selbstverständlichkeit (vgl. Bowker/Star 2000: 299), mit der diese junge Berufsgruppe mittlerweile auftritt. Hier erinnert sich niemand mehr an die »20-jährige Diskussion«. Das dritte politische Feld ist der Diskurs um Traumatisierung, der sich im hier betrachteten Beispiel gleichzeitig mit den anderen beiden Feldern überschneidet. Darüber hinaus gehört er aber zu weiteren Diskursen wie denen über Vergangenheitsaufarbeitung oder auch Katastrophenschutz. Wie bereits erwähnt, ist die Posttraumatische Belastungsstörung eine Gedächtniskrankheit. Ihre Therapie ist auch Gedächtnis- bzw. Erinnerungsarbeit. In den Therapien mit bosnischen Flüchtlingen in Berlin, die vorrangig in Gruppen stattfanden, wurde die Erinnerung an das Vergangene immer wieder in den Mittelpunkt gestellt. So wurden nicht nur individuelle Narrative der Vergangenheit geschaffen, sondern auch kollektive Gruppennarrative. Sie beeinflussten, wie sich Individuen als Teil einer verfolgten ethnischen Gruppe verstanden und präsentierten. Im Sinne Hackings sind hier die Gedächtnispolitiken als dritter Machtpol doppelt als persönliche Erinnerung und als Erinnerung der Gruppe prägend. Die persönliche Erinnerung wurde in den Psychotherapien transformiert in ein glückliches Leben vor dem Krieg und eine nicht endende Leidensgeschichte danach mit psychischen Beschwerden und Medikamenten (Will 2010: 55f.). Als Gruppe passten sich die Flüchtlinge in die 13 | Das Psychotherapeutengesetz regelt die Berufe des Psychologischen Psychotherapeuten und des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten.
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Kategorie »traumatisierte Bosnier« ein. Ihre Zugehörigkeit zu dieser Kategorie wurde ihnen zuvor von den Psy-Vertretern attestiert. Diesen Prozess nennt Ian Hacking Rückkopplungseffekt und definiert ihn als »Wechselwirkungen zwischen den Menschen einerseits und den Klassifizierungsweisen der Menschen und ihres Verhaltens andererseits« (Hacking 2001: 310). Die Therapien festigten die Selbsteinordnung der Betroffenen in die Gruppe traumatisierter bosnischer Flüchtlinge. Trotz dieser Selbstklassifikation haben die als traumatisierte Bosnier bezeichneten Menschen ganz unterschiedliche Ansichten zu ihrer Erkrankung und den Therapien. Manche nahmen das neue Etikett, das sie erhielten, trotz anfänglicher Vorbehalte den Psy-Professionen gegenüber, vollständig an. Sie konzentrierten sich auf ihr psychisches Leiden und machten sich abhängig von der Behandlung, wie Frau Frau Nuhanović, wenn sie sagt, den Besuch beim Psychiater: »verstehe ich jetzt als normal, […] dass ich gehen muss, dass ich es brauche und dass es wirkt, […] dass es mir hilft. Das ist jetzt, jetzt ist das total normal.« (Will 2010: 110) Gleichzeitig gab es aber auch Flüchtlinge, die sich weiterhin nicht in das Stereotyp leidender Traumatisierter einfügten, wie Herr Džaferović: »Ich habe wirklich diese Psychiater gefragt, ob wir verrückt sind. Denn mir scheint es, dass es hier am wichtigsten ist, verrückt zu sein, damit du diese Duldung, den Aufenthalt bekommst. […] Ich war kein so großer Kranker, denn andere geben damit an, krank zu sein. […] Ich war nie der, der sagt, ich gehe zum Arzt, ich bin in Behandlung, mir tut es hier weh, mir tut es da weh, das ist nichts für mich.« (Will 2010: 106)
Trotzdem nahm Herr Džaferović an einer Gruppentherapie im bzfo teil und bekam eine Posttraumatische Belastungsstörung bescheinigt, die ihm am Ende seinen Aufenthaltstitel in Deutschland sicherte. Der Umgang der Flüchtlinge mit den vorgegebenen Strukturen kann als eine Taktik (de Certeau 1988) verstanden werden, um sich überwältigenden Zwängen zu entziehen. Mithilfe dieser individuellen Taktiken gelang es ihnen, sich konform zu den beschriebenen Formationen zu verhalten, deren Logiken aber gleichzeitig auch zu unterlaufen (vgl. Will 2010: 168, 180, 213ff.). Sie erhielten einen Aufenthaltsstatus, wenn sie an den Therapien teilnahmen. Also gingen sie in die Gruppentherapien und empfahlen sie anderen weiter und trugen damit zur weiteren Verbreitung des Konzepts und der Psychotherapien bei.
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Dabei ist es wichtig zu unterscheiden zwischen den Aushandlungen einerseits und den Auswirkungen auf die Individuen andererseits. Die Flüchtlinge, deren Zukunft von den Attesten der Psy-Experten, der Verwaltung und den Gerichten abhing, verhandelten nicht mit, sondern folgten den vorgeschriebenen Verfahren, den Attestierungen, Begutachtungen, Gerichtsverhandlungen usw. Und sie gingen in die Therapien, die nachhaltiger wirkten und subtiler als die körperfokussierten Einflussformen der Verwaltung, was ein wichtiger Unterschied zwischen Gedächtnis- und Körperpolitiken ist. Diese drei erwähnten politischen Felder interagierten und schufen neue rechtliche Regelungen (wie die Aufenthaltsbefugnis bei einer Traumatisierung für Bosnier), neue Subjekte (wie traumatisierte Bosnier oder anerkannte Traumagutachter als Sachverständige), neue Materialitäten (wie Traumaatteste, Begutachtungsstandards und Gutachterlisten) und Praxen (wie Begutachtungen, Psychotherapien und Weiterbildungen). Dies sind alles Äußerungen einer »Oberfläche des Auftauchens«, denn zuvor waren diese Artefakte und Identifizierungsmöglichkeiten nicht vorhanden. Dabei verlief die Interaktion der beiden sozialen Welten »Verwaltung« und »flüchtlingsunterstützende Psy-Verteter« nicht ohne Konfrontation, im Gegenteil. Es war schwierig ein Netzwerk zu etablieren, innerhalb der Arena im Austausch zu bleiben und am Ende ein funktionierendes Verfahren einzuführen. Hilfreich war die Flexibilität der Diagnose, die sie als »boundary object« funktionieren ließ. So konnten beide Akteure Traumatisierungen unterschiedlich verstehen und einordnen. Und gleichzeitig zwang dieses Konzept sie auch zur Kooperation, denn beide Seiten waren durch seine Existenz auf eine Zusammenarbeit angewiesen. Nachdem Traumatisierte als relevant für die Rückkehrplanung definiert wurden, war auch die Psy-Expertise der Flüchtlingsunterstützer nötig, umso mehr als auch die Therapie, die nur sie und nicht Psy-Vertreter in der Ausländerverwaltung anbieten konnten, mit in den ersten Mustererlass eingegangen war. Dieses gegenseitige Angewiesensein führte dazu, dass das Netzwerk existierte und auch am Anfang (1997/98) und nach 2002 wieder funktionierte. Nur mussten praktikable Vorgehensweisen inklusive Durchgangspunkt/e, die beide Seiten anerkannten, gefunden werden. Das Beispiel zeigt, dass sie nach mehreren Jahren auch gefunden wurden, wobei Veränderungen in den beiden sozialen Welten selbst wie die Ein- und Absetzung der Psychologin des PÄD oder die Gründung der Psychothe-
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rapeutenkammer ebenfalls den Fortgang der Handlung mitbestimmten. Nur mit diesen Veränderungen kam es am Ende zu einer Balance der konkurrierenden Machtverhältnisse von bio- und anatomopolitisch ausgerichteter Ausländerverwaltung und gedächtnispolitisch ausgerichteten Psy-Unterstützern. So gelang es den Psy-Vertretern in den Unterstützungsstrukturen, ihre Definition von Traumatisierung durchzusetzen, die Expertise niedergelassener Kollegen zur Anerkennung zu bringen und die Kammern zu ernstzunehmenden Verhandlungspartnern und Standardisierungsinstitutionen zu entwickeln. Sie erschlossen sich ein neues Kompetenzfeld. Im Gegenzug kann die Ausländerverwaltung darauf verweisen, dass sie bei der Durchsetzung des Ausländerrechts Rücksicht auf die individuellen Belange der einzelnen Flüchtlinge nahm, auch wenn sie dafür einen Teil ihrer Entscheidungsgewalt abgab.
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Staatliche Definition nationaler Zugehörigkeit und ausschließende Verwaltungspraxis in der Dominikanischen Republik Tobias Schwarz
In der Dominikanischen Republik, dem reichsten Land der Karibik, ist das nationale Selbstbild staatlicher Eliten im 19. und 20. Jahrhundert vielfach durch Bemühungen geprägt gewesen, sich vom haitianischen Nachbarn abzugrenzen. Entsprechend groß waren und sind die Restriktionen, die staatliche Institutionen gegenüber haitianischen Einwanderern einführten und nach wie vor praktizieren. Dazu gehörte deren prekärer Aufenthaltsstatus, der an einen konkreten Arbeitsplatz geknüpft und nur »vorübergehend« erlaubt war. Dazu gehörte ebenso die polizeilich-militärische Kontrolle bei der Einreise und beim Rücktransport der Arbeitskräfte nach Haiti, die in den vergangenen zwei Dekaden in eine staatliche Abschiebepolitik transformiert wurde. Dieses Ausschlussregime verschärft sich seit Beginn des 21. Jahrhunderts durch die implizite Ausbürgerung von Dominikanern haitianischer Herkunft – eine Praxis, die im Jahr 2010 durch die Änderung der dominikanischen Verfassung legalisiert und, wie zu befürchten ist, perpetuiert wurde. Durch die Aushöhlung des ius soli, des Territorialprinzips für den Erwerb der Staatsangehörigkeit, werden seitdem im Inland Geborene nur dann noch als Staatsangehörige betrachtet, wenn mindestens ein Elternteil legal in der Dominikanischen Republik lebte. Die Nachkommen von »temporären Arbeitern«, also dem ganz überwiegenden Teil aller Eingewanderten, gelten damit offiziell nicht mehr als dominikanische Staatsangehörige. Am Beispiel der jüngsten Änderungen des dominikanischen Einwanderungsgesetzes und der Verfassung zeige ich in diesem Beitrag, wie bestimmte bürokratische Techniken Ausschlüsse verstärken, die in
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der nationalen policy of belonging der Dominikanischen Republik angelegt sind.1 Cris Shore und Susan Wright betonen die alltägliche Bedeutung von »policy«, ja bezeichnen diese als »fundamental ›organising principle‹ of society […] around which people live their lives and structure their realities« (Shore/Wright 2011: 2). Als ein derartig wirksames »Organisationsprinzip« verstehe ich die staatliche Kompetenz, das nationale Kollektiv zu denken und entsprechend zu formen – eine moderne Form der Macht, die Foucault biopouvoir (Biomacht) genannt hat (vgl. Foucault 1999). Die Nation ist demnach ein stets unvollständiges Projekt, das als kollektiver »focus of allegiance« (Shore/Wright 1997: 7) umstritten ist. Auch dessen praktische Konsequenzen müssen laufend neu gedeutet werden und spiegeln sich in der jeweiligen nationalen policy of belonging2 wider. Unter dieser Perspektive nutzt meine Untersuchung empirisch zugängliche Materialitäten des Rechts – Dokumente, Institutionen, Verwaltungspraktiken –, um die alltägliche Macht von Staatsangehörigkeitspolitiken darzustellen. Eine Schlüsselfigur der dominikanischen Zugehörigkeitspolitik ist ein konkretes nationales »Anderes«: der haitianische Arbeitsmigrant. Daher beginne ich mit einem Blick zurück in die Geschichte der dominikanischen Nationsbildung auf Vorstellungen nationaler Selbstbeschreibung in Abgrenzung vom Nachbarn Haiti.
A NTI -H AITIANISMUS IN DER D OMINIK ANISCHEN G ESCHICHTE Die offizielle Selbstdarstellung des dominikanischen Staates ist seit der Nationalstaatsgründung im 19. Jahrhundert dadurch geprägt, die eige-
1 | Staatsangehörigkeit als Policy of Belonging thematisiert mein laufendes Forschungsprojekt innerhalb des vom BMBF geförderten Kompetenznetz Lateinamerika – Ethnicity, Citizenship, Belonging, aus dem das verwendete Material stammt; siehe www.kompetenznetz-lateinamerika.de. 2 | Damit orientiere ich mich an den theoretischen Ansätzen zu politics of belonging bei Brubaker 2010 und Yuval-Davis 2006, betone aber die Ebene der policies, da diese mehr noch als Herrschaftstechniken (politics) diskursive Formationen sind, durch die Klassifikationen hergestellt werden, die zur Legitimation der herrschenden Verhältnisse notwendig sind (vgl. Shore/Wright 1997).
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ne Gesellschaft als »nicht Schwarz« darzustellen.3 Dies ist ein Anliegen, das unter den gebildeten Schichten in ganz Lateinamerika ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verbreitet war: die breite Masse der Bevölkerung nicht als »minderwertig« wahrnehmen zu müssen, stellte doch der aufkommende »naturwissenschaftliche« Rassismus Weiße auf die höchste Stufe der Zivilisation und wertete Schwarze sowie »Eingeborene« ab (Appelbaum 2003: 5f.). Der Wunsch nationaler Eliten, das »Volk« nicht als Nachkommen von Ureinwohnern und Sklaven, die als rückständig galten, zu betrachten, sondern mit dem gebildeten und modernen Europa der Weißen Oberschicht zu assoziierten, äußerte sich daher in der Regel entweder als Ideologie der »Bleichung« (blanqueamiento) oder in Form des positiven Bezugs auf »Mischungen« (mestizaje).4 In der Dominikanischen Republik wurden beide Ansätze verknüpft, und neben das blanqueamiento trat der Mythos, das dominikanische Volk wäre aus der Mischung zwischen Spaniern und Ureinwohnern hervorgegangen (Torres-Saillant 1998). Expliziter Anti-Haitianismus, also die Bewertung des eigenen nationalen Kollektivs als höherwertig als den haitianischen Nachbarn, wird meist 3 | Um Rassekonstruktionen beschreiben zu können verwende ich die Begriffe Schwarz und Weiß mit Majuskeln – sie indizieren nicht Hautfarben oder vermeintliche Herkunft, sondern geben wieder, wie Akteure bestimmte Gruppen wahrnehmen und bezeichnen. Die zeitgenössischen bzw. umgangssprachlichen Kategorisierungen wie »raza caucasica« oder »mulatos« sind wörtliche Zitate. 4 | Die Vorstellung, die Bevölkerung könnte mit der Zeit »weißer« werden, beruhte auf der Annahme, durch fortgesetzte Mischung würden das amerikanische und das afrikanische Element zugunsten des europäischen nach und nach verdrängt oder überlagert werden. Viele lateinamerikanische Staaten wollten durch europäische Siedler und/oder durch Ermordung bzw. Assimilation der Ureinwohner den Prozess der »Bleichung« beschleunigen. In Regionen mit großen indigenen Bevölkerungsanteilen hingegen war der »mestizismo« erfolgversprechender, der gerade die Mischung zwischen Kolonialisatoren und lokaler Bevölkerung als besonders positiv, als neuartige und bessere »Rasse« bewertete (prominentestes Beispiel ist die »raza cósmica«, Vasconcelos 1927). So konnte die mestizische Nation kontrafaktisch als »homogen gemischt« betrachtet werden, was gleichzeitig die reale Machtkonzentration bei einer europäisch orientierten Oberschicht überspielte sowie die Ausgrenzung der ländlichen indigenen Gruppen (als noch nicht genügend assimiliert oder gar als zivilisationsresistent) zulässig erscheinen ließ (vgl. Graham et al. 1992, Torres/Whitten 1998, Wade 1997).
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mit der Diktatur von Rafael Leónidas Trujillo (1930-1961) in Verbindung gebracht. Während Trujillos Herrschaft wurde der Anti-Haitianismus zur Regierungspolitik. Dies basierte auf zwei Strategien: staatliche Propaganda gegen und institutionalisierte Ausgrenzung von Haitianern. Gründend auf diffuser Feindschaft gegenüber Haiti, die seit dem 19. Jahrhundert gewachsen war, betonte die Propaganda Trujillos die Vorstellung einer »rassischen« Überlegenheit der Dominikaner und machte dies zur offiziellen Position der Regierung mit entsprechendem Niederschlag im Bildungswesen und den Massenmedien. Die historischen Unterschiede zwischen den beiden Nachbarländern wurden nun verstärkt als Unterschiede zwischen zwei auch biologisch abgrenzbaren »Völkern« gedeutet (Sagás 2000: 51). Gleichzeitig wurde die Gefahr einer erneuten haitianischen Invasion beschworen, diesmal jedoch als schleichende Unterwanderung der dominikanischen Gesellschaft durch bedrohlich hohe Einwanderung aus Haiti. Zum Schutz der Nation seien daher entsprechende Gesetze zu erlassen, darunter auch die selektive Einwanderungspolitik, auf die ich anschließend eingehen werde. Das Praktizieren von Voodoo und anderen als »nicht-spanisch« oder explizit »haitianisch« bezeichneten afrikanischen Traditionen wurde verboten (vgl. Sagás 2000: 63), der Tanz Merengue wurde als »typisch spanisch« popularisiert (Sellers 2004: 93f.). Tausende Haitianer, Dominikaner mit haitianischen Vorfahren und Angehörige gemischter Familien, die in der dominikanischen Grenzregion lebten, wurden 1937 auf Anordnung Trujillos von dominikanischen Milizen und dem Militär getötet, um den Staat als machtvoll genug erscheinen zu lassen, die Nation nach außen abschirmen und alle haitianischen Einflüsse abwehren zu können (vgl. Howard 2001: 29).5 Durch die verschiedenen Strategien der ideologischen Distanzierung vom »Schwarzsein« (das mit Haiti assoziiert wird) sehen sich viele Dominikaner bis heute als Nachfahren der spanischen Eroberer oder der präko5 | Vielfach wird von »mindestens« 12.000 oder 25.000 Toten der Massaker von 1937 gesprochen (vgl. Capdevila 2003, Wucker 2000). Laut einer Zusammenstellung bei Vega (1988: 386) reichen Schätzungen zur Anzahl der Getöteten von 1.000 bis 35.000 Personen (vgl. auch Vega 1995). Vegas jüngste Schätzung lag 2003 bei 6.000 ermordeten Dominiko-Haitianern (vgl. Wooding/MoseleyWilliams 2004: 20). Die deutlich geringere Anzahl sei laut Vega darauf zurückzuführen, dass sich wohl weit mehr Menschen als zuvor angenommen durch Flucht über die Grenze vor ihrer Ermordung retten konnten.
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lumbischen Taino-Bevölkerung (die tatsächlich bereits im 16. Jahrhundert durch die Kolonialisierung nahezu ausgelöscht war) und betrachten das afrikanische Erbe als unbedeutend.6 Die staatliche Abwehr der haitianischen Einwanderung bekam im Laufe des 20. Jahrhunderts für diese Identitätspolarität wie bereits angedeutet eine bedeutende Funktion. Seit den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wird die genannte Distanzierung durch eine rechtliche Formalisierung neu formuliert, wodurch sich bestimmte Ausschlüsse noch verstärken. Mit den Details dieser Politiken befasst sich die folgende Fallstudie.
D IE V ORGESCHICHTE DER HEUTIGEN A USSCHLÜSSE : L EGALE E NTRECHTUNG VON A RBEITSMIGR ANTEN Die Dominikanische Republik ist traditionell ein Einwanderungsland.7 Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Landarbeitskräfte (primär für die Zuckerrohrernte) von den Plantagenbesitzern, zunächst in der anglophonen Karibik,8 später in Haiti, angeworben. Der Hauptgrund dafür war – neben einem generellen Arbeitskräftemangel durch das Wachstum der plantagenförmigen Zuckerrohrproduktion in großem Stil –, dass diese angeworbenen Arbeiter9 billiger waren als die einheimi6 | Die zunehmende Problematisierung der Selbstwahrnehmung der dominikanischen Gesellschaft als »nicht Schwarz« wird auf die Erfahrungen vieler dominikanischer Emigranten zurückgeführt, die z.B. in den USA selbst als Schwarz kategorisiert werden, was wiederum ihre Bewertung von blackness verändert (vgl. Moya Pons 1982: 33, Howard 2001: 112). 7 | Dies änderte sich erst in den 1980er Jahren, als Auswanderung vor allem in die USA deutlich zunahm. Heute sind die Rücküberweisungen der Auswanderer (remesas) nach dem Tourismus die zweitwichtigsten Devisenquellen der Dominikanischen Republik (vgl. Centro de Estudios Monetarios Latinoamericanos 2010: 8). 8 | Die U.S.-amerikanischen Plantagenbesitzer konnten sich mit den Arbeitern aus den Britischen Kolonien besser verständigen als mit den spanischsprachigen Dominikanern. Erst im 20. Jh. wurden die cocolos (ein abwertender Begriff für englischsprachige Schwarze) durch Haitianer ersetzt. 9 | Zu dieser Zeit wurden tatsächlich nur Männer vertraglich verpflichtet, erst ab dem 20. Jh. reisten einige von ihnen auch mit ihren Familien ein, was sich in den 1960er Jahren verstetigte (vgl. Ferguson 2003: 11).
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schen. Die Ernte des Zuckerrohrs ist eine schwere körperliche Arbeit, die zudem im Akkord bezahlt wird. Die Blätter des Zuckerrohrs schneiden in die Haut, Schutzkleidung ist unbekannt, und viele der Erntearbeiter, braceros genannt, verletzen sich schwer bei der stundenlangen Arbeit mit den Macheten. Weil sich für diese unbeliebteste und am schlechtesten bezahlte agrarische Tätigkeit nicht genügend alteingesessene Dominikaner fanden, wurde sie von der Gruppe mit der geringsten Verhandlungsmacht übernommen, den Erntehelfern kreolischer Muttersprache. Nicht nur ihre Löhne waren geringer, auch ihre Arbeits- und Lebensbedingungen waren deutlich schlechter als die der dominikanischen Bauern oder Tagelöhner. Die erste, sehr offene Phase der dominikanischen Einwanderungspolitik war bereits seit 1905 durch Überlegungen darüber ergänzt worden, welche Gruppen von der Einreise auszuschließen seien, darunter Kranke und Kriminelle.10 Mit dem Einwanderungsgesetz von 1912 wurde erstmals explizit zwischen erwünschten Weißen und unerwünschten Schwarzen Einwanderern unterschieden.11 Dessen erster Artikel begann in der Tradition eines Landes, das Einwanderung benötigt, mit der Erklärung, die Republik sei »offen für die Einreise aller zivilisierten und gesunden Personen«.12 Der folgende Artikel enthielt eine Liste von Ausschlussgründen, die ähnlich auch in anderen amerikanischen Ländern um 1900 zu finden sind: Kranke, Arbeitsunfähige, Verrückte, Anarchisten wurden als »schädlich« betrachtet und daher von der Einreise ausgeschlossen.13 Laut Artikel 3 war schließlich die ausdrückliche vorherige Erlaubnis nur im Falle der Einreise der in »den europäischen Kolonien in Amerika [d.h. die franz. und brit. Antillen, T.S.], Asien, Afrika, und Ozeanien« Geborenen sowie bei 10 | Das erste dominikanische Einwanderungsgesetz von 1879 legte noch keinen Wert auf die Herkunft der Siedler, sondern sollte generell Einwanderung anziehen (wie bereits in Dekreten der Jahre 1847 und 1852 geregelt). Es befreite die »Kolonisierer« daher nicht nur vom Militärdienst, sondern schenkte ihnen Ackerland und verlieh ihnen sofort die Staatsangehörigkeit (Ley de inmigración No. 1780, 05.06.1879). Erst die Resolution 4627 vom 05.11.1905 (Gaceta Oficial No. 1634) verschreibt sich der Abwehr »bösartiger« Einwanderer. 11 | Diese Explikation zweier unterschiedlicher Einwanderungsgruppen wird rekonstruiert von Capdevila 2004. 12 | Ley de migración, 07.05.1912, Art. 1 (G.O. 2295). 13 | Die typischen Einreiseverbote ab ca. 1890 sind dargestellt in Schwarz 2013.
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»Arbeitern anderer Rasse als der kaukasischen« erforderlich. Nun wurden ausländerrechtliche Kategorien also rassisch definiert, nur »kaukasische« Migranten brauchten keine gesonderte vorherige Erlaubnis zur Einreise. Diese Erlaubnis wurde an die »allgemeine Nützlichkeit« gebunden, wodurch die Verwaltung frei über ihre Erteilung oder Verweigerung entscheiden konnte. Diese Struktur rassischen Ausschlusses wurde von der USMilitärverwaltung, der die Dominikanische Republik ab 1916 unterstand, aufrechterhalten. Die gesetzlichen Grundlagen des dominikanischen Migrationsregimes, die bis ins Jahr 2004 in etwa gleich blieben, stammten aus dieser Zeit des Zuckerbooms nach dem Ersten Weltkrieg.14 Als nach dem Zusammenbruch der Rübenindustrie in Europa der Weltmarktpreis des Zuckers sprunghaft anstieg, wuchs in der Dominikanischen Republik die Zuckerproduktion deutlich.15 Damit stieg auch der Bedarf an Arbeitskräften an, was zur Anwerbung billiger Arbeitskräfte führte. Die Einwanderung von schwarzen Landarbeitern (»braceros de cualquier raza que no sea la caucásica«) wurde aber ab 1919 als unzulässig definiert, sofern sie nicht ausdrücklich von der zuständigen Behörde genehmigt war.16 Die Regierung Trujillos setzte diese Anwendung von Rassenkategorien im Ausländerrecht fort. Bereits nach dem Einwanderungsgesetz von 1932 mussten die rassisch definierten Gruppen unterschiedliche Einreise- und Aufenthaltsgebühren bezahlen, was 1934 und 1939 unter geringen Änderungen beibehalten wurde. Wer nicht der »mongolischen« oder der »schwarzen Rasse« angehörte erhielt den Aufenthaltstitel zu moderaten Gebühren, für »Individuen der mongolischen Rasse und auf dem afrikanischen Kontinent Geborene, die nicht kaukasischer Rasse sind« war die Einreise von der Zahlung horrender Gebühren abhängig.17 Der selben Grundstruktur folgten die Gesetze von 1934 und von 1939, wobei in letzterem die Un14 | Die USA intervenierten militärisch bereits 1905 und 1907 und sicherten sich die Finanzverwaltung des Karibikstaates, die bis 1940 andauerte. Eine regelrechte Besatzung begann 1916 und dauerte bis 1924 (vgl. Grundberger 2008). Da auch Haiti von 1915 bis 1934 unter US-Besatzung stand (Schmidt 1995), ließ sich der Austausch von Arbeitskräften über die Grenze hinweg verwaltungstechnisch leicht organisieren. 15 | Die Zuckerplantagen waren überwiegend in US-Besitz und 98% des produzierten Zuckers wurde in die USA »exportiert« (Ferguson 2003: 10). 16 | Orden ejecutiva No. 372, 16.12.1919 (G.O. 3075). 17 | Ley No. 279, 19.01.32, Art. 1 (G.O. 4435).
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terscheidung zwischen »inmigrantes« und »no inmigrantes« (in etwa als »dauerhafte« und »nicht dauerhafte« Einwanderer zu verstehen) eingeführt wurde. Dies war verbunden mit einer geringen Gebühr von vier US-Dollar für die befristeten Genehmigungen aller »non inmigrantes« (was damit auch die angeworbenen Erntehelfer einschloss), einer ebenso günstigen Erlaubnis (sechs US-Dollar) für den unbefristeten Aufenthalt für alle »Kaukasier« sowie alle amerikanischen »Ureinwohner« (»predominantemente de origen caucásico o de las razas autóctonas de América«; Art. 2) und einer horrenden Gebühr von 500 US-Dollar für den unbefristeten Aufenthalt von »Immigranten die nicht überwiegend kaukasischer Herkunft sind«.18 Die drei Gesetze verboten also die dauerhafte Einwanderung Schwarzer nicht pro forma, sondern machen sie de facto unmöglich, da ein Arbeiter, kleiner Händler oder Handwerker unmöglich den Betrag von mehreren hundert US-Dollar aufbringen konnte (die offizielle Währung der Dominikanischen Republik unter US-Verwaltung). Gleichzeitig waren alle von Plantagenunternehmen angeworbenen Arbeitskräfte nur zur Zahlung des selben geringen Betrags verpflichtet, unabhängig von der Rassenkategorie, in die sie eingeordnet wurden. Die Einreise von Schwarzen wurde also offiziell als unerwünscht dargestellt und deren dauerhafte Einwanderung nahezu unmöglich, gleichzeitig aber in Form temporärer Arbeitsmigration auf die Zuckerplantagen sehr wohl möglich gemacht, da dort die Nachfrage groß war. Zudem waren die ausländischen braceros ab 1939 generell in der ausländerrechtlichen Kategorie der »non inmigrantes« eingeordnet (Art. 3 der Ley No. 95 von 1939), sodass keine Erwähnung der Hautfarbe mehr notwendig war, um sie von einem unbefristeten Aufenthalt auszuschließen.
18 | Ley No. 279, 29.01.1932, Art. 1-3; Ley No. 739, 14.08.1934, G.O. 4710, Art. 11; Ley No. 95, 21.03.1939, G.O. 5299, Art. 9. Der zuletzt genannte Passus schloss auch die aus Europa fliehenden Juden und Jüdinnen ein, denn er fordert die hohe Gebühr explizit auch für Menschen, »die der semitischen Rasse angehören und nicht bereits drei Jahre lang ununterbrochen in Amerika gelebt haben, als dieses Gesetz erlassen wurde« (Art. 9, b).
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D ER DER
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PREK ÄRE R ECHTSSTATUS : EINE TECHNIK D ISZIPLINARGESELLSCHAF T
Die Bedeutung der Zuckerindustrie nahm unter Trujillo weiter zu, weshalb in seiner Amtszeit eine Reihe bilateraler Abkommen mit Haiti geschlossen wurden (convenios), in denen die Einreise von Haitianern für bestimmte Zeiträume (vor allem die Zuckerrohrernte) geregelt wurde.19 Durch diese Abkommen, in Verbindung mit den entsprechenden Passagen des Gesetzes, war der Aufenthalt der Arbeitskräfte an die Tätigkeit auf den Plantagen gebunden. Ein typischer Anwerbevertrag erklärte beispielsweise, dass der Arbeiter, falls er »unfähig« wird weiterzuarbeiten oder wenn er die Plantage verlässt, auf Kosten des Unternehmens »heimgeführt« (»repatriar«) werden müsse.20 Zur Abwicklung der staatlichen Verträge wurde nicht nur die Einreise der braceros, sondern auch ihre »Rückführung« nach der Ernte direkt durch Polizei und Militär kontrolliert. Weil sie sich nur auf den ihnen zugewiesenen Plantagen und nur während des festgelegten Zeitraums (z.B. während der Ernte) aufhalten durften, war ihr Aufenthaltsstatus innerhalb der Dominikanischen Republik prekär. Sobald das Unternehmen sie nicht mehr brauchte, wenn sie ihren Arbeitsplatz wechselten oder schlicht nur die Plantage verließen, konnten sie rechtens von der Polizei festgehalten und abgeschoben werden. Damit waren sie vom sozialen Leben der dominikanischen Gesellschaft de facto ausgeschlossen. Diese rechtliche Diskriminierung führte zudem zum Ausschluss der braceros vom Arbeitsmarkt. Sie verringerte ganz entschieden ihre Macht, die Höhe der Löhne, die Arbeits- und Lebensbedingungen auszuhandeln, während sie den Arbeitgebern geringe Kosten garantierte und sicherstellte, dass sich die Arbeiter nicht effektiv organisieren konnten (vgl. NCHR 1996: 36, Ferguson 2003: 14).21 19 | Untergebracht wurden die braceros in behelfsmäßigen Unterkünften auf dem Land der Plantagenbesitzer in direkter Nähe der Zuckerrohrfelder und fernab dominikanischer Infrastruktur, die als bateyes bezeichnet werden, vgl. Moya Pons 1986. 20 | Vgl. Acuerdo sobre la contratación en Haití y la entrada en la República Dominicana de jornaleros temporeros haitianos (G.O. 8435, 1959), zitiert in Moya Pons 1986: 362. 21 | Diese Einschränkung des Aufenthaltsrechts wurde kombiniert mit einer nationalistischen Abwehr-Propaganda (Dominicanizatón del trabajo), die es der
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Der Tod Trujillos und der Übergang zu einer zivilen Regierung führte nicht zum Ende dieses Systems der engen staatlichen Kontrolle der Wanderarbeiter. Die Zuckerplantagen in Privatbesitz profitieren weiterhin von der staatlichen Kooperation bei der Anwerbung ihrer Arbeitskräfte; Trujillos persönliche Plantagen wurden 1966 verstaatlicht und von da an direkt durch den Staat (durch den Consejo Estatal de Azúcar) verwaltet. Daher wurde die staatlich garantierte Rekrutierung und Rückführung von Migranten, mit geringfügigen Änderungen, bis Mitte der 1980er Jahre (als die Zuckerindustrie an Bedeutung verlor und das Militärregime in Haiti stürzte) weitergeführt (vgl. Ferguson 2003: 11). Erst in den letzen beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts wandelte sich die direkte staatliche Kontrolle der Arbeitskräfteeinfuhr zu einer Kontrolle der »Ausreise« in Form kollektiver Abschiebungen durch Polizei oder Militär. Nach internationalen Protesten über Menschenrechtsverletzungen während der Zuckerrohrernte ordnete Präsident Balaguer im Jahr 1991 die »Repatriierung« (repatriación) aller in der Zuckerindustrie arbeitenden Ausländer an, die jünger als 16 und älter als 60 Jahre alt waren (Decreto N° 233, 13.06.1991). Dadurch wurden nach Schätzungen 35.000 Personen abgeschoben (Comisión Interamericana de Derechos Humanos 07.10.1999: 332), während gleichzeitig die benötigten Arbeitskräfte (also die Gruppe der 16- bis 60-Jährigen) nicht angetastet wurden.22 In der Dekade seit 2000 wurde über keine Massendeportationen mehr berichtet. Stattdessen führt die Polizei Abschiebekampagnen in kleinerem Stil durch, indem im urbanen Raum angebliche Haitianer ohne legalen Aufenthaltsstatus verhaftet und zu einem Grenzübergang transportiert werden. Die Anzahl dieser weniger öffentlichen, alltäglichen Abschiebun-
Regierung ermöglichte, die haitianische Einwanderung weiterhin als Bedrohung darzustellen während sie sich als handlungsfähig präsentierte (vgl. Cuevas/Héctor 1999: 128) sowie zugleich an der Ausstellung von »Sondererlaubnissen« zur Arbeitskräfteanwerbung zu verdienen (vgl. Capdevila 2004: 448-451). 22 | Nachdem der zitierte Bericht der Kommission 1999 veröffentlicht wurde, schob die dominikanische Regierung erneut 10-20.000 Personen ab, um, wie sie erklärte, der kritisierten Misshandlung von haitianischen Arbeitsmigranten entgegenzuwirken. Weitere umfangreiche Abschiebewellen sind in den Jahren 1996 und 1997 dokumentiert (vgl. Human Rights Watch 2002: 15-17, International Human Rights Law Clinic 2002: 5-7).
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gen ist erheblich und reicht von 13.000 bis über 30.000 pro Jahr (Human Rights Watch 2002: 17, GARR 2009: 28). Auch diese Ausschlusspolitik knüpft an die prekäre Rechtsstellung der braceros an. Diese diskriminierende Behandlung der »temporären Arbeitskräfte« kommt einem umfassenden Kontrollsystem gleich, durch das ihre Beschäftigungskosten niedrig gehalten und ihre Beteiligung am gesellschaftlichen Leben weitgehend verhindert wurden. Diese staatliche Kompetenz, die Verteilung der Individuen im Raum zu regeln, hat Foucault »Disziplin« genannt. Im Inneren der Gesellschaft passiert dies durch Kontrollinstitutionen, deren Prototypen die Fabrik, die Schule und das Gefängnis sind (vgl. Foucault 1975). Hinsichtlich internationaler Migration ist die staatliche Einwanderungskontrolle ein Element dieser Kontrollmacht. Sie zielt auf die einzelnen Körper ab, positioniert sie zueinander und gegenüber Objekten, etwa indem sie diese in Arbeitsabläufe eingliedert. Das staatliche Anwerbe- und Abschieberegime wäre demnach, ebenso wie die Plantage, eine Institution der Disziplinierung. Die gesellschaftliche Isolierung der braceros auf den Plantagen ebenso wie ihre massenhafte Abschiebung bedingen deren »sozialen Tod« (Foucault 1999: 292).
D IE U ME TIKE T TIERUNG DER W ANDER ARBEITER ZU »D URCHREISENDEN « Es ist unmöglich genau zu sagen, wieweit die dominikanische Bevölkerung heute Form und Inhalte des staatlichen Anti-Haitianimus gutheißt oder unterstützt und inwiefern ein solch kontrastives Weltbild in tatsächlichen alltäglichen Interaktionen wirksam wird.23 Offensichtlich feststellbar hingegen sind die Veränderungen der offiziellen Umgangsweisen mit haitianischer Einwanderung. Nachdem die massenhafte Einfuhr von billigen Arbeitskräften für die Landwirtschaft nicht mehr nötig war, erschien auch 23 | Baud betont etwa, die im Alltag wirkenden »nuances, intermediate categories, anti-racist ideas« nicht zu übergehen (Baud 2002: 320); siehe außer dem Fußnote 6. Andererseits ergab eine Zusammenfassung dominikanischer Meinungs umfragen eine laufend abnehmende Bedeutung des Ideals der Gleichheit aller Bürger und einen Trend, die Bürgerrechte von Nachkommen haitianischer Ein wan derer zunehmend in Abrede zu stellen (vgl. Oficina de Desarrollo Humano del PNUD 2010: 119-120).
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die kollektive Adressierung von Einwanderergruppen im Gesetz von 1939 nicht mehr zeitgemäß (Lozano 2008: 22). Zudem wandelte sich auch die Sichtbarkeit von Haitianern auf der dominikanischen Seite der Insel. Dies hatte möglicherweise noch gravierendere Folgen für die öffentliche Wahrnehmung haitianischer Migration als rein ökonomische Faktoren. Von Beginn der starken Immigration in der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts an bis etwa zum ökonomischen Wandel der 1980er und 90er Jahre (als die Agrarproduktion diversifizierter wurde und der Tourismus an Bedeutung zunahm) war die Arbeitsmigration auf den ländlichen Raum begrenzt. Die braceros lebten auf den Plantagen, und Polizeikontrollen, die auf dem geschilderten rechtlichen Rahmen basierten, konnten diesen gesellschaftlichen Ausschluss durchsetzen. Heutzutage ist der Anteil der Haitio-Dominikaner an der Gesamtbevölkerung vermutlich nicht viel größer als vor den 1980ern, aber mehr Haitianer als jemals zuvor leben in Städten (vgl. Tejeda 2008: 303f., Lozano 2008: 155-167, Báez Evertsz/Lozano 2005). Nun arbeiten sie auf Baustellen und als Hausangestellte oder Sicherheitspersonal und sind damit in den urbanen und touristischen Zentren sichtbar. Das bedeutet, ihr Kontakt mit der sich »dominikanisch« fühlenden Bevölkerung ist viel direkter und alltäglicher geworden (vgl. Ferguson 2003: 15, Báez Evertsz/Lozano 2005). Daher begannen in den 1990er Jahren verschiedene Regierungsstellen über eine grundsätzliche Novellierung des Einwanderungsgesetzes zu beraten. Mehrere Gesetzgebungsanträge wurden eingebracht, zunächst jedoch keiner verabschiedet (vgl. Lozano 2008: 29-38). In diesem Prozess änderte sich nach und nach die Stoßrichtung staatlicher Exklusion. Heute liegt deren Schwerpunkt nicht auf dem Zugang zu einer Rechtsposition, die eines Tages zur formalen Aufenthaltsverfestigung führen könnte (wie etwa einem Anspruch auf ein Bleiberecht oder gar auf die Einbürgerung). In dieser früheren Ausschlussstrategie fungierte der ausgrenzende Charakter des Ausländerrechts als wesentlicher Baustein der nationalen policy of belonging. Nun basiert Ausschluss direkt auf dem Einsatz der Nationalität (im rechtlichen Sinne) als limitierendes Prinzip, d.h. ganze Bevölkerungsgruppen werden vom Zugang zur formalen Position der nationalen Zugehörigkeit ausgeschlossen. Seit 2004 ist dieser Wandel anhand der Novellierungen des Einwanderungsgesetzes sichtbar. Wie bereits erwähnt, wurden die eingewanderten Arbeitskräfte mit dem Ausländergesetz von 1939 durch die Schaffung einer »no residentes« genannten Kategorie von einem Bleiberecht ausgeschlossen: Sie sollten
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eben nicht als Einwohner (»residentes«) betrachtet werden, sondern lediglich als »trabajadores temporeros«. Auch wenn sie Jahr für Jahr wiederkehrten, sich mehrere Monate in der Dominikanischen Republik aufhielten oder nach der Ernte das Land gar nicht verließen, wurde ihr Aufenthalt als kurzfristig wahrgenommen. Denn tatsächlich blieb ein Teil der »Ernte-Arbeiter« ganzjährig auf den Plantagen und die bateyes waren durchgehend bewohnt. Die weit abgelegene Unterbringung der braceros auf dem Plantagenland trug aber dazu bei, ihre Präsenz in Abrede stellen zu können. Eine derartige Wahrnehmung hat Auswirkungen auf das Konzept nationaler Zugehörigkeit. Denn in der Dominikanischen Republik ist die Staatsangehörigkeit von der Geburt im Inland abhängig, damit also bezogen auf die de-facto-Präsenz der eingewanderten Eltern zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes. Das ius soli (Recht des Bodens) ist ein konstitutionelles Prinzip nicht nur in der Dominikanischen Republik, sondern auch in fast allen unabhängigen Staaten auf dem amerikanischen Kontinent (mit Haiti als prominenter Ausnahme). Es wurde 1858 eingeführt und galt bis 1929 uneingeschränkt, als eine wichtige Qualifikation des Erwerbs der Staatsangehörigkeit durch Geburt eingeführt wurde. Seitdem ist das ius soli in zwei speziellen Umständen eingeschränkt: Wenn sich die Eltern im diplomatischen Dienst für einen anderen Staat in der Republik aufhalten, oder wenn die Eltern nur auf der Durchreise sind (»de tránsito«), erhält das Kind nicht automatisch die dominikanische Staatsangehörigkeit bei der Geburt (Art. 8, Nr. 2 der Verfassung von 1929). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die erste dieser Einschränkungen auch in anderen Ländern verbreitet, die die Staatsangehörigkeit aufgrund des Prinzips der Geburt auf dem Territorium gewährten und ausländische Botschaften gewissermaßen als exterritorialen Raum betrachteten. Die zweite Einschränkung nahmen ebenfalls viele Nationalstaaten vor, nämlich dass die Neugeborenen nur dann »Inländer« sein sollen, wenn sich ihre Eltern mehr als nur kurzfristig im Land aufhalten.24 Offenbar war im Jahr 1929 die Formulierung »de tránsito« nicht umstritten und bezeichnete hinreichend präzise Durchreisende wie Touristen, Schiffsbesatzungen und dergleichen. Dass die Eltern einen Aufenthaltstitel besitzen müssten, um innerhalb des Lan24 | Die bekannteste Ausnahme macht der 14. Zusatzartikel der US-Verfassung: Er gewährt seit 1868 die Angehörigkeit uneingeschränkt sogar für Kinder von Touristinnen, wenn sie innerhalb der USA geboren werden.
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des dominikanische Kinder auf die Welt zu bringen, wird jedenfalls von der Verfassung nicht gefordert. Wie die ausländerrechtliche Norm anzuwenden sei, machten die ersten Durchführungsbestimmungen deutlich, die 1939 erlassen wurden. Dort heißt es unter der Überschrift »Transeuntes«, sinngemäß »Durchreisende«: »Ausländische Staatsangehörige, die in die Republik mit dem Hauptzweck einreisen wollen, das Land mit externem Ziel zu durchqueren, erhalten die Erlaubnis als Durchreisende. […] Eine Dauer von 10 Tagen wird in der Regel als ausreichend betrachtet, um die Republik zu durchreisen«.25 Die haitianischen braceros waren (und sind es heute noch) zwar ausländerrechtlich «no residentes«, ihre Kinder wurden jedoch, was die in der Verfassung geregelte Staatsangehörigkeit anging, nicht als Kinder von »Durchreisenden« geboren und hatten damit pro forma die dominikanische Staatsangehörigkeit. In den 1990er Jahren wurde allerdings deutlich, dass nicht alle dieses scheinbar evidente Verständnis von »tránsito« in der Verfassungsnorm zur Staatsangehörigkeit teilten. Tatsächlich wurde nun die Lesart hegemonial, nach der Kinder von »temporären« Migranten nicht länger die dominikanische Staatsbürgerschaft bei Geburt erwerben sollten. Nach den oben erwähnten zunächst vergeblichen Versuchen, das Einwanderungsgesetz von 1939 zu novellieren, verabschiedeten Senat und Parlament im Jahr 2004 schließlich ein grundlegend modifiziertes Gesetz. Darin werden nun alle Formen der »no residentes« – einschließlich der »trabajadores temporeros« – als »en tránsito« hinsichtlich der Anwendung der verfassungsrechtlichen Staatsangehörigkeitsnorm definiert.26 Die bisher ausländerrechtlich in die Kategorie der »temporären« Migranten eingeordneten braceros werden nun im Hinblick auf das Staatsangehörigkeitsrecht zudem als »Durchreisende« tituliert. Dadurch kommen ihre Kinder nicht mehr in den Genuss des ius soli-Prinzips, was einer impliziten Umgestaltung
25 | Reglamento de Inmigración, 12.05.1939 (G.O. 5313), Abschnitt 5. Das reglamento schließt die »Tagelöhner« noch 1939 sogar explizit aus dieser allgemeinen Kategorie transeuntes aus. 26 | Seit 2004 lautet der Art. 36, 10 der Ley de Migración: »Die No Residentes werden als Durchreisende verstanden«, Ley No. 285-04 General de Migración, 27.08.2004 (G.O. 10291).
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im Sinne eines ius domicilli (Wohnortprinzips) gleichkommt.27 Diese ausländerrechtliche Modifikation erklärt damit im Jahr 2004 eine diskriminierende Praxis retrospektiv für rechtmäßig, die bereits seit den 1990er Jahren dokumentiert ist: der Ausschluss Neugeborener von der offiziellen Dokumentation.
D IE V ORENTHALTUNG DER S TA ATSANGEHÖRIGKEIT : EINE TECHNIK DER B IOPOLITIK In einem ius soli-System ist die Geburtsurkunde der wichtigste Nachweis der Staatsangehörigkeit (vgl. Wooding 2008: 368). Ein solches Dokument nicht zu besitzen macht es daher unmöglich, die eigene Staatsangehörigkeit nachzuweisen. In den bateyes wurden (und werden) Kinder zu Hause geboren und nicht in einem Krankenhaus. Die Geburtsurkunden für die Neugeborenen müssen die Eltern daher im Nachhinein erhalten. Dazu wenden sich diese an die zuständige Außenstelle der staatlichen Registerbehörde (in der Dominikanischen Republik ist die Junta Central Electoral (JCE) verantwortlich für die Pflege dieser Datenbank) und legen dort Beweise dafür vor, dass ihr Kind im Inland geboren wurde. Dies war kein schwieriges Unterfangen solange die Registrierung der Neugeborenen haitianischer Wanderarbeiter noch nicht umstritten war, weder der Nachweis der Identität der Eltern noch deren rechtliche Situation war besonders kompliziert. Im Gegenteil, die Behörde akzeptierte üblicherweise die fichas der Arbeiter als Identitätsnachweis. Das waren Ausweispapiere, die durch den Arbeitgeber ausgestellt wurden und – durchaus vergleichbar mit den preußischen »Arbeiterlegitimationskarten« aus den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts (Bade 1984) – neben dem Namen des Arbeiters auch die Firma, die Plantage und die Dauer des Arbeitsverhältnisses benannten. Seit den 1980er Jahren begannen jedoch einige Außenstellen der JCE andere Identitätsnachweise zu verlangen, wie etwa gültige haitianische Reisepässe oder dominikanische Aufenthaltserlaubnisse (Open Society Foundations 2010: 5). Solche Dokumente besaßen die Antragsteller aber zumeist nicht oder konnten sie gar nicht besitzen, da sie ja als »trabajado27 | Das Wohnortprinzip wird auch in vielen Staaten der EU angewendet oder wurde dort in jüngerer Zeit eingeführt; zu Deutschland vgl. Mertens 2004: 126, zur Abschaffung des ius soli in Irland 2004 vgl. Mancini/Finlay 2008.
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res temporeros« von einem dauerhaften Aufenthaltsstatus ausgeschlossen waren. In solchen Fällen wurde die Ausstellung von Geburtsurkunden für ihre Kinder verweigert (ebd.). Im Laufe der 1990er Jahre nahm diese Behördenpraxis ein gravierendes Ausmaß an, wie Beschwerden von NGOs zeigen.28 Nun kam jedoch noch ein weiteres Element hinzu: Auch wenn Identitätsdokumente vorgelegt werden konnten, wurde die Registrierung der Kinder – und damit deren staatliche Anerkennung als dominikanisch – verweigert. Als Begründung dafür wird seit den 1990er Jahren genau diese logische Operation angeführt, die ich oben dargestellt habe: die haitianische Einwanderer gelten als »Durchreisende« (ebd.). Als Erklärung dafür, in welchen Fällen die Behörden überhaupt nach dominikanischen Papieren fragten, führen die Beobachter an, dass die jeweiligen Antragstellenden entweder haitianische Nachnamen hätten, dass sie Spanisch mit Akzent sprächen oder ihre Kleidung bzw. ihr Hautfarbe den Beamten »haitianisch« erscheine (Wooding 2008: 369). Die genaue Anzahl derartiger 28 | Movimiento de Mujeres Dominico-Haitianas (MUDHA) 2000, Human Rights Watch 2002: 22-26, Wooding/Moseley-Williams 2004: 83. Zu weiteren Belegen siehe die Berichte der Interamerikanischen Kommission für Menschenrechte (Comisión Interamericana de Derechos Humanos (Octubre 1999)) und der Vereinten Nationen (Human Rights Council 2008, Oficina de Desarrollo Humano del PNUD 2010). Die o.g. Publikationen der Nichtregierungsorganisationen enthalten auch Informationen, die durch Interviews mit Leitern oder Mitarbeitern der Verwaltung erhoben wurden. Dies ist der einzige Zugang zu »offiziellen« Quellen, da sich die dominikanischen Regierungsstellen nicht zu den Vorwürfen äußern, sie würden Dominikanern die Staatsangehörigkeit vorenthalten. Ein Gespräch mit dem Direktor der dominikanischen Einwanderungsbehörde, das ich im März 2011 in Santo Domingo führen wollte, kam nicht zustande. In einigen der genannten NGO-Berichte sind außerdem auch einige exemplarische individuelle Fälle dokumentiert (Human Rights Watch 2002: 25), weitere Details über die damalige Situation konnte ich in persönlichen Gesprächen mit Mitarbeiterinnen von MUDHA und OSF im März 2011 erheben. Als weitere Quellen dienen Gerichtsakten. Am besten dokumentiert ist der Fall der Kinder Yean und Bosico durch eine Klage vor dem Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof (vgl. Baluarte 2006), im Juni 2010 wandte sich Emildo Bueno Oguís in seinem vor dem dominikanischen Verfassungsgericht anhängigen Fall vorenthaltener Dokumentation an die Kommission (siehe www.opensocietyfoundations.org/litigation/ bueno-v-dominican-republic, eingesehen am 10.01.2013).
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Fälle ist nicht bekannt, aber in der Zukunft können alle Nachkommen von haitianischen Einwanderern davon potentiell betroffen sein.29 Noch weiter eskaliert wurde dieser behördliche Ausschluss von »unerwünschten« Staatsangehörigen durch das im Gesetz von 2004 verankerte Verbot, den Kindern von Müttern ohne Aufenthaltstitel Geburtsurkunden auszustellen. Denn statt zur Ausstellung einer gültigen amtlichen Geburtsurkunde im Krankenhaus (Constancia de Nacimiento Oficial), mit dem die Mutter das Kind in dem oben beschriebenen Verfahren offiziell registrieren lassen könnte, sind die Krankenhäuser nun gesetzlich verpflichtet, den Kindern von »illegalen« Müttern nur eine bedeutungslose Constancia de Nacimiento auszuhändigen, die zur nachfolgend notwendigen Registrierung nicht ausreicht.30 Um diesen Unterschied deutlich zu markieren, ist diese Pseudo-Bescheinigung rot eingefärbt, de color rosado, wodurch der Ausschluss des Kindes vom dominikanischen Kollektiv sinnlich erfahrbar wird. Um dem Vorwurf zuvorzukommen, die Kinder undokumentierter Eltern nicht ordnungsgemäß zu registrieren, erfand die Dominikanische Regierung im Zuge der Novellierung des Ausländerrechts ein neues Register, das libro para extranjeros (Art. 28, 2 Ley No. 285-04), in das diese Neugeborenen aufzunehmen seien. Gehen deren Eltern im Anschluss zur Registerbehörde, erhalten sie dort einen Auszug aus diesem Register, der einer Geburtsurkunde zwar ähnlich sieht, allerdings keinerlei Rechtswirkung hat. Die offensichtliche Diskriminierung von Kindern undokumentierter Mütter – sprich: haitianischer Herkunft – wurde rechtlich durch eine Klage vor dem dominikanischen Verfassungsgericht (Suprema Corte de Justicia, 29 | Über die Anzahl haitianischer Einwanderer in der Dominikanischen Republik gibt es keine gesicherten Zahlen, denn das offizielle Register der Migrationsbehörde ist mangelhaft (vgl. Ferguson 2003: 10, del Castillo 2005: 19). Nach Schätzungen verschiedener Organisationen (vgl. Oficina de Desarrollo Humano del PNUD 2010: 82) kann um 2002 von etwa einer halben Million DominikoHaitianern ausgegangen werden – 300.000 von ihnen sind selbst aus Haiti eingewandert und haben seitdem im Inland etwa 200.000 Kinder bekommen (vgl. FLACSO/OIM 2004, Báez Evertsz/Lozano 2005). 30 | Dies ist geregelt im Art. 28, 1 der Ley No. 285-04. Obwohl das Gesetz dieses wertlose Dokument Constancia de Nacimiento nennt, erhalten die Papierlosen tatsächlich eine Constancia de Nacido Vivo Extranjero, vgl. Open Society Foundations 2010: 7.
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SCJ) angegriffen, mit der 14 verschiedene dominikanische NGOs die Verfassungswidrigkeit des neuen Migrationsgesetzes feststellen lassen wollten. Mit seiner Entscheidung Ende 2005 bestritt das höchste dominikanische Gericht jedoch, dass das neue Gesetz Neugeborene staatenlos mache, denn diese könnten ja weiterhin theoretisch die haitianische Staatsbürgerschaft erhalten, und befand alle beanstandeten Artikel als verfassungsgemäß.31 Wenn die Verfassung allerdings nur dann die Staatsangehörigkeit vorsieht, wenn die eingewanderten Eltern der Betreffenden einen dauerhaften Aufenthaltstitel besitzen, kann sich dieser Ausschluss von der nationalen Zugehörigkeit theoretisch auch »vererben«. Genau dieses Verständnis setzte sich nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts von 2005 durch. Denn eines der Argumente, womit die Suprema Corte den Vorwurf der Verfassungswidrigkeit zurückwies, war die Behauptung, alle »Durchreisenden« seien bereits 1929 vom ius soli ausgeschlossen gewesen, als die Staatsangehörigkeit derart in der Verfassung formuliert wurde. Damit beugte das Gericht dem Vorwurf vor, es käme zu einer rückwirkenden Anwendung der 2004 eingeführten Bestimmung (was die Verfassung explizit verbietet), indem es erklärte, dieser Ausschluss sei bereits seit der vorhergehenden Verfassungsänderung gängiges Rechtsverständnis.32 Doch wenn seit 1929 alle Nachkommen von haitianischen braceros keine dominikanischen Staatsangehörigen sind bzw. waren – bedeutet das, dass die Verwaltung auch die Staatsangehörigkeit von heute Erwachsenen infrage stellen kann? Tatsächlich führt das dominikanische Verwaltungshandeln etwa seit 2007 in zahlreichen Fällen dazu, Personen dadurch de facto auszubürgern, indem es ihnen unmöglich gemacht wird, ihre Staatsangehörigkeit nachzuweisen. Um das nachvollziehen zu können, muss eine dominikanische Besonderheit erläutert werden: Geburtsurkunden werden in der Dominikanischen Republik nicht einmalig zu Beginn des Lebens ausgestellt, sondern müssen für den jeweiligen Zweck als offizieller Auszug aus dem registro ciliv (etwa vergleichbar mit dem Melderegister) erteilt werden. Benötigt eine 31 | Suprema Corte de Justicia, Urteil vom 14.12.2005, Boletín Judicial No. 1141 (Dez. 2005), siehe http://www.suprema.gov.do/consultas/consultas_sentencias/detalle_info_sentencias.aspx?ID =114110009, eingesehen am 10.01.2013. 32 | Die Verfassung nehme »seit ihrer Revision von 1929« die Kinder von denjenigen »auf Durchreise« von der dominikanischen Staatsangehörigkeit aus, weshalb von einer Diskriminierung aufgrund von »Rasse, Hautfarbe, Glaube oder Herkunft« keine Rede sein könne (vgl. ebd.).
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Person beispielsweise eine cédula (Personalausweis), so muss sie sich dafür ein Certificado de declaración de nacimiento con fin de cédula (lit.: »Nachweis der Beurkundung der Geburt für einen Ausweis«) bei der zuständigen Außenstelle der Junta Central Electoral geben lassen. Daher werden fast alle volljährigen Staatsangehörigen früher oder später irgendeine Art von Interaktion mit der JCE haben. Nach dem Verfassungsurteil von 2005 verlangte die Verwaltung auch von erwachsenen Bürgern, die für sich selbst oder für ihre Kinder einen Auszug aus dem Melderegister beantragten, den Aufenthaltsstatus ihrer Eltern bei ihrer Geburt nachzuweisen. Das bedeutet, bevor die Behörde den angeforderten Nachweis aus dem Register ausstellte, fragte sie nach der Identität der Eltern oder Großeltern – oder genauer: nach deren ausländerrechtlichem Status. In diesen Fällen wurde unterstellt, diese seien lediglich »de tránsito« im Land gewesen, die beantragende Person sei also Kind von »Durchreisenden«, ergo nie rechtskräftig dominikanische Staatsangehörige gewesen. Dies kann auch Erwachsenen passieren, die in der Dominikanischen Republik geboren wurden und sich ihr ganzes Leben lang für »Dominikaner« hielten, bereits über offizielle dominikanische Dokumente (wie eine cédula) verfügten und nie Zweifel an ihrer Staatsangehörigkeit hatten.33 Die Behörde verweigert in diesen Fällen die Ausstellung der benötigten Kopien der Geburtsurkunde und macht es den Betroffenen damit unmöglich, ihre Staatsangehörigkeit nachzuweisen. Gerechtfertigt wird diese Weigerung mit der Behauptung, die »Integrität« des Originaldokuments (d.h. des Datensatzes im registro civil oder bereits ausgestellte Auszüge aus diesem) müsse »überprüft« werden. Auf diese Weise kann die Verwaltung die Ausstellung jeder Art von Urkunde auf unbestimmte Dauer verweigern.34 33 | Derartige Fälle werden u.a. in Flugblättern der Organisation MUDHA dargestellt, die dem Verfasser vorliegen. Durch eine gegenwärtig anhängige Beschwerde vor dem Dominikanischen Verfassungsgericht ist zudem folgender Fall dokumentiert: Emildo Bueno, Sohn Haitianischer Eltern, hat ebenso bei Geburt eine dominikanische Geburtsurkunde erhalten wie später dementsprechend eine cédula und sogar einen dominikanischen Reisepass. Erst als Bueno im Jahr 2007 einen Auszug aus dem Geburtsregister beantragte wurde ihm dieser, unter Bezug auf den Status seiner Eltern (»no residentes«) verwehrt. Damit ist er de facto ausgebürgert (siehe Fußnote 28). 34 | Dieses Vorgehen wird in einem circular (Rundbrief) der JCE vom März 2007 geregelt und mit darauffolgenden »Erklärungen« der Jahre 2007 und 2008 be-
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Die Behörden bestreiten, dass sich dieses Verfahren dezidiert gegen Dominikaner/innen mit haitianischen Vorfahren richtet, sondern behaupten, dass alle Anträge gleich behandelt würden.35 Doch selbst der UN-Sonderberichterstatter bestätigte 2008, dass »the assumption is being made that if you have no documents and appear to be or have a name that is Haitian, you are an illegal migrant. While the Government reports that a large percentage of all Dominicans have no identification documents, in practice, this presumption of illegality is applied only to people with dark skins and Haitian features.« (Human Rights Council 2008: 62)
V OM A UFENTHALTSRECHT ZUR S TA ATSANGEHÖRIGKEIT : VER ÄNDERTE K ONSEQUENZEN DER NATIONALEN POLICY OF BELONGING
Welche offizielle Begründung für dieses Verfahren auch immer gewählt wird, die historische Genese dieser rechtlichen Ungleichbehandlung ist offensichtlich. Zwei logische Operationen schließen als Bestandteile der nationalstaatlichen policy of belonging aneinander an: Im ersten Schritt wurden haitianische Arbeitskräfte – durch aufenthaltsrechtliche Kontrolle – lediglich als »no residentes« zugelassen. Für die gesamte Dauer des staatlich gelenkten Imports billiger Arbeitskräfte aus dem benachbarten kräftigt. Genannter circular hält die Beamten an, vor der Erteilung einer neuen Bescheinigung die Einträge »sorgfältig zu prüfen«. Wenn irgendwann in der Vergangenheit (was nicht weiter spezifiziert wird) eine »Unregelmäßigkeit« auftauche, sei keine Bescheinigung auszuhändigen, sondern die Akte sei zur Kammer der Junta zu schicken, um dort geprüft zu werden. Die mögliche »Unregelmäßigkeit« bestehe nach dem Wortlaut des Rundbriefs in »ausländischen Eltern, die ihren Aufenthalts- oder Rechtsstatus nicht nachgewiesen haben« (JCE, Circular No. 17, 29.03.2007, No. 2). Dies bedeutet, dass jede Angabe der Vorsprechenden, die darauf hinweist, dass ihre (Groß-)Eltern lediglich mit einem befristeten Aufenthaltstitel in der Dominikanischen Republik gelebt haben, dazu führen kann, dass es zu einer »sorgfältigen Prüfung« der Unterlagen kommt und damit die beantragten Beurkundungen verweigert werden. 35 | Die Resolución del Pleno de la Junta Central Electoral (16.07.2008) verweist diesbezüglich auf die o.g. Entscheidung des Verfassungsgerichts.
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Haiti vom Zuckerboom in den 1920ern bis zum Rückgang der Plantagenwirtschaft in den 1980ern wurden diese Personen in einer gegenüber dauerhaften Einwanderern (und erst Recht gegenüber eigenen Staatsangehörigen) verminderten Rechtsposition gehalten. Sie wurden zu »illegal people« (Human Rights Watch 2002), jegliche nationale Inkorporation wurde normativ ausgeschlossen. Ihr möglicher nationaler Mitgliedschaftsstatus wurde aus der Sicht der dominikanischen Verwaltung nicht einmal erwogen. Im zweiten Schritt erbten die Nachkommen die prekäre Rechtsstellung ihrer Eltern und sogar ihrer Großeltern, d.h. deren unter Gesichtspunkten der Staatsangehörigkeit wertlosen aufenthaltsrechtlichen Status. Dieser Formalstatus wurde damit also bedeutsam hinsichtlich der nationalen Mitgliedschaftsdefinition, er fungiert nun als Element einer bio-politischen Regelung von Zugehörigkeit. Denn wird der ausländerrechtliche Formalstatus für die Legitimation nationaler (Nicht-)Zugehörigkeit relevant, kann Ausschluss von Mitgliedschaft über vererbte rechtliche Ungleichheit legitimiert werden.36 Der dominikanische Staat verfolgt damit gegenwärtig eine policy of belonging, die am tradierten System der rechtlichen Ungleichbehandlung von eingewanderten Arbeitskräften anknüpft und dieses unter dem Blickwinkel staatlicher Zugehörigkeitspolitik interpretiert. Diese enge Bindung der Staatsangehörigkeits- an die Migrationspolitik »passiert« in den und durch die Praktiken der Verwaltung. Zunächst wird durch verwaltungspraktische Materialitäten die Notwendigkeit, sich als Staatsangehöriger zu identifizieren, überhaupt erst erzeugt. Erst wenn es im Alltag tatsächlich einen Unterschied macht, ob eine Person sich ausweisen kann oder nicht – also wenn an das Identitätsdokument reale Rechte geknüpft sind –, macht sich das Fehlen hoheitlicher Dokumentation für die davon Betroffenen 36 | Eine praktische Folge davon ist, dass jeder Versuch, das Recht auf die Staatsangehörigkeit dadurch zu unterstreichen, die ficha der Eltern vorzuweisen, wiederum formalen Ausschluss legitimiert. Denn dieses Dokument beweist, dass sich der Vater aus Sicht des Staates nur aus einem Grund in der Dominikanischen Republik aufhielt: um auf einer Plantage zu arbeiten. Nach der Logik des Staates sollten die braceros nicht im Land leben und dort (dominikanische) Kinder bekommen. Dieser Ausschluss von der nationalen Zugehörigkeit wird durch die heutige Verweigerung der Staatsangehörigkeit ihrer Kinder und Kindeskinder fortgesetzt.
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bemerkbar. Der explizite Ausschluss von staatlichen Dokumenten wurde erst nötig, als sich im Laufe der 1990er Jahre zeigte, dass die Dokumentation der Nachkommen von »irregulär« Eingewanderten regelungsbedürftig war. Als es noch keine nennenswerte staatliche Dokumentation gab, war diese auch nicht für eine bestimmte Gruppe schwerer zu erlangen als für andere. Erst wenn der »Bürger« im Alltag tatsächlich relevante Rechte für sich in Anspruch nehmen will, zeigt es sich, dass diese Rechte Vorrechte des Staatsbürgers sind und Nicht-Staatsangehörige davon ausgeschlossen bleiben können oder sollen. Diese spezifische Relevanz staatlicher Zugehörigkeit wurde im konkreten Fall durch spezifische Verfahrensweisen herausgestellt, nämlich durch die Anweisung an die Verwaltungsstellen, die Akten »sorgfältig« auf »Unregelmäßigkeiten« zu prüfen. Die daran anschließende Deutung des Aufenthaltstitels der Vorfahren als nationale Nicht-Zugehörigkeit legitimiert wiederum bestimmte Markierungen (andersfarbige Urkunden oder einbehaltene Dokumente). Gleichzeitig wird das Konzept der staatlichen, scheinbar formalen Zugehörigkeit fortlaufend angewendet, indem nur bei bestimmten Antragstellern eine gesonderte »Prüfung« vorgenommen wird. Dieses Verwaltungshandeln zeigt eine Deutung des Dominikanisch-Seins als Nicht-Schwarz-Sein, also eine rassialisierte Qualifizierung von nationaler Zugehörigkeit. Die Dokumente, Institutionen und Verfahrensweisen der staatlichen Verwaltung fixieren, zumindest vorübergehend, den Prozess des stetigen Aushandelns der policy of belonging und zeigen deren normative Wirkung. Ein Vergleich verschiedener Phasen der Staatsangehörigkeitspolitik und besonders die Analyse umstrittener Leseweisen von vermeintlich formalen Definitionen zeigen, dass das zentrale Konzept der dominikanischen Zugehörigkeit eine historisch gewordene Bedeutung hat, die sich auch weiter wandelt. Die Normativität staatlicher Zugehörigkeitspolitiken kann so anhand ihrer materiellen Bestandteile untersucht werden. Im Januar 2010 verabschiedete das Parlament der Dominikanischen Republik eine überarbeitete Verfassung, die deren Wortlaut an die administrative Praxis anpasste. Die Staatsangehörigkeitsdefinition, die Durchreisende und Diplomaten ausschließt, wurde durch folgende Worte ergänzt: »oder wer sich unerlaubt auf dominikanischem Territorium aufhält« (Art. 18, Nr. 3).37 Dies war der bisher letzte Schritt, um das ius soli zurückzudrän37 | Darüber hinaus wurde hinzugefügt, dass alle Ausländer oder Ausländerinnen, die gesetzlich als »Person in transit« definiert wurden, auch für die Verfas-
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gen und den Erwerb der Staatsangehörigkeit bei Geburt nur noch vom erlaubten Wohnsitz der Eltern im Hoheitsgebiet abzuleiten. In diesem Rechtsakt wird eine Verbindung von Kontroll- und Biomacht vollzogen, die für moderne Einwanderungsregime typisch ist. Auf die Deutung der prekären Rechtsstellung der braceros im Sinne der foucaultschen Disziplinarmacht wurde oben bereits hingewiesen. Das Staatsangehörigkeitsrecht hingegen ist ein Element, um die Zusammensetzung der Bevölkerung zu beeinflussen. Die staatliche Kompetenz, das nationale Kollektiv zu konzipieren und es durch entsprechende staatliche Praktiken hervorzubringen, zu formen und zu pflegen, hat Foucault biopouvoir (Biomacht) genannt (vgl. Foucault 1999). Kontroll- und Biomacht können als die beiden zentralen Funktionsmechanismen von Macht in der Moderne verstanden werden. Sie sind also keine Gegensätze, sondern eher »zwei durch ein Bündel von Zwischenbeziehungen verbundene Pole« (Foucault 1977: 166). Im ersten Strang verfügt die Kontrollmacht über den Aufenthalt der Individuen: Der Zugang Einzelner zum Staatsgebiet wird reguliert, bestimmte Positionen werden zugewiesen, das einzelne Individuum wird nutzbar gemacht. Im zweiten widmet sich die Biomacht den Geburten- oder Sterblichkeitsraten, den Fortpflanzungsquoten, dem Gesundheitsniveau. Indem definiert wird, wer zur Nation dazugehören soll, ist eine langfristige »Regulierung der Bevölkerung« (ebd.) begründet. Die jüngste Entwicklung in der Dominikanischen Republik basiert auf der Verschränkung dieser beiden Machtstränge. Durch den Bezug auf die im Kontrollregime der Arbeitsmigration als »Durchreisende« markierten haitianischen Landarbeitskräfte lassen sich heute deren Nachkommen aus dem dominikanischen Kollektiv herausdefinieren. Letzteres ist ein biopolitischer Einsatz der Staatsangehörigkeit als Technik hoheitlichen »blanqueamientos«, also der Versuch, die Zusammensetzung der Bevölkerung so zu beeinflussen, dass diese Weißer werde.
sung als solche gelten, wodurch die 2004 in einem einfachen Gesetz eingeführte Neuerung Verfassungsrang erhielt.
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STAATLICHE DEFINITION
NATIONALER Z UGEHÖRIGKEIT UND AUSSCHLIESSENDE V ERWALTUNGSPRAXIS
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II.
Mobile Konzepte – improvisierte Ordnungen
Die Improvisation einer Politik Katastrophenbewältigung, neoliberale Experimente und die Grenzen ökonomischen Wissens Ignacio Farías
Mitten in der Nacht erschütterte am 27. Februar 2010 das weltweit sechststärkste jemals gemessene Erdbeben das Zentrum und den Süden Chiles. In den darauffolgenden Stunden erreichten bis zu zehn Meter hohe Tsunamiwellen mehrere Städte und kleinere Orte an der Küste. Die Regierung stufte fünf mittelgroße Städte, 45 kleine Städte und ca. 1.000 Dörfer als stark beschädigt ein. Insgesamt mussten mehr als 200.000 Wohnungen neu gebaut oder repariert werden. Neben der Bereitstellung von vorübergehenden Unterkünften für hunderttausende von Betroffenen bildete die Organisation des Stadt- und Wohnungswiederaufbaus die größte Herausforderung für die staatlichen Funktions- und Entscheidungsträger bei der Katastrophenbewältigung. In diesem Aufsatz möchte ich den Anpassungsund Formulierungsprozess von marktbasierten Politikinstrumenten zum Wiederaufbau der zerstörten Wohnungen darstellen und dabei die Rolle von Improvisation in Politikwelten beleuchten. Die Anthropologie politischer Felder hat sich zu Recht von einer technischen, linearen und top-down Konzeption von Politiken distanziert (Shore/ Wright 1997) und gezeigt, dass Politiken eher umkämpften sozialen Feldern entsprechen. Dabei wird der analytische Fokus vor allem darauf gelegt, wie Bürgerinitiativen, NGOs und andere zivilgesellschaftliche Gruppen Politiken mitgestalten, widerstehen oder sich unterschiedlich aneignen. Hierbei gilt es aber den Fehler der Asymmetrie zu vermeiden, wonach Praktiken einiger sozialer Akteure, etwa Bürgerinitiativen, als situative Taktiken beschrieben werden, während die Praktiken von anderen,
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meistens staatlichen Akteuren, die Politiken formulieren, verwalten oder verwirklichen, als langfristig durchplante Strategien dargestellt werden (de Certeau 1988). Es ist von besonderem Interesse, sich gerade mit letzteren Akteuren und deren Praxis zu beschäftigen, da so eine weitere Quelle der Instabilität und Unbeständigkeit von Politiken sichtbar wird. Dabei geht es nicht nur darum, wie aufgrund der unterschiedlichen Interessen, Positionierungen und Praktiken verschiedener sozialer Gruppen Politiken umkämpft sind, sondern um Instabilitäten, die sich aus dem Prozess der Politikformulierung selbst ergeben. Der hier angewandte ethnografische Blick auf staatliche Funktionsund Entscheidungsträger, etwa auf eine ministeriale Wiederaufbaukommission, macht deutlich, dass nicht nur administrative Logiken, sondern auch Wissenspraktiken Politiken beeinflussen. Spätestens mit der Wende zu einem evidence-based policy making, wie dies in Großbritannien seit Ende der 1990er Jahre genannt wird, wird deutlich, dass Expertisen und wissenschaftliche Theorien und Evidenzen eine zunehmend zentrale Rolle spielen. Die sozialwissenschaftliche Forschung interessiert sich deshalb in besonderem Maße für die performative Kraft von Wissensordnungen, die Politiken unterliegen, sowie für deren Auswirkungen auf die Individuen, auf soziale Felder und Welten (Scott 1999, Shore/Wright 2011, Straßheim 2012). Dies bezieht sich nicht nur auf die Produktion von Wissen als Legitimationsinstanz für politische Entscheidungen, sondern auch auf jene Prozesse, durch die bestimmte Wissensordnungen mittels politischer oder technischer Instrumente verwirklicht werden, sodass sich soziale Felder und Subjektpositionen diesen Wissensordnungen anpassen (Barry 2001). Foucaults Tradition folgend liegt so der zentrale Fokus solcher Ansätze auf der performativen Kraft von Wissen-Macht-Komplexen in staatlichen Praktiken. Der spezifische Beitrag dieses Aufsatzes für eine Anthropologie staatlicher Behörden und Verwaltungen liegt in der Identifizierung und Beschreibung einer von diesem Performativitätsmodell abweichenden Beziehung zwischen Wissen und Welt, die als Improvisation verstanden werden kann. Damit bezeichne ich den im Grunde nicht unüblichen Fall, wenn staatlich-politische Funktions- und Entscheidungsträger sich in einer Situation befinden, in der Politiken formuliert werden müssen und in soziale Welten interveniert werden muss, obwohl keine differenzierten Theorien, Modelle oder eindeutigen Evidenzen verfügbar sind. Improvisation sollte dennoch nicht als bloßes planloses oder unkompetentes Agie-
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ren verstanden werden, sondern als die einzige mögliche Handlungsform in ungewissen Situationen; also Situationen, in denen weder die Konsequenzen von Entscheidungen genau bekannt sind noch genügend Wissen über die möglichen Alternativen zur Verfügung steht, und dennoch ein Handeln erforderlich ist (Callon/Lascoumes/Barthe 2009). Nimmt man beispielsweise musikalisches Improvisieren ernst (Becker 2000), dann wird deutlich, dass Improvisation auf ein geteiltes Bündel von Kompetenzen zurückgreift, woraus sich neue Formen ergeben. Als ein nicht nur musikalischer formgebender Prozess ist Improvisation ein heterogener Vorgang, also ein Prozess der Zusammensetzung heterogener Elemente, durch den etwas Neues, noch nicht Gegebenes entstehen kann (Ingold/ Hallam 2008). Das Nicht-Vorhergesehene an der Improvisation (von lat. in + provisus) liegt also sowohl in der ungewissen Situation, die Improvisation erfordert, als auch in den Strategien, Produkten und Formationen, die durch sie entstehen. Die Rolle von Improvisation bei der Formulierung einer Wohnungswiederaufbaupolitik wird hier nicht nur im Kontext der Katastrophenbewältigung nach 2010 in Chile diskutiert, sondern auch in Bezug auf die ursprüngliche Einführung eines Marktmechanismus für die Organisation des Baus von erschwinglichen Wohnungen während der Militärdiktatur Pinochets (1973–1990). In Teil 1 und 2 dieses Aufsatzes wird deutlich, dass der Ausnahmezustand, der nach der Katastrophe von 2010 zur Improvisation führte, keine Ausnahme ist, sondern eine zunehmend normalisierte Technik des Regierens (Agamben 2005). Dies ist von besonderem Interesse, da die gängige Interpretation der neoliberalen Politik in Chile und in anderen Ländern Lateinamerikas auf die Performativität existierender ökonomischer Theorien, Modelle und Rezepte hinweist. Bei genauerer Betrachtung stellt sich aber Improvisation als zentraler Bestandteil neoliberaler Schockpolitik heraus (Klein 2007). In Teil 3 analysiere ich dann, wie in den Wochen und Monaten nach der Katastrophe vom 27. Februar 2010 Staatsfunktionäre und -experten einen neuen Markt für sozialen Wohnungsbau improvisiert haben. Hierbei zeige ich, wie sich alle Hauptkomponenten dieses Marktes – also die Güter, die Marktakteure und die Formen der Marktbegegnung – in einem ständigen Prozess der Justierung konstituiert haben. Der abschließende Teil 4 umreißt, wie in diesen Fällen Improvisation selbst zum Modell politischer Handlung wurde, und plädiert für eine Anthropologie politischer Felder, die politische und administrative Improvisation ins Zentrum stellt.
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1. C HILES
NEOLIBER ALES
E XPERIMENT
Chile ist weltweit bekannt als eines der radikalsten neoliberalen Experimente, das jemals durchgeführt wurde. Während der Militärdiktatur Pinochets setzten die sogenannten Chicago Boys – eine Gruppe von circa 25 chilenischen Ökonomen, die an der Universität Chicago ausgebildet worden waren – eine umfassende Transformation des Staates, des politischen und des Wirtschaftssystems durch, die die Grundlagen des chilenischen Regierungsmodells bis heute prägt. Die Genealogie dieser neoliberalen Revolution ist lang und komplex und kann sicherlich nicht nur durch die Diktatur Pinochets erklärt werden. Einerseits befand sich der chilenische Staat schon seit den 1920er Jahren in einem deutlichen Prozess der Technokratisierung (Silva 2008), welcher den Boden für die Besetzung von hohen Positionen mit Ökonomen bis hin zu Staatssekretär- und Ministerposten bereitet hatte (Montecinos 1997). Andererseits sind die Chicago Boys, die schon 1972 und somit noch vor der Diktatur ein neoliberales Wirtschaftsprogramm für die Transformation Chiles geschrieben hatten, in einer längeren sozialen und institutionellen Geschichte zu platzieren. Interessanterweise kommen diese jungen Ökonomen nicht aus der traditionellen Oligarchie, deren Macht noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts auf dem Besitz von Land und der Agrarproduktion basierte, sondern eher aus neuen städtischen Mittelschichten. Vor allem aber sind sie das Produkt einer aktiven Diffusionspolitik Milton Friedmans, einem der Gründer der Chicagoer Schule, die 1955 mit der Einführung eines Austauschsprogramms zwischen der Universität Chicago und der Katholischen Universität Chiles ihre ersten Erfolge verbuchte (Valdés 1995). Die neoliberale Transformation Chiles ist also in Bezug auf die Chicagoer Schule zu verstehen. Der Weg dorthin war dennoch alles andere als selbstverständlich. Wie von Valdivia (2001) ausführlich dargestellt, hatte die herkömmliche Militärführung eine traditionelle keynesianische Auffassung vom Staat und dessen Aufgaben als unverzichtbare volkswirtschaftliche Entwicklungs- und Stabilisierungskraft. Dieser Tradition folgend ging es beim Militärputsch gegen die sozialistische Regierung Salvador Allendes zunächst nicht um eine neoliberale Neugründung des Staates, sondern vielmehr um die Restaurierung der ökonomischen und sozialen »Normalität« des Landes sowie der zerbrochenen Institutionalität und »Chilenität« (Valdivia 2001). Erst 1975, fast zwei Jahre nach dem Militärputsch und als viele Mitglieder dieser alten Militärführung von Pinochet
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abberufen worden waren, konnten die Chicago Boys mit der Umsetzung ihres Wirtschaftsprogramms beginnen. Dessen Projekt einer »nationalen Neugründung« umfasste nicht nur die makroökonomische Transformation des Landes durch Deregulierung von Preisen, Liberalisierung der Währungspolitik oder Zollsenkungen, sondern auch die Formulierung einer neuen Verfassung, die unter anderem nur eine subsidiäre Funktion des Staates vorsah (Ferrada Bórquez 2000). Dabei bestand die politische Herausforderung für die chilenischen Neoliberalen darin, das neoliberale Programm als neue Grundlage des Staates und sogar als Regierungsaufgabe zu gestalten (vgl. Foucault 2006). Das chilenische Experiment bestand also nicht aus einem Wirtschaftsexperiment allein, sondern wesentlich auch aus einem politischen Experiment des neoliberalen Regierens. Neben dieser »nationalen Neugründung« führte das neoliberale Regierungsprojekt die sogenannten sieben Modernisierungen durch, die darauf abzielten, Wettbewerb in Bereichen wie Bildung (Brunner 1997), Gesundheit (Ossandón 2008), Renten (Arenas de Mesa/Montecinos 1999), Arbeit (Winn 2004) und Landwirtschaft zu schaffen, sowie eine Transformation der Justiz- und Staatsadministration. Die Privatisierung von Staatsunternehmen, die Auftragsvergabe öffentlicher Infrastrukturen und Güter und die Einführung von Marktmechanismen für die Bereitstellung sozialer Dienste bildeten hierbei zentrale Modernisierungs-Strategien. Interessanterweise zielten die von den Chicago Boys eingeführten sieben Modernisierungen nicht einfach auf ein Sichzurückziehen des Staates, sondern eher auf eine aktive Umgestaltung dieser sozialpolitischen Bereiche, um den erwünschten Effekt des Wettbewerbs zu produzieren. Ihre Politik fokussierte nicht nur auf den institutionellen Kontext, innerhalb dessen Märkte entstehen, sondern auch auf die spezifischen Marktarrangements, die in jedem Fall Kalkulation und Wettbewerb ermöglichen. Hierbei spielten nicht nur die allgemeinen theoretischen Prinzipien neoklassischer Ökonomik, die die Chicagoer Schule prägten, eine zentrale Rolle, sondern auch jene Rezepte, die im 1972 von den Chicago Boys verfassten makroökonomischen Programm, dem sogenannten El Ladrillo (der Ziegel) dargelegt worden waren. Die neoliberalen Experimente der sieben Modernisierungen sind vor allem in Bezug auf die Performativität von Ökonomik zu denken (vgl. Ossandón 2011). Zentrale Frage dieses Ansatzes ist, wie ökonomische bzw. wirtschaftswissenschaftliche Theorien und Modelle mobilisiert werden, um wirtschaftliche Objekte und Prozesse nicht bloß besser zu verstehen,
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sondern um diese zu gestalten oder sogar zu konstituieren (Caliskan/ Callon 2010, Callon 1998, MacKenzie/Millo 2003, Mitchell 2005). Wie in der Linguistik bezeichnet hier Performativität den Prozess, durch den eine Aussage, beispielsweise ein ökonomisches Modell, realisiert bzw. verwirklicht wird. Entsprechend ist eine performative Aussage nicht als wahr oder unwahr zu bewerten, sondern als effektiv oder ineffektiv, als erfolgreich oder erfolglos. Darüber hinaus, und anders als in der Linguistik, wird dieser transformierende Prozess nicht durch eine symbolische bzw. semiotische Kraft ermöglicht, sondern durch die Mobilisierung von Individuen, Artefakten und Objekten (Callon 2007). Entsprechend besteht die Aufgabe der Wirtschaftsethnologie nicht so sehr in der Kritik der neoklassischen Ökonomik aufgrund ihrer vereinfachten, womöglich sogar falschen anthropologischen Annahmen über den homo oeconomicus, sondern vielmehr in der Analyse der performativen Funktion der Ökonomik in der Konstitution des Wirtschaftlichen.
2. E IN M ARK T
FÜR DEN SOZIALEN
W OHNUNGSBAU
Die Entstehung eines sozialen Wohnungsbaumarktes in den ersten Jahren der Diktatur Pinochets, dessen improvisierte Transformationen nach der Naturkatastrophe 2010 im nächsten Teil genauer analysiert werden sollen, lässt sich zunächst gut anhand des Performativitäts-Ansatzes rekonstruieren. Einer Verordnung des nationalen Planungsbüros (ODEPLAN) aus dem Jahr 1974 folgend, die alle Ministeriumsabteilungen und Regierungsorganismen zur Entwicklung neuer marktbasierter Politiken anregte, wurde zwischen 1975 und 1978 im chilenischen Ministerium für Wohnungswesen und Stadtentwicklung eine neue marktbasierte soziale Wohnungsbaupolitik entworfen (Gilbert 2002). Danach sollten die Verantwortung für den Wohnungsbau und dessen Finanzierung künftig beim privaten Sektor liegen, während die Regierung nur eine subsidiäre Funktion übernehmen sollte. Ziel war es, die bisherige staatszentrierte Wohnungspolitik komplett einzustellen. Bis zum Militärputsch 1973 hatte der Staat durch direkte Bauverträge, zinsgünstige Darlehen und festgesetzte Preise eine leitende Funktion bei der Planung, Organisation und Finanzierung des sozialen Wohnungsbaus inne (Valenzuela 2008). Bei der Formulierung der neuen Politik wurde der Misserfolg jenes Systems bei der Überwindung des historischen Wohnungsdefizits als Konsequenz
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eines fehlenden Marktmechanismus, sowie der schwachen Kaufkraft der ärmeren Haushalte angesehen. Damit war auch gleichzeitig die Rolle des Staates definiert, der sich im neuen System auf die Vergabe von Eigenheimzulagen beschränken sollte. Die dadurch gestärkte Nachfrage sollte zu einem kostengünstigeren Wohnungsbau führen und dabei noch die Möglichkeit einer freien Wohnungswahl für einkommensschwächere Haushalte bieten. Bei der Formulierung dieser Politik wurden nicht nur die allgemeinen neoliberalen Chicagoer Rezepte befolgt. Eine entscheidende Rolle spielte auch eine ökonomische Studie, die das Wirtschaftsinstitut der Universidad de Chile im Auftrag der chilenischen Zentralbank durchführte (Morandé/ García 2004). Hier wurde ein gemischtes Finanzierungssystem mit Eigenheimzulagen und privaten Krediten mit einer Laufzeit von 12 bis 20 Jahren für unterschiedliche sozioökonomische Gruppen entworfen. Die Studie empfahl ein Modell mit progressiven Zulagen, sodass mit steigenden Kosten für das neue Eigenheim die Zulage in Proportion zu den Gesamtkosten sank. Darüber hinaus mussten diese Eigenheimzulagen mit zusätzlichen Krediten von privaten Banken ergänzt werden, sowie, und dies war entscheidend, mit eigenen Ersparnissen. Nur jene Haushalte, die eigene Ersparnisse nachweisen konnten, waren zulagenberechtigt. Hierfür wurde die Ficha CAS (Datenblatt für sozioökonomische Klassifizierung) entwickelt, mit dem nicht nur der Grad der Armut von Haushalten kalkuliert wurde, sondern auch deren Fähigkeit zu sparen. Die Eigenheimzulagen waren also nicht als soziales Recht definiert, sondern als Belohnung für die Bemühungen einkommensschwacher Haushalte, der Armut zu entkommen. Mit dem CAS-Datenblatt kam es so zu einem grundlegenden Wandel in der Wohnungsbaupolitik: »It introduced the idea that housing was a good that could only be obtained through one’s own efforts.« (Chilenische Baukammer, zit. nach Gilbert 2002: 313) Mit dieser neuen Wohnungsbaupolitik konnte das historische Wohnungsdefizit innerhalb von 20 Jahren maßgeblich reduziert werden. Bis zum Jahr 2000 wies der Bausektor ein sehr hohes Geschäftsvolumen und jährliche Wohnungsbauraten pro Einwohner auf, die mit denen der Nachkriegszeit in Europa vergleichbar sind (Rodríguez/Sugranyes 2005). Dennoch ist die Entstehung des chilenischen sozialen Wohnungsbaumarktes durch signifikante Abweichungen vom ursprünglichen Modell gekennzeichnet. Bedeutender als die ökonomische Performativität war die pragmatische Anpassung an existierende wirtschaftspolitische Bedingun-
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gen und das Ausprobieren und Adjustieren von Politikinstrumenten, um einen funktionierenden Markt für Wohnungsbau zu implementieren. Zwei Fehlstarts schränkten die Performativität des Wohnungsbaumarktmodells von Beginn an maßgeblich ein und eröffneten damit einen Raum für Improvisation. Der erste Fehlstart bestand aus den Schwierigkeiten, den privaten Bausektor vom neuen Rahmen der sozialen Wohnungsbaupolitik zu überzeugen und seine Marktteilnahme zu sichern. Dies geschah trotz einer radikalen Deregulierung des Grundstücksmarktes, die privaten Bauunternehmen durch die Auflösung von Stadtwachstumsgrenzen Zugang zu preisgünstigen Grundstücken ermöglichte (Sabatini 2000). Kurzfristig führte diese Nichtteilnahme am sozialen Wohnungsbaumarkt zum Ausprobieren von improvisierten Marktformationen. Ein Beispiel dafür ist die Erteilung einer vorübergehenden Genehmigung für Gemeinden zur Planung und Durchführung von sozialen Wohnungsbauprojekten im Jahr 1982 (Rodríguez/Icaza 1993). Bis 1985 mussten damit die Gemeinden aufgrund der fehlenden privaten Anbieter den Markt voranbringen. Haushalte, die von Zwangsräumungen informeller Siedlungen betroffen waren, wurden ebenfalls verpflichtet, an diesem Markt teilzunehmen. Das transparente System für die Vergabe von Zulagen, das auf freiwilligen Anträgen der künftigen Empfänger basiert, wurde zwischenzeitlich abgesetzt und die Zulagen solchen Haushalten aufgezwungen (Sugranyes 2005). Ein weiteres Beispiel dieser Improvisation bestand in der Vergabe von Zulagen an Haushalte mit mittleren Einkommen, um die Nachfrage nach privat gebauten Häusern aufrechtzuerhalten, obwohl die neue Politik Schichten mit niedrigeren Einkommen zum Schwerpunkt haben sollte (Rojas 1999). Erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre begann die massive Produktion von Sozialwohnungen mit Hilfe von Eigenheimzulagen, die das chilenische Modell bis heute kennzeichnet. Um eine Teilnahme von privaten Bauunternehmen an diesem Markt zu sichern, wurden hier nicht nur klare politische Signale gesendet, wie zum Beispiel die Ernennung eines Repräsentanten des Bausektors als Städtebau- und Wohnungsminister, sondern auch die Marktregeln entsprechend angepasst. Die wichtigste Änderung bestand wahrscheinlich darin, dass das Ministerium die Organisation der Nachfrage übernahm und als direkter Auftraggeber von sozialen Wohnungsbauprojekten an private Bauunternehmen fungierte. Gleichzeitig verzichtete das Ministerium bei seinen Ausschreibungen auf jegliche Vorgaben bezüglich der Lage der sozialen Wohnungsbauprojekte, sodass Bauunternehmen Projekte mit preisgünstigen Grundstücken am
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Stadtrand und darüber hinaus entwickeln konnten. Wie Sugranyes (2005) ausführlich gezeigt hat, führten diese Anpassungen zu zwei radikalen Umkehrungen des ursprünglichen ökonomischen Modells. Erstens wurde aus einem Zuschuss für die Nachfrage in der Praxis ein Zuschuss für das Angebot. Auch wenn die Eigenheimzulagen den Haushalten gewährt werden, müssen die Baufirmen kaum um diese konkurrieren und gehen keine finanziellen Risiken ein. Zweitens wird so aus der angeblichen Möglichkeit einer freien Wohnungswahl für einkommensschwache Haushalte ein System, das sozialräumliche Segregation produziert, da der Bau in der Peripherie, wo die Grundstückspreise am niedrigsten sind, für die Bauunternehmen am profitabelsten ist (vgl. Sabatini 2000). Die versprochene freie Wohnungswahl für die Zuschussempfänger ist unter diesen Bedingungen nur eine formale. Der zweite Fehlstart bestand darin, dass private Banken, anders als erwartet, keine Kredite an einkommensschwache Haushalte vergaben. Dies brachte weitere wichtige Umkehrungen des Modells mit sich. Zunächst etablierte sich ein System, bei dem der Staat die Versicherungen der Kredite von privaten Banken übernimmt, sodass der Staat für das Risiko der privaten Kreditvergabe bürgt (Rodríguez/Sugranyes 2005). Darüber hinaus übernahm der Staat die Kreditvergabe für einkommensschwache Haushalte. Bis heute werden durch das Ministerium für Wohnungswesen und Städtebau bis zu 40% aller Wohnungsbaukredite vergeben. Diese Anpassung wurde vor allem in den 1980er Jahren von internationalen Entwicklungsinstitutionen wie der Weltbank als das größte Manko des chilenischen Modells angesehen, welches sogar als Privatmarktfarce beschrieben wurde (Gilbert 2002). Das Problem des Modells ist bis heute nicht nur, dass die Finanzierung des sozialen Wohnungsbaus entgegen der ursprünglichen Idee hauptsächlich vom Staat erfolgt, sondern auch, dass alle beteiligten Kreditinstitutionen und insbesondere der Staat erheblichen Rückstand bei den Rückzahlungen zu verzeichnen haben. Darüber hinaus verabschiedete das Ministerium in den 1980er und 90er Jahren mehrmals einen Schuldenerlass, statt aktiv gegen schuldige Kreditnehmer vorzugehen. So ist aus einem Finanzierungsmodell mit progressiven Eigenheimzulagen eines mit regressiven Eigenheimzulagen geworden, da die nicht zurückgezahlten Kredite in der Praxis als Zulagen fungieren. Werden die vergebenen Zulagen und die nicht bezahlten Kredite zusammengerechnet, kommt man zu dem Ergebnis, dass die vergebene Gesamtsumme mit dem Haus-
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haltseinkommen sinkt. Die einkommensschwächsten Haushalte erhalten also am wenigsten Unterstützung vom Staat. Auf ökonomischer Improvisation, und nicht nur auf ökonomischer Performativität, beruht demzufolge die Entstehung des sozialen Wohnungsbaumarktes in Chile. Die Transformationen, die in den ersten Jahren implementiert wurden, damit der private Bausektor und die Banken am Markt teilnehmen, führten zu einem Auseinanderklaffen zwischen Theorie und Praxis, zwischen dem ökonomischen Modell und der Wirklichkeit des Wohnungsbaumarktes. Sicherlich kann man auch in so einem Kontext von einer »generischen Performativität« der Ökonomik sprechen (MacKenzie 2007), da ohne die Chicago Boys und ihre neoliberalen Theorien und Modelle dieser Markt nicht zustande gekommen wäre (Ossandón 2012). Aber der beobachtete Entstehungsprozess ist noch weit entfernt von einer Performativität der Ökonomik im engeren Sinne, bei der sich der soziale Wohnungsbaumarkt an seine theoretische Formulierung anpassen würde. Das ökonomische Modell erwies sich hier als wirkungslos, als unfähig, einen Markt zu konstituieren. Und angesichts dieser Wirkungslosigkeit wurden alternative Marktarrangements improvisiert. Statt an Modellen und Theorien orientierte sich diese Improvisationspraxis an einem einfachen Ziel, nämlich daran, einen funktionierenden Marktmechanismus in Gang zu setzen. Wie dieser Markt funktioniert, welche Externalitäten und Verzerrungen durch ihn entstehen, wird jedoch bei so einer Improvisationspraxis sekundär. Anhand von diesem Beispiel lassen sich weitere Formen ökonomischer Improvisation bei den schon erwähnten sieben Modernisierungen vermuten. Es gibt in der Tat zahlreiche Hinweise darauf, dass diese gewaltigen neoliberalen Transformationsprozesse eben nicht von wirtschaftssektorspezifischen ökonomischen Wissensformen, Theorien und Modellen getragen worden sind, sondern nur von sehr allgemeinen, sogar rudimentären Prämissen bezüglich freier Marktmechanismen (Markoff/Montecinos 1993, Ossandón 2011, Valdivia 2001). Viele Aussagen und Anekdoten bestätigen diesen Mangel an ökonomischem Wissen, wie etwa die Geschichte des Oberst, der den Architekten des chilenischen Rentensystems José Piñera mit folgender Frage konfrontierte: »Ich wüsste gerne, Herr Minister, wo es ein Rentensystem gibt, wie das, was Sie in Chile einführen wollen[…]? Ich frage mich, wie können Sie es wagen,[…] wie kann es sein, dass Sie das Militärregime durch so ein ungewisses und fragliches Experiment wie diese Reform gefährden?« (Valdivia 2001: 15, meine Übersetzung). Und
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derselbe Piñera, der mehrere ministeriale Spitzenpositionen inne hatte, erklärte wiederholt, dass »the players on the Chilean Team were not, after all, sophisticated monetarists a la Milton Friedman. We simply applied the basic laws« (Markoff/Montecinos 1993: 48). Der letzte Finanzminister der Pinochet-Regierung meint sogar in seinem Buch über Chile als Modell des Fortschritts, dass gerade der Mangel an differenzierten Modellen und der Zwang zur Improvisation ein Faktor des vermeintlichen Erfolgs seiner Regierung gewesen sei (Büchi 2008). Dementsprechend ist es notwendig, die zentrale Rolle von Improvisation in der Einführung neoliberaler Politiken zu beleuchten. Während diese Aufgabe noch auf historische Forschungen warten muss, möchte ich mit der vorliegenden Analyse der gegenwärtigen Entstehung des chilenischen Wohnungsbaumarktes zur Erforschung ökonomischer Improvisation beitragen.
3. N ACH DEM B EBEN : W OHNUNGS M ARK T WIEDER AUFBAU ?
ODER
Die von Erdbeben und Tsunami verursachte Zerstörung chilenischer Städte löste einen anspruchsvollen Wiederaufbauprozess aus. Der Regierungsplan hatte zum Ziel, nachhaltigere und gerechtere Städte zu bauen, und stellte dabei zwei große Aufgaben in den Mittelpunkt: einerseits die Erstellung von nachhaltigen Masterplänen für den Wiederaufbau von Städten, andererseits der effiziente Bau von mehr als 200.000 neuen Eigenheimen für betroffene Hauseigentümer. Diesen sehr komplexen Planungs- und Interventionsprozess habe ich mit Hilfe von drei Forschungsassistenten, nämlich William Osorio, Sabine Biedermann und Patricio Flores, zwischen April und Dezember 2010 und dann nochmals im März und April 2012 verfolgt. Insgesamt haben wir 44 Experten und Entscheidungsträger von der lokalen, regionalen und zentralen Regierung, sowie von beteiligten privaten Büros und von Universitäten interviewt, an vier eintägigen Expertenworkshops teilgenommen und Planungsprozesse durch teilnehmende Beobachtung verfolgt. Dabei interessierten wir uns für mehrere Aspekte, wie etwa den Prozess der Erstellung von Masterplänen (Farías 2011), neue Formen der Bürgerpartizipation (Farías 2012), die Beteiligung von großen privaten Unternehmen an lokalen Regierungsaufgaben (Farías 2013) oder eben die improvisierte Gestaltung eines Markts für den Wohnungswiederaufbau.
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Die dafür zuständigen Funktions- und Entscheidungsträger in der Wiederaufbaukommission und im zuständigen Ministerium bezogen sich in unseren Interviews auf eine strategische Entscheidung, die nur wenige Tage nach der Naturkatastrophe zu treffen war. Entweder musste eine Reihe komplett neuer spezifischer Politikinstrumente für den Wiederaufbau entwickelt werden, was Zeit und eine verlangsamte Reaktionsgeschwindigkeit bedeutet hätte, oder die vorhandenen Politikinstrumente mussten, auch wenn diese ineffizient sind, an die neue Situation angepasst werden. Schnell fiel die Wahl auf die zweite Option, »aus dem einfachem Grund, dass es schon gut angelegte Strukturen, Prozesse […] und Vieles gab« (Interview, Mitglied der nationalen Wiederaufbaukommission, 9. Oktober 2010). Letztendlich, argumentierten viele dieser Entscheidungsträger, sei Chiles Wohnungsbaupolitik trotz gewisser Unzulänglichkeiten eine der modernsten und fortschrittlichsten der Welt. Dementsprechend war die nächste entscheidende Frage, welche der bereits vorhandenen Politikinstrumente für welche Problemsituationen und Betroffenentypen geeignet sind und wie genau diese Politikinstrumente angepasst werden sollten. Der große Vorteil des Wohnungssolidaritätsfonds (Fondo Solidario de Vivienda) war, dass dieser Fonds für den Bau von Häusern auf sich bereits im Besitz von Zuschussempfängern befindlichen Grundstücken konzipiert war. Dies entsprach natürlich der am weitesten verbreiteten Situation nach der Katastrophe: die meisten von Erdbeben und Tsunami Betroffenen besaßen eigene Gründstücke und benötigten lediglich ein neues Haus. Ein weiterer Vorteil dieses Fonds sollte sein, dass dieser fast die gesamten Kosten für den Hausbau deckt und keinen zusätzlichen Kredit vorsieht, der den meisten betroffenen Haushalten nicht zuzumuten war. Dieser Fonds (allein oder in Kombination mit anderen Instrumenten) sollte also eine zentrale Rolle bei der Lösung der meisten Problemsituationen spielen. Aus der Perspektive der Wiederaufbaukommission war also das einzige Problem, dass es bisher keinen Marktwettbewerb um diesen Fonds gab. Dieser funktionierte hauptsächlich durch die Vermittlung von sozialen Immobilienagenturen (EGIS), welche in der Regel eine Gruppe von FondsAntragstellern zusammenbrachten, ein Grundstück kauften, das Bauprojekt entwickelten, den Fonds beantragten und den Bau des Wohnprojektes in Auftrag gaben. Dabei entstand kein Wettbewerb zwischen Baufirmen oder sozialen Immobilienagenturen, deren Rolle vor allem in der Bewältigung eines bürokratischen Beantragungsprozesses bestand. Wenn dieser
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Fonds das Instrument für die Zuteilung der meisten Gelder an die vom Erdbeben und Tsunami Betroffenen sein sollte, musste man sicherstellen, dass es einen Markt gäbe, der effizient und effektiv auf diesen Wohnungssolidaritätsfonds reagieren könnte. So bestand die größte Herausforderung aus Sicht der Wiederaufbaukommission nicht im enormen Umfang der Zerstörung, der beträchtlichen Anzahl von wohnungslosen Haushalten und dem überaus großen Umfang des Wiederaufbauvorhabens, sondern eher in einem Problem bei der Operation von Märkten: nämlich dem Mangel an Wettbewerb. Und, wie in unseren Interviews deutlich wurde, war es der Wiederaufbaukommission auch klar, dass, um dieses Problem zu lösen, eine Stärkung der Kaufkraft der wohnungslosen Haushalte nicht ausreichte, sondern dass die entsprechenden Marktstrukturen angepasst werden mussten. In Hinblick auf diesen Anpassungsprozess möchte ich zeigen, dass die ursprüngliche Alternative zwischen neuen Instrumenten und minimalen Anpassungen eine falsche war, da die minimale Anpassung existierender Politikinstrumente gewaltige Veränderungen und unvorgesehene Komplexitäten mit sich brachte. Ein genauer Blick auf den Prozess der Marktgestaltung bestätigt diesen scheinbaren Widerspruch: Fast nichts wurde geändert, aber das änderte alles. Wie auch die neuere Marktsoziologie zeigt, sind Märkte durch sehr genaue und aufeinander abgestimmte Arrangements konstituiert, wobei alle Teilelemente in komplexer Verbindung zueinander stehen (Caliskan/Callon 2010). Deshalb ist eine a priori Einschätzung der Auswirkungen einer Veränderung sehr schwierig, da diese davon abhängt, wie das geänderte Element mit vielen anderen interagiert. Wie beim Schmetterlingseffekt in der Chaostheorie, verursachen minimale Veränderungen in Märkten umfangreiche Konsequenzen, welche wiederum Improvisationsarbeit erfordern. Um diese ökonomische Improvisationspraxis aufzudecken, ist es angemessen, sich an das von Caliskan und Callon (2010) entwickelte Forschungsprogramm für die Analyse von Märkten anzulehnen. Diese Autoren gehen nicht von schon existierenden ökonomischen Entitäten, Akteuren oder Situationen aus, sondern setzen sich eben mit der komplizierten sozio-materiellen Arbeit auseinander, durch welche Güter, Konsumenten, Produzenten und Marktplätze erst konstituiert werden. Genau dies war die Konsequenz der politischen Entscheidung, nach dem Erdbeben einen Markt für den Wohnungswiederaufbau zu schaffen. Bevor man mit dem Bau der Häuser beginnen konnte, musste eine Ökonomisierung
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von allen beteiligten Entitäten und Situationen vollzogen werden: Häuser sollten zu Gütern, Betroffene zu Konsumenten umgewandelt werden und es galt, Marktbegegnungen zu organisieren.
3.1 Die Neudefinition der Güter Die größte Herausforderung für die Konstitution eines kompetitiven Marktes ergab sich aus der Neudefinition der Güter, die in diesem Markt gehandelt werden sollten. Deren Schlüsseleigenschaft bestand in der Loslösung des Hauses vom Grundstück. Anders als im seit den 1970er Jahren existierenden Markt für sozialen Wohnungsbau, wo Häuser zusammen mit einem Grundstück ein Gut bildeten, bestanden die Güter des neuen Marktes nur aus Häusern. Diese Entkopplung machte den Markt weniger attraktiv, da es für die meisten großen Immobilienunternehmen der in der Peripherie der Städte preisgünstig erworbene Boden war, der die größeren Gewinne abwarf und im Mittelpunkt des Geschäftsmodells stand. Diese Loslösung des Hauses vom Grundstück war notwendig, da nach der Katastrophe Häuser und Wohnungen nicht als zusammenhängende große Wohnsiedlungen auf großen neuen Gründstücken errichtet werden sollten, sondern einzeln und über verschiedene Orte verteilt, je nachdem, wo sich das Grundstück des Empfängers der staatlichen Bauzulage befand. Für die Baufirmen war aber ein Häuserbau unter solchen Bedingungen mit höheren Herstellungskosten verbunden und deshalb weniger lukrativ. Die praktische Frage, die sich für die Wiederaufbaukommission stellte, war also, wie die zu verhandelnden Güter weiter zu spezifizieren seien, sodass es für die Baugesellschaften attraktiv wäre, in diesen Markt einzusteigen. Die erste Schlüsselentscheidung war, dass nur standardisierte Haustypen, also im Voraus vom Ministerium zugelassene Eigenheimprojekte, auf diesem Markt gehandelt werden durften. Diese mussten bestimmte technische Vorgaben erfüllen und einen festgelegten Preis haben (ca. 12.780 €), der genau der Höhe des gewährten Zuschusses entspracht. Aber darüber hinaus sollte das Angebot der Bauunternehmen möglichst flexibel sein. In diesem Sinne wurden die Anforderungen bezüglich der Nutzungsaufteilung der Häuser flexibilisiert, um eine stärkere Differenzierung des Angebots zu ermöglichen und so den Wettbewerb zu verstärken, insbesondere hinsichtlich der Größe des Hauses. Die minimale Grundfläche lag weiterhin bei 40m2, aber die Eigenheime mussten beispielsweise nicht mehr unbedingt über zwei Schlafzimmer verfügen. Dadurch sollten
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Bauunternehmen Kosten für die innere Aufteilung sparen und so Häuser mit einer größeren Gesamtfläche anbieten, bei denen für die Käufer die Möglichkeit bestehe, sie später innen weiter auszubauen. Wenn alle Vorgaben eingehalten waren, wurden die Haustypen in eine Datenbank aufgenommen, aus der die Zuschussberechtigten ihr Haus auswählen konnten. Der Zweck dieser im Internet aufrufbaren Datenbank bestand darin, einen möglichst breiten Informationszugang zu gewährleisten und den Wettbewerb zwischen den Baufirmen zu fördern: »Was wir machen ist, dass wir sie alle in eine Art Schaufenster stellen […]. Da steht jemand mit seiner Wohnung, aber jemand anderes ebenso. Die Familie wählt den anderen aus und der erste sieht sich um, um zu verstehen, wieso er nicht ausgewählt wurde. Und er stellt fest, dass das andere Haus besser ist. ›Dann muss ich meins also schöner machen‹ und es entsteht jene Wettbewerbsstimmung, die den Familien insofern zugute kommt, als sie Alternativen haben.« (Interview mit Mitglied der nationalen Wiederaufbaukommission, 9. Ok to ber 2010)
Damit konnte aber weder der angestrebte Wettbewerb noch ein ausreichendes Angebot für die mehr als 100.000 Häuser gesichert werden. 18 Monate nach der Katastrophe und angesichts der sehr geringen Anzahl von bisher angefangenen Bauprojekten räumte das Ministerium ein, dass es eventuell auch die Möglichkeit geben sollte, nach dem alten Modell vorzugehen und großflächige soziale Wohnungsbauprojekte durchzuführen. Damit würde eine weitere radikale Neudefinition des Gutes stattfinden, da dieses nun auch ein Grundstück, und nicht nur ein Haus, mit einbeziehen würde. Anhand dieses Vorgehens lässt sich ablesen, wie eine heterogene Reihe von Taktiken, Manövern und Ideen ausprobiert wird, um das Gut so zu definieren, dass der erwünschte Marktwettbewerb überhaupt entstehen kann.
3.2 Neue Marktakteure Wie sich in den ersten Monaten schnell herausstellen sollte, brachte diese Neudefinition der Güter weitreichende Konsequenzen für die Konstitution der Marktakteure und insbesondere des Angebots mit sich. Statt einfach eine neue Wettbewerbssituation unter den bisherigen Anbietern zu schaffen, mussten im Grunde neue Anbieter konstituiert werden. Während im vorherigen System Baufirmen nur bauen sollten, mussten sie
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jetzt, um überhaupt auf den Markt zu kommen, erst einen bestimmten Haustyp entwickeln. Dies hatte unter anderem zur Folge, dass neue Allianzen zwischen Baufirmen und Architekturbüros entstanden. Und dies bedeutetet wiederum, dass viele der angebotenen Häuser von Akteuren stammten, die neu auf dem Markt des sozialen Wohnungsbaus waren und demzufolge Häuser anboten, die sie vorher nicht gebaut hatten. In einigen Fällen bauten neue Anbieter noch vor der technischen Genehmigung durch das Ministerium sogar Testhäuser, um nachzuprüfen, ob sich der Haustyp bei der bewilligten Summe überhaupt rentieren würde. Gleichzeitig wurde durch die Neudefinition der Güter insbesondere für große Baufirmen eine Teilnahme am Markt besonders unattraktiv. Das Problem für diese großen Baufirmen lag vor allem darin, dass beim Bau einzelner, geografisch verteilter Häuser traditionelle Baumethoden wie Mauerwerk nicht profitabel waren, da Kostenersparnisse durch Massenproduktion wegfielen. Dies führte zu einer öffentlichen Kontroverse zwischen dem Ministerium, das Bausysteme mit vorgefertigten Modulen empfahl, und den Vertretern der großen Bauindustrie, die sich durch den Häuserbau auf bereits vorhandenen Grundstücken vom Markt verdrängt sahen. Die Angebotsstruktur veränderte sich durch das Erdbeben also radikal. Relativ kleine, lokal verankerte Baufirmen, die nicht auf nationaler Ebene agieren konnten, verfügten so über einen gewissen Vorteil, da ihr Geschäftsmodell auf Aufträgen für einzelne, voneinander unabhängige Baustellen basierte. Allerdings können solche Baufirmen nur eine relativ kleine Anzahl an Baustellen gleichzeitig betreiben. Wenn aber mehr als 100.000 Häuser gebaut werden müssen, bedeutet diese Veränderung der Angebotsstruktur, dass Hunderte neuer Anbieter entstehen müssten, um überhaupt ein ausreichendes Angebot sicherzustellen. Dies stellte aufgrund der Eiligkeit des Vorhabens und wegen der geringen Erfahrung dieser Baufirmen im sozialen Wohnungsbau natürlich eine große Herausforderung dar. Darüber hinaus hatte die Neudefinition der Güter und insbesondere die Entkopplung des Hauses vom Grundstück weitreichende Konsequenzen für die Art und Weise, wie sich die Nachfrage konstituierte. In den Augen der Wiederaufbaukommission waren die Probleme und Verzögerungen bei dem Wiederaufbauprozess vor allem darauf zurückzuführen. Die Berechtigung zum Eigenheimzuschuss und somit zur Marktteilnahme erhielt man erst durch die offizielle Bestätigung, dass ein Haus auf dem eigenen Grundstück zerstört worden war. Das Wichtigste war also, die Eigen-
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tumsverhältnisse des Grundstücks zu klären sowie die Zerstörung durch das Erdbeben beziehungsweise den Tsunami und die technische Durchführbarkeit der Baumaßnahme festzustellen. Dementsprechend lagen die größten Schwierigkeiten darin, dass Eigentumsverhältnisse von Grundstücken nicht geklärt oder Grundstücksgrenzen aufgrund der Verwüstungen nicht mehr ohne Weiteres feststellbar waren. Dies traf insbesondere an der Küste zu, wo der Tsunami ganze Landstücke mit sich gerissen hatte. Für die Konstitution dieses Marktes waren dann weitere Maßnahmen zur Vereinfachung und Beschleunigung der Klärung der Besitzverhältnisse sowie eine Ausnahmeregelung für die Vergabe von Zuschüssen noch während dieses Legalisierungsprozesses nötig. Damit fand eine komplette Transformation des alten Systems statt, denn bisher richtete sich die Vergabe von Eigenheimzulagen nach der sozioökonomischen Situation der Haushalte und ihrer Fähigkeit, Ersparnisse anzusammeln. In der neuen Situation richtete sich der Evaluationsprozess nicht auf die Familie oder ihre finanzielle Lage, sondern auf den Grundstücksbesitz. Genauso wie Baufirmen sich nicht durch ihre Bereitschaft und Fähigkeit zum Bauen, sondern durch ein konkretes Objekt, nämlich einen zugelassenen Haustyp, als Marktteilnehmer konstituierten, wurde der Zuschussempfänger auch über ein materielles Objekt, in diesem Fall ein bestimmtes Grundstück, zum Marktakteur. Damit sind Marktdynamiken nicht so sehr als Begegnungen der unterschiedlichen Zahlungs- und Verkaufsbereitschaften von (menschlichen) Käufern und Verkäufern zu betrachten, sondern vielmehr als eine soziotechnische Begegnung zwischen streng qualifizierten nichtmenschlichen Akteuren, Haustypen und Grundstücken, die bestimmten menschlichen Akteuren zugerechnet werden können. Um Marktbegegnungen zu ermöglichen, musste auch die Zusammensetzung der Nachfrage geändert werden. Im alten System traten die Zuschussempfänger als Interessengruppe und sogar als Rechtsperson gegenüber dem Bauunternehmen und anderen beteiligten Akteuren sowie dem Ministerium auf, dem die Bewilligung des Zuschusses für die Gruppe oblag. Im neuen System wurde die Unterstützung nicht an eine Gruppe ausgezahlt, sondern an die einzelnen Eigentümer, die dann individuell am Markt teilnehmen und eine Kaufentscheidung treffen. Der Markt musste zudem in unterschiedliche Räume aufgeteilt werden, da die Baufirmen nicht in der Lage waren, ihre Haustypen für alle betroffenen Regionen anzubieten. Für die Zusammensetzung der Zuschussempfänger bedeutete dies einen Übergang von der bisherigen Konstitution als Gruppe zur
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Einteilung in Populationen. Anders als die früheren Empfängergruppen haben diese Populationen keine feste Anzahl von Mitgliedern, die durch eine Rechtsperson vertreten werden. Die Population von Zuschussempfängern entspricht eher einer Masse von Individuen, die sich als organisches Gebilde in einem Territorium konstituiert. Ihre Größe ist zum einen räumlich bedingt, nämlich in Abhängigkeit der Grenzziehungen des jeweiligen Territoriums, zum anderen ist sie über die Zeit variabel, da weitere Menschen im selben Territorium einen Zuschuss bewilligt bekommen können. Aus einer Regierungsperspektive macht dies einen großen Unterschied, da anstelle von direkten Verhandlungen mit jeder einzelnen Gruppe das Regieren auf einer Steuerung von Populationen als Ganzes basiert (Foucault 2004). In den ersten Monaten ging man davon aus, dass diese Populationen über Gemeindegrenzen definiert werden könnten. Nach kurzer Zeit stellte sich jedoch heraus, dass auf diese Weise Populationen entstanden, die für den Markt besonders unattraktiv waren, weil sie sich in abgelegenen ländlichen Gebieten befanden. Die Herausforderung für die Wiederaufbaukommission bestand also darin, mittels der Verschiebung territorialer Grenzen Populationen von Grundstücksbesitzern zu produzieren, die für den Markt gleichermaßen attraktiv sein konnten. Eine neue Marktgeografie musste also schnell geschaffen werden, sodass ländliche und entlegene Gebiete mit dichten städtischen Gebieten in gemeinsamen Markträumen zusammengebracht wurden.
3.3 Neue Marktplätze und Austauschrationalitäten Märkte finden nicht in abstrakten Räumen statt. Um Transaktionen zu veranlassen, reicht die Neudefinition von Gütern, Produzenten und Konsumenten nicht aus. Diese sind natürlich unabdingbare Voraussetzungen, aber genauso notwendig ist die genaue Gestaltung von Orten und Mechanismen, die Marktbegegnungen zwischen den Marktakteuren und Gütern ermöglichen. Im chilenischen Fall wurden die konkreten Arrangements der Marktbegegnung Gegenstand eines intensiven Experimentier- und Anpassungsprozesses, der zum Ziel hatte, Wettbewerb herzustellen. Die besondere Herausforderung bestand darin, dass der Preis der Häuser nicht als Wettbewerbsmechanismus funktionieren konnte, da er auf die Summe des Zuschusses festgelegt war. Ohne einen variablen Preis konnte dann nur über die Form der Marktbegegnung Vergleichbarkeit und Wettbewerb zwischen den angebotenen Gütern vorangebracht werden. Die Wiederauf-
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baukommission entwickelte deshalb zwei Strategien, um eine kompetitive Marktbegegnung zu gestalten: eine für unverzüglich durchzuführende Pilotversuche, und eine andere für den Regelfall, der über die kommenden Jahre zutreffen sollte. In den Pilotversuchen sollte das Funktionieren dieses Marktes getestet werden, um Auskunft darüber zu erhalten, ob und wie der Markt operieren kann. Zudem sollten diese Pilotversuche als Demonstrationen oder Beweise dafür fungieren, dass dieser Markt funktioniert und für Baufirmen attraktiv ist. Solche Pilotversuche wurden vor allem in Gegenden durchgeführt, in denen die Zuschussberechtigten schnell ermittelt waren und somit auch eine nachfragende Population konstituiert werden konnte. So fanden beispielsweise in der Stadt Chillán mit ca. 170.000 Einwohnern zwei solcher Pilotversuche statt. In beiden Fällen richtete zunächst das regionale Büro des Ministeriums für Wohnungswesen und Stadtentwicklung (SERVIU) eine öffentliche Ausschreibung an interessierte Baufirmen. Nach dem Eingang der Angebote wurde jede Population von Zuschussberechtigten in einen großen Versammlungsort eingeladen, wo SERVIUMitarbeiter die Angebote der Bauunternehmen vorstellten. Am Ende jeder Versammlung fand eine Wahl statt, sodass die Mehrheit der Stimmen entschied, welcher Haustyp dann für alle Berechtigten gebaut werden sollte. Der Markt wird hier somit als elektoraler Prozess strukturiert. Während unserer Feldforschungen waren wir auch als teilnehmende Beobachter dabei, als die Zuschussberechtigten beider Pilotversuche das regionale SERVIU-Büro aufsuchten, um Repräsentanten der von ihnen gewählten Baufirma zu treffen: »Kurz vor 15.00 Uhr komme ich zum SERVIU zurück […]. Oben warten schon einige Leute auf dem Flur […]. Ich spreche mit zwei Männern, einem Alten und einem Jüngeren, und frage, ob sie sich schon vorher kannten. Nein, antworten die beiden, aber erklären, dass sie schon an der Wahl teilgenommen haben […]. Sie erzählen, dass die Wahl in einer Turnhalle stattfand und dass es ein ewiger und langwieriger Prozess war. Ich frage, ob sie sich für ein bestimmtes Haus eingesetzt haben. Zunächst antworten sie mit Nein, aber dann erinnern sie sich, dass sie irgendein Haus ›anfeuerten‹, weil sie wollten, dass alles schnell zu Ende gebracht wird. Sie erwähnen dies als eine Strategie, um den Wahlvorgang zu beschleunigen, da sie eigentlich nur noch hatten gehen wollen.« (Feldnotizen Biedermann, 24. November 2010)
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Diese und viele ähnliche Geschichten stellen die Frage nach den Konsequenzen der elektoralen Strukturierung des Marktes. Erwartet wird nicht nur, dass Käufer und SERVIU-Mitarbeiter über Vor- und Nachteile jedes Haustyps sprechen, sondern auch, dass Zuschussberechtigte miteinander konferieren und sich einigen, welcher Haustyp für alle am besten ist. Dabei sollte eine Form wirtschaftlicher Rationalität entstehen, die nicht auf monetärem bzw. egoistischem Kalkül beruht, sondern auf einem Anpassungsprozess der eigenen Kaufentscheidung an die Entscheidungen von relevanten Anderen. Davon wurde jedoch nur bedingt berichtet. Vielmehr schien es der Fall zu sein, dass die Einführung einer elektoralen Technik, nämlich der geheimen Wahl, die deliberative Entstehung einer kollektiven Kaufentscheidung unterminierte. Die Wahl erzwang nicht nur eine kollektive Entscheidung durch eine einfache Mehrheit, sondern isolierte und anonymisierte auch die Entscheidung der einzelnen Zuschussberechtigten. Auch wenn so die Möglichkeit einer freien Entscheidung gewährleistet schien, wurden Zuschussberechtigte und ihre Präferenz durch die anonyme Wahl getrennt, sodass die persönliche und von Anderen beobachtbare Bindung zwischen Konsument und Gut, die Märkte sonst produzieren (vgl. Caliskan/Callon 2010, Cochoy/Grandclément-Chaffy 2005), nicht entstehen konnte. In einem solchen Kontext wurde das Gut entpersonalisiert und die Marktbegegnung zu einer abstrakten und nicht involvierenden Prozedur. Beim Regelfall ist die Situation noch heute (Januar 2013) nicht wesentlich anders, obwohl sich hier Marktbegegnungen in zwei zentralen Aspekten von denen der Pilotversuche unterscheiden. Erstens müssen sich die Zuschussempfänger nicht unbedingt an einem Tag für einen Haustyp entscheiden. Wenn man die Zulage bekommen hat, geht man zu einem von SERVIU durchgeführten Treffen, wo SERVIU-Mitarbeiter die zurzeit erhältlichen Haustypen vorstellen. Der Ablauf dieses Treffens ist genau geregelt. Die Bauunternehmen müssen standardisierte Plakate und ein Datenblatt anfertigen, um ihre angebotenen Häuser vorzustellen, wobei die vom Ministerium festgelegten Darstellungsstandards eingehalten werden müssen, damit die Vergleichbarkeit mit den anderen Angeboten gewährleistet ist. Der zweite Unterschied zu den Pilotversuchen liegt darin, dass Kaufentscheidungen prinzipiell individuell und nicht kollektiv getroffen werden. Jeder sollte seinen bevorzugten Haustyp bekommen können, und es sollte dabei keine Notwendigkeit bestehen, die individuelle Auswahl an die der anderen anzupassen. Jedoch bieten Bauunternehmen die Wohnun-
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gen nur in einer Mindestanzahl an, weshalb es am Ende doch notwendig ist, Wohnungen auszuwählen, für die sich andere Zuschussberechtigte ebenfalls entschieden haben. Die Entscheidung ist dennoch nicht Gegenstand einer Verhandlungspraxis oder einer Wahl, sondern individualisiert. Als Zuschussempfänger ist es im Prinzip immer möglich, bis zum Folgemonat zu warten, um zu sehen, ob inzwischen neue Zuschussberechtigte hinzugekommen sind, die den gleichen Haustyp bevorzugen; eine Wartezeit, die aber für obdachlose Familien in Not nicht wirklich tragbar ist. Wir konnten an solch einem Treffen von Zuschussberechtigten bei der Auswahl eines Hauses teilnehmen: »Die Leute besprechen die Optionen mit ihren Lebensgefährten oder Angehörigen. Einige wirken etwas verwirrt und man hört Kommentare wie ›Ich weiß nicht, welches ich auswählen soll‹. In der Regel finden die Gespräche innerhalb der Familien statt und nicht zwischen Zuschussberechtigten. Ich gehe durch den Saal mit besonderer Aufmerksamkeit für die Kommentare der Anwesenden und höre Sätze wie: ›Wir müssen eins von denen mit drei Zimmern wählen‹ oder ›Das Blaue ist schön‹. Oder eine Frau, die sagt: ›Ich mag dieses, aus diesem Material, aber das ist nicht geeignet für die Gegend, in der ich wohne‹. Mir fällt auf, was eine Frau zu ihrem Mann sagt: ›Gut, kreuz einfach irgendeins an‹. Einige Leute begrüßen sich, besprechen aber ihre Entscheidungen nicht oder welches Haus sie am Besten finden. Ich notiere weitere Sätze wie: ›Dieses sticht hervor‹, ›Ich finde dieses besser, weil wir es dann ausbauen können‹. Ein Herr sagt halb im Scherz, halb im Ernst: ›Warum habe ich meine Frau nicht mitgenommen? Sie wird mich umbringen‹. Ein anderer sagt: ›Einem geschenkten Gaul schaut man nicht ins Maul‹, worauf seine Frau antwortet ›Tja, was auch immer […]‹. Ich frage ein paar Leute, ob sie sich vorher den Online-Katalog angeschaut haben und alle antworten mit Nein. Das heißt, für die Meisten ist dies der entscheidende Moment, er dauert nur etwa 15 Minuten, in dem sie ihre künftigen Häuser kennenlernen und auswählen. Ihre Wahl müssen sie der Reihe nach treffen, womit sie in gewisser Weise gedrängt werden, damit der Nächste auch zum Zug kommt […]. So wird zum Beispiel eine zweifelnde Frau aufgerufen und von einer SERVIU-Angestellten gefragt: ›Das Haus, das Ihnen am Besten gefällt, welches ist es?‹. Die Frau zeigt auf ein Haus, das dann sofort markiert wird, bevor sie sich umentscheiden kann.« (Feldnotizen Biedermann, 24. November 2010)
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In beiden Fällen, dem Pilotversuch und dem Regelfall, wurden so Marktbegegnungen produziert, die von einem entscheidungsfähigen, technisch versierten, zuschussberechtigten Subjekt ausgehen. Diese Annahme erwies sich jedoch oft als Problem in konkreten Marktbegegnungen, wenn sich Zuschussberechtigte aus mehreren Gründen in der Marktbegegnungssituation nicht gleich für einen der angebotenen Haustypen entscheiden konnten. Dazu zählten nicht nur jene kritischen Fälle, in denen die angebotenen Haustypen nicht den eigenen Wünschen entsprachen, sondern auch jene, in denen die unterschiedlichen Qualitätsmerkmale der Häuser, wie Größe, Aussehen, Materialien usw. von den Zuschussberechtigten nicht verglichen werden konnten. In solchen Situationen waren weitere Formen von Improvisation zu beobachten, welche darauf abzielten, Kaufentscheidungen in der Marktbegegnungssituation zu erzwingen. Dazu zählten nicht nur die schon erwähnte räumliche und visuelle Zusammensetzung der Plakate mit angebotenen Häusern, sondern auch die von SERVIU-Mitarbeitern improvisierten prozeduralen bzw. situativen Verhaltensregelungen, etwa die Begrenzung der Zeit, sich für ein Haus zu entscheiden, auf ein paar Minuten. So wurden Entscheidungen forciert, um das Funktionieren dieses Marktes abzusichern. Wie auch bei der Entstehung dieses Marktes vor dreißig Jahren, war hier zweitrangig, wie genau dieser Markt funktioniert oder welche negativen Externalitäten entstehen. Ziel des Prozesses war eher, einen Marktmechanismus überhaupt zum Laufen zu bringen.
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Insgesamt ist also ein Improvisationsprozess zu beobachten, der sich zunächst als eine Reihe von dringenden Änderungen und Anpassungen infolge unerwarteter Situationen gestaltet. Improvisation ist in diesem Sinne als ein pragmatischer Kompositionsprozess zu denken (Latour 2010), der nicht auf expliziten Modellen oder Theorien über die Form der Zusammensetzung basiert. Natürlich kann man davon ausgehen, dass die ministerialen Funktions- und Entscheidungsträger über implizite Modelle und Theorien darüber verfügen, wie dieser Markt funktionieren soll. Entscheidend ist jedoch, dass sie eben nur sehr allgemeinen Prämissen folgen, die nicht aus einer differenzierten wirtschaftswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Markt stammen. In diesem Sinne trifft
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die Bezeichnung als »Ökonomen in der Wildnis« (Callon 2007) für die Akteure, die an der Anpassung dieses Marktes beteiligt sind, hier nicht ganz zu, da sie zu sehr den Eindruck erweckt, dass trotz »wilder Zustände« ein ökonomisches Modell verwirklicht wird. Vielmehr handelt es sich hier um wilde Ökonomen, die erst während des Handelns ihre eigene Lehre improvisieren. Es geht also nicht um die Ausführung einer schon bestehenden Theorie während der Konstruktion eines Marktes (vgl. MacKenzie/ Millo 2003), sondern vielmehr um die Improvisation eines Marktes, die allerdings selbst zur Entstehung von neuem Wissen und sogar zu neuen wirtschaftswissenschaftlichen Modellen führen kann. Improvisation kann in diesem Sinne als ein problemgeleiteter Experimentierprozess verstanden werden: »To experiment is to attempt to solve a problem by organizing trials that lead to outcomes that are assessed and taken as starting points for further actions.« (Muniesa/Callon 2007: 163) Die hier dargestellten Anpassungen bezüglich der Definition von Gütern, der Konstitution von Marktakteuren und der Form der Marktbegegnungen sind gute Beispiele solch iterativer Prüfungen. Jede Änderung veranlasst eine Beobachtung davon, wie sich dieser Markt verhält, und ermöglicht damit auch die Entstehung des Wissens darüber. Dabei geht es aber nicht um das Erlangen eines wissenschaftlich formalisierten Wissens mit einem Wahrheitsanspruch, sondern vielmehr um ein praktisches Wissen darüber, wie man aus diesen unbestimmten und fluiden Elementen einen Markt konstituiert. Hier stellt sich also die Frage, wie dieses auf Improvisationspraktiken entstandene Wissen weiter zirkuliert und verwertet wird. Interessanterweise haben die beiden hier dargestellten Improvisationsprozesse zu wirtschaftspolitischen Modellen geführt, die für die Transformation von anderen Märkten mobilisiert worden sind. Der improvisierte Markt für sozialen Wohnungsbau, der während der 1980er Jahre zustande kam, wurde zu einem von der Weltbank geförderten Modell für andere lateinamerikanische Länder wie etwa Kolumbien, Ecuador oder Panama (Gilbert 2002). Im Fall des improvisierten Marktes für den Wohnungswiederaufbau ist es sicherlich zu früh, um eine ähnliche Verbreitung als ökonomisches Modell zu beobachten. Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass im Februar 2011 eine Reihe von Modifikationen in der regulären chilenischen Wohnungsbaupolitik, die den Bau von erschwinglichen Wohnungen außerhalb des Wiederaufbauprozesses reguliert, eingeführt wurden; Modifikationen, die als direkte Fortsetzung der improvisierten Marktarrangements für den Wiederaufbau angesehen werden können (vgl. Brain/
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Mora 2011). Nun fand dieser Transfer ohne eine formale Modellierung oder Evaluierung des neuen Marktes statt. Nach einem der Experten für Wohnungspolitik im Ministerium für Wohnungswesen und Stadtentwicklung ist »der Chef der Wohnungspolitik im Ministerium […] der ›Operator‹, also derjenige, der alle Entscheidungen des Wiederaufbauteams in weitere Richtungen [prüft]. Wenn Dinge an einer Stelle richtig gemacht werden, können diese an einer anderen Stelle reproduziert werden. Und umgekehrt… Es ist ein ständiges Thema« (Interview mit einem Mitarbeiter des Ministeriums für Wohnungswesen und Stadtentwicklung, 15. Dezember 2010). Die Figur des »Operators« ist besonders interessant, da sie nicht nur auf eine technische Übersetzungsarbeit hinweist, sondern auch auf eine hinter den Kulissen agierende politische Figur, die sich darauf spezialisiert, Entscheidungsträger von einem bestimmten Projekt oder einer bestimmten Maßnahme zu überzeugen. Beim Operator geht es also nicht um eine ökonomische Modellierung improvisierter Marktarrangements, sondern vielmehr um eine politische Einschätzung der Erfolgschancen und ihrer Übersetzung und Einführung in einen anderen Markt. Beide Fälle weisen so auf ein zentrales Merkmal der entstandenen wirtschaftspolitischen Modelle hin. Diese ähneln nicht einer Vorlage oder einem Schema, wonach in wirtschaftliche Prozesse interveniert und sie hierdurch transformiert werden könnten, sondern eher einem Beispiel oder Leitbild. In diesem Sinne wirken sie nicht performativ, sondern exemplarisch. Dies ist auch die Sichtweise des letzten Finanzministers der Militärregierung Pinochets und einer der wichtigsten neoliberalen Ideologen des Landes, wenn es um die Frage geht, ob das chilenische Modell replizierbar wäre. Seine Antwort ist, dass dies nur für die allgemeinen Grundsätze gilt, da »keine Erfahrung […] völlig übertragbar [ist], egal wie erfolgreich sie war, und es ist hier, wo die Kreativität der Techniker und die Sensibilität der Politiker reinkommt« (Büchi 2008: 42). Mit anderen Worten entspricht das Modell einer Improvisation, die auf allgemeinen Grundsätzen und Zielen basiert. Wir kommen so zu einer wichtigen Umkehrung der üblichen Darstellungen von Praktiken der Politikformulierung in staatlichen Agenturen und Verwaltungen und insbesondere jener, die im Rahmen von Neoliberalisierungsprozessen stattfinden. In der foucaultschen Tradition herrscht meistens ein Verständnis von Staat und Politik vor, das auf sehr genau abgestimmten Disziplinierungsdispositiven und Regierungstechniken
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basiert. Dabei wird von einer Asymmetrie zwischen Politikern, Verwaltungsbeamten oder Experten und Bürgern, Anwohnern oder Laien ausgegangen, sodass sogar verschiedene Begrifflichkeiten für die Analyse ihrer Praktiken angewendet werden. Während für die Ersten etwa von Strategien, Expertise, Planung, Strukturen und Durchsetzung die Rede ist, wird bei den Letzteren eher von Taktiken, Eigensinn, Improvisation, Situationen und Widerstand ausgegangen. Diese analytische Asymmetrie gilt es aber, wie in diesem Aufsatz nahegelegt, empirisch infrage zu stellen. In der Tat zeigt nicht nur die detaillierte Analyse der Praktiken dieser Akteure, dass Improvisation vielleicht das wichtigste Merkmal bei der Umsetzung von Politiken in Auseinandersetzung mit komplexen sozialen Feldern ist. Sie wird sogar von den Akteuren selbst als entscheidend für die erfolgreiche Realisierung von ambitionierten politischen Programmen betrachtet. Wenn also Improvisation ein Bestandteil erfolgreicher, effektiver Regierungs- und Verwaltungspraktiken ist, und nicht nur situative Formen der Aneignung, Resistenz und Unterminierung von Politiken kennzeichnet, dann stellen sich zwei wichtige Fragen an eine Anthropologie politischer Felder. Die erste bezieht sich auf jene Formen von politisch-administrativer Improvisation, die anders als die hier diskutierten Fälle, nicht im Rahmen einer Katastrophe oder einer Diktatur zu beobachten sind. Wie weitreichend Improvisation in regulären Prozessen der Politikformulierung, -umsetzung und -verwaltung wirklich ist und wie diese auch gerechtfertigt beziehungsweise kritisiert wird, etwa in Bezug auf politischen Opportunismus, sind Fragen, die bisher kaum angegangen worden sind. Die zweite, meines Erachtens nach noch wichtigere Frage bezieht sich auf die Identifizierung unterschiedlicher Improvisationsstile, die sich in den Praktiken der verschiedenen Akteure politischer Felder erkennen lassen. Dies benötigt aber nicht nur dichte ethnografische Beschreibungen oder historische Genealogien von der Improvisation einzelner Politiken, sondern vor allem ein vergleichsorientiertes anthropologisches Forschungsprogramm, in dessen Zentrum Improvisation als politischer Handlungsmodus steht.
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The Policy of Mothering Praktiken und Effekte der Politik einer internationalen Hilfsorganisation Sarah Speck
Die weltweite Standardisierung ihrer entwicklungspolitischen Praxis macht die Hilfsorganisation SOS-Kinderdorf zu einem hoch spannenden Gegenstand einer anthropologischen Policy-Forschung. Seit der Gründung vor über 50 Jahren operiert die österreichische Organisation auf Basis ein und desselben Modells der Fremdunterbringung von Waisen und vernachlässigten Kindern: Eine Mutter, Geschwister, ein Haus und ein Dorf bilden die vier Säulen des von dem Organisationsgründer Hermann Gmeiner entwickelten Konzeptes, das bis heute als Referenz- und Ausgangspunkt für die weltweite Organisationspraxis fungiert. In 133 Ländern gibt es inzwischen über 500 SOS-Kinderdörfer, in jedem dieser Kinderdörfer leben und arbeiten ein (meist männlicher) Dorfdirektor und etwa zehn Kinderdorfmütter, die bis zu zwölf Kinder betreuen. Dieser weltweite Export eines Modells in unterschiedliche soziokulturelle Kontexte wirft aus kultur- und sozialanthropologischer Perspektive zahlreiche Fragen auf. Denn schließlich bildet die Erkenntnis von der soziokulturellen Situierung kultureller Modelle, Vorstellungen und Wissensformationen die Grundlage vieler zeitgenössischer kulturwissenschaftlicher Forschungen und Diskussionen.1 Gerade Konzepte von Verwandtschaft, Familie oder Mutterschaft unterliegen demnach nicht nur historischen Wandlungsprozessen, sondern tauchen im globalen Rahmen in einer großen Variationsbreite auf (vgl. u.a. Beck/Hess/Knecht 2007, Mead 1962, Jolly 1998, Vinken 2007). 1 | Zum Begriff des situierten Wissens siehe Haraway 1996, ähnlich bei Escobar 2001.
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In der Konsequenz bedeutet dies, dass jegliches Wissen als ein lokales zu begreifen ist.2 Dies gilt somit auch für die Konzeptionen, Modelle und Policies einer translokal arbeitenden Hilfsorganisation. SOS-Kinderdorf behauptet hingegen die universelle Gültigkeit der »Mission« und »Vision«3 ihrer entwicklungspolitischen Praxis und schreibt sich somit in etablierte epistemologische Ordnungen ein, die Wissen aus dem Westen prinzipiell universalisieren, Weltsichten aus dem globalen Süden hingegen partikularisieren (vgl. u.a. Castro Varela/Dhawan 2005, Conrad/Randeria 2002). Die Um- respektive Übersetzung des Modells von SOS-Kinderdorf in verschiedenen soziokulturellen Kontexten führt daher zu unterschiedlichen Problemfeldern, die ich im Rahmen dieses Artikels bearbeiten möchte: Grundlegend fokussiere ich dabei die Frage nach Machtverhältnissen und herrschaftlichen Praktiken in einer postkolonialen Welt, die im Zuge der transnationalen Arbeit dieser entwicklungspolitischen Organisation sichtbar werden. Zudem werde ich anhand dieses Beispiels exemplarisch Formen der Aneignung, Umdeutung und des alltagspraktischen Widerstands von Akteuren in unterschiedlichen Kontexten untersuchen. Denn ausgehend von einem foucaultschen Machtverständnis im Sinne einer »Vielfältigkeit von Kraftverhältnissen« (Foucault 1998) bringt Macht zugleich auch gegenläufige respektive subversive Praktiken hervor. Neben der behaupteten Universalität erscheint mir die geschlechtliche Dimension in der Politik und Praxis von SOS-Kinderdorf bemerkenswert: Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Pluralität familialer Lebensformen sowie einer sich sukzessive durchsetzenden Norm geschlechtlich egalitärer Betreuungs- und Erziehungsarbeit irritiert der pädagogische Entwurf von SOS-Kinderdorf, in dem die Figur der Mutter weiterhin im Zentrum steht. Der vorliegende Beitrag untersucht somit die Politik – im Sinne des englischen Wortes »policy« – einer transnational operierenden Hilfsorganisation und fragt hierbei im Anschluss an eine Anthropology of Policy nach den kulturellen Bedeutungen, Praktiken und Effekten, die in diesem Kontext entstehen. Im Zentrum steht hierbei die Kategorie Geschlecht und insbesondere Mutterschaft als eine durch SOS-Kinderdorf global mobilisierte Schlüsselmetapher. Ausgehend von meiner Forschung zum Beruf der
2 | Zum Spannungsfeld von Globalität und Lokalität vgl. u.a. Beck 2006, Hannerz 1998, Marcus 1995, Ong/Collier 2005, Welz 2009. 3 | SOS Policy 2009: 5.
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SOS-Kinderdorfmutter4 möchte ich zunächst die kulturellen Annahmen in der entwicklungspolitischen Konzeption der Organisation sowie das konzeptionelle Gerüst des Modells Mutterschaft als Beruf vorstellen. Ich werde dem Narrativ und den Mythen nachgehen, die die Organisation in Texten (re)produziert, um die Legitimität ihrer Praxis herzustellen. Die anthropologische Analyse der Policy einer Organisation erfordert jedoch nicht nur die Rekonstruktion ihrer grundlegenden Modelle, ihrer Vorstellungen von Welt und der normativen Grundlagen bzw. Handlungsanweisungen, sondern auch eine Beschäftigung mit der Umsetzung in Form von administrativen Verfahren, Ressourcenzuteilungen sowie von konkreten Praktiken. Im zweiten Teil des Beitrages werde ich folglich anhand meiner empirischen Untersuchung der Praxis von SOS-Kinderdorf in Österreich und Bolivien zeigen, wie die im Organisationsdiskurs produzierten Bedeutungen und Vorstellungen in spezifischen lokalen Kontexten in Alltagspraktiken umgesetzt werden. Eine wesentliche Dimension der Untersuchung stellen hierbei Subjektivierungstechniken dar, die als Effekte der Politik der Organisation zu verstehen sind. Aus einer kulturanthropologischen Perspektive stellt sich im Anschluss daran die Frage nach der »agency«5, also den Handlungsspielräumen der Akteure vor Ort, die im dritten Teil des Beitrags bearbeitet werden soll. Die von einer »policy« adressierten 4 | In einer mehrjährigen »multisited ethnography« (George Marcus) bin ich dem Modell Mutterschaft als Beruf im SOS-Kinderdorf gefolgt. Dabei habe ich zum einen die Konstruktion des Modells in schriftlichen Dokumenten der Organisation – internationalen Policies, Handbüchern und Richtlinien sowie Material der Außendarstellung – analysiert. Zum anderen bin ich der Umsetzung des Modells in zwei unterschiedlichen Kontexten gefolgt: In Österreich, dem Ursprungsland der Organisation, und in Bolivien, einem sogenannten Entwicklungsland, habe ich die Praxis von SOS-Kinderdorf und insbesondere die Umsetzung des Modells Mutterschaft als Beruf in den Blick genommen. Neben der teilnehmenden Beobachtung des Alltags in verschiedenen Kinderdörfern und der Aus- und Fortbildung in der Mütterschule habe ich zahlreiche Interviews mit SOS-Kinderdorfmüttern geführt. Methodisch habe ich mich an den Grundsätzen der Grounded Theory nach Glaser/Strauss orientiert (vgl. Glaser/Strauss 2005). Für die Forschungspraxis bedeutete dies insbesondere eine theoriegeleitete Datenerhebung sowie die Auswertung nach einem mehrstufigen Kodierverfahren. Die gesamten Ergebnisse der Forschung erscheinen in Kürze in Buchform. 5 | Zum Begriff »agency« vgl. Ortner 1984.
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Subjekte werden hier somit nicht primär als disziplinierte und fügsame Körper gedacht, sondern als zur Reflexion, Skepsis und Resistenz befähigte Akteure (vgl. Shore/Wright 1997: 17). Im Rahmen dieses Artikels frage ich daher nach den individuellen Strategien von Frauen, die als Mütter bei SOS-Kinderdorf arbeiten: Wie gehen sie mit dem von der Organisation vorgegebenen und mobilisierten Wissen um? Wie deuten sie jeweils das Modell Mutterschaft als Beruf und wie übersetzen sie es in ihre Alltagspraxis? Im vierten und letzten Teil möchte ich – ausgehend von einer postkolonialen Perspektive auf Prozesse globalen Wissenstransfers und kulturelle Übersetzungen – Fragen nach Macht- und Herrschaftsverhältnissen sowie nach Widerstandsformationen im Kontext dieses transnationalen Organisationsfeldes bearbeiten. Als Ausgangspunkt werde ich zuvor jedoch kurz das Berufsbild der SOS-Kinderdorfmutter vorstellen. »Es ist so einfach – ein Kind braucht nur eine Mutter, Geschwister und ein Haus.«6 Im Zentrum des pädagogischen Modells der Organisation, die Hermann Gmeiner zur Unterbringung von Waisen und vernachlässigten Kindern 1949 im Nachkriegsösterreich gründete, steht die Mutter. Eine Kinderdorfmutter lebt und arbeitet sechs Tage/24 Stunden im Kinderdorf. Die internationalen Richtlinien sehen vor, dass sie ledig, geschieden oder verwitwet ist.7 Die konkreten Arbeitsbedingungen der Kinderdorfmütter sowie ihr juristischer Status unterscheiden sich jedoch von Land zu Land. Ausgelöst durch einen Mangel an Kinderdorfmüttern gab es in den 70er Jahren eine Debatte über das konservative Frauenbild innerhalb der Organisation, die einige Veränderungen in den Arbeitsbedingungen zumindest in westlichen Ländern nach sich zog. Offenbar waren viele Frauen nicht mehr bereit, eine so weitreichende Entscheidung für ihr gesamtes Leben 6 | Hermann Gmeiner, o.J., zitiert nach Schreiber/Vyslozil 2001: 149. 7 | Das Gehalt einer Kinderdorfmutter wird jeweils national festgelegt. In Österreich ist es vergleichbar mit dem einer Sozialarbeiterin. In allen Ländern werden Kost und Unterkunft gestellt, ebenso medizinische Versorgung. Sofern sie 15 Jahre in der Organisation tätig waren und das Rentenalter erreicht haben, erhalten die Frauen eine Rente von 60 Prozent ihres letzten Gehalts. Diese materiellen Aspekte sind in ihrer Auswirkung auf die Entscheidung der Frauen, diesen Beruf auszuüben, gerade in ärmeren Ländern nicht zu unterschätzen. Viele Frauen haben aufgrund struktureller Bedingungen und fehlender Ressourcen keine andere Option auf einen vergleichsweise gesicherten Arbeitsplatz, geschweige denn auf die damit verbundenen Leistungen.
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zu treffen und fanden sich im Bild der alleinstehenden, sich für die Kinder aufopfernden »Gmeinerschen Ideal-Mutter« (Schreiber/Vyslozil 2001: 250) nicht wieder. Die Organisation reagierte mit dem Status »Mutter für eine Generation«, der den Frauen ermöglichte, nur eine Gruppe von Kindern aufzuziehen und, sobald die älteren nicht mehr im schulpflichtigen Alter waren, mit den verbleibenden Kindern das Kinderdorf zu verlassen. Zu den weiteren Veränderungen gehörten die Reduzierung der Kinderzahl, die Erhöhung des Gehalts und die Professionalisierung der Tätigkeit. Berufsanwärterinnen müssen seitdem eine zunehmend formalisierte Ausbildung absolvieren, in der pädagogische und psychologische Kenntnisse erworben werden sollen. Auch der Umgang mit dem Thema der Partnerschaft änderte sich in dieser Zeit: Bis dahin mussten Kinderdorfmütter im Falle einer Heirat das Dorf verlassen. Nun wurde versucht, eine »vor allem für die Kinder verantwortbare Lösung zu finden, d.h. den Verbleib der Kinder bei ihrer Mutter zu ermöglichen«8. In einigen Ländern können SOS-Kinderdorfmütter inzwischen auch eine Partnerschaft innerhalb des Dorfes führen.9 Wichtig festzuhalten ist jedoch, dass sich diese Veränderungen hinsichtlich des Berufsbildes ausschließlich auf westliche Länder beziehen. In den meisten Teilen der Welt sind die Arbeitsregelungen weiterhin relativ rigide: Die Kinderanzahl wurde kaum gesenkt – die internationale Richtlinie liegt derzeit bei neun, und während in den westlichen 8 | Aus dem zusammenfassenden Bericht über die 2. Europäische DorfleiterTagung 1986: 10, zitiert nach Schreiber/Vyslozil 2001: 255. 9 | Dies ist in den meisten Ländern der Welt jedoch nur schwerlich möglich. Wie ich während meiner Feldforschung in Bolivien beobachten konnte, erlauben die Arbeitszeiten es kaum, eine Partnerschaft zu führen, auch, da die Partner nicht im Kinderdorf übernachten dürfen. In der Zentrale von SOS-Kinderdorf wurde mir erklärt, dass die Partnerfrage »regional, entsprechend der gesellschaftlichen und kulturellen Gegebenheiten« entschieden werde. Die Organisation fungiere in diesem Sinne als »Spiegel der jeweiligen Gesellschaft« (Feldforschungstagebuch vom 12.05.2003). In einigen wenigen Ländern gibt es inzwischen auch SOS-Kinderdorfväter (Deutschland und Österreich gehören dazu). Jedoch sind sowohl diese Länder als auch die Männer, die sich dort für diesen Beruf finden, die Ausnahme. Die Selbstdarstellung der Organisation, beispielsweise auf der Homepage, und die internationalen Richtlinien beziehen sich weiterhin (bis auf wenige Ausnahmen) ausschließlich auf Mutterschaft – insofern wurde das Modell bis heute nicht grundsätzlich modifiziert.
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Ländern (sprich in Westeuropa und Nordamerika) Kinderdorfmütter eher fünf oder sechs Kinder aufziehen, sind in Bolivien meist zehn Kinder in einer Kinderdorffamilie – und die Frauen dürfen weiterhin nicht heiraten bzw. müssen in einem solchen Falle die Organisation verlassen. Auch der Status »Mutter für eine Generation« ist in diesen Ländern erheblich schwieriger auszuhandeln. In der Regel wird der Platz eines Kindes, sobald es die Kinderdorffamilie verlässt, umgehend mit einem weiteren aufgefüllt. Die Aufnahme der Kinder wird mit den zuständigen staatlichen Organisationen (Jugendwohlfahrt u.ä.) abgestimmt. Die Kinder wie die Mitarbeiter der Organisation sollen aus den jeweiligen Ländern stammen. Bei der SOS-Kinderdorfmutter handelt es sich somit um ein bemerkenswertes Berufsbild. Zum einen, da Mutterschaft – ein kulturelles Konzept, das eigentlich ein natürliches Verhalten von Frauen ihrem leiblichen Kind gegenüber meint – in ein Arbeitsverhältnis übersetzt wird; zum anderen, da dieser Beruf zumindest in den meisten Ländern einen relativ weitgehenden Eingriff in die private Lebensführung der Frauen bedeutet.
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Doch wie wird der Fokus auf die Figur der Mutter in der Konfiguration von Ideen, in den kulturellen Vorstellungen und Leitbildern in organisationsrelevanten Texten und symbolischen Praktiken von SOS-Kinderdorf begründet? Durch welche Narrative und Mythenbildung wird Legitimität hergestellt, d.h. inwiefern wird eine normative Darstellung genutzt, um ein Problem und seine Lösung auf eine bestimmte Art und Weise zu präsentieren (vgl. Shore/Wright 1997: 3)? Helmut Kutin, Präsident von SOS-Kinderdorf, schreibt im Vorwort des internationalen Handbuchs von SOS-Kinderdorf: »Hermann Gmeiner’s idea was clear and simple and he challenged us to put it into practice around the world. For over fifty years we have spread his idea, while also considering different cultures, different religions and different ways of life. We have found ways to blend our enduring and universal four principles with the social and economic realities of each country. When planted with care and commitment our SOS family child-care model is the most appropriate and beautiful response for children who have been left alone in the world.« (Manual for the SOS Children‘s Villages Organisation, Innsbruck 2003: 1)
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Eindrücklich ist dieses Zitat insbesondere, da es fast alle Momente einer Mythenbildung innerhalb des Organisationsdiskurses enthält. Die »Idee« des Organisationsgründers und -patriarchen Gmeiner erscheint als Auftrag, den das »wir«, das imaginierte Kollektiv, in die Welt tragen solle. Dabei trägt diese Semantik stark religiöse Züge: Ein charismatischer Erleuchteter lässt seinen Jüngern die Wahrheit zukommen und erteilt ihnen den Auftrag, seine beständigen und universellen Prinzipien missionarisch zu verbreiten. Die inhärente Logik lautet: Wenn wir den Kindern helfen, können wir Not und Unheil in der Welt beseitigen – soziale und politische Kontexte erscheinen nebensächlich, das bedürftige und unschuldige Kind markiert den Bezugspunkt des philantropischen Motivs.10 Auch Helmut Kutin, der als Kinderdorfkind im ersten Kinderdorf in Imst aufgewachsen ist, ist als Figur in das religiöse Bedeutungsgeflecht eingebunden. In Kutin symbolisiert sich die rechtmäßige Nachfolge, als Sohn verfolgt er den Auftrag seines Vaters. Diese Interpretation durchzieht auch die Symbolpraxis der Organisation: In den meisten Kinderdörfern hängen im Kinderdorfbüro und oftmals auch in den einzelnen Familienhäusern Bilder von Gmeiner und Kutin. In asiatischen Ländern, so wurde mir in der Zentrale der Organisation in Innsbruck berichtet, werden häufig Blumen vor den quasi zu einem Altar mit Ikonen arrangierten Bildern abgelegt. In diese religiöse Logik fügt sich auch die Honorierungspraxis für SOS-Kinderdorfmütter ein: Eine Kinderdorfmutter, die über 15 Jahre in der Organisation tätig ist, bekommt einen goldenen Ring mit dem SOS-Kinderdorf-Emblem. Kutin, der auf seinen Reisen durch die Kinderdörfer weltweit vor allem eine Repräsentativfunktion erfüllt, überreicht diesen Ring im Rahmen eines Festaktes im Kinderdorf, der, zumindest in einigen Ländern, als Hochzeit inszeniert wird: Es gibt eine Torte und die Dorfgemeinschaft wohnt der Übergabe des Ringes und dem anschließenden Tanz mit Kutin bei. Dieser Tanz, von dem mir eine Kinderdorfmutter in Bolivien eindrücklich berichtete, symbolisiert die Heirat mit der Organisation bzw. ihrem höchsten Repräsentanten, der folglich zum Ehemann der Kinderdorfmütter wird. Diese Praxis erinnert an Initiationsrituale von Nonnen wie die in Klöstern praktizierte symbolische Heirat mit Jesu Christi, auf welche die Entsagung 10 | Dies mag auch die Attraktivität der Organisation für Spenderinnen ausmachen. In der Komplexität und Unübersichtlichkeit sozialer und politischer Konflikte weltweit erscheint SOS-Kinderdorf als klares Modell – einfach nur Kindern ein Zuhause zu geben, bedeutet in diesem Sinne Hilfe ohne großes Risiko.
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weltlicher Genüsse und der Rückzug aus dem sozialen Leben folgt. Kutin ist dieser Praxis zufolge zugleich als symbolischer Vater aller Kinderdorfkinder zu lesen. Die Abwesenheit des Vaters im Modell der Kinderdorffamilie wird in der Organisation unterschiedlich begründet. Eine Argumentation, die mir während der Feldforschung oft begegnet ist, lautet in etwa: Es brauche keinen realen Vater – notwendig sei nur eine »Vaterfigur«, die insbesondere Jungen Orientierung gebe, die jedoch auch durch den Gärtner des Kinderdorfs repräsentiert werden könnte.11 Ähnlich argumentierte auch Gmeiner: »Die Funktionen des Vaters können verhältnismäßig leicht von Personen übernommen werden, die außerhalb der Familie stehen. Im SOS-Kinderdorf werden [sie] auf verschiedene männliche Mitarbeiter verteilt. Zu einem großen Teil werden sie vom Dorfleiter ausgeübt. […] Der Mann wird als Leiter der dörflichen Erziehungsgemeinschaft über das ganze Dorf, die Kinder, die Mütter und sonstige Mitarbeiter gestellt. Er sorgt für die Einheit des Dorfes und wacht darüber, dass das Dorf seine Aufgabe als Erziehungsstätte für verwaiste Kinder erfüllt. Er soll das männliche Oberhaupt des Dorfes sein, Autorität in allen Fragen der Erziehung und Personalführung sowie Berater der Mütter. Für die Kinder soll er das Bild des Mannes darstellen, der die Welt und das Leben sowie die Schwierigkeiten und Probleme des Alltags kennt.« (Gmeiner 1970: 49ff.)
In dieser Konzeption bilden die SOS-Kinderdörfer die vergeschlechtlichte Logik der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Arbeitsteilung ab: Die Mutter ist für die häusliche, private Sphäre verantwortlich, der Vater ist die symbolische Autorität, die, meist abwesend, in der Öffentlichkeit, der »Welt« agiert, zugleich aber auch die Einheit der Familie garantiert und bewacht. In der alltäglichen Fürsorgearbeit brauche es den Vater jedoch nicht. Doch wie genau wird die Figur der Mutter im Organisationsdiskurs begründet? Im Handbuch der SOS-Kinderdörfer ist zu lesen: »Experience and research has shown that for his or her sound development a child needs to be able to rely on at least one stable, long-term relationship. If this is assured there is no significant difference in the quality of care between a long-term family based care approach that works with couples, single 11 | Forschungstagebuch vom 02.02.2004
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mothers or single fathers. The SOS family child-care model as defined in its principles by Hermann Gmeiner relies on the fact that there are many women around the world who are attracted to the role of the SOS mother and the longterm care of children. This concept also gives women the opportunity to develop themselves and their own skills.« (Manual 2003: 17)
SOS-Kinderdorf fußt sein Betreuungskonzept auf der Annahme, dass ein Kind für eine gesunde Entwicklung auf eine dauerhafte Beziehung zu einem Erwachsenen angewiesen sei. »Familienbasiert« bezieht sich dabei offensichtlich auf das Leitbild der (heterosexuellen) Kleinfamilie und suggeriert, dass diese die für die Entwicklung des Kindes notwendige Bindung in herausragender Weise garantieren könne. Bemerkenswert ist dabei der dem Zitat inhärente Widerspruch: Auch wenn die Organisation der sich zunehmend etablierenden Norm einer egalitären Kultur der Kindererziehung (vgl. Burkart 2007) nachkommt – auch Väter können die primäre Bezugsperson des Kindes sein –, hält sie doch an einem Konzept der Familie als dem »Reich der Frau« (Brück et al. 1992) fest. Dies zeigt sich jedoch allein im Subtext: Nachdem zunächst expliziert wird, dass es nicht die Frau sein müsse, die diese Arbeit leiste, wird im nächsten Satz davon ausgegangen, dass insbesondere (und nur?) Frauen von dieser Rolle »angezogen« seien. In dieser Logik passt sich die Organisation also lediglich einem Begehren vieler Frauen nach der Versorgung von Kindern an – ein Begehren, das in dieser Form der Darstellung als ontologische Wesensart der Frau erscheint. SOS-Kinderdorf gibt demzufolge Frauen die Möglichkeit, aus ihrer Wesenseigenschaft heraus zu agieren.12 Legitimiert wird das Organisationsmodell also nicht nur mit psychologischem Wissen und dem Bedürfnis eines Kindes nach einer konstanten Bezugsperson bzw. – im Subtext – nach einer Frau, nämlich einer Mutter, als Bezugsperson, sondern auch hinsichtlich des Bedürfnisses einer »alleinstehenden« Frau.
12 | Diese Begründungsfigur findet sich in der Geschichte der Organisation von Beginn an. Etwa 50 Jahre zuvor argumentierte Gmeiner: »Überall in der Welt gibt es Frauen, die alleinstehend sind. Das Leben einiger dieser Frauen wird vom Beruf nicht ausgefüllt. Sie haben Sehnsucht nach Kindern, für die sie da sein und sorgen möchten. [...] So helfen die SOS-Kinderdörfer nicht nur verlassenen Kindern. Sie verhelfen zugleich alleinstehenden Frauen zu einem erfüllten Leben. SOS-Kinderdorfmutter zu sein ist ein neuer Frauenberuf.« (Gmeiner 1970: 31)
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Mutterschaft erscheint mindestens als Möglichkeit, vielleicht sogar als Notwendigkeit zur Selbstverwirklichung der Frau. Neben der Betrachtung der Narrative und Begründungsfiguren für die Position der Mutter im Modell der Organisation, stellt sich die Frage, welche Anforderungen an SOS-Kinderdorfmütter gestellt werden. Welches konkrete (Berufs)Bild von Mutterschaft wird in den internationalen Manuals produziert? Im Handbuch der SOS-Kinderdörfer ist nachzulesen: »The SOS mother leads the SOS family: The SOS mother shares her life with the children, offering them emotional security and the opportunity to develop new and lasting relationships within her SOS family where love can grow. At the same time, the SOS mother is a child-care professional who co-operates with the other village co-workers in meeting the needs of the children.« (Manual 2003: 19)
In diesen Bestimmungen der Aufgaben einer Kinderdorfmutter manifestiert sich ein Spannungsfeld, das den Beruf durchzieht: Die Kinderdorfmutter »teilt ihr Leben mit den Kindern«, lässt ihnen Sicherheit, eine dauerhafte Bindung und Liebe zukommen. Diese emotionale Semantik erwartet ein affektives Verhältnis in und zur Tätigkeit. Zugleich ist die Kinderdorfmutter in einem Lohnarbeitsverhältnis und professionell im Bereich der Pflege von Kindern tätig. Professionalität erwartet zweckrationales Handeln und eine von der beruflichen abzugrenzende private Sphäre.13 Die Kinderdorfmutter soll einerseits professionelle Arbeitnehmerin sein, deren Leistung evaluiert und kontrolliert wird, und andererseits eine af13 | Zur Herausbildung dieser Sphären schreiben Voß und Prongratz: »›Arbeit‹ und ›Leben‹ wurden unter der Ägide des oft als Fordismus bezeichneten Modells der Regulierung von Arbeit und Gesellschaft immer deutlicher zu Sphären unterschiedlicher Logik. Die Sphäre der beruflich geformten, biografisch relativ kontinuierlichen Erwerbsarbeit bleibt ein Bereich dominant fremdbestimmter Tätigkeiten, der den Kern des individuellen Lebens wie der Gesellschaft insgesamt bildet. Demgegenüber wird der durch Arbeitszeitverkürzungen immer umfangreichere Rest des Lebens zur Domäne von vermeintlicher Freiheit und zunehmend hedonistisch betriebenem angeblichen Lebensgenuß verklärt.« (Voß/Pongratz 1998: 148). Die prinzipielle Trennung der Sphären des Privaten und des Öffentlichen beginnt jedoch mit der Entwicklung bürgerlicher Gesellschaften, wie Habermas in Strukturwandel der Öffentlichkeit zeigt (vgl. Habermas 1962).
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fektive und emotionale Mutter, die ihr Leben mit Kindern teilt. Die einander gegenüberstehenden Sphären Öffentlichkeit respektive Berufstätigkeit und Privatheit sollen demnach im Alltag der Kinderdorfmutter integriert werden. Da es sich (kulturell) um zwei unterschiedliche Sphären handelt, bedarf das Zusammenfallen von Beruflichem und Privatem der Legitimation respektive Plausibilisierung. Eine Begründungsfigur, die im Organisationsdiskurs an verschiedenen Stellen auftaucht, ist die Semantik der Berufung: Ist man zu etwas berufen, so wird die Logik der Sphärentrennung von Arbeit und Leben außer Kraft gesetzt. Diese Figur wird in den Praktiken meist eher im Subtext produziert, so z.B. in der oben genannten symbolischen Hochzeit, die ein religiöses Bedeutungsfeld aufruft. In diesem Sinne vollziehen Kinderdorfmütter gemäß der »Mission« von SOS-Kinderdorf eine Art höheren Dienst an der Kindheit bzw. an der Menschheit. In neueren schriftlichen Materialien ist die Idee der Berufung dagegen kaum explizit zu finden, zweifelsohne, da sie im Widerspruch zu Professionalisierungsbestreben der Organisation steht. Eine Ausnahme bildet das Mütterhandbuch aus dem Jahr 2000: »The clearer SOS Children’s Village recognizes that the SOS Children’s Village Mother both follows her vocation [Herv. i.O.] and carries out a job, the more important become, apart from the careful selection, her adequate professional qualification and development.« (SOS Children’s Village Mother Handbook 2000: 2)
Da der Beruf als vollständiger Lebensentwurf gemeint ist, wird auch erwartet, dass die Kinderdorfmutter ihn mit ihrer ganzen Persönlichkeit ausübe. In der neuesten Version des Mutterhandbuches steht: »The carer’s personality has a holistic effect on the care s/he provides.«14 Wie die aktuelle sozialwissenschaftliche Diskussion um neue Arbeitsverhältnisse zeigt, ist die Forderung, die ganze Persönlichkeit möge in die Arbeit mit einfließen,
14 | The SOS Mother Profession. HR/D cycle and external recognition, SOS Children‘s Villages international, Innsbruck 2009: 7. Diese Stelle ist eine der wenigen Ausnahmen, wo der Text in einem Handbuch der Organisation geschlechtsneutral formuliert ist.
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jedoch nicht ungewöhnlich.15 Die These der Entgrenzung und Subjektivierung der Arbeit, die von verschiedenen Autoren vertreten wird, diagnostiziert ähnliches. Das Konzept der »Subjektivierung von Arbeit« (Moldaschl/Voß 2002) meint die gezielte Nutzung der umfassenden Potentiale der Arbeitskraft als ganze Person, wobei systematisch auch die ehemals privaten Anteile der Person einbezogen werden. Pongratz und Voß beschreiben den Wandel der Arbeitswelt seit den 70er Jahren als »Modus der Rationalisierung«, der auf die systematische Intensivierung der Nutzung subjektiver Potentiale – Haltungen, Wissen, Fertigkeiten, Motive, Gefühle, Werte (Voß/Pongratz 2001: 216) – in der Erwerbsarbeit abzielt. Entgrenzung meint die tendenzielle Auflösung der Sphären des Beruflichen und des Privaten: Privatheit wandelt ihren Charakter hin zu »›freiwilliger‹ Selbstausbeutung und ›fremdbestimmter Selbstorganisation‹, Erwerbsarbeit wird vermehrt zum Ort von Gefühlen und intensivem Leben mit anderen, zum ›Zuhause‹, wie Arlie Hochschild dies für die USA untersucht hat« (Jurczyk/Oechsle 2008: 19). Legitimiert wird dieser Wandel oftmals über den Topos der Selbstverwirklichung im Beruf.16 Was SOS-Kinderdorf von den Kinderdorfmüttern fordert, ist also für neuere Arbeitsverhältnisse nicht eben ungewöhnlich – weder das tendenzielle Ineinanderfließen der Sphären des Beruflichen und des Privaten, noch die Bereitschaft, die ganze Persönlichkeit in die Arbeit einzubringen. Die Anforderungen sind anschlussfähig an postfordistische Vorstellungen der Eigenverantwortung und der Ausübung des Berufes mit höchstem Engagement zur individuellen Selbstverwirklichung. Damit stellen sie auch ein Identifikationsangebot für Kinderdorfmütter zur Verfügung, das sich in einem im Jahr 2000 in Österreich ausgestrahlten Werbefilm für SOS-Kinderdorfmütter bildlich in pointierter Form wiederfindet: Der Spot zeigt eine junge, gut aussehende Frau, die Kinder als Gewichte für ihre Fitnessübungen verwendet (sie stemmt beispielsweise liegend ein Kind mit ihren Beinen hoch, die anderen Kinder stehen applaudierend um sie herum). Der im Off gesprochene Text lautet: »Eine SOS-Kinderdorfmutter zu sein, ist wahrscheinlich der anstrengendste Job der Welt. Deshalb suchen wir auch nicht irgendjeman15 | Zur Debatte um neue Arbeitsverhältnisse vgl. u.a. Pongratz/Voß 2003, Boltanski/Chiapello 2006, Bröckling 2007, Hochschild 1990, Sennett/Richard 2006, Langemeyer 2007. 16 | Zur Genese des Narrativs der Selbstverwirklichung innerhalb des neuen Kapitalismus siehe Illouz 2007: 69ff.
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den, sondern Leute mit einer besonderen Portion Kraft.« Mit der Figur der Besonderung und der bildlichen Repräsentation durch eine attraktive, sportliche Frau versucht dieses Interpretationsangebot das Bild der Kinderdorfmutter als eine sich für andere aufopfernde Frau umzukodieren und damit zugleich Anerkennung und symbolisches Kapital bereitzustellen. Körperliche Fitness steht für Selbst- statt für Fremdbezogenheit. Mit der »besonderen Portion Kraft« ist zweifelsohne auch psychische Stabilität und Ausdauer, also eine starke Persönlichkeit gemeint. Indem diese Frau den Beruf der Kinderdorfmutter ergreift, so suggeriert der Spot, kann sie all diese Fähigkeiten zur Geltung bringen und sich eben dadurch ›verwirklichen‹.17 Ich fasse zusammen: Im Konzept von SOS-Kinderdorf und den Begründungsfiguren in den internationalen Handbüchern wird die kulturelle Vorstellung der Familie als das »Reich der Frau« festgeschrieben und die gesellschaftliche Zuweisung von Sorgearbeit reproduziert. Damit wiederholt SOS-Kinderdorf die Gleichung »die Frau ist eine Mutter – und die Mutter ist eine Frau«. Dabei bedeutet der Beruf kein klassisches professionelles Verhältnis, sondern einen kompletten Lebensentwurf. Bei der SOSKinderdorfmutter handelt es sich somit um ein weitestgehend entgrenztes Arbeitsverhältnis, einerseits hinsichtlich der Arbeitszeit bzw. der Unmöglichkeit der Trennung von Arbeit und Leben, andererseits (wie sich im Folgenden weiter verdeutlichen wird) hinsichtlich der Reichweite der Evaluationen und Kontrolltechniken der Organisation: evaluiert wird die gesamte Lebensführung. Im Organisationsdiskurs lassen sich dabei drei Begründungsfiguren finden, die das Arbeitsverhältnis entproblematisieren und die es ermöglichen, die ganze Persönlichkeit anzurufen, eine intrinsische Motivation und ein hohes Engagement einzufordern. Die auf ein imaginäres Gemeinwohl gerichtete Figur der Berufung zu einem höheren Dienst und der jüngere Topos der Selbstentfaltung in einem besonders herausfordernden Beruf erfüllen beide diese Funktion. Doch vor allem ist es auch die Figur der Mutter bzw. die nunmehr zweihundert Jahre alte kulturelle Vorstellung weiblicher Selbstverwirklichung in aufopfernder Mutterschaft, die die Entgrenzung von Arbeit und Leben plausibilisiert.
17 | Tatsächlich erwies sich die Kampagne und die Strategie der Darstellung des Berufes für SOS-Kinderdorf als äußerst erfolgreich: Es gab deutlich mehr Interessentinnen als in den Jahren zuvor.
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Doch wie wird das Modell Mutterschaft als Beruf in eine organisatorische Praxis übersetzt? Welche Techniken werden angewandt, um die Politik der Handbücher, die Leitbilder und Vorstellungen von SOS-Kinderdorf umzusetzen? In den Ausbildungsstätten für Kinderdorfmütter, die in den meisten Fällen als »Mütterschulen« bezeichnet werden, sollen Frauen zu »guten Müttern« nach der Konzeption des Mutterhandbuchs ausgebildet werden.18 Neben der Vermittlung von pädagogischen Inhalten und haushälterischen Fähigkeiten besteht eine zentrale Funktion der Mütterschulen, so meine Analyse, in der Herstellung der Identifikation als Mutter. Diese Herstellung von Identifikation ist mit Michel Foucault als Regierungstechnik zu verstehen, die auf eine Selbstführung der Subjekte zielt (vgl. Shore/ Wright 2011: 3). Denn wenn die Frauen sich im Sinne der Vorstellung von Mutterschaft der Organisation als Mütter identifizieren, ist ihre Arbeitskraft garantiert: Versteht sich eine Frau als Mutter der Kinderdorfkinder, so greift die normative Absicherung durch intrinsische Schuldgefühle und sie wird die Organisation kaum verlassen. Im Interesse von SOS-Kinderdorf ist dies nicht nur aus Gründen der Organisationsrationalität, sondern auch aufgrund der Familiensemantik, die das Modell plausibilisiert, dabei jedoch von der Einzigartigkeit und Unersetzbarkeit der Mutter-Kind-Beziehung ausgeht. Eine hohe Fluktuation von Kinderdorfmüttern ist also innerhalb der Organisation nicht erwünscht. Auch nach der Ausbildung muss ihre Identifikation und die »Qualität« ihrer Arbeit sichergestellt werden. Im Alltag der Kinderdörfer werden eine Reihe von Techniken der Disziplinierung und der Kontrolle sichtbar, die eben diese Funktion erfüllen. Zu direkten Praktiken der Kontrolle gehören regelmäßige Gespräche mit dem Sozialarbeiter und dem Dorfdirektor sowie angekündigte und unangekündigte Besuche des Dorfdirektors. So schildert eine Kinderdorfmutter in einem Interview, dass die Kleiderschränke der Kinder regelmäßig überprüft werden, um sicherzustellen,
18 | Dabei werden die konkreten Inhalte lokal erarbeitet, d.h. die Mitarbeiter der Mütterschule in Bolivien sind verantwortlich für die Konzeption der thematischen Einheiten innerhalb der Ausbildung.
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dass die Richtlinien der Versorgung erfüllt werden.19 Kontrolliert wird die Alltagsgestaltung auch hinsichtlich des Ausgangs. Zwar können die Frauen jederzeit das Dorf verlassen, um einkaufen zu gehen etc., die freien Tage müssen jedoch, nicht zuletzt um die Vertretung der Mutter zu organisieren, angemeldet werden. Die Überwachung des Alltags ist auch allein architektonisch durch reziproke Sichtbarkeit garantiert: Viele der Dörfer sind so gebaut, dass sich die einzelnen Häuser um einen zentralen Platz gruppieren und die Häuser bzw. die Bewohner sich gegenseitig permanent im Blick haben können. Die panoptische Struktur der Kinderdörfer evoziert so zu einem gewissen Maße auch die gegenseitige Kontrolle der Kinderdorfmütter.20 Eine Überwachungsfunktion übernehmen in diesem Sinne auch die sogenannten SOS-Kinderdorftanten – SOS-Kinderdorfmütter in der Ausbildung –, die (zumindest in den Kinderdörfern in Bolivien) zwischen den Familien rotieren, den Kinderdorfmüttern im Haushalt helfen oder sie während der freien Tage vertreten, und die ebenfalls im ständigen Gespräch mit dem Dorfdirektor stehen, wo sie über jede Unregelmäßigkeit im Alltag berichten können.21 Dass die Organisation versucht, jenseits dieser Fremdkontrolle auch Techniken der Selbstkontrolle zu implementieren, die als Regierungstech19 | Während meiner Feldforschung in Österreich wurde allerdings betont, dass solche Praktiken in dortigen Kinderdörfern nicht vorkämen und die Kinderdorfmütter mehr Autonomie im Alltag hätten. 20 | Natürlich kann diese architektonische Anordnung auch eine Arbeitserleichterung für Kinderdorfmütter bedeuten: auch andere Frauen haben die eigenen Kinder im Blick. 21 | Hinsichtlich der Kontrolle der Lebensführung der Kinderdorfmütter ist die Frage der Partnerschaft ein immer wieder auftauchendes Thema. Offiziell dürfen Kinderdorfmütter eine Partnerschaft führen. Faktisch wird dies jedoch (durch die Rigi di tät des Arbeitsalltags) nicht nur erschwert, sondern teilweise auch sanktio niert. So wird es in vielen Kinderdörfern nicht gern gesehen, dass der Partner ins Dorf kommt, geschweige denn, dass er dort übernachtet – begründet wird dies mit dem Schutz der Kinder. Wie mir einige Frauen erzählten, versuchten sie ihre Partnerschaft geheim zu halten, um nicht in Konflikt mit der Dorfleitung oder dem Sozialarbeiter zu kommen. Diesbezüglich unterscheidet sich allerdings die Handhabung von Dorfdirektor zu Dorfdirektor. Eine Partnerschaft einer Kinderdorfmutter ist generell jedoch nicht im Interesse der Organisation: Sie erhöht das Risiko, dass die Frau die Organisation verlässt.
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niken im Zweifel sehr viel wirksamer sind, zeigt der Einsatz von Monitorings- und Evaluierungspraktiken. Ein wichtiges Instrument ist beispielsweise der »individual development plan«.22 Dieser »individuelle Entwicklungsplan« wird für einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren erstellt, für den die Kinderdorfmütter die Ziele, die sie in dieser Zeit erreichen wollen, definieren sollen. Diese Pläne werden in jährlichen Teambesprechungen (zwischen dem Dorfdirektor, dem Sozialarbeiter und der Kinderdorfmutter) diskutiert: Es wird überprüft, was erreicht wurde und in welchem Bereich die Kinder und die Kinderdorfmutter sich »entwickeln« sollen bzw. wo die Kinderdorfmutter bessere Arbeit zu leisten habe. Diese Evaluierungen ziehen keine direkten Konsequenzen oder Sanktionen nach sich. Jedoch haben bereits das Wissen um die Dokumentation dieser Daten in der nationalen Zentrale und das jährliche Evaluationsgespräch, so mein Eindruck aus den Gesprächen mit Kinderdorfmüttern, ein hohes normatives Potential und bergen eine implizite Sanktionsdrohung. Eine ähnliche Rolle spielt auch die »Monitoring-Scala des Dienstes der Mutter«23 . Es handelt sich um einen Fragenkatalog zu vier definierten Arbeitsbereichen (familiäre Entwicklung, soziale Entwicklung der Kinder, gesundheitliche Entwicklung der Kinder, Entwicklung der Kinder im Bereich Freizeit, Kultur und Sport, schulische Entwicklung der Kinder), in dem jedes Item erstens von der Kinderdorfmutter selbst, zweitens von einer Nachbarin und drittens von dem Dorfdirektor in rot (schlecht), gelb (mittelwertig) und grün (gut) bewertet wird. Daraus ergibt sich ein Durchschnitt pro Item und ein Durchschnitt für den jeweiligen Arbeitsbereich. Ausgehend von zahlreichen Gesprächen mit Kinderdorfmüttern in Bolivien, erscheint mir die im Imperativ formulierte Skala24 als effektive Kontrolltechnik, die tatsächlich in zwei Richtungen, als Fremd- und als Selbstkontrolle, funktioniert: 22 | Während der »individuelle Entwicklungsplan« im Alltag einer Kinderdorfmutter in Bolivien eine große Rolle zu spielen scheint, betonte die Leiterin des Collegs für Familienpädagogik in Österreich stattdessen, dass dort das »Mitarbeitergespräch« im Vordergrund stünde und solche Techniken bei ihnen nicht eingesetzt würden. 23 | Im Original heißt das Instrument »Escala de monitoreo de servicio de la madre«. Alle Übersetzungen vom Spanischen ins Deutsche stammen von der Autorin. 24 | Beispiele sind Item 1: »Du schaffst Raum, damit jedes einzelne deiner Kinder mit dir (persönlich) über sein Leben, bevor es zur SOS-Familie kam, spricht.«,
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Erstens erhält die Organisation zumindest teilweise einen Einblick in die Arbeitspraxis der Kinderdorfmutter, vermittelt ihr vor allem aber diesen Eindruck. Zweitens werden die Kinderdorfmütter dazu aufgerufen, sich gegenseitig zu überwachen und die »Qualität« der Arbeit der Nachbarin in den Blick zu nehmen. Dies evoziert einen potentiellen Konkurrenzkampf um gute Mutterschaft im Kinderdorf und verstärkt die bereits angesprochene panoptische Struktur – die Monitoring-Skala vermittelt dabei den Eindruck einer offiziellen und rationalen Bewertbarkeit. Drittens ist der Fragebogen als Aufruf zur permanenten Kontrolle und Regierung des Selbst zu verstehen. Das Beispiel der Monitoring-Skala belegt zudem den Versuch, die Tätigkeit der Kinderdorfmutter zu formalisieren, standardisieren, clustern und damit (in Prozentzahlen) messbar zu machen. Im jährlichen Evaluierungsgespräch wird die Kinderdorfmutter mit diesen Daten konfrontiert, sie soll daran ablesen können, ob sie eine gute oder eine schlechte Mutter sei. Verschiedene Arbeiten zum kulturellen Deutungsmuster Mutterschaft in modernen Gesellschaften haben gezeigt, dass der Maßstab für gute Mutterschaft immer auch die Entwicklung und das Verhalten des Kindes ist (vgl. u.a. Badinter 1988, Schütze 1991). Im »persönlichen Entwicklungsplan« der Kinder, der ebenfalls jährlich erstellt wird, manifestiert sich genau dies: Denn es geht nicht nur darum, ob die Mutter, sondern auch, ob die Kinder ihre Ziele gemäß des Planes erfüllt haben – schließlich wird auch deren Verhalten der Kinderdorfmutter als Vollverantwortliche angelastet. Die Selbstüberwachung der Kinderdorfmütter kann jedoch nur greifen, wenn die Frauen sich tatsächlich mit ihrem Beruf und als Mutter identifizieren – daher die Relevanz der Mütterschulen. Als Versuch, diese Identifikation zu erreichen, deute ich auch die Praxis der Zuteilung von Säuglingen und Kleinkindern. Anhand der Interviews und Protokolle der teilnehmenden Beobachtung lässt sich nachvollziehen, dass gerade den Frauen, die im Hinblick auf die Entscheidung, ob sie im Kinderdorf bleiben wollen, unsicher sind, die Verantwortung für solche kleinen Kinder zugeteilt wird. Die kulturelle Individualisierung der Mutter-Kind-Beziehung, also die Personenabhängigkeit, verhindert eine potentielle Entscheidung gegen die Arbeit in der Organisation – denn der Säugling kann nun nur
Item 12: »Du stellst fest, welches deiner Kinder mehr Aufmerksamkeit braucht, um sein Verhalten zu verbessern.«
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noch von dieser quasi-leiblichen Mutter betreut werden. Die Frauen werden somit gewissermaßen zwangsläufig an die Organisation gebunden. Diese verschiedenen Praktiken zeigen, dass SOS-Kinderdorf ein an verschiedenen Stellen greifendes System der Fremd- und Selbstkontrolle der Arbeit errichtet, in dem sich eine Gleichzeitigkeit »disziplinargesellschaftlicher« und »kontrollgesellschaftlicher« (Deleuze 2000) Techniken zeigt: Eine panoptische Architektur, gegenseitige Überwachung und ein System der Einschließung (vgl. Foucault 1994) sowie Kontrollbesuche seitens der Arbeitgeber sind ebenso zu finden wie Selbstevaluationen und der Versuch der Herstellung maximaler Identifikation mit der Organisation bzw. der Tätigkeit über das Deutungsmuster Mutterschaft.
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Doch es stellt sich die Frage, ob die Politik von SOS-Kinderdorf fruchtet und ob diese Identifikation immer gelingt. Im Zuge der Auswertung des Interviewmaterials mit SOS-Kinderdorfmüttern in Bolivien und Österreich zeigte sich, dass Frauen, die in diesem Beruf arbeiten, sehr unterschiedliche Strategien entwickeln, mit den Anforderungen ihres Berufes und den Identifikationsangeboten der Organisation umzugehen. Im Zuge der Analyse des Materials habe ich eine Typologie von Selbstverständnissen erarbeitet, die die Differenzen in den Deutungsstrategien der Frauen und ihrem Umgang mit den dem Berufsbild immanenten Widersprüchen verdeutlichen soll. In der fallrekonstruktiven und vergleichenden Auswertung des Datenmaterials habe ich insgesamt fünf verschiedene idealtypische Selbstverständnisse als Kinderdorfmutter herausgearbeitet. Diese »Idealtypen« beziehen sich in unterschiedlicher Weise auf das Angebot der Organisation, übersetzen den Beruf Mutter in divergierende individuelle Selbstdeutungen und Alltagspraktiken und bringen je verschiedene Strategien auf, mit den immanenten Widersprüchen des Berufsbildes umzugehen. Dabei zeigte sich bei der Auswertung des Materials, dass die Deutungen abhängig sind von den soziokulturellen Ressourcen, die den Frauen zur Verfügung stehen – und damit auch abhängig von den Kontexten, in denen die Frauen leben. Was das bedeutet, möchte ich im Folgenden genauer zeigen. Nur zwei der fünf idealtypischen Selbstverständnisse als Kinderdorfmutter, die ich aus den Interviews herausgearbeitet habe, sind auf die
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Identifikation als Mutter gerichtet. Ich habe sie die Selbstaufopfernde und die Selbstbestimmte genannt. Die Selbstaufopfernde versteht ihre Tätigkeit im Kinderdorf vor allem als sozialen Dienst zum Wohl der Kinder, den sie hingebungsvoll erfüllt und dafür auch Anerkennung einfordert. In ihren Deutungsstrategien und Begründungsfiguren orientiert sie sich an einem älteren Mutterschaftsleitbild absoluter Selbstlosigkeit und bedient sich zugleich einer religiös aufgeladenen Semantik der Berufung. Die Selbstbestimmte richtet sich hingegen eher auf neuere Anforderungen an autonome Weiblichkeit. Sie versteht sich nicht so sehr als soziale denn als tatsächliche (quasi-natürliche) Mutter der Kinder und begründet dies charismatisch: Die Kinder hätten sie als Mutter auserwählt.25 Beide Deutungsstrategien tauchten im Material in beiden Kontexten auf – wobei insbesondere jüngere Frauen mit gutem Bildungszugang sich an dem neueren Mutterschaftsleitbild orientieren, das Aufopferung als alleinigen Fluchtpunkt für Weiblichkeit ablehnt. Die Identifikation als Mutter ermöglicht beiden Selbstverständnissen, die Widersprüche im Berufsbild zu integrieren und die Entgrenzung von Arbeit und Leben zu legitimieren. Insbesondere die Selbstaufopfernde bekommt mit ihrer Deutungsstrategie im Bezugsrahmen der Politik von SOS-Kinderdorf kaum Schwierigkeiten. Nicht zuletzt ist hingebungsvolle Selbstaufopferung, wie anhand einiger religiös anmutender Praktiken sichtbar wurde, ein Bestandteil der symbolischen Ordnung der Organisation. Die Selbstbestimmte, die die Kinder, die sie versorgt, als ihre ansieht und zahlreiche Naturalisierungsstrategien anwendet, gerät jedoch, zumindest in Bolivien, mit der Fließbandlogik der Organisation – sobald ein Kind aus dem Haus geht, kommt eines nach – in Konflikt: Ihre Identifikation als Mutter ist an eine spezifische Gruppe von Kindern gebunden, daher kann dieses Selbstverständnis nur gelingen, wenn sie als »Mutter für eine Generation« fungiert, was bisher nur in SOS-Kinderdörfern in westlichen Ländern ermöglicht wird. Die kulturelle Logik der Einzigartigkeit und Individualität, die an die Familie geknüpft ist, widersetzt sich der Routinisierung 25 | Ich verwende den Begriff des Charismatischen hier in Anlehnung an Max Webers Konzept der charismatischen Herrschaft. Charisma ist in diesem Sinne eine außeralltägliche Eigenschaft, die einer Person durch andere zugeschrieben wird und als Legitimationsgrundlage eines spezifischen Herrschaftsverhältnisses dient. Für die Geltung des Charisma ist die durch Bewährung zu sichernde Anerkennung durch die Beherrschten entscheidend (vgl. Weber 2005: 734ff.).
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und Standardisierung der Organisation. Konfliktiv ist das Selbstverständnis auch hinsichtlich einiger Organisationspraktiken, wie beispielsweise die Kontrolle der Kühlschränke und Kleiderschränke, die in Kinderdörfern in Bolivien regelmäßig vorkommen und die als Eingriff in die Lebensgestaltung wahrgenommen werden, da sie dem Selbstverständnis als autonomer Frau widersprechen. Hier eröffnet sich das Spannungsfeld zwischen »wahrer Mutterschaft« und »Angestellter einer Organisation«, als die die Selbstbestimmte sich gerade nicht definieren will.26 Im Gegensatz zu diesen beiden sind die anderen drei Selbstverständnisse, die ich aus dem Material herausgearbeitet habe, nicht auf eine Deutung der Tätigkeit als Mutterschaft, sondern als (entlohnte) Arbeit ausgerichtet. Ich habe sie die Professionelle, die Selbstverwirklichte und die empleada (spanisch: Hausangestellte) genannt. Die Professionelle versteht sich als ausgebildete Pädagogin und fordert aufgrund ihrer spezifischen Qualifikation Anerkennung ein. In diesem Sinne folgt dieses Selbstbild einem klassischen Verständnis von Beruf.27 Doch steht sie, wie sich anhand einiger Interviews deutlich zeigt, ob der Unmöglichkeit der Sphärentrennung von Arbeit und Leben vor unauflösbaren Konflikten. Sie fordert folglich eine Verkürzung der Arbeitszeit bzw. mehr Freizeit und eine Reduzierung der Kinderanzahl. Dem Selbstverständnis der Selbstverwirklichten gelingt es hingegen, die Widersprüche des Berufsbildes der Kinderdorfmutter zu integrieren. Die Tätigkeit einer Kinderdorfmutter wird hier als besonders anspruchsvolle und herausfordernde Arbeit gedeutet. Damit erzielt die Selbstverwirklichte einen Distinktionsgewinn und errichtet eine Erfolgsgeschichte hinsichtlich der eigenen Fähigkeiten, diese Herausforderungen zu meistern. Sie deutet ihre Tätigkeit als Arbeitsverhältnis, in dem sie (anders als 26 | Unter den Arbeitsbedingungen in Kinderdörfern in Österreich, wo es, wie in den meisten europäischen Ländern, in denen die Organisation tätig ist, solche Praktiken nur sehr eingeschränkt gibt und wo das Modell »Mutter für eine Generation« eingeführt wurde und die zu versorgende Kinderanzahl geringer ist, minimieren sich auch die Konflikte der Selbstbestimmten. 27 | Mit Max Weber verstehe ich unter Beruf «jene Spezifizierung, Spezialisierung und Kombination von Leistungen einer Person, welche für sie Grundlage einer kontinuierlichen Versorgungs- und Erwerbschance ist« (Weber 2005: 80). Die formalisierte Ausbildung, die in diesem Weberschen Zitat nicht vorkommt, ist ein weiteres konstitutives Element von Berufen.
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die Professionelle und die empleada, deren Deutung ebenfalls auf Arbeit zielt) unersetzbar ist. Für sie bedarf es keiner Trennung zwischen Arbeit und Leben – ihre Arbeit ist für sie, ganz im Einklang mit der Struktur neuer Arbeitsverhältnisse und der Legitimation subjektivierter Arbeit, der Ort der Selbstverwirklichung ihrer Persönlichkeit. Insofern wird die strukturelle Entgrenzung im Berufsbild für die Selbstverwirklichte auch nicht zum Problem. In der Empirie in Bolivien habe ich dieses Selbstverständnis nicht finden können. Dies lässt sich unter Berücksichtigung des soziokulturellen Kontextes erklären: Da der strukturelle Wandel in der gesellschaftlichen Verfassung der Arbeitskraft, wie er von verschiedenen Autoren für den Kontext westlicher Länder beschrieben wird, in Bolivien so nicht zu diagnostizieren und der »Typus des Arbeitskraftunternehmers« (Voß/Pongratz) kaum zu finden ist, ist auch der Selbstverwirklichungsdiskurs, der eine legitimatorische Funktion für diese Art von Arbeitsverhältnissen erfüllt, dort bisher kaum präsent.28 Dass die »neue Kultur des Kapitalismus« (Boltanski/Chiapello 2006) sich in den sogenannten Ländern der »Dritten Welt« so (noch) nicht durchgesetzt hat, gründet zweifelsohne in globalen Ungleichheitsverhältnissen, internationaler Arbeitsteilung und folglich sehr unterschiedlichen Formen und Bedingungen von Arbeitskraftausbeutung bzw. Überlebenssicherung. Die kolonialen und postkolonialen Prozesse der Globalisierung haben nicht nur zu unterschiedlichen Modernen (»multiple modernities« vgl. Eisenstadt 2007) geführt, sondern auch zu einer Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Formen kapitalistischer Verwertung in verschiedenen lokalen Kontexten. Dies erklärt, warum die Transformation der Semantik Mutterschaft im SOS-Kinderdorf von der Figur der selbstaufopfernden Mutter in die moderne Arbeitskraftunternehmerin in Bolivien so (noch?) nicht gelingt. Das Selbstverständnis der empleada hingegen, habe ich nur im Material aus Bolivien finden können. Dieses Selbstverständnis ist, im Gegensatz zu den vorigen, nicht auf eine bestimmte Berufstätigkeit gerichtet; ihre Selbstdeutung ist vielmehr die einer Hausangestellten, die (statt für eine weiße Familie aus der Oberschicht) Haus- und Sorgearbeit für eine euro28 | Aufgrund der sozioökonomischen Verhältnisse in Bolivien ist dort auch der »Typus des verberuflichten Arbeitnehmers« kein Massenphänomen – ein hoher Anteil der Bevölkerung ist in der Landwirtschaft (zum Teil auch in Form der Subsistenzproduktion) oder im informellen Sektor tätig.
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päische Organisation leistet und eben dafür bezahlt wird. Hier steht nicht die berufliche Qualifizierung im Vordergrund, sondern die pragmatische Deutung eines Jobs. Dabei scheint diese in keiner Hinsicht konfliktiv zu sein: Weder die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden, noch die Anzahl der Kinder oder die Kontrollen der Arbeit erscheinen als Problem. Sie sind Bestandteil der Arbeitsrealität vieler ethnisierter Frauen in Bolivien, für die »domestic work« eine übliche Verdienstmöglichkeit insbesondere in Städten ist, in denen die ökonomisch machtvollen Klassen ihre reproduktive Arbeit meist auslagern. Tatsächlich habe ich diese Deutungsstrategie nur aus dem Interviewmaterial mit Frauen herausarbeiten können, die Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung haben. An diesem Beispiel zeigt sich sehr eindrücklich, dass nicht nur Alter, sondern auch der Bildungs- respektive Klassenhintergrund und die Frage der rassistischen Diskriminierung qua der Differenzkategorie »Ethnie« – kurz: der jeweilige Handlungsspielraum der Frauen – eine Rolle für ihre Deutungsstrategien und die daraus hervorgehenden Selbstverständnisse als Kinderdorfmutter spielt. Dass ich das Selbstverständnis der empleada im österreichischen Datenmaterial nicht gefunden habe, verwundert bei näherer Betrachtung nicht: Anders als in Bolivien ist der Beruf der Kinderdorfmutter in Österreich zumindest so weit professionalisiert, dass bestimmte Qualifikationen (Abitur, eine abgeschlossene Ausbildung) Einstellungsvoraussetzung sind. Er kann also nur von Frauen mit einem gewissen beruflichen Handlungsspielraum ergriffen werden – für einige bedeutet er sogar einen sozialen Aufstieg. Eine vergleichbare soziale Position wie die der ethnisierten Frauen, die sich in Bolivien als empleada verstanden haben, wäre im Kontext Österreichs die einer ins Land migrierten Frau, deren Handlungsspielraum durch ihre Illegalisierung und/oder rassistische Diskriminierung (z.B. durch die Nichtanerkennung von in ihrem Herkunftsland absolvierten Abschlüssen) stark eingeschränkt ist und die aus Verdienstgründen den Beruf ergreift. Diese Frauen haben dort jedoch keinen Zugang zum Beruf der Kinderdorfmutter, insofern wundert es nicht, dass dieses Selbstverständnis im österreichischen Material nicht zu finden war. Die Typologie der Selbstverständnisse zeigt, dass es verschiedene Deutungsstrategien von Kinderdorfmüttern gibt und dass Frauen, die in diesem Beruf arbeiten, sich ganz unterschiedlich auf das Angebot der Organisation beziehen und infolge auch anders auf die Praktiken der Kontrolle und der Regierung der Organisation, sowie auf die Subjektivierungstechniken reagieren. Nicht alle verstehen sich als Mütter. Eben dies zeigt das
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Moment der agency der Akteure auf. Sichtbar wird auch, dass die verschiedenen Deutungsstrategien unterschiedliche Konfliktkonstellationen zur Folge haben. Dabei ist die Professionelle das einzige Selbstverständnis, das die Widersprüche zwischen Leben und Arbeit, Privatem und Profession, Affektivität und Effektivität in eine Richtung aufzulösen versucht – was ihr jedoch nicht gelingt, da die Entgrenzung der Arbeit in ihrem Selbstverständnis nicht zu plausibilisieren ist. Die Selbstaufopfernde, die Selbstbestimmte und die beruflich Selbstverwirklichte versuchen hingegen, die Widersprüche in ihr Selbstverständnis zu integrieren. Die Deutungsstrategie der ersten beiden ist auf die Identifikation als Mutter gerichtet. Die Semantik Mutterschaft stellt die Legitimation zur Entgrenzung der Arbeit zur Verfügung. Im Gegensatz dazu definiert die beruflich Selbstverwirklichte ihre Tätigkeit als hoch subjektiviertes Arbeitsverhältnis und bezieht eben daraus Anerkennung. Die Integration der Widersprüche gelingt ihr noch konfliktfreier als den ersten, deren Selbstverständnis, da sie sich als Mutter verstehen, der Institutions- bzw. Unternehmenslogik der Organisation entgegensteht (Kontrolle der Arbeit, Fremdbestimmung durch die Organisation und Einflussnahme auf die Erziehung der Kinder, freie Tage u.s.f.). Die empleada schließlich deutet ihre Tätigkeit ebenfalls als Arbeit – jedoch nimmt sie keine der Identifikationsangebote der Organisation an – weder sieht sie sich als Mutter, noch als Qualifizierte im Bereich der Kindererziehung, ihre Tätigkeit ist vielmehr ein vergleichsweise gut entlohnter Job. Dies ist allerdings genau die Deutung bzw. das Selbstverständnis, das aus der Bedeutungsproduktion der Organisation herausfällt.
(P OST )K OLONIALE M ACHTEFFEK TE UND EIGENSINNIGE P R AK TIKEN Postkoloniale Theoretiker und Theoretikerinnen haben stets die Ambivalenz kultureller Übersetzungsprozesse betont. So verweist beispielsweise Gutiérrez Rodríguez auf das Moment der hegemonialen Einverleibung der Stimmen der »Anderen« als Machtinstrument von Übersetzungen in (post)kolonialen Konstellationen einerseits, wie auch auf Widerstandsmomente, die sich in Handlungsspielräumen von solchen Übersetzungsprozessen auftun, andererseits (vgl. Gutiérrez Rodríguez 2006, ähnlich Bhabha 1994, Spivak 2008). Mit einer solchen Lesart, die sich sensibel für die globalen Machteffekte, Spannungsfelder und Widersprüchlichkeiten
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in Prozessen kultureller Übersetzungen zeigt, möchte ich meine Analyse der Politik von SOS-Kinderdorf beschließen. Die Deklaration der universellen Gültigkeit des Modells der SOS-Kinderdörfer seitens der Organisation ist nicht nur Ausdruck und Reproduktion einer herrschaftlichen Geschlechterordnung, in der mittels des Deutungsmusters Mutterschaft eine komplementäre Binarität von Geschlechtern inklusive der damit einhergehenden Arbeitsteilung festgeschrieben wird, sondern sie ist gleichermaßen Ausdruck postkolonialer Machtverhältnisse. Das eigene Wissen um Mutterschaft, das zu situieren und zu historisieren wäre, wird durch die Organisationspraxis zur allgemeinen Norm erklärt – ohne die Frage aufzuwerfen, ob es andere Normen und Leitbilder gibt. Die Annahme eines einzigen kulturellen Modells, das in alle Kontexte exportierbar sei, ist insofern an sich schon als Herrschaftspraxis zu lesen: In der Universalitätsfigur werden andere Wissensformationen ausgeblendet – der Blick bleibt stets nur auf das Eigene gerichtet, das zugleich zum Zentrum erklärt wird. Die Behauptung der Universalität des Modells Kinderdorf erweist sich somit als zutiefst eurozentristische Argumentationsfigur. Faktisch steht die Praxis der Organisation jedoch zumindest zum Teil im Widerspruch zu ihrer eigenen Behauptung. Denn tatsächlich bedeutet es nicht in jedem Kontext das Gleiche, Kinderdorfmutter zu sein, und die Arbeitsbedingungen in den einzelnen Ländern unterscheiden sich stark. Dabei zeigt sich insbesondere ein Gefälle zwischen westlichen und sogenannten Entwicklungsländern, in denen die Frauen deutlich mehr Kinder zugeteilt bekommen (neun bis zwölf, statt vier bis sieben), keine Partnerschaft führen können und nicht die Option haben, das Modell »Mutter-füreine-Generation« zu wählen. Es fällt nicht schwer, das ökonomische Kalkül hinter dieser Praxis zu erkennen (das mir in einem Gespräch auch als solches bestätigt wurde): Die Angleichung der Arbeitsbedingungen würde eine Reduktion des zahlenmäßigen Betreuungsschlüssels mit sich bringen und es könnten deutlich weniger Kinder untergebracht werden. Faktisch ermöglicht dieser regional abhängige Umgang mit den Rechten und Möglichkeiten der Kinderdorfmutter die Expansionspolitik der Organisation: Da in den Entwicklungsländern die Kinderzahl nicht gesenkt wird und die Frauen auch nicht lediglich eine Generation von Kindern aufziehen (können), kann die Zahl der aufgenommenen Kinder stetig wachsen – und damit wiederum ein höheres Spendenaufkommen rechtfertigen. Diese Effizienzüberlegung führt zu einer Mehr-Ausbeutung der Arbeitskraft von
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Frauen in Entwicklungsländern, die sich, wie ich in Gesprächen in Bolivien wiederholt feststellen konnte, z.T. selbst eine Reduktion der Arbeitszeit bzw. der Kinderanzahl und die Möglichkeit, nur eine Generation von Kindern zu betreuen, wünschen.29 Aufschlussreich sind die Argumentationsfiguren, die diese Politik begründen. Die Differenz der Arbeitsbedingungen wurde in verschiedenen Gesprächen mit Mitarbeitern des Management über kulturelle Differenz legitimiert: Man passe sich den Verhältnissen vor Ort an. In Gesprächen in der Zentrale in Innsbruck wurde beispielsweise konstatiert, dass die Frauen in diesen Ländern nun einmal so viele Kinder hätten und diese auch in vielen Fällen ohne Vater großziehen würden – insofern sei das Modell Kinderdorf dort sehr passend. Stattdessen, so folgert diese Argumentationslogik, wäre eine andere Praxis eurozentristisch, weil sie nicht auf bestehende kulturelle Normen eingehen würde. Unterzieht man diese Begründungsfigur einer näheren Betrachtung, so wird die Konstruktion einer homogenen »Dritte-Welt«-Frau sichtbar, die Chandra Mohanty in ihrem breit rezipierten Aufsatz Under Western Eyes thematisiert hat (Mohanty 1991). Die Legitimation der Organisationspraxis qua der kulturellen Differenz von westlichen und sogenannten Entwicklungsländern homogenisiert und viktimisiert eine bestimmte (wohlbemerkt zahlenmäßig sehr große) Gruppe, leugnet Differenzen zwischen Frauen in diesen Ländern und spricht ihnen zugleich implizit Subjektstatus und Handlungsfähigkeit ab: »DritteWelt«-Frauen werden als nicht fähig erachtet, die Geschlechterordnung ihres kulturellen Kontextes zu überwinden und damit als rückständig imaginiert. Tatsächlich erweist sich die vermeintliche kulturelle Adaptation des Modells SOS-Kinderdorf an andere kulturelle Kontexte als Kontinuität eines kolonialen Machtverhältnisses: Die Arbeitsbedingungen, die für Kinderdorfmütter im Anschluss an den soziokulturellen Strukturwandel in den westlichen Ländern geschaffen wurden und aufgrund derer diese andere Selbstverständnisse entwickeln und andere Lebensentwürfe wie eine Partnerschaft leben können, werden Kinderdorfmüttern in »Entwicklungsländern« verwehrt. Die Begründung, dass die Frauen »es dort nicht anders 29 | Ich möchte an dieser Stelle keine moralische Debatte darüber eröffnen, ob es wichtiger sei, mehr Kindern »ein Zuhause« zu geben oder bessere Arbeitsbedingungen für die Frauen zu schaffen – denn dies gegeneinander auszuspielen erscheint mir keine interessante wissenschaftliche Frage und auch politisch wenig sinnvoll zu sein.
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kennen würden« reproduziert die in der Differenz zwischen Dritter und Erster Welt inhärente Fortschrittslogik, die wiederum die legitimatorische Basis für zahlreiche Entwicklungsprojekte bildet. Problematisch erscheint dabei nicht zuletzt die diesem Argument inhärente Vorstellung von Kultur als relativ statisches Gebilde. Anstatt kulturelle Aushandlungsprozesse und -kämpfe zu fokussieren, in die die Organisation auch intervenieren könnte (und dies durch ihre Praxis auch tut), wird Kultur als Set unveränderlicher kultureller Bräuche und Sitten aufgefasst, denen man sich einerseits scheinbar anzupassen habe, und denen andererseits universelle Normen entgegengesetzt werden müssen.30 Die Strategie der Organisation in Bezug auf die unterschiedlichen Arbeitsbedingungen der Frauen erweist sich in diesem Sinne als doppelte Kolonialtechnik – auf der materiellen wie auf der symbolischen Ebene: Die Mehr-Ausbeutung der Arbeitskraft der Frauen in den Entwicklungsländern wird durch die homogenisierende Konstruktion des kolonialen Anderen legitimiert. Doch anhand der individuellen Selbstverständnisse und Praktiken der Kinderdorfmütter in Bolivien zeigt sich auch die andere Seite der Ambivalenz kultureller Übersetzungsprozesse: die Handlungsmächtigkeit der Akteure in dieser postkolonialen Konstellation und ihr potentieller Eigensinn31. Macht bringt, so Foucault, immer auch Widerstand hervor (vgl. Foucault 2003). Widerstand müsse dabei, so haben postkoloniale Theoretikerinnen und Theoretiker argumentiert, nicht zwingend als intentional gedacht werden, vielmehr sei widerständiges Handeln abhängig vom materiellen und symbolischen Kontext und ließe sich vor allem anhand der Konsequenzen der Handlung beurteilen (Haynes/Prakash 1991: 3). Doch was heißt das für meine Analyse? Die Organisation SOS-Kinderdorf ist auf die Reproduktion ihrer symbolischen Ordnung angewiesen. Nicht nur 30 | Wie meine Untersuchung zeigt, lässt sich auch aus der Gruppe der von mir interviewten Frauen in Bolivien kaum ein homogenes Kollektiv der »DritteWelt-Frau« konstruieren: In einige Selbst- und Weltverständnisse der Frauen fügt sich das Modell der Organisation problemlos ein – jedoch nicht in alle. Auch die unterschiedlichen Deutungsstrategien der Akteure stehen einer solchen homogenisierenden und viktimisierenden Konstruktion entgegen. 31 | Eva Kreisky und Birgit Sauer fassen Eigensinn als »Subjektivität und Rebellion gegen vorgegebene Muster, gegen eingepasste Verhaltensweisen, gegen institutionalisierte Handlungszwänge und politisch vorgegebene Lebensformen« (Kreisky/Sauer 1998: 9).
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hinsichtlich der Außendarstellung, sondern auch hinsichtlich des alltäglichen Funktionierens: Wenn es gelingt, die Frauen im Sinne der Semantik Mutterschaft mit ihrer Tätigkeit zu identifizieren, binden sie sich emotional an die Organisation – ihre Arbeitskraft ist gesichert. Alle eingeführten idealtypischen Selbstverständnisse als Kinderdorfmutter greifen das Bedeutungssystem und die von SOS-Kinderdorf angebotenen Semantiken in der einen oder anderen Weise in ihren Deutungsstrategien auf – bis auf eines: das Selbstverständnis der empleada. Die empleada versteht sich weder als Mutter, noch als qualifizierte Erzieherin der Kinder und nimmt damit keine der Identifikationsangebote an. Mit ihrer Deutungsstrategie entzieht sie sich der Übernahme eines westlich bürgerlichen Diskurses von Mutterschaft, der nicht zuletzt auch eine Norm weißer Mutterschaft (re)produziert. Interpretiert man die Disziplinierungspraktiken der Organisation als neokoloniale Techniken, so erscheint die Abwehr der Bedeutungsproduktion bei gleichzeitiger Erfüllung der erwarteten Aufgaben im Alltag als Camouflage-Technik, als Subversion kolonialer Machtverhältnisse. Denn ausgehend von dem Effekt in der gegebenen Konstellation kann die empleada als widerständige Figur gelesen werden: Sie verweigert die Reproduktion der symbolischen Ordnung von SOS-Kinderdorf. Nicht zuletzt stellt sie eine potentielle Drohung in den Raum: Da sie sich nicht als Mutter der Kinder sieht, kann sie die Organisation auch jederzeit verlassen. Ihre Strategie der Selbstdeutung als Hausangestellte, ist in diesem Sinne eine Form der »unangemessenen Aneignung« – »an inappropriate appropriation that produces uncanny distortions and transformations of the colonizers’ original messages/command/discourse« (Prasad/Prasad 2003: 112). An diesem Beispiel lässt sich gut verdeutlichen, was unter einer Rückeroberung von Handlungsfähigkeit in Formationen von policies zu verstehen sein könnte. Einige der Akteure, die das Ziel der vergeschlechtlichten Politik der Organisation darstellen und deren Handlungsspielräume durch die spezifischen lokalen gesellschaftlichen Konflikte vorstrukturiert sind, verweigern sich schlicht der vergeschlechtlichenden Identifikation und setzen damit nicht nur dem universalen Geltungsanspruch der Organisation etwas entgegen, sondern auch dem moralischen und subjektivierenden Zugriff, der Teil dieser wie aller Formationen von policies ist.
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Energie-Kollektiv – Energie-Autarkie Lokale Energieproduktions- und -konsumgemeinschaften vor dem Hintergrund politisch induzierter Energieregulierung Franziska Sperling
1. E INLEITUNG Durch die Einführung des Erneuerbare-Energien-Gesetzes – kurz EEG – im Jahre 2000 in der Bundesrepublik Deutschland und die schrittweise Umsetzung der EU-Klimaschutzziele befindet sich die Agrarwirtschaft in einem weitgreifenden Wandel hin zur Energiewirtschaft. Vor allem im Bereich der Erzeugung von Erneuerbaren Energien wird deutlich, dass ein derartiger Strukturwandel zum einen mit Chancen und Risiken neuartiger Flächennutzungen einhergeht, zum anderen mit weitreichenden Folgen für die alltägliche Lebenswelt der Landwirte und der dörflichen Alltagsstruktur verbunden ist. Der vorliegende Artikel beschreibt die Vielzahl undurchsichtiger Abhängigkeiten, die mit den neuen Möglichkeiten dezentraler Energieerzeugung einhergehen. Dezentrale Energiewirtschaft – wie Energiewirtschaft insgesamt – ist ein zutiefst politisches Feld, das in Deutschland ganz wesentlich durch das EEG und seine stetige Novellierung strukturiert wird. Am Beispiel eines Bioenergiedorfes in einem traditionell agrarisch bewirtschafteten Raum in Bayern wird gezeigt, wie sich eine Gemeinde mit 70 Haushalten durch die Biogastechnologie mit Strom und Wärme selbst versorgt. Technologisierung, ökonomische Unabhängigkeit und Nachhaltigkeit werden hier unter Rückgriff auf lokal-generierte Ressourcen der sozialen Koordination vorangetrieben. Das hier dargestellte Ineinandergreifen lokal-generierter und translokaler Strukturen verdeutlicht die Voraussetzungen des Wandels hin zu einer dezentralen, lokal eingebetteten Energieerzeugung.
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Im Folgenden wird zunächst das wichtigste politische Förder- und Steuerinstrument für den Bereich Erneuerbare Energien in Deutschland, das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) vorgestellt. In diesem Zusammenhang werde ich darstellen, wie meine Forschung in eine Programmatik einer Anthropology of Policy (vgl. Shore/Wright 1997, 2011) eingebettet werden kann. Ferner werde ich Überlegungen anstellen, was überhaupt notwendig ist, um ein Bioenergiedorf zu errichten. Im Anschluss wird die Entstehung von Expertise und Expertensystemen als analytische Perspektive herangezogen, um dann in einem nächsten Schritt die für das Projekt Bioenergiedorf Kleinschwalbenheim ebenso wichtigen personengebundenen Einbettungsmechanismen wie Vertrauen und Vertrautheit innerhalb der Gemeinde darzustellen. Mit meinem empirischen Material soll belegt werden, dass es sich bei der Verwirklichung des ehrgeizigen Projektes um die Voraussetzung translokaler sowie lokal-gebundener Ressourcen handelt.
2. A NALY TISCHE P ERSPEK TIVEN AUF DEN BIOENERGE TISCHEN
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Energetische Dezentralisierung als politisches Projekt – das EEG und seine Wirkung Man könnte Energie als Leitmedium der stofflichen und ökonomischen Transformation moderner Gesellschaften bezeichnen. Vieles deutet darauf hin: Energie = Wasser, Nahrung, Geld, Macht, usw. Inzwischen ist nicht mehr zu leugnen, dass Energieknappheit und die Suche nach alternativen Methoden zur Energieerzeugung in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen ist. Einspeisefördersätze werden in großen Tageszeitungen schon lange nicht mehr ausschließlich unter Rubriken wie Geld und Investition thematisiert. Verspargelung, Verspiegelung und Vermaisung finden langsam aber sicher ihren Platz im allgemeinen Sprachgebrauch.1 Mit den Begriffen Energiewirt und Offshore wird nicht mehr automatisch das Bild der grauen 1 | Verspargelung bedeutet eine Veränderung des Landschaftsbildes durch Windkraftanlagen (erinnern an Spargel), Verspiegelung durch Photovoltaik-Anlagen und Vermaisung durch Biogasanlagen (wegen des Anbaus von Mais als Energiepflanze).
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Männer aus der Finanzberatung abgerufen. Die Bedeutung von Energieknappheit für den westlichen Lebensstil wird zunehmend über die Bezugnahme auf das EEG diskutiert.2 Dieses Gesetz hat die gerade geschilderten Diskurse über Energieknappheit und Erneuerbare Energien politisch vorweggenommen. Inzwischen dient das deutsche EEG als europaweiter Vorreiter der politischen Steuerung moderner Energiewirtschaft. Es wurde bereits in mehreren anderen europäischen Ländern (und auch außerhalb der EU) als Vorbild für eigene Förderinstrumente herangezogen (REN21Renewable Energy Policy Network for the 21st Century 2011), um den EUweiten, ehrgeizigen 20-20-20-Zielen gerecht zu werden.3 Das EEG stellt daher einen gemeinsamen Bezugspunkt gesellschaftspolitischer Diskurse dar, indem es die energie-, umwelt-, landwirtschafts- und regionalpolitischen Fragestellungen miteinander verbindet. Es bezweckt vor allem in Hinblick auf die Klima- und Umweltschutzziele »eine nachhaltige Entwicklung der Energieversorgung zu ermöglichen, die volkswirtschaftlichen Kosten der Energieversorgung auch durch die Einbeziehung langfristiger externer Effekte zu verringern, fossile Energieressourcen zu schonen und die Weiterentwicklung von Technologien zur Erzeugung von Strom aus Erneuerbaren Energien zu fördern« (§1, Abs.1 EEG 2012). Daneben fördert es die wirtschaftliche Autonomie von Dörfern und Gemeinden außerhalb der Ballungszentren, es untergräbt die Energiemonopole der großindustriellen Energieunternehmen, es wertet wirtschaftliche Nutzung von Landschaft auf und verändert damit wiederum das Verhältnis von Landschaft, Gesellschaft und ökologischer Umwelt. Die Verknüpfung von garantierter Abnahme und garantierten Vergütungssätzen haben das EEG zu einem hoch effektiven politischen Steuerungsinstrument werden lassen. Es regelt »die vorrangige Abnahme, Übertragung, Verteilung und Vergütung dieses Stroms einschließlich des Verhältnisses zu Strom aus Kraft-WärmeKopplung (KWK) sowie einschließlich Prämien für die Integration dieses 2 | Vorläufer des EEG war 1991 das Stromeinspeisungsgesetz, welches die Einspeisung von Strom aus Erneuerbaren Energien in das öffentliche Netz regelte. Am 1. April 2000 wurde das Stromeinspeisungsgesetz durch das EEG ersetzt. 3 | Bis zum Jahr 2020 soll danach der Endenergieverbrauch zu 20 Prozent aus Erneuerbaren Energien gedeckt werden, die Treibhausgase sollen um 20 Prozent reduziert und die Energieeffizienz in Richtung 20 Prozent gesteigert werden (jeweils gemessen an 1990); Vgl. Europäische Kommission (o.J.), Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (2011c).
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Stroms in das Elektrizitätsversorgungssystem« (§2, Abs.2 EEG 2012). Mit dem EEG erhalten Anlagebetreiber 20 Jahre lang eine festgelegte Vergütung für ihre erzeugte Energie.4 Damit gibt das EEG Anlagebetreibern eine kalkulatorische Sicherheit.
Einbettung in die Programmatik einer Anthropolog y of Policy Das in diesem Beitrag behandelte Beispiel der bioenergetischen Dezentralisierung eines Bioenergiedorfs wird in Bezug auf die Programmatik einer Anthropology of Policy (vgl. Shore/Wright 1997) betrachtet. Phänomene der Wechselwirkung zwischen politischer Steuerung und der alltäglichen Aushandlung, der Oszillation zwischen Unterworfenheit politischer Reglementierungen zum einen und eigenmächtigem (und dann auch politischem) Handeln zum anderen, sowie die wechselseitige Strukturierung von Handlungspotentialen zwischen Akteuren auf unterschiedlichen sozialen Ebenen und mit unterschiedlichen Machtinstrumenten, stehen in einer solchen Programmatik im Vordergrund. Die Übertragung derartiger konzeptioneller Ansätze auf die vorliegende Thematik ist nicht nur naheliegend, sondern meines Erachtens notwendig. In gewisser Weise lässt sich argumentieren, dass Produktion, Versorgung und Konsum von Energie in modernen Gesellschaften stets in hohem Maße politisch reguliert waren. Energie ist politisch und war es schon immer. So werden die aktuellen Veränderungen hin zur Dezentralisierung von Energie, ihrer Produktion und ihres Konsums hier ebenso als Formen einer politischen Strukturierung von Handlungsfeldern und sozialen Beziehungen diskutiert, welche bis in die individuellen Lebenswelten hineinreichen. Es lässt sich schließen, dass diese Veränderungen direkt auf den politischen Charakter von Energie an sich zurückzuführen sind, der sich nun in den Orientierungen, den Beziehungen, den Handlungspotentialen von Landwirten, Handwerkern und Gemeinderäten manifestiert. Energie wird zu einem Alltagsphänomen, oder anders gesagt: Die Energieproduktion wird nicht politisiert, sondern
4 | Die Vergütungssätze sollen einen wirtschaftlichen Betrieb der Anlagen ermöglichen und sind nach Technologien und Standorten differenziert. Gefördert wird die Erzeugung von Energie aus: Wasserkraft, Deponiegas, Klärgas und Grubengas, Biomasse, Geothermie, Windenergie, Solarenergie (z.B. Photovoltaik).
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vielmehr veralltäglicht. Das geht ganz wesentlich mit der Relevanz und den neuen Möglichkeiten der dezentralen Energieversorgung einher. Ansätze der soziologischen und kulturanthropologischen Europäisierungsforschung ermöglichen, politische Governance-Strukturen über mehrere Ebenen hinweg in ihrer Wirkungsweise nachzuvollziehen. (Vgl. Beck 1997, Beck/Grande 2004, Hess/Tsianos 2007, Römhild 2007, Welz/Lottermann 2009) Die (EU-)politisch induzierte Transformation des ländlichen Raums kann hier als Regime im Sinne eines Ergebnisses sozialer Auseinandersetzungen beschrieben werden, die in immer wieder zu erneuernden institutionellen Kompromissen münden. (Vgl. Beck 1997, Beck/ Grande 2004) Die Nebenfolgen derartiger Wirkungszusammenhänge und der Mehrebenen-Charakter nationaler wie europäischer Wandlungsprozesse rücken damit automatisch als Effekte des Regimes ins Zentrum einer Forschung einer Anthropology of Policy. Das EEG als ausführendes Instrument der aktuellen Energiepolitik bewirkt nicht nur eine Energiewende in Deutschland sondern auch, dass gleichzeitig neue soziale Formationen – mitsamt beabsichtigter wie unbeabsichtigter Nebenfolgen (vgl. Beck/Grande 2004) – entstehen. Die Strukturen und Bereiche, auf die das Gesetz angewendet wird, sind stark unterschiedlich – gefördert werden schließlich alle Formen von regenerativer Energie – daher ist auch die Umsetzung immer verschieden. Landwirtschaft bekommt somit nicht nur eine neue Bedeutung, sondern es werden auch neuen Praktiken, Techniken und Wissensformen produziert. Es entstehen neue Berufe und Branchen. Auf unintendierte Nebenfolgen wird alle drei Jahre in Form einer Novellierung des Gesetzes reagiert. Es handelt sich – um mit Michel Foucault (1991) zu sprechen – um eine Politische Technologie, also ein Instrument der Machtausübung.
Grundvoraussetzungen für die Errichtung eines Bioenergiedorfs Für das hier dargestellte Fallbeispiel eines Bioenergiedorfs ist es lohnenswert, sich mit Grundvoraussetzungen für die Implementation dieser Form von dezentraler Energieversorgung vertraut zu machen. Unbedingt notwendig ist natürlich Biomasse, die aus der landwirtschaftlichen Produktion gewonnen wird. Die Biogasanlage selbst sollte a) nicht zu weit vom Dorf entfernt sein, weil ansonsten der Wärmetransport zu viel Verlust mit sich bringen würde, und b) nicht zu weit von der landwirtschaftlichen Pro-
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duktion weg liegen. Beides würde nämlich unweigerlich die Rentabilität gefährden. In der Biogasanlage wird Biomasse vergoren und es entsteht Methan – der eigentliche Energieträger. Dieses Biogas kann zum einen als Erdgas aufbereitet und ins Erdgasnetz eingespeist werden, was allerdings erst ab einer bestimmten Größe wirtschaftlich rentabel wird. Zum anderen kann dieses Gas, so die derzeit geläufigere Handhabung, in Blockheizkraftwerken (sogenannten BHKWs) verbrannt werden, um über einen Generator Strom zu erzeugen. Dieses Verheizen ist mit einem weiteren energetischen Output – Abwärme – verbunden. Sowohl der erzeugte Strom als auch die Abwärme sind grundsätzlich vermarktbare Produkte, die aber erst noch zum potentiellen Abnehmer gebracht werden müssen. Genau hier sorgt das EEG dafür, dass Biogas-Energie rentabel wird – und zwar, indem das Gesetz ganz wesentlich in die Gestaltung der öffentlichen Infrastruktur einwirkt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie die entstandene Energie (der erzeugte Strom genauso wie die Abwärme) zum Konsumenten gelangen kann. Aufgrund der Abnahmegarantie5 des EEG sind die Netzbetreiber verpflichtet, den erzeugten Strom ins allgemeine Stromnetz einzuspeisen. Ein verhältnismäßig geringer infrastruktureller Aufwand aufseiten des Netzbetreibers macht es möglich, den Strom ins lokale Stromnetz einzuspeisen. Bei der Abwärme gestaltet sich der Transport etwas komplizierter und aufwendiger. Dieser Vorgang wird aber immer wichtiger, denn seit dem Inkrafttreten der Novelle des EEG 2009 (vgl. EEG 2009) muss der Betreiber die Abwärme in ein sinnvolles Kraft-Wärme-Kopplungskonzept (KWK) einbetten, um die volle Förderung des EEG für die Energieproduktion zu erhalten. Hier spielen die Entfernungen, über die die Wärme transportiert werden muss, eine große Rolle. Ganz klar gilt erstens: Je länger die Strecke, desto mehr Verlust an Wärme. Zweitens kann man hier nicht auf eine schon bestehende Netzinfrastruktur zurückgreifen. Dies führt zu einem weiteren Integrationsdruck. Wenn bisher Biogasanlagen lediglich nach den Kriterien der Biomasse-Anlieferung und der vergleichsweise unproblematischen Einspeisung ins Stromnetz angesiedelt und daher häufig entfernt von Siedlungen gebaut wurden, ist mit dem Inkrafttreten der Novelle des EEG 2009 die geförderte Nutzungsform auf eine Anbindung an eine Wärmenutzungsinfrastruktur angewie5 | Die Energieversorger sind gesetzlich verpflichtet, den gesamten Strom abzunehmen, der in ihre Netze eingespeist wird und dürfen außerdem keine die Einspeisung erschwerenden Hürden aufbauen.
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sen. Dies ist in nicht-industriellen Gegenden am einfachsten durch private Nutzung möglich. Anforderungen und Chancen der Biomasse-EnergieVerwirtschaftung werden dadurch gesteigert: Eigenständige Betriebe der Energieproduktion müssen in lokale, sozio-technische Produktions-Konsum-Konfigurationen integriert werden. Wer im Moment keine Wärmenutzung hat, der tut sich schwer, kostendeckend zu arbeiten. (Vgl. EEG 2009). Zur sinnvollen Abwärmenutzung braucht es also daher zum einen die produktionstechnischen und siedlungsabhängigen Voraussetzungen (z.B. die Nähe zu einem Dorf, einer Schule oder einem industriellen Unternehmen, das mit Wärme versorgt werden kann) und zum anderen erhebliche Investitionen in eine Wärmenetzstruktur, die sich im öffentlichen Raum befindet. Des Weiteren sind willige Abnehmer notwendig, die an diese Wärme- und Stromnetze andocken und im Falle der Wärme dazu auch selbst erhebliche Kosten auf sich nehmen. So müssen beispielsweise, um Abwärme zu nutzen, in großem Maße Heizsysteme in privaten Eigenheimen ausgetauscht werden. Landwirtschaftliche Produktion, Energieproduktion, Energietransport und Energiekonsum müssen also organisiert werden. Elementar sind hierfür nicht nur das technische Wissen und die finanziellen Ressourcen verschiedener Personengruppen, sondern auch die Bereitschaft aller beteiligten Parteien, sich längerfristig zu binden. Das ist vor allem wichtig, wenn man sich vor Augen führt, dass es sich um die völlige Umstellung eines kompletten Wärme-Infrastruktursystems handelt. Schließlich müssen noch die Privatpersonen davon überzeugt werden, sich ein neues Heizsystem zuzulegen.
Ressourcen : Wissen und Vertrauen Es sind also, wie gerade gezeigt, bestimmte Strukturmerkmale und Handlungspotentiale notwendig, damit sich ein konventionell agrarisch bewirtschafteter Raum zu einem Bioenergiedorf hin entwickeln kann. Das gilt auch für das Bayrische Dorf, das hier als Fallbeispiel eines Energiedorfes dienen soll. Neben der politischen Strukturierung der Handlungspotentiale, die ganz wesentlich über das EEG und über mit dem EEG verbundene Reglementierungselemente erschlossen werden, und den materiellen Ressourcen, auf die die Akteure zurückgreifen, wie Finanzkapital, bestehende landwirtschaftliche Produktion etc., werden in diesem Artikel Vertrauen und Wissen als Ressourcen für Aufbau und Nutzung bioenergetischer Pro-
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duktionsstrukturen betrachtet und als analytische Kategorien in der Analyse des Fallbeispiels eingesetzt. Wissen ist nach dem spanischen Soziologen Manuel Castells (2001, 2003) zu einer der wichtigsten Produktivkräfte gesellschaftlicher Entwicklung in der Moderne geworden. Die Veränderung gesellschaftlicher Wissensprozessierung – die Gewinnung, Aneignung und Verwertung von Wissen – nimmt daher einen zentralen Stellenwert in unserer Gesellschaft ein. Das spezifisch moderne dieses Wissens ist die Anwendung von Wissen auf Wissen und Information. Diese Anwendung markiert den Charakter von Wissensarbeit (vgl. Drucker 1993: 69). Die Rekursivität entkoppelt das wertschöpfende Wissen immer stärker von der erfahrbaren Lebenswelt der meisten Gesellschaftsmitglieder. Giddens spricht daher von funktional differenzierten Expertensystemen und versteht darunter »Systeme technischer Leistungsfähigkeit oder professioneller Sachkenntnis, die weite Bereiche der materiellen und gesellschaftlichen Umfelder, in denen wir heute leben, prägen« (Giddens 1997: 40). Laien vertrauen in diese Systeme, ohne über die ablaufenden Prozesse aufgeklärt zu sein, geschweige denn über das notwendige Wissen darüber zu verfügen (vgl. Giddens 1997: 42). Allerdings gibt es Zweifel an der Konzeption von sozialem Wandel rein über Expertensysteme, die losgelöst von sozialen, räumlich gebundenen Beziehungen funktionieren. Wirtschaftliches Handeln lässt sich nur sehr begrenzt über die orthodoxe mikroökonomische Modellierung von Angebot-Nachfrage-Matchings ohne Ansicht der Person verstehen (vgl. Granovetter 1985). Die Akteure sind eingebunden in soziale Beziehungen, und diese Beziehungen wiederum verändern das Handeln an den Märkten. Soziale Beziehungen spielen also durchaus eine wichtige Rolle. Vertrauen und Vertrautheit bilden auch bei wirtschaftlichem Handeln ein Verhältnis wechselseitiger Ermöglichung und Verstärkung. Communities of Practice (vgl. Wenger 1998) – Lerngemeinschaften – scheinen sich zwar unter Bedingungen globaler Kommunikation vom Raum als Strukturierungsmechanismus immer mehr abzukoppeln, gemeinsame Geschichte und Referentialität werden aber auch hier als wichtige Bedingungen erkannt. Nachbarschaften, Gemeinden, Viertel müssen zwar nicht diese Form der Lern- und Entwicklungsgemeinschaft annehmen, aber es besteht doch kein Zweifel, dass Vertrautheit aufgrund von Herkunft und Vis-à-Vis-Interaktion Kooperationen begünstigt. Diese Tatsache scheint vor allem in dem Maße wieder an Bedeutung zu gewinnen, wenn es um Landschaft, technische Anlagen, Leitungen und Häuser geht. So ist es auch im Sinne der an-
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schließenden Fallbeschreibung anzunehmen. Direkter und häufiger Kontakt zu einer Person, der Bekanntheitsgrad der Akteure untereinander, die Erfahrungen, die man in der Vergangenheit miteinander gemacht hat, das Ansehen und der Ruf einer Person – all dies trägt dazu bei, dass vertrauensvolle Zusammenarbeit wahrscheinlich ist (vgl. Haug 1997: 17). Häufig (und oft zwangsläufig) ist das Vertrauen in kleineren isolierten Gruppen groß, weil es sich um geschlossene soziale Netzwerke handelt (vgl. ebd.). Auch das in der kommenden Fallanalyse diskutierte Bioenergiedorf bzw. die Genossenschaft kann als eine solche Kleingruppe gefasst werden, in der die Bedingungen zur Entstehung und Aufrechterhaltung von Vertrauen existieren.
3. K LEINSCHWALBENHEIM
UND SEINE
E NERGIEGESCHICHTE 6
Das EEG ist im Hinblick auf die beforschte Region in Bayern (das Nördlinger Ries) ein enormer Wirtschaftsfaktor. Für viele der landwirtschaftlichen Betriebe, die kurz vor dem Ruin standen, bedeutet eine Umstellung auf Energiewirtschaft, getragen durch das EEG, das sichere Überleben. In der Region gibt es inzwischen ca. 80 Anlagen. Laut offiziellen Angaben war 2009 das erste Jahr seit langem, in dem wieder nennenswert Geld in der Landwirtschaft verdient wurde, was eindeutig auf die Energiebranche zurückzuführen ist (vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 2011a). Und nicht nur Land-Energie-Wirte profitieren davon (vgl. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 2011b). Im Umkreis von 30 km sind drei neue Firmen entstan6 | Die im Folgenden dargestellte Situation basiert auf meinen ersten Feldforschungsergebnissen für mein Dissertationsvorhaben. Während meiner Forschungsaufenthalte 2010/2011 besuchte ich das Bioenergiedorf mehrmals und führte Gespräche mit Akteuren. Teilnehmende Beobachtungen fließen ebenfalls in meine Auswertung mit ein. Der bereits vor den Interviews bestehende persönliche Kontakt zur Gemeinde soll hier nicht verleugnet werden, da ich meine Kindheit und Jugend ebenfalls in der Region in Bayern verbrachte und mit den beiden Haupt-Initiatoren des Nahwärmeprojektes, Martin und Thomas, zur Schule gegangen bin. Die Namen der Akteure genauso wie die Ortsbezeichnung sind anonymisiert. Bei dem Bioenergiedorf handelt es sich um eine Gemeinde in Bayern mit ca. 260 Einwohnern und 70 Haushalten.
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den, die sich nur auf die Planung und Installation von Biogasanlagen bzw. auf die Beratung der Betreiber spezialisiert haben. Sie beschäftigen zwischen 150 und 200 Personen (vgl. Alt 2011). Die lokalen Banken verfügen über ein sehr hohes Kreditvolumen im Bereich Erneuerbare Energien und unterstützen Biogasanlagen-Vorhaben aufgrund der 20-jährigen Vergütungsabsicherung durch das EEG gerne. Ausgangspunkt der Entwicklung von Kleinschwalbenheim zu einem Energie-autarken Dorf ist die Familie von Martin, Peter und Bernd. Martin ist der älteste von vier Geschwistern. Seine beiden Brüder Peter und Bernd waren ebenso beteiligt. Sie haben sich systematisch innerhalb der letzten Jahre das dazu nötige professionelle Wissen erarbeitet. Martin hat ein Studium der Materialwissenschaften in Göttingen begonnen, das er bis auf die Masterarbeit abgeschlossen hat. Bruder Bernd studiert Erneuerbare Energien und Umwelttechnik und Maschinenbaustudent Peter hat sich mit seiner Diplomarbeit in den Bereich Regelungs- und Steuerungstechnik eingearbeitet. Martins Schulfreund Thomas aus dem benachbarten Ort ist studierter Elektrotechniker und stand Martin von Anfang an mit Rat und Tat zur Seite. Thomas hat sich nach seiner Ausbildung und anschließendem Studium als Wärmetechniker selbstständig gemacht und das komplette Heizsystem in Kleinschwalbenheim installiert.
Der Bau der Biogasanlage Die Idee zum Bau einer Biogasanlage kam bereits zu Martins Kinderzeit in den frühen 90er Jahren in der Familie auf. Damals wäre nur eine Kleinstanlage für die Verwertung der Gülle aus der Viehhaltung des 30 Rinder umfassenden landwirtschaftlichen Familienbetriebs infrage gekommen. Als der Ausstieg der Eltern aus dem operativen Geschäft um die Jahrtausendwende absehbar war, wurde diese Idee wiederbelebt, auch weil weitere Viehwirtschaft mit erheblichen Investitionen verbunden gewesen wäre. Im Jahre 2003 jedoch war durch das EEG absehbar, dass jede Form der Erneuerbaren Energien ein lukrativer Verdienst sein würde. Ein neuer Kuhstall kostet ca. 1 Mio. Euro, eine Biogasanlage kostet mindestens 2 Mio. Euro. Die Investitionen im Bereich der Erneuerbaren Energien sind höher, aber werden aufgrund der 20-jähringen finanziellen Sicherheit durch das EEG leichter ausgegeben. Somit entschied sich die Familie nach der Verabschiedung der EEG-Novelle von 2003 eine Biogasanlage zu installieren. Diese Investition in den alten Hof – aber in eine ganz neue Bewirtschaf-
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tungsform – verlief ganz im Sinne einer Nebenerwerbslandwirtschaft, welche inzwischen das verbreitete Landwirtschaftsmodell in dieser Region darstellt und ein weiteres Standbein neben dem eigentlichen Job bietet. Die Investition hat sich im Nachhinein als recht sinnvolle Entscheidung erwiesen, obwohl gerade die Eltern durch das enorme finanzielle Risiko sehr skeptisch waren. Im Frühjahr 2004 begann die Planung, gebaut wurde im Herbst, und im Dezember des gleichen Jahres wurde die Anlage erstmals in Betrieb genommen. Die Familie plante die Anlage mit 190 kW als eine reine NawaRo-Anlage (Nachwachsende Rohstoffe), die mit Biomasse des eigenen Ackerlands bestückt wurde. Nach anfänglichen Schwierigkeiten lief die Anlage ein Jahr später relativ störungsfrei. Nachdem immer mehr Landwirte Fläche zum Verkauf anboten und diese Möglichkeit Stück für Stück von Martins Familie genutzt wurde, beschloss die Familie 2006 die Anlage auszubauen und damit die Leistung auf 380 kW zu verdoppeln. Zusätzlich wurde ein weiterer Behälter gebaut, denn man brauchte mehr Lagerkapazität. Die drei Brüder hatten sich bewusst dazu entschlossen, keine externe Anlagentechnikfirma zu engagieren, wie es eigentlich häufig der Fall ist. Sie haben den Großteil ihrer Biogasanlage aufgrund ihres jeweiligen Studiums selbst installieren können. Mit Inbetriebnahme ergab sich außerdem, dass fortan der Mist aus den zwei großen Nachbarbetrieben der Umgebung verwertet wurde. Anfangs stellten jene die Gülle umsonst zur Verfügung und erhielten als Gegenleistung den Gärrest als Dünger zurück.7 Die Anlage selbst befindet sich ein Stück außerhalb des Hofes und des Dorfes. Zusätzlich zur Biogasanlage hat Martin im Herbst 2004 Photovoltaik-Anlagen auf dem Stall und auf dem Dach des Gebäudes für den Maschinenfuhrpark errichtet. Martins Familie trennt den Betrieb in den Bereich, in dem Landwirtschaft als Hobby betrieben wird, und darüber hinaus in zwei unterschiedliche Firmen: Da ist zum einen die Biogasanlage außerhalb des Dorfes (mit einer Produktionsleistung von 600 kW) und zum anderen das Blockheizkraftwerk (BHKW) am Hof mit den Photovoltaik-Anlagen (400 kW). Die Trennung in zwei Firmen ist auf die Vergütungssätze des EEGs zurück-
7 | Derzeit bestücken Martin und seine Brüder die Anlage mit ungefähr 35-40% tierischen Abfällen, der Rest sind Feldfrüchte, also Mais und Getreide. Insgesamt sind es im Jahr ca. 20.000 Tonnen Biomasse.
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zuführen, die sich nach der Größe der Anlage richten.8 Derzeit fahren die Anlagen der Familie 800 kW bis 1 Megawatt Leistung im Dauerbetrieb. Das ist eine Größe, die sich aufgrund der lohnenden Vergütung voraussichtlich nicht mehr ändern wird. Die Kosten für die komplette Anlage beliefen sich insgesamt auf ca. 2-2,5 Mio. Euro, die sich aber relativ zügig auszahlen werden. Üblicherweise kosten Anlagen in der installierten Größe 5 Mio. aufwärts. Aber Martin und seine Brüder haben immer versucht, günstig zu bauen und vor allem selber zu bauen, selber zu entwickeln: »Das ist eben die Eigenleistung, die da in den letzten Jahren drin steckt.« Die Mischung aus Know-how und Know-what des Teams um Martin wäre allerdings ohne Zweck, wenn sie sich nicht bereits am elterlichen Betrieb herauskristallisiert hätte: »Ohne den Landwirtschaftsbetrieb bei uns gäbe es die Biogasanlage nicht. Es wäre kein unternehmerisches Denken von früher vorhanden, keine Fläche, die zum Einstieg Basis war. Von der Bank hätten wir kein Geld bekommen, weil die Sicherheit für damals eine halbe Millionen zu investieren, die war halt einfach durch die landwirtschaftliche Fläche gegeben, die wir damals hatten. Die ganzen Biogasanlagen aber auch ganz viele Windenergieanlagen kommen ja aus diesem landwirtschaftlichen Bereich raus.«
Hier wird allerdings nicht nur die Bedeutung des ökonomischen Kapitals angesprochen, das in Form des alten Betriebes als Sicherheit fungierte. Landwirtschaft ist hier auch mehr: Eine Art des ökonomischen Denkens, die damit zurechtkommen muss, dass immer ein sehr hoher Anteil der Mittel gebunden ist. Man muss die Bereitschaft aufbringen, über lange Zeiträume hohe Beträge zu investieren. In der konventionellen Landwirtschaft war es bereits notwendig, mit großen Summen umgehen zu können. In der Energiewirtschaft hat sich das mit diesen riesigen Investi8 | Folgende Staffelung ist im EEG festgeschrieben: bis 150 kW, 150 bis 500 kW, 500 kW bis 5 MB, 5 MB bis 20 MB. Je kleiner die Anlage, desto höher die Grundvergütung. Zusätzliche Boni bei der Erzeugung von Energie durch Biomasse sind unter folgenden Bedingungen möglich: Durch die Verwendung von nachwachsenden Rohstoffen oder Gülle (Nawaro-Bonus, darin enthalten: der sogenannte Gülle-Bonus), die Anwendung von Kraft-Wärme-Kopplung (KWK-Bonus), die Nut zung innovativer Technologien (Technologie-Bonus), oder die Einhaltung von Grenz werten bei den Formaldehyd-Emissionen. (Vgl. EEG 2009)
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tionen im Bereich Biogasanlage und Wärmenetz noch einmal stark verändert. Martin sieht das heute recht gelassen: »Damit gehen wir halt um. Da gehen große Summen rein und dann große wieder raus. Das macht mir gar nix mehr aus mittlerweile, wenn ich 3 Millionen Schulden habe, dann ist das halt so.« Er selbst bezeichnet dies als »unternehmerisches Denken« und erklärt seine Gelassenheit dadurch, dass das Unternehmen läuft und einiges abwirft. Die landwirtschaftliche Produktion im konventionellen Sinne ist für Martin und seine Familie inzwischen zweitrangig: »Das kostet für mich eigentlich nur Geld. Wenn es komplett ausgelagert wäre, dann wäre es billiger. Es ist für mich eher ein Ausgleich. Ich verdiene mein Geld mit der Biogasproduktion. Bei den meisten ist das nicht so, die kommen noch viel mehr aus der Landwirtschaft und da heißt es: ›Wer Fläche hat ist der King‹.« Doch Martin ist Energiewirt.
Die Idee zum Nahwärmenetz Die Änderungen der Förderung hinsichtlich der Kraft-Wärme-Kopplung im EEG mit dem Inkrafttreten der Novelle 2009 waren bereits ein Jahr zuvor bekannt. Dies brachte Martin und seine Familie auf die Idee, das Dorf selbst mit einem eigenen Nahwärmenetz zu beheizen.9 Anfangs zeigten 20 weitere Haushalte Interesse. Somit wurde 2008 die Anlage erweitert. Damals hatte das Team um Martin nach eigenen Angaben überhaupt keine Ahnung. Ähnlich wie beim Bau der Biogasanlage galt daher auch für das Nahwärmenetz: Learning-by-Doing und möglichst viel selbst installieren, planen, bauen. Besonders wichtig sei es, so Martin, sich mit der Kommune zu einigen, auf deren Grundstück die Wärmeleitungen verlegt werden. Martin hat daher sehr viel Mühe in die konzeptionelle Planungsarbeit gesteckt. Insgesamt hat das Team einen Zeitraum von ca. einem Jahr für das komplette Nahwärmenetz veranschlagt, also von dem eigentlichen Entschluss bis zur Inbetriebnahme.
9 | Schon immer spielte die Familie mit dem Gedanken zumindest das Haus mit der Abwärme der Biogasanlage selbst zu beheizen und hatte daher auch schon einige Möglichkeiten bezüglich des Wärmetransports von der Anlage zum Wohnhaus bedacht. Somit sahen sie mit dem Inkrafttreten der Novelle des EEG 2009 die Chance diese Verbindung über die Gasleitung zu schaffen und ein BHKW aufzubauen, um im Ort direkt Wärme zu erzeugen.
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Die erste Phase bedeutete intensive Öffentlichkeitsarbeit: »Ganz klar – das ist das Wichtigste! Du musst die Leute ins Boot holen, musst sie von der Idee überzeugen!« Glücklicherweise stellten sich Martin gleich einige Freiwillige als Team zur Verfügung, »die uns Arbeit abgenommen haben und Lust drauf hatten, sich da mit reinzuhängen«. Ein Dreivierteljahr waren Martin und sein Team mit der eigentlichen Planungsarbeit beschäftigt, was bedeutete: Anträge für Zuschüsse schreiben, die Genossenschaftsgründung, dann die Bauphase, in der die Wärmeleitungen verlegt und die Häuser im einzelnen bearbeitet wurden, »also ein Jahr – aber das meiste davon Theorie!« Um ein solches Wärmenetz bauen zu können, bedarf es natürlich finanzieller Unterstützung. In Deutschland sind hierfür bestimmte Förderprogramme vor allem von der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) vorgesehen. Diese Gelder sollen allgemein dazu verwendet werden, den CO2-Ausstoß in Deutschland zu verringern. Dabei ist der Gedanke des Nahwärmenetzes einer der günstigsten Möglichkeiten und zusätzlich bringt er auch noch ein wenig Kaufkraft aufs Land. Die Gemeinde Kleinschwalbenheim ist eine der ersten bundesweit, die ein solches Förderprogramm der KfW in Anspruch genommen hat. Martin und sein Team haben den Antrag im Juni 2009 gestellt und im Oktober 2009 wurde er genehmigt. Das sogenannte Förderprogramm Erneuerbare Energien-Premium (vgl. KfW o.J.) gibt es allerdings erst seit Anfang 2009, und es wurde später aufgestockt. Insgesamt handelt es sich um ein recht breit angelegtes Förderprogramm für den Bereich Erneuerbare Energien – was zur Folge hat, dass das Personal der KfW sich auf allen Gebieten sehr gut auskennen muss. Durch deren geringe Erfahrung zum damaligen Zeitpunkt war es jedoch auf beiden Seiten ein kleines Abenteuer: »Wir hatten den Eindruck, dass da nur wenige Bescheid wussten bei der KfW. Es ging immer hin und her: Wir wollten etwas von ihnen übermittelt bekommen, wie sie sich das so vorstellen – umgekehrt haben wir ihnen dann Rückmeldung gegeben, wie das denn überhaupt machbar ist. Theorie und Praxis sind bekannterweise zwei verschiedene paar Schuhe. Da haben wir damals schon viel telefoniert und da ist denen auch so manches Problem erst klargeworden, was sich da so ergibt aus ihren Vorgaben.«
Hier zeigt sich, dass beide Seiten noch Erfahrungen sammeln mussten.
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Translokale Ressourcen : Wissen und E xpertensysteme – Qualitätssicherung, technisches und finanzielles Know-how Wie bereits angesprochen hat Martins Team alles eigenständig geplant, selbst entworfen und umgesetzt, obwohl anfangs keiner wirklich Erfahrung mit der Konzeption eines Wärmenetzes hatte. Es gilt hervorzuheben, dass es auch im Umkreis kaum Leute gab, die ihnen hätten weiterhelfen können, da die nötige Expertise und Qualifikation zum damaligen Zeitpunkt (noch) nicht vorhanden war. So ist das Team um Martin »in das Ganze reingewachsen und verwurzelt und haben echt ganz viel gelernt«. Von Elektrik über Heizungsbau, Bauleitungsbau, Verfahrenstechnik – Bereiche, die sie zwar theoretisch teilweise durch das Studium kannten und die man nach ihren Angaben natürlich auch extern machen lassen kann – haben sie selbst angewandt und umgesetzt. »Es hat uns so interessiert, wir arbeiten uns da ein und versuchen das dann selber optimal zu machen. Es ist ein so vielseitiges Gebiet!« Die technische Ausgestaltung hat sich dabei als stetiger Prozess der Anpassung, Optimierung und Innovation erwiesen. Martins Team hat immer wieder etwas »umgebaut, da hat immer irgendetwas nicht gut funktioniert oder uns ist was besseres eingefallen oder es gab eine bessere, ausgefeiltere Technik. Zwischendurch haben wir immer wieder Störungen behoben etc. Ja, das haben wir dann selber verändert oder verbessert. Wenn wir die Zeit hätten, dann könnten wir auch mittlerweile schon 10-15 Komponenten verkaufen, die wir verändert oder entwickelt haben, viele andere könnten das auch brauchen.« Aber zur direkten Vermarktung dieses Wissens gibt es keine wirklichen Ambitionen. Sie definieren sich nicht als Technik-Verkäufer, ja nicht mal als Techniker, sondern vielmehr als »Biogas-Pioniere«. Dass sie inzwischen in die Expertenrolle hineingewachsen sind, war für sie überraschend: »Wir sind da regelrecht überrannt worden, keiner hat sich das so vorgestellt.« Martin entwirft derzeit aufgrund seiner Erfahrungen und der erlangten Expertise die konzeptionelle Planung für andere Nahwärmenetze im Umkreis und berät interessierte Gemeinden in der Region. Wissen zurückzugeben heißt aber nicht Wissen zu vermarkten. Martin überlegt, seine Masterarbeit mit einer Art Handbuch bzw. Leitfaden für Biogasanlagen in Kombination mit Nahwärmenetzen zu schreiben. Er würde gerne seine Erfahrungen und Erlebnisse weitergeben, um Hilfestellung zu leisten bzw. Fehler zu vermeiden. Speziell denkt Martin in Dimensionen regionaler
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Wiedereinbettung und Wertschöpfung: »Junge Leute gehen in die Stadt, studieren und fühlen sich dann schon auch verpflichtet, das Wissen wieder zurückzubringen und damit was zu bewirken, dort, wo sie herkommen. So ist das bei mir schon auch!« Er bezeichnet dies als Wissenstransfer, denn es handelt sich um Wissen, das man sich außerhalb der Region angeeignet hat und »wieder zurückbringt aufs Land«. Die Beschreibung dieser Gruppe von jungen Energiewirten darf aber nicht auf eine Skizze von technikbegabten Bastlern reduziert werden. Martin und seine Familie sind Unternehmer – heute noch mehr als zu Zeiten des alten Hofs. Und sie bewegen sich in einer Branche, die in hohem Maße politisch reguliert ist, und die – das kann man zumindest für den Fall der Energie-Landwirtschaft, wenn nicht gar für Landwirtschaft im Allgemeinen sagen – ohne staatlich koordinierte Kreditprogramme und Subventionen sicher nicht wirtschaftlich funktionieren könnte. Auch hier ist es Wissen, das verlangt wird, aber weniger das technische Finden und Probieren, sondern ganz andere Arten von Kompetenzen. Zum ingenieurswissenschaftlichen Knowledge-Worker kommt ein Verständnis für bürokratische Verfahren und Programme, wie es inzwischen aus der Projektverwaltungsarbeit bekannt ist. Letzteres erscheint eine besonders wichtige Kompetenz in einem politisch regulierten Regime wie dem der Energiewirtschaft.
Lokal-gebundene, dörfliche Gemeinschaft : Vertrauen und Vertrautheit »Aber es haben ganz viele mitgemacht! Die haben gesagt: Da bin ich dabei, da diskutieren wir gar nicht, es hat mich echt überrascht, wie der Zusammenhalt plötzlich da war. Das hätte ich mir so nicht vorgestellt vorher – nie!« Die Aufklärung und Öffentlichkeitsarbeit in der Dorfgemeinschaft erscheint für die Umsetzung der Nahwärmenetz-Idee der Dreh und Angelpunkt zu sein. Insgesamt gab es in Kleinschwalbenheim vier große Dorfversammlungen, ausgegliedert in die Blöcke Technik, Gesellschaft, Finanzen – und dann die Gründung der Genossenschaft. Zusätzlich bildete sich eine Planungsgruppe, die im Zwei-Wochen-Takt von Anfang Mai bis Anfang Oktober 2009 tagte. Auch einige Gemeinderäte waren Teil der Planungsgruppe, sodass es eine Verflechtung mit dem Gemeinderatsgremium gab. Allerdings spielte es eine große Rolle, dass die Planungsgruppe nicht der offizielle Gemeinderat war. Es handelte sich vielmehr um eine
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heterogene Gruppe Interessierter, die das Projekt voranbringen wollten: »Die einen waren Rentner, die früher am Bau gearbeitet haben und helfen wollten, die anderen waren z.B. ein Elektro-Ingenieur, und zwei Bänker waren auch dabei. Das war dann eine gute Mischung!« Während der diversen Treffen wurde gemeinsam geplant, diskutiert und die verschiedenen Ergebnisse aus den jeweiligen Bereichen zusammengetragen. Somit »stand zum Schluss das Ganze und war auf viele Schultern verteilt. Das fällt vielen [aus der Gemeinde] leichter zu akzeptieren.« Es gab verschiedene Ansprechpartner, die alle in den Prozess mit eingebunden waren. Martin ist bei der Öffentlichkeitsarbeit aufgefallen, dass es sehr wichtig ist, sich für sämtliche Fragen der Gemeinde Zeit zu nehmen und am besten auf jede Frage eine Antwort zu wissen, auch wenn öfter die gleichen Fragen gestellt werden und es schwierig ist zu vermitteln, wie das Wärmenetz später aussehen soll, oder was es für jeden einzelnen Haushalt bedeutet, die Leitungen zu verlegen und eine neue Heizung einzubauen. Aber genau darin liegt die Herausforderung. Man muss Vertrauenswürdigkeit schaffen durch Know-how: »Man hat‘s hundertmal erklären können und die haben das eigentlich auch schon mal auf einem Bild gesehen, aber die konnten sich das nicht vorstellen, wie das da drin ausschaut. Wenn man was anfassen kann, dann ist‘s was anderes. Darum haben wir hinten [bei der Biogasanlage] zum Beispiel auch ein Schnittmodell von dem Speicher bei der Übergabestation.« Das genaue Berechnen, die exakte Kalkulation und natürlich das technische Wissen scheinen sehr wichtig. Nicht nur für die Umsetzung des Vorhabens an und für sich, sondern auch, um in der Öffentlichkeitsarbeit Aufklärung und Transparenz zu bewirken. Dies schafft wiederum ein Vertrauen in Expertensysteme durch bereits bekannte Personen. Man muss in der Lage sein, den Leuten erklären zu können, warum der jeweilige Preis, die jeweilige Konstruktion, das jeweilige Vorgehen gerechtfertigt sind.
Die Gründung der Genossenschaft Vor diesem Hintergrund war die Gründung der eingetragenen Genossenschaft Nahwärme Kleinschwalbenheim eG eine wichtige Grundlage für die Demokratiefähigkeit der Gemeinde und erzeugte Vertrauen und Transparenz für das Wärmenetzprojekt: »Eine ganz normale Genossenschaft mit allem drum und dran, was dazugehört. Das kennen die Leute von ihrem Sportverein oder aus der Trocknungsgenossenschaft von früher her – da
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wissen sie, was sie damit anfangen können.« Eine Genossenschaft besteht aus drei Organen: Vorstand, Aufsichtsrat und die Generalversammlung. Alle 70 Haushalte sind gleichberechtigte Wärmeabnehmer und wählen mit je einer Stimme zwei Vorstandsmitglieder und drei Aufsichtsratsmitglieder. Der Genossenschaftsvorstand wurde so auf fünf Schultern aufgeteilt, jeder hatte seinen Fachbereich: von Bau und Planung über Finanzen bis hin zu organisatorischen Aufgaben. Bei Entscheidungen gilt der Mehrheitsbeschluss. »Wir wollten ja eigentlich auch ursprünglich eher so was wie eine AG oder eine GmbH machen, weil wir gedacht haben, das ist eigentlich moderner und passt vielleicht besser. Aber in dem Fall war es wichtiger, dass die Leute sich daheim fühlen in der Gesellschaft und da haben wir die Genossenschaft gemacht. Im Nachhinein war‘s auf jeden Fall richtig.« Die Überzeugungsarbeit klappt nach Martins Auffassung besser, wenn die Bewohner Vertrauen haben und »dich bereits als Kind schon kennen«. Es kann hier allerdings nicht geleugnet werden, dass auch Konflikte innerhalb der Gemeinde und zwischen den Landwirten in der Umgebung existieren. Gerade weil Martin und seine Familie durch den Energiebetrieb ein verhältnismäßig hohes Einkommen haben, gibt es einige Neider aus anderen landwirtschaftlichen Betrieben. Auch deshalb sei der Entschluss zur Gründung der Genossenschaft ein Mittel gegen Neid und eine Besänftigung gewesen: »Ich bin gleichberechtigt, ich bin Partner und Kollege, die sehen mich ab und an mit dem Bulldog vorbei fahren. Das ist eine ganz andere Beziehung, auch wenns faktisch nicht so ist, aber vom Gefühl her für die Leute, sie handeln mit Gleichberechtigten, mit Gleichgesinnten. Das machts einfacher für sie.« Außerdem hat Martins Familie bereits im Vorfeld des Baus des Wärmenetzes versucht, das Vertrauen der umliegenden Landwirte für sich zu gewinnen. Für die Bestückung der Biogasanlage hat sie mit allen Landwirten aus der Gegend kooperiert. Es war immer wichtig, nicht gegen sie zu arbeiten. Die Idee lag darin, sie alle gleichermaßen in die Ernte mit einzubinden und ihnen die Biomasse zuverlässig über das ganze Jahr hinweg abzukaufen. So verkaufen die anderen Landwirte ihren Mais, ihr Getreide und ihre Gülle an die Familie. Sie schätzen die stabile Partnerschaft. »Da ist ein Vertrauensvorschuss bzw. Vertrauensbasis da. Und sie nehmen es mir dann auch nicht so übel – die wissen hier ja auch, wie viel Umsatz wir machen und dass wir gutes Geld verdienen... Da sind sicher auch manche neidisch, aber verkraften das und können so auch als Landwirte besser damit umgehen, als wenn ich da nun jemand von woanders her wär, der hier die Biogasanlage gebaut hat und
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jetzt hier von ihnen was kaufen will.« Somit sind es bekannte/vertraute Experten, die das Projekt umsetzen und betreuen. So erklärt Martin sich auch den Umstand, dass sich die Kommune an dem Projekt beteiligte, schließlich ist es bemerkenswert, dass die einzelnen Dorfbewohner sich alle auf das Nahwärmeprojekt in der Preisklasse eingelassen haben. Zum einen ist die Verwirklichung des Projektes nur mithilfe der translokalen Ressourcen möglich. Zunächst bedarf es sogenannter professional people, die sich mit der Materie auskennen und sich das für die Umsetzung des Projektes notwendige Wissen über ein Studium angeeignet haben. Des Weiteren müssen sich diese professional people bestens mit der politischen Seite, dem EEG und der Finanzierung, den Fördermitteln u.ä. auskennen. Man könnte hier mit Giddens (1997) durchaus von einem Expertensystem sprechen. Allerdings – und das ist die Herausforderung – kann auf der anderen Seite dieses Expertensystem nicht ohne die Einbettung in die dörfliche Gemeinschaft agieren: Vertrauen und Vertrautheit, Genossenschaft. Ich unterstelle diesem Projekt also eine enorme voraussetzungsreiche Abhängigkeit dieser beiden beschriebenen Ressourcen, die wie eine Art Abhängigkeit nur in Verbindung miteinander eine Umsetzbarkeit erfahren. Es besteht ein starker Strukturierungszusammenhang dieser beiden Punkte, der abhängig ist von Konstellationen, die weder das Dorf noch irgendeiner der Akteure beeinflussen können: Beispielsweise ließe sich annehmen, dass die Umsetzung des Projekts ab einer gewissen Größe der Gemeinde komplizierter und nur schwer durchführbar gewesen wäre, oder dass ohne politische und finanzielle Förderung das gesamte Vorhaben hätte scheitern können. Es ist schließlich nicht so, dass die Gemeindemitglieder – die Laien – das Expertensystem Nahwärmenetz und Biogasanlage völlig ohne Skepsis und Nachfragen annehmen. Vielmehr ist es die Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit der professional people, in der Gemeinde allseits bekannt und vertraut, die es letztendlich möglich macht, dass 70 Haushalte energieautark werden. Für die Experten ist diese Arbeit mit viel Geduld und Zeit verbunden, Unklarheiten auszuräumen und viele, mitunter für die Experten wenig nachvollziehbare Fragen, mehrmals zu beantworten : »Die Vorstellungen der Leute sind anfangs kaum denkbar, wie zum Beispiel: ›Aber stinken dann die Heizkörper?‹ Oder: ›Ich will aber kein Gas bei mir im Haus!‹.«
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4. F A ZIT : D AS EEG – E IN KULTUR ANTHROPOLOGISCHES F ORSCHUNGSFELD Die Energieversorgung Kleinschwalbenheim funktioniert dadurch, dass viele Akteure mit und über verschiedene Ressourcen vernetzt und verbunden werden. Weder manageriales Entscheidungshandeln noch soziale Kooperation allein könnten ein derartiges Ergebnis hervorbringen. Die auf Vertrautheit basierende unternehmerische Entscheidung zum einen, die solidarische Risikoübernahme zum anderen sind aufeinander angewiesen. Eine kleine Gruppe von jungen Unternehmern, selbst über Familie oder Freundschaft miteinander verbunden, ging das Risiko ein und verknüpfte ihr jeweils persönliches Schicksal mit der Umstellung Kleinschwalbenheims auf Bioenergie. In dieser Gruppe treffen sich die bereits geschilderten essentiellen Ressourcen zur produktiven Verarbeitung der Herausforderung dezentrale Energie – Bioenergiedorf. Diese Gruppe von Mittzwanzigern brachte den nötigen Mut und das Finanzkapital auf. Wichtiger aber noch, erst als Team verschafften sie sich das nötige Know-how, eine moderne Energieinfrastruktur zu planen und umzusetzen. Ohne tief mit den dörflichen Strukturen und der dörflichen Gemeinschaft verwurzelt und lokal verbunden zu sein, wäre die Umsetzung undenkbar. Die Voraussetzungen des beschriebenen Falls dürften dadurch nur allzu offensichtlich sein. Risikobereitschaft, Charisma, dörflicher Zusammenhalt, technologisches Wissen, personale Netzwerke und Solidarität bilden in Kleinschwalbenheim den Keimboden für die erfolgreiche Umsetzung eines sehr anspruchsvollen Projekts, das sprichwörtlich seine Spuren bis in die Haushalte jedes einzelnen Dorfbewohners zieht. Diese Neu-Strukturierung dörflichen Zusammenlebens ist erstrangig politisch induziert. Es geht um eine Umstellung von Landwirtschaft auf Energiewirtschaft, die ganz wesentlich durch das EEG ermöglicht und durch seine Novellen und angegliederten Kreditprogramme strukturiert wird. Die vorliegende Studie soll daher auch als Beispiel und Plädoyer für eine politisch informierte Kulturanthropologie gelten. Ohne die intensive Aufarbeitung der politischen Grundierung können soziale Wandlungsphänomene, wie die bioenergetische Dezentralisierung nicht angemessen verstanden werden. Das EEG regelt, dass der Ausbau Erneuerbarer Energien in vor allem ländlichen, landwirtschaftlich geprägten Gegenden vorangetrieben wird.
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Es erscheint mir lohnenswert, diesen Umstand abschließend vor dem Hintergrund der Interdependenz translokaler und lokal-gebundener/ lokal-generierter Ressourcen der Dezentralisierung zu kontextualisieren. Vertrauen und Gemeinschaftssinn erscheinen hier als eine wichtige, wenn nicht gar die wichtigste Komponente, um derartige energieautarke Projekte zu verwirklichen. Wenn aufgrund der gegebenen politischen Umstände Strom und Elektrizität materialisiert und somit lokalisiert werden, dann sind dadurch gleichsam lokal-gebundene Ressourcen (fast schon in Erinnerung an eine Zeit, bevor Energie entbettet bzw. entlokalisiert wurde), und neue Katalysatoren (wie das EEG, Fördermittel, aber auch das Einverständnis der Gemeinde) notwendig. Diese Faktoren entscheiden letztlich im Zusammenspiel darüber, ob neue Möglichkeiten funktionieren und nutzbar sind. Zugespitzt: Es geschieht eine Neustrukturierung von Energienutzung nach dem Motto: Local at its best oder Lokaler geht’s nicht. Paradoxerweise scheint eine der zentralen Herausforderungen der Zukunft – nämlich die Energieversorgung – einfacher lösbar, wenn Strukturen vorhanden sind, die auf lokal-gebundenen/lokal-generierten Ressourcen aufbauen. Mit diesem Beitrag wurde dargestellt, welche Auswirkungen Politiken im Bereich der Erneuerbaren Energien auf dezentrale Energieversorgung haben. Das EEG schafft als strukturierende Politik Räume für soziale und kulturelle Transformationsprozesse und Innovationen (vgl. Shore/Wright 1997, 2011). Eine solche Form der Politik(en) kann durchaus als produktive Formation bezeichnet werden. Das hier dargestellte Bioenergiedorf ist sozusagen zugleich Effekt und Formation einer Art von Machtausübung, die im Bereich der Erneuerbaren Energien Einzug erhält. Es wurde gezeigt, wie Politiken durch einzelne Akteure und Gruppen inkorporiert werden und wie sich mit dem Bau des Bioenergiedorfs soziale und kulturelle Dynamiken entwickeln. Es erscheint mir aus diesem Grund wichtig und gewinnbringend, das EEG als kulturanthropologisches Forschungsfeld aus einer Perspektive der Anthropology of Policy zu verstehen. Gerade auch die unbeabsichtigten Nebenfolgen, die Konflikte und Probleme, die ein Gesetz wie das EEG mit sich bringt, können ein interessanter und weiterführender Ansatzpunkt kulturanthropologischer Forschung sein.
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III. Reskalierungen politischer Felder
Das Regieren der Migration als wissensbasierte Netzwerkpolitik Eine ethnografische Policy-Analyse des International Centre for Migration Policy Development Sabine Hess
In der internationalen Kultur- und Sozialanthropologie sind in den letzten Jahren unter dem Stichwort des Regierens, angelehnt an die foucaultsche Macht- und Regierens-Analytik, eine Reihe von Studien erschienen, die die gegenwärtigen globalen politischen Umstrukturierungen aus einer anthropologischen Perspektive zu analysieren versuchen. Zahlreiche in den letzten Jahren veröffentlichte Sammelbände wie beispielsweise Global Assemblages von Aihwa Ong und Stephen Collier (2005) oder Anthropologies of Modernity von Jonathan Xavier Inda (2005) führen derartige Forschungen zusammen, die im Sinne Paul Rabinows Postulat einer Anthropologie des Gegenwärtigen (2008) daran arbeiten, ob und wie aus einer anthropologischen Sicht den Entwicklungen v.a. in den Bio- und TechnoSciences oder den globalen politischen und ökonomischen Veränderungen analytisch beizukommen ist. Dabei scheint Foucaults Regierungsanalytik – oftmals unter den Begriff der Gouvernementalität1 gefasst –, welche er vor allem im Rahmen zweier Vorlesungen am College de France 1978 und 1979 entwickelt hat, auch für kulturanthropologische Forschungen mehrere anschlussfähige und erkenntnisreiche Punkte bereitzuhalten: Zu nennen wären hier seine genealogischen Arbeiten, die naturalisierenden und on1 | Dabei verweist der zusammengesetzte Name Gouvernementalität (Regieren und Mentalität) auf den subjektivierenden Wirkungszusammenhang dieser Regierungskunst, die eher über die Anrufung der Selbstführungskompetenzen als über fremdführenden Zwang regiert (vgl. Foucault 2004).
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tologisierenden Darstellungen von Macht und Staat, von Wissensformen und -praktiken, von Subjekten und Objekten der Geschichte den Boden entziehen; oder sein produktives, konstruktivistisches Verständnis von Macht und Regieren, welches von einer Vielheit heterogener Akteure und Praktiken ausgeht, die einen spezifischen Machttypus im Laufe des 18. Jahrhunderts hervorbringen, den er als »Biomacht« beschreibt (vgl. Foucault 2004). Die Biomacht zeichne sich gerade darin aus, dass sie nicht mehr vor allem über die Androhung des Todes regiert, sondern die einzelnen Körper sowie die Bevölkerung als Ganzes als neue Subjekte und Objekte der Macht in den Blick nimmt, die es in reichtumsproduzierender Weise zu »fördern« und zu »erhalten« gilt (vgl. Pieper et al. 2007). Dabei hält keine formale Methodologie die unter dem Begriff der Gouvernementalitätsstudien firmierenden Arbeiten zusammen als vielmehr eine gewisse Perspektive, die Regieren als ein heterogenes Feld von Denken, Sprechen und Handeln versteht und dabei der Vielheit von Autoritäten, von Wissensformen, Rationalisierungen, Strategien, Technologien und Subjektivierungsweisen ihre Aufmerksamkeit schenkt, wie es Jonathan Xavier Inda in seiner Einleitung zu Anthropologies of Modernity schreibt (2005: 4ff.). Diese foucaultsch angeleitete kulturanthropologischen Ansätze des Regierens haben auch mich dazu inspiriert, einzelne Akteure, Praktiken und Diskurse der europäischen Migrations- und Grenzpolitik daraufhin zu analysieren, wie sie jenen neuen Modus des Regierens der Migration hervorbringen, der seit einigen Jahren sowohl in den Wissenschaften als auch in der Politik als Migrationsmanagement firmiert (vgl. Geiger/Pécoud 2010) und den ich im weiteren Verlauf des Textes genauer skizzieren werde. Konkret entwickelte ich eine ethnografische begleitende Policy- und Netzwerkanalyse zu den Arbeits- und Rationalisierungsweisen des International Centre for Migration Policy Development (ICMPD) mit Sitz in Wien, das ich als einen paradigmatischen Akteur der neuen Regierungsweise des Migrationsmanagements in den Jahren 2006 bis 2008 beforschte. Ich durfte eine Art Praktikum in einer Abteilung machen, die mit der Koordinierung des sogenannten Budapester Prozesses betraut war. Der Budapester Prozess ist ein seit dem Jahr 1991 aktiver »regionaler Konsultationsprozess« bzw. ein »informeller Dialog«, welcher insbesondere ost- und südosteuropäische und neuerdings auch kaukasische Staaten, internationale Organisationen bis hin zu Nichtregierungsorganisationen (NGO) um einen Tisch versammelt, um ihnen die Logiken, Praktiken und Technologi-
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en der EUropäischen2 Migrations- und Grenzkontrollpolitik zu vermitteln und sie darin zu trainieren. Neben dem Budapester Prozess koordiniert das ICMPD als »Sekretariat« in Kooperation mit Europol und der europäischen Grenzschutzagentur FRONTEX noch weitere Prozesse wie den sogenannten MTM-Dialog, der sich seit Anfang des neuen Jahrtausends der Integration der nordafrikanischen und sub-saharischen afrikanischen Staaten in das europäische Migrations- und Grenzregime verschrieben hat. Seit 2009 unterstützt das ICMPD noch weitere Dialoge und Zusammenschlüsse wie beispielsweise den Prag Prozess, der von osteuropäischen EU-Staaten initiiert wurde und sich in den osteuropäischen Raum erstreckt, oder die MME-Partnership, ein EU-Afrika-Programm zu »Migration, Mobility and Employment« (vgl. ICMPD 2012). Bevor ich jedoch detaillierter auf die Politik der Europäisierung der Migration und den von mir beforschten Akteur, das International Centre for Migration Policy Development, zu sprechen komme, werde ich meinen Forschungszugang skizzieren und der Frage nachgehen, mit welchen analytischen Perspektiven die Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie diesen (neuen) Formen des Regierens in und von Europa beikommen kann.
E UROPÄISIERUNG TR ANSVERSAL : R EGIEREN IN N E TZ WERKEN Beim Thema »Europäische Union« und »EUropäisches Regieren« stößt man bei den besagten anthropologischen Sammelbänden jedoch auf eine Leerstelle. Wenn dennoch am Rande auf die EU eingegangen wird, dann überraschenderweise oftmals mit undifferenziert zu bezeichnenden Aussagen über die EU als »Meta«- oder »Superstaat« und dies selbst in Texten, die sonst differenziert herausarbeiten, wie unter den Bedingungen der Globalisierung sich weltweit »Staatlichkeit« sowie die Praxis und die Akteure des Regierens verändern (vgl. Fergusson/Gupta 2005). Auch die europäischen kulturanthropologischen Arbeiten, die bislang zur Politik 2 | Ich verwende den zusammengezogenen Ausdruck EUropäisch um anzudeuten, dass der geografische Raum, der als Europa bezeichnet wird, und die politische Entität, die EU, zwei verschiedene Dinge sind, die im Sprachgebrauch jedoch oftmals zusammenfallen. Von EUropäisch spreche ich dann, wenn es um das Territorium bzw. den Akteur der EU geht.
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der EU und ihren Institutionen erschienen sind, wie die Arbeiten des Organisationsethnologen Marc Abélès (1992) und der Organisationsethnologin Maryon McDonald (u.a. 1996, 2007) oder die des Sozialanthropologen Cris Shore (u.a. 2000), arbeiten in Analogie zu den Entwicklungen und der Analytik des modernen Nationalstaats ganz im Sinne des viel zitierten methodologischen Nationalismus (vgl. Hess/Binder/Moser 2009). So spricht selbst Cris Shore, der sich ansonsten ebenfalls an der foucaultschen Governance-Forschung orientiert, in seinen frühen Arbeiten von der EUFormierung als einem politischen Elite-Projekt des »Nation-Buildings« (Shore 2000: 89ff.).3 Dagegen zeigen einige neuere politikwissenschaftliche Forschungen über die Regierensweisen, -stile und -praktiken der EU, dass wir die EU als politisches Laboratorium zu begreifen haben. Ulrich Beck und Edgar Grande bezeichnen sie etwa als ein gewaltiges »Transformationsregime« des Politischen (2004: 64f.) mit weitreichenden Auswirkungen auf die EUropäischen Gesellschaften und auch weit über sie hinaus, wie ich im Folgenden am Beispiel der europäischen Migrationspolitik skizzieren werde. Dabei zeigen die Ethnografien in einem der neueren deutschsprachigen Sammelbände zum Thema – übertitelt mit »Projekte der Europäisierung« – von Gisela Welz und Annina Lottermann (2009), dass die Prozesse der Europäisierung, neue Akteurskonstellationen, Machtverhältnisse und Konfliktlinien zwischen der lokalen, nationalen und europäischen, transnationalen Ebene mit sich bringen, so dass die EU als mehrfach gestaffelter Möglichkeits- und Konfliktraum zu betrachten ist. Hierbei rekurrieren die meisten kulturanthropologischen Studien auf eine praxeologische Analytik und verstehen Europäisierung als Effekt und Praxis von verschieden positionierten Akteuren – eine Herangehensweise, auf der ich mit meiner hier skizzierten Forschung über das EUropäische Regieren der Migration am Beispiel des Wirkens eines europäischen Think Tanks der Migrationspolitik gut aufbauen konnte. Dabei demonstriert meine Policy-Analyse, dass die von Gisela Welz und Annina Lottermann vorgeschlagenen vier Analyseperspektiven kulturanthropologischer Europäisierungsforschung kritisch zu reflektieren sind. Welz/Lottermann nennen 1.) die Perspektive der »Europäisierung von Oben«, wobei der Fokus hierbei insbesondere auf die symbolische Herstellung europäischer Identität gerichtet sei; die 2.) Perspektive bezeichnen sie 3 | In seinen späteren Arbeiten nimmt Cris Shore Abstand von dieser Definition.
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als »die Konstruktion von Europa vor Ort« im Sinne lokaler Auswirkungen und Aneignungspraktiken; als 3.) Perspektive sprechen sie von einer Blickrichtung, die sie als »Europa von den Rändern denken« betiteln, der es insbesondere um eine postkoloniale Berücksichtigung der Ko-Produktion Europas und der EU durch außerhalb positionierte Kräfte wie beispielsweise durch Migrationsbewegungen gehe; und die 4.) Perspektive beschreiben sie als »Europäisierung von Unten«, die danach frage, wie die EU und Europa im und durch das Handeln der Bürgerinnen und Bürger entstehe (2009: 12f.). Angesichts der mit den Prozessen der Europäisierung verbundenen multi-skalaren Transformationen der politischen Regulationsgebilde ist jedoch nicht nur infrage zu stellen, ob die die Perspektiven bestimmende konzeptuelle Topografie von »Oben« versus »Unten« bzw. von »Innen« versus »Außen« noch möglich ist. So sprechen Studien aus dem Umfeld der politischen Geografie wie auch Analysen von James Ferguson und Akhil Gupta (2005) von neuen transnationalen Verräumlichungs- und Skalierungsprozessen von Staatlichkeit und Gesellschaft, was unter dem Stichwort des Rescaling verhandelt wird (vgl. Brenner 1997, Wissen/Röttger/Heeg 2008). Dabei bezeichnet der Begriff der Scales bzw. der Prozessbegriff der Skalierung, politisch, ökonomisch und kulturell hergestellte Raumeinheiten wie wir sie langläufig als »lokale«, »regionale«, »nationale« und »internationale« regulative Gebilde kennen. Diese moderne vertikal gedachte Macht-Topografie werde derzeit vor allem infolge der weltweiten ökonomischen Restrukturierungen neu zusammengesetzt. So arbeiten Ferguson und Gupta für Länder Afrikas heraus, wie das »Lokale« – beispielsweise das Handeln von grassroot-Organisationen, das als wahrhaft »Unten« gilt –, schon längst von global agierenden Organisationen geprägt ist und zu quasi-staatlichem Handeln wird. Sie sprechen dann auch von »transnationalized local« (2005: 122) und der Genese einer »transnational governmentality« (2005: 115f.). Auch meine Forschungen zu Praktiken der Europäisierung der europäischen Migrationspolitik machen deutlich, dass neben den vier bisher genannten Analyseperspektiven noch eine weitere, dazu quer liegende Forschungsperspektive analytisch einzunehmen wäre, die ich als transversale Europäisierung bezeichnen würde. Dabei verwende ich den Terminus transversal einerseits in Anlehnung an Cris Shores und Susan Wrights oder Ulf Hannerzʼ Ausführungen über die ethnografische Forschungsrichtung des »studying through a field« also des Quer-Forschens, welche besonders geeignet sei, netzwerkförmige Gebilde aus Akteuren, Diskursen und In-
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stitutionen, die auf verschiedenen skalaren Ebenen angesiedelt sind, zu ethnografieren (vgl. Hannerz 2006, Shore/Wright 1997: 14). Zum anderen lehne ich mich hierbei an die Ausführungen des fast kulturwissenschaftlich argumentierenden Politikwissenschaftlers Didier Bigo an, der zu den neuen (Un-)Sicherheitspolitiken seit dem 11. September forscht. Bigo zeigt in seinen foucaultsch inspirierten Analysen, wie auf dem Gebiet der Sicherheitspolitiken eine neue Regierungsweise entsteht, die nicht nur auf einem veränderten Wissensmodus und veränderten Gefahrenszenarien aufbaut, sondern ein »transversales Feld« konstituiert, aufbauend auf einer Praxis, die er als »policing in transnational networks« beschreibt. Er schreibt: »The notion of the transversal field of (in)security makes possible the analysis of a space that is indeed social and political but transcends the division of internal/external or national/international imposed by the territorial state of mind.« (Bigo 2008: 28) Vielmehr seien die neuen Politiken der Unsicherheit durch professionelle bürokratische Netzwerke geprägt, die einen sozialen Raum jenseits nationaler und kultureller Grenzen konstituierten (vgl. ebd.: 30). Auch der kanadische Politikwissenschaftler Williams Walters, der dezidiert zum »Regieren Europas« u.a. im Bereich der Migrationspolitik forscht, betont den transnationalen gouvernementalen Netzwerkcharakter des EUropäischen Regierens. Weder sei die politische Praxis der EU sowie der Europäisierungsprozess im Sinne eines top-down Ansatzes vorzustellen, noch wiederhole die EU einfach den Prozess der Staatsformierung, d.h. einer zentralisierten Regierungsweise mit einer vertikalen Durchdringung des gesellschaftlichen Gebildes. Vielmehr orientiere sie sich am Modell des »Netzwerks« und des transnationalen liberalen Regierens (vgl. Walters/ Haahr 2005: 105): Sie stelle zum einen direkte Verbindungen zwischen Akteuren über Grenzen hinweg her – daher »transnational«. Und sie baue zum anderen wesentlich auf existierenden nationalstaatlichen und lokalen Agenturen und Expertisen auf – daher die Bezeichnung »liberal«; eigene Institutionen hätten eher koordinierende und wissensdistribuierende Funktionen. Macht und Autorität entstehe, so William Walters, in diesem Rahmen insbesondere durch folgende drei Technologien: Erstens durch die Implementierung von zentralen Datenbanken, d.h. die Generierung, Erfassung sowie die darauffolgende Distribution von Informationen und Wissen; zweitens durch »gemeinsame Verfahrensregeln« (welche oftmals im Sinne des kleinsten gemeinsamen Nenners funktionieren) und drittens durch die sogenannte »Harmonisierung von Standards« (vgl. ebd.). All die-
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se Charakteristika lassen sich, wie ich im Folgenden zeigen werde, auch auf dem Gebiet der Europäisierung der Migrationspolitik wiederfinden. Auch wenn die genannten politikwissenschaftlichen Forschungen gemäß dem foucaultschen Gouvernementalitätsverständnis fast praxeologisch anmuten, bleibt dennoch die Frage des WER und des WIEs im Kleinen und Konkreten, die Frage nach den Mikropolitiken durch die diese Netzwerkpolitik hervorgebracht, betrieben, unterstützt, legitimiert und forciert wird, meist unbeantwortet. Die Frage nach der Materialisierung und den Manifestationen der neuen Regierensweise stuft dann auch Jonathan Xavier Inda als eine zutiefst ethnografische Herausforderung ein (vgl. Inda 2005: 11). Bevor ich jedoch auf zentrale Arbeits- und Rationalisierungsweisen des ICMP zu sprechen komme, werde ich zunächst seine Geschichte kurz vorstellen. Hierauf werde ich die Geschichte der Europäisierung der Migrationspolitik aus der subjektiven Sicht des ICMPD rekonstruieren, um seine spezifische Institutionalisierung als einen entscheidenden Akteur des europäischen Migrationsmanagements zu kontextualisieren. Im Gegensatz zu klassischen politikwissenschaftlichen Studien, die sich auf formale Aspekte der Politik konzentrieren – wie auf formale EU-Institutionen, offizielle Programme und »hard law« –, werden hierbei auch andere (emotionale, ad hoc) Aspekte von Politikmachen deutlich. Die zwei Kapitel sollen jedoch vor allem zeigen, dass und wie die neue post-1989-Migrationspolitk von Anfang an als europäisierte, netzwerkförmig angelegte gouvernementale Politik konzipiert wurde, wobei die Nationalstaaten nicht obsolet wurden, sich vielmehr ihre Rolle und Funktion im Konzert mit anderen Akteuren verändert.
D AS ICMP ALS EUROPÄISCHE S ERVICE UND B ER ATUNGSORGANISATION Das ICMPD, welches 1993 auf Initiative insbesondere der Schweiz und Österreichs gegründet wurde, stellt heute eines der führenden »Beratungsinstitutionen« im Bereich der Migrationspolitik in Europa mit elf Mitgliedsstaaten4 und ca. 60 Mitarbeiter_innen am Standort Wien dar. 4 | Die Mitgliedsstaaten sind Österreich, Bulgarien, Kroatien, die Tschechische Republik, Ungarn, Polen, Portugal, die Slowakei, Slowenien, Schweden und die Schweiz.
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Laut seinem ehemaligen langjährigen Generaldirektor Jonas Widgren (1994-2004)5, war es mit dem klaren Ziel gegründet worden, die regulativen Kapazitäten der europäischen Staaten zu stärken und die Europäisierung der Migrationspolitik voranzutreiben (vgl. Widgren 2002, Georgi 2007: 16ff.).6 Im Jahr 2009 beschrieb die ICMPD-Website im mission statement die Zielsetzung der Organisation folgend: »[…] to serve as a support mechanism for informal consultations and to provide expertise and efficient services in the newly emerging landscape of multilateral co-operation on migration and asylum issues« (ICMPD 2009a). Und auf der Internetseite im Jahr 2008 stellte es sich als Service- und Beratungsorganisation mit »kompetenten, hoch motivierten, engagierten sowie kunden- und teamorientierten Profis«7 dar, die vor allem in den Bereichen Grenzschutz, Bekämpfung des Menschenhandels, Rückführung und Rückübernahme, sowie im Bereich der Visa-Politik (ebd.)8 ihre Dienste anbieten. Mit dieser Selbstpositionierung und -narrativierung ganz im Sinne des neuen Management- und Dienstleistungsdiskurses steht es für eine veränderte Regierungsweise der europäischen Migrationspolitik, welche unter dem Stichwort des »Migrationsmanagements« verhandelt wird (vgl.
5 | Er verstarb im Jahre 2004. Gottfried Zürcher, ein ehemaliger hochrangiger Diplomat der Schweizer Regierung, übernahm die Direktion. 6 | In seinem Vortrag im Jahr 2002 in Cambridge stellte Widgren noch infrage, inwieweit unter den europäischen Nationalstaaten der Wille zu einer »vernünftigen Migrationssteuerung« in der Praxis bestehe. Angesichts »dieses mysteriösen Fehlens einer rationalen Reaktion der Regierungen auf die anstehenden »Migrationsherausforderungen« setzte er sich stark für eine politische Praxis von »Governance« anstelle von »Regieren« [»Government«] ein (2002). 7 | Nach dem Wechsel der Geschäftsführung formulierte die Website das Leitbild Anfang 2012 folgend: »Das ICMPD strebt eine Verbesserung und Erleichterung der regionalen und internationalen Zusammenarbeit im Bereich der Migrationspolitik und Migrationssteuerung an, einschließlich Kontakt und Dialog zwischen Herkunfts-, Transit- und Zielländern, und ist bemüht, die ICMPD Mitgliedsstaaten bei der Verwirklichung ihrer Prioritäten und migrationspolitischen Ziele zu unterstützen.« 8 | Die meisten dieser Projekte sind im Bereich »Kapazitätsaufbau« und »Assessments« angesiedelt, wobei das ICMPD meist in einem Konsortium arbeitet.
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Overbeek 2002, Georgi 2007).9 Auf der inhaltlichen Ebene bezeichnet der Begriff eine Abkehr von einer Null-Einwanderungs-Politik hin zu einem regulativen Ansatz der globalen, hochselektiven Steuerung von Migration (vgl. Cornelius et al. 1996, Gosh 1997, Widgren 2002), welcher häufig von seinen Kritikern als »neoliberal« bezeichnet wird (Georgi 2007, Overbeek 2002). In den Worten der führenden Akteure dieses Paradigmenwechsels geht es hierbei um ein »triple win«, um die Vision einer »geordneten Migration zum Wohle aller« (IOM 2004b). Aber der Begriff »Migrationsmanagement« beschreibt auch strukturelle politische Veränderungen, da es auf neuen Akteuren, vor allem auf internationalen Organisationen und privaten Akteuren wie »Think Tanks« basiert, mit denen weitreichende Prozesse der »Privatisierung« und »Informalisierung der Politik« verbunden sind (vgl. Lahav/Guiraudon 2000, Düvell 2002, Georgi 2007: 67f.).10 Die meisten Analysen betrachten diese Änderungen und ihre wichtigsten Akteure, wie das ICMPD oder die Internationale Organisation für Migration (IOM)11, aus einer Demokratie-theoretischen Perspektive und qualifizieren sie als »technokratisch« und »undemokratisch« ab, da sie die verfassungsmäßig gegebene Gewaltenteilung und parlamentarische Kontrolle umgingen (Düvell 2002, Georgi 2007, Overbeek 2002). Ich dagegen interessierte mich in meiner ethnografischen Forschung gerade für den informellen Politikstil mit seinen Verflechtungen und ver9 | In Abgrenzung zu der Unschärfe des Begriffs des »Migrationsmanagements«, der sowohl von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen in analytischem Sinne als auch von politischen Akteuren und Akteurinnen in positivistischer bzw. beschreibender Art und Weise verwendet wird (vgl. Gosh 1997, IOM 2004a), gebrauche ich als analytischen Begriff den Terminus des Regierens. 10 | Es gibt eine hitzige Debatte darüber, ob die Entwicklungen als eine Niederlage und ein Rückzug des Staates oder aber als eine Verschiebung und Rekonfiguration der Staatlichkeit auf eine transnationale Ebene zu verstehen sind (vgl. Ferguson/Gupta 2005). 11 | Die IOM ist nach dem Zweiten Weltkrieg als Organisation der westlichen Staaten entstanden, um die Nachkriegsbevölkerungsbewegungen zu managen. Nach dem Ende des Kalten Krieges hat sie ihr Mandat globalisiert: Sowohl geografisch als auch inhaltlich hält sich die IOM für das Management der globalen Migrationsbewegungen zuständig. Sie ist jedoch in den letzten Jahren v.a. für ihre sogenannte »Freiwillige Rückführungspolitik« als auch für ihre »Anti-Trafficking-Politik« stark kritisiert worden (vgl. Düvell 2002, Georgi 2007).
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suchte von innen heraus zu verstehen, wie er funktioniert, wie er diskursiviert wird, und wie er Macht reproduziert. Im Rahmen meines Forschungsaufenthalts in den Räumen des ICMPD konnte ich nicht nur einen Blick über die Schulter der Mitarbeiter_innen des Budapester Prozesses werfen und ihre Arbeitsabläufe und Diskussionen verfolgen, sondern hatte auch Zugang zu allen anderen Teams innerhalb des ICMPD und wurde eingeladen, an den verschiedenen Konferenzen und Workshops des Budapester Prozesses teilzunehmen. Dabei musste ich bald realisieren, wie es auch einige Mitarbeiter_innen bedauerten, die klare Strukturen vermissten, dass Entscheidungen vor allem in informellen Gesprächen auf dem Flur oder in der Kaffeepause getroffen wurden.12
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In ihrer Habilitationsschrift über die Europäisierung der Migrationspolitik kommt die Politikwissenschaftlerin Ursula Birsl (2005) einmal mehr zu dem Schluss, dass der Prozess der Vergemeinschaftung und Harmonisierung dieses Politikfeldes, wie er durch den Vertrag von Amsterdam (1998) und die Schlussfolgerungen von Tampere (1999) ausgelegt wurde, fehlgeschlagen ist.13 Betrachtet man andererseits die weitreichende Politik der Externalisierung des europäischen Grenzregimes, die sich in letzter Zeit auf afrikanische und kaukasische Länder konzentriert, als auch die fortgeschrittene Harmonisierung von Standards, Verfahrensweisen und Technologien in den Bereichen »Grenzschutz« oder »Visa-Politik« unter der Hegemonie des »Schengen-Besitzstandes« (Schengen-Acquis), so gelangt
12 | In diesem Zusammenhang ist es sehr aufschlussreich, ethnografische Politikforschungen mit den Bedingungen und Erfahrungen der Ansätze der ethnografischen Wissenschafts- und Technikforschung über Prozesse der Wissensproduktion in Labors zu vergleichen (bspw. Knorr-Cetina 1981, Beck 2000). 13 | Und in der Tat mussten die Nachfolge-Programme von Amsterdam wie das Haager-Programm von 2004 und zuletzt das Stockholm-Programm von 2009 (vgl. Commission of the European Union 2009) eingestehen, dass die definierten Ziele wie ein vergemeinschaftetes EU-Asyl-Gesetz nicht erreicht wurden (vgl. Birsl 2005: 13f.).
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man zu einer anderen Einschätzung (vgl. Walters/Haahr 2005, Transit Migration Forschungsgruppe 2007, Hess/Kasparek 2010). In der Literatur wird gängigerweise das Schengener Abkommen von 1985 als Initialzündung der Europäisierung der Migrations- und Grenzkontrollpolitik verhandelt.14 Damals trafen sich zunächst fünf Mitgliedsstaaten außerhalb des offiziellen EU-Rahmens in dem luxemburgischen Dorf Schengen, um über kompensatorische Maßnahmen zu beraten, die die Einführung des Binnenmarktes mit seinen EU-internen Freizügigkeitsregelungen in Bezug auf Kapital, Waren, Dienstleistungen und Humankapital abfedern sollten. Aber es dauerte länger als zehn Jahre, bis das Schengener Abkommen offiziell in die supranationale Struktur der EU im Rahmen des Vertrages von Amsterdam 1998 integriert wurde. Mit diesem Schritt wurde das Schengen-Abkommen ein Bestandteil des acquis communitaire und der Kriterien von Kopenhagen, welche alle neuen Beitrittsländer zu erfüllen haben, während sich Alt-Mitglieder wie England und Irland sogenannte drop-out-Optionen aushandelten. Jonas Widgren, Gründer und langjähriger Direktor des ICMPD interpretiert den Vertrag von Amsterdam dann auch als »revolutionäre Bewegung«, der die Transnationalisierung der Migrationspolitik, eine vergemeinschaftete Rückführungs- und Asylpolitik wie auch die Vorverlagerung der Grenzkontrollen als EU-Maxime festschrieb: »[Amsterdam] allowed for the big leap: there should be a perfect external border system in place for all the members, soon to become 25, by means of integrating the Schengen co-operation into the Union.« (Widgren 2002) In der gleichen Rede verweist Widgren jedoch noch auf einen weiteren wesentlichen Faktor, der den Prozess der Europäisierung und Harmonisierung der Migrationspolitik im Rahmen der Europäischen Union intensivierte wie auch die Gründung von Beratungs- und Service-Organisationen etwa des ICMPD15 initiierte. Er spricht hier von der Wahrnehmung und Konzeptualisierung der zeitgeschichtlichen Vorgänge um den Zusammenbruch des Ostblocks als »Regulationskrise« und beschreibt auf sehr
14 | Besonders im Bereich der Grenzschutz-, Asyl- und Visapolitik. Schengen stellte den Anfang des Prozesses der Externalisierung von Grenzkontrollen an den Außengrenzen der Europäischen Union und weit darüber hinaus dar. 15 | Im europäischen Kontext wäre ein weiteres Beispiel die »Migration Policy Group«, gegründet von Jan Niessen, einer anderen Hauptfigur aus dieser Zeit.
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anschauliche Weise, mit welcher »Nervosität«16 die politischen Umbrüche in Europa aufgenommen wurden. So fürchtete man auf Regierungsebene eine »Masseninvasion« von Russen, Albanern und irakischen Kurden, die vor Saddam Hussein flüchteten; dazu kam der Zusammenbruch vieler Staatsapparate in Afrika und in Asien als auch grassierende Umweltkatastrophen, die die Angst vor Massenauswanderungen steigen ließen und in Westeuropa, so Widgren, befand man sich »in the midst of what we conceived as a never-ending asylum crisis«. Er schlussfolgerte: »This all brought the migration issue to the top of the 1991 NATO, OECD, and EC/ EU agenda[…]« (ebd.). Widgren und andere führende Persönlichkeiten in der europäischen Migrationspolitik-Debatte17 glaubten, dass die Kapazitäten der nationalen Regulierungsbehörden nicht mehr ausreichten, um mit den neuen migratorischen Realitäten in Europa, wie sie sie wahrgenommen hatten, fertig zu werden. Insbesondere waren sie der Überzeugung, dass das Asyl-Regime an seine Grenzen gestoßen sei (vgl. Ogata 1997, Gosh 1997, Widgren 2002). Ihre zentrale Antwort hierauf bestand dann darin, eine radikale Europäisierung unter dem Paradigma der »Migrationssteuerung« zu fordern. Und wegen des »mysterious lack of a rational government response to the anticipated migration challenges«, wie Widgren die politische Haltung der nationalen (vor allem Innen-)Ministerien beschrieb, »that treat the immigration issue as a short-term election gimmick« (2002), plädierte er für »Governance statt Government«.18 16 | Widgren erinnert sich an die 1980er Jahre: »Alle, die wir uns mit Migration in Europa beschäftigten, waren wirklich sehr nervös zu dieser Zeit [Ende der 1980er Jahre], und es ist schwer für mich, die rückblickenden Kommentare – kalte und demütigende Kommentare – einiger Wissenschaftler zu akzeptieren, die heute behaupten, dass Europäische Regierungen und ihre Vertreter, wie ich, für die Bildung einer ›Hardliner-Koalition‹ mobilisiert hätten, um nach einer gewissen Zeit die Schaffung eines ›Closed-Door-Europe‹ zu ermöglichen.« (2002) 17 | Eines der zentralen internationalen Foren für diese Debatte stellte die 1985 vom UNHCR gegründete »Intergovernmental Consultations on Migration, Asylum and Refugees« (IGC) dar. Die Dominanz des UNHCRS und menschenrechtlicher Fragen war es dann auch, die Akteure wie Widgren nach neuen Foren suchen ließ (vgl. Georgi 2007: 14, 16, 23). 18 | Widgren schrieb im Jahr 2002: »Dunkle Wolken ziehen über die politische Landschaft her. Die großen Führer sind wieder im ›Angst-Griff‹ von 1993 gefangen.
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In dieser Hinsicht ist Widgrens19 Jobwechsel von langjährigen hochrangigen Migrationsbürokraten der schwedischen Regierung zum Generaldirektor des in der Gründung begriffenen International Centre for Migration Policy Development signifikant, welches 1993 zunächst mit dem Schwerpunkt auf langfristige Politikentwicklung und Osteuropa aufgebaut wurde (vgl. Georgi 2007: 17). Obwohl das ICMPD seinen Aktionsradius in den letzten Jahren sowohl geografisch als auch in Bezug auf Inhalte vergrößert hat (mit dem Versuch, Projekte in Südafrika zu starten), ist das ICMPD global gesehen im Vergleich zu international tätigen Organisationen wie der IOM noch immer eine kleine in Europa ansässige Institution. Allerdings ist es besonders in den Vordergrund getreten, als die osteuropäischen Anrainerstaaten im Laufe ihres EU-Beitritts die EU-Migrationspolitik übernehmen mussten. Dieses Tätigkeitsprofil veranlasste Kritiker_innen, das ICMPD als »Speerspitze der Festung Europa« zu definieren (vgl. Düvell 2002). Heute denken die Mitarbeiter_innen an vorderster Front weiter über effiziente Migrationskontrollpolitik nach und unterstützen die offizielle EUMigrationspolitik etwa im Rahmen von Capacity-Building-Programmen oder von Evaluations- und Beratungsaktivitäten aktiv, wie sie im »Global Approach on Migration« der Europäischen Kommission (Commission of the European Union 2007) ausformuliert ist. Hierbei besteht ihre besondere Rolle als Moderator und Trainer der betreffenden staatlichen Apparate. Und dies vor allem durch den Einsatz von politischen Praktiken und Technologien des »informellen Dialogs« wie des bereits erwähnten BudapestProzesses oder des MTM-Dialogs (vgl. Klein-Solomon 2005). Auch wenn die Was ist passiert? Sie wissen es wahrscheinlich selber nicht. Sie hatten nicht genug Zeit zum Nachdenken. Sie fahren fort, die Frage der Einwanderung als eine kurzfristige Wahlmasche zu behandeln wie es sich anbietet. Haben die Wähler auf die UN-Nachricht über die 13 Millionen überreagiert? Die Angst vor der illegalen Migration hat seit Anfang des Jahres wieder vollständig die Bühne beherrscht. Natürlich gibt es starke und noch stärkere illegale Einwanderungsbewegungen, und jetzt zunehmend auch aus Ländern südlich der Sahara. Aber das war zu erwarten, angesichts der Armutskrise dort.« 19 | Widgren arbeitete zwischen 1982 und 1987 als zuständiger Staatssekretär für Fragen der Einwanderung und der Gleichstellung der Geschlechter in der Regierung Olaf Palme. Und er war Mitglied der Sozialdemokratischen Partei Schwedens.
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Dialoge noch nicht einmal 5 Prozent des ICMPD-Budgets ausmachen, was zu 90 Prozent von eingeworbenen (Drittmittel-)Projekten in den anderen genannten Arbeitsbereichen getragen wird (der verbliebene Rest sind die Mitgliedsbeiträge der Mitgliedsstaaten), spielen sie dennoch eine besondere Rolle in dem Selbstverständnis des ICMPD als partnerschaftlich agierende Service- und Beratungsinstitution, wie es auch die neuste Webpage des ICMPD Anfang 2013 zum Ausdruck bringt: »ICMPD‘s working philosophy is based upon the conviction that the complexities of migration challenges can only be met by working in partnership with governments, research institutes, international organisations, intergovernmental institutions and civil society.« (ICMPD 2012) Dabei nennt diese aktuellste webpage die Dialoge als eine der drei zentralen Säulen des ICMPD. Auch aus einer analytischen, geopolitischen und foucaultschen Perspektive (vgl. Foucault 2004) betrachtet, sind sie als politische Labore der netzwerkförmigen Regierungsweise und als Motoren einer neuen geopolitischen Raumordnung zu verstehen. So kommt auch Fabian Georgi in seiner politikwissenschaftlichen Forschung zum ICMPD zu dem Ergebnis, dass die politische Bedeutung des ICMPD vor allem in seiner politischen Einflussnahme insbesondere durch informelle Politikberatung und Koordination zwischenstaatlicher Kooperation im Bereich der Bekämpfung irregulärer Migration zu sehen ist (vgl. 2007: 61). Im Folgenden werde ich nun zunächst das allgemeine Selbstverständnis und die Arbeitsethik des ICMPD als transversaler Netzwerk-Akteur herausarbeiten, um anschließend detaillierter auf den Budapester Prozess einzugehen. Dies wird 1.) deutlich machen, in welchem Verhältnis das ICMPD sich zur nationalstaatlichen Politik sieht; 2.) wird dies den »technokratischen« wissensbasierten Politikstil des ICMPD als spezifische Machtlogik decodieren und 3.) werden Unterschiede und Brüche innerhalb der von dem ICMPD mitgestalteten Migrationsmanagement-Matrix zu Tage treten, welche diese als fragilen Kompromiss kenntlich macht. Und letztlich wird 4.) auch deutlich werden, wie die Politik immer nur im Nachvollzug den Bewegungen der Migration Herr zu werden versucht und hierbei scheitert.
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M IGR ATION G OVERNANCE : R EGIEREN IN FR AGILEN N E TZ WERKEN »Das ICMPD qualifiziert sich wunderbar für alle Arten von Verschwörungstheorien, weil wir klein sind und daher keine öffentlich präsente Organisation. Allerdings haben wir einen bedingten Zugang zu Staaten und zu zwischenstaatlicher Zusammenarbeit, was uns den Ruf, ›Hinterzimmer-Jungs‹ zu sein einbrachte. Aber all das hat nichts mit der Realität zu tun […] Wir sind nicht diese Art von Grenzmilitarisierungs-Agentur und wir haben letztlich keine restriktiven Positionen in Bezug auf Migration. […] Vielmehr kann der allgemeine Ansatz des ICMPD als technokratische Vision definiert werden, und wir befürworten mehr Partizipation von Migranten und eine Verbesserung ihres Lebens. Aber wir glauben, dass die Verwirklichung dieses Ziels am ehesten zu erreichen wäre durch Migrationssteuerung und Migrationsregulierung.«
Diese Aussage von Glaser20, verantwortlich für Entwicklung und Forschung, liefert eine gute Schilderung des Selbstverständnisses und des politischen Ansatzes des ICMPD. Auch Jonas Widgren glaubte fest an die Notwendigkeit einer regulatorischen Politik, von einzelnen Staaten als auch von supranationalen Global-Governance-Regimen ausgehend, um die Abschwächung der nationalen regulatorischen Kapazitäten zu kompensieren. (In guter alter Tradition der sozialdemokratischen Parteien Europas stand er weiterhin für ein etatistisches politisches Projekt). Beide beziehen sich auf starke Anti-Einwanderungs-Gefühle seitens der europäischen Bevölkerung und leiten daraus die Notwendigkeit für staatliche Regulationsleistungen ab (vgl. Interview Zürcher 2008). Diese sollten beweisen, dass die Migrationsbewegungen unter Kontrolle sind, um später einmal die öffentliche Unterstützung für eine aktivere Zuwanderungspolitik zu gewinnen. In dieser Hinsicht legitimieren sie die starke Ausrichtung auf die Bekämpfung der irregulären Migration als einen notwendigen Schritt zur Schaffung einer Grundlage für ein längerfristiges legales Migrationsregime (vgl. Widgren 2002, Georgi 2007: 53ff.). Allerdings lehnen sowohl Zürcher als auch Glaser es ab, infolge des neuen Paradigmas des »Migrationsmanagements« als Vollstrecker eines »neoliberalen« Projektes bezeichnet zu werden (vgl. Overbeek 2002, Ge20 | Die Namen von Mitarbeitern sind anonymisiert. Die Aussagen des Generaldirektors Zürcher dagegen bleiben weiterhin als seine erkenntlich.
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orgi 2007: 97f.). Sie lehnen den Begriff des Neoliberalismus nicht nur als ein politisches Konzept ab, da es die Dynamiken und Interessen der Migrationsbewegungen ignoriere. Sie lehnen ihn auch ab, da sie ein etatistisches Modell von Global Governance nachdrücklich befürworten. Glaser: »Wir wollen Migration nicht dem Markt überlassen, denn den freien Markt interessieren weder die politischen Folgen, noch die Folgen für Migranten.« Im selben Interview und in ähnlicher Weise äußerte sich Zürcher sehr kritisch gegenüber dem gesamten Begriff der Migrationssteuerung, da er die Mächtigkeit und die Interessen der Migration unterschlage. Vielmehr bot er eine taktische Interpretation des Begriffs an, da er in der Lage sei, »Komplexität« zu reduzieren und gegenüber der Öffentlichkeit die Illusion erzeuge, dass die Regierungen die Migration unter Kontrolle hätten. Doch räumte er auch ein, dass »die Leute nicht dumm« seien und merkten, »dass es nicht wahr ist«. Hier wird ein Wissensbestand manifest, welcher jüngeren Ansätzen in der anthropologischen Migrationsforschung ähnelt, die die Dynamiken und Kräfte der Migration und ihre »relative Autonomie« vis-à-vis den Versuchen der Politik, sie zu kontrollieren, betonen (vgl. Castles/Miller 2003). So meinte Zürcher: »Ich bin ein wenig skeptisch, ob die Migration wirklich ein geeigneter Gegenstand für eine Steuerung ist. Steuerung vermittelt den Eindruck, man habe die Migration unter Kontrolle oder zumindest, dass es möglich wäre, sie zu kontrollieren, und als ob dies nur eine Frage der Technik ist und wie man sie effizienter gestaltet. Und das bezweifle ich ziemlich stark.« (Interview Zürcher 2008)
So weist auch eine spätere Passage in dem Gespräch darauf hin, dass er die staatliche Handlungsmacht in diesem Politikfeld als eingeschränkt und umkämpft erachtet. Er warnte davor, dass sich die Situation nicht derart entwickeln dürfe, »dass nicht-staatliche Akteure wichtiger als diejenigen des Staates« seien: »Das Gleichgewicht darf sich nicht in dem Maße verschieben, dass Schmuggler-Organisation oder familiäre Netzwerke einen deutlich größeren Einfluss auf Migration haben als staatliche Akteure.« (Interview Zürcher 2008)21 21 | Ich konnte einer ganz ähnlichen Erklärung beiwohnen während eines der Budapester Workshops, in welchem die Teilnehmer gerade ein »Brainstorming« zur künftigen Ausrichtung des Prozesses durchführten. Dort sagte ein Delegierter eines osteuropäischen Beitrittslandes den Kollegen: »Die Migrationssteuerung
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In diesem Sinne ging es ihm zentral darum, die staatliche Regulationsfähigkeit auszubauen. Den politischen Ansatz des ICMPD beschreibt auch Glaser als »technokratisch« und »etatistisch« und stützt sich auf eine »realistische Theorie« globaler Politik, welche die staatlichen Akteure als die alleinigen Akteure definiere, die ermächtigt seien, in den Prozess der Migration zu intervenieren. Und Zürcher konstatierte im selben Tenor, dass sie die Entscheidungsgewalt des Nationalstaates, »wer kommt und wer draußen bleiben« müsse, als »Grundlage der staatlichen Souveränität« auch in der EU völlig »akzeptierten« (Interview Zürcher 2008). In diesem Zusammenhang gestand Zürcher, sich wirklich geärgert zu haben, als er das Gefühl bekam, dass Nationalstaaten ihren Pflichten nicht nachkämen und Aufgaben internationalen Organisationen überließen: »Die Neigung von Staaten, internationale Organisationen hinzuschicken, um sich die Hände nicht schmutzig zu machen, ist ärgerlich«, bemerkte er einmal, während wir uns unterhielten. In dieser Hinsicht hüte sich das ICMPD davor, sich durch Staaten manipulieren zu lassen. Ironisch wurde er dagegen, wenn ich Fragen zur Rolle der internationalen Organisation innerhalb des neuen Migrationssystems stellte, denn diese sollten »nicht überschätzt« werden. Hierbei wies er auf ein konfliktives Verhältnis zwischen den großen internationalen Organisationen hin. So bemerkte er einmal gegen das Gebaren der IOM gerichtet, dass nur der UNHCR ein »klares Schutzmandat« habe: »Aber ›protection issues‹ und ›migration policy‹ [im Original auf Englisch] sind, in Bezug auf den Geltungsbereich, zwei verschiedene Paar Schuhe[…] die IOM hat kein Mandat, die Migrationsinstitutionen weltweit zu regulieren.« Hierbei bestände dann auch ein Hauptunterschied zwischen der Regierungslogik des ICMPD und der IOM, die versuche Staaten weitestgehend zu »ersetzen« (Interview Glaser). Vor diesem diskursiven Hintergrund scheint die starke Betonung in allen Interviews sowie in den Web-Präsentationen kohärent zu sein, nämunterliegt nicht mehr der Kontrolle der Regierungen.« Sein Kollege aus einem anderen osteuropäischen Land stimmte ihm zu: »Ja, sie ist selbstreguliert.« Der Mitarbeiter führte weiter aus: »Nicht wir, sondern die organisierte Kriminalität macht das, sie beeinflusst die Anpassung der Arbeitskräfte an die Bedürfnisse des Arbeitsmarktes. Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten wirklich versuchen, ein staatliches System zu schaffen! Unsere Botschaft sollte lauten: Kontaktieren Sie keinen Schmuggler oder Onkel, kontaktieren Sie uns, unseren Service.« (Protokoll 2008)
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lich dass das ICMPD lediglich ein »Service und beratende Institution für die Staaten« sei, ohne eine eigene Funktion als Politikgestalter. So scheint die allgemeine Auffassung zu sein: »We are facilitating states«, da »Migrationspolitik nach wie vor die Pflicht der Staaten ist«. Für den Budapest-Prozess lautet das Motto, dass er »state driven« ist oder sich im »state ownership« befinde. Als Sekretariat koordiniere das ICMPD lediglich und stelle neutrales, wissenschaftliches Wissen zur Verfügung. In ähnlicher Weise beschreibt der MTM-Prozess seine Leitprinzipien als »zwischenstaatlich, informell und vom Staat initiiert [Herv. i.O.]« (MTM 2008).
G OUVERNEMENTALISIERUNG DER M IGR ATIONSPOLITIK : D AS ICMPD ALS » NEUTR ALER « TR ANSVERSALER W ISSENSBROKER Da offensichtlich ist, dass das ICMPD eine bestimmte politische Agenda verfolgt und eine relative Autonomie gegenüber den Mitgliedsstaaten aufweisen kann22 (vgl. Georgi 2007), hat die unkritische Art und Weise, in der alle Mitarbeiter_innen sich auf diese gerade skizzierten Aussagen als zentrale Bestanteile der ICMPD-»Corporate Identity« berufen haben, mich doch überrascht. So brachte Glaser einmal zum Ausdruck, dass es »die politische Ethik des ICMPD« sei, »niemals selbst Politik« zu machen, sondern »sie leiten die Informationen weiter« als »ein zuverlässiger Akteur für die Staaten«. Tatsächlich habe ich einige Zeit gebraucht, um zu verstehen, dass dieses zentrale Narrativ »ehrlich« gemeint ist: Es bezeichnet die Praxis einer Gouvernementalisierung der europäischen Migrationspolitik, die versucht, Staaten und ihre Apparate zu aktivieren, um die Staaten in das Projekt der europäischen Migrationssteuerung zu integrieren. Und dies sei nur möglich, so lautet ein politisches Credo des Generaldirektors Zürcher, wenn die Akteure die gleiche Definition des Problems und dessen Lösung hät22 | Im Rahmen des Budapester Prozesses zum Beispiel durch seine Rolle bei der Vorbereitung und Organisation der Workshop-Sitzungen, die Einladung von Experten, die Präsentation von »Hintergrunddokumenten« und durch eine führende Rolle bei der Ausarbeitung der Schlussfolgerungen. Das jährliche »Treffen für leitende Angestellte« als einziges Entscheidungsforum des Prozesses bildet dabei keine Ausnahme.
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ten, »dieselbe Sprache sprechen«, »ein ähnliches Verständnis entwickeln« und die Migrationssteuerung in ihr eigenes politisches Projekt integrierten. Insofern ist er ein scharfer Kritiker eines top-down-Politikansatzes, der »dem Kolonialismus ähnelt«, wie er es ein andermal ausdrückte. Er lachte über die Versuche einiger europäischer Staaten, die glaubten, die Länder des globalen Südens durch Zwangsmaßnahmen dazu bringen zu können, sich auf das europäische Migrationsregime einzustellen.23 Nach 500 Jahren Kolonialismus sei, so Zürcher, ein solcher politischer Stil mehr als naiv und ethisch problematisch. In diesem Sinne sprachen die Mitarbeiter_innen des ICMPD auch eher von »Vertrauen« und »vertrauensbildenden Maßnahmen«, wie sie im Rahmen der »informellen Dialoge« praktiziert würden, auf die ich im Anschluss eingehen werde. Ein weiteres zentrales Narrativ gründete sich auf Topoi wie »Wissen«, »neutrale Informationen« und »Know-how«, die eine große Rolle in allen Aussagen spielten, wenn sie mir zu erklären versuchten, was sie anstelle von Politik machten. So setzte sich auch die Leitlinie, die in den Jahren 2008 und 2009 auf der Titelseite der ICMPD-Homepage stand, aus Verben und Adjektiven zusammen, die Wissensprozesse ansprachen: »Fakten analysieren und Kompetenzen von Individuen und Institutionen stärken: Es ist das Ziel des ICMPD, die komplexen Realitäten des Phänomens der Migration zu erforschen und zu klären, vor allem in Europa sowie in anderen Ländern und Regionen, die für die EU relevant sind. Das ICMPD bietet Staaten und seinen Organisationen, die für die Konzeption und Umsetzung der Migrationspolitik zuständig sind, rechtzeitige, zielgerichtete Dienstleistungen [Herv. i.O.] in der Migrationssteuerung.« (ICMPD 2008)
Das Leitbild bedient sich in starkem Maße einer Werbe- und ManagementSprache, die man gewöhnlich bei privaten Beratungsfirmen und Forschungsinstitutionen antrifft. Als zwischenstaatliche Beratungsorganisation kann das ICMPD in dieser Hinsicht als ein liberales politisches Projekt eingestuft werden. Dies zeigt sich auch in der fortgeschrittenen Ökonomisierung seiner politischen Rationalität und Praxis, vor allem im Bereich des hart um23 | Eines der ersten Mechanismen dabei ist die Unterzeichnung von Rückübernahmeabkommen, die von der EU in Verbindung mit Fragen der Entwicklungshilfe und anderen Finanzierungen gebracht werden (vgl. Widgren 2002).
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kämpften Marktes der Projektfinanzierung. Ein UNODC-Mitarbeiter beschrieb diese Logik dann auch als »project-driven« Politik und meinte, dass »es die Ökonomie ist, die immer stärker mitentscheidet« (Interview Müller 2008). Dies hat nicht nur massive Auswirkungen auf die Kriterien und Entscheidungsprozesse darüber, an welchen Ausschreibungen teilgenommen und welche Projekte – in der Sprechweise »Produkte« – entwickelt werden sollen. Es hat auch Konsequenzen hinsichtlich der Beschäftigungsbedingungen und damit auf die Art von Menschen, die in solchen zwar gut bezahlten, dennoch prekären, anspruchsvollen Positionen arbeiten.24 Aber es geht um mehr, wie empirische Studien über die »neuen ›weichen Formen‹ des Regierens« im Rahmen der EU andeuten. Immer mehr Narrative und Instrumente werden eingesetzt, die wissensbasiert, angeblich »politisch neutral«, rein »technischer« und »wissenschaftlicher« Natur seien (vgl. Bruno/Jacquot/Mandin 2006: 519).25 Die Sozialwissenschaftlerinnen Isabelle Bruno, Sophie Jacquot und Lou Mandin analysieren diese Praktiken als »technologies of performance« und Formen der »governance through knowledge« (ebd.: 520), die die Rationalität der Debatte und die Logik der Praxis von einer politischen Frage in eine Frage des Managements transformierten.26 Sie schreiben: »Decoding the modus operandi entails understanding how this managerial technique converts political issues into target figures and how it translates questionable prem24 | Alle meine Gesprächspartner waren junge, engagierte und flexible Spezialisten, vor allem im Bereich des Völkerrechts oder internationalen Beziehungen. Sie beschrieben sich selbst als »Leistungsträger« in einer Arbeitsumgebung, die durch ein hohes Maß an Unsicherheit geprägt ist. Die meisten von ihnen hatten nur projektbezogene Zeitverträge ohne Sozialversicherung oder Arbeitsplatzsicherheit, und sie mussten sich auf ihre eigenen Fähigkeiten verlassen, um ein weiteres Projekt finanziert zu bekommen, wie der informell organisierte Betriebsrat beklagte. 25 | In diesem Zusammenhang ist es höchst interessant, dass das ICMPD sehr stolz darauf ist, eine starke wissenschaftliche Abteilung zu haben, die akademisch sehr aktiv ist und ein hohes Maß an Autonomie gegenüber den operativen Zielen der Organisation zu genießen scheint. 26 | Kerstin Jacobsson hat diesen Mechanismus auch als »Governance durch Standardisierung des Wissens« definiert, basierend auf dem politischen Willen nach »objektiven« und vergleichbaren Daten auf europäischer Ebene, um darüber politische Ziele zu vereinheitlichen (vgl. Jacobsson 2001: 11).
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ises into sound facts.« (ebd.: 530) In der Sichtweise der ICMPD-Mitarbeiter_innen meint Unterstützung von Staaten dann auch die Vermittlung »neutraler Informationen« und »Beratung« – meist als »best practices« konnotiert – und zeigt deutlich diesen Modus operandi der neuen Formen des Regierens, nicht im Sinne einer strategischen ideologischen Lüge, sondern als ein notwendiges strukturell »falsches Bewusstsein« seitens der Mitarbeiter_innen, die innerhalb dieses neoliberalen Projekts subjektiviert sind. Diese empirischen Studien über die »weichen Formen von Governance« im EU-Kontext27 verdeutlichen weiterhin die Bedeutung von »noncoercive processes based on the will of the participants to agree«, welche auf »knowledge sharing, mutual learning or exchange of ›good practices‹« basierten (vgl. ebd.: 520). Dies sind Charakteristika, die auch die spezifischen Parameter der »informellen Dialoge« wie des Budapest-Prozesses klar umreißen, den ich nun näher betrachten möchte.
P OLITIK ALS D IDAK TIK : P ROZESSE , D IALOGE UND LERNENDE S TA ATEN Auf der aktuellen Webpräsenz28 des ICMPD wird der Budapest-Prozess als ein informeller Dialog beschrieben, der die Entwicklung »umfassender und nachhaltiger Systeme für geordnete Migration« zum Ziel hat (ICMPD 2010a). Er besteht aus einer institutionalisierten Reihe informeller Konferenzen, Seminare und Workshops, die zur Zeit mehr als 50 Herkunfts-, Transit- und Zielländer einschließlich des westlichen Balkans, der Türkei und den Ländern der GUS-Region zusammenbringt – sowie mehr als zehn internationale Organisationen, die alle am selben Tisch sitzen. Daher 27 | Hier konzentriere ich mich auf empirische Studien, die »horizontale Mechanismen« der Europäisierung anvisieren und »wo es keinen Druck gibt, sich EU-Poli tik modellen anzupassen«, wie es Claudio Radaelli genannt hat (Radaelli 2001: 124). Mit dieser Schwerpunktsetzung möchte ich nicht sagen, dass die EU nicht auch auf Zwangsmaßnahmen setzt. 28 | Eine historische Analyse dieser Selbstdarstellung zeigt, wie sich die selbst zugeschriebenen Ziele sowie der allgemeine migrationsbezogene Diskurs im Laufe der Zeit verändert haben. In der Mitte der 1990er Jahre konzentrierte sie sich auf die »Prävention irregulärer Migration und organisierter Kriminalität« sowie auf »Kontroll«-Maßnahmen.
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kann Gottfried Zürcher den Budapest-Prozess stolz als »geographisch wichtigsten Migrationsdialog auf dem eurasischen Kontinent« beschreiben (vgl. Zürcher 2009). Der Budapest-Prozess geht zurück auf die sogenannte Berlin-Konferenz des Jahres 1991, als der deutsche Innenminister Wolfgang Schäuble 26 Staaten einlud, um Maßnahmen gegen die wachsende irreguläre Migration aus dem Osten zu diskutieren (vgl. Georgi 2007: 29). Daraus entstand eine Reihe von Konferenzen, die zu einer weiteren Ministerkonferenz in Budapest im Jahr 1993 führte, wodurch der Prozess seinen Namen bekam. Seit 1994 hat das ICMPD die Rolle des Sekretariats inne, was in der Praxis bedeutet, dass ein(e) Verbindungsbeamte(r) und ein Sekretär dem Prozess ständig zuarbeiten – die anderen Abteilungen des ICMPD wie die Anti-Trafficking-Unit oder die Bordermanagement- und VisaAbteilung werden nur einbezogen, wo Bedarf an »Hintergrundpapieren« oder die Nachfrage nach spezialisiertem Know-how besteht. Im Jahr 2006 hat die türkische Regierung den Vorsitz des Prozesses von Ungarn übernommen, was die geografische Neuausrichtung des Prozesses in Richtung der GUS-Region, wie sie von der vierten Ministerkonferenz von Rhodos im Jahr 2004 (ICMPD 2010b) angelegt wurde, verdeutlicht. Der MTM-Prozess (Dialogue on Mediterranean Transit Migration) hat seit seinem Start 2002 eine starke Ausrichtung auf Fragen der Sicherheit,29 einschließlich der Zusammenarbeit mit Europol und Frontex, gelegt, um, in den Worten der MTM-Mitarbeiter_innen, »irreguläre Migration zu verhindern und damit die Voraussetzungen für legale Migration zu schaffen« (MTM 2008). Dabei interessierte mich im Laufe meiner Forschung insbesondere die Frage, wie im Rahmen dieser Dialoge »Politik« gemacht wird und Macht generiert wird. So kam ich nahezu regelmäßig von dem Besuch eines Workshops oder Seminars des Budapester Prozesses30 irritiert nach Hause und fragte mich, worin denn die politische Effektivität und Rationalität 29 | Diese Betonung der Sicherheitsaspekte war Gegenstand höchst kontroverser Debatten unter ICMPD-Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, wobei die Gegner dieser Orientierung sich selbst als die »Menschenrechtsfraktion« bezeichneten. In diesem Sinne wurde das Team des MTM-Dialogs auch von einigen nicht wirklich gut geleitet, allerdings waren sie sehr erfolgreich, was die Außenwirkung ihres Dialogprozesses und v.a. die I-Map anbelangt. 30 | Derzeit gibt es folgende Arbeitsgruppen: zur irregulären Transit-Migration durch Südosteuropa; zur Entwicklung der Migrationssysteme; zu irregulären Mi-
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dieser Art des Zusammenkommens und Redenhaltens stecke. Denn nicht nur die Treffen waren von den jeweiligen Delegationen des ausrichtenden Landes unterschiedlich gut organisiert und moderiert, auch die Referenten und Referentinnen und Teilnehmenden zeigten sich unterschiedlich gut informiert und teils fragte man sich, warum sie und mit welchem politischen Mandat sie von ihren Ministerien zu dem Treffen delegiert worden waren. Vertreter und Vertreterinnen von internationalen Organisationen stellten im Gespräch mit mir immer wieder die Effektivität der Workshops infrage. Einmal bezeichnete einer das Treffen dann auch als »Eurovision der Staaten«. So ging ich, verwirrt ob des Eindrucks, Teil eines politischen Brainstormings oder einer Show zu sein mit unterschiedlich passend ausgewählten Delegierten aus nationalen Ministerien und Gremien, auf die Suche nach den »echten« Orten, wo die »eigentliche Politik« während der Sitzungen gemacht würde. Hierbei dauerte es nicht lange bis ich die Hinterbühnen, die Kolonnaden und Kaffeepausen wahrnahm oder bis ich die zentrale Bedeutung der Vorbereitung der Tagesordnung durch das Sekretariat verstand, die vielen meiner Gesprächspartner intransparent erschien; der bereits genannte Vertreter wies mich ferner auf die Bedeutung und die diplomatischen Formulierungskünste der »Schlussfolgerungen« hin, die insbesondere unter der Ägide des ICMPD entstanden (wenn sie nicht vorher schon formuliert wurden). So meinte er, da die Konferenzen die »Show« seien, komme es auf die Abschlusserklärung an, die gut vorbereitet sein sollten. Auch klagten einige Teilnehmer_innen – interessanterweise oftmals aus internationalen Organisationen oder operativen Institutionen wie Europol – über einen Mangel an Kohärenz und über die Verdreifachung von Initiativen und Wissens-Pools in der Migrationspolitik auf europäischer Ebene und bezeichneten den ganzen Reigen als »Konferenz-Tourismus« (vgl. Feldtagebuch Istanbul 2008). Ferner bestand das Gefühl, wie es von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen der Generaldirektion für Justiz und Inneres zum Ausdruck gebracht wurde, dass angesichts hochentwickelter Instrumente der offiziellen EU-Politik etwa der Europäischen Nachbarschaftspolitik (ENP), der Budapest-Prozess überlebt habe (vgl. Feldtagebuch Trabzon). Gottfried Zürcher wusste um diese »Dialog-Müdigkeit«, wie er
g ra tionsbewegungen und Asyl; zu Einwanderung und Aufnahmepolitik; zu Rückkehr und Rückübernahme; zur Schwarzmeer-Region.
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mir einmal erzählte, und einige Mitgliedsstaaten hätten sich auch mangels konkreter Ergebnisse aus dem Prozess zurückgezogen. Und dennoch, aus der theoretischen Perspektive der Gouvernementalität, sind es gerade diese Informalität, diese Offenheit und der »pädagogische Charakter«, die zusammen eine Atmosphäre der »Gleichheit« zwischen den unterschiedlich stark positionierten Akteuren schafften und so den »Erfolg« des Budapester Prozesses als ein sehr wirksames networking-Instrument in Einklang mit dem neuen »soft mode of governance« ausmachten. So waren sich dann andererseits auch zahlreiche meiner Gesprächspartner, meist Delegierte staatlicher Apparate wie des Grenzschutz oder von Migrationsbürokratien, darin einig, dass »if you don’t have any dialogue with your colleagues, you fail« (Gespräche Istanbul 2008). Sie wiederholten in den Gesprächen mit mir das derzeitige politikbestimmende Credo, das eine »international cooperation« sein müsse. Selbst der Chef der türkischen Jendarma meinte auf einer von der ICMPD und dem Budapester Prozess mitorganisierten Konferenz im Jahr 2008 in Istanbul, dass er diesen »multi-disciplinary activ approach« unterstütze. Und der Vertreter der IOM brachte es auf den Punkt, als er dort sagte: »It’s all about cooperation, direct contacts and trust to build networks.« (Feldtagebuch Istanbul 2008) In einem Interview über die Arbeit des Budapester Prozesses, das kürzlich in »Euroasylum« (2009) erschienen ist, betonte auch Gottfried Zürcher diese Eigenschaften. In dem Interview beschrieb er das »übergeordnete Ziel« des Budapester Prozesses als »Diskussions- und Informationsaustausch unter Experten auf technischem Niveau und im informellen Rahmen«. Dann fuhr er fort: »Zusammenfassend sollten einige Aspekte erwähnt werden, welche den Mehrwert des Informations- und Erfahrungsaustausches innerhalb des BudapestProzesses verdeutlichen: Der BP bildet einen wichtigen Rahmen für den Dialog und Informationsaustausch; er bietet einen Rahmen, in dem Staaten und andere Akteure sich auf gleicher Augenhöhe begegnen können, um Fragen von gemeinsamem Interesse in einem informellen Umfeld zu erörtern; die Informalität, die technische Ausrichtung und der unverbindliche Charakter von Empfehlungen, eröffnet den nötigen Spielraum für Diskussionen über heikle Themen […].« (vgl. Zürcher 2009)
So war er völlig davon überzeugt, dass der Budapest-Prozess noch nicht ausgedient habe und er glaubte immer noch, dass solche informellen
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Foren, die Ideen ventilierten, Lernprozesse auslösten, ein gemeinsames Verständnis ermöglichten und die vertrauensvolle Beziehungen schafften, notwendige Voraussetzung für gute Ergebnisse nachher in der formellen Politik darstellten (vgl. Interview Zürcher 2008). Und vor allem in politisch schwierigen und konfliktreichen Situationen – z.B. mit Ländern wie Anfang der 2000er Jahre noch mit den Regimen Libyens oder Syriens, die mit der EU kein gemeinsames politisches Verständnis teilten – setze eine formelle Politik »relationship building« voraus. Zürcher legt dann auch andere Kriterien an, um die Wirksamkeit des Verfahrens zu beurteilen. Es sind nicht so sehr die konkreten Ergebnisse, sondern die didaktischen und vertrauensbildenden Dimensionen, die für ihn wichtig sind. Zürcher legt den Schwerpunkt auf Selbst-Führung seitens der staatlichen Apparate – das sei das Regierungs-Rezept für den Erfolg, da »Maßnahmen akzeptiert werden müssen, um umgesetzt zu werden«. In dem bereits zitierten Interview drückt er dies so aus: »Der wichtigste Aspekt des Budapester Prozesses ist sicherlich die Vorbereitung, die Vorbereitung und Schaffung einer gemeinsamen Sprache, eines gemeinsamen Verständnisses. In diesem Sinne bedeutet es Vertrauensbildung und erleichtert die spätere Phase der formellen Zusammenarbeit, die in bilaterale oder multilaterale Instrumente und konkrete Verpflichtungen mündet, die völlig jenseits eines solchen Verfahrens liegen.« (Interview Zürcher 2008)
Gegenüber der EU sieht der Direktor die Funktion des ICMPD und der Dialoge dagegen vor allem darin bestehen, dass sie als Früherkennungssystem und »path finding mission« dienten, d.h. als Laboratorium neuer Politiken. Damit ist ganz klar das zentrale Arbeitsfeld bzw. das Produkt des ICMPD umrissen, nämlich Wissen zu produzieren, zu akquirieren, zu speichern, zu interpretieren, zu transferieren, zu vermitteln und es zu einem maßgeschneiderten Produkt beispielsweise für EU-Projektanträge und neue Kommissionspapiere aufzubereiten. Dem Budapest-Prozess und dem MTM-Dialog kommt hierbei die Rolle zu, ein »Wissens-Netzwerk« zu erstellen, um »gezielt das Feld der Migration regierbar und verwaltbar zu machen« (vgl. Ilcan/Phillips 2008: 712, siehe auch Hess/Karakayali 2007).31 Hierbei ist die Gründung des ICMPD 31 | Im Zuge des Forschungsprojekts Transit Migration haben Serhat Karakayali und ich die Bedeutung der Mobilisierung, Verbreitung und Produktion von
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selbst bereits als Indiz zu lesen, dass die Wissensproduktion im Feld der Migration angesichts ihres fluiden Charakters gar nicht so einfach ist, wie es auch die verschiedenen EU-Dokumente hierzu immer wieder belegen, die nach wie vor den weiteren Ausbau von Technologien zur Wissensproduktion und -distribution fordern (vgl. Stockholm Programm 2009). Dabei dominiert weiterhin der Glaube in die Aussagekraft quantifizierbaren statistischen Wissens, wobei Bruno, Jacquot und Mandin hierin eine Funktion des technokratischen Regieren erblicken, das sie als »government by numbers« bezeichnen, welches auf der Quantifizierung politischer Ziele beruhe (Bruno/Jacquot/Mandin 2006: 528). Studien zur Wissensproduktion im Bereich der »undokumentierten Migration« haben die Geschichte der statistischen und quantifizierenden (demografischen) Techniken aufgezeigt. Das Feld der irregulären Migration ist seiner Natur nach durch die Unmöglichkeit des korrekten Zählens gekennzeichnet, wie es im Begriff der »Dunkelfeld«-Problematik ausgedrückt ist (vgl. Karakayali 2008). Dennoch ist nicht nur die akademische Forschung zu diesem Thema durch das »Zahlenspiel« angetrieben. Unzählige Projekte zum Kapazitätenaufbau in den Bereichen Migration und Grenzschutz beinhalten als allerersten Schritt, die Einführung statistischer Verfahren und konkreter Zählpraktiken auf nationaler und lokaler operativer Ebene der beteiligten Staaten (siehe die zahlreichen Projektbeschreibungen auf der ICMPD-Website). So war es nicht wirklich verwunderlich, dass nahezu alle nationalen Präsentationen während der Sitzungen des Budapester Prozesses auf die Ausdruckskraft von statistischen Daten, Grafiken und Zahlen mit einer Art spielerischem Vertrauen setzten, während die Power-PointPräsentationen ansonsten meist unlesbar waren. Und das einzige konkrete Produkt des Budapest-Prozesses war bislang das jährlich erscheinende Year Book on Illegal Migration, Human Smuggling and Trafficking in Central and Eastern Europe, bestehend aus Erhebungen zu Migrationssteuerung, Grenzkontrolle und Festnahmen aus 22 Staaten (ICMPD 2010c). In Anlehnung an die sogenannte I-Map des MTM Dialogs, einer interaktiven digitalen Karte, die auf einer Datenbank aufbauend in Echtzeit versucht, Migrationsrouten abzubilden (vgl. Hess 2010), baut das Budapest-Team gerade an einer ähnlichen digitalen, visualisierbaren Datenerfassungsstrategie. Wissen über Migrationsbewegungen im Zusammenhang mit dem Annäherungsprozess der Türkei an die EU aufgezeigt, infolgedessen sich auch die Türkei dem Schengen-Acquis anpassen musste (2007).
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Z USAMMENFASSUNG In den letzten Abschnitten habe ich einige Dynamiken und Technologien aufzeigen können, wie das ICMPD als von Staaten getragene intergouvernementale Consultancy Organisation im Verbund mit der EU-Kommission, der IOM und einzelnen westlichen Staaten die Europäisierung bzw. die Globalisierung der EU-Migrationsmanagement-Politik betreibt. Hierbei habe ich herausgearbeitet, wie das ICMPD seine eigene Rolle als »neutraler« transversaler Dienstleister und Wissensbroker versteht, der die verschiedenen positionierten Akteure von staatlichen Apparaten, internationalen und europäischen Organisationen bis hin zu den NGOs und der Zivilgesellschaft um einen Tisch versammelt, um ganz im Sinne von Governance quer zu den gängigen Unterscheidungskriterien und disziplinären Differenzen »vertrauensbildende« Maßnahmen und »Ideen-Austausch« auf »Augenhöhe« zu betreiben. Diese Qualitäten, die insbesondere die »informellen Dialoge« wie den Budapester Prozess oder den MTM Dialog auszeichnen, sind es dann auch, durch die sich selbst so »schwierige« und für die offizielle EU-Politik (noch nicht) opportune Akteure wie seinerseits Lybien unter Ghaddafi in die Rationalitäten und Praktiken des EUropäischen Migrationsmanagements integrieren lassen. Damit unterstützt das ICMPD nicht nur als selbst erklärte »Service-Organisation« den Ausbau und die Externalisierung der EUropäischen Migrations- und Grenzpolitik, indem sie die betreffenden Staatsapparate schult und trainiert, Expertisen und Evaluationen erstellt, sondern sie ist ihr selbst in mancher Hinsicht voraus und interpretiert und definiert sie eigenständig um. Getrieben von der ökonomischen Logik der Projektaquise wird sie hierbei in allen Feldern tätig, wo im geografischen als auch im inhaltlichen Sinne »Geld zu machen« ist. Die nachdenklicheren Töne des Generaldirektors Zürchers gehören hierbei der Vergangenheit an. So regiert seit einem Jahr ein neuer Generaldirektor und eine neue Corporate Identity im schlichten Grau bestimmt den neuen Webauftritt. Dabei habe ich bereits auf Brüche und Konflikte dieses »multi-agency approaches« hingewiesen, wie ich sie in den Büros des ICMP aber auch auf den Workshops und Konferenzen beobachten konnte: zwischen law enforcement und Menschenrechtsregime, zwischen pädagogischen Nachhilfeansätzen, die die Staaten nicht aus ihrer Gestaltungsverantwortung entlassen wollen, und anderen, die selbst Staat spielen bzw. zum Staat werden.
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Dabei scheinen alle an dem Projekt »Migrationsmanagement« beteiligten Akteure (auch die NGOs, vgl. Hess 2010) in der Praxis der Wissensproduktion involviert zu sein und sich dieser verschrieben zu haben, wobei immer neue, v.a. digitale tools und Lösungen erprobt werden und zum Einsatz kommen (siehe die Weiterentwicklung der I-Map, vgl. I-Map 2012). Die spezifische Rolle des ICMPD besteht in dieser Hinsicht darin, den Wissensprozess transversal zu gestalten, d.h. zum einen als intermediäre Institution, Wissen so aufzubereiten und weiterzuvermitteln, dass es einerseits als »neutrale« Beratung und Dienstleistung bei den Staaten ankommt, während in Richtung EU andererseits versucht wird, das Wissen so aufzubereiten, dass es Einfluss auf EU-Entscheidungen nehmen kann. Zum anderen kann das ICMPD auch direkt mit nicht-staatlichen Akteuren wie NGOs zusammenarbeiten und die verschiedensten Gruppen inter-sektoral und quer zu den diversen Ebenen zusammenbringen. Vor diesem Hintergrund scheint das ICMPD als transversal und inter-sektoral operierender Wissensmarkler ein Akteur der neuen Regierungsarchitektur par excellence zu sein. Diese politischen Prozesse, die sich immer mehr in kaum zu überblickenden gouvernementalen Regierensnetzwerken abspielen, erfordern gerade eine ethnografische mitgehende und konstruktivistisch angelegte Forschungshaltung, die in situ dem making of politics und policy auf der Spur ist. Ein ethnografischer Approach ist umso mehr gefragt, wenn Politik nicht mehr nur dort gemacht wird, wo wir sie mit unserem modernen bürgerlichen Staatsverständnis bislang üblicherweise verortet haben, sondern beispielsweise auch von zivilgesellschaftlich situierten NGOs; dies umso mehr als sich auch die Effekte nicht direkt von den Intentionen ableiten lassen, die politische Praktiken motivieren. Insofern gilt es teilnehmend sich in die Komplexität und Widersprüchlichkeit der neuen politischen Figurationen und Assemblagen zu begeben und dort den Verbindungen, den Akteuren, Diskursen, Rationalitäten und Effekten nachzufolgen, wie es die Transit Migration Forschungsgruppe mit ihrer ethnografischen Regimeanalyse intendiert hat (2007). Wir bezogen uns hier auf den Regimebegriff, da er in der Lage ist eine »Vielzahl von Akteuren und Diskursen mitein[zu] beziehen, deren Praktiken sich aufeinander beziehen, doch nicht in Form einer zentralen (systemischen) Logik oder Rationalität, sondern im Sinne eines Aushandlungsraums« (Hess/Tsianos 2010: 253), wie er sich auch im Falle des Budapester Prozesses gezeigt hat. An anderer Stelle habe ich hierzu zusammen mit Vassilis Tsianos in Anlehnung an Goerge E. Marcus Be-
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griffs des mappings, wie er ihn in seinem Artikel zur multi-sited ethnography entwickelt hat (1995), für einen radikalen Konstruktivismus im/des Forschungsprozess/es plädiert im Sinne »einer erkenntnistheoretisch angeleiteten Praxis der Konstruktion von Elementen und Akteuren und um ihr In-Beziehung-Setzen in einem von den Forschenden selbst imaginierten und konstruierten Raum« (ebd.: 253). Diese analytisch hoch sensible ethnografische mitgehende und aufsuchende Politikforschung ist geeignet, diese neuen dynamischen und transversal angelegten Regierensnetzwerke mindestens zum Teil zu decodieren.
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»Niemand darf sich sicher fühlen!« Anthropologische Perspektiven auf die Politik der Inneren Sicherheit Alexandra Schwell
1. E INLEITUNG Der Titel dieses Textes stammt aus einem Interview, das ich im Juni 2010 mit einem leitenden Beamten der österreichischen Polizei in Wien führte. Das Gespräch drehte sich um die sogenannten Ausgleichsmaßnahmen der Wiener Polizei, die im Dezember 2007 eingesetzt wurden, um das durch die Erweiterung der Schengenzone und den Wegfall der Grenzkontrollen zu den osteuropäischen Nachbarn vermeintlich entstandene Sicherheitsdefizit wettzumachen. Diese Maßnahmen, so der Beamte, bestehen in erster Linie in »verdachtsabhängigen« Kontrollen von »Fremden«. Herr Raphael, so soll er hier genannt werden, bezog sich zudem auf wiederkehrend erhobene Vorwürfe, die Wiener Polizei betreibe Kontrollen nach dem Muster des Ethnic Profiling1, demzufolge allein Merkmale wie Hautfarbe oder Herkunft ein Verdachtsmoment begründen (siehe Republik Österreich 2009). Diesen Vorwurf wies er weit von sich, und er bestand darauf, die Polizei dürfe auf keinen Fall einen derartigen Eindruck erwecken, das sage er seinen Leuten auch immer wieder. Sein Gegenmittel: Nicht nur die mutmaßlichen Ausländer, die Schwarzen und die Dunkelhäutigen, son1 | Es existiert keine verbindliche Definition für Ethnic Profiling, allgemein beschreibt der Begriff jedoch: »the police practice of stopping someone for questioning or searching on the basis of their ethnic or ›racial‹ appearance and not because of their behaviour or because they match an individual suspect description« (Goodey 2006: 207).
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dern immer auch ein paar weiße Österreicher kontrollieren. Sich ja nicht angreifbar machen. Sein Credo: »Kontrolliert so, dass sich jeder betroffen fühlt! Niemand darf sich sicher fühlen!« Aber sollte es nicht eigentlich darum gehen, dass sich alle sicher fühlen sollten? Wessen Sicherheit wird hier verhandelt und gegeneinander aufgewogen? Herr Raphael fasst mit dem oben zitierten Satz das Wesen der Praktiken, Diskurse und Politiken der inneren Sicherheit nicht allein in Österreich zusammen. Er umschreibt ein Universum aus Gut und Böse, aus unterschiedlichen Wahrheiten und gegenseitigen Ängsten. Nur wenn diejenigen, die die Referenzpunkte sicherheitspolitischer Maßnahmen sind, sich nicht mehr sicher fühlen können, dann erst kann sich die »Bevölkerung« beruhigt zurücklehnen. Inwieweit dies gelingt, steht und fällt mit dem Vertrauen in die Effizienz und das Vermögen von Polizei und Sicherheitspolitik. Diesen Vorgang der Securitization, den Prozess, der aus gesellschaftlich diskutierten Themen Sicherheitsthemen werden lässt, werde ich im folgenden Beitrag aus einer anthropologischen Perspektive nachzeichnen und analysieren. Obwohl Sicherheit in vielen ethnologischen und kulturanthropologischen Arbeiten unterschwellig eine wichtige Rolle spielt, taucht sie selten als eigenständige Forschungskategorie auf. Entsprechend hat sich bislang kein eigener disziplinärer theoretischer Ansatz zur Beschäftigung mit der Thematik herausgebildet. Diese Lücke möchte der vorliegende Text ein Stück weit schließen. Sicherheit, sofern sie über das grundlegende menschliche Bedürfnis nach Geborgenheit und Schutz hinausgeht, hat häufig eine staatliche, und damit auch eine hochgradig politische Dimension. Politiken wirken auf vielfältige Weise auf Menschen ein, indem sie sie kategorisieren, normieren, erziehen, besteuern, kriminalisieren, gesund machen (oder auch nicht) und damit ausschließen oder einschließen. Politiken haben einen kaum zu überschätzenden Einfluss auf die Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten von Akteuren. Gleichzeitig besteht die Ironie darin, dass Politiken wohl genau deshalb so erfolgreich sind, weil sie häufig als apolitisch erscheinen. Die Welt ist nun einmal so. Diese scheinbare Neutralität und Rationalität gilt es zu hinterfragen: »Thus, a key task for the anthropology of policy is to expose the political effects of allegedly neutral statements about reality.« (Wedel et al. 2005: 37) Der Text folgt damit dem Forschungsprogramm einer Anthropology of Policy, wie es vor allem in den Beiträgen der von Shore und Wright (1997a) und Shore, Wright und Però (2011) he-
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rausgegebenen Sammelbände formuliert wurde, und das methodologisch wie theoretisch neue Wege eröffnet, Politik(en) anthropologisch in den Blick zu nehmen: »From our perspective, policies are not simply external, generalised or constraining forces, nor are they confined to texts. Rather, they are productive, performative and continually contested. A policy finds expression through sequences of events; it creates new social and semantic spaces, new sets of relations, new political subjects and new webs of meaning.« (Shore/Wright 2011: 1) Der folgende Abschnitt führt in unterschiedliche Ansätze zur Bearbeitung von Sicherheit und Unsicherheit ein. Im nächsten Schritt werden theoretische Grundzüge zu einer Anthropologie der Sicherheit vorgeschlagen und anhand eines empirischen Beispiels erläutert: Eine ethnologischkulturanthropologische Perspektive ermöglicht den Einbezug alltäglicher Praktiken und alltagskultureller Phänomene, die von der Makroebene gerahmt werden und wiederum auf sie zurückwirken. Gesellschaftsübergreifende Prozesse, wie die Europäisierung von Politiken der inneren Sicherheit, finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern haben konkrete und lokal situierte Effekte auf der Ebene des sozialen Handelns, die wiederum auf die überlokale Ebene zurückwirken. Gemeinsam konstituieren sie das Forschungsfeld der europäischen inneren Sicherheit. Diese politische und soziale Konstruktion von Sicherheit wird anhand des Fallbeispiels der eingangs erwähnten Ausgleichsmaßnahmen der Wiener Polizei exemplifiziert. Sie verdeutlichen, wie die Öffnung der Schengengrenze dafür genutzt wurde, eine von der Polizei gewünschte Ausweitung von Kompetenzen mit Verweis auf funktionale Notwendigkeiten und ein angeblich mit der Schengenerweiterung entstandenes Sicherheitsdefizit zu begründen. Abschließend fragt der letzte Teil nach den weiterreichenden gesellschaftlichen Effekten dieser Securitization-Prozesse.
2. E INE A NTHROPOLOGIE
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Spätestens seit 9/11 scheint das Thema Sicherheit allgegenwärtig, der Imperativ der Sicherheit dominiert anscheinend die Art und Weise, wie wir über uns und andere, die soziale Welt, nachdenken (vgl. Goldstein 2010b: 487). Zunächst jedoch ist Sicherheit an sich nichts Schlechtes. In einer sehr allgemein gehaltenen Definition wird Sicherheit als gleichbedeutend mit der Abwesenheit von Bedrohung verstanden (Booth 1991: 319). Sie ist
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idealiter identisch mit Geborgenheit; sie bietet die Möglichkeit zur Entfaltung und zur Entwicklung. Diese Form der Sicherheit ist ein menschliches Grundbedürfnis. Manche Autoren sprechen so auch von einer »anthropologischen Konstante« (so Bonß 1995: 90, zit. n. Eisch-Angus 2009: 71). Sicherheit impliziert aber auch einen bestimmten Zustand einer gesellschaftlichen Ordnung. Laut Foucault (2006: 20) ist Sicherheit ein als optimal angesehener Mittelwert für soziales Funktionieren, der auch die »Grenzen des Akzeptablen« definiert. Sicherheit als Idealzustand stellt zudem ein kollektives öffentliches Gut dar, ein »thick public good« (Walker 2002). Sie ist jedoch nicht nur der Idealzustand, sondern ebenso die Bedingung und gleichzeitig das Mittel für die Herbeiführung und Bewahrung dieser Ordnung. Entsprechend identifiziert Glaeßner (2002: 4) grundsätzlich vier Bedeutungsebenen von Sicherheit: (1) Gewissheit, Verlässlichkeit, Abwesenheit von Gefahr, (2) Statussicherheit und das Bewahren gesellschaftlicher und politischer Verhältnisse, (3) das institutionelle Arrangement zur Abwehr äußerer und innerer Bedrohungen sowie (4) die Unversehrtheit von Rechtsgütern, bis hin zu einem Grundrecht auf Sicherheit. Je nachdem, ob Sicherheit als Grundbedürfnis und erstrebenswert im Fokus steht, oder ob die Instrumentalisierung ihres unweigerlichen Gegenspielers, der Unsicherheit, in den Blick genommen wird, ändern sich die relevanten Bezugspunkte (wer oder was soll wovor geschützt werden?) und Kontextfaktoren (in welche anderen Diskurse und Erzählungen ist (Un-)Sicherheit eingebettet?), unter denen dieses hoch emotionale Thema betrachtet wird. All dies bestimmt in nicht unwesentlichem Maße, inwieweit der Begriff der Sicherheit selbst in einer spezifischen sozialen Gruppe prinzipiell positiv oder negativ konnotiert ist. Was für wen zu welcher Zeit Sicherheit bedeutet, unterliegt gesellschaftlichen Deutungs- und Institutionalisierungsprozessen. Sicherheit ist damit keine objektivierbare Größe, sondern ein soziales Konstrukt, das auf Gewissheiten, Emotionen, Vertrauen und Vertrautheiten basiert. Sicherheit lässt nicht gleichgültig; es ist ein in jeder Hinsicht »essentially contested concept« (Gallie 1956). In der ethnologisch/kulturanthropologischen Literatur ist das Thema Sicherheit bislang wenig bearbeitet worden, jedoch ist durchaus ein Interessenzuwachs zu verzeichnen: Weldes und Kollegen unternehmen den Versuch, eine interdisziplinäre Brücke zwischen Anthropologie und den vor allem US-amerikanischen Security Studies der Internationalen Beziehungen zu schlagen (Weldes et al. 1999), Maguire (2009) betrachtet den
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Einsatz von Biometrie, die Beiträge in Bajc (2011) fragen danach, wie privates und öffentliches Leben vom »Meta-Frame« der Sicherheit und Überwachung geprägt werden, und Cultural Anthropology widmete dem Thema Sicherheit im Jahr 2009 eine eigene virtuelle Ausgabe.2 Im deutschsprachigen Raum beschäftigt sich Eisch-Angus (2011) mit dem Komplex »safety/security« in Alltagsdiskursen und Praktiken der Gouvernementalität sowie mit der Praxis der ethnografischen Methode bei der Erforschung von Sicherheit (Eisch-Angus 2009). Zudem zeigen zahlreiche Autoren, dass Sicherheit in verschiedenen Kontexten durchaus unterschiedliche Funktionen und Bedeutungen zugeschrieben werden können, wie Kent (2006) am Beispiel Kambodschas oder Goldstein (2010b) für Bolivien beschreiben. Bubandt benutzt dabei den Begriff der »vernacular security«, um auf die lokale Verankerung und Kontextabhängigkeit von Sicherheitsvorstellungen hinzuweisen: »›Vernacular security‹ is a convenient term for the analysis of different scales of creating imagined communities through a comparison of different but constantly interpenetrating political forms of management of threat and (un)certainty.« (Bubandt 2005: 277) Aus einer anderen Perspektive heraus haben sich vor allem Eriksen und Kollegen (Eriksen et al. 2010) damit beschäftigt, wie der Begriff der Human Security, der Mitte der 1990er Jahre im Dunstkreis des United Nations Development Programme (UNDP) aufgetreten ist, für das Fach nutzbar gemacht werden kann.3 Tehranian (2004) beschäftigt sich insbesondere im Zusammenhang mit Migration zudem mit der Cultural Security als einer spezifischen Dimension von Human Security. Einen wiederum stark militärisch informierten sowie auf den Staat fokussierten Begriff von Sicherheit bearbeitet Gusterson (2004, 2007) in seinen Untersuchungen zu Krieg, Militarismus und Atommacht und führt, in Anlehnung an Appadurai (1997), den Begriff der Securityscapes ein, wobei er sich gleichzeitig 2 | Http://culanth.org/?q=node/258, eingesehen am 01.02.2013. 3 | Nicht zuletzt existiert, im Unterschied zum Anspruch der Formulierung einer »Anthropology of Security«, die sogenannte Security Anthropology. Hierbei handelt es sich um eine vornehmlich US-amerikanische Diskussion, die sich um die Frage dreht, ob es für Anthropologen ethisch vertretbar sei, für Regierungsinstitutionen und Militär Informationen über die Bevölkerung in Einsatzgebieten bereitzustellen. Gusterson (2007: 164) verwendet für diese besondere Form der »angewandten« Anthropologie den Begriff weaponizing culture – der Versuch, Kultur »waffenfähig« zu machen.
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explizit gegen die Tendenz vieler anthropologischer Ansätze zur Globalisierung wendet, die staatliche Dimension außen vor zu lassen (Gusterson 2004). Für ihn umfasst ein Securityscape »asymmetrical distributions of weaponry, military force, and military-scientific resources among nationstates and the local and global imaginaries of identity, power, and vulnerability that accompany these distributions« (Gusterson 2004: 166). Obwohl der Begriff in der Folge weitreichend aufgegriffen wurde, monieren Kritiker den wiederum zu engen Fokus auf die Rolle des Nationalstaates und fordern den Einbezug heterogener, hybrider und verknüpfter Akteure, die staatlich oder nicht-staatlich, privat oder öffentlich sein können (Albro et al. 2012: 11). Entsprechend schließt sich dieser Text der Kritik an und versteht Securityscapes als liminale Räume, »where the practices of everyday life are unstable and insecure and where bodies are subjected to routine surveillance and violence« (Wall/Monahan 2011: 240). Im Zuge einer zunehmenden Vermischung von innerer und äußerer Sicherheit, Polizei und Militär, erscheint es zudem sinnvoll, Securityscapes nicht allein auf den militärischen Bereich zu beschränken, sondern auch andere Formen der Ver-Unsicherung einzubeziehen.
2.1 Das Konzept der Securitization Auf der Suche nach Anknüpfungspunkten und theoretischen Inspirationen wirft der vorliegende Beitrag den Blick über den disziplinären Tellerrand. Im Bereich der europäischen Internationalen Beziehungen sind in den letzten Jahren zahlreiche Arbeiten im Umfeld der sogenannten Neuen Sicherheitstheorien entstanden, die sich aufgrund ihrer theoretischen Ausrichtung als durchaus anschluss- und ausbaufähig für das Vorhaben einer Anthropologie der Sicherheit erweisen (siehe auch Goldstein 2010a, b). Neue theoretische Ansätze zur Sicherheit entstanden in der politikwissenschaftlichen Disziplin der Internationalen Beziehungen in expliziter Abgrenzung zu den Security oder Strategic Studies des Kalten Krieges. Hier herrschte ein enger Begriff von Sicherheit vor, der allein militärisch definiert war und Angriff und Verteidigung im bewaffneten Konflikt mit einem anderen Staat umfasste. Bereits in den 1980er Jahren mit dem Erstarken der Friedens- und Umweltbewegungen, spätestens jedoch mit dem Ende des Kalten Krieges, wurden Stimmen laut, die sich für eine Erweiterung des bis dato eng definierten Sicherheitsbegriffes sowie einen, zumindest
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partiellen, Abschied von der Zentrierung auf den Staat als alleinigem Sicherheitsakteur starkmachen. Die Neuen Sicherheitstheorien entwickelten ein sozialkonstruktivistisches Konzept von Sicherheit, das zwischen den beiden Polen von allein militärisch definierter Sicherheit und einem weiten Begriff von Sicherheit als allem, worüber Menschen sich Sorgen machen können, angesiedelt ist. Sicherheit wurde auf den zivilen, gesellschaftlichen Bereich erweitert. Sie ist damit keine objektive Tatsache, sondern bewusst gewählte Praxis. Indem etwas zum Sicherheitsthema erklärt wird, legitimiert sich ein Akteur selbst dazu, ungewöhnliche und extreme Mittel zur Bekämpfung dieser Bedrohung durchzusetzen, um ein höheres Ziel zu erreichen. Das höchste Ziel ist das Überleben (von Staatsbürgern, eines Staates, einer Nation, einer Firma, des Waldes). Für die Vorreiter dieser Neuen Sicherheitstheorien, die sogenannte Copenhagen School (CS), liegt der Fokus auf dem Sprech-Akt selbst, der ein Thema zu einem Sicherheits-Thema werden lässt (Buzan et al. 1998). Mit diesem Sprech-Akt hebt der Sprecher das Thema aus dem normalen politischen Handlungsablauf heraus, die normalen politischen Regeln gelten nicht mehr: »The necessity of an existential quality (›survival‹) follows from the function of security discourse as lifting [Herv. i.O.] issues to urgency and necessity above normal politics.« (Wæver 1996: 107) Entsprechend schlagkräftig, schnell und außerordentlich wie diese Bedrohungen müssen auch die Gegenmaßnahmen sein. Inwieweit diese Maßnahmen tatsächlich geeignet sind, die außerordentliche Bedrohung in ihre Schranken zu weisen, ist zunächst zweitrangig. Wenn das angesprochene »Publikum«4 (die Öffentlichkeit, die Wähler) diesen Securitizing Move akzeptiert und unterstützt und die außergewöhnlichen Mittel mitträgt, dann ist die Securitization erfolgreich. Der Akteur, der die Bedrohung nicht nur ausgerufen hat, sondern auch gleichzeitig Lösungen liefert, erwirbt symbolisches Kapital, Ressourcen, Legitimität.
4 | Das »Publikum« ist einer der zentralen Begriffe der Neuen Sicherheitstheorien; die Rolle und Handlungsmacht des Publikums für eine Securitization ist unter den Autoren stark umstritten. Eine anthropologische akteurszentrierte Perspektive kann sich den Implikationen des Publikumsbegriffs allerdings kaum anschließen; aus diesem Grund wird, wie in Abschnitt 3.2 deutlich wird, auch das Publikum als mit Handlungsmacht ausgestatteter Akteur betrachtet.
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Der Idealfall für die Autoren der CS ist allerdings der umgekehrte Prozess, die Desecuritization, wenn Themen aus dem Level des Ausnahmezustands herausgenommen und wieder in den normalen politischen Handlungsablauf integriert werden: »Security should be seen as negative, as a failure to deal with issues as normal politics.« (Buzan/Wæver/Wilde 1998: 29) »Sicherheit« und »Politik« werden hier als entgegengesetzte Konzepte begriffen, wobei sich erstere als dominante und strategisch intendierte Interpretation der sozialen Welt durchzusetzen sucht. Die positive Betonung der Desecuritization findet nicht überall gleichermaßen Zustimmung. So sind Vertreter der Human Security wie auch der Critical Security Studies der Ansicht, die beabsichtigte Securitization beispielsweise von Krankheiten wie HIV oder auch Minderheitenrechten könne durchaus eine moralisch vertretbare Ermächtigungsstrategie darstellen, um die Dringlichkeit einer Thematik zu verdeutlichen (vgl. Floyd 2007). Das Modell der Copenhagen School und die Erweiterung des klassischen Sicherheitsbegriffs sind von zahlreichen Autoren kritisiert, jedoch auch aufgegriffen und kritisch wie konstruktiv adaptiert und modifiziert worden. Ein praxeologisch informierter Begriff von Securitization verschiebt den Fokus von der Betonung des Ausnahmezustands hin zu den »diffuse politics of little security nothings« (Huysmans 2011: 372). Damit bezeichnet Huysmans Praktiken, Tätigkeiten oder auch Geräte, denen für sich genommen keine außerordentliche Bedeutung für die Wahrnehmung und Herstellung von Sicherheit innewohnt, die jedoch im Kontext des Securityscapes ihre besondere Bedeutung erlangen, wie Programmierungsalgorithmen, routinehaftes Datensammeln oder der teilnahmslose Blick auf Überwachungskameras: »Yet, these little security nothings are highly significant, since it is they rather than exceptional speech acts that create the securitizing process.« (Huysmans 2011: 377) Vor diesem Hintergrund soll sich Balzacq angeschlossen werden, der Securitization aus einer soziologischen Sichtweise wie folgt definiert: »an articulated assemblage of practices whereby heuristic artefacts (metaphors, policy tools, image repertoires, analogies, stereotypes, emotions, etc.) are contextually mobilized by a securitizing actor, who works to prompt an audience to build a coherent network of implications (feelings, sensations, thoughts and institutions), about the critical vulnerability of a referent object, that concurs with the securitizing actor’s reasons for choices and actions, by in vesting the referent subject with such an aura of unprecedented threatening
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complexion that a customized policy must be undertaken immediately to block its development.« (Balzacq 2011: 3)
Der besondere Beitrag der Kultur- und Sozialanthropologie/Europäischen Ethnologie zum Feld der Sicherheit liegt in diesem Sinne in einem theoretischen wie praktischen Mehrwert: Der Anspruch der Disziplin, lokale Ereignisse eingebettet in ihren weiteren (nationalen und transnationalen) Kontext und die wechselseitigen Effekte zu analysieren, lässt sie als besonders geeignet erscheinen, Fragen der Sicherheit, die sich nicht allein räumlich begrenzt, sondern tendenziell übergreifend stellen, im Wechselspiel mit der lokalen Ebene kritisch zu beleuchten. Sie trägt der Tatsache Rechnung, dass Sicherheit unterschiedlich erfahren und kulturell imaginiert wird. Der skizzierte praxeologische Ansatz und das methodologische Rüstzeug der Ethnografie sind besonders geeignet, die Dynamiken der Securitization aus einer akteurszentrierten Perspektive zu analysieren.
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Die Ausgleichsmaßnahmen (AGM) der Wiener Polizei sind ein hervorragendes Beispiel für mehrere Prozesse, die unter dem Stichwort der Securitization gefasst werden können. Was eine Anthropologie der Sicherheit leisten kann, illustriert die folgende Analyse der AGM als eine von vielen Anwendungsmöglichkeiten und Perspektiven. Eine außerordentliche Bedrohung wird von politischen und polizeilichen Akteuren zum Anlass genommen, unter Bezug auf eine imaginierte Zielgruppe Maßnahmen durchzusetzen, die auf den zweiten Blick in keinem direkten Zusammenhang stehen, sondern diesen lediglich vorspiegeln. Die Ausgleichsmaßnahmen sind Teil eines Securityscapes in einem weiten Sinn, als lokaler Ausdruck einer transnationalen und deterritorialisierten »Landschaft« der Sicherheitsexperten, Bedrohungsszenarien, Kontrolltechnologien und Imaginationen. Wie ich anhand des folgenden Fallbeispiels zeigen werde, sind vier Faktoren für eine anthropologisch informierte Herangehensweise von besonderem Belang: (1) Die Bedeutung des Kontexts, (2) die Werkzeuge der Securitization, (3) die Strategien und Praktiken der unterschiedlichen Akteure sowie (4) der temporale Aspekt des Securitization-Prozesses.
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3.1 Ausgleichsmaßnahmen im Kontext Herr Raphael ist ein hochrangiger Beamter der Bundespolizeidirektion Wien und selbst eng mit den AGM auf leitender Ebene befasst. Er fand sich zu einem ausführlichen, mehrstündigen Gespräch bereit, und er versorgte mich zudem reichlich mit Zeitungsausschnitten, Power-PointPräsentationen und anderen Materialien. Herr Raphael hat seine Karriere außerhalb der Polizei begonnen; entsprechend nimmt er für sich einen kritischen Blick auf die Behörde in Anspruch und möchte nicht alles unhinterfragt geschehen lassen. Herr Raphael gehört damit zu denjenigen Mitarbeitern von Organisationen und Behörden, ohne die ein studying up nur schwer möglich wäre.5 Polizeiliche oder grenzpolizeiliche AGM beziehen sich zumeist auf die sogenannten Schengener Ausgleichsmaßnahmen. Diese AGM sind ein Sammelbegriff für diejenigen Maßnahmen, deren Einführung oder Intensivierung den Wegfall der Grenzkontrollen an den Binnengrenzen der Mitgliedsstaaten der Schengenzone kompensieren sollen. Mit der vollständigen Implementierung der Schengener Abkommen entfallen Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedsstaaten; die Binnengrenze darf an jeder Stelle überschritten werden. Der Logik von Polizei und Politik folgend, ist dieser Wegfall der Grenzkontrollen gleichbedeutend mit einem Verlust an Sicherheit: Die Filterfunktion der nationalen Grenze muss an anderer Stelle ausgeglichen werden, daher der Begriff Ausgleichsmaßnahmen.6 Zu den 5 | Studying up bezieht sich auf die Forderung, ethnologische Forschungen nicht allein auf marginalisierte Gruppen zu richten, also »nach unten« zu forschen, sondern auch gesellschaftlich machtvolle Akteure, Institutionen und Organisationen in den Fokus zu nehmen (vgl. Nader 1972). Wie Warneken/Wittel (1997) ausführen, sind damit jedoch stets auch spezifische methodologische Schwierigkeiten und Fallstricke verbunden, welche die »ethnographische Autorität« infrage stellen können, wenn die zu Beforschenden einen ähnlichen oder höheren sozialen Status besitzen. 6 | Den Befürchtungen hinsichtlich eines entstehenden Sicherheitsdefizits wurde bereits im Schengener Durchführungsübereinkommen in Titel III (Polizei und Sicherheit) sowie mit der Einrichtung des SIS Rechnung getragen. Nichtsdestotrotz spielen vermeintlich drohende Sicherheitseinbußen rund um die Schengener Abkommen immer wieder eine wichtige Rolle, die auch von populistischen Politikern genutzt werden, wie das Beispiel der hochgradig kontroversen Wieder-
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damit verbundenen Werkzeugen zählen so unterschiedliche Maßnahmen wie die Verstärkung der Personenkontrollen an den Außengrenzen, die Harmonisierung der Visapolitik, grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Polizeien, verstärkte justizielle Zusammenarbeit sowie das Schengener Informationssystem (SIS). »Wenn die öffentliche Ordnung oder die nationale Sicherheit es indessen erfordern«, darf eine, jedoch lediglich temporäre, Rückkehr zu Grenzkontrollen erfolgen, wie in Art. 2 des Schengener Durchführungsübereinkommens (SDÜ) festgelegt. Das SDÜ und der Schengener Grenzkodex »untersagen zwar Grenzübertrittskontrollen an den Binnengrenzen, überlassen aber die Durchführung von Personenkontrollen im Inland der jeweiligen nationalen Gesetzgebung.« (Maurer/Kant 2008: 53) So auch in Österreich. Diesem sehr weiten Begriff von Ausgleichsmaßnahmen steht ein konkreter, schon fast schlagwortartiger Begriff gegenüber, der als Referenzpunkt für eine spezifische Kontrollform gebraucht wird: AGM im österreichischen öffentlichen und medialen Diskurs beziehen sich fast ausschließlich auf die Kompensation der mit Dezember 2007 abgebauten Grenzkontrollen zu den osteuropäischen Mitgliedsstaaten der EU.7 Dabei ist höchst relevant, dass »jeder Grenzkontrollaspekt […] zu vermeiden« ist (Bundesministerium für Inneres o.J.: 1). Weiter heißt es: »Die Grenzkontrolle an den nunmehrigen Binnengrenzen wird ersetzt durch ein mehrschichtiges Fahndungssystem, das aus dem nun unkontrolliert fließenden grenzüberschreitenden Verkehr die vor allem kriminal-, verkehrs- und migrationsrelevanten Verdachtsmomente diagnostiziert, ausfiltert und einer polizeilichen Intensivkontrolle unterzieht. Dies geschieht in einem geographischen Raum von nicht von vorn herein zu definierender Dimension und setzt sich an den Hauptverkehrsrouten bis in die Ballungszentren fort.« (Ebd.)
Das Beispiel der AGM, deren Funktion und Bedeutung sich allein aus ihrer Einbettung in ein europäisches Sicherheitssystem erschließt, verdeutlicht, dass Sicherheit nicht als isolierter Sprech-Akt betrachtet werden kann. Sicherheit findet nicht nur dort statt, wo jemand (sinngemäß) »Sieinführung der Grenzkontrollen auf Druck der Dänischen Volkspartei von Mai bis Oktober 2011 zeigt. 7 | Dabei wurde bereits 1997 nach Österreichs Schengenbeitritt eine sogenannte Fachinspektion AGM in Tirol eingerichtet.
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cherheit« ausspricht. Eine erfolgreiche Securitization kann vielmehr ausschließlich innerhalb eines unterstützenden Umfeldes erfolgen, das in der Lage ist, Kontext und Referenzen zu verknüpfen und zu dekodieren (vgl. Stritzel 2007: 367). Securitization erscheint damit als Produkt eines historischen Prozesses, der jedoch selbst nie abgeschlossen ist, und zugleich als Symbol, das nur für diejenigen bedeutsam ist, die in der Lage sind, es zu lesen. Entsprechend erschließen sich die scheinbar längst vergangenen Gefahren durch BSE, das Ozonloch oder den Atomkrieg nicht aus der quantitativ messbaren Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens, sondern aus ihrer Bedeutung und Rezeption innerhalb eines historischen Kontextes. Darüber hinaus können Prozesse der Securitization sowie relevante Akteure in Abhängigkeit vom jeweiligen spezifischen (soziologischen, bürokratischen, politischen, wissenschaftlichen…) Kontext oder Setting differieren (Salter 2008). Was die eine soziale Gruppe als dramatisches Problem begreift, kann eine andere Gruppe wiederum in einem gänzlich anderen Rahmen betrachten. Das Beispiel der (unerlaubten) Migration führt dies einleuchtend vor: Für die Einen ist Migration ein selbstverständlicher Teilbereich der inneren Sicherheit, für Andere spielen dagegen allein soziale, arbeitsmarkt- oder familienpolitische Fragen eine Rolle. Für eine anthropologische Analyse bedeutet dies zugleich, dass die Forschung sich nicht allein auf die Perspektive eines eng umzäunten Feldes beschränken darf, sondern dass der ethnologische Feldbegriff einer Rekonzeptualisierung bedarf. Politiken umspannen weite Räume, verknüpfen verschiedene Akteure, Diskurse und Institutionen und treffen auf unterschiedliche lokale Bedingungen und Übersetzungsprozesse; gleichzeitig stehen politische und damit zusammenhängende Praktiken in Verbindung mit weiter gefassten kontextuellen sozialen, politischen und ökonomischen Prozessen. Dieser Komplexität wird der Ansatz einer teilnehmenden Beobachtung mit dem Fokus auf der Eigenlogik eines räumlich definierten Feldes kaum gerecht; stattdessen schlagen die Protagonisten einer Anthropology of Policy eine alternative Methodologie vor, welche die Verknüpfungen zwischen unterschiedlichen Orten, Diskursen und sozialen Gruppen, die im Rahmen einer Policy entstehen, nachzeichnet: »›Studying through‹ entails multi-site ethnographies which trace policy connections between different organizational and everyday worlds, even where actors in different sites do not know each other or share a moral universe.« (Shore/Wright 1997b: 14) Für die Wahl eines Feldes bedeutet dies:
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»If the field is the full range of people, activities and institutions potentially relevant for the study of the chosen issue, one of the arts of fieldwork is to choose sites within this field and design methods for their ethnographic study so that they shed light on the operations of political processes and their change over time.« (Wright 2011: 28)
Entsprechend der Prämisse, dass in einer Anthropology of Policy »field« und »site« keineswegs gleichzusetzen sind (Shore/Wright 2011: 12), stellen die AGM der Wiener Polizei einen Ort (»site«) innerhalb des weiten Feldes der europäischen Politik der inneren Sicherheit dar. AGM sind also ohne ihren kontextuellen und zugleich historischen Verweis auf die ehemalige Schengen-Außengrenze und die Einbettung in eine europäische Sicherheitsarchitektur nicht zu denken. Sie stehen jedoch gleichzeitig in einem Spannungsverhältnis, da sie ihren Referenzpunkt, die Grenzkontrolle, verleugnen müssen, um der Abschaffung der Binnengrenzkontrollen auch praktisch Genüge zu tun. Die Zielgruppe der AGM, das impliziert dieser Verweis ebenfalls, befindet sich idealiter auf der anderen Seite der Grenze. Der Fokus auf »migrationsrelevante Verdachtsmomente« (s.o.) bedingt es, dass die – im Polizeijargon – »Klientel« der AGM-Beamten in erster Linie aus Nicht-Österreichern besteht; ihre Zusammensetzung entspricht Vorstellungen vom bedrohlichen Anderen, die gleichfalls keine rein österreichische Erfindung sind, sondern beispielsweise in der Liste der für die EU visapflichtigen Drittstaaten festgeschrieben sind. Gleichzeitig finden sich hier verdichtete Fremdbilder vom bedrohlichen »Osten« (vgl. Wolff 1994) und »Balkan« (vgl. Todorova 1999), die sich nicht zuletzt aus der spezifisch österreichischen Situation speisen, sich als ehemalige Kolonialmacht im Habsburger Reich nun von den ehemaligen Kronländern umzingelt zu fühlen (siehe dazu Schwell 2012).
3.2 AGM als Werkzeuge der Securitization Imaginationen und Diskurse zu Sicherheit funktionieren in erster Linie, weil sie in spezifische politische Werkzeuge und Instrumente übersetzt werden, in »policy tools of securitization« (Balzacq 2008). Dies können Gesetze, Regeln, Verordnungen, Datenbanken, aber auch andere Maßnahmen sein, die menschliches Handeln kodifizieren, regeln und auf diese Weise mit Bedeutung versehen. Diese Werkzeuge sind Teil eines spezifischen Dispositivs, und sie spielen eine äußerst relevante Rolle, indem sie
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Sicherheitspraktiken verkörpern und objektivieren. Gleichzeitig strukturieren sie Interaktionen und determinieren Situationen, sie transportieren Hintergrundwissen zu Bedrohungsszenarien und halten Problemlösungen bereit: »Security tools or instruments are the social devices through which professionals of in-security think about a threat. They contribute to the taken-for-grantedness of security practices.« (Balzacq 2011: 16) Die AGM können als Werkzeuge der Securitization gefasst werden, als es sich hier nicht allein um politisch legitimierte bürokratieförmige Institutionen handelt, die im Politikbereich der inneren Sicherheit angesiedelt sind, sondern die Maßnahmen, Praktiken und Institutionen selbst verkörpern den Wahrheitsanspruch (vgl. Foucault 1980: 131) und schreiben ihn fort, indem sie die Aura legitimen staatlichen Handelns weitertragen. Konkret bedeutet dies, dass in Wien drei Fachinspektionen (AGM-PI) existieren, die exakt zum 21. Dezember 2007, dem Tag der Erweiterung der Schengenzone und des Abbaus der Grenzkontrollen zu den osteuropäischen Nachbarstaaten, ihren Dienst aufnahmen und das Stadtgebiet in Überwachungsbereiche einteilen. Hinzu kommt das Operative Zentrum AGM in Wiener Neustadt. Wie Innenministerin Mikl-Leitner verlauten ließ, »setze man [hier] ›die Besten der Besten‹ ein, die dann von hier aus ›an die Brennpunkte in den einzelnen Bundesländern geschickt‹ würden« (Amt der Niederösterreichischen Landesregierung 2011). Die Betonung der Personalqualität verstärkt den Eindruck der Dringlichkeit der Mission. Die AGM-PI sind direkt der Organisations- und Einsatzabteilung im Landespolizeikommando nachgeordnet. Tätigkeitsbereiche sind Kfz-Diebstahl und -Verbringung, Suchtkriminalität, Waffen, Drogen, Dokumente, illegale Migration, Schlepperei und Menschenhandel. Die Dienststellen haben keinen Parteienverkehr. Insgesamt sind 75 Planstellen für die AGM vorgesehen, davon gehören 50% zum Stammpersonal, und 50% kommen aus den Bundesländern, die meisten davon sind ehemalige Grenzschützer. Die Arbeitsbereiche der AGM-Beamten gliedern sich in die Bereiche (1) Fahndungs- und Kontrolltätigkeiten im Großraum Wien, (2) Überwachung der Haupttransitrouten und (3) Überwachung und Kontrolle des internationalen Zugverkehrs und der Bahnhöfe und Bahnknotenpunkte. Dazu zählen beispielsweise auch stark frequentierte U-Bahnhöfe wie der Schwedenplatz. Zudem sind die Beamten der AGM-PI an Schwerpunkteinsätzen und Kooperationen mit anderen Einheiten beteiligt und unterstützen andere Dienststellen bei Bedarf.
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Securitization anhand ihrer Werkzeuge zu betrachten, erhellt den Blick darauf, wie politische Akteure Intentionen in Handlungen übersetzen; zudem zeigt sich, wie ein politisches Werkzeug von sozialen und gesellschaftlichen Prozessen beeinflusst wird. Nicht zuletzt produzieren Werkzeuge Effekte, die häufig viel weitreichender sind als die vordergründigen Ziele (Balzacq 2008: 76). Analog schlagen Shore und Wright (2011: 3) vor, Politiken als Aktanten im Sinne der Akteur-Netzwerk-Theorie zu betrachten. Die Werkzeuge der Securitization sind entscheidend, wenn es darum geht, die Öffentlichkeit mit der »Wahrheit« des Sicherheitsexperten zu verbinden, indem sie kodifiziertem Wissen den Anschein des Richtigen, Neutralen und ewig Wahren verleihen, das unabhängig von menschlichem Zutun Gültigkeit habe. Gleichzeitig informieren und formen sie die Handlungen verschiedener Akteursgruppen.
3.3 Akteure und Sicherheitspraktiken Sicherheitspolitiken und entsprechende Maßnahmen, Gesetze und Regelungen werden von Akteuren ersonnen, und sie werden von diesen Akteuren in Interaktion mit anderen Handelnden in die Tat umgesetzt. Für die Analyse der Politiken der inneren Sicherheit sind deshalb die Akteure der Securitization zentrale Figuren. Die augenfälligsten unter ihnen, die über direkten »Publikumskontakt« verfügen, sind die AGM-Beamten. Jedes Team besteht aus vier Beamten, zwei mehr als im Streifenwagen. Herr Raphael betont den bewusst proaktiven Charakter der AGM-PI, da die Beamten nicht auf Weisung oder Anzeige tätig werden, sondern losfahren und verdachtsabhängige Kontrollen durchführen: »Sie müssen sich ihre Arbeit selbst suchen.« Sie leisten keine Ermittlungsarbeit, und sie werden auch nicht aufgrund von Ermittlungsarbeit tätig. Wenn sie auf etwas stoßen, geben sie den Fall an das Landeskriminalamt ab. Die AGM sind kein Schreibtischjob, sondern die Beamten sollen so viel Zeit wie möglich draußen verbringen. Dabei sind sie in Zivilkleidung und mit Zivil-Kfz unterwegs, führen lediglich die Kokarde mit sich und können sich bei Bedarf zu erkennen geben. Diese Semi-Sichtbarkeit und das damit einhergehende Überraschungsmoment sind nicht allein aus Gründen der Polizeitaktik relevant, sondern spielen eine wichtige dramaturgische Rolle für die öffentlichkeitswirksame Inszenierung von Effizienz, wie später noch deutlich wird.
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Die Aufträge vergibt der Kommandant; es gibt keine festen Vorgaben, welches Team an welchem Ort tätig zu werden hat. Hier ist Eigeninitiative gefragt. Raphael erzählt, wenn es darum gehe, illegale Migranten aufzugreifen, dann solle man an Bahnhöfe und Verkehrsknotenpunkte, wie den Schwedenplatz, gehen. Dort könne man für »Quantität« sorgen, einer von fünf sei ganz bestimmt illegal. Besser als »Quantität« sei allerdings »Qualität«, wenn ein Schlepper gefasst werde. Wenn man dagegen nach Diebesgut und Verbringungskriminalität suchen solle, dann sei man wiederum in anderen Gegenden besser aufgehoben. Wenn also eine Truppe gegen illegale Migration nur in einer Einfamilienhaussiedlung rumstehe, so Raphael, dann wisse man schon, dass die nicht allzu viel taugten. Die Vorgesetzten bauen auf den polizeilichen professionellen Ehrgeiz der Beamten, ihre Aufgabe »als Polizisten« richtig zu machen. Gleichzeitig befördert die Arbeit selbst eine bestimmte, enthumanisierende Sichtweise, die Migranten in Kategorien wie »quantitativ« und »qualitativ« wertvoll einordnet (vgl. Reiner 2000). Entsprechend berichtet der Autor einer Reportage über die AGM im Hausblatt des Innenministeriums von einer erfolglosen Kontrolle eines Zuges im Wiener Westbahnhof: »Diesmal bleibt die Zugskontrolle ohne Fahndungserfolg. ›Am Samstag haben wir mehr Glück gehabt‹, schildert [Polizist] Kelz. 20 Minuten vor der Abfahrt des IC 26, dem ›Stiegl-Express‹ nach Dortmund, die für 10.50 Uhr vorgesehen war, hatten die Beamten zwei Serben aus dem Zug geholt. Sie hatten aufrechte Aufenthaltsverbote.« (Brenner 2008: 22)
In diesem Sinne ähneln die Beamten der AGM-PI den »Street-Level Bureaucrats« Lipskys (2010), die Politiken nicht allein in die Tat umsetzen, sondern sie in Interaktion mit ihrer »Klientel« herstellen und aushandeln. Dabei reproduzieren die Beamten spezifische Vorstellungen und Wahrheiten über Bedrohungsszenarien und »richtiges« Handeln nicht nur, sondern sie tragen sie in die Öffentlichkeit hinein. Insbesondere die Betonung und Förderung der eigenverantwortlichen Rolle von Polizisten, deren vorrangiges Merkmal doch darin bestehen sollte, als anonyme Vertreter des »Monopols legitimen physischen Zwanges« (Weber 2005 [1921]: 39) nüchtern und distanziert zu agieren, verdeutlicht die praxisrelevanten und handlungsanleitenden Aspekte der Werkzeuge der Securitization. Die AGM-Polizisten, Kommandanten und leitenden Beamten sind jedoch nicht die einzigen relevanten Akteure der AGM. Ebenso, wie die
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AGM selbst in das weite Feld der europäischen inneren Sicherheitspolitik eingebettet sind, agieren auch ihre Protagonisten nicht autonom. Zu diesem Netzwerk im weiteren Sinn gehören Sicherheitspolitiker, Mitarbeiter sicherheitsrelevanter Behörden (Ministerien, Polizei, Justiz, Gefängnis, etc.), aber auch privatwirtschaftliche Organisationen und Dienstleister. Didier Bigo verortet diese Securitizing Actors in Anlehnung an Bourdieu (1994) innerhalb eines »Sicherheitsfeldes«, eines sozialen Raumes, wo verschiedene Akteure um Hegemonie, Ressourcen und Einfluss wetteifern. Sowohl Akteure als auch Organisationen sind Teil ihrer jeweiligen sozialen, kulturellen und politischen Umwelt wie auch ihrer spezifischen nationalen Kontrollkultur und -tradition: »The field is thus established between these ›professionals‹, with specific ›rules of the game‹, and rules that presuppose a particular mode of socialization or habitus. This habitus is inherited from the respective professional trajectories and social positions, but is not strongly defined along the lines of national borders.« (Bigo 2008: 14)
Die Glaubwürdigkeit dieser Akteure beruht auf der Behauptung, im Besitz verborgenen und privilegierten Wissens über Sicherheitsbedrohungen zu sein, das sie aus Datenquellen beziehen, die allein für den Insider zugänglich und »lesbar« sind. So wird eine strikte Grenze zwischen Sicherheitsexperten auf der einen Seite und der Bevölkerung und (unwissenden) Kritikern auf der anderen Seite konstruiert. Dieses professionelle Wissen existiert nicht auf der sicherheitspolitischen und -professionellen Hinterbühne allein, sondern es geht über die Grenzen des Sicherheitsfeldes hinaus und zielt darauf ab, sich als verbindlich in der Gesellschaft zu etablieren. Das Feld produziert eine »Wahrheit« im Sinne Foucaults, ein privilegiertes Wissen professioneller und politischer Sicherheitsakteure, das im Idealfall so gut wie unhinterfragt gesellschaftlich akzeptiert wird. Es wird genau deshalb als legitim betrachtet, weil es eben innerhalb des Sicherheitsfeldes der Experten produziert wurde. Je weniger das angesprochene Publikum über ein Thema weiß – weil es z.B. auf Expertenwissen einschlägiger Wissenschaftler (Nanotechnologie) oder der Geheimdienste (Terrorismus) basiert – umso anfälliger wird die öffentliche Meinung zudem für die Dramatisierung unbestätigter wie bestätigter Meldungen sein (Vultee 2011: 84). Ebenso reproduziert die Kontrolle von Menschen mit dunkler Hautfarbe an vielfrequentierten Verkehrsknotenpunkten Wissen
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und Gewissheiten bei außenstehenden Beobachtern: Ganz grundlos werden diese Illegalen/Drogenhändler/Kriminellen ja sicherlich nicht kontrolliert. Securitization funktioniert in diesem Sinne durch Alltagstechnologien, Alltagspraktiken und Aushandlungen sowie durch den Wettstreit von Institutionen innerhalb dieses Sicherheitsfeldes, in dem es um Macht, Ressourcen, Ansehen oder auch nur persönliche Karrieren geht (Bigo 2002: 73). Die Analyse der Praktiken der Sicherheitsexperten ist außerordentlich relevant, da sie es ermöglicht, bürokratische, organisationale und andere Alltagspraktiken in den Blick zu nehmen, die für die Öffentlichkeit normalerweise weitgehend unsichtbar sind und nicht so viel Aufmerksamkeit erhalten wie die »außerordentliche Bedrohung«. Nichtsdestotrotz können sie weit effektiver und nachhaltiger eine Securitization herstellen und beeinflussen als Sprech-Akte über »Ausnahmezustände«. Neben den Securitizing Actors des Sicherheitsfeldes existieren zudem weitere Akteure, die eine wichtige Rolle bei der Analyse von Sicherheitskonstruktionen spielen können, und die in politikwissenschaftlichen Ansätzen zu Securitization zumeist unter dem Begriff des »Publikums« subsumiert werden. Spätestens seit Stuart Halls (1999) Überlegungen zum Mechanismus des Kodierens und Dekodierens hat sich die Ansicht weitgehend durchgesetzt, dass die Beziehung zwischen Sender und Empfänger keineswegs eine Einbahnstraße darstellt, da eine Nachricht auf Seiten des Empfängers durchaus anders (und auch subversiv) interpretiert werden kann als dies vom Sender ursprünglich vorgesehen war. Das Gleiche gilt für die Konstruktion und Aufrechterhaltung eines Sicherheitsthemas. Um also zu verstehen, warum sich eine Securitization als erfolgreich erweist (oder nicht), müssen die zugrundeliegenden Motive nicht nur politischer und sicherheitspraktischer Akteure, sondern auch von Akteuren anderer sozialer Felder in Betracht gezogen werden, die zwar außerhalb des Sicherheitsfeldes stehen, jedoch nichtsdestotrotz Einfluss ausüben können, z.B. über Wahlentscheidungen, Bürgerinitiativen oder Leserbriefe. Eine Analyse, warum diese Akteure einen Securitizing Move ablehnen, unterstützen, oder ihn auch vorantreiben oder sogar fordern, muss die jeweiligen Handlungsstrategien, Motive und Intentionen einschließen. Diese können durchaus über den Sicherheitsdiskurs hinausgehen und andere Themen beinhalten, wie ökonomischen Wohlstand und die Angst vor sozialem Abstieg (vgl. Schwell 2010). Das soll allerdings nicht implizieren, dass diese zivilgesellschaftlichen Akteure sich in derselben Machtposition
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befinden wie die Securitizing Actors des Sicherheitsfeldes; sie können wohl die ursprüngliche Nachricht subvertieren und entsprechend der eigenen Präferenzen interpretieren, aber die Sicherheitsexperten haben nichtsdestotrotz in einem hohen Maß die Autorität, die Agenda zu bestimmen.
3.4 Die Inszenierung und Materialisierung von Sicherheit Die Beschaffenheit der AGM als Werkzeuge forciert nicht allein, quasi nach innen, die Nutzung polizeilich-professionellen Ehrgeizes und des »polizeilichen Auges«, des professionell geschulten spezifischen Blicks polizeilicher Akteure. Dieser bedinge, so Klockars (1980: 39), dass der Polizist seine Umwelt innerhalb einer »ecology of guilt« wahrnehme und als potentielle Straftäter, Opfer oder Tatorte »lese«. Das im Feld produzierte Wissen über Sicherheitsbedrohungen wird zudem aktiv nach außen getragen: Der performative und öffentlichkeitswirksame Aspekt der AGM zeigt sich deutlich, wenn beachtet wird, welchen Anteil die Medien an der Inszenierung von Sicherheits- und Kontrollmaßnahmen haben. Raphael erzählt eine Anekdote: Ein ORF-Team plante einen Bericht über die AGM-PI, und man hatte verabredet, an einem Wiener Bahnhof den Alltag der AGM-Beamten zu drehen. Als Raphael mit dem Fernsehteam eintraf, waren seine Beamten bereits vor Ort und hatten die Reisenden beobachtet. Sie hatten bemerkt, wie einer von ihnen insgesamt acht Bahntickets löste – eine ganze Menge, wie sie fanden. Sie beobachteten, dass der Mann mitnichten zu seiner mehrköpfigen Familie ging, sondern zu einer Gruppe erwachsener Personen, die von den Beamten prompt kontrolliert wurde, und siehe da: Es handelte sich um »illegal aufhältige Personen«; der Mann mit den Fahrkarten war damit automatisch ihr »Schlepper«. Das Team vom ORF war baff und fragte Raphael, ob er die denn extra bestellt habe! Er wiederum war stolz auf seine umsichtigen und raffinierten Beamten.8 Nicht allein führt diese Episode das Insistieren auf »verdachtsabhängige« Kontrollen regelrecht ad absurdum. Sie erhellt auch den Blick auf die Rolle der Medien bei der Inszenierung von Effizienz und der Verbreitung von Wissen über Sicherheitsbedrohungen. Die Medien spielen bei der Securitization einer Thematik eine herausragende Rolle; insbesondere 8 | Zur Funktion von narrativen Heldenerzählungen in der Polizei siehe Shearing/Ericson (1991).
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der Sensationsjournalimus entspricht der Tendenz zur Dramatisierung und stellt einen eindeutigen Interpretationsrahmen bereit, indem Vorstellungen polizeilicher und sicherheitspolitischer Akteure über Bedrohungen häufig kaum gefiltert weitergetragen werden (vgl. Vultee 2011). Insbesondere im Kontext der Schengenerweiterung 2007 überschlugen sich die österreichischen Boulevardmedien geradezu angesichts der angeblich zu erwartenden Migrations- und Einbruchswelle; die Aussicht auf hereinbrechende kriminelle »Ostbanden« ließ die Bevölkerung in Berichterstattung und Leserbriefen zutiefst verängstigt erscheinen. Aus der Fülle der medialen Dramatisierungen sei an dieser Stelle lediglich ein lyrisch herausragender Vertreter genannt: Der mittlerweile verstorbene Kolumnist der »Kronen Zeitung«, Österreichs auflagenstärkstem Blatt, dichtete im Januar 2010: »Also denken die bekannten / sogenannten Asylanten: / ›Von Italien bis Polen / ist für uns nicht viel zu holen. / Durchgewunken sind wir gleich. / Unser Ziel ist Österreich! / Dort gibt es die meiste Beute / und so viele gute Leute. / Schlampert ist die Politik. / Dort macht unsereins sein Glück.‹ / Wenn die Leute an den Spitzen / schon auf ihren Ohren sitzen, / muss sich wehren halt der Bürger / gegen seines Wohlstands Würger.« (Martin 2010)
Die Protagonisten der Bedrohung existieren in diesem Narrativ als reine Projektionsfläche; sie erscheinen nicht als Akteure mit eigener Geschichte, sondern als Illegale, Ostbanden, Asylbetrüger und Drogenhändler. Entsprechend bemerkt Chavez (2008: 42) über das US-amerikanische Bedrohungsszenario der illegalen Einwanderung: »The Latino Threat Narrative is a social imaginary in which Latinos are ›virtual characters‹«, deren tatsächliche Lebensumstände mit dem – zu einem großen Teil medial vermittelten – Wissen und den Wahrheiten der Mehrheitsgesellschaft wenig bis nichts gemein haben. Auf der anderen Seite bleibt stets die Frage, inwieweit die imaginierte Bevölkerung als Zielgruppe insbesondere der Boulevardmedien, aber auch populistischer Politiker und Politikerinnen, ebenso analog eine Projektion dieser Akteure darstellt. Auch im Fall der AGM spielt eine imaginierte Bevölkerung als Zielgruppe eine wichtige Rolle, sie war regelrecht konstitutiv für die Einrichtung der AGM, und dies hängt wiederum mit ihrem expliziten Bezug auf den Wegfall der Grenzkontrollen und der damit angeblich eintretenden Sicherheitslücke zusammen. So meint Raphael, der Impetus,
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die AGM einzurichten, sei vor allem aus dem Bedürfnis der Beruhigung der Bevölkerung entstanden. Sie machten die Bevölkerung glücklich, und sie seien ein effizientes Mittel gegen Kriminalität. Diese Doppelfunktion erscheint damit als das herausragende Merkmal der AGM: Raphael betont, unabhängig von den Grenzkontrollen seien AGM ein effizientes Mittel, das man ruhig schon früher hätte einführen sollen. Auf die Frage, inwieweit es sich denn nun tatsächlich um Ausgleichsmaßnahmen im Wortsinne handle, die direkt mit den Grenzkontrollen korrelierten, antwortet Raphael: Nein, die stünden ganz für sich selbst. Der Wegfall der Grenzkontrollen sei eben ein guter Zeitpunkt und Anlass für die Einführung gewesen, aber einen direkten Zusammenhang, was die Notwendigkeit angeht, sehe er nicht. Die Schengenerweiterung bot auf diese Weise eine gute Gelegenheit zur Einführung der verdeckten Kontrollen unter dem Deckmantel der AGM. Eine funktionale Notwendigkeit wurde suggeriert, um eine Maßnahme einzuführen, die ansonsten zumindest diskussionswürdig gewesen wäre. Die Relevanz der Verbindung von Effizienz und Inszenierung wird deutlich, wenn die AGM mit einer weiteren Maßnahme der österreichischen Polizei kontrastiert werden: Die sogenannten »Aktionen scharf« werden regelmäßig von den jeweiligen Innenministern und Innenministerinnen ausgerufen und von den Boulevardmedien entsprechend begeistert begleitet. Eine »Aktion scharf« kann beispielsweise in der Sperrung eines Autobahnabschnitts und einer Vollkontrolle sämtlicher Fahrzeuge bestehen, flankiert von jeder Menge Blaulicht und mindestens einem Hubschrauber. Der leitende Beamte im Bereich AGM hält davon nichts, er bevorzugt es, die Aktionen einen »hochpolitischen Kunstgriff« zu nennen. Solch massive ereignisunabhängige Kontrollen dienten allein der Beruhigung der Bevölkerung. Außer ein paar alkoholisierten Fahrern bekomme man sowieso auf diese Weise niemanden zu fassen, besonders keinen, der etwas Größeres angestellt habe, denn dank Handy und Internet seien die größeren Fische so schnell über die Straßensperre informiert, dass sie dann eben woanders langfahren würden. Der Unterschied zwischen verdeckten Kontrollen und öffentlichkeitswirksamen Aktionen ist jedoch nicht so groß wie es zunächst den Anschein hat. Während die »Aktionen scharf« und andere öffentlichkeitswirksame Maßnahmen in erster Linie an nicht-polizeilichen Erfolgskriterien gemessen werden, haben die AGM eine Doppelfunktion: Aus Sicht der Polizei steht der praktische Nutzen im Vordergrund. Die Effektivität wird durch die geringe Sichtbarkeit erreicht. Genau diese Semi-Sichtbarkeit erzeugt
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die Akzeptanz und den Effekt der Beruhigung des subjektiven Sicherheitsgefühls in einer imaginierten Zielgruppe, der Bevölkerung, vermittelt durch die Medien. Zum einen steht hier die Unwägbarkeit der Kontrolle, zum anderen ist die Kontrolle nicht nur für die Kontrollierten sichtbar, sondern fungiert auch als Botschaft für Außenstehende, sie hat eine Signalwirkung: Wir sind überall, wir könnten jederzeit eingreifen. Für die einen ist das ein Versprechen, für die anderen eine Drohung: Niemand darf sich sicher fühlen. Alle sollen sich sicher fühlen.
3.5 Der temporale Aspekt der Securitization Mittlerweile sind die AGM-PI eine feste Einrichtung und haben keineswegs mehr den Anschein eines Provisoriums. Ein Zusammenhang zwischen Kriminalitätsrate und AGM, positiv wie negativ, sei allerdings nicht zu verzeichnen, so Raphael, auch wenn das Ministerium genau jenes immer wieder behaupte. Zudem impliziert »Ausgleich« eine zeitliche Beschränkung bis hin zur Wiederherstellung eines »Normalzustandes«. Dies ist hier nicht der Fall, sondern die AGM werden mit der Zeit zum natürlichen Teil des polizeilichen Repertoires – dies ist ein Hinweis darauf, dass einer Securitization im Zeitverlauf ein gewisser Gewöhnungseffekt innewohnt. Was zu Beginn »außerordentlich« schien, kann bald »normal« sein. Entsprechend muss eine Analyse stets zwei Dimensionen berücksichtigen: Die Dauer der Securitization sowie die »entropy of the public imagination« (Salter 2008: 324). So ist es bei Weitem nicht der Fall, dass auf eine Securitization stets eine Desecuritization folgt. Viel häufiger tritt ein Habitualisierungseffekt ein, der den Umgang mit und die Wahrnehmung einer aktuellen oder diffusen Bedrohung und ihre Bekämpfung betrifft. Aus dem Ausnahmezustand wird schnell Alltag, der zunehmend weniger hinterfragt wird – insbesondere wenn die Handlungen in hohem Maße professionalisiert, durch Wiederholungen institutionalisiert und in ritualisierten Handlungen mythisch aufgeladen wurden. Im Fall der AGM halten sie jedoch durch ihre Bezeichnung weiterhin die Erinnerung an und den Bezug auf die vorgeblich weiterhin bestehende Bedrohung durch den Wegfall der Schengen-Außengrenze wach. Nicht zuletzt aus diesem Grund sind die AGM ein treffendes Beispiel für Werkzeuge der Securitization, als sie ein spezifisches Dispositiv verkörpern, das eine bestimmte Vorstellung von Bedrohung zum Ausdruck bringt und Themen und Akteure als Sicherheitsprobleme rahmt. Auf diese Weise
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werden die öffentliche Wahrnehmung und öffentliches Handeln in Bezug auf den Umgang mit dieser Sicherheitsbedrohung in bestimmte Bahnen gelenkt.
4. O THERING : D IE E FFEK TE
DER
(U N -)S ICHERHEIT
Zusammenfassend soll dieser Abschnitt einen Blick auf die weiterreichenden Effekte des Otherings durch Sicherheitsdiskurse und -praktiken werfen. Sie betreffen sowohl das Selbst- und Fremdbild der angesprochenen Mehrheitsgesellschaft als auch das der Securitized und Securitizing Actors. Die Securitizing Actors, die Experten des Sicherheitsfeldes, also auch die AGM-Beamten, sind stets ein untrennbarer Teil des Feldes, dessen Wahrheiten und Gewissheiten die Effekte produzieren, die wiederum spezifische Routinen und Praktiken hervorbringen. Ihr Habitus ist von ihrer Position und derjenigen ihrer Organisation im Feld sowie von den Relationen mit anderen Akteuren des Feldes geprägt. Zudem bespielen Akteure nicht nur ein Feld. Wie Bourdieu (2001) gezeigt hat, wird das Denken politischer Akteure durch ihre Teilhabe am politischen Feld und dessen Illusio strukturiert. Dies bedeutet nicht notwendigerweise, politische Akteure glaubten voll und ganz an die Geschichten, die sie über Migranten, Islamisten usw. verbreiteten: »Nonetheless, they cannot call into question those myths about state, about the integrity of the people, because the myths are the way they frame their everyday explanation of the political and social world and the way they see their own struggles and values. Even the most cynical among them do not have another framework in which to speak about the state and security.« (Bigo 2002: 69)
Zudem wirken die Sicherheitsmaßnahmen auf das politische Feld zurück, das durch die Übersetzung in politische Programme, Verlautbarungen, Gesetze und Vorschriften das »Wahrheitsregime« legitimiert und reproduziert. Zudem haben Securitization-Prozesse stets Auswirkungen auf die Gesellschaft, innerhalb derer sie stattfinden, die über die akute Bedrohung und ihre Bekämpfung hinausreichen. Einer der wichtigsten Punkte, der zudem weitreichende Konsequenzen für eine Analyse von Sicherheit hat,
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ist das Moment der Habitualisierung, Naturalisierung und Institutionalisierung, das dazu führt, dass Sicherheitsmaßnahmen immer weniger hinterfragt und stattdessen als natürlicher Bestandteil des Alltags integriert und normalisiert werden. Wenn immer weitere Teile der Gesellschaft verdächtig scheinen, verschwindet der besondere Dringlichkeitsstatus von Notfallmaßnahmen, der Ausnahmezustand wird mehr und mehr zur Routine. Inwiefern Sicherheitsmaßnahmen in einem Kosten-NutzenVerhältnis stehen, wird zunehmend weniger hinterfragt; vielmehr werden sie zum Selbstzweck. Schlussendlich folgt der Habitualisierung die Internalisierung der Regeln, die von der Maßnahme gesetzt werden, und eine Unterwerfung unter dieselben – Securitization als gouvernementale Praxis (Pram Gad/Lund Petersen 2011: 319). Insbesondere technische Maßnahmen, wie Videoüberwachung, sind dazu geeignet, die Alltagswahrnehmung grundlegend zu verändern, selbst (oder besonders) dann, wenn sie gar nicht vorhanden sind und aus einem nicht überwachten Raum in logischer Konsequenz einen gefährlichen Raum machen. Eisch-Angus weist darauf hin, dass derartig von Sicherheit durchdrungene Orte wie der Flughafen keines expliziten Verweises mehr auf existierende Sicherheitsbedrohungen bedürfen, um ihre Maßnahmen und ihre Sicherheitsarchitektur zu legitimieren. Stattdessen schließen sie nahtlos an gesellschaftliche Sicherheitsdiskurse an: »Vermittelt wird nur noch die reine Präsenz eines Systems von Gefahr und Risiko, dessen gesellschaftliche Totalität der Flughafen, als Tempel der Moderne und Kultstätte der mythischen Antinomie von Freiheit und Sicherheit, als unhinterfragbar und unentrinnbar setzt.« (Eisch-Angus 2009: 85) Schließlich bleiben die Securitized Actors, die vermeintlichen Terroristen, »Kopftuchmädchen« (Thilo Sarrazin), Kriminellen und Drogenhändler, die Klientel der AGM, kaum von den Konsequenzen von Sicherheitsdiskursen und -praktiken unberührt. Sie bekommen die Effekte wohl am unvermitteltesten zu spüren, da sie sich von Securitization als einer Politik des Othering und der Exklusion betroffen sehen. So verweist auch Schiffauer auf die möglichen nicht intendierten Folgen einer staatlichen Terrorismuspräventionspolitik, die sich in erster Linie durch Druck auf Mitglieder islamischer Gemeinden ausweist: »Sie führt zu einer wachsenden Distanz zur Mehrheitsgesellschaft; sie untergräbt das Vertrauen in den Rechtsstaat; sie schwächt das Reformlager in den Gemeinden; und sie macht Integration durch Partizipation unmöglich.« (2007: 370)
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Es ist demnach mitnichten der Fall, dass Sicherheit allein für diejenigen relevant ist, die zum Kreis der »Verdächtigen« respektive der »Gefährdeten« zählen; vielmehr stellt Sicherheit als Ausdruck einer Praxis der »governmentality of unease« (Bigo 2002) eine untrennbare diskursive und praktische Wechselbeziehung aller Akteure dar. Bei der Analyse dieser Wechselbeziehungen kann eine Anthropologie der Sicherheit ansetzen.
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Zettelwirtschaft Consumer Citizenship, Europäisierung und Krisenpolitik in Griechenland Kerstin Poehls
Die politische Auseinandersetzung über die Finanzprobleme innerhalb der EU, über die Nationalökonomien Spaniens, Italiens und Griechenlands sowie über ihre Rolle innerhalb der Europäischen Union (EU) verschärft sich seit 2010. Sie fördert grundsätzlich unterschiedliche Ansichten über die Ursachen und Folgen der Krise, die Rolle des Staates und dementsprechend gegensätzliche Lösungsansätze zutage. Politische Reformprogramme, Gesetze und ihre bürokratischen Folgen – policies – stoßen nicht einfach auf ein gesellschaftliches Gefüge und öffentliche Debatten wie diese, sie unterliegen je nach sozialem und kulturellem Kontext, je nach der Weltanschauung und politischer Position der Akteure, auch ReInterpretationen (Shore/Wright 2011: 20) – und bringen gesellschaftliche Debatten und Konflikte zugleich hervor. Ein rund zehnmonatiger Forschungsaufenthalt 2011 an der Universität der Ägäis in Mytilini – auf der drittgrößten griechischen Insel Lesbos – führte mir die Kluft zwischen Innen- und Außensichten auf die griechischen Zustände vor Augen und gab so den Anstoß für diesen Text. Die folgenden Überlegungen sind Teil einer andauernden Forschung.1 Auch eröffnete sich mir das breite alltägliche Meinungsspektrum über Ursachen und Lösungsmöglichkeiten der Krise, in die historisch gewachsene Auffassungen über Verantwortlichkeiten und Funktionen des Staates und seiner 1 | Die hinzugezogenen Dokumente und Medienberichte decken das Jahr 2011 ab – spätere politische Ereignisse wie etwa die nationalen Wahlen am 6. Mai 2012 werden nur punktuell berücksichtigt.
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Relation zum Bürger einfließen. Shore und Wright (Shore/Wright 2011: 20) rücken Politik und politische Programme als »Diagnoseinstrumente« in den Fokus, denn über im Wandel begriffene »Objekte der Macht« ließen sich auch Subjektivitäten – Bürger als Subjekte – erkennen und analysieren. Neue Vorstellungen und Praktiken der Bürgerschaft werden aktuell in Griechenland sichtbar auch für jene, die nicht aus der Warte von Wissenschaft oder Gesellschaftsanalyse blicken. Dieser Text geht dem Verhältnis von Staat und handelndem Individuum nach – als Bürger und Konsument gleichermaßen. Um jene Relation kreisen neoliberale Denkfiguren, die einem Großteil der angemahnten oder schon begonnenen Reformmaßnahmen zugrunde liegen. Neoliberalismus wird moralphilosophisch, staatstheoretisch oder hinsichtlich des impliziten Menschenbildes debattiert. Diese Theoriestränge thematisieren die Unterschiede und Gegensätze zwischen den gesellschaftlichen Akteuren, ihre divergierenden Interessen, Bedürfnisse und Fertigkeiten zumeist nur mittelbar (vgl. Plant 2010: 253ff.) – während neue idealtypische und tatsächliche Akteure längst entstehen. Einer von ihnen ist der Consumer Citizen. Der Consumer Citizen ist nicht nur in medialen Debatten über kritischen Konsum präsent, er wird auch in EU-Programmen als idealtypische Figur benannt, die es heranzubilden gelte – als ethisch bewusst handelnder Konsument, der globale ökonomische Zusammenhänge in ihr Alltagshandeln einbezieht und so politisch agiert. Bryan S. Turner hat in einem anderen Zusammenhang Bürgerschaft folgendermaßen umrissen: »[Citizenship as an] ensemble of relations (legal status, resources, communal membership and identity) describes a field of moral behaviour, social practices and cultural beliefs that are collectively known as civic virtue, because they define what constitutes the virtues of the ›good citizen‹.« (Turner 2001: 11) In diesem Text fokussiere ich zwei der von Turner genannten Kernaspekte und beziehe sie auf ökonomisches Alltagshandeln, nämlich wie sich im Konsum soziale Praxis und gesetzliche Regelungen verschränken und so ein neuartiges, moralisch aufgeladenes Bild von Bürgerschaft hervorbringen. Schließlich dominieren Privatisierung, Liberalisierung, Regulierungen zugunsten »der Märkte« – europaweit in den nationalen wie auch den vergemeinschafteten Politikfeldern (Lesage/Vermeiren 2011). Verstanden als »remaking and redeployment of the state as the core agency that actively fabricates the subjectivities, social relations and collective representations suited to making the fiction of markets real and consequential« (Wacquant 2012: 68), legt Neoliberalismus einen ethnografischen
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Blick auf den griechischen Alltag des Jahres 2011 fernab von Athen nahe. Europäisch-ethnologische Forschungspraxis kann Verschiebungen und Brüche gesellschaftlicher Subjekt-Produktion sichtbar machen. In Anlehnung an den Ansatz der Politics of Scale verstehe ich Gesellschaft in ihrer Räumlichkeit »nicht als skalare Hierarchie, sondern als dynamisches Verhältnis einer Vielzahl von ›social sites‹« (Wissen 2008: 17). Diesen »sites«, verstanden als »Bündel sozialer Praktiken«, wird das Potential zur Irritation staatlicher Strukturen, zur Subversion geltender Normen und damit zur Emanzipation zugesprochen. Ich gehe davon aus, dass durch die Europäisierung nicht nur ganz explizit politische Entscheidungsprozesse und neue Machtstrukturen entstehen, sondern die EU als politische und ökonomische Konstellation darüber hinaus auf alltägliche Praktiken wirkt, in denen zunächst einmal und vordergründig das Verhältnis von Nationalstaat und Bürgern verhandelt wird. Die politische und wirtschaftliche Gesamtlage in Griechenland ist erstens komplex und verunsichernd: Angesichts eines traditionellen Klientelismus (vgl. historisch Mazower 2004), einer bekanntermaßen hohen Quote von Steuerhinterziehung und einer über Generationen in sich verstrickten und trotz harscher Kritik wiedergewählten Machtelite wird der Problemkern unterschiedlich verortet. Und wo setzen dementsprechend sozialwissenschaftliche Überlegungen dazu an? Zweitens dauert die Krise an und verschärft sich dabei in dem gleichen Maße, wie Hilfspakete und die griechischen Reformen von ausländischen Politikern infrage gestellt werden. Drittens spitzen sich Konfrontationen zwischen politischen Lagern innerhalb Griechenlands und innerhalb der EU zu.2 Meine Kernfrage lautet, wie sich vor dem Hintergrund der Europäisierung neue Praktiken von Bürgerschaft manifestieren – und zwar in der Steuerpolitik, einem Politikfeld, das nach wie vor auf nationaler Ebene reguliert wird. Dass das Kleinteilige, alltäglich Greifbare mit abstrakten 2 | Der Mainstream der nicht-griechischen und griechischen Presse geht nach wie vor davon aus, dass die Krise eine griechische und auch südeuropäische sei – also jene sogenannten PIIGS-Länder betrifft und sich dementsprechend bei klugem Krisenmanagement nicht über deren Grenzen hinweg ausweiten würde. Anderen Beobachtern gilt es als ausgemacht, dass mittelfristig auch jene wohlhabenderen weiter nördlich gelegenen EU-Mitgliedsstaaten davon betroffen sein werden, sobald nämlich die Exporte schwinden. Das zu erörtern ist nicht Anliegen dieses Textes.
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Gesellschaftsstrukturen zusammenhängt, verbindet die Prämissen der Europäischen Ethnologie mit dem Politics of Scale-Ansatz; beide legen auch eine methodische Folgefrage nahe: Wie kleinteilig kann das empirische Material denn erscheinen, dass es noch Aufschluss über gesellschaftliche Großkonstellationen und deren konfliktreiche Veränderung zu geben vermag? Wie nebensächlich darf ein Ding, Artefakt, eine Interaktion oder ein Tauschvorgang sein, dass wir es als Forschende und Lesende noch als legitimen Verweis auf komplexere Zusammenhänge gelten lassen mögen? Sollten sich die Verstrickungen womöglich besser verstehen lassen, wenn der Ausgangspunkt einer Betrachtung so unspektakulär wie möglich ist? Der Gegenstand, in dem sich mein Erkenntnisinteresse bündelt, ist die wohl banalste und alltäglichste Manifestation des Kaufens und Konsumierens überhaupt: der Kassenzettel. Aus diesem Fokus ergibt sich, dass die dramatischen und für viele in Griechenland existentiellen Konsequenzen der Sparmaßnahmen hier nicht gleichermaßen Raum finden wie in den Medien, in politischen Debatten oder anderen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen etwa zu Migration, Arbeitslosigkeit und Armut. Damit soll nicht banalisiert werden, sondern vielmehr den Effekten der Krise in höchst banalen Alltagssituationen Rechnung getragen werden. Bestärkt in der Wahl dieses Bildausschnittes hat mich die von Informanten geäußerte Erwartung eines »stillen Schwindens der Mittelklasse«, welches sich in Griechenland nach ihrer Meinung schon jetzt und insbesondere an den banalsten Alltagshandlungen und -strategien ablesen lasse. Dieser Alltag findet statt abseits der Rhetorik »alternativloser« Krisenbekämpfungsmaßnahmen und der internationalen Medienaufmerksamkeit für all jene, die in ihrer Existenz aktuell bereits bedroht sind. Mein Ziel ist ein detailschärferes Bild vom individuellen Handlungsspektrum in einer Gesellschaft, die gegenwärtig in allen ihren Bereichen durch die europäische Sparpolitik bestimmt wird und die in den Medien zum Synonym für Krise avancierte. In dieser Situation werden Fragen nach Möglichkeiten des politischen Handelns in alltäglichen Kontexten genauso gestellt wie in den politischen Zentren. Die hierarchischen Verhältnisse unter verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren stehen infrage: darauf verweisen scheinbar nebensächliche Alltagspraktiken. Wirtschaftliches Handeln fand auch in Griechenland über lange Jahre – und spätestens seit das Land 1981 Mitglied der Europäischen Gemeinschaft wurde – unter der weithin geteilten Annahme eines generellen und anhaltenden Wirtschaftswachstums statt. Wie auch in den anderen
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westlichen und europäischen Nationalökonomien lässt sich dies treffend als eine Black Box im Sinne Michel Callons und Bruno Latours begreifen: »Eine Black Box« – so nennen die Autoren jene Selbstverständlichkeiten und unausgesprochenen Übereinkünfte, auf denen gesellschaftlicher Alltag basiert – »enthält, was nicht länger beachtet werden muss – jene Dinge, deren Inhalte zum Gegenstand der Indifferenz geworden sind [...]: Denkweisen, Angewohnheiten, Kräfte und Objekte.« (Callon/Latour 2006 [1981]: 83) Die sich in Griechenland zuspitzende europäische Krise bildet genau jenen Moment, in dem die metaphorische Black Box, die nur scheinbar fest verschlossen, jedoch in Wirklichkeit undicht ist, sich plötzlich öffnet. Was etwa als kritischer Konsum oder unter dem Schlagwort des PostWachstums (im deutschsprachigen Kontext bspw. Rätz/Egan-Krieger 2011, Woynowski 2012) in zumeist urbanen und akademischen Milieus verhandelt wird, findet hier bereits statt: Die fest gefügten Rollen von Staat und Bürgern, die zugleich auch Konsumenten und Steuerzahler sind, geraten ins Wanken, wenn Tauschen im Konsumalltag immer größeren Platz einnimmt, wenn Selbstversorgung mit Lebensmitteln auch in den Städten wichtiger wird, wenn Städter aufs Land und die Inseln ziehen und einen urbanen Lebensstil gegen Feldarbeit eintauschen.
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Im Grunde verbietet sich die Rede vom Kassenzettel, der Quittung, dem Kaufbeleg oder Bon im Singular, denn sein Auftreten ist massenhaft: Er liegt im Fußbereich und auf Ablageflächen in Autos, in Kofferräumen und Fahrradkörben. Schon nach wenigen Wochen Aufenthalt in Mytilini fand ich die kleinen Zettel in sämtlichen Hosen-, Jacken-, Einkaufs- und Umhängetaschen, unter Tisch und Sofa. Während die Abwehr des Kassenzettels – anders als in Deutschland, wo ein einfaches »Nein, danke!« das Stückchen Papier zumeist in den Abfalleimer des Kassenpersonals befördert – mir andauernd misslang, beobachtete ich immer häufiger, wie griechische Kundschaft die kleinen Papierstücke mit Bedacht im Portemonnaie verstaute. Dass wohl mehr als meine anfängliche sprachliche Inkompetenz dahinter steckte, machte schließlich der Kauf einer Wassermelone deutlich: Ich hatte die Quittung über den Erwerb dieses sommerlichen Grundnah-
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rungsmittels achtlos auf dem Verkaufstresen liegenlassen, anstatt sie in die Einkaufstüte zu stecken. Der Inhaber eines kleinen Lebensmittelgeschäfts rief mir nach und lief mir auf der Straße hinterher. Er bedeutete mir mit ernster Miene und unmissverständlich, den kleinen Zettel an mich zu nehmen. Es schien, als sei der Kaufbeleg mehr als der Beleg einer Kaufhandlung, die dort in Form von Informationen über den Verkäufer, das Datum, den Kaufbetrag und die im Preis enthaltenen Steuern festgehalten wird. Angesichts dessen könnte dieses zumeist nur wenige Quadratzentimeter große Papierstück höchstens als ein Objekt zweiter Ordnung gelten – eines, das eines genuinen Sach- oder Tauschwertes entbehrt. Mit Werten und der Warenförmigkeit von Objekten beschäftigt sich Igor Kopytoff in seinem klassischen Aufsatz über die kulturelle Biografie von Dingen (Kopytoff 1986): Dreh- und Angelpunkt seiner Überlegungen ist der Statuswechsel von Dingen, die sich für ihn zunächst einmal durch ihre Einzigartigkeit, Tauschbarkeit und Käuflichkeit auszeichnen. Anhand von Objekten und den spezifischen Umständen ihres Statuswechsels etwa von begehrten Sammlerobjekten zu Abfall oder umgekehrt ließen sich Informationen über eine Gesellschaft oder ein Milieu zutage fördern, die ansonsten im Verborgenen blieben (Kopytoff 1986: 67). Der Kassenzettel als ein Protagonist dieses Textes und seine – wie zu zeigen sein wird – situative Verwandlung von einem sekundären Objekt zu einem nachgefragten Tauschgegenstand verweist darauf, dass die Klassifizierung von Dingen in Griechenland im Umbruch ist. Sind Kassenbons in vielen Kontexten eindeutig »Nicht-Waren« (Kopytoff 1986: 75) – preislos, da sie für den Gebenden nutzlos und geradezu Abfall sind –, so zeigt sich durch den aktuellen Wandel ihrer Bedeutung und ihres Wertes der ökonomische Wandel der griechischen Gesellschaft en miniature. Wenn sie plötzlich begehrt sind und Thema alltäglicher sozialer Interaktion werden, entfalten sie ein soziales Leben (Appadurai 1986) genau in dem Moment, wo die Black Box Callons und Latours ihr Inneres preisgibt, und erhalten eine neue Bedeutung.
Mausegrau. Steuerpolitik ethnografieren? In der politischen Großwetterlage in der Europäischen Union des Jahres 2010ff., die Griechenland immer stärker in den Fokus einer europaweiten Debatte um Währungsstabilität, nationale Souveränität der EU-Mitgliedsstaaten, Finanz-, Wirtschafts- und Haushaltspolitik rückte, bilden die Kas-
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senzettel den Gegenpol zu Abstrakta wie Hilfspaketen und Schuldenschnitt. Angesichts ihrer Allgegenwart und Alltäglichkeit – ihrem sozialen Leben – liegt es nahe, sie aus den Taschen hervorzukramen und so die Krise aus einer anderen Warte in den Blick zu nehmen. Meine teilnehmende Beobachtung als Konsumentin und Ansammelnde von Kassenzetteln bezieht sich auf die Steuerpolitik – ein Politikfeld, das zwar als wichtig, aber unattraktiv, geradezu mausegrau gilt und überdies als kompliziert: »Although all citizens must pay taxes, few claim to understand tax policy (unlike policy domains such as education or transportation).« (Peters 1991: 4) Was für die Bürger gilt, scheint für die an policies interessierten Anthropologen gleichermaßen zuzutreffen: Dass dieses Politikfeld, welches das wachsende Vorkommen von Kassenzetteln ganz unmittelbar verursacht, bisher von den Ethnowissenschaften kaum beachtet wurde, verwundert auf den ersten Blick nicht im geringsten. Allerdings bietet sich hier ein Ansatzpunkt, Überlegungen der traditionsreichen und ausdifferenzierteren Economic Anthropology (vgl. Gudeman 1998) fortzuführen und dabei die in der Fachgeschichte angelegte Unterteilung zwischen den westlichen und den restlichen Gesellschaften ein weiteres Mal zu überwinden. Anhand der Consumer Citizenship ließen sich ferner Diskurse um Staatlichkeit und soziale Praktiken des Konsumalltags fassen, die kulturell und rechtlich bedingt sind. In diesem Kontext spielt eben auch die farblose Steuerpolitik eine Rolle. Zudem bieten sich hier für diejenigen empirische Anregungen, die ihren Blick für Europäisierungsprozesse schärfen, ist doch die Steuerpolitik erstens eines der zentralen Politikfelder, in dem über die Aufgabe nationaler Souveränität innerhalb der EU verhandelt wird zugunsten einer sich immer stärker ökonomisch verflechtenden Europäischen Union (vgl. Lapavitsas in Lapavitsas et al. 2010: 295). Angesichts dessen ließe sich zweitens der Frage nachgehen, inwiefern der Fiskus innereuropäische Machtasymmetrien und konkurrierende Auffassungen von der Rolle eines Staates zutage treten lässt. »There are national styles of taxation, or [...] the political culture of a country tends to drive government toward formulating one type of solution rather than another for its tax problems« (Peters 1991: 5): Wie – wenn überhaupt – werden sich die Grenzen zwischen nationaler Souveränität in Steuerfragen und gemeinschaftlicher Wirtschafts- und Finanzpolitik verschieben und welche Konsequenzen hat das für das politische Projekt der europäischen Integration? Drittens – und dieser Aspekt steht hier im Zentrum – kristallisiert sich im Aufeinandertreffen von Steuerrecht und Bürgern ein alltägliches Rin-
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gen um jene »individualistische Bewegungsfreiheit« im Sinne Webers3 heraus: Jeder Debatte um neue oder geänderte Steuergesetze ist höchste mediale Aufmerksamkeit sicher; noch wirkmächtiger, wenngleich von geringerer öffentlicher Sichtbarkeit ist dies bei der alljährlich fälligen Steuererklärung der Fall. Hier treffen individuelle Kreativität und Expertenwissen, die Suche nach Gesetzeslücken und die Dokumentation des individuellen Arbeits-, Konsum- und Lebensstils zusammen und stehen dem durch ein Finanzamt verkörperten Staat, seinen politischen Fundamenten und diversen Reformbemühungen gegenüber. Wenn policies als Organisationsprinzip (Shore/Wright 2011: 2) soziale Beziehungen wie unter einem Brennglas sichtbar machen können, verspricht dann im Umkehrschluss der Blick auf ökonomische Alltagspraktiken Aufschlüsse über die symbolische Ordnung europäischer Gesellschaften in der Krise? Gilt dies auch oder womöglich gerade dann, wenn etwa der Konsum nicht explizit politisiert ist, d.h. als Ausdruck zivilgesellschaftlichen Engagements und »tugendhaften« Protests genutzt wird (Lamla 2005)?
W IRTSCHAF TSZE T TEL In der Tat gehört es in Griechenland seit einiger Zeit zu den gesetzlich verankerten Anforderungen an die steuerpflichtigen Bürger, die kleinen Belege alltäglichen Konsums – von der Melone über Frappé, Haushaltswaren, Dienstleistungen aller Art bis zu Kleidung und Büchern – sorgsam zu verwahren, um diese bei der Steuererklärung für das Finanzamt bereitzuhalten. Im Februar 2010 wurde dies in 92 Artikeln gesetzlich geregelt (Gesetz 3842/20104) und gilt für Einkäufe (beinahe) jeglicher Art. 3 | »Wie ist es angesichts dieser Übermacht der Tendenz zur Bürokratisierung überhaupt noch möglich, irgendwelche Reste einer in irgendeinem Sinn ›individualistischen‹ Bewegungsfreiheit zu retten? [...] Wie kann, angesichts der steigenden Unentbehrlichkeit und der dadurch bedingten steigenden Machtstellung des [...] staatlichen Beamtentums, irgendwelche Gewähr dafür geboten werden, dass Mächte vorhanden sind, welche die ungeheure Übermacht dieser an Bedeutung stets wachsenden Schicht in Schranken halten und sie wirksam kontrollieren? Wie wird Demokratie auch nur in diesem beschränkten Sinne überhaupt möglich sein?«[Herv. i.O.] (Weber 1988: 333) 4 | Http://www.enet.gr/?i=news.el.article&id=156178, eingesehen am 26.01.2012.
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Einer auf der Einkommenshöhe basierenden, neunstufigen und progressiven Steuertabelle können Arbeitnehmer ihre Steuerlast entnehmen und daraus ermitteln, in welcher Höhe sich ihr Konsum steuermindernd auswirken kann. Ab einem Jahreseinkommen von 12.001 € gilt in Griechenland ein Steuersatz von 18 Prozent des Einkommens, ab 100.000 € beläuft sich der derzeitige Spitzensteuersatz auf 45 Prozent.5 Um eine Steuernachzahlung zu vermeiden, muss jede und jeder Steuerpflichtige in Griechenland nun – gestaffelt nach der Höhe des Einkommens – Konsumausgaben in einer bestimmten Höhe nachweisen. Dieser Nachweis erfolgt durch Kassenbons, Rechnungen und Kaufbelege (Kathimerini 2011, Kostarelou 2011). Weist beispielsweise jemand mit einem Jahreseinkommen von 30.000 € Ausgaben in Höhe von 6600 € nach, ist weder eine Steuernachzahlung fällig noch eine Rückerstattung zu erwarten.6 Komplementär dazu sind alle Gewerbetreibenden in Griechenland verpflichtet, Rechnungen auszustellen, denen auch die Steuernummer zu entnehmen ist. Wozu die Rechnerei? Die gesetzliche Regelung, die seither einige Male in Detailaspekten umgeändert wurde, gilt als ein zentraler Versuch seitens der griechischen Regierung, die Steuerhinterziehung zu verringern. Das Finanzministerium selbst nennt in seinen Programmen keine konkreten Werte (Hellenic Republic 2011), doch Schätzungen zufolge machen Schwarzmarkt und Schattenwirtschaft etwa 27,5 Prozent des griechischen Bruttoinlandsprodukts aus – mehr als in jedem anderen EU-Mitgliedsstaat (Athens News 2012, Surowiecki 2011). »Some taxes are easier to collect than others.« (Peters 1991: 2) – angesichts dieser banalen Erkenntnis verwundert es nicht, dass die Steuerexperten in der griechischen Regierung jene Konsum-Steuern in den Fokus ihres Handelns rückten. Womöglich war es sogar ein Ansinnen, dass durch 5 | Zum Vergleich: Ab 8005 Euro Jahreseinkommen beträgt der aktuelle Steuersatz in Deutschland 14 Prozent; ab einem jährlichen Erwerbseinkommen in Höhe von 250.730 Euro gilt der Spitzensteuersatz in Höhe von 45 Prozent. (Vgl. Bundesministerium der Finanzen 2012: 32) 6 | Wenn die entsprechende Summe nicht nachgewiesen wird, fordert der Staat eine Nachzahlung in Höhe von 10 Prozent der Differenz zwischen der belegten Summe und den hier beispielhaft herangezogenen 6600 Euro, maximal aber 1200 Euro. Quittungen, Rechnungen und Kaufbelege über die erforderliche Summe von 6600 Euro hinaus wiederum resultieren umgekehrt in einen Steuerbonus in Höhe von 10 Prozent der Differenz zur tatsächlich nachgewiesenen Summe.
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die Koppelung des Gesetzes an indirekte Besteuerung – also die Mehrwertund Umsatzsteuer, welche auf Waren und Dienste erhoben wird – die nun sehr enge Verflechtung von Citizenship und Konsum wenig Aufsehen erregen würde, ganz nach der Devise: »The trick for governments is to find ways to pay for themselves and their services while escaping the wrath, or perhaps even the notice, of their citizens.« (ebd.: 1) Während internationale Medien schon Lysistrata und Antigone hinzuziehen, um auf lange Traditionen griechischen zivilen Ungehorsams gegenüber Obrigkeiten zu verweisen (Higgins 2011), mag jene Hoffnung auf das Ausbleiben einer lautstarken Reaktion, die Peters nationalen Regierungen unterstellt, naiv sein. Schließlich war die Krise in aller Munde und die griechischen Wutbürger (aganaktisméni) begannen schon bald darauf, ihre Zelte vor dem Parlament in Athen aufzuschlagen. Ebenso aufschlussreich sind die unterschiedlichen Deutungen und der Umgang mit der neu verordneten Zettelwirtschaft: Die Steuergesetze – und die Kassenzettel als Teil von ihnen – entfalteten ein »soziales Leben« (Appadurai 1986), als die Menschen und Institutionen diesbezüglich zu interagieren begannen: »Policies [...] are actants that have agency and that change as they enter into relations with actors, objects and institutions in new domains.« (Shore/Wright 2011: 20) Die meisten meiner Gesprächspartner – ob sie sich nun zum kommunistischen, dem konservativen oder liberalen Lager zählten – betonten, dass Reformen notwendig seien und dass ein zentrales Ziel die Verminderung von Steuerhinterziehung und Schattenwirtschaft sein müsse. Einige verwiesen dabei auf notwendige Modernisierungsprozesse, andere stellten die Frage von gesellschaftlicher Gerechtigkeit in den Mittelpunkt – doch fast alle teilten die Ansicht, dass das Gesetz zumindest in Teilen an genau diesen eigentlichen Zielen vorbeiginge: Es sei »typisch griechisch« in der Weise, wie es neue »Absurditäten« hervorbringe. Einer meiner Gesprächspartner erläuterte mir seine Kritik am Beispiel seines Vaters, der als kleiner Händler auf dem örtlichen Wochenmarkt nun verpflichtet sei, seinen Marktstand mit einer Registrierkasse auszustatten – angesichts der wenigen Kilo Roter Bete, der Salaternte und eines saisonal wechselnden Warenangebots an Obst eine unangemessen teure Investition. So habe nun der Vater entschieden, den Marktverkauf gänzlich aufzugeben. Die neuen Steuergesetze, so das Fazit meines Gesprächspartners, seien eben nicht sozial gerecht, sondern hemmten letzten Endes die
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unternehmerische Tätigkeit derjenigen, die ohnehin schon ein geringes Einkommen erzielten. Mein Gesprächspartner verwies bei dieser Gelegenheit – und im Laufe der folgenden Monate noch einige weitere Male – auf eine soziale Figur, die in diesem Zusammenhang auftauche: Es gebe Kontrolleure, die nicht nur die Existenz von Registrierkassen auf solchen kleinen Bauernmärkten überprüften, sondern auch Passanten nach Belegen für soeben getätigte Einkäufe befragen dürften. Diese Figur – die existieren soll, doch bis zu diesem Zeitpunkt weder mir noch jemandem meiner Informanten je begegnet ist – war also auch Anlass für den eingangs erwähnten Melonenverkäufer, mir mit dem Kassenbon hinterher zu eilen. Wenn die soziale Wirkmacht der Gradmesser für die Existenz dieser Kontrollinstanz ist, so existiert sie zweifelsfrei in vielfältigen alltäglichen Kommunikationssituationen und nimmt Einfluss auf das Verhalten von Kundschaft und Verkaufspersonal: Bei anderer Gelegenheit erwarb ich in einem der wenigen auf Touristen ausgerichteten Geschäfte auf der Haupteinkaufsstraße Ermou drei verzierte Tonbecher, aus denen traditionell Wein getrunken wird. Als die Verkäuferin erkannte, dass ich des Griechischen mächtig war, fragte sie mich, ob mein Einkauf ein Geschenk sein solle. Als ich verneinte, verwies sie wortreich auf die gerade defekte Kasse – und bat mich, meinen Einkauf dennoch freundlicherweise als mir soeben überreichtes Geschenk auszuweisen, für den Fall, dass ich auf der Strasse von einem Kontrolleur angesprochen werden sollte. Sie schlug die drei Becher in Geschenkpapier ein und überreichte mir das Paket in einer besonders schönen Tüte. Die gesetzliche Pflicht, Kaufbelege auszustellen und der Kundschaft mitzugeben, bringt somit neue Formen der mehr oder minder stillschweigenden Komplizenschaft zwischen Käufern und Verkäufern hervor – unausgesprochene Übereinkünfte entstehen in Erwartung einer sozialen Figur, eines flanierenden und patrouillierenden Menschen, der den Staat verkörpert.
Z E T TELWIRTSCHAF T Während einige Unternehmer mithin Gründe haben und Strategien verfolgen, die geforderten Kaufbelege nicht auszustellen, ist der Kassenbon an vielen Verkaufstresen in Supermärkten und an Kiosken, in Bekleidungsge-
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schäften und Cafés ein zentraler und selbstverständlicher Bestandteil des Tausches: Geld wird getauscht gegen Ware, Wechselgeld und Beleg. Für Konsumenten ist der Kassenbon seit der Gesetzesänderung zu einem begehrten Sammelobjekt avanciert, das im Portemonnaie verstaut wird und zuhause, von einigen säuberlich sortiert, in Plastiktüten oder Kartons verwahrt wird. Eine Informantin berichtete davon, wie sie und ihr Ehemann eine monatsweise Sortierung in Plastiktüten schon im laufenden Jahr vornehmen und dann im Frühjahr, bevor die Steuererklärung am 31. Mai fällig wird, die Summen addieren. Ein anderer Gesprächspartner berichtete, wie dies zu seinen jährlichen Hilfestellung für die Mutter gehöre, deren schwache Augen nicht mehr ausreichten, um die kleinen Beträge auf den Belegen zu entziffern.
Kassenbon-Effekte Europaweit wird seit einigen Jahren nicht nur eine bürgerfreundliche und serviceorientierte, sondern aus neoliberaler Warte eine stärker nach ökonomischen Prinzipien organisierte, schlanke Verwaltung gefordert, die jegliche Formen der Verschwendung erkennt und beseitigt (vgl. zum Diskurs im deutschen Kontext etwa Vollmer 2002). Kontakte zwischen Bürgern und dem Staat finden seltener auf dem Papierwege und dafür häufiger über das Internet und auf elektronischem Wege statt. Vor diesem Hintergrund erscheint die griechische Regelung, die Kassenbons bis zu fünf Jahre aufzubewahren, geradezu anachronistisch. Bei Inkrafttreten des Gesetzes waren die Bürger zunächst aufgefordert, sämtliche Belege mit der Steuererklärung an das zuständige Finanzamt zu schicken, dessen Finanzbeamte die Belege und die sich daraus ergebende Gesamtsumme überprüfen sollten. Eine meiner Gesprächspartnerinnen schilderte mir in lebhaften Bildern, zu welch turbulenten Szenen es daraufhin in den Postämtern gekommen sei: Sollten die Belege in einem zusätzlichen Päckchen oder Paket verschickt werden, oder sollte man sie lose in einen großformatigen Umschlag stecken, auf dass sie sich beim Öffnen über den Schreibtisch des Adressaten ergießen würden? Würde das übliche Kuvert-Format ausreichen, wenn man die Bons ein wenig mehr stauchte und den Umschlag fest mit Klebeband umwickelte? Noch am Postschalter sei lautstark debattiert worden – und was den Steuerpflichtigen im Sinne stand und ihrem Bild der griechischen Verwaltung entsprach, geschah; die Finanzämter wurden – so schilderten es mei-
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ne Informanten – von einer Flut an Belegen, Rechnungen, Kassenbons mit Kleinstbeträgen überwältigt und waren über Monate hinweg quasi lahmgelegt. So ist das unfreiwillige Sammeln heute Bestandteil einer zumeist in ironischem Tonfall dargebotenen Narration über die Steuererklärung als subversivem Akt, in der bis an den Rand gefüllte Briefumschläge quasi auf dem Schreibtisch des Finanzbeamten platzen – und es überrascht wenig, dass mit einer der ersten Überarbeitungen des Gesetzes den Bürgern die Pflicht übertragen wurde, die Kaufbelege bei sich zuhause zu lagern und auf Nachfrage bereitzuhalten. Diese Erzählungen schließen nahtlos an zahllose Anekdoten über das Unvermögen und die Kurzsichtigkeit der öffentlichen Verwaltung an – deren Pointe zumeist im Handeln einzelner liegt, die die Absurditäten zuspitzen und den Staat vorführen. Doch diese Erzählungen dienen auch der Illustration alltäglicher Folgen von Europäisierung bzw. EU-europäisch angestoßener Reformen für die einzelne Bürgerin und den einzelnen Bürger. Diese steuerpolitischen Maßnahmen und Programme beeinflussen die sozialen Beziehungen zwischen konsumierenden Steuerpflichtigen und ihrer Steuerbehörde. Als social site im Sinne der Politics of Scale, wo Bürger und nationale Institutionen interagieren, vergegenwärtigen die Maßnahmen die dynamische, mittelbare Beziehung zwischen konkreten Örtlichkeiten wie einem Postamt in der griechischen Inselwelt und EUeuropäischen Sitzungssälen.
Der Kassenbon als Tausch- und Sammelobjekt Wenngleich nun also nicht länger Ausnahmezustände auf den Postämtern zu erwarten sind, so gewinnt ein anderer Ort des sozialen Austausches einige Wochen vor Steuerfrist an Bedeutung: Eine Informantin erwähnt Rundschreiben, die regelmäßig einmal pro Jahr in ihrem elektronischen Postfach eingehen. Darin bieten die einen überzählige Kaufbelege an, während sie von anderen händeringend gesucht werden. Sie weist darauf hin, dass diese Mails im Kollegenkreise die Runde machen – einem Umfeld, in dem in ihrem Fall Vertrauen herrscht, welches jedoch über den engsten privaten Kreis hinausgeht. In Gesprächen wurde teils kopfschüttelnd, teils mit bissigem Humor konstatiert, dass es somit einen temporären Schwarzmarkt für Quittungen gebe – der widersprüchliche Effekt eines Gesetzes, das gerade die gesellschaftliche und ökonomische Bedeutung der Schattenwirtschaft mindern sollte.
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Zudem brachten meine Informanten einen weiteren – aus ihrer Sicht unfreiwillig komischen – Effekt zur Sprache: Laut Gesetz müssen die Kassenbons fünf Jahre aufbewahrt werden. Allerdings verbleichen insbesondere die auf Thermopapier gedruckten Belege deutlich schneller, sofern sie nicht kühl, dunkel und gut geschützt gelagert werden. Eine Kollegin, die als ausgebildete Archäologin über Expertise im Bereich der Restaurierung und musealen Objektkonservation verfügt, verwies im Scherz auf die sprunghaft angestiegene gesellschaftliche Bedeutung ihrer professionellen Kompetenzen. Aufgrund der Notwendigkeit, die Vergänglichkeit der Dinge aufzuhalten, kursieren inzwischen Hinweise im Internet7, wie am besten mit den Kassenbons zu verfahren sei: Sie dürfen nicht in direktem Sonnenlicht, in der Nähe des Herdes oder der Heizung gelagert werden. Über die Frage, ob die Lagerung in Plastiktüten die Lebensdauer der Kassenbons erhöht oder reduziert, scheiden sich die Geister. Doch ganz pragmatisch akzeptiert das Finanzamt mittlerweile Belege, auf denen ausgeblichene Ziffern von Hand nachgezeichnet wurden – solange alle notwendigen Angaben noch kenntlich sind. Während die Kassenbons sich bei mir – als in Griechenland nicht Steuerpflichtige – allerorts ansammelten, nutzlose kleine Haufen bildeten und dadurch sichtbar und auffällig wurden, sind sie für griechische Steuerzahler mithin Sammlerobjekte, deren Wert saisonal fluktuiert, die besondere Behandlung erfordern und Tauschbeziehungen in Gang setzen. Eine im Oktober 2011 eingeführte Chipkarte8, auf der die Kaufbeträge elektronisch gespeichert werden können, soll das alljährliche Tauschen und Sortieren allmählich ersetzen: Seither können die Kaufbeträge in Läden mit entsprechender technischer Ausrüstung auf einer personalisierten Karte im Format einer Kreditkarte elektronisch gespeichert werden und dann der Steuererklärung beigefügt werden. Nach wie vor findet allerdings die Bezahlung in den meisten Einzelhandelsgeschäften in bar statt, zumal in kleineren Geschäften Kartenzahlung technisch oftmals unmöglich ist. Es steht demnach nicht zu erwarten, dass die Chipkarte sich allzu rasant durchsetzt – auch zukünftig dürfte vielmehr weiter gesammelt und getauscht werden. Der Kassenzettel als gesellschaftlicher Akteur macht neue Tauschbeziehungen und technologische Veränderungen sichtbar. Aus der Black Box 7 | Http://livingingreece.gr/2010/02/12/taxes-greece/ 8 | Http://lesvosnews.net/2011/10/01/forokarta/
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Latours und Callons quellen nicht nur Berge von Kaufbelegen hervor; sie fördern darüber hinaus die kleinteiligen Effekte sich verstärkender Machthierarchien zwischen nationalen und EU-europäischen Institutionen zutage und zeigen auf, wie politische Maßnahmen und Technologien individuelles Handeln und soziale Loyalitäten beeinflussen.
Kassenbons als Souvenirs? Die innereuropäische Machtasymmetrie Während vertrauensvolle soziale Beziehungen durch die geltenden steuerlichen Regelungen in dieser speziellen Weise ihre Nützlichkeit erweisen können, wird die Beziehung zwischen Konsumenten, Gewerbetreibenden und Unternehmern fragil. In einer ökonomischen Gesamtlage wie in Griechenland, in der der Tourismus einen beträchtlichen Teil des Bruttoinlandsprodukts ausmacht (vgl. OECD 2012) und zumal auf den Inseln sowie in der Peripherie der wichtigste Wirtschaftszweig ist, bedeutet das oft: Es geht auch um das Verhältnis zwischen einheimischen Verkäufern und urlaubender Käuferschaft, die zu über 90 Prozent aus Europa anreist.9 Und so legt die Neue Zürcher Zeitung (NZZ) zur besten Urlaubszeit ihrer Leserschaft eine neue Rolle als Reisende nahe, die in der griechischen medialisierten Öffentlichkeit kaum noch ironisch, sondern eher als Zuspitzung wahrgenommen wurde: Während die griechischen Stimmen lauter werden, die in den regelmäßigen und mit Schrecken und Häme erwarteten Kontrollbesuchen durch die sogenannte Troika aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfond eine imperiale Geste sehen, eröffnet die schweizerische Zeitung die Möglichkeit, dass auch Urlaubsgäste als Steuerfahnder aktiv werden könnten. In diesem realsatirischen Vorschlag verbergen sich drastischer Humor und plastische Verweise auf die Umsetzungsschwierigkeiten des Steuerrechts gleichermaßen: »Das System zeigt durchaus Erfolge. Nur funktioniert es leider nicht bei ausländischen Konsumenten. Diesen ist es nämlich in Griechenland meistens ziem9 | In der Auswertung der griechischen Statistikbehörde wird für 2007 ein Wert 92,7 Prozent genannt, http://www.statistics.gr/portal/page/portal/ESYE/BUCKET/A2001/PressReleases/A2001_STO03_DT_MM_00_2007_01_F_EN.pdf, eingesehen am 28.01.2012.
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lich egal, ob sie eine Quittung erhalten oder nicht. Nicht ganz überraschend kam denn auch eine Inspektion der Finanzpolizei auf 15 Touristeninseln zu ernüchternden Resultaten. Auf Rhodos hielten sich beispielsweise 100 Prozent der kontrollierten Firmen nicht ans Steuergesetz, auf Santorini 77 Prozent, auf Mykonos 73 Prozent und auf Paros 65 Prozent. Von 750 kontrollierten Unternehmen tappten 490 in die Falle. Was kann getan werden? Allenfalls sollte man Griechenland-Reisenden ganz einfach ein attraktives Geschenk in Aussicht stellen, wenn sie während ihres Ferienaufenthalts eine bestimmte Summe ausgeben und sie diese Summe beim Verlassen des Landes auch durch entsprechende Kaufbelege zu dokumentieren vermögen. Das könnte die Touristen unter Umständen zu willkommenen Mehrausgaben stimulieren. Vor allem aber würden die ausländischen Feriengäste darauf beharren, für ihre Ausgaben eine ordnungsgemässe Quittung zu erhalten. Die Touristen würden auf diese Weise quasi zu Steuerinspektoren mutieren. Im Fall von Gästen aus der Euro-Zone wäre dies nur konsequent. Schliesslich sind sie es, die mit ihren Steuergeldern für das griechische Malaise geradestehen und die hinterzogenen Steuern kompensieren müssen.« (Neue Zürcher Zeitung 2011)
Gerade in den abschließenden Formulierungen in der NZZ bündelt sich, was viele meiner Informanten für ein grundlegendes Fehlverständnis Außenstehender in der gesamten Debatte um die Krise halten. Zum einen gilt das, was europaweit häufig als ökonomisch motivierte und EU-gesinnte Solidarität rubriziert wird, für einen beträchtlichen Teil der griechischen Öffentlichkeit als ein Tauziehen zwischen ihrer inkompetenten und korrupten nationalen Regierung und den EU-Gremien. Bei der Veräußerung großer Staatsunternehmen (zu für die internationalen Käufer möglichst günstigen Konditionen) profitierten einer gängigen Sichtweise zufolge vor allem Banken und stände langfristige Stabilität oder gar Wachstum nicht im Zentrum. Zum anderen aber – und das mag weitaus nachhaltigere Wirkung in der Europäischen Union als einem sozialen Gefüge von Gesellschaften haben – entfacht sich die Empörung an der selbsternannten Kompetenz der europäischen Öffentlichkeiten, die Ursachen der griechischen Misere zu kennen, und dem vermeintlich daraus entspringenden Recht, über das südosteuropäische Land und seine Bewohner pauschal zu urteilen. Vielfacher Bezugspunkt in meinen Interviews vor Ort war das umstrittene und mittlerweile berühmte Titelblatt des deutschsprachigen Nachrichtenmagazins Focus vom 22. Februar 2010, das den Leitartikel Betrüger in der Euro-Familie mit der Göttin Aphrodite bebildert, die dem
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Betrachter den Stinkefinger entgegenstreckt. Im Kern betrifft die Kritik meiner griechischen Gesprächspartner die so wahrgenommene Gleichsetzung von Bevölkerung und Regierung, die Geschichtsvergessenheit der ausländischen Kommentatoren und ein Desinteresse an den alltäglichen Konsequenzen der umfassenden Kürzungen. Über die lange Geschichte der Verstrickungen zwischen Tourismus, Geopolitik und nationalen Stereotypen ist viel geschrieben worden, in Europa zumal mit Blick auf Griechenland (vgl. Lenz 2010). Hier tritt ein weiterer Aspekt hinzu: Die innereuropäische Machtasymmetrie und die oft pauschalisierenden und mehrheitlich kritischen Meinungen und Urteile über das Land bündeln sich in der Figur des Reisenden. Dessen pingeliges Bestehen auf Quittungen wird zu einer zentralen Tätigkeit seines Konsumhandelns – immerhin winkt bei der Ausreise womöglich eine Buchstütze in Form der Akropolis als Belohnung. Damit wird das Bild gefestigt, nach dem der Tourismus Griechenlands einziger Wirtschaftszweig sei. Semantisch gehören zum Tourismus das Laissez-faire und der Müßiggang, das wiederum fügt sich nahtlos in dominante Stereotype vom Griechischen – und angesichts all dieser Kette von Verkürzungen erscheinen die Reformen im EU-Diskurs in der medialen Öffentlichkeit umso alternativloser. Die Dynamik zwischen den social sites, welche die skalare Perspektive in den Blick nimmt, beschränkt sich mithin nicht auf explizite Themen des politischen Diskurses, sondern rührt auch an festgefügten Fremd- und Selbstbildern, welche den Europäisierungsprozess lange prägten. Man denke hier nur an die Metapher der europäischen Familie mit ihren Mitgliedern von Vater und Mutter bis hin zum renitenten Cousin und der braven Nichte (Borneman/Fowler 1997: 495f.). Artikel in den europäischen Printmedien, die die Grundprobleme des griechischen Staates (vgl. etwa Lapavitsas et al. 2010, Sorman 2011) einzugrenzen versuchen, kreisen ein ums andere Mal um diese wirkmächtigen Stereotype, die Michael Herzfeld so auf den Punkt brachte: »For many west Europeans, the Greeks of today are a people neither dramatically exotic nor yet unambigiously European. They are supposedly the willing servants of western interests, yet they are frequently disobedient to that role. In consequence, they receive public chastisement from journalists and politicians alike, not as the parent of all Europe, but as the political West’s poorly socialized and wayward offspring.« (Herzfeld 1989: 20) Die NZZ aktualisiert mithin in ihrem Artikel lediglich eine langjährige Blickrichtung – und der Kassenzettel als Detail sozialer Interaktionen zwischen Reisenden und Gastgebern verweist dar-
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auf, wie Konsumhandeln und innereuropäische Hierarchien miteinander verschmelzen.
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Der Kassenzettel als Aktant in einer politischen, ökonomischen und somit gesellschaftlichen Umbruchsituation vermag den Blick in die geöffnete Black Box zu lenken und grundlegende Mechanismen – nicht zuletzt der Europäisierung Europas – aufzudecken. Neben praktischen Fragen, die mit der tatsächlichen Umsetzung des griechischen Steuerrechts als Teilaspekt einer größer angelegten Verwaltungsreform zu tun haben, fördert er auch die Frage nach einem sozialen und politischen Kollektiv zutage. Dieses zunächst einmal imaginierte Kollektiv befindet sich – teils mit einem Mindestmaß von Eintracht, teils zutiefst gespalten – inmitten einer komplexen Gemengelage aus nationalen und EU-europäischen, ökonomischen, politischen, ideologischen Interessen. In den landesweiten Protesten und Debatten konturiert sich ein Wir, dass sich zum einen gegen die griechische Regierung und politische Klasse abgrenzt. In einem durchaus widersprüchlichen Verhältnis dazu steht eine zweite Abgrenzung, nämlich die von der EU, die für die öffentliche Auseinandersetzung wie auch für die Regierung gleichermaßen solidarisierend wirkt. Und drittens sind auch die Programme der griechischen Parteien nicht nur aktuell, sondern traditionell von einem Euroskeptizismus durchdrungen, wie Susannah Verney für die Zeit von 1959 bis 2009 zeigt (Verney 2011, vgl. Nezi/Sotiropoulos/Toka 2010): Vor Beginn der Militärdiktatur 1967 und auch ab der Mitte der 1990er Jahre sei Euroskeptizismus vor allem eine Angelegenheit der kleineren Parteien gewesen; Euroskeptiker seien (auch) aufgrund des griechischen Wahlsystems kaum in Machtpositionen gelangt. Generell diagnostiziert die Autorin eine starke Übereinstimmung zwischen Euroskeptizismus in der Bevölkerung und in den Programmen der griechischen Parteien – vor allem, aber bei weitem nicht nur im linken Spektrum. Die aktuellen Konflikte auf der europäischen und nationalen Politikbühne und der Umgang mit den Kassenzetteln verweisen jeweils darauf, dass die Bedeutungsdomänen, die sozialen und kulturellen Sinnzusammenhänge von Alltag, Nation und EU-Europa sich derzeit neu ineinander fü10 | Chrisafis 2011.
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gen. Was bislang – also vor der Krise – galt, oberflächlich funktionierte oder zumindest wenig Aufsehen erregte, befindet sich nun im Rampenlicht und offenbart »new rationalities of governance and regimes of knowledge and power« (Shore/Wright 2011: 1f.): Zunächst einmal wird anhand des sozialen Lebens von Kassenzetteln die engere Verbindung – oder gar Verschmelzung – der Bürger- und Konsumenten-Rolle erkennbar. Diese Tendenz ist im Einklang mit den neoliberalen Zügen der Europäisierung und der darin eingebetteten Ideale schlanker Staats- und Verwaltungsapparate. Doch zugleich muss offen bleiben, welche Konsequenzen das Ineinandergehen von politischen und wirtschaftlichen Rollen des Individuums in einer europäischen Gesellschaft hat. Während einerseits nämlich die Infantilisierung von Bürgern scharf kritisiert wird, wenn deren gesellschaftliches Handeln immer stärker die Form von Konsumhandeln annimmt (Barber 2007, Stiegler 2008), so erkennen Sozialwissenschaftler andererseits das emanzipatorische und politische Potential des Consumer Citizen (Lamla 2008). Ganz besonders im Fall Griechenland dürfte dieser Rollenwandel die politische Debatte und zukünftiges Wahlverhalten prägen, stehen doch die klientelistischen Traditionen und die damit verbundene Wählerloyalität gegenüber Parteien geradezu im Gegensatz zum andernorts bereits etablierten Wechselwähler, der seine Gunst und Stimme so den Parteien und politischen Kandidaten verleiht, wie er im Supermarkt mal das eine, dann das andere Produkt auswählt. Wenn in der Medienberichterstattung ferner betont wird, dass die aktuelle Situation in Griechenland eine Kluft zwischen »den Griechen« und »den Politikern« des Landes reisst11, folgt in der Regel der Verweis auf jenes knappe Dutzend einflussreicher Familienverbünde, die seit Generationen die Geschicke des griechischen Staates lenken. Aus politikwissenschaftlich-philosophischer Warte präzisiert Stathis Kouvelakis diese Sichtweise: »What is at the very root of the weakness of the Greek State, paradoxical as it may sound to some people, is the very failure of the popular classes in Greece to reach a permanent form of representation and regulation of their interests within the state itself. The popular classes, precisely because they are deprived of the more institutionalized, of the more stabilized form of the social compromises that have been reached by the popular classes in other parts of 11 | Nikos Dimou in Chrisafis 2011.
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the European continent in the context of the so-called welfare state, have to […] reach some purely particularistic or fractional form of fulfilling certain immediate interests via practices such as [corruption and clientelism].« (Kouvelakis in Lapavitsas et al. 2010: 304)
Folgt man diesem Deutungsvorschlag, so offenbart sich der alltägliche Umgang mit Kassenbelegen als ein Weg, als Bürgerin oder Bürger die eigene Haltung gegenüber dem machtvollen Staat zum Ausdruck zu bringen – und sei es nur durch kreatives, kleinteiliges Handeln mit subversiven Effekten, wie dem Tausch der Kassenbons oder dem Verweis auf eine unglücklicherweise ausgerechnet heute funktionsuntüchtige Registrierkasse. So kritisieren viele meiner Gesprächspartner den neoliberalen Zuschnitt dieser Steuerregelung, der soziale Schieflagen verschärfe: Konsum werde nun noch offensichtlicher an die Rolle des steuerzahlenden Bürgers gekoppelt, geradezu zur Bedingung gemacht – und betreffe insbesondere jene Bürger mit geringeren Einkommen. Doch zugleich wird so die Rolle klar umrissen, welche der Staat dem steuerpflichtigen Teil seiner Bevölkerung zugedenkt. In diesem Moment, wo die Bürger als Konsumenten figurieren, treten die staatlichen Logiken und Funktionsmechanismen womöglich deutlicher zutage als zuvor (Lamla 2008). Das zieht andere, direktere und womöglich wirkungsvollere Formen des Protests nach sich. Insbesondere meine jüngeren Gesprächspartner betonten vielfach genau diesen Effekt: Die Krise und ihre alltäglichen und einzelnen Spuren im Alltag habe sie selbst und eine ganze Generation politisiert – und sie deuteten die landesweiten Demonstrationen wie auch die Aktionen und Proteste auf dem Athener Syntagma-Platz unter anderem als Zeichen dafür, dass jene, die sonst politischen Demonstrationen eher fernblieben, ihre Kritik an der Regierung nicht länger nur in kleinen Alltagshandlungen artikulierten. Die griechische Regierung ist unterdessen bemüht, ein solches Wir, das ihr entgegensteht, nicht weiter zu verfestigen – und veröffentlichte in diesem Sinne auf einer sogenannten Liste der Schande die Namen von 4151 Steuerhinterziehern. In diesem Zuge wurde eine 200-köpfige Polizei-Spezialeinheit geschaffen (die wohlgemerkt nicht dem Finanzministerium untersteht oder aus ihm hervorgeht), von denen die Hälfte über Expertise in Finanzwissenschaft, Rechnungswesen und neue Informationstechnologien verfügt. Experten rechnen zwar nicht damit, dass mehr als 20 Prozent der darin genannten direkten Steuerschulden eingetrieben werden können, doch in Verbindung mit einer zentralen Rufnummer der
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Spezialeinheit, an welche sich Bürger im Falle eines Verdachts wenden können, wird die Frontalstellung zwischen Staat und Bürger brüchig.12 Einige meiner Gesprächspartner sehen darin einen notwendigen Schritt, den Staatshaushalt zu sanieren, während andere darin kritisch den Aufruf zur gegenseitigen Überwachung sehen, der Solidarität unterbinde und ohnehin die »kleinen Fische« viel eher treffe als jene, die in großem Stile Gelder außer Landes führten. Diese Sichtweise unterstreichen sie mit der Feststellung, dass die indirekte Besteuerung durch Mehrwertsteuer in Griechenland über dem EU-Durchschnitt liege (Europäische Kommission 2011) – diese trifft breite Teile der Bevölkerung und auch jene mit geringerem Einkommen im Unterschied etwa zu Vermögenssteuern, welche auf die wohlhabenderen Bevölkerungsschichten zukämen. Doch nicht nur das – in der inoffiziellen Rangliste, die nicht nur für das Milieu der international Mobilen relevant, sondern auch in der griechischen Öffentlichkeit präsent ist, wird Griechenland weit unten eingestuft: »Greece has the [...] second highest gas/petrol tax. Third highest tax on social insurance contributions, highest property tax and one of the worst corporate taxes, without the quality of living or competitiveness to match.« Angesichts dessen liegt auf der Hand, dass nicht nur der Consumer Citizen zunehmend präsenter wird, sondern dass für weite Teile der Bevölkerung gerade der durch hohe Steuersätze erschwerte alltägliche Konsum ein Politikum ist.
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Mein Beitrag ging Verbindungen zwischen kleinen Papierschnipseln und Praktiken der Bürgerschaft innerhalb der EU in einem Politikfeld nach, das formal auf nationaler Ebene reguliert wird. Dabei standen drei inhaltliche Aspekte im Zentrum: Erstens interessierte, wie Konsum und Steuerlast im Alltag gekoppelt sind und (um)gedeutet werden. Es zeigte sich, dass die Idee eines viel stärker über sein Konsumverhalten definierten Bürgers problematisiert wird – und individuelle Formen des kritischen Umgangs mit diesen Regelungen hervorbringt. Zweitens offenbart das Sammeln und Anhäufen Hunderter und Tausender Kassenbons als alltägliche Praxis, 12 | H t t p ://w w w.ek a t hime r ini.c om /4D c g i /4 dc g i /_w_ ar t ic le s _w s i t e1_ 15833_01/08/2011_400725
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dass sich die europaweit geforderten Bemühungen um einen schlankeren und transparenteren Staat – etwa mittels einfacherer Steuergesetze – unschwer ins Gegenteil verkehren. Bereits Saskia Sassen benannte diese widersprüchlichen Effekte, die im Spannungsverhältnis von supranationalen Institutionen, Nationen und Individuen auftreten: Unter den Vorzeichen der Globalisierung wird die staatliche Exekutive in einigen ihrer Betätigungsfelder gestärkt, während andere Bereiche des Nationalen wie etwa die Judikative tendenziell geschwächt werden (Sassen 2008). Drittens ging es um die Neuformierung politischer und sozialer Kollektive unter den Vorzeichen der EU-Krise, als deren Brennpunkt Griechenland galt und gilt: Die weithin geteilte Meinung, dass Reformen des Staatsapparates notwendig seien, beeinflusst die Sichtweisen auf den griechischen Staat, auf die EU und deren jeweiliges Verhältnis zu den Bürgern. Letztere begegnen dem einen wie der anderen mit Skepsis, doch dabei offenbart sich die EU als ein Kippbild: Zum einen gilt der griechische Staat gemeinhin als korrupt und ineffizient und die EU als ein machtvoller Akteur, der hier nicht nur eingreifen kann, sondern dies seit geraumer Zeit tut. Aufmerksamkeit und Proteste bündeln sich anlässlich wiederkehrender Besuche der Troika. Zum anderen offenbaren sich die im Alltag vieler Bürger sichtbaren Effekte einer EU-europäischen Durchdringung nationaler Politikfelder wie der Finanzpolitik in der neoliberalen Neudefinition von Staatsbürger als Konsument. In der Tat: »Policy offers a useful diagnostics for understanding how systems of governance [...] construct subjects as objects of power.« (Shore/Wright 2011: 20) Der alltägliche Umgang mit Kassenzetteln und ihr »soziales Leben« zeigen, dass wir in Griechenland einem Rollenwandel des Bürgers und der Bürgerin beiwohnen: Der Staat wird im Kontext der Europäisierung immer deutlicher zu einem ökonomischen Akteur, der sich im Wettbewerb mit seinen Nachbarn zu behaupten hat. Aus dieser semantischen und sozial höchst wirksamen Verschiebung folgt auch, dass die Beziehung zwischen Alltagshandeln und staatlichen Regulierungen verstärkt nach den Mustern des Konsums verläuft. Dass sich dieses in kleinsten alltäglichen Handlungssequenzen wie dem Umgang mit Kassenzetteln manifestiert, offenbart die kulturelle Wirkmacht politischer Großprojekte wie der EU auf der Ebene des Individuums.
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IV. Methodische Zugänge – ethnografische Positionierungen
Das Bohren der Bretter Zur trans-sequentiellen Analyse des Politikbetriebs Thomas Scheffer
1. E INLEITUNG Ethnografien des Parlaments versprechen Einblicke in den Alltag der Parlamentarier. Wie, mit wem und womit, so fragen sie, verbringen Abgeordnete eigentlich ihre Zeit? Was machen sie dort, im Kreise der ihren, verbunden über allerlei Rituale und Angewohnheiten? Die parlamentarische Kultur wird vielfach so verstanden: als eigene Lebensform, die den Leuten fremd bleibt. Im deutschen Kontext haben insbesondere Patzelt (1989) und seine Kollegen (Schöne 2010) diese Perspektive eingenommen, um ein Entscheidungsverhalten entlang von sozialen Bindungen, lokalen Gepflogenheiten und symbolischer Aufladung einzubetten (vgl. Fenno 1990, de Volo/Schatz 2004). Die Abgeordneten scheinen selbst auf die vielfach konstatierte Hermetik der Parlamentskultur zu reagieren. Sie veröffentlichen Terminpläne, »typische Wochen« und allerlei Aufklärung zur Parlamentsfolklore auf ihren Webseiten. Sie schildern, was sie von Montag bis Freitag zu schaffen haben und machen Überstunden, Abendtermine und Terminhatz geltend. Hier ein typisches Beispiel einer solchen Selbstbeschreibung von einer Abgeordnetenwebseite: »Montag früh reisen die Abgeordneten des Bundestages aus ganz Deutschland nach Berlin an. Ich nehme gemeinsam mit meiner Büroleiterin meist den Zug um 7.35 Uhr aus Bochum, der mich am späten Vormittag am Berliner Hauptbahnhof in eine ereignisreiche und anstrengende Woche ›entlässt‹[…] Nach der Wochenplanung mit meinen Mitarbeitern und der Besprechung mit den Fraktionsreferenten und Sachbearbeiterinnen für die Angelegenheiten der Euro-
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päischen Union folgt die Telefonschaltkonferenz mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Landesgruppe Nordrhein-Westfalen. Anschließend mache ich meist eine kurze Mittagspause. Danach setze ich mich wieder an den Schreibtisch, erledige Telefonate mit Bürgerinnen und Bürgern und bereite die Termine dieser Woche vor. Um 15.00 Uhr beginnt die Sitzung des Geschäftsführenden Vorstands der X-Bundestagsfraktion, um 17.00 Uhr dann die Sitzung des Fraktionsvorstandes[…] Meist besuche ich abends noch eine oder zwei politische Veranstaltungen und fahre gegen 22.00 Uhr in mein Appartement im Berliner Stadtteil Steglitz, das ich zur Untermiete in den Sitzungswochen bewohne.« 1
Nachdem in dieser Art die Wochentage aus der Ich-Perspektive abgearbeitet wurden, erfolgt das obligatorische Resümee: […] Eine interessante und anstrengende Sitzungswoche in Berlin ist nun zu Ende – und es wartet auf mich ein ereignisreiches Wochenende mit öffentlichen Veranstaltungen und politischen Aktivitäten in Bochum. Natürlich habe ich aber auch noch ein Privatleben… (Ebd.)
Die hier vorgestellte ethnografische Perspektive fasst die parlamentarische Praxis anders: Es geht ihr nicht zuvorderst um den Alltag der Abgeordneten, sondern um die interessierte, dringliche und fortwährende Arbeit parlamentarischer Betriebe. In diesen Betrieben erfolgt, so der ethnografische Gesamteindruck, das von Max Weber so einprägsam umschriebene »starke langsame Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich« (1919: 16). Als kleinste Betriebseinheiten fungieren dabei nicht Fraktionen oder Arbeitskreise, sondern Abgeordnetenbüros mit dem Mitglied des Bundestages (MdB), seinen/ihren in der Regel 2-4 Mitarbeiterinnen (plus Praktikanten). Was schaffen diese Betriebseinheiten? Woran arbeiten sie? Was genau und wie wird da gebohrt? Die hier im Folgenden demonstrierte praxeologische Forschungsstrategie – genauer: die transsequentielle Analyse (TSA) – erfasst die parlamentarische Arbeit entlang ihrer Mittel, Methoden und Werke. In dieser Perspektive zerfällt der Alltag in mehr oder weniger verknüpfte Arbeitsepisoden. Diese ordnen sich nicht mehr entlang einer zirkulären Zeit des Parlaments, sondern entlang einer linearen Zeit seines Betriebs. 1 | Entnommen von: http://www.axelschaefermdb.de/bundestag/eine_woche_ im_par lament.html?printView=1 am 26.05.2013.
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Die TSA erstellt Querschnitte durch den parlamentarischen Alltag, um derart das kollektive Schaffen zu rekonstruieren. Dies hat Implikation für Analyse und Zusammenstellung der eigenen Feldnotizen. Es ergeben sich ausgreifende Erzählungen aus gereihten Feldnotizen entlang des fokussierten Arbeitsprozesses – hier, der Fertigung eines »Handlungskonzepts zur dörflichen Entwicklung«: »Die E-Mail-Post ist sortiert, die leidige Recherche zur Abgabereform erledigt, die Praktikantin beschäftigt. Jetzt wendet sich Willie 2, der Büroleiter, wieder dem Papier zur ›dörflichen Entwicklung‹ zu. Die Gliederung der ersten Fassung passt noch nicht: mit schneller Hand kritzelt er ›Gliederung: Wirtschaft, Absatz, Förderung‹. Diese Randnotiz soll offenbar nur er selbst lesen: eine der vielen Selbstaufträge am Text, die er abarbeitet.« »Den Auftrag hatte er sich auf der letzten Arbeitssitzung (AS) vor zwei Wochen *geholt 3 . Alle sechs Büros waren mit Mitarbeitern (MA), drei auch mit Abgeordneten (MdBs) vertreten. Die Büros übernahmen Aufgaben für Ab schnitte im Handlungskonzept‹. Sein ›Büro Helm‹ bekam – auch offiziell im Protokoll – die ›Federführung‹: ›Alle Büros überarbeiten bis eine Woche vor der nächsten Sitzung das Papier, schicken es ins Büro Helm. Büro Helm macht daraus Syntheseversion. Strittige und offene Punkte werden in der nächsten AG dis kutiert‹«. »Mit Claudia vom Büro Schmidt hat er sich direkt nach der Sitzung getroffen: Sie hatte die Einleitung *vorformuliert. Überall, so dringt sie, müssten den ›Wirt schaftskreisläufen‹ (der alten Version) die ›regionalen Wertschöpfungsket ten‹ vorangestellt werden. Claudia brachte zum Vieraugengespräch einen Schwung Streichungen, Umformulierungen und Kommentierungen mit: ›Zu weit 2 | Die Namen sind ebenso fiktiv, wie die Inhalte, Orte und Zeiten. Ich bedanke mich bei den Mitarbeiterinnen (MA) für das mir für diese Ethnografie von Abgeordnetenbüros entgegengebrachte Vertrauen. Der politische Betrieb und sein Personal haben, wie andere Institutionen und ihre Betreiber auch, ein Recht auf Hinterbühne. 3 | Ich markiere solche Begriffe mit *, um so die hier spezifischen Praktiken anzuzeigen, die sich der besonderen Rahmung – der Vollzüge wie der Analyse – verdanken, bzw. diese mit Evidenzen versehen. Unter 2.1 werde ich die Auswahl der Diskurspraktiken skizzieren.
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weg vom eigentlichen Thema 4‹, ›Ist das wichtig für die regionale Wertschöpfung?‹, ›Finde ich zu weitführend für das Papier‹« »Jetzt sitzt er an einer anderen, späteren Version. Sein Kumpel Thorsten vom Büro Lahm hatte sich die Mühe gemacht, alles einmal *gegenzulesen. Willies eigene Markierungen sind teils Antworten auf diese Kommentare (und haken die ab, die im Text erledigt sind), teils eigenständige und weitreichende Umstellungen (›Aufbau ändern: 1. Unternehmertum, 2. Finanzielle Rahmenbedingungen, 3. Infrastruktur‹). Außerdem dokumentiert er im Text mündliche Hinweise weiterer Büros (›Büro Schramm: Wie stehen wir zur Harmonisierung der Gewerbesteuer?‹)«. »›Vier Monate braucht so was immer‹, erzählt er mir. Da hatte ich meine Bürobeobachtungen schon stark auf dieses Projekt fokussiert. In den folgenden zwei Wochen versorgte mich Willie mit weiteren fünf Versionen – und wichtiger noch, ich fischte seine bekritzelten Ausdrucke aus dem Altpapiereimer. In dieser Weise wurde sichtbar, was jedes Eintippen zum Verschwinden bringt bzw. *überschreibt: die mehr oder weniger provisorischen Überarbeitungsaufträge von einer Version zur nächsten.« »Ein Jahr später, jetzt mehr als Diskursanalytiker denn als Feldforscher, finde ich Spuren der damaligen Bemühungen im Netz: einen Fraktionsbeschluss, eine PDF-Broschüre, einen Beitrag im Fachmagazin, die Langfassung im thematischen Sammelband, etc. Die Arbeit war offenbar ertragreich. Und sie war nicht ohne Konkurrenz. Die Recherche fördert synchrone Projekte anderer Gruppierungen zutage: das 100-Punkte Programm der Bundesregierung, die Plenardebatte zur ›dörflichen Entwicklung‹, den EU-Kommissionsbeschluss zur turnusmäßigen Vorlage von Initiativen der Mitglieder.« (Feldnotizen) 5 4 | Es ist spannend, wie hier nicht nur ein gemeinsames Thema herausgeschält, sondern bereits energisch verfochten wird. Sie scheint sehr früh und sehr genau zu wissen, worauf es beim Konzept ankommt. Sie stärkt das Ganze weniger mit externen Gründen, als vielmehr mit dem behaupteten ›untrennbaren‹ Zusammenhang von Thema und Papier: ohne dieses Thema, mache das Ganze gar keinen Sinn. 5 | Die hier zusammengestellten Feldnotizen entstammen der ethnografischen Anforschung zur Arbeit der Abgeordnetenbüros im Bundestag. In deren Verlauf haben der Autor in drei Büros und Elisa Bertuzzo in einem Büro 3-4-wöchige Feldaufenthalte durchgeführt. Weitere können 2013 und 2014 folgen: dank einer
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Die Beschreibung führt Episoden und Termine ganz anderer Art auf. Sie lässt das Geschehen in einem anderen Licht erscheinen. Der Alltag tritt gegenüber den im Arbeitsprozess hervorgehobenen Episoden zurück: Schreibsessions anhand notierter Selbstaufträge, vorbereitende Vieraugengespräche, entscheidende Sitzungen, Überarbeitungen aufgrund von Testläufen, vielfache öffentliche Verwertungen, etc. Die TSA beobachtet die Stoßrichtung und Verzahnung dieser Arbeitsepisoden anhand der bearbeiteten Sachen. Im Fall der Abgeordnetenbüros sind dies Presseerklärungen, Redemanuskripte, Konzeptpapiere, kleine oder große Anfragen, Anträge, etc. Aus diesen spezifischen Sachen werden, im Lichte der legitimen politischen Rezeption, Sachpositionen, die sich allgemein und öffentlich diskutieren, kritisieren oder auch unterstützen lassen. Die Analyse parlamentarischer Arbeit anhand ihrer Sachen oder Vorhaben umfasst eine Schrittfolge: Ausgehend von der Konzeption einer Trans-Sequentialität (2.) ist eine methodische Schrittfolge (3.), die schließlich die generalisierten Beiträge des politischen Systems bestimmt (4.). Im Schlussteil komme ich auf die Eingangsfrage zurück: Was erfordert die Teilnahme am politischen Wettbewerb und wie formt dieser Wettbewerb Beiträge und Beitragende.
2. TR ANS -S EQUENTIALITÄT Wie vollbringen die Teilnehmer »komplexe Handlungstypen« (Auer 1986), wie das gemeinsame Formulieren eines Programmtextes? Eine Antwort muss die wesentlichen materialen wie symbolischen Investitionen bestimmen, die notwendig sind, um eine Sache zu befördern. Hinzu treten die Stätten dieser Inputs: Treffen, Telefonate, Absprachen, Notizen, Materialsammlungen, Lesestunden, Überarbeitungen, etc. Die so erwachsene komplexe Fertigung erfordert eine mitlaufende Orientierung, wo genau man sich befindet, was man tut, was noch nötig ist, etc. (vgl. Fitzgerald 1975). Diese »Kontextualisierungen« (Auer 1986) leisten die Teilnehmer im Wesentlichen, so mein Argument hier, anhand des Objekts in Arbeit.
DFG-Förderung des Projektes zur »mediatisierten Fertigung und Verwertung von Positionen in Abgeordnetenbüros des Deutschen Bundestages« im Forschungsschwerpunkt »Mediatisierung«.
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Mit Blick auf die Arbeitsepisoden und ihre sachliche Orientierung zeigt sich zunächst eine doppelte Kontextualisierung des Geschehens. (1) Hier/ jetzt wird ein Arbeitstreffen abgehalten, ein Vieraugengespräch geführt, am Telefon verhandelt, am PC geschrieben, im Arbeitskreis argumentiert, etc. (2) Gleichzeitig wird derart eine Sache fokussiert und befördert. Es befinden sich also Teilnehmer in »response presence« (Goffman 1989) und bringen einander ein Maß an Respekt und Aufmerksamkeit entgegen6; gleichzeitig betreiben sie einen diskursiven Prozess, der Abwesende(s) einbezieht. Die Sache, die hier verfolgt wird, realisiert sich erst später und anderweitig. Trans-Sequentialität meint diesen Doppelcharakter einer Ereignis- und Prozessrelation (Scheffer 2010). Beide Bezüge lassen sich nicht aufeinander reduzieren. Gemeint ist das Ereignis für den Prozess unter Bedingungen der Co-Präsenz; gemeint ist der Prozess für das Ereignis mit seiner raumzeitlichen Entfaltung. Die Relation funktioniert als Handlungsrahmung am Objekt der Bearbeitung. Im Lichte der kollektiv angegangenen Sache werden Ereignis wie Prozess relationiert und handhabbar; und zwar gleichermaßen für die Mitarbeiter/innen wie für den Sozialforscher. Am Text zur dörflichen Entwicklung erweist sich, ob man in der Sache vorankommt, wo man steht, was zu tun bleibt, etc. Konsequenterweise befestigen die Protagonisten alles zur Sache am Objekt, und sei es nur provisorisch als Notiz oder Kommentar. Im Lichte des Objekts in Bearbeitung zeigen die montierten Feldnotizen unterschiedliche Situationen. Jede hat eine eigene Funktion im Hinblick auf Episoden im Fertigungsprozess: a) Absprachen (z.B. zwischen Willie und Claudia), die die Arbeitsteilung einstielen, operationalisieren und nachjustieren. Die Absprachen verleihen der Sache ein arbeitsfähiges Kollektiv.
6 | Hierzu eine Szene aus den Feldnotizen: »Die beiden treffen sich, um weitere Schritte zum Papier abzusprechen. Willie begegnet seiner Kollegin freundschaftlich. Er bietet Kaffee an, als wäre sie zu Besuch gekommen. Sie plaudern über gemeinsame Bekannte: ›Schade das Lisa geht!‹ meint er und sie erinnern sich, wie das war mit ihr. Claudia hat einen Einleitungstext mitgebracht. Das Startsignal kommt von ihr: ›Wollen wir?‹ Sie reicht Willie den kurzen Ausdruck. Er fängt sogleich an, die beiden Seiten interessiert zu studieren.«
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b) Arbeitssessions, in deren Zuge Teilnehmer ein Objekt mit Blick auf nachfolgende Sessions und Verwertungen bearbeiten. Die Werkstatt bietet hierzu Arbeitsmittel: Schreibutensilien, Wissensarchive, Vorlagen, etc. c) Prüfungen des Arbeitsfortschritts (z.B. »gegenlesen«), die das Objekt für weitere kollektive Anstrengungen qualifizieren. Prüfinstanzen sind sachlich und institutionell autorisiert.7 d) Passagepunkte (Callon 1986), die den Gegenstand kollektiv befördern (z.B. Sitzungen). Solche Nadelöhre fungieren als »points of no return«, wo Beschlüsse am Gegenstand befestigt werden. Trans-sequentiell sind diese Situationen insofern sie Episoden zu einer Fertigung integrieren. Aus solchen Situationen heraus wird am jeweiligen Objekt ein Fertigungsprozess betrieben.8 Es ist dieser diskurspraktische Betrieb, der den alltäglichen Arbeitssituationen eine politische Relevanz verleiht.
2.1 Die minimale trans-sequentielle Konstellation Wie erschließen wir die in institutionellen (hier: parlamentarischen) Arbeitsepisoden angelegte trans-sequentielle Dimension? Die Analyse beginnt mit einer minimalen Konstellation von Situationen als Arbeitsepisoden im Verhältnis zum prozessierten (formativen) Objekt. Folgende Schritte erschließen diese Konstellation: 1) Wir identifizieren mindestens drei Situationen, in deren Verlauf ein Objekt im Fokus steht. Fokussieren wir die zweite Arbeitsepisode (S2), so setzt diese eine erste praktisch voraus (S1 < S2 > S3), indem sie das 7 | Der Begriff der »Prüfung« findet bei Foucault (1969) Verwendung und meint ein diskursives Arrangement einer dauerhaften disziplinierenden Subjektivierung. Institutionelle Settings kultivieren ein Prüfen. Teilnehmende zweifeln nicht (für sich), sondern prüfen (für andere) entlang von Prüferfordernissen und -pflichten. Hinzu treten legitimierende Vor-, Zwischen- und Nachprüfungen. 8 | Diese Tragweite des aktuellen Geschehens muss nicht allen Teilnehmern in gleicher Weise bekannt sein. Situationen mögen eine »Doppelbödigkeit« (Holly 1981) aufweisen, insofern die Teilnehmer X etwas erarbeiten und hierüber die Teilnehmer Y im Unklaren lassen (müssen).
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dort vorgeformte Objekt übernimmt; sie beliefert außerdem eine anschließende Episode (S1 < S2 > S3) mit dem ausgeformten Objekt. 2) S1-S3 erwachsen zum Prozess, insofern jede Episode Spuren am formativen Objekt hinterlässt. Das Objekt nimmt Schritt für Schritt Form an: O1 > O2 > O3. Auf das formative Objekt richten sich die kollektiven Anstrengungen der Teilnehmer. An ihm schätzen die Co-Arbeiter den Stand der Dinge. 3) Arbeitsbeiträge betreffen die Situation (z.B. S2) und ihre unmittelbaren Erfordernisse der Kopräsenz; sie betreffen den Stand des Objekts (O2) und die angepeilte Ausformung (> O3). Ein ordentlicher Interaktionsbeitrag kann damit am Objekt scheitern9, ein situativ deplatzierter Beitrag auch am Objekt funktionieren. 4) Vom Blickwinkel der situierten Folgeepisode (S3) betrachten wir die Anknüpfungen an das bisher bereitete Objekt. Das Objekt ist hier/jetzt (O2) schon enger gezurrt, als noch zum frühen Zeitpunkt der Bearbeitung (O1). Die Qualität des Endproduktes (O3) beruht notwendig auf diesen Investitionen/Selektionen im Arbeitsprozess (S1-S3). Der TSA geht es um Situationen (S1; S2; S3) als Horte von Episoden eines komplexen Fertigungsprozesses (S1-S3) am derart sukzessive ausgeformten, formativen Objekt (O1 > O2 > O3). Die Situationen gewinnen so am Objekt erst einen Prozesscharakter (Gerichtetheit); der Prozess gewinnt am situativ bearbeiteten Objekt erst Ereignischarakter (Kontingenz). Statt einer uni-linearen Sequentialität in einem bloß monologischen Rahmen unterhält die TSA damit mindestens zwei dynamische Dimensionen. Situationen und Objekt werden per Teilnahme und Analyse je selektiv ineinander übersetzt. Diskursive Praktiken fungieren hier als Scharnier, um Situiertheit und Niederschlag gleichermaßen in den Blick zu nehmen. Die trans-sequentielle Konstellation erfordert eine Kombination aus ethnografischen und diskursanalytischen Rahmungen, um den situierten Betrieb im kommunikativen Zusammenhang (Nassehi 2006) zu fassen. Die entsprechend dimensionierten Diskurspraktiken als spezifische »modes of social action« (Hanks 1989: 103) verweisen auf die trans-sequentielle Konstellation bzw. geraten erst durch diese analytische Rahmung überhaupt in den Blick. Die Praktiken hatte ich im Intro mit *markiert: 9 | In das Objekt wird dann nicht weiter investiert (S2 O2 > S3 O2); oder ans Objekt wird gar nicht weiter angeknüpft (S2 O2 – S3).
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* Auftrag holen: Dies klingt zunächst nach persönlichem Engagement des MA. Es dominiert aber ein kollektiver Gestus: »Wir haben den Auftrag.« Ist das Auftrag holen dann Ausdruck einer generellen Erfolgsorientierung, die unterschiedslos von hohen Auftragseingängen profitiert? Hiergegen sprechen die Anstrengungen, Aufträge abzuwehren. Es geht um Gestaltungsmacht für relevante Themenfelder? Mit dem Auftrag werden aufwendigere Fertigungen kollektiv abgesichert. Der Auftrag fungiert als offizieller, gleichsam fiktiver Startpunkt der Fertigung. * Vorformulieren: Hier wird ins Unreine geschrieben. Das ist aber nicht alles. Den »ersten Wurf« oder den »Aufschlag« formuliert eine MA in Vorwegnahme einer möglichen Arbeitsteilung, um die Dinge anzuschieben und ihnen eine Richtung zu geben. Das Provisorische wird dort betont, wo mit dem Wurf einerseits Zuständigkeiten anderer anvisiert sind, die diese andererseits nicht als Autonomieverlust werten sollen. * Gegenlesen: Auch dies ist eine Diskurspraktik im arbeitsteiligen Kollektiv. Das Gegenlesen entspricht einem Testlauf durch vertraute Randfiguren. Solche bislang nicht Involvierten sollen einen frischen Blick auf den Text werfen, ohne vernichtende Kritik zu üben. Sie sollen die Stoßrichtung des Textes absichern. Der Testlauf fingiert eine feindliche Rezeption. * Überschreiben: Der Fokus auf die vorläufigen Arbeitsergebnisse öffnet die »black box« der Textgenese, die in ihrer Entfaltung vieles verwirft. Dies gilt zunächst für die Änderungen am »ersten Wurf«, der dazu qua Vorläufigkeit einlud. Spätere Versionen verwehren sich schon eher dem Überschreiben. Hier stellen Techniken des »Änderungen verfolgen« das Geschriebene neben das potentiell Überschriebene. Der so dargelegte Entscheidungscharakter konditioniert Abänderungen. All diese Diskurspraktiken sind nicht vorstellbar, ohne einen Gegenstand, an dem sie festgemacht und vollzogen werden. Mit anderen Worten, sie machen nur Sinn an Objekten, an denen sich die Bürogemeinschaften mit ihren Fachkräften abarbeiten können.
2.2 Formative Objekte im praktischen Zusammenhang Die TSA verfolgt die situierte Verfertigung von komplexen politischen Diskursbeiträgen und die Anknüpfungen, die diese als Objekte bieten/ nahelegen. Beispielhaft sind hier Textreihen im Sinne von Vor-, Zwischenund Endversionen – sowie die internen Sessions der Überarbeitung und Debatte, die an je aktuelle Stände anknüpfen. Relevant für die praktische
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Rekonstruktion sind außerdem die provisorischen Materialien (Skizzen, Notizen, Erinnerungsstützen), die die lokale Arbeit an den mehr oder weniger ausgreifenden Zwischenständen moderieren. Die in den Büros bearbeiteten Sachen sind keine »immutable mobiles« (Latour 1987). Vielmehr sind es Dinge, die in Zuschnitt, Inhalt und Relevanz Änderungen erfordern und aufnehmen. Als formative Objekte vereinigen sie die folgenden Eigenschaften: a) eine Formbarkeit zum jeweiligen Stand ihrer Bearbeitung, b) kollektiv und kommunikativ formierende Effekte sowie c) ein gefordertes Format des vollwertigen Diskursbeitrags. Formative Objekte, wie das o.g. Positionspapier zur »dörflichen Entwicklung«, strukturieren die Bearbeitung »hier und jetzt« durch die Mitarbeiter der beteiligten Büros: Gestaltungsmöglichkeiten wie Anforderungen. Formative Objekte treten dem politischen Personal in der je aktuellen Form gegenüber. Die Praktikerinnen taxieren hier den Stand der Dinge mit Blick auf die (noch) nötige und mögliche Gestaltung. Ein praxeologischer Blick auf die Momente der Fertigung zeigt neben der Zuwendung zum formativen Objekt, eine ganze Reihe von Funktionen, die das Werkstück einnimmt. In den Schreibsessions fungiert der Text als »Partizipant« (Hirschauer 2004): im Hin und Her zwischen notierten Aufträgen, bisherigen Formulierungen und modulierenden Schreibakten. Er wird zur Komponente einer Handlungseigenschaft (Latour 1996), wo z.B. Argumente und Zitate am Text vorgeführt werden. Er wirkt als »Grenzobjekt« (Star/Griesemer 1989), wo die verschiedenen Büros mit ihren je eigenen Politiken die materialisierte Meinungsbildung rezipieren und kritisieren. Als Projekt erhält der Text schließlich symbolische Qualitäten. Hier wird das Netzwerk der Büros auch ideell integriert. Die Büros erleben sich qua Fertigung als Kollektiv. Später, als der Text schließlich in unterschiedlichen Fachöffentlichkeiten zirkuliert, setzt sich ein generelles Potential durch. Der Text trägt politische Positionen aus, die nun im weiteren kommunikativen Zusammenhang der Politik anschlussfähig werden. Unterstützer wie Kritiker können an Positionen anschließen und diese unabhängig von Anlass und Kontext der Fertigung rezipieren. Die eigentliche Währung des Politischen bildet, so meine Hypothese, den Horizont des Politischen als Diskurs. Dieser Charakter des Papiers wird zum Gegenstand von Reflexionen schon
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während des anlassbezogenen Schreib- und Abstimmungsprozesses. Das heißt, auch schon unter Bedingungen der Dringlichkeit (bis zur Wahl XY, zur Plenardebatte am…), der spezifischen Zweckmäßigkeit (Handreichung, etc.) und der vorrangigen Abnehmer (die Büros X, Y, Z; die Lobbygruppen T, K, …) gilt es, die sich abzeichnenden Relationen der konkurrierenden (generalisierten) Sachpositionen im politischen Zusammenhang zu kalkulieren.10 Die einfache transsequentielle Konstellation am formativen Objekt impliziert eine lineare, gleichsam aufsteigende Bewegung. Sie impliziert, dass Objekte schrittweise verfertigt und Zusammenhänge sukzessive entfaltet werden. Gleichzeitig zeigt die diskurspraktische Rekonstruktion die Kehrseiten dieses Schaffens. So verweist das *Überschreiben auf gleichzeitigen Verfall und Verlust. Vieles wird vergessen gemacht. Das formative Objekt unterliegt selbst der Auflösung bzw. des Bedeutungsverlustes, wo nicht weiter in es investiert, es nicht weiter ge- und unterstützt wird. Die Fertigung schafft immer nur Potentialitäten, die Verwertung immer nur vorläufige Wirksamkeiten.
2.3 E T WAS relevant machen – Karrieren und Qualifizierungsstufen »Das Positionspapier zur dörflichen Entwicklung wird zunächst von zwei Büros vorangetrieben; später zeichnet ein ganzes Ghostwriter-Kollektiv vernetzter Abgeordnetenbüros für die Schrift. Die MA tüfteln über mehrere Monate am Dokument, das thematisch quer zur üblichen Kompetenzverteilung zwischen den Abgeordneten steht. Die Zwischenversionen werden im kleinen Kreise auf einem gemeinsamen Laufwerk abgelegt und zur Weiterbearbeitung abgerufen. Ziel der Fertigung ist die kollektive Festlegung im Hinblick auf ein Maßnahmenpaket zur drängenden Problemlage: der Landflucht, dem wirtschaftlichen Niedergang, der Preisgabe der Kulturlandschaft, etc. Es ist ambitioniert: das Papier soll schließlich die ganze Fraktion vertreten.« (Feldnotizen)
Die TSA verfolgt Objekte über die Stätten und Situationen ihrer Verfertigung hinweg: im Vieraugengespräch, der Schreibsession, der Arbeits10 | Diese Relation wird oftmals als Meinungsbildung gefasst, oder auch als demokratischer Wettbewerb oder als Meinungsstreit. Politikansätze differieren entlang dieser Grundlegung: ob sie Debatten primär als Meinungsbildung oder als Machtbildung auffassen.
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sitzung, der Versammlung, etc. Mit jeder Episode wird das Objekt etwas anderes – und sei es diskreditiert, isoliert, verworfen. Für politische Positionen zeichnen sich im Hin und Her zwischen Arbeitsepisoden und ihren Operationen am Objekt eine Karriere aus Qualifizierungen ab.11 Sie führt von ersten Ideen über die gemeinsamen Anstrengungen bis hin zu kollektiv bindenden Entscheidungen. Wichtige Stationen bei der Verfertigung und Qualifizierung der Position wären für unsere Parlamentsforschung: a) Ein MA beobachtet die Nachfrage nach einer Position: sachpolitisch, verfahrensförmig, in Debatten. b) Diese Beobachtung wird geteilt. Man verschreibt sich gemeinsam dieser Sache. c) Aus der Sichtung der Positionen-Lage ergehen Recherche- und Schreibaufträge an den MA. d) Die MA orientieren sich vermittels von Stellungnahmen einschlägiger, befreundeter und distanzierter Policy-Vertreter. e) Die ausgesuchten, handlichen, brauchbaren, fachpolitischen Vorlagen stellt sie/er zum »ersten Wurf« zusammen. f) Nach bürointerner Diskussion und Einigung, holt sich der/die MA einen Auftrag vom Arbeitskreis. g) Nun investiert sie/er Arbeit in die Ausarbeitung vorläufiger Versionen. Es geht ums Vervollständigen, Zuspitzen, Verdichten, etc. h) Schrittweise werden die Umschriften mit/in relevanten Kreisen abgestimmt. 11 | Konzepte zur Qualifizierung finden sich in den politischen Theorien von Habermas wie Luhmann. Habermas interessieren Kontinuitäten: er fasst die demokratische Meinungs- und Machtbildung als Qualifizierung. Betroffenheiten generieren Stimmungen, Stimmungen generieren geteilte Interessen; intermediäre Gruppen nehmen sich dieser an; ihre Artikulationen finden politisches Gehör in Verfahren; deren Ausgang erzwingt kollektiv bindende Entscheidungen. Die Durchlässigkeit ist normativer Maßstab für demokratische Verhältnisse. Luhmann dagegen betont Diskontinuitäten: Soziale Systeme gruppiert er entlang operativer Modi mit ihren eigenen Qualifizierungsschwellen. Luhmann zeigt, dass Wahrnehmungen nicht schon Interakte, Kommunikationen nicht schon Wählerstimmen und diese nicht schon politische Macht sind. Systeme reproduzieren sich nicht entlang vorgängiger Motivlagen, sondern über Anknüpfungen an Operationen gleicher Art.
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i) Vor der Veröffentlichung testen die MA das Papier in weiteren Runden und Öffentlichkeiten. j) Erst mit der Verwertung ist die Position unwiederbringlich zur feindlichen Kritik freigegeben. Diese sehr lückenhafte Reihe impliziert eine gerichtete trans-sequentielle Aufschichtung: eine fortschreitende (mediale) Übersetzung entlang der Fertigung und Verwertung »guter Gründe«. Qualifizierungen sind aber weitaus verwickelter. Unser Fall schließt synchrone Verhältnisse ein. Mehrere Arbeitsstränge bringen eigene Texte von unterschiedlicher Gebrauchsfertigkeit hervor. Sie fließen als mediale Substrate in den einen gemeinsamen Text ein. Der MA fügt, als ein temporäres »centre of calculation« (Latour 1987), die Zwischenprodukte als Fragmente in einem Text zusammen. Die Fragmente werden dabei harmonisiert, qualifiziert und absorbiert. Am Ende dieser fraktionell eingeübten Kooperation erwächst eine kollektiv geteilte Sachposition, symbolisiert im zusammengesetzten und abgestimmten Objekt, das nun als Ressource zur situativen Verwertung bereit steht. Der objekt-zentrierte Blick erlaubt es, die langwierigen, mehrstufigen Qualifizierungen als Durchführung und Durchsetzung nachzuvollziehen. Jeder der ausgemachten Schritte in der Musterkarriere ist dabei kontingent und könnte scheitern: dies gilt für unterschiedliche, z.B. fraktionsoder bürogeführte Vorhaben. Die Gesamtsicht lässt erahnen, wie zunächst flüchtige Begebenheiten (erste Intuitionen) nach methodischen Aufwendungen eine nachhaltige Relevanz (als kollektive Festlegung) gewinnen. Sie lassen umgekehrt erahnen, wie etwas von Belang und Relevanz auch verworfen werden kann. Die TSA nutzt hier die Metapher der Karriere, um zu erfassen, wie Angelegenheiten als formative Objekte sozial auf- oder absteigen, Unterstützung erlangen oder einbüßen, Bindekraft erzeugen oder verlieren. Die TSA leistet den Nachvollzug kontingenter Qualifizierungen des Objekts als serielle Beförderung, die eben jeweils auch scheitern könnte. Sie fokussiert am Objekt die Übergänge sowie den dabei angepeilten ZielStatus. Dieser ist gleichzeitig spezifisch und generell: spezifisch, weil immer eine besondere Nachfrage und Verwertung wirkt; generell, weil im politischen Zusammenhang eine allgemeine Rezeption legitim ist. In der Konsequenz muss die Verwertung ihren rituellen und dramaturgischen Kontext bedienen und mit der vom Kontext abstrahierenden Rezeption als
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politische Position – im Abgleich mit früheren und anderen politischen Positionen – rechnen.
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Der allgemeine Ausgangspunkt der TSA ist der Arbeitsalltag (1), aus dessen Strom einzelne Arbeitsepisoden (2) heraustreten, insofern sie Rückgriffe und Vorgriffe auf anderweitige Arbeitsepisoden leisten. Diese Verkettungen (3) gilt es zu verfolgen, um komplexere Fertigungen von formativen Objekten analytisch nachzuvollziehen. Die Verwertung und Rezeption dieser Objekte markieren den weiteren systemischen Zusammenhang (4). Insgesamt zielt die TSA damit nicht nur auf politische Verfahren, Debatten oder fachpolitische Wettbewerbe, sondern auf den politischen Diskurszusammenhang insgesamt.
3.1 Vom Alltag zu den Arbeitsepisoden Die politische Praxis erscheint dem Feldforscher zunächst als verkörperte Routine. Die Routinen fußen auf zirkulären Abläufen und Zeitkonzepten: die Legislaturperiode (mit ihren inneren Phasen bis hin zum Wahlkampf); das Haushaltsjahr (mit seinen Fristen und Lesungen); der ewige Wechsel aus Sitzungswoche und sitzungsfreier Woche (mit je eigenen Arbeitswochen: Bürotreffen am Montag, etc.); der Arbeitstag mit einer Reihe von strukturierenden Ritualen (Morgenrunde, Kaffeepausen, Mittagstisch, etc.). Der Alltag ist in vielerlei Hinsicht strukturiert und erhält Kontur. Die MA wissen, wo im üblichen Tagesablauf sie gerade sind. Entsprechend werden Aufgaben durch MA-Äußerungen kontextiert: »Das schaffe ich nicht mehr vor Mittag.« »Erst mal die E-Mails.« »Dann muss ich das wieder mit nach Hause nehmen.« »14.30! Auf einen Kaffee müsste klappen.« »Heute zu uns oder zu euch (nach dem Mittagessen)?« Der Alltag ist voll von solchen Verweisen auf eine Routine. Die MA signalisieren einander eine Alltäglichkeit – und Außeralltäglichkeit. Es gibt dann mehr oder weniger Arbeit »als üblich«. Etwas ist dann »normal«: z.B. die Abarbeitung der E-Mails im Haupt-Account oder die Fertigstellung der Terminmappe für die Sitzungen der MdB. Diese Routinen in der Zeit sind bedingt durch die räumlichen Strukturen der Büros: in der Regel drei aneinander gehängte, untereinander mit
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Zwischentüren verbundene Räume, von denen die MdB nur über »Vorzimmer« vom Flur aus erreichbar sind. In den drei Büroräumen der Bürogemeinschaft sind Konferenztisch, Ablage, Arbeitsplätze, Kaffeeküche etc. angeordnet, die wiederum als Orte für turnusmäßige wie spontane Zusammentreffen wie Geselligkeiten dienen. Insgesamt herrscht Platzmangel. »Einige Geselligkeiten werden auf die sitzungsfreien Wochen verschoben, wenn das Büro der im Wahlkreis aktiven MdB vakant ist. Dann begegnet man sich in deren relativ geräumigen Büro, während sich in den Sitzungswochen alle schnell auf den Füßen stehen oder mit ihren Telefonaten und Tipparbeiten nerven. Zumal, wenn das enge Büro auch noch einen Feldforscher beherbergen soll. Die Zusatzperson, das Gleiche gilt in abgeschwächter Form für Praktikanten, ist irgendwie immer im Weg.« (Feldnotizen)
Ethnografien des Parlaments fokussieren auf zirkuläre, wiederkehrende, routinisierte Aspekte der Parlamentsarbeit. Sie zeigen, mittels welcher Marker (Symbole wie Rituale) die Arbeit hier geordnet und strukturiert ist. Für die Zwecke der TSA ist diese Ebene ein Aspekt, der gesondert Aufmerksamkeit verdient; dies nicht, weil wir sie als »Lebensführung« (Weber 1904) oder »culture as text« (Geertz 1973) analysieren oder das Alltägliche von »liminality« (Turner 1969) unterscheiden, sondern weil sich hier der Sitz fokussierter Arbeitsvollzüge befindet. Die Projektarbeit erfolgt im Strom normaler Erledigungen – und muss gegenüber diesen markiert und separiert werden. Agency erwächst im Parlamentsbetrieb anhand der Fertigkeit, sich aus dem Alltag heraus in politische Prozesse einzuklinken, d.h. beizeiten bzw. rechtzeitig, Beiträge anzufertigen. Als minimale Fertigungsstätte kommt hierbei die Stelle als gebündelte Produktivkraft (inklusive Equipment, Archivzugang, Know-how, etc.) im Bürokontext zum Tragen; von hier aus agiert das Büro in projektbezogenen Bündnissen mit anderen Büros. Insgesamt lassen sich Büros daran unterscheiden, ob sie Kooperationen lostreten und an Kooperationen beteiligt werden. Isolierte Büros beschränken sich – als »Hinterbänkler-Büros« – auf das »Herunterbrechen« anderweitig vorgefertigter Positionen auf ihre Wahlkreisebene. Das praktische Vermögen teilzunehmen erheben wir anhand der Arbeit an politischen Gegenständen. Hier gilt es, sich einer Sache über einen längeren Zeitraum zu widmen. Diese Projektarbeit findet in Arbeitsepi-
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soden statt, die unter einem Stichwort, einem Projektnamen, einer angepeilten Position etc., vorangetrieben und gereiht werden. Die Projekte verbinden und akkumulieren Arbeitsepisoden zum Teil über Monate oder gar Jahre hinweg. Diese Fokussierung fragt nach den adäquaten Hilfsmitteln, passenden Rohstoffen, den übernommenen Zwischenprodukten, sowie nach der Kultivierung von Herangehensweisen. Ausgangspunkt für die Frage der Handlungsfähigkeit sind die Methoden und Mittel der Bearbeitung in den jeweiligen Arbeitsepisoden: Es geht also nicht um Routine, sondern um die Ausrichtung der Arbeit auf die je aktuellen Stände und Anforderungen der Fertigung und Verwertung. Die Arbeiten sind Routine im Sinne einer Konfrontation mit üblichen Anforderungen; gleichzeitig sind diese Arbeiten dringlich, spannend und kontingent. Alles von Relevanz kann »wie üblich« scheitern. Damit wenden wir uns nicht nur den Diskursobjekten in ihrem vorläufigen, prekären Status zu, sondern auch der Diskurspraxis selbst. Nicht der durchaus interessante Zusammenhang von Routinen und deren Einschreibung über längere Zeiträume (etwa in Arbeitshaltungen und Organisationskulturen) ist hier zentral, sondern der handwerklich erforderliche Anlauf, um politische Sprechereignisse und deren Teilnehmer (als Repräsentanten einer Gruppierung) mit Sag- und Vertretbarem auszustatten und diese Ausstattung beständig auf dem Laufenden zu halten. Debatten, Verfahren oder Fachpolitiken lassen sich nur in Grenzfällen ad hoc bespielen. Sie setzen eine belastbare Abstimmung im Kollektiv voraus12 und damit Zeit, Geschick, Organisiertheit – und kollektiven Zusammenhalt.
3.2 Hier/jetzt – Wie weiter damit? Den natürlichen Ausgangspunkt für die TSA liefert die unhintergehbare Situiertheit der Diskurspraxis. Jede Fertigung und Verwertung ist – wie die Ethnomethodologie lehrt – einmalig. Jedes Geschehen ist unwiederholbar. 12 | Die Beispiele für ein Scheitern der repräsentativen Rede ist lang: Sie umfasst alle Diskursereignisse, an die aus den Reihen der repräsentierten Gruppierung selbst kritisch angeschlossen wird. Die behauptete Repräsentation wird dann als voreilig, unzutreffend, etc. zurückgewiesen. Wiederholte Krisen der Repräsentation lassen Probleme in deren Fertigungsweise erahnen: etwa einer unzureichenden internen Abstimmung.
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Dies erklärt die methodischen Rahmungsbemühungen der Teilnehmer (vgl. Goffman 1974), die aktuelle Situation als Fall zu begreifen. Im ersten Schritt zur TSA geht es darum, den Teilnehmenden über die Schulter zu schauen, wie sie derart Bedeutung schaffen. Die Teilnehmenden bedeuten einander, was hier/jetzt Sache und gefordert ist. Sie stehen vor dem Dauererfordernis, die Frage nach dem »wie weiter« praktisch zu beantworten. Sie rechnen dabei nicht nur mit (rituellen, konventionellen) Anforderungen der Interaktion, sondern mit sachlichen Erfordernissen: Wie weiter in der Sache? Diese Dimension eröffnet Teilnehmern wie TSA einen Blick über den Tellerrand der Situation. Die praktische Haltung der so Geforderten impliziert weitere Fragen: des Scheiterns (gelingt uns das?), der Kooperation (mit wem schaffen wir das?) sowie der Kämpfe (lässt sich das gegen XY durchsetzen?). Die MA ringen mit Zeitdruck, beschränktem Wissen und Konkurrenz. »Wie weiter damit« impliziert einen Beginn außerhalb der aktuellen Situation. Es wurde bereits zu einem Grade begonnen, etwas aussortiert, eine Engführung vollzogen. Die Teilnehmenden tasten sich nun weiter vorwärts. Ausschlaggebend für die praktische Einordnung des aktuellen Geschehens als Sachstand sind die hier/jetzt genutzten Einfuhren einerseits und die Ausfuhren für nachfolgende Situationen andererseits. Eine Szene aus dem Abgeordnetenbüro, die Montagsrunde der MA mit ihrer Abgeordneten, mag dies illustrieren: »Nach der Runde zum Stand der Dinge bei jedem Mitarbeiter, ruft die Abgeordnete eine Reihe von eigenen Projekten auf: aktuelle Debatten im Landesverband zur Jagd, eine Anfrage von verschiedenen Landtagsfraktionen zur Europäischen Fischereirichtlinie. Die Runde verteilt, wer welchen Punkt bearbeitet. Ihre MA bringen nun selbst Projekte ein. Willie hält die Idee zum Positionspapier für reif genug, in die Umsetzung zu gehen. Engagiert regt er ein Treffen mit anderen Büros an. Die Chefin gibt grünes Licht: ›Dann mach mal! Aber denk diesmal auch an Juttas Büro.‹ Im Anschluss formuliert Willie eine E-Mail, um zum ersten Treffen einzuladen: einem ›kick off‹ für die abgestimmte Erarbeitung des Papiers.« (Feldnotizen)
Rück- und Vorgriffe entlasten das Geschehen (nicht alles erfolgt hier/jetzt) und befrachten es (es geht um mehr, als nur …). Sie führen Objekte mit, die Spuren erfolgter und Anzeichen für anstehende Bearbeitungen aufweisen. Hier erscheint eine mögliche Vereinbarung und Position auf dem
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Schirm des Büros und wird im Wissen um die vielfältigen Anforderungen in eine Arbeitsteilung überführt. Niemand rechnet angesichts der Ambitionen und Messlatten mit einer schnellen Erledigung. Importe und Exporte erfolgen hier/jetzt dank einer Ausstattung der Situation. Die ethnomethodologischen Studies of Work und Laborstudien haben in dieser Weise vor allem das technische Equipment als Teil einer produktiven Interaktionsordnung ausgeführt. Das Equipment fügt z.B. den Körper des Textarbeiters in eine von Geselligkeiten abgewandte Schreib- und Leseapparatur (Schreibtisch, Bildschirm, griffbereite Materialien, etc.) und richtet ihn/sie ganz – bis auf die akustische Empfänglichkeit – auf die Arbeit an Texten aus. Oder das Büro-Team wird neben der Abgeordneten an einem Tisch versammelt. Die Runde lädt ein zum Austausch von Beiträgen und ermöglicht Mitschriften und Zugriffe auf ausgelegte Materialien. Die Interaktionsordnung ist in dieser Weise praktisch ausgestattet und gerahmt: als Textarbeit, als Teambesprechung, etc. In den situierten Arbeitsepisoden erwachsen keine fixen, sondern bedingte Vergangenheiten und Zukünfte. Sie zeigen sich anhand der spezifischen Rück- und Vorgriffe am Objekt von hier. Etwas entwickelt sich aktuell wunschgemäß, erwartbar oder entgegen aller Voraussicht. Dieses Kalkül antizipiert gleichwohl die angepeilte (Fach-)Öffentlichkeit, die Tragweite des angepeilten Beitrags, oder den erwartbaren »Gegenwind«. All dies weist praktisch in der Situation über sie hinaus.
3.3 Die Verkettung von Episoden über Situationen hinweg Nach diesen Vorbereitungen bedarf es keiner fachlich-methodischen Kniffe, um die Verkettung von Episoden ethnografisch und diskursanalytisch – anhand von weiteren Situationsbeobachtungen und DokumentenReihen-Analysen – zu rekonstruieren. Fachlich-methodische Kniffe sind auch deshalb nicht nötig, weil hier die Teilnehmer selbst Zuarbeit leisten. Die Verkettung ist ein praktisches Problem der Teilnehmer und wird von diesen methodisch bearbeitet. Hier eine Reihe von Techniken, die eine Verkettung »for all practical purposes« im Kollektiv beobachtbar machen: Explikationen letzter Stände, Titel für Vorgänge, Sitzungsprotokolle, Versionen-Nummern auf Texten, Kommentierungen mit Datum und Absender, Stellungnahmen, Vermessung noch ausstehender Überarbeitungen, etc. Die Arbeit ist voll von solchen Accounts zum Stand der Dinge. Sie orientiert die Assoziation und die TSA gleichermaßen.
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Von einer Arbeitsepisode zur nächsten leisten die Teilnehmer als solche beobachtbare Anknüpfungen, mit denen sie Begonnenes fortführen. Diese Anknüpfungen entsprechen zuweilen einer bloßen Erinnerungsleistung (»Was hatten wir da nochmal gesagt?«), wenn Gespräche und Diskussionen fortgeführt werden. Dann überbrückt die Anknüpfung längere Pausen, um im gleichen Modus fortzufahren. In der Fertigung wird durchaus auf diese Erinnerungsarbeit vertraut; allerdings nicht ausschließlich. Die Verkettung von Situationen erfolgt außerdem mittels Medienwechsel: von den flüchtigen Worten zur Inskription. Das Gesprochene wird notiert bis protokolliert, um auf diese Weise Verläufe und Resultate zu sichern. Die Festschreibungen werden mit einem Schlagwort versehen, um auf diese Weise aus dem Strom der Themen, eine Projekt-Zuordnung zu sichern. Aber auch diese Art des Medienwechsels – von Wort zu Schrift – ist für unseren Fall komplexer Fertigungen noch nicht genug: die Verkettung von Episoden über Situationen hinweg erfolgt am Objekt in der Fertigung. Es ist das formative Objekt, das sowohl sozial (geteilter Fokus), wie räumlich (über Büros hinweg), als auch zeitlich (über mehrere Monate) eine Verkettung von Episoden ermöglicht. Neben der Erinnerungsarbeit, dem Festschreiben und der Sammlung von festgeschriebenen Beschlüssen u.ä., ist es also das Objekt in Fertigung, das zur Verkettung führt. Das formative Objekt fordert Anschlussinvestitionen, richtet Anschlusshandlungen, und bindet dieselben. Mit diesen (einfachen bis komplexen) Verkettungen fokussieren wir nicht mehr den situierten Import- und Exportbetrieb von einer fokalen Situation aus, sondern die Fort- und Weiterführungen über Situationen hinweg. Der zweite Analyseschritt hatte uns hierfür hilfreiche Elemente an die Hand gegeben, ohne allerdings zu überblicken, wie eine Verkettung und mit dieser das Objekt erwächst. Ein Blick auf die Arbeitssituationen verrät verschiedene interne Medien-Übersetzungen. Mal wird eine Reihe situierter Züge am Objekt festgemacht (1), mal wird das vorgeformte Objekt aufgenommen und für eine Nachfolgeepisode ausgestattet (2); mal vollführen die politischen Arbeiten nacheinander mehrere Qualifizierungen in einer Situation (3). Diese Weisen der Arbeit am Objekt lassen sich wie folgt in eine formale Sprache übersetzen: (1) turn/turn/turn > O1; (2) O1/turn/turn/turn > O2/turn/turn; (3) turn/ 2 O /turn > O3/turn > O4.
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Wichtig für die TSA ist diese Schrittfolge (1–3) im Querschnitt. Von der ersten bis zur dritten Arbeitsepisode findet eine Aufschichtung statt, die alle großen und kleinen »Manipulationen« im Objekt (> O4) bindet. Auf diese Weise erwächst sukzessive ein komplexes, integriertes Objekt, das nicht mehr erkennen lässt, wann genau welche Arbeiten erfolgten. Das Objekt wird zur »Blackbox« in gleich mehreren Hinsichten: a) Die Logik eines kohärenten, sinnvollen Textes tritt an die Stelle der Trans-Sequentialität der Fertigung – so als sei der Text auf einmal erwachsen. b) Das Objekt erwächst zum kollektiven Gut, das nicht mehr preisgibt, wer hier was genau fabriziert hat – so als spreche das Kollektiv mit einer Stimme. c) Das Resultat homogenisiert die Unterstützung, die hier eingegangen ist – so als gebe es einen durchgehenden Grad der Unterstützung. Dies heißt nicht, dass nicht nachträgliche Versuche möglich sind, Einzelposten aus der Totalität herauszutrennen: Das Handlungsprogramm zur dörflichen Entwicklung ist voll von solchen selektiven Einflussnahmen. Die Gewerbesteuer, die Hofabgabeklausel, die Tourismusförderung – einzelne Punkte mögen zum nachträglichen Stein des Anstoßes werden. Strukturale Punkte (die regionalen Wirtschaftskreisläufe, die Gemeindefinanzen etc.) lassen sich dagegen nur mit weitereichenden Eingriffen in den Text verändern. Text wie Kollektiv zeigen hier eine gewisse Beharrlichkeit, einen einmal erreichten Status Quo nicht wieder aufzuschnüren. Das Paket hat eine eigene, relative Beharrung, gleich einer geschlossenen Gestalt nach erfolgter Gestaltschließung. Je hermetischer das Objekt im Zuge seiner Karriere und in der Kette der investierenden Situationen wird, umso länger erscheinen wiederum die Vor- und Anläufe, die zu seiner Abänderungen nötig sind. In dieser Weise lassen sich Unterprojekte ausmachen, die einzelne Punkte einer Position zum Ausgangspunkt einer weiteren Fertigung nehmen. Diese zielt wiederum darauf, eine bereits abgeschlossene Fertigung wieder zu öffnen oder zu korrigieren. An diesem Punkt zeigt sich das Potential der TSA: Sie erzeugt nur auf den ersten Blick eine lineare Steigerung. Auf den zweiten Blick geraten mehrstufige Qualifizierungsschwellen, Verfestigungen und Verästelungen ins Visier: all die Anläufe, die an bestimmten Punkten der Objekt-Karriere nötig werden, um diese überhaupt noch tangieren zu kön-
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nen. Die Verfestigung des Objekts als Medium der kollektiven politischen Arbeit zeitigt normative Wirkungen, die selbst auf die Anerkennung geleisteter Abstimmung verweisen. Für diese Verästelungen des Zugangs zur Fertigung fungieren nun eine Reihe provisorischer Materialien, die einzig den Zweck haben, Brücken zum formativen Objekt zu schlagen. So verlangt der Büroleiter Willie vom ausgewählten Kreis der zu Beteiligenden ein spezifisches Überarbeitungsformat. Die Kritiken sollen punktuell bleiben. Änderungen sollen dann an konkreten Textstellen, mit Alternativformulierung und des Weiteren auch nur als Vorschlag angebracht werden. Diese Regulierung des Zugangs zur Fertigung hat neben der Sicherung der Leitautorschaft bzw. von Einfluss eine wichtige praktische Funktion: Es wird so die Synchronizität interner Rezeptionen (als positive und negative Kritiken) auf die diachrone Überarbeitung abgestellt. Die anstehende Aufgabe der Einarbeitung wird, mit all ihren Schwierigkeiten passende Formulierungen zu finden, an die Kritiker delegiert. Nur per Selbstdisziplinierung erscheint dann die Kritik nicht mehr als Boykott der Fertigung bis hierher, sondern als konstruktive Beteiligung. Das formative Objekt, ist es einmal als lohnendes Projekt des Kollektivs etabliert, vermag die Art und Weise seiner Ausformung zu rhythmisieren und zu formatieren. Die Co-Autoren werden diszipliniert und zur spezifischen, arbeitsteiligen Zuarbeit verpflichtet. Mit jeder Status-Beförderung intensivieren sich dabei Bindung und Manövrierfähigkeit. Dies ist allerdings der Effekt nicht aller Modi der Verkettung. Die sukzessive kollektive Abstimmung vermag derlei zu erwirken; zentralisierte Fertigungen verschieben und akkumulieren dagegen die Abstimmungsbedarfe bis zum Schluss. Das Kollektiv wird dann im Fertigungsprozess zum Publikum, das den Output einer Fertigung nur noch annehmen oder abnehmen, nur noch generell und umfassend bewerten, nur noch gleichzeitig in allen Aspekten kritisieren kann.13 In diesem Fall erfolgt die Verkettung von Situationen parallel, separat, und mit starkem Ereignischarakter. Die Abstim13 | Der Fraktionsmitarbeiter bittet am Ende seiner Programmpräsentation zur Verkehrspolitik, Änderungswünsche bitte per E-Mail an sein Büro zu richten. Die MA hatte sich die Mühe gemacht, alle Hinweise auf dem Papier zu notieren. Nun macht sie sich daran, die über 40 Änderungswünsche des Büros aufzulisten. Sie berichtet mir von ähnlichen Aktivitäten der anderen Büros im Arbeitskreis: »Unmöglich, das alles einzuarbeiten!«
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mung wird, wo sie im Papier zur dörflichen Entwicklung noch prozessual erfolgte, im konträren Fall zum Showdown einer entscheidenden Sitzung. Die Analyse der Verkettung rekonstruiert damit nicht nur den Modus der Anschlüsse von Arbeitsepisoden über Situationen hinweg, sondern auch die soziale Dimension der Verkettung als mehr oder weniger zentrierte oder dezentrierte, inklusive oder exklusive, autoritäre oder partizipative Produktionsweise.
3.4 Zum generalisierten Medium einer legitimen Rezeption Als letzten Schritt in der TSA nehmen wir weniger die Bindekräfte in den Blick, als vielmehr die angepeilte Rezeption. Die Fertigung antizipiert eine Verwertung. Diese Antizipation, so das zentrale Argument, ist dabei nicht nur singulär und punktuell, sondern muss immer auch eine generelle politische Dimension kalkulieren. Das formative Objekt gewinnt, im Moment der – eigenen oder fremden – öffentlichen Verwertung, eine generelle mediale Qualität. Es wird verfügbar für verschiedenste, im Moment der Fertigung noch gar nicht komplett absehbare Diskurse. Kurz: Es wird notwendig zur politischen Position, bzw. als solche genommen und kritisiert. Um die Tragweite und Qualität dieses generalisierten Mediums zu vermessen, verfolgen wir entlang der Verkettung von Situationen das schließlich offerierte, operative Medium zur Ausformung. Gemäß Heider (2005) vollziehen sich im Wechsel von Medium und Form jeweils Engführungen vormals noch locker verknüpfter Elemente.14 Analog durchläuft das formative Objekt im Zuge seiner Fertigung einen Prozess der Vereindeutigung und Engführung zur Position. Von einer entschiedenen, abgestimmten Position ist das – noch relativ überschaubare – Kollektiv der Fertigung anfangs derselben weit entfernt. Die anfänglichen Suchbewegungen weichen bei erfolgreicher Fertigung einer wachsenden Bestimmtheit, bis hin zur entschiedenen und bin14 | Luhmann (1997) adaptiert die Medium-Form-Unterscheidung für die Sprache. Sprache bietet als Medium eine unendliche Zahl von Begriffen und ihren Kombinationen an, die im Gebrauch in eine definitive Form (etwa Sätze oder Erzählungen) gebracht werden. Luhmann hat derart Heiders Medientheorie vom Fokus auf die Kognition (wie ein Gegenstand die Gestalt eines Phänomens übermittelt) auf die Frage der (erst wahrscheinlich gemachten) Kommunikation umgestellt.
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denden Forderung. Diese Bestimmung ist dabei wesentliche Aufgabe der Fertigung: Einfälle in Feststellungen zu gießen. Das Papier kann – nach diversen Anstrengungen, Abstimmungen und Prüfungen – schließlich nur noch »als Ganzes« angenommen oder abgelehnt werden. Die in der Fertigung immer auch zu realisierende Form ist die einer Position als das »generalisierte Kommunikationsmedium« (Luhmann 1997: 339f.) für den Kommunikationszusammenhang der Politik. Dabei stellt das Papier zur dörflichen Entwicklung zunächst nur auf bestimmte Verwertungen ab: als Handreichung, Auslage auf Büchertischen, Kampagnenmaterial, Orientierungshilfe für Landtagsfraktionen, etc. Der Positionscharakter des Papiers generalisiert Rezeption und Rezipienten-Design: »In der Frage von dörflicher Entwicklung fordert die Fraktion XY, dass…« Die Position kann in dreifacher Hinsicht genommen werden bzw. fungiert als dreigliedriges Zeichen15 . Dieses Zeichen integriert »matter of concern/ Sachverhalt«, »measures/Maßnahmen« und »stance/Haltung«: a) Die Formulierung des Sachverhalts verrät ein Problembewusstsein, mithin eine Haltung. Der Sachverhalt muss außerdem so formuliert sein, dass er die angepeilten Maßnahmen erlaubt und als adäquat erscheinen lässt. b) Die Maßnahmen wiederum aktualisieren die Haltung, d.h. eine strukturelle Präferenz für bestimmte Problem-Lösungs-Skripte gegenüber anderen. c) Die Haltung wiederum muss so formuliert sein, dass sie passable Lösungen bei solchen Sachverhalten offeriert. Es soll hier eines aus dem anderen folgen. In Debatten vermögen Kritiken jede einzelne Komponente zu attackieren: a) als unzutreffende Problematisierung (übertrieben, ohne Fakten, etc.), b) als sachlich unangemessene Maßnahme (contra-produktiv, unwirksam, etc.) c) oder als ideologisch verfehlt (je nachdem neoliberal, sozialistisch, etc.).
15 | Luhmann (1987: 197 ff.) hat die Kommunikation als Trias aus Information, Mitteilung und Verstehen konzipiert. Kommunikation ist demnach »das Prozessieren von Selektion« (ebd.) in diesen drei Hinsichten.
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Der Positionscharakter der Texte eröffnet eine Reihe von Möglichkeiten politischer Rezeption und Kommunikation. Die MA sondieren fortwährend den politischen Markt, um in dieser Weise andere Positionen im Lichte der eigenen Position zu kritisieren oder die Kritiken anderer zurückzuweisen. Die dörfliche Entwicklung wird in dieser Weise in Fachöffentlichkeiten ebenso aufgeworfen, wie in Arenen des politischen Wettbewerbs. Sie gewinnt europäische Dimension, findet Verwendung in Wahlkämpfen und wird fachpolitisch begutachtet. Als Position gewinnt der Text bindende Wirkung über die Verwertungskontexte hinaus. Die TSA hat sich mit der Medien- und Rezeptionsanalyse weitgehend vom Einstiegspunkt, dem beobachteten Geschehen, entfernt. Gleichzeitig moderiert dieses Abheben auch einen Wiedereinstieg. Erst hier, am Ende der trans-sequentiellen Analyse, zeichnet sich die politische Dimension lokaler Fertigung ab. Erst hier zeigen sich die weitreichenden Ansprüche, die die Fertigung als politische Arbeit markieren. Die Fertigung erweist sich nun als komplexe Adressierung, die bei aller Spezifik in der Nachfrage, immer auch die Mechanismen des politischen Wettbewerbs realisiert. Die ethnografisch erfasste Betriebsamkeit wäre damit nicht mehr nur situiert, sondern auch systemisch gerahmt: als Mikrofundierung und Fortführung der andauernden politischen Diskurse.
3.5 Hypothesen generieren : zu den praktischen Anforderungen der Politik Mit der Fertigung gewinnt der parlamentarische Alltag an Höhen und Tiefen. Es handelt sich nicht mehr um ein tagtägliches Einerlei, sondern um eine von politischen Prozessen durchquerte, spannende Praxis. Diese praxeologische Perspektivierung macht die TSA zum Instrument der Hypothesengenerierung. Zentral wird dabei die Frage nach den praktischen Anforderungen des politischen Wettbewerbs: Was erfordert die Teilnahme am politischen Diskurs? Welchen Betrieb braucht es dazu? Und welche Folgen haben die verschiedenen Varianten, diesen im Hinblick auf die Fertigung zu organisieren? Offenbar sind einige Gruppierungen regelmäßig in der Lage, in ihrem Namen Beiträge zu platzieren. Sie sind offenbar fähig, Positionen gegen andere ins Feld zu führen. Aber es finden sich auch Beispiele, in denen diese Fähigkeit leidet oder in die Krise gerät. Sei es im Hinblick auf bestimmte Politikfelder, im Hinblick auf einzelne Positionen oder im Hinblick auf ak-
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tuelle Debatten oder Verfahren. Versuche sich der Nachfrage nach Positionen systematisch zu entziehen, erscheinen auf Dauer nachteilig16. Welche Normalanforderungen zeigen sich und wie befördern diese wiederum Kritik wie Produktivität? a) Für Alles Sachpositionen formulieren zu müssen, treibt die Gruppierung in Vorleistung. Es muss fachlich durchgehend ein Maß an Problemwissen, an Lösungskompetenz und an ideologischer Konsistenz behauptet werden. b) Die Anforderung an Vorleistungen spitzt sich zu, wo Debatten, Verfahren und Paradigmen in kürzeren Rhythmen auftreten. Die PositionenNachfrage angesichts dynamischer Problemlagen lässt Gruppierungen zu abgekürzter Fertigung greifen. c) Die Eigenzeiten von Fertigung einerseits und politischen Diskursen andererseits divergieren. Der relativ lange Vorlauf lässt sich für Verfahren und Policy kalkulieren; die eher eruptiven Debatten motivieren dagegen zur Personifizierung. d) Die Abhängigkeit von externer Zuarbeit wächst in dem Maße, in dem Politikfelder nicht mehr in der geforderten Zeit überblickt, auf den Begriff gebracht, mit originären Maßnahmen belegt und ideologisiert werden können. Diese Hypothesen implizieren den politischen Betrieb als fortwährendes Ringen um festen Grund, der immer schon behauptet wird: »Wir fordern!« »Wir wollen endlich!« »Geschlossen kämpfen wir für…!« Der feste Grund betrifft dabei nicht nur Einigkeit, sondern auch Wissen und Überzeugung oder Glaube. Es liegt nahe, dass in Zeiten hoher Nachfrage nach unterscheidbaren Positionen, die Politik in Vorleistung tritt. Die politische Repräsentation von Positionen muss dann vorgreifen, Unterstützung behaupten, Einigkeit vorschützen, etc. Entsprechend getrieben und oberflächlich gebiert sich der Fertigungsbetrieb.
16 | Hier denke ich an die jüngste Geschichte der PIRATEN-Partei, die sich lange dem Anspruch nach einer flächendeckenden Programmatik zu entziehen suchte. Üblich geworden ist da die journalistische Häme an der »Partei ohne Inhalte« (STERN vom 25.11.2012) oder Aufrufe, wie dieser: »PIRATEN, entscheidet euch!« (TAZ vom 26.10.2012).
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4. A USBLICK : V OM B E TRIEB
ZUR
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UND ZURÜCK
Auch dieser Aufsatz durchlief eine trans-sequentielle Fertigung. Auch er durchlief Versionen, bindet Investitionen und erlaubt qua Medieneigenschaften ein Maß an Vielschichtigkeit. Auch dieser Text wird dabei nicht nur »für sich« gelesen, sondern nach allgemeinen Standards vermessen und kritisierbar. Auch an ihm ließe sich also eine TSA exerzieren. Verfolgten wir diese Spur, so würde deutlich, dass dieser Fachaufsatz im Vergleich zur Position überschaubar und linear ist. Er ist vergleichsweise beziehungsarm, kommt ohne weitreichende Abstimmungen aus und repräsentiert keine adressierbare Gruppierung. Demgegenüber ist die angeführte Position – oder Sammlung von Positionen – voller Bindungen, Spannung und Untiefen. Kurz: Sie ist eine Schlangengrube verglichen mit meinem Essay. Die Affinitäten der TSA zu Politik wie Wissenschaft, aber auch zu Recht und Verwaltung beruhen zunächst auf dem Textbias dieser Praxisfelder. Es erscheint entsprechend naheliegend, diese Felder mit Mitteln der Ethnografie und Diskursanalyse zu bearbeiten. Die TSA beforscht entsprechend Diskurspraktiken und deren Niederschlag. Es macht Sinn, sich diese methodische Sensitivität genauer zu vergegenwärtigen. Sie nutzt: a) die praktische Orientierung der MA im verwickelten Prozedere der Fertigung und Verwertung von Positionen; b) das Insiderwissen der MA als Guides, die den Feldforscher zu den verschiedenen Anschlussepisoden führen; c) die Bereitstellung der Zwischenprodukte und Materialien zum Nachvollzug ihrer sukzessiven Bearbeitungen; d) die Hinweise auf weitere diskursive Spuren, die den MA wie dem Diskursanalytiker die Rekonstruktion der Verwertungen und Rezeptionen erlauben. Die TSA nutzt die Verfügbarkeiten der formativen Objekte im Werden sowie die multiplen Anknüpfungen an diese als Diskursbeiträge. Sie nutzt außerdem die Analysen der Teilnehmer, die selbst die Bedarfe nach dem Objekt und seine Karriere im Blick haben. Die TSA nutzt außerdem die ausgeprägte Sensibilität der Praktiker/innen für Fragen der Vorläufigkeit und Dringlichkeit. Das formative Objekt ist hier/jetzt zugleich manifest und voller Potential, vorgeformt und auszuformen. Alles von Relevanz hängt am entwickelten und gepflegten Objekt. Die TSA macht damit die
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praktische Orientierung der Macherinnen und Macher zur wesentlichen Grundlage, ohne dabei ihre situierte Getriebenheit und Beschränktheit zu unterschlagen. Die TSA offeriert der politischen Anthropologie eine Methode, die die praktische Orientierung der Teilnehmenden und zugleich die vielschichtigen Bedingungen der Teilnahme ernst nimmt. Beide Aspekte fallen zentral in den lokal wie kollektiv bearbeiteten Gegenständen, den formativen Objekten, zusammen. Diese Objekte sind konkreter Arbeitsgegenstand einerseits – und vermitteln die generellen Einsätze und Bezüge des formierten politischen Wettbewerbs andererseits. Ohne diese Objekte hingen Praxis wie TSA, die politische Konkurrenz wie deren systematische Beobachtung in der Luft.
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Troubling policies Gender- und queertheoretische Interventionen in die Anthropology of Policy Beate Binder
Mit ihren Vorschlägen für eine Sozialanthropologie politischer Prozesse (Anthropology of Policy) haben Cris Shore und Susan Wright, zuletzt zusammen mit Davide Però, wichtige Impulse geliefert für komplexe ethnografische Analysen der Ausgestaltung und Entwicklung von Politikfeldern (Shore/Wright 1997, Shore et al. 2011). Shore und Wright verstehen Politiken dabei als zentrales organisierendes Prinzip gegenwärtiger Gesellschaften, »around which people live their lives and structure their realities« (ebd.: 2). Da, wie sie argumentieren, Politiken1 soziale Welten sowohl herstellen als auch reflektieren (Shore/Wright 2011a: 1), bietet deren Untersuchung »windows onto political processes in which actors, agents, concepts and technologies interact in different sites, creating or consolidating new rationalities of governance and regimes of knowledge and power« (Shore, 2011: 2). In expliziter Kritik bisheriger Policy-Analysen, die aus einer TopDown-Perspektive politische Programme und deren Implementierung vor allem als gouvernementale Werkzeuge des Regierens begreifen (Shore/ Wright 1997: 15, Shore/Wright 2011a: 4ff.), betonen sie die unvorhersehbaren Dynamiken und das Unintendierte politisch induzierter Prozesse und verweisen auf die vielfältigen Aneignungsformen und Effekte, die dort entstehen, wo Politik in diversen gesellschaftlichen Feldern in alltägliche Prak1 | Der Begriff policy entzieht sich der einfachen Übersetzung ins Deutsche. Ich verstehe ihn im Sinne politischer Programme und Handlungsanweisungen, die über die Politik im engeren Sinn der staatlichen Legislative und Exekutive hinausweisen.
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tiken überführt wird (Shore/Wright 2011a: 20). Es sei grundsätzlich nicht berechenbar, welche Entwicklungen politische Implementierungsprozesse nehmen und welche nicht geplanten Effekte Politiken dann zeitigen, wenn sie mit ihren mitgeführten Rationalitäten, moralischen Imperativen und Normen auf diverse alltägliche Sinnstiftungen und Handlungsroutinen stoßen.2 Obzwar Politiken auf den Weg gebracht werden, um Einfluss auf Individuen und soziale Gruppen zu nehmen und diesen neue Interaktionsweisen und Handlungslogiken nahezulegen, sind sie gleichzeitig auf aktive Aneignung angewiesen: Denn durch Politiken regieren heißt »to act on and through individuals [Herv. i.O.]« (Shore/Wright 1997: 6). Damit entziehen sich Politiken einer isolierten Betrachtung im Rahmen eindimensionaler Ursache-Wirkungs-Modelle. Demgegenüber, so Shore und Wright in den programmatischen Einleitungen der beiden Sammelbände, ermöglichen gerade die epistemologischen wie empirischen Werkzeuge sozial- beziehungsweise kulturanthropologischer Forschung die durch Politiken entstehenden sozialen Räume, Interaktionen und Subjektivitäten in ihren komplexen Wirkmechanismen zu durchdringen. Sie schlagen daher vor, Politiken gleichermaßen als kulturelle Texte, als Handreichungen zur Klassifizierung des Sozialen und als spezifische, normativ aufgeladene Erzählungen zu interpretieren, die zur Einordnung und Sinnstiftung bzw. zur Verschiebung und Erneuerung aktueller gesellschaftlicher Ordnungen anleiten und damit Handlungsräume gleichermaßen eröffnen wie strukturierend begrenzen (ebd.: 7). Vor dem Hintergrund dieser Beschreibung können Politiken auch als Assemblagen verstanden werden: als meist verschiedenen Logiken folgende dynamische soziale Räume, in denen unterschiedlich positionierte Akteur_innen, Interessen, Materialitäten und Regulierungen zusammentreffen und in nicht vorhersehbarer 2 | Ohne das Verhältnis von Politik und Moral weiterzuverfolgen, möchte ich zumindest die Hinweise von Shore und Wright vorstellen: Sie weisen darauf hin, dass Moral – und damit normative Rahmenordnungen – und Politik dicht verbunden sind, sich allerdings darin unterscheiden, dass Moral als überindividueller Bereich von Ideen und Übereinkünften zu verstehen ist, die in individuellen Vorstellungen und Praktiken verankert sind, Politiken demgegenüber eher als pragmatisch und zielorientiert anzusehen sind, die durch objektivierende und naturalisierende Praktiken realisiert werden, die auch dazu dienen, Entscheidungsträger_innen von individueller Verantwortung zu entlasten (Shore/Wright 1997, 10f.).
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Weise zusammenwirken (vgl. Ong/Collier 2005). Aus dieser Perspektive werden Politiken nicht als isolierte Elemente angesehen; vielmehr werden sie als eingebettet in – durchaus auch widersprüchliche – Vorstellungen und Praktiken, Lebensweisen und Institutionen verstanden, die die soziale Welt strukturieren. Zugleich sind Politiken fortwährend Gegenstand kritischer Reflexion, durch die sie befragt, transformiert und umgebaut werden (Collier/Ong 2005: 7). Werden Politiken als Assemblagen im Sinne von Deleuze und Guattari interpretiert, die diesen Begriff als erste diskutiert haben (vgl. Phillips 2006), so scheint es nicht länger möglich, politische Intentionen von ihren praktischen wie institutionellen Interpretationen zu trennen. Politiken stellen somit Ereignisse dar, die stets im Werden begriffen, also unvollendet sind. Zu ihrer zusammengesetzten Einheit gehören dabei auch die Versuche, das, was (die jeweilige) Politik ausmacht, in Begriffen zu fassen und zu fixieren (ebd.: 109). Das bedeutet, dass Politiken untrennbar mit reflexiven Prozessen verwoben sind, in denen Probleme unter Zuhilfenahme unterschiedlicher Wissensbestände beschrieben, dabei Wahrnehmungsweisen der Wirklichkeit produziert und diese mit logisch erscheinenden Lösungen verbunden werden. Für die kulturanthropologische Untersuchung politischer Prozesse eröffnet das Konzept der Assemblage verschiedene Ansatzpunkte: So kann etwa danach gefragt werden, was zu einem spezifischen Zeitpunkt, unter spezifischen Bedingungen und an einem spezifischen Ort zum Problem (gemacht) wird; es kommt auch in den Blick, wie unterschiedliche Akteur_ innen sie reflektieren, in sinnstiftende Rahmen einfügen und in Praktiken übersetzen; und schließlich kann das Zusammentreffen unterschiedlicher Logiken aufgezeigt werden, indem Legitimierungen, Deutungen und Aneignungsweisen unterschiedlicher Akteur_innen und Akteursgruppen in konkreten Situationen und wechselnden Konstellationen in den Blick genommen werden. Mit ihren theoretischen wie forschungspraktischen Ausführungen fügen sich die von Shore und Wright präsentierten Vorschläge einer Anthropology of Policy zusammen mit deren Perspektivierung als Assemblage in Paul Rabinows Überlegungen zur »Analyse des Zeitgenössischen« (Rabinow 2004b). Während die Untersuchung politischer Programme und Prozesse auf die Herstellung und Verschiebung sozialer Ordnungen und damit auf die Durchsetzung und Implementierung normativer und moralischer Vorstellungen zielt, stehen bei Rabinow naturalisierte Normalitäten im umfassenderen Sinn im Fokus. Er sieht eine der Aufgaben
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gegenwärtiger Kulturanalyse darin, die jeweiligen, in lokalen, sozialen und historischen Kontexten herrschenden Rationalitäten und Selbstverständlichkeiten zu entschlüsseln. Ein Ziel der Kulturanthropologie sei es, das herauszuarbeiten, was zu einem spezifischen Zeitpunkt in einem lokalen Kontext als »vernünftig« erscheint, um daran anschließend die Problematisierungen und kontingenten Bewegungen beschreiben zu können, durch die Neues Gestalt gewinnt oder zu gewinnen versucht. Damit könnten Politiken und die durch politische Prozesse ausgelösten Dynamiken einen möglicherweise privilegierten Einstieg bieten für eine »Anthropologie der Vernunft«. Denn wenn, wie Shore und Wright vorschlagen, das Regieren durch Politiken darauf basiert, Interaktionsweisen und Handlungslogiken zu verschieben oder zu stabilisieren, geschieht dies – zumindest in demokratisch legitimierten Systemen –, indem Plausibilitäten hergestellt und somit zumindest der Schein des Vernünftigen erzeugt wird. Dabei ist zu bedenken, dass Politiken immer – das unterscheidet sie grundsätzlich von Alltagsrationalitäten – umkämpft sind, bewusster und direkter in Praxisfelder eingreifen wollen und insofern auch spezifische Akteursgruppen konstituieren, einbeziehen beziehungsweise ausschließen. Dennoch stellen Politiken eben auch zentrale Knotenpunkte für die Herausbildung neuer beziehungsweise die Stabilisierung bestehender Routinen, Rationalitäten und damit verknüpfter moralischer Ordnungen dar. Eine Verbindungsstelle bildet dabei der Begriff der Problematisierung, der, von Foucault entlehnt, in beiden Vorschlägen eine zentrale Rolle spielt: Politiken setzen ebenso wie (natur-)wissenschaftliche Denkbewegungen, die Rabinow in erster Linie in den Blick nimmt, dort an, wo etwas »zum Problem« werden konnte. Problematisieren bedeutet, dass etwas dem Status des Selbstverständlichen enthoben wird, zum Gegenstand des Nachdenkens sowie zur Herausforderung für Handeln wird und dass in der Folge auch Vorstellungen von »richtig« und »falsch« in Bewegung geraten (Rabinow 2005: 43, Rabinow 2004b: 56f.). In der Herstellung von Problemen beziehungsweise dem Problematisieren sind somit dieselben Mechanismen am Werk, durch die auch Politiken Plausibilität und Legitimität zu erhalten vermögen und/ oder zu erhalten versuchen. Neben den Analogiebildungen und der Formulierung von Anschlussstellen können die Überlegungen von Rabinow jedoch auch dazu genutzt werden, das Konzept von Shore und Wright kritisch zu befragen. In meinen Augen ist diese »Gegenlektüre« vor allem deshalb sinnvoll, weil sie auf eine Leerstelle in der von ihnen formulierten Anthropology of Policy
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aufmerksam macht, die ich im Folgenden zum Gegenstand meiner Überlegungen machen möchte. Indem eine »Anthropologie der Vernunft« die »Regime des Lebens« im umfassenden Sinn in den Blick nimmt (vgl. Collier/Lakoff 2005) und die Freilegung alltäglicher Selbstverständlichkeiten und normativer Ordnungen zum Ziel hat, unternimmt sie die Rekonstruktion dessen, was Situationen, Praktiken, Subjekte natürlich, plausibel, selbstverständlich und/oder »normal«3 erscheinen lässt. Das, was uns normal erscheint, ist jedoch eben das, was nicht hinterfragbar scheint beziehungsweise was nicht hinterfragt werden muss, weil es »einfach so ist« und/oder »schon immer so war«. Bei diesen Selbstverständlichkeiten ist bereits unsichtbar geworden, dass es sich um sozial und kulturell produzierte Übereinkünfte handelt. Insbesondere die Rede von wahr/falsch beziehungsweise natürlich/unnatürlich vermag es, diesen sozialen Konstruktionscharakter zu verschleiern. Vor diesem Hintergrund fällt auf, dass Shore und Wright kaum reflektieren, dass und wie das in Politiken aktivierte Wissen selbst durch Vorstellungen des Normalen und durch nicht hinterfragbare Selbstverständlichkeiten strukturiert wird. Und vor allem wird deutlich, dass Geschlecht und Sexualität als zentrale Herrschaftsund Subjektivierungsinstrumente in ihrer Wirkung auf politische Prozesse kaum thematisiert werden. An diesem Punkt möchte ich ansetzen und geschlechter- und queertheoretisch4 informierte Erweiterungen des Konzepts der Anthropology of Policy vorschlagen. Dafür werde ich auf die Wechselwirkungen zwischen Politiken, Geschlecht und Sexualität eingehen – nicht nur in dem Sinn, dass Geschlecht und Sexualität selbst Ausgangs- wie Zielpunkte für politische Interventionen sind, prominent etwa in Gleichstellungs- und Antidiskriminierungspolitiken. Darüber hinaus ist jedoch auch das in und durch Politiken mobilisierte Wissen immer auch durch Geschlecht und Sexualität strukturiert. Ich werde mein Argument entwickeln, indem ich die Überlegungen von Shore und Wright durch feministische und queere Epistemologien und Methodologien hindurch lese. Dies soll in zwei Schritten und aus unterschiedlichen Perspektiven geschehen: Zunächst werde ich genauer darauf eingehen, was es bedeutet, 3 | Zum Begriff des Normalen bzw. der Normalisierung vgl. Foucault (1991: 237ff.) sowie Lorey (2007) zur Unterscheidung von Norm und Normalisierung. 4 | Ich folge Eveline Kilian (2011) und verstehe die Felder der Gender und Queer Studies als unterschieden, aber verbunden: Sie bearbeiten ein gemeinsames Feld, aber aus je spezifischen, forschungsleitenden Blickwinkeln.
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Geschlecht und Sexualität als Kategorien des Wissens in eine Anthropology of Policy zu integrieren. Ich unterbreite also zunächst Vorschläge dazu, wie Geschlecht und Sexualität als Analyseperspektiven in diesem Feld produktiv gemacht werden könnten. Danach gehe ich auf die für die Gender und Queer Studies fundamentale Bewegung der Kritik als epistemologische Strategie für eine Anthropology of Policy ein, wobei ich aus geschlechtersensibler und heteronormativitätskritischer Perspektive einige erste tentative Hinweise unterbreite, welche forschungspraktischen Konsequenzen diese Form der Reflexivierung politischer Prozesse hat.
1. Geschlecht und Sexualität als Analyse perspektiven in der Anthropolog y of Policy Gleich zu Beginn meiner Erkundungen muss ich meine Behauptung einer Leerstelle jedoch zumindest teilweise zurücknehmen: Geschlecht ist als Analysekategorie in den beiden von Shore und Wright herausgegebenen Sammelbänden keinesfalls gänzlich abwesend. Ich möchte die Aussage daher dahingehend präzisieren, dass auch dort, wo Geschlecht perspektiviert wird, die Argumentation auf der naturalisierten Vorstellung einer binären Geschlechterordnung aufruht. Genau hierauf könnte aber eine gender- und queertheoretisch informierte Anthropology of Policy einen Fokus legen, wie ich im Folgenden genauer zeigen möchte. Die in den beiden Bänden enthaltenen geschlechtersensiblen Untersuchungen befassen sich damit, wie in Gesundheits-, Bildungs- und Sozialpolitiken Geschlecht involviert ist und wie durch Politiken beziehungsweise politische Programme Geschlechterverhältnisse mobilisiert und/oder stabilisiert werden.5 So zeigt zum Beispiel Annika Rabo, wie die in Schweden zu einem der nicht hinterfragbaren Prinzipien staatlicher Politiken erhobene Gleichheit der Geschlechter (sexual equality) in Programme für Schulen und andere Bildungsinstitutionen hineinwirkt (Rabo 1997). Eine Genderanalyse, so das Fazit von Rabo, legt die Paradoxien sozialer Regulierungsanstrengungen offen, »in which policies of sexual equality become instruments of cooptation or even repression« (Rabo 1997: 131). Zwar 5 | Neben den beiden im Folgenden näher besprochenen Studien haben auch noch Gill Seidel und Laurent Vidal einen genderorientierten Beitrag geschrieben (Seidel/Vidal 1997).
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würden Frauen durch diese Politiken einerseits zu Bildungsprogrammen geführt: Während sie einerseits die Rhetorik akzeptieren, dass Frauen in Führungspositionen »good for the nation, good for all« seien, verbleiben sie andererseits in der abhängigen Position, da ihnen erklärt werden muss, wie sie ihren Platz in der Welt, i.e. in der Welt der Männer, finden können. Aus einer anderen Perspektive, die den Umbau vom Sozialstaat zum neoliberalen Staat in Rechnung stellt, werden Frauen aufgefordert, selbst die Konsequenz für ihre Berufswahl zu tragen, eine Wahl, die ohne Aussicht auf Karriereoptionen getroffen wurde. Hier kann gezeigt werden, dass Geschlecht zum widersprüchlichen Regulierungsfaktor geworden ist: Frauen werden einerseits gezielt gefördert, sind aber zugleich vom Abbau sozialstaatlicher Leistungen am deutlichsten betroffen. Schließlich beschreibt Rabo, wie die Verflechtung von Geschlecht, Geschlechterdemokratie und Bildungspolitik spezifische Subjektivitäten hervorbringt und bestimmte Konzepte von Staatsbürgerschaft privilegiert. Dabei kann sie zeigen, wie in den Auseinandersetzungen um Bildungspolitiken im Zusammenspiel mit der Vorstellung von Geschlechtergleichheit die binäre Ordnung der Geschlechter in ihrer Hierarchie reproduziert wird. In Politiken, die auf Geschlechtergerechtigkeit hinzuarbeiten versuchen, gehen grundlegende Gleichheiten und Unterschiede zwischen Männern und Frauen Hand in Hand: So wird einerseits von denselben Fähigkeiten, Rechten und Pflichten beider Geschlechter ausgegangen, andererseits betont, dass Frauen und Männer unterschiedliche Entscheidungen treffen, sich verschieden präsentieren und unterschiedliche Sichtweisen von Leben, Wissenschaft und Gesellschaft entwickeln. Gleichheit und Differenz wird dabei in durchaus auch widersprüchlicher Weise als Argumentationsressource genutzt, nie jedoch grundsätzlich befragt oder gar als wechselseitig aufeinander bezogen diskutiert. Gerade weil Geschlechtergleichheit Ziel staatlicher Interventionen in Bildung und Erziehung ist, werden Unterschiede zwischen den Geschlechtern zur zentralen Argumentationsressource, während andere Differenzen – etwa soziale oder ethnische – kaum thematisiert und problematisiert werden. Diese De-Thematisierung hat auch zur Folge, dass Bildungspolitik vor allem die Position weißer, mittelständischer Frauen reproduziert und stabilisiert. Wird dieses Ergebnis vor dem Hintergrund aktueller Theorien zur Interdependenz oder Intersektionalität von Geschlecht mit anderen sozial wirksamen Kategorisierungen betrachtet, also aus einer Perspektive, die nach den Überschneidungen und der wechselseitigen Konstitution sozia-
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ler Klassifikations- und Stratifikationssysteme fragt (vgl. z.B. Walgenbach et al. 2007, Binder/Hess 2011), dann kann – die von Rabo präsentierten Ergebnisse weiterführend – gesagt werden, dass in die politische Bildungsoffensive von Beginn an Vorstellungen von Geschlecht eingeschrieben sind, die immer bereits dicht mit sozialen und ethnischen Kategorisierungen verwoben sind: Denn offensichtlich stand bei der Entwicklung des Bildungsprogramms die Vorstellung einer mittelständischen, weißen Berufsbiografie Pate, die mit der Vorstellung des schwedischen Staatsbürgers schlechthin in Deckung gebracht wurde. Deutlicher auf die Interdependenz von Geschlecht mit anderen sozialen Kategorisierungen geht Clarissa Kugelberg in ihrem Beitrag ein. Sie beschreibt ebenfalls an einem schwedischen Beispiel die widersprüchlichen Effekte der Vergabepolitik von Fördermitteln auf örtliche zivilgesellschaftliche Organisationen (Kugelberg 2011). Am Fall einer lokalen Vereinigung afrikanischer Frauen, deren Ziel es zunächst war, Migrantinnen sowohl in Schweden als auch an ihren Herkunftsorten zu unterstützen, zeigt Kugelberg, wie zum einen der transnationale Ansatz des Vereins in Konflikt geriet mit den bestehenden Grundsätzen lokaler Förderpolitik. Zum anderen wurde aber vor allem die allein von Frauen getragene Vorstandsarbeit von der lokalen Behörde als Zeichen dafür gewertet, dass der Verein nicht aktiv für Geschlechtergerechtigkeit eintrete. Die lokale Bürokratie hat in ihrem pragmatischen Handeln Geschlechtergerechtigkeit auf wenige Indikatoren – unter anderem eben auf die geschlechterparitätische Besetzung des Vorstands – verengt, um das abstrakte Schlagwort Geschlechtergerechtigkeit für die eigene Verwaltungspraxis handhabbar zu machen. Diese Reduktion der komplexen Bedeutungen von Geschlechtergerechtigkeit zwang den Verein afrikanischer Frauen, Zielsetzung und Aktionsraum zu verschieben, um passförmig zu den lokalen Kriterien der Förderungswürdigkeit zu sein und weiter in die Gunst finanzieller Unterstützung zu kommen. Dieser Befund deckt sich mit der Beobachtung von Shore und Wright, dass im Zentrum von Politiken stets Begriffe stehen, um deren Konzeptionalisierung und Bedeutung gekämpft wird (Shore/Wright 1997: 19, vgl. auch Bourdieu 1990, Butler 1998). Wichtig sei, die Instabilität der involvierten Konzepte zu bedenken sowie die Tatsache, so Shore und Wright, dass »keywords accumulate meanings historically and that whereas one meaning may dominate at any particular moment, previous meanings, although eclipsed, can always be resurrected« (Shore/Wright 1997: 19). Auch der Kampf um Bedeutungen ist geschlechtlich strukturiert, insofern als
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Geschlechterbilder und Vorstellungen des Geschlechterverhältnisses Begriffe fundieren und strukturieren (vgl. Braun/Stephan 2005). Zwar ist Geschlechtszugehörigkeit »eine Konstruktion, die regelmäßig ihre Genese verschleiert« (Butler 2002: 306). Doch im Kampf um Bedeutungen wird Geschlecht als zentrales gesellschaftliches Klassifikationssystem produziert und reguliert, vor allem dadurch, dass Lesarten von Körpern und Individuen mit und durch Begriffe hervorgebracht werden. So jedenfalls argumentiert Judith Butler – hier am Beispiel der Vergewaltigung. Auch diese »Tatsache« – die Anführungszeichen sollen auf den gesellschaftlichen Konstruktionscharakter auch dessen hinweisen, was als Vergewaltigung gefasst wird – bildet einen Schlüsselbegriff politischer Auseinandersetzungen und rechtlicher Regulierungen, bei denen Geschlecht nicht einfach als Kategorie auftritt, »keine bloße Repräsentation [ist], als vielmehr ein Produktionsprinzip, ein Prinzip der Intelligibilität und Regulierung, das eine Gewalt durchsetzt und im Nachhinein rationalisiert« (Butler 1993: 55). Auch in der »Beschreibung« von Vergewaltigung wird ein Geschlechtskörper lesbar gemacht. Dabei wohnt dem Markieren von Körpern als geschlechtlich lesbare eine Gewalt inne, die genau dann eine politische Bedeutung erhält, »wenn der Buchstabe zugleich das Gesetz oder die autoritative Gesetzgebung ist, die festschreibt, was als Materialität des Geschlechts gilt und was nicht« (ebd.: 53). Denn mit jeder Beschreibung des geschlechtlich kodierten Körpers werden Subjektivitäten ausgeschlossen, die nicht in dieses Raster passen (wollen). Dabei fungieren Geschlecht und Gewalt als »Schauplätze politischer Diskussion«. Und, so schlussfolgert Butler: »Die Kategorie ›Geschlecht‹, die die politische Bedeutung dessen, was sie scheinbar beschreibt, in Wirklichkeit produziert, setzt hier ihre stille ›Gewalt‹ durch, indem sie reguliert, was bezeichenbar ist und was nicht.« (Ebd.: 56) Diese Überlegungen aufgreifend, ließe sich mit einer geschlechtertheoretisch informierten Anthropology of Policy zum einen zeigen, dass und wie Geschlecht in Politiken eingelagert ist, mobilisiert wird und wie dies im Zusammenspiel mit anderen sozial wirksamen Differenzkategorien zu spezifischen Effekten führt, die ihrerseits wiederum Einfluss auf Geschlechterbilder und -ordnungen nehmen – diese stabilisierend und/oder verschiebend. Bereits diese analytische Perspektive ist in der Anthropology of Policy – obwohl unerlässlich für eine umfassende Gesellschaftsanalyse – bislang (zu) wenig ausbuchstabiert. Dass Geschlecht alltägliche, politische und wissenschaftliche Wissensordnungen bestimmt, ist evident. Nicht
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zuletzt verweist darauf das seit einigen Jahren implementierte Gender Mainstreaming. Dieses neueste Werkzeug der Gleichstellungspolitik ruht genau auf der Annahme auf, dass Politiken immer auch die Geschlechterordnung als zentrales gesellschaftliches Differenz- und Herrschaftsverhältnis berühren. Oder, wie es auf der Website der Bundesregierung heißt: Gender Mainstreaming »basiert auf der Erkenntnis, dass es keine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt und Männer und Frauen in sehr unterschiedlicher Weise von politischen und administrativen Entscheidungen betroffen sein können.«6 Somit ist Gender Mainstreaming einerseits ein Hinweis auf die »vernünftige« Einsicht in die Wirkmächtigkeit der Kategorie Geschlecht, zugleich aber auch Ergebnis politischer Kämpfe um die Deutung von Geschlecht als Kategorie sozialer Ordnungen. Mir geht es hier nicht darum, Gender Mainstreaming als politische Strategie zu bewerten – es hat zweifelsohne ähnlich ambivalente Effekte, wie die von Rabo und Kugelberg aufgezeigten –, doch scheint es mir, auf wenn auch widersprüchliche Weise, meine Forderung zu stärken: Verpflichtet nicht letztlich die Implementierung von Gender Mainstreaming auf nationaler wie europäischer Ebene auch sozial- beziehungsweise kulturanthropologische Forschungen und insbesondere eine Anthropology of Policy dazu, Geschlecht als Analyseperspektive stets mitzuführen? Und sei es nur, um zu zeigen, dass im spezifischen (politischen) Feld Geschlecht keine Rolle spielt beziehungsweise Geschlechterverhältnisse nicht tangiert werden – ein Nachweis, den zu führen allerdings meistenteils wohl kaum gelingen dürfte. Ich möchte mit meinen Vorschlägen noch einen Schritt weiter gehen und im Anschluss an queertheoretische Überlegungen diskutieren, dass und wie auch Sexualität in die Analyse politischer Prozesse eingehen könnte. Wenn neben Geschlecht auch Sexualität – und das umschließt Vorstellungen des biologischen Körpers ebenso wie Konzepte der Reproduktion und des Begehrens – als Analysekategorie für eine Anthropology of Policy produktiv gemacht werden soll, dann müssen beide gleichermaßen als durch kulturelle Zuschreibungen erzeugt verstanden werden. Ich greife damit Diskussionen auf, die im Anschluss an Judith Butler in den Gender wie Queer Studies geführt werden (vgl. Kilian 2011). Bereits zu Beginn der 1990er Jahre hat Judith Butler die in den 1970er Jahren in die Geschlechterforschung eingeführte Unterscheidung von sex und 6 | Http://www.gender-mainstreaming.net, eingesehen am 20.07.2012.
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gender problematisiert. Wenn Geschlecht »nicht einfach eine vorgängige Materialität [beschreibt], sondern sie produziert und […] die Intelligibilität der Materialität von Körpern [Herv. i.O.]« reguliert (Butler 1993: 53), so gilt dies auch für das System der Zweigeschlechtlichkeit und die binäre Konstruktion von Männern/Frauen respektive Männlichkeit/Weiblichkeit. Ebenso muss das System der Heterosexualität in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung als Ergebnis kultureller Deutungen verstanden werden. Geschlecht und Sexualität zeichnen gleichermaßen für das Zusammenspiel von Zwei-Geschlechter-Ordnung und normativer heterosexueller Ordnung verantwortlich – wie dies genau geschieht, bildet den Ausgangspunkt queertheoretischen Forschens. Da wie Sabine Hark schreibt, »das Regime der Heterosexualität nicht allein Subjektivitäten, Beziehungsweisen und Begehrensformen organisiert«, sondern vielmehr »auch gesellschaftliche Institutionen, wie Recht, Ehe, Familie und Verwandtschaft oder wohlfahrtsstaatliche Systeme« strukturiert (Hark 2005b: 285), scheint es mir naheliegend, dies auch für die Anthropology of Policy produktiv zu machen. Dies hieße, aus queertheoretischem Blickwinkel auch Politiken, politisch induzierte Prozesse und politische Räume danach zu befragen, »wie Heterosexualität als Heteronormativität grundlegend in Gesellschafts- und Geschlechterverhältnisse eingeschrieben ist« (Hark 2005b: 288), durch Politiken reguliert wird und seinerseits Politiken strukturiert. Die Infragestellung einer »natürlichen« binären Geschlechterordnung sowie der Kontinuität zwischen Geschlecht, Sexualität und Begehren setzt zunächst ein strikt anti-normatives Verständnis sozialer Ordnung und sozialer Subjektivitäten voraus (vgl. Browne/Nash 2010: 5ff.). Im Gegensatz dazu bleibt in den beiden oben skizzierten Untersuchungen von Rabo und Kugelberg die Vorstellung einer binären Geschlechterordnung – die ja gerade Gleichstellungspolitiken die legitime Basis liefert – unhinterfragt: Die Analysen beziehen sich auf Frauen und Männer als feststehende Entitäten beziehungsweise klar abgrenzbare soziale Gruppen. Eine queertheoretisch fundierte Analyse müsste insofern die Frage aufgreifen, wie diese Vorstellung in und durch Politiken stabilisiert wird und – die Perspektive über Sexualität hinaus erweiternd – welche anderen normativen Vorstellungen den jeweiligen politischen Raum strukturieren und als normalisierte und naturalisierte Konzepte zu Politik werden (können). Das wäre nun wiederum in Übereinstimmung mit der von Rabinow beschriebenen »Anthropologie der Vernunft« (Rabinow 2004a). Denn wenn »queer scholarship […] in its contemporary form is anti-normative
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and seeks to subvert, challenge and critique a host of taken for granted ›stabilities‹ in our social lives« (Browne/Nash 2010: 9), dann radikalisiert diese Perspektive im Grunde nur die Forderung nach Reflexivität, die auch im Anliegen der Sozial- und Kulturanthropologie – nach der sogenannten Krise der Repräsentation (vgl. Clifford/Marcus 1986) – angelegt ist. Insofern gilt: »to queer ethnography […] is to curve the established orientation of ethnography in its method, ethics and reflexive philosophical principles« (Rooke 2010: 25). Neben dieser relativen epistemologischen Nähe von Queer Studies und Sozial- und Kulturanthropologie gibt es aber auch eine entscheidende Differenz, insofern als die akademischen Projekte sowohl der Gender als auch der Queer Studies selbst dicht verwoben sind mit politischen Bewegungen, die auf die Destabilisierung tradierter Bedeutungen und Ordnungen zielen. Der Frage, wie dies für eine genderund queertheoretisch informierte Anthropology of Policy produktiv gemacht werden könnte, werde ich im folgenden Abschnitt nachgehen.
2. Aus Politik heraus, statt über Politik forschen?! Radikalisierte Reflexivität und gestörte Repräsentationen als Grundlage einer gender- und queertheoretisch informierten Anthropology of Policy Auch in dieser Hinsicht geht es nicht um eine Frage, die von Shore und Wright gänzlich übergangen worden ist. Auch die beiden Autor_innen thematisieren die Involviertheit der Forschenden in die zur Untersuchung stehenden politischen Projekte und Prozesse. Sie nehmen dabei die in der Kultur- und Sozialanthropologie etablierte Position des Forschens als »familiar stranger« auf der Grenze von Involviert- und Distanziert-Sein ein: Zum einen, so schreiben sie, basiere ethnografisches Arbeiten notwendig auf Empathie, zum anderen sei es aber ebenso notwendig, »not to become inured to their (the actor’s, d.V.) normalities, to maintain sufficient critical distance« (Shore/Wright 2011: 15). Nur das ständige Oszillieren zwischen Insider- und Outsider-Perspektive ermögliche schließlich eine Haltung kritischer Reflexivität. Dies geschieht nicht ohne (politisches) Ziel: Denn der »anthropologische Habitus ethnographischer Sensibilität« (ebd.), das beständige Bewussthalten der Kontingenz kultureller wie politischer Entwicklungen sowie der umstrittenen und grundsätzlich politischen Natur von Politiken, »enables anthropologists and interpretive policy analysts to develop
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a more inclusive and democratic conception of policy« (ebd.). Allerdings wird nicht weiter ausgeführt, wie diese inkludierendere und demokratischere Konzeption von Politik gestaltet sein könnte. Wahrscheinlich muss diese Frage auch offen bleiben, denn sie steht in deutlichem Widerspruch zu der geforderten Forschungsposition jenseits normativer – respektive politischer – Vorstellungen und Zielsetzungen. Damit schreiben Shore und Wright in meinen Augen eine Grenze zwischen Wissenschaft und Politik in ihren Forschungsansatz ein, die mir wesentlich durchlässiger und brüchiger zu sein scheint, als die Autor_innen es nahelegen. Kann es den Ort des Forschens jenseits politischer Interessenkonstellationen tatsächlich geben? Schreibt sich nicht die eigene Situiertheit in nicht kontrollierbarer Weise immer auch in Forschungsdesign und -interaktion ein? Und sind damit nicht immer – und nicht nur bei ethnografischem Arbeiten zu Hause – moralische und politische Vorstellungen und Utopien Teil wissenschaftlicher Wissensproduktion, die auf Grund der Unabschließbarkeit von Reflexionsprozessen in ihren Effekten niemals gänzlich offengelegt werden können? Diese Vermutung legt zumindest die Wissenschaftskritik nahe, die sich – nicht nur, aber auch – im Umfeld der feministischen Wissenschaft entwickelt hat. Mit einem kurzen Blick zurück auf die Entstehung der Gender und Queer Studies möchte ich daher zeigen, dass ein solches InvolviertSein produktiv gewendet werden kann. Sowohl in den Gender als auch in den Queer Studies ist das Spannungsverhältnis zwischen politischer und akademischer Praxis konstitutiver Bestandteil der Wissensproduktion, der maßgeblich zur Entstehung und Entwicklung dieser Wissensfelder beigetragen hat. Im Folgenden möchte ich daher zeigen, wie die in diesem Feld der Wissenschaft entwickelten Epistemologien zur Vermittlung zwischen Reflexivität und Engagement in einer Anthropology of Policy beitragen können und wie die Situiertheit in Politiken in der Forschung sichtbar gehalten werden kann. Seit den späten 1960er Jahren hat sich Geschlechterforschung – zunächst meist als Frauenforschung bezeichnet – an westlichen Universitäten7 in enger Verbindung mit der Entstehung der feministischen Bewegung etabliert, zunächst als kritische Intervention in bestehende disziplinäre 7 | Ich beschränke mich in meinen Aussagen hier auf die Entwicklung in westlichen Kontexten und bin mir dabei bewusst, dass ich damit eine westlich-hegemoniale Wissenschaftsgeschichtsschreibung reproduziere, die aus post- bzw. dekolonialer Perspektive gegengelesen und verschoben werden müsste. Ich kann
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Wissensordnungen, inzwischen als transdisziplinärer Wissensbereich, der selbst zunehmend disziplinären Charakter entwickelt (Hark 2005a). Im Zentrum der Geschlechterforschung stand von Beginn an – und im feministisch orientierten Zweig der Geschlechterforschung steht bis heute – die Problematisierung des durch Geschlecht regulierten gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisses.8 Feministische Theoriebildung zielt(e) darauf, Sexismus als durch Geschlecht organisiertes und zugleich naturalisiertes Ungleichheitsverhältnis theoretisch zu fassen und empirisch zu untersuchen. Durch die feministische Intervention in gesellschaftliche Wissensordnungen und akademische Wissensproduktionen soll Geschlecht als Kategorie gesellschaftlicher Stratifikation sichtbar und das Geschlechterverhältnis als Herrschaftsverhältnis bearbeitbar gemacht werden. Die feministische Bewegung, die wie andere soziale Bewegungen auch, seit den 1970er Jahren maßgeblich zur Politisierung des Sozialen beigetragen hat (de Alwis 2007: 123), stellte eine Ermöglichungsbedingung für akademische Geschlechterforschung dar (vgl. Lipp 2001: 330, Hirschauer/ Knapp 2006). Sie basierte auf der Kritik der herrschenden Ordnung der Geschlechter; Kritik als »reflektierte Unfügsamkeit« bildet bis heute den Kern feministischer Wissenschaften, die als offene und engagierte Emanzipationsprojekte entworfen wurden, geprägt von Utopien wie Praktiken des eingreifenden Handelns und zunächst bestimmt durch den Wunsch, die »Veränderungs- und Gestaltungswünsche von Frauen zum kollektiven Impuls für Theoriebildung [zu machen], die in direkter Verknüpfung mit Praxiserfahrungen gedacht ist« (Althoff et al. 2001: 20). Der Ort der Entstehung von Kritik war auch in diesem Feld, mit den Worten von Foucault, das »Bündel der Beziehungen zwischen Macht, der Wahrheit und dem Subjekt« (Foucault 1992: 15), wobei sich die Geschlechterforschung, so die Soziologin Gudrun-Axeli Knapp in »Form der Kritik als Medium gesellschaftlicher Aufklärung« artikulierte (Hirschauer/Knapp 2006: 28). Dabei ist Kritik – oder anders formuliert: die Artikulation eines Problems mit dem Ziel, dieses zu ändern – die Bewegung, »in welcher sich das Subjekt das Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte hin an dieser Stelle nur auf diese Begrenzung hinweisen, ohne sie aufheben zu können. 8 | Innerhalb der Geschlechterforschung ist die Bezugnahme auf Feminismus umstritten, vgl. Hirschauer/Knapp 2006. Meine folgenden Ausführungen beziehen sich vor allem auf das feministische Selbstverständnis der Gender Studies.
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zu befragen und die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse hin«. Aufklärung meint also die »Entunterwerfung« unter Regierungstechnologien und die Infragestellung naturalisierter Wahrheiten (Foucault 1992: 15). Auch in der Sozial- und Kulturanthropologie beziehungsweise dem Vielnamenfach Volkskunde bildete sich seit den 1970er Jahren ein solcher Ort der Kritik heraus (Binder 2010, Lipp 2001). Wie auch in anderen Disziplinen konzentrierten sich Intervention und Nachdenken auf die zentralen Selbstverständlichkeiten wissenschaftlicher Wissensproduktion: Konzepte wissenschaftlicher Objektivität mit der ihr innewohnenden Trennung von Subjekt und Objekt der Erkenntnis wurden problematisiert; der androzentrische Bias vieler Begriffe und Theorien offengelegt und durch Ansätze und Interpretationen zu ersetzen versucht, die Lebenswirklichkeiten und Erfahrungen auch von Frauen integrieren; schließlich wurden methodologisch Möglichkeiten der Enthierarchisierung ethnografischer Forschung erkundet, wobei die Forderungen von der Verpflichtung zu stärkerer Reziprozität bis hin zu eindeutiger Parteilichkeit reichten. Im Zuge dieser kultur- und sozialanthropologischen respektive volkskundlichen Diskussionen rückten jene intersubjektiven Aushandlungsprozesse, die den Verlauf ethnografischen Forschens strukturieren, ins Zentrum der Reflexion: Die Situiertheit von Wissen und Wissensproduktion (Haraway 1988) wurde in der Kultur- und Sozialanthropologie zum zentralen Ankerpunkt feministischer Epistemologien und Methodologien, eben weil ethnografisches Arbeiten von Nähe und Distanz lebt.9 In ihrem Interesse für alltägliche Selbstverständlichkeiten und der damit hervorgebrachten Reflexivität lag die besondere Produktivität dieser Suchbewegungen und der sich daran anschließenden Diskussionen. Eben weil Geschlechterforschung und Kulturanthropologie jeweils um grundlegende, hierarchisch strukturierte Differenzen – nämlich zum einen um Geschlecht und zum anderen um Rasse/Ethnizität – organisiert sind, so schreibt beispielsweise Lila Abu-Lughod, könne die feministische Kulturanthropologie den male bias und westlich-hegemoniale Bezugssysteme kulturanthropologischer Wissensproduktion offen legen (Abu-Lughod 1990). Da Forscherinnen – ebenso wie halfies – allein schon durch ihre Person die Grenze zwischen fremd und eigen als konstitutives Moment ethnografischen Arbeitens grundlegend infrage stellen, können die Mecha9 | Zu den verschiedenen Ausformungen, von der Standpunkttheorie bis hin zu reziproken Forschungsprojekten, vgl. z.B. Hesse-Biber 2007, Althoff u.a. 2001.
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nismen der Wissensproduktion sichtbar gemacht und reflektiert werden (Abu-Lughod 1991). Mit dieser Perspektive, die sich gegen die Vorstellung von kulturellen Selbstverständlichkeiten richtet, wurde die kulturanthropologische Forschungspraxis auch für die Geschlechterforschung in ihrer Gesamtheit zu einem wichtigen Bezugspunkt, wie Carola Lipp in einem Text schreibt, den sie 1984 aus Anlass der ersten Tagung der Kommission Frauenforschung in Tübingen verfasst hat. Denn: »Die Übernahme kulturanthropologischer Konzepte in der historischen Frauenforschung bedeutete einen Verzicht auf taxonomische Deduktion eines allgemeingültigen Frauenschicksals aus übergeordneten Kategorien, seien es nun Klassenmodelle oder eine a priori gesetzte einheitliche weibliche Unterdrückungserfahrung; dahinter steht die teilweise forschungspraktische Erfahrung, daß Taxonomien den Zugang zum konkreten Handeln und Denken von Frauen letztlich blockieren.« (Lipp 1984: 9)
Doch barg das Zusammenkommen von anti-normativer Reflexivität und anti-sexistischem Engagement auch Probleme, die Marilyn Strathern etwa zur gleichen Zeit als eine kaum zu überbrückende »Schieflage« zwischen feministischer Forschung und Kulturanthropologie beschrieben hat (Strathern 1987). Diese Schieflage konstituiere sich durch das paradoxe Bedürfnis, die gemeinsame »weibliche« Erfahrung als Ressource für die Kritik patriarchaler Verhältnisse nutzen zu wollen und gleichzeitig die Verschiedenheit der Erfahrungen und Interessen zwischen Beforschten und Forscherinnen anerkennen zu müssen: »Die feministische Forschung suggeriert, es sei möglich, das Selbst zu entdecken, indem man sich der Unterdrückung durch die Anderen (die Träger des Patriarchats, BB) bewusst wird. So könnte man versuchen, eine gemeinsame Vergangenheit wieder zu erlangen, die auch die eigene sei. Die anthropologische Forschung suggeriert, das Selbst könnte bewusst als Vehikel zur Darstellung des Anderen genutzt werden. Aber das sei nur möglich, wenn das Selbst mit der eigenen Vergangenheit breche. So entpuppen sie sich als zwei sehr verschiedene Radikalismen. Denn trotz all ihrer gemeinsamen Interessen sind die beiden Praxisvarianten verschieden strukturiert in der Art, wie sie Wissen organisieren und Grenzlinien ziehen.« (Strathern 1993: 189)
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Letztlich sei nur, so Strathern, die wechselseitige Kommentierung im Modus des Spotts möglich – doch damit sei stets auch die Gefahr verbunden, ignoriert beziehungsweise als irrelevant zurückgewiesen zu werden.10 Auch die Intervention der Queer und der Postcolonial Studies in die Geschlechterforschung knüpft an dieses Paradoxon an. Hier wird allerdings die phantasmatische Figur des »feministischen Wir«, die Strathern wie viele andere auch als Basis feministischer Forschung und Praxis beschreibt, grundsätzlich infrage gestellt und aus der Position des zentralen Referenzpunkts enthoben. Die Debatten seit den 1990er Jahren sind durch immer neue Sensibilisierungen für die Situiertheit von Wissen und Wissensproduktion geprägt – stichwortartig benannt wurden sie ausgelöst durch die politisch eingeforderte Anerkennung vielfältiger weiblicher Erfahrungsräume, durch die Auseinandersetzung mit komplex verwobenen Herrschafts- und Machtstrukturen, die sich in ihrer Interdependenz je verschieden artikulieren und zu differenten Formen des Ein- und Ausschlusses beziehungsweise der De-/Privilegierung führen, sowie der grundlegenden Entnaturalisierung von Sexualität und biologischem Geschlecht und der damit einhergehenden Zentralstellung heteronormativitätskritischer Analysen. Der Verlauf feministischer Geschlechterforschung kann insofern als eine Geschichte fortlaufender, politisch wie theoretisch motivierter Interventionen erzählt werden: als immer wieder neu perspektiviertes Eingreifen in bestehende Wissensordnungen und Denkweisen, als stetes Bestreben, etablierte Wahrnehmungs- und Beschreibungsmodi der sozialen Welt mit ihren kultureller Ordnungen zu durchbrechen, um Handlungsräume zu verschieben und agency für – auch in und durch feministische(n) Bewegungen – marginalisierte Subjektivitäten zu schaffen. Es entstanden neue Wissens- und Forschungsfelder, neben den bereits genannten Queer und Postcolonial Studies etwa auch Disability Studies und Kritische Weißseinsforschung. Im Effekt zeigt der debattenförmige Verlauf der Geschlechterforschung eindrücklich, »dass im Feld feministische Theorie wissenschaftliche Klärungen von politischer Selbstreflexion nicht zu trennen sind« (Becker-Schmidt/Knapp 2000: 8). Auch wenn politische und wissenschaftliche Praxis unterschiedlich strukturiert sind und ver10 | In der Tat kämpfen die Gender Studies bis in die Gegenwart gegen ihre Marginalisierung, ob dies allein an dieser zum Spott verpflichtenden Schieflage liegt, bezweifle ich, denn es geht auch um die Infragestellung von Privilegien, vgl. Hark 2005a.
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schiedene Praxisformen und Genre der Artikulation generiert haben, sind sie wohl nur heuristisch zu trennen. Neben der wachsenden Sensibilität für Ausschlussmechanismen und der Verwobenheit mit Herrschaftsstrukturen, wurde dabei auch zunehmend deutlich, dass die Nahtstelle zwischen Politik und Wissenschaft immer bereits politisch ist. Auch deshalb kann es einen Standpunkt außerhalb politischer Räume nicht geben, auch nicht für eine Anthropology of Policy. Dies bedeutet aber auch, dass es kaum möglich ist – hier folge ich einer Argumentation von de Alwis und Pradeep Jeganathan –, den politischen Charakter der eigenen Forschung letztendlich zu bestimmen. Denn das hieße zum einen, dass die Verbindungen beziehungsweise das Politische bereits im Vorhinein bekannt sein müsste – eine Sichtweise, die auch der von Shore und Wright zentral gesetzten Beobachtung der unintendierten und nicht voraussehbaren Effekte von Politiken widersprechen würde. Es hieße insofern auch, dass bereits vor Beginn der Forschung deutlich wäre, »who we are allied with, how we are allied with them in these [epistemological] struggles, what our stakes are in those alliances, that is to say what we will lose if those alliances fail, and more, what we will lose if those struggles fail« (Jenagathan nach de Alwis 2007: 123). Da politische Entwicklungen kontingent und unvorhersehbar sind, liegt die Lösung nicht in einer eindeutigen Positionierung in Politiken und politischen Räumen, die zur Untersuchung stehen. Diese Unsicherheit wird – wie de Alwis in Anschluss an Laclau und Mouffe argumentiert – noch dadurch radikalisiert, dass die Sensibilität für durch Be- und/oder Zuschreibungen produzierte Ausschlüsse zur Entstehung immer neuer und differenzierterer politischer Räume führt (ebd.: 123), die – so würde ich den Gedanken fortführen – als emergente Formen in ihren Effekten wie Wirkweisen weder für Forschung noch für Politik vorhersehbar sind. Zugleich führt die oben skizzierte Beobachtung noch zu einem anderen Punkt, denn die Emergenz und Unvorhersehbarkeit der Effekte politischer Interventionen ist eng verbunden mit der Feststellung, dass die Grenzen zwischen Wissenschaft und Politik durchlässig sind. Sowohl in Prozessen der Problematisierung als auch in denen der Entwicklung von Lösungen wird Plausibilität nicht zuletzt durch die Bezugnahme auf wissenschaftlich erzeugtes Wissen hergestellt. Umgekehrt sind wissenschaftliche Forschungen geprägt von oder nehmen ihren Ausgangspunkt an politisch induzierten Problemen. Mit diesen Austauschverhältnissen zwischen Wissenschaft und Politik, die für die Wissensproduktion in gegen-
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wärtigen Gesellschaften charakteristisch sind (Nowotny 2004), ist auch die Kultur- und Sozialanthropologie politischer Prozesse konfrontiert, die sich selbst nicht außerhalb dieser Bewegungen verstehen kann. Für eine Anthropology of Policy heißt dies in letzter Konsequenz, dass sie nicht über, sondern immer schon aus Politik heraus forscht –, ohne dass diese Position vollständig kontrollierbar wäre. Im ersten Teil habe ich dargelegt, dass eine gender- und queertheoretisch informierte Analyse politischer Räume und Prozesse deshalb eine sinnvolle Erweiterung der Anthropology of Policy ist, weil die Frage nach dem Zusammenspiel von Geschlecht und Sexualität als interdependenten Kategorien und Politik zu einer komplexeren Analyse gesellschaftlicher Ordnungen und Transformationen führt. Während aus dieser Perspektive sowohl die Mobilisierung von Geschlecht und Sexualität für Politiken als auch die Produktion von Geschlecht und Sexualität durch Politiken rekonstruiert wird, standen im zweiten Teil die Bedingungen dieser Wissensproduktion selbst im Zentrum. Vor diesem Hintergrund wie auch den im weiteren Verlauf der Argumentation dargelegten feministischen Epistemologien möchte ich zum Schluss zumindest einige tentative Vorschläge unterbreiten, wie die reflexiven Verbindungen zwischen Wissenschaft und Politik und die Situiertheit der Forschung in Politiken sichtbar gehalten werden können. Diese Überlegungen müssen jenseits einer konkreten Forschung notwendig abstrakt und programmatisch bleiben. Auszubuchstabieren wären sie dann am konkreten Beispiel. So empfehle ich zunächst, das dichte Verwobensein von Politik und Wissenschaft für eine Anthropology of Policy durch eine radikalisierte Reflexivität und Formen der gestörten Repräsentation produktiv zu machen. Ich schlage also vor, das grundsätzlich Unabgeschlossene wissenschaftlicher Beschreibungen nicht nur im Sinne der »partial truth« (Clifford 1993) zu akzeptieren, sondern die gewachsene und noch wachsende Sensibilität für das Machtvolle und gleichzeitig Unkontrollierbare von Wissenschaft und Politik in ihrer Verwobenheit in »Politiken der Interpretation, der Übersetzung, des Stotterns und des partiell Verstandenen« (Haraway 2001: 316) zu überführen. Indem das Unabgeschlossene auch in der Darstellung sichtbar gehalten wird, würde, wie Patti Lather zur doppelten Epistemologie der Repräsentation von Wissen schreibt, der Text zu einer »site of the failures of representation«. Das hieße, dass »textual experiments are not so much about solving the crisis of representation as about troubling the very claims to represent« (Lather 2007: 37). In diesem
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Sinn gilt es, Formen der radikalisierten Reflexivität und fehlgeschlagener Repräsentationen als Basis einer gender- und queertheoretisch informierten Anthropology of Policy weiter (empirisch und theoretisch) zu erkunden und zu denken. Dabei müssten nicht nur die Verflechtungen zwischen wissenschaftlichen und politischen Sichtweisen und Interpretationen der Welt von Beginn der Forschung als Teil wissenschaftlicher Wissensproduktion in den Blick genommen werden und in der Darstellung der Ergebnisse die Suchbewegung wie auch die eigene Positionierung im Feld politischer Aushandlungsprozesse transparent bleiben. Es ginge zudem darum, Geschlecht, Sexualität und andere naturalisierte Ordnungskategorien als Teil der Forschungsinteraktionen während der Erhebung wie auch beim Analysieren und Schreiben in ihren Effekten ernst zu nehmen und – soweit das möglich ist – in ihren Effekten zu reflektieren und zu beschreiben. Letztlich wäre das Ziel, wie es Donna Harraway formuliert, »eine Epistemologie und Politik engagierter, verantwortlicher Positionierung« zu erreichen, die auf »bessere Darstellungen der Welt« zielen (Haraway 2001: 316). Denn »rationales Wissen ist ein Prozeß fortlaufender kritischer Interpretation zwischen Feldern von Interpretierenden und Dekodierenden« (ebd.: 317). Als »machtempfindliche Konversation« (ebd.) könnte eine so ausgerichtet Anthropology of Policy auch versuchen dazu beizutragen, die widersprüchlichen Effekte wie emergenten Formen, die durch politische Interventionen hervorgebracht werden, nicht nur zu verdeutlichen und zu theoretisieren, sondern in politische Räume zurückzuführen und als Kritik von Handlungslogiken wie als Möglichkeit der Verschiebung von Politiken zu nutzen. Dass es hierbei auch nötig sein kann, mit politischen Aktivist_innen zu kollaborieren, ohne die wissenschaftlich analytische Position ganz aufzugeben, scheint mir einerseits evident (vgl. u.a. Bourdieu 2001, Binder/Hess 2013), andererseits in Hinblick auf die Konkretisierung und Ausgestaltung dieser Zusammenarbeit noch weitgehend offen. Es wird dabei wohl um situative und immer wieder neu zu findende Positionen im Prozess des Aus- und Verhandelns über gesellschaftliche Entwicklungen gehen, in denen auch, wenn auch nicht ausschließlich, die Ausdeutung der Politiken von Geschlecht und Sexualität eine Rolle spielen wird.
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B EATE B INDER
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Autorinnen und Autoren
Jens Adam ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin sowie Dozent im Erasmus Mundus Master-Studiengang International Humanitarian Action an der Ruhr-Universität Bochum. Er promoviert zum Thema »Zwischen Konfliktprävention und Kulturdialog – eine Ethnografie Auswärtiger Kulturpolitik in den ›Konfliktregionen‹ Sarajevo und Ramallah«. Seine Forschungsinteressen sind die politische Anthropologie, anthropologische Europäisierungs- und Kosmopolitisierungsforschung, ethnografische Stadtforschung sowie die Anthropologie politischer Gewalt. Prof. Dr. Beate Binder ist Professorin für Europäische Ethnologie und Geschlechterstudien an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie forscht und lehrt aus geschlechter- und queertheoretischer Perspektive zu politischen Prozessen, urbanen Räumen und Erinnerungspolitiken. Zu ihren jüngsten Publikationen zählen: Eingreifen, Kritisieren, Verändern!? Interventionen ethnografisch und gendertheoretisch. Münster: Westfälisches Dampfboot, 2013(hg. zusammen mit Friedrich von Bose, Katrin Ebell, Sabine Hess, Anika Keinz); Beate Binder (Hg.): Geschlecht – Sexualität. Erkundungen in Feldern politischer Praxis. Berliner Blätter Sonderheft 62/2013. Fabian Engler ist Doktorand und Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Er ist Stipendiat der Hans-Böckler-Stiftung und promoviert zum Thema »Islam und Deutschland – Das strittige Gemeinsame im politischen Dialog der Deutschen Islam Konferenz«. Seine Forschungsinteressen sind Theorien des Rassismus, Ethnografie des Nationalstaats und Border Politics.
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Dr. Ignacio Farías ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung und assozierter Wissenschaftler der Universidad Diego Portales in Chile. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in der Kultursoziologie und der Stadtethnologie. Er ist Mitherausgeber von »Urban Assemblages. How Actor-Network Theory Changes Urban Studies« (Routledge 2009) und Autor von mehreren Zeitschriftaufsätzen in u.a. Berliner Blätter, European Journal of Social Theory, Mobilities, Space and Culture und CITY. Prof. Dr. Sabine Hess ist Professorin am Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Transnationalisierungs- und Europäisierungsforschung, Migrations- und Grenzregimeforschung, politische Anthropologie, kulturanthropologische Geschlechterforschung sowie Methodenlehre. Sie ist Mitbegründerin des Netzwerks kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet). Prof. Dr. Thomas Scheffer ist Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Interpretative Sozialforschung an der Goethe-Universität Frankfurt sowie Sprecher der Sektion Rechtssoziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Sein Forschungsinteresse gilt der Mikrofundierung von Staatlichkeit in seinen unterschiedlichen Ausprägungen. Scheffer nutzt in seinen Forschungen Kombinationen ethnografischer und diskursanalytischer Strategien, wie die ethnomethodologischen Laborstudien, die transsequentielle Analyse (TSA) und den dichten Vergleich. Dr. Tobias Schwarz studierte Europäische Ethnologie in Berlin und London und promovierte mit einer empirischen Studie über den deutschen Ausweisungsdiskurs. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Kompetenznetz Lateinamerika - Ethnicity, Citizenship, Belonging an der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte sind Migrationspolitiken, rechtliche Ausschlüsse und nationale Identität in Lateinamerika und Europa. Gegenwärtig untersucht er Zugehörigkeitspolitiken in Lateinamerika anhand des Einwanderungs- und Staatsangehörigkeitsrechts Venezuelas und der Dominikanischen Republik. Prof. Dr. Kerstin Poehls ist Juniorprofessorin am Institut für Volkskunde/Kulturanthropologie an der Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwer-
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punkte sind Europäisierung, museale Repräsentationen von Migration und europäischen Grenzziehungen, wirtschaftliches Alltagshandeln sowie Sammeln als Alltags- und Wissenschaftspraxis. Univ.-Ass. Dr. Alexandra Schwell arbeitet am Institut für Europäische Ethnologie an der Universität Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Anthropologie der Sicherheit und des Staates, Border Studies, Europäische Integration, Osteuropa. Sie leitet das Teilprojekt »The Anthropology of European Football: Fusions and Fissions« im EU-Projekt »Football Research in an Enlarged Europe« (FREE). Dr. Sarah Speck promovierte im Rahmen des Graduiertenkolleg Geschlecht als Wissenskategorie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Technischen Universität Darmstadt. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Paar- und Geschlechterforschung, Soziologie der Arbeit, Kultursoziologie, Kritische Theorie. Franziska Sperling arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie an der Goethe-Universität Frankfurt. In ihrem Promotionsvorhaben untersucht sie soziokulturelle Veränderungsprozesse in Bayern, welche durch den Übergang zu erneuerbarer Biomasse-Energie induziert worden sind. Ihre Forschungsinteressen sind Umwelt, Energie, Landwirtschaft, Klima, EU-Politik und Europäisierung. Prof. Dr. Asta Vonderau ist Juniorprofessorin für Kulturanthropologie am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und Gastdozentin am Institut für Sozialanthropologie der Universität Stockholm. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Anthropologie der Politik, Audit und Infrastructure Studies, Europäisierung und postsozialistische Transformationen in (Ost-)Europa. Dr. Stefan Wellgraf promovierte an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder und ist dort heute Mitarbeiter am Lehrstuhl für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie. Er war assoziiertes Mitglied im Graduiertenkolleg »Berlin – New York. Geschichte und Kultur der Metropolen im 20. Jahrhundert« am Berliner Center for Metropolitan Studies.
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Dr. Anne-Kathrin Will promovierte berufsbegleitend in Europäischer Ethnologie an der Humboldt-Universität Berlin über die Psychologisierung des Aufenthaltsdiskurses am Beispiel traumatisierter bosnischer Flüchtlinge in Berlin. Sie arbeitet in der wissenschaftlichen Politikberatung in den Themenfeldern Integration und Migration, Benachteiligtenförderung und Gleichstellung. Zu ihren Forschungsinteressen zählen das ehemalige Jugoslawien und seine Nachfolgestaaten, Science and Technology Studies und die Psychologisierung westlicher Gesellschaften.
Kultur und soziale Praxis Jonas Bens, Susanne Kleinfeld, Karoline Noack (Hg.) Fußball. Macht. Politik. Interdisziplinäre Perspektiven auf Fußball und Gesellschaft Februar 2014, 192 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2558-5
Naime Cakir Islamfeindlichkeit Anatomie eines Feindbildes in Deutschland Juni 2014, ca. 276 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2661-2
Gesine Drews-Sylla, Renata Makarska (Hg.) Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989 Juli 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2364-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur und soziale Praxis Heidrun Friese Grenzen der Gastfreundschaft Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage Juli 2014, ca. 200 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2447-2
Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.) Urbane Jugendbewegungen Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt Juli 2014, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2130-3
Tatjana Thelen Care/Sorge Konstruktion, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Bindungen Juni 2014, ca. 330 Seiten, kart., ca. 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2562-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de