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German Pages 340 Year 2015
Doris Leibetseder Queere Tracks
2009-12-15 12-38-15 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0346228712422626|(S.
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Für Becca
Doris Leibetseder (Dr. phil.) studierte Philosophie, Spanisch und Geschichte in Wien, Barcelona und London. Sie lehrt nun als Österreich-Lektorin am German Department der Durham University (UK).
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Doris Leibetseder
Queere Tracks Subversive Strategien in der Rock- und Popmusik
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Gefördert durch die Universität Wien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Alexander Wilhelm Lektorat & Satz: Doris Leibetseder Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1193-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
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I N H AL T
Danksagung
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Intro: Einleitung »Historical Roots« »Gendercopyleft« Methoden
11 13 24 25
Track 01: Ironie – »The Cutting Edge« Historisches, Definition, Erkennung Funktion der Ironie Semantische und pragmatische Funktion der Ironie Das Ethos der Ironie Ironie im feministischen Diskurs Madonnas ambivalente Ironie Feministisch-queere Beispiele in der Rock- und Popmusik Riot Grrrls und Girl Culture Angie Reed
27 27 30 33 36 38 40 44 45 50
Track 02: Parodie – »Gender Trouble« Historisches, Definition, Erkennung Abgrenzungen Erkennungszeichen der Parodie Parodie und Subversion Geschlechterparodie bei Judith Butler Konstruierte Geschlechtsidentitäten Geschlechterparodie Kritik an Butlers Geschlechterparodie Subversiver Sprechakt Musikbeispiel: Peaches
55 55 58 61 62 67 68 68 70 82 85
Track 03: Camp – »Queer Revolt in Style« Historisches, Definition, Erkennung Susan Sontag »Notes on Camp« Feministischer Camp mit Musikbeispiel: Madonna Feminine Camp Androgynität mit Musikbeispiel: Annie Lennox, Grace Jones
93 93 99 114 120
Grace Jones Ästhetik des Camps »Fangoria: Hagamos algo muy vulgar« Anarcho-Camp: Scream Club
124 126 131
Track 04: Maske/Masquerade – »Transforming the Gaze« Einführung Nietzsche Analyse des Blicks Männlichkeit als Masquerade Musikbeispiele Suzanne Vega Peaches »Downtown« – Musikvideo Annie Lennox »Diva« – CD-Cover
135 135 136 138 158 161 161 163 164
Track 05: Mimesis/Mimikry – »Poetische Ästhetik« Antike Mimesis Platon Aristoteles Mimesis und Musik Mimesis und Wiederholung Mimesis und Macht Affektive Modellierung Feministische Mimesis Irigaray Kristeva Postkoloniale Mimikry Musikbeispiele: Grace Jones, Bishi Mimesis und Technologie Die binäre Phase der Mimesis Musikbeispiel: Lesbians on Ecstasy »This beat is lesbotronic!«
167 168 169 176 178 179 184 186 188 188 201 207 210 213 216 220
Track 06: Cyborg – »Transhuman« Entstehungsgeschichte Cyborg-Feminismus Cyborg-Utopie Cyborg im Film Musikbeispiel: Björk »All is Full of Love« – Musikvideo
229 229 234 240 244 250
Track 07: Transsexualität – »Border Wars« Technologien des Geschlechts Zur Geschichte der Transsexualität Medizinische/psychologische/soziale Aspekte der Transsexualität
261 261 264 275
Fallbeispiele »Border Wars« – Transsexualität und Subversion Musikalische Grenzkriege Musikbeispiel: Katastrophe
279 281 285 288
Track 08: Dildo – »Gender Blender« Einführung Dildonics Dildotektonik Dildotopia Musikbeispiele Tribe 8 Peaches
297 297 300 301 304 306 306 308
Fade Out: Schlusswort
309
Anhang Literatur Diskographie Videolink Abbildungsverzeichnis
325 334 335 335
D AN K S AG U N G
Mein Dank gilt all meinen Freund_Innen und meiner Familie, die mich während der Entstehungszeit dieser Arbeit und meinem unsteten Weg, direkt und indirekt, durch dick und dünn begleiteten und manchmal einfach in Kauf nahmen, dass ich etwas weniger Zeit für sie zur Verfügung hatte. Prof. Dr. Josef Rhemann bin ich für die schnelle Zusage zur Betreuung meiner Dissertation und für die unkomplizierte Ausführung dankbar. Mein Dank gilt außerdem Doz. Dr. Arno Böhler als Beurteiler, durch dessen Anregungen ich auf interessante Zusammenhänge hingewiesen wurde. Weiters ergeht mein Dank an Prof. Dr. A. M. Singer, die mich zu Beginn betreute und darauf bedacht war, meine Arbeit in die richtige Bahn zu lenken. Dankbar bin ich auch für alle Empfehlungsschreiben für meine Stipendienbewerbungen und Druckkostenzuschuss von Prof. Dr. A. M. Singer, Doz. Dr. Hanna Hacker, Doz. Dr. Sergius Kodera, Dr. Doris Weichselbaumer, Dra. Josefina Birulés Bertrán, Dra. Rosa Rius Gatell und Beatriz Preciado PhD. An dieser Stelle sei auch allen Teilnehmer_Innen des QueerLesekreises, der nach einem Seminar von Dr. Hanna Hacker entstanden ist) für ihre Anregungen und entstandenen Freundschaften gedankt. Für meinen fruchtbaren Auslandsaufenthalt schulde ich Àngela Lorena Fuster Peiró (für Unterkunft, Gespräche und ganz einfach für ihre Freundschaft), den Professorinnen der »Universitat de Barcelona« ,Dra. Fina Birulés und Dra. Rosa Rius, ihrer Seminargruppe »Filosofia i Gènere« und allen Teilnehmer_Innen, Dank. Die Seminare, die von Beatriz Preciado am MACBA (Barcelona) und an der UNIA (Sevilla) veranstaltet wurden, stellten für meine Arbeit einen wichtigen »Input« dar. Die Abhaltung eines Seminarblocks über mein Arbeitsthema an der »Universitat Autónoma de Barcelona«, im Rahmen des Moduls »Estudios Culturales« des MA-Kurses »Literatura Comparada: Estudios Literarios y
10 | QUEERE TRACKS
Culturales« sowie die Diskussionen mit den Studierenden, halfen mir bei der Klärung wichtiger Punkte. Ermöglicht wurde dieses Seminar durch Dra. Isabel Clua und Dra. Meri Torras. Weiters waren folgende Vorträge und anschließende Beiträge geduldiger Zuhörer_Innen für die Ausreifung meines Projektes sehr hilfreich: ein Vortrag an meiner jetzigen Arbeitsstelle, der Durham University, während der »Q-Week«, die von der »LGBTA« veranstaltet wurde (Dank gilt vor allem der Einladung von Phil Bolton) und eine Präsentation während der »7th European Feminist Research Conference« in Utrecht. Bestätigungen und Anregungen bekam ich auch von Kolleg_Innen an der Durham University, wie Prof. Lucille Cairns und Dr. Santiago Fouz Hernández. Besonderer Dank gilt allen mir nahe stehenden Personen, die mir vor allem in den aufregenden Endphasen, sowohl bei der Einreichung der Dissertation als auch bei der Abgabe des Skriptes für die Publikation, in den verschiedensten Bereichen helfende Hände angeboten und/oder gereicht haben: Mag. Barbara Eder, Rodolphe Blaise, Iban Calzada Mangues, Mag. Elke Mayr, meine Korrekturleserinnen Mag. Gudrun Henninger und Birgit Pfeiffer. Dank für die Illustration an Alexander Wilhelm.
INTRO: EINLEITUNG
Warum queere »Tracks«? Natürlich liegt die Vermutung nahe, dass damit Musiktitel gemeint sind, es gibt aber noch mehrere Übersetzungsmöglichkeiten ins Deutsche: z. B. die der Spur, also – welche queeren Spuren lassen sich in der Rockund Popmusik finden? Diese Spur bringt uns auf den richtigen Weg, wenn auch nicht auf den »straighten«, dennoch ist ein wichtiges Wort gefallen: Weg, in diesem Bedeutungsfeld ist »track« auch als Pfad oder sogar Gleis übersetzbar. Wie ist ein queerer Weg oder »auf einem queeren Gleis sein« erklärbar? Sarah Ahmed beschritt bereits diesen Gedankenpfad in ihrer queeren Phänomenologieanalyse und fand dabei folgendes heraus: Ein Weg dient dazu, einer bestimmten Richtung zu folgen, hat also etwas mit (sexueller) Orientierung zu tun. Der Weg beschreibt eine Linie zwischen zwei Punkten, diese Linie kann zu einem Pfad werden, wenn sie oft genug benützt wird. Wie Ahmed erklärte, geht es auch hier um die Performativität: dieser Weg (sei es gedanklich oder räumlich) hängt von der Wiederholung von Normen und Konventionen ab, diese Routen oder Pfade werden als Effekt dieser Wiederholung geschaffen.1 Indem wir diesen Linien folgen, erschaffen wir diese Pfade gleichzeitig. Was passiert, wenn plötzlich die offizielle Richtung nicht mehr eingeschlagen wird? Es wird ein alternativer Weg beschritten oder auch eine neue Linie geformt werden. Treffend wie Ahmed es beschreibt, schlug auch ich eine neue Richtung ein und folgte der »desire line«, so werden unoffizielle Pfade in der Landschaftsarchitektur genannt, welche die Spuren des täglichen Kommens und Gehens von Leuten zeigen, die deviante oder unerwartete Routen nehmen.2 1 2
Vgl. Sarah Ahmed: Queer Phenomenology. Orientations, Objects, Others, Durham (US), 2006, S. 16. Ebd. S. 19f.
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Queere Tracks beschreiben also Spuren, Pfade oder Wege in der Populärmusik, die von der heterosexuellen Orientierung abweichen – queere Rillen im Plattenteller für Vinylliebhaber_Innen3 oder queere (auf keinen Fall »genderbinäre«) Codes für Digitalmusikbegeisterte. Die wissenschaftliche Fragestellung der vorliegenden Arbeit, die bereits aus dem Titel ersichtlich ist, lautet, wo und wie subversive Ideen und Strategien des Feminismus und der Queer Theory zu hegemonialen Geschlechtskonzeptionen in der Rock- und Popmusik angewandt werden. Die Analyse dieser Strategien und deren Beispiele stehen dabei im Vordergrund. Mein Schwerpunkt liegt daher auf der Auflösung und Erweiterung des herkömmlichen binären Geschlechtersystems und der heterosexuellen Matrix, was den Zielsetzungen der Queer Theory entspricht. Einer Aufforderung bell hooks folgend, bewege ich mich nicht nur im akademischen Elfenbeinturm, sondern ich beziehe mich auch auf populäre Kultur. Aus diesem Grund bilden die Cultural Studies die zweite theoretische Achse in meiner Arbeit. Da Filme und populäre Literatur in Bezug auf queere Geschlechter erforscht werden oder bereits wurden, wählte ich unter anderem aufgrund meines persönlichen Interessengebietes die Rockund Popmusik. In diesem populärkulturellen Bereich herrscht, wie besonders die dritte Welle des Feminismus aufzeigt, ein stereotypisches Geschlechterbild und queere Elemente werden hauptsächlich für den Mainstream verwendet. Mir ist es daher ein besonderes Anliegen, feministische Beispiele (seien es Frauenbands oder Musiker_Innen, die nicht dem gängigen Geschlechterklischee entsprechen) zu finden, und in ihnen queere subversive Strategien, die eine politische Relevanz besitzen und nicht nur der Verkaufsförderung dienen zu analysieren. Was den Stand der Forschung betrifft, kann ich sagen, dass es zum Thema Frauen/Geschlecht in der Rock- und Popmusik4 einige soziologische Arbeiten gibt, die Beschreibungen und analytische Kategorisierungen beinhalten5, aber fast keine kulturtheoretischen über queere Geschlechter6 3 4
5
6
Meine geschlechtergerechte Schreibweise schließt auch diejenigen, die zwischen den Geschlechtern stehen, mit »_« ein. Einen kulturwissenschaftlichen Bericht liefert uns Angela Mc. Robbie in ihrem Kapitel »Recent Rhythms of Sex and Race in Popular Music» in: In the Culture Society. Art, Fashion and Popular Music, London/New York 1999, S. 111-121. Auch: Mavis Bayton: »Feminist Musical Practice: Problems and Contradictions« in: Tony Bennet, Simon Frith, Lawrence Grossberg u.a. (Hg.), Rock And Popular Music. Politics, Policies, Institutions, London/New York 1993, S. 177-192. Vgl. Mary Ann Clawson: »When Women Play the Bass. Instrument Specialization and Gender Interpretation in Alternative Rock Music« in Gender & Society Vol. 13 Nr. 2 (April 1999), S. 193-210. Auch: Leigh Krenske & Jim McKay »Hard and Heavy: Gender and Power in a Heavy Metal Music Subculture« in Gender, Place and Culture Vol. 7 Nr. 3 (2000), S. 287-304. Mehr Material gibt es dazu im Filmbereich (Kino, TV) oder auch Videos: Vgl. Steven Drukman »The Gay Gaze, Or Why I Want My MTV« in: Paul
INTRO: EINLEITUNG | 13
in diesem Bereich. Meiner Ansicht nach fehlt eine genauere wissenschaftliche Untersuchung der Rock- und Popmusik anhand queerer Theorien. Auch der Sammelband »Queering the Popular Pitch«, herausgegeben von Sheila Whiteley und Jennifer Rycenga (New York, 2006), stellt für mich nur eine ungenügsame Analyse und eine sehr willkürliche Auswahl queerer Elemente in der Populärmusik dar. Einen gelungenen Beitrag stellt Judith Halberstams Kapitel »What’s That Smell? Queer Temporalities and Subcultural Lives« aus ihrem Buch »In a Queer Time and Place. Transgender Bodies, Subcultural Lives.« (New York/London, 2005) dar. Sie beschreibt darin einige Bands und ihren subkulturellen Hintergrund und zeigt lesbisch-queere Elemente in ihren künstlerischen Werken auf.
»Historical Roots« Einführend gehe ich auf die historischen Wurzeln der Rock- und Popmusik und ihrer queeren Inhalte ein. Die Anfänge oder Ursprünge der populären Musik festzusetzen, ist kein leichtes Unterfangen. Viele schreiben sie der afro-amerikanischen Musik wie zum Beispiel den Gospels, Rhythm and Blues oder Jazz zu, andere wiederum der Vaudeville-Tradition der Jahrhundertwende. Vielleicht ist es ein Zusammenwirken von beiden: Die musikalische Strömung kommt von der afro-amerikanischen Blues- und Jazz-Tradition und der Performance Charakter der Konzerte rührt von den herumziehenden Vaudeville-Shows her, die eine Art von Varieté-Theater waren. Interessanterweise waren bereits in diesen zwei Genres gewisse queere Elemente vorhanden. So gab es in den Vaudeville-Shows »CrossDresser«, die sich auf der Bühne in der Rolle des anderen Geschlechts zeigten. Das Beispiel des US-amerikanischen Jazz-Musikers, Billy Tipton, der seine Geschlechterrolle auch im wirklichen Leben änderte und erst nach seinem Tod entdeckt wurde, dass er anatomisch eine Frau war, ist bekannt. (Im Kapitel über Transsexualität gehe ich näher auf diesen Fall ein.)
Burston/Colin Richardson (Hg.), A Queer Romance. Lesbians, Gay Men and Popularculture, London/New York, 1995, S. 81-95. Einen soziologischen Essay zu queeren Identitäten in der Rock Musik schrieb Mimi Schippers »The Social Organization of Sexuality and Gender in Alternative Hard Rock. An Analysis of Intersectionality« in: Gender & Society Vol. 14. Nr. 6 (December 2000), S. 747-764. Auch: Sarah Cohen »Popular Music, Gender and Sexuality« in: Simon Frith, Will Straw, John Street (Hg.), The Cambridge Companion to Pop and Rock, Cambridge, 2001, S. 226-242. Ein eher journalistischer als wissenschaftlicher Beitrag zur Analyse der Geschlechtsidentitäten in der Rock- und Popmusik stellt folgendes Buch von Simon Reynolds und Joy Press: The Sex Revolts. Gender, Rebellion and Rock’n’Roll, London, 1995 dar.
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Eine Vaudeville-Show konnte auch eine Burlesque, eine erotische Show und der Vorläufer des Striptease, beinhalten und so hieß es bereits 1869 in einem Artikel über den neuen Theatergeschmack »It was also an indispensable condition of the burlesque’s success, that the characters should be reversed in their representation, – that the men’s rôles should be played by women, and that at least one female part should be done by a man.«7 Die Darstellung der Frauen in der Vaudeville-Tradition – im Gegensatz zur Burlesque – war aber durchaus auf eine respektvolle und angemessene Art und Weise: »Vaudeville and burlesque each appealed to different audiences and featured two distinct styles of female impersonation. Vaudeville developed from those ministrel shows, that, since the Civil War, had catered to a largely female audience from the growing White middle class. Vaudeville impersonators deemphasized the minstrel show’s raunchy humour and lampooning of women and offered instead a celebration of femaleness and cultural norms in which impersonators strove for realistic portrayals of »ladies of fashion.« This respectable style of female impersonation was one of the most popular forms of theatrical entertainment of the early twentieth century.«8
Die Burlesque allerdings ist nicht so niveauvoll und zieht das Weibliche ins Lächerliche: »Burlesque, which developed out of those minstrel shows that had appealed to working-class, largely male audiences, maintained the minstrels show’s raunchy humour and lampooning of cultural norms. Female impersonators working in burlesque did not strive for artful illusions; their goal was comedy.«9 Bekannte KünstlerInnen aus der amerikanischen Vaudeville-Tradition waren Laurel und Hardy (Stan and Olly)10, Sarah Bernhard11, Charlie Chaplin und Bette Midler (die ihre Shows als Divine Miss M in einem homosexuellen Badehaus präsentierte)12; Mae Wests Stück »Pleasure Man« (1928) gab einen Einblick hinter die Kulissen der DragPerformer_Innen und löste damit einen Sturm der öffentlichen Entrüstung aus, weil sie als Homosexuelle porträtiert wurden. Kritiker_Innen kreide7
William Dean Howells: »The New Taste in Theatricals« in: Atlantic Monthly 16 (May 1869). S. 640-644. Zitiert in: Robert M. Lewis (Hg.), From Travelling Show to Vaudeville. Theatrical Spectacle in America, 1830-1910, Maryland, 2003, S. 229. 8 Jeffrey Callen: »Gender Crossings. A Neglected History in African American Music.« in: Sheila Whiteley, Jennifer Rycenga (Hg.), Queering the Popular Pitch, New York, 2006, S. 187. 9 Ebd. 10 Vgl. Franc Cullen, Florence Hackman, Donald McNeilly (Hg.), Vaudeville Old and New. An Encyclopedia of Variety Performers in America, Vol. 2, New York/London, 2007, S. 658-664. 11 Vgl. ebd. Vol. 1, S. 101ff. 12 Vgl. ebd. Vol. 2, S. 750ff.
INTRO: EINLEITUNG | 15
ten West an, dass sie eine Verbindung zwischen der sexuellen Unterwelt und der Welt der Frauendarsteller fabrizierte.13 Eine weitere interessante Person aus der Welt des Vaudevilles war Josefine Baker14, auch für Europa und Wien. Wie Rosa Reitsamer schreibt, waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Europa schwarze Musiker_Innen, wie Arabella Fields, Bella Cora oder Josephine Baker sehr gefragt. Diese Musiker_Innen fanden hier durch weniger Diskriminierung und finanziell ertragreicherer Engagements auch eine für sie angenehmere Situation als in den USA vor. Trotzdem galt der schwarze Körper als exotisch und primitiv und stand in den Augen der Weißen für ein Symbol und eine Allegorie der Sexualität schlechthin. Baker erfand so ein spezielles Charakteristikum für ihren Tanz: »Indem sie die Aufmerksamkeit auf ihren Hintern lenkte, befriedigte sie mit ihrem Schwarzen Körper das Bedürfnis nach Exotismus bei weißen Europäer_Innen. Baker bewegte ihren Hintern auf eine erotische Art, mit dem Resultat, dass der Hintern zu einem weiteren Fetisch für Schwarze weibliche Sexualität wurde.«15 Auch ihr Tanzstil wurde zu einem Vorläufer schwarzer Choreographie, der zu einem wichtigen »Marketingtool« wurde. »In den hegemonialen westlichen Diskursen über Schwarze Populärkultur wird das Tanzen als ein Ausdruck von Hypersexualität beschrieben und als eine Körperpraxis von Schwarzen, Frauen und homosexuellen Männern definiert. Diese Körperpraxis steht in diesen Diskursen unmittelbar mit animalistischem Sexualverhalten in Zusammenhang, sodass Schwarze Menschen als »geborene Dancing-Queens« wahrgenommen werden.«16
Es gab aber auch andere Meinungen zum Auftritt Josephine Bakers 1926 in Wien, die sich eher auf die Musik konzentrierten: »Im Zentrum der Rezeption steht neben Bakers Körper der »maschinelle Lärm« des Jazz. Ihre Melodie ist Unruhe, Hast, Nervosität, Großstadt, die die Menschen vorwärts treibt [...]. Ihr ist also jener »paradoxe Primitivismus der Moderne« oder »urbane Exotismus« eingeschrieben, den Jody Blake als neue europäische Vorstellung von Amerika beschreibt, dessen »Urban Jungles« und »Mechanical Beats« moderne Barbarei repräsentieren.«17
13 Jeffrey Callen: Gender Crossings, a.a.O., S. 188. 14 Vgl. Franc Cullen: Vaudeville Old and New, Vol. 1, a.a.O., S. 55f. 15 Rosa Reitsamer: »Von Josephine Baker zu Britney Spears« in [sic!] Forum für feministische GangArten Nr. 55 (2005), S. 15. 16 Ebd. S. 16. 17 Wolfgang Fichna: »I wanna be like a female Quincy Jones! Zur Konstruktion von Subjektpositionen afroamerikanischer HipHop-Musikerinnen.« In: Rosa Reitsamer/Rupert Weinzierl (Hg.), Female Consequences. Feminismus, Antirassismus, Popmusik, Wien, 2006, S. 49.
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Jeffrey Callen betont, dass in den 1920ern und 1930ern viele der aus der Arbeiterklasse kommenden afro-amerikanischen Blues-Sängerinnen offen lesbisch oder bisexuell waren. So zum Beispiel war Ma Rainey in den 1920ern eine der größeren Blues Stars und ihre sexuellen Verwicklungen mit Frauen waren dem Publikum bekannt. Die Werbung für ihren Song »Prove It on Me Blues« zeigte eine Zeichnung von Rainey, auf der sie in einer Straßenecke mit einem Männerhut, -jacke und einer Krawatte versuchte, zwei Frauen zu verführen.18 Ähnlich verlief es bei den Männern. Auch Elvis Presley legte in »Jailhouse Rock« (1957) auf der Bühne einen sexy Tanz an der Stange hin. Sein legendärer Hüftschwung offenbarte seine weibliche Seite, die ihm sogar von Männern Komplimente einbrachte.19 In der Hochblüte der Rockabilly-Ära (Rock’n’Roll mit Country Einfluss) wurde diese Art der amerikanischen Maskulinität von Nick Tosches folgendermaßen beschrieben: »the face of Dionysos, full of febrile sexuality and senselessness« und er fügte noch hinzu, dass diese vehementen Gefühle die Frauen erregen und die Teenager-Buben sich selbst als »Flaming Creatures« neu erfanden20, wobei sich die »flammenden Kreaturen« auf den Titel eines Subkultur-Films (1963) von Jack Smith beziehen, ein Lobgesang auf omnisexuelles Verhalten, das laut David Sanjek »underscores the degree to which infatuation with Elvis not only crossed all gender boundaries but also fused if not confused those parameters.«21 Janis Joplins Bisexualität und das Hervorkehren ihrer sowohl männlichen als auch weiblichen Seiten werden zwar immer wieder erwähnt, aber, was ihre Sexualität betrifft, zumindest nicht weiter erläutert.22 Die wohl bekannteste Epoche der Rock- und Popmusik, was die Geschlechterparodie betrifft, ist der Glamrock, obwohl Anzeichen von Glam bereits bei Elvis Presley gefunden werden können, wie zum Beispiel seine goldverzierten Anzüge oder sein Make-up.23 Auch Little Richard war ein schillernder Vertreter der Rockmusik. Glamour stellte aber schon immer einen wichtigen Bestandteil des Rock- und Showbusiness dar. Hatten nicht auch die Beatles mit ihren Pilzköpfen etwas zur Verweiblichung der Männer beigetragen?
18 Vgl. Jeffrey Callen, Gender Crossings, a.a.O., S. 190. 19 Vgl. Sheila Whiteley »Popular Music and the Dynamics of Desire« in: Sheila Whiteley, Queering the Popular Pitch, a.a.O., S. 249. 20 Vgl. Nick Tosches »The Illustrated History of Country Music« Patrick Carr (Hg.) New York, 1980, S. 230. Zitiert in David Sanjek »The Wild, Wild Women of Rockabilly« in: Sheila Whiteley (Hg.), Sexing the Groove. Popular music and gender, London/New York, 1997, S. 138. 21 David Sanjek, The Wild, Wild Women, a.a.O., S. 138. 22 Vgl. Lucy O’Brien: She Bop II. The Definitive History of Women in Rock, Pop and Soul, London/New York, 2002, S. 104f. 23 Barney Hoskins: Glam Rock. Bowie, Bolan und die Glitter-Rock-Revolution, St. Andrä-Wördern, 1999.
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»Für eine kurze Zeit verkündete die Pop-Kultur, dass Identität und Geschlecht keine unveränderlichen Dinge sind, sondern fließend und austauschbar.«24 Der Glamrock stellte seine Verweichlichung und Androgynität, genauso wie die sexuelle Revolution, offen zur Schau, »Als Marc Bolan bei sei seinem »Top Of The Pops«-Auftritt Glitzer unter den Augen trug, als Bowie Oralverkehr mit Mick Ronsons Gitarre andeutete und das Androgyne zum Bisexuellen wurde, war dies ganz klar gegen die ausgeprägte Moralität der Jugendkultur in den 60ern [...] gerichtet [...].«25 Susan Sontag betonte in ihren »Notes on Camp« die Wichtigkeit und Schönheit der Androgynität. Näheres dazu findet sich in meinem Kapitel über Camp, denn Camp, Glitter und Glam sind einander sehr ähnlich. Marc Bolan, T.Rex und David Bowie standen am Anfang des Glamrocks, dann stellte sich über David Bowie eine Verbindung zu den »Factory«Künstler_Innen rund um Andy Warhol her. Eine Verbindung zwischen London und New York entstand. David Bowie war von den Velvet Underground MusikerInnen beeindruckt, besonders von Lou Reed und er lernte auch noch Iggy Pop, der sich zwar auch mit Glitter bedeckte, aber eher die punkige Variante des Glamrocks darstellte, kennen. Der Glitter war eine subversive Ausdrucksform, die mit Drag Queen und Transvestiten und somit mit Homosexualität im Zusammenhang stand.26 Ausläufer des Glamrocks gab es in den 80er Jahren bei Adam Ant, Culture Club (Boy George), Annie Lennox, Grace Jones und Marc Almond. Auch Heavy Metal hatte seine Glam-Metal Seite, die mit Alice Cooper anfing, und Bands, wie z. B. Poison und Hanoi Rocks setzten auf das weibliche Outfit ihrer männlichen Bandmitglieder. Es war zwar nicht mit Glitter verbunden, dafür trugen sie aber Lippenstift, Eyeliner und langes, oft dauergewelltes und gefärbtes Haar. Sogar Guns N’Roses benutzten weibliche Verschönerungsmittel. (In diesem Kontext ist auch die doppelte Geschlechterparodie von den Kingz of Berlin interessant, wenn sie als Drag Kings die Auftritte dieser Jungs im Mädchengehabe imitieren und dabei beobachtet werden kann, welchen Spaß sie daran haben, sich wie Männer aufzuführen, die denken, dass Frauen sich normal so bewegen und kleiden.) Sogar in den 1990ern, der Zeit des Alternative Rocks und des Grunges, trugen Kurt Cobain, Evan Dando und Janes Addiction Frauenkleider. Die Phase des Brit-Pops brachte z. B. in Songs von Suede, Blur und Placebo Erinnerungen an David Bowies Glam-Zeit hervor. Auch Filme wie »Velvet Goldmine« von Todd Haynes oder »Hedwig And The Angry Inch«(2001) von John Cameron Mitchell trugen zum Revival des Glamrocks bis in das jetzige Jahrzehnt bei. Ich will auf diesen letzteren Musikfilm, und ursprünglich ein Off-Broadway Theaterstück, noch näher 24 Todd Haynes »Vorwort« in: Barney Hoskins, Glam Rock, S. 10. 25 Ebd. S. 11. 26 Vgl. Barney Hoskins, Glam Rock, S. 34-40.
18 | QUEERE TRACKS
eingehen. In dem Film geht es um eine Transsexuelle (von Mann zu Frau), die sich in der damaligen DDR in einen GI-Soldaten verliebte und ihn als Frau heiraten musste, um so mit seinem/ihrem Mann in der USA leben zu können. Leider verlief die Operation nicht wie gewünscht, ein »angry inch« blieb als Erinnerung zurück. Hedwig wurde bald von ihrem Mann verlassen und als Babysitterin verliebte sie sich in einen Jungen, mit dem sie ihre selbst kreierten Songs übte. Bald darauf machte der Junge Karriere mit ihren Liedern, wohingegen sie mit ihrer Punkband nur schlecht über die Runden kam. Ein nicht weiteres auffälliges Detail der Verfilmung des Stücks ist, dass einige der jungen Burschen der Band Hedwigs und auch ihr/sein Lover von Frauen gespielt wurden, die ihre Drag-King Rolle so gut darstellten, dass es auf den ersten Blick nicht auffiel. Den Text eines der Lieder, das im Film mit Zeichentrickbildern hinterlegt wurde, will ich nun näher analysieren, da er mir gut als einführendes Beispiel für queere Geschlechter in der Rock- und Popmusik dient:
»Origin of Love« »When the earth was still flat, And the clouds made of fire, And mountains stretched up to the sky, Sometimes higher, Folks roamed the earth Like big rolling kegs. They had two sets of arms. They had two sets of legs. They had two faces peering Out of one giant head So they could watch all around them As they talked; while they read. And they never knew nothing of love. It was before the origin of love. The origin of love And there were three sexes then, One that looked like two men Glued up back to back, Called the children of the sun. And similar in shape and girth Were the children of the earth. They looked like two girls Rolled up in one. Of a knife.
And the children of the moon Were like a fork shoved on a spoon. They were part sun, part earth Part daughter, part son. The origin of love Now the gods grew quite scared Of our strength and defiance And Thor said, »I'm gonna kill them all With my hammer, Like I killed the giants.« And Zeus said, »No, You better let me Use my lightening, like scissors, Like I cut the legs off the whales And dinosaurs into lizards.« Then he grabbed up some bolts And he let out a laugh, Said, »I'll split them right down the middle. Gonna cut them right up in half.« And then storm clouds gathered above Into great balls of fire And then fire shot down From the sky in bolts Like shining blades
INTRO: EINLEITUNG | 19
And it ripped Right through the flesh Of the children of the sun And the moon And the earth. And some Indian god Sewed the wound up into a hole, Pulled it round to our belly To remind us of the price we pay. And Osiris and the gods of the Nile Gathered up a big storm To blow a hurricane, To scatter us away, In a flood of wind and rain, And a sea of tidal waves, To wash us all away, And if we don't behave They'll cut us down again And we'll be hopping round on one foot And looking through one eye. Last time I saw you We had just split in two. You were looking at me. I was looking at you. You had a way so familiar, But I could not recognize, Cause you had blood on your face;
I had blood in my eyes. But I could swear by your expression That the pain down in your soul Was the same as the one down in mine. That's the pain, Cuts a straight line Down through the heart; We called it love. So we wrapped our arms around each other, Trying to shove ourselves back together. We were making love, Making love. It was a cold dark evening, Such a long time ago, When by the mighty hand of Jove, It was the sad story How we became Lonely two-legged creatures, It's the story of The origin of love. That's the origin of love«
(Der Filmausschnitt dazu ist auch zu sehen unter: http://de.youtube.com/ watch?v=F7R9S-ckJSk vom 01. 03. 2008.)
Dieses Gleichnis ist dem Gastmahl, auch Symposium genannt, von Platon entnommen, in dem Aristophanes seine Meinung zum Eros und zur Liebe äußert: »Ehedem nämlich war unsere Natur nicht die nämliche wie jetzt, sondern andersartig. Zunächst gab es damals drei Geschlechter von Menschen, nicht nur zwei wie jetzt, männlich oder weiblich, sondern ihnen gesellte sich noch ein drittes hinzu, eine Verschmelzung jener beiden, von dem jetzt nur noch der Name übrig ist, es selbst ist verschwunden. Es gab nämlich damals ein mannweibliches Geschlecht nicht bloß dem Namen nach, sondern auch als wirkliches Naturgebilde, aus beiden, dem männlichen und weiblichen zusammengesetzt, [...]«27
27 Platon »Das Gastmahl« in: K. Hildebrandt, C. Ritter u. G. Schneider (Hg.), Platon Sämtliche Dialoge, Bd. III. Hamburg, 1988. 189c. 14. Kapitel, S. 26.
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Hier spricht Aristophanes von drei Geschlechtern, dem männlichen, dem weiblichen und dem androgynen. Mithilfe dieser drei Figuren will er den Eros oder das Verlangen nach einer zweiten Person, also keine höhere Bestimmung des Menschen zueinander, sondern die »irdische Seite seines natürlichen Paarungsbedürfnisses«28 erklären. Wie nun die sexuelle Beschaffenheit der drei Geschlechter aussieht, erklärt Aristophanes folgendermaßen: »So gab es denn der Geschlechter drei und von dieser Beschaffenheit; und das aus dem Grunde, weil das männliche ursprünglich von der Sonne stammte, das weibliche von der Erde und das aus beiden gemischte vom Mond; denn dieser hat teil an beiden, an Erde und Sonne. So waren sie denn, sie selbst wie auch ihr Gang kreisförmig, weil sie ihren Eltern ähnlich waren. Sie waren demnach von gewaltiger Kraft und Stärke und von hohem Selbstgefühl, ja sie wagten sich sogar an die Götter heran, [...]: sie machten sich daran, sich den Weg zum Himmel 29 zu bahnen, um den Göttern zu Leibe zu gehen.«
Wie auch im Song »Origin of Love« erzählt, beschlossen die erzürnten Götter, sie zu bestrafen, indem Zeus sie in zwei Hälften schnitt. Was im Lied jedoch nicht mehr erwähnt wird ist, dass Zeus auch die Gesichter zur Schnittseite hin umdreht, damit sie diesen Schnitt besser wahrnehmen und folgsamer werden. Apollo zog die Haut über die Schnittseite zusammen, band sie auf der Mitte des Bauches zusammen, wo jetzt der Nabel liegt, und ließ so die Wunde verheilen. Mit dieser Konstruktion ergab sich aber ein weiteres Problem, wie Aristophanes schildert: »Als nun so ihre ursprüngliche Gestalt in zwei Teile gespalten war, ward jede Hälfte von Sehnsucht zur Vereinigung mit der anderen getrieben: sie schlangen die Arme umeinander und schmiegten sich zusammen, voll Begierde zusammenzuwachsen. So starben sie vor Hunger und sonstiger Erschlaffung infolge ihrer 30 Unlust irgend etwas getrennt voneinander zu tun; [...] «
Nun erklärt Aristophanes, wie es zu den verschiedenen sexuellen Orientierungen kam: »Jeder von uns ist daher nur das Halbstück eines Menschen, weil wir gespalten, wie die Schollen, aus einem zwei geworden sind. Jeder sucht demnach beständig das ihm entsprechende Gegenstück. Alle Männer also, die ein Halbteil jener Gemeinschaft sind, die damals Mannweib genannt ward, sind in die Weiber verliebt, und zu dieser Gattung gehören die meisten Ehebrecher sowie andererseits alle Weiber dieser Gattung angehören, die in die Männer verliebt und mit ehe28 Otto Apelt »Inhaltsübersicht« zu Platon »Das Gastmahl« in: Platon Sämtliche Dialoge, S. XXVIII. 29 Ebd. S. 27. 30 Ebd. 191a, S. 28.
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brecherischen Gelüsten erfüllt sind. Alle Weiber dagegen, die Halbteile von ursprünglichen Weibern sind, wollen mit Männern überhaupt nichts zu schaffen haben, richten vielmehr ihren Sinn auf die Weiber, und dieses Geschlechtes Vertreterinnen sind die Tribaden. Alle Männer endlich, die Teilstücke eines ursprünglichen Mannes sind, gehen dem Männlichen nach; und solange sie noch Knaben sind, lieben sie als Schnittstücke der männlichen Gattung die Männer und kennen keine größere Freude als mit ihnen zusammen zu liegen und sich von ihnen umarmen zu lassen, und es sind dies die besten unter den Knaben und Jünglingen, weil sie die mannhaftesten von Natur sind.«31
Laut Gudrun Perko hat Platon hier eine hierarchische Qualifizierung der Liebe vorgenommen: erstens die männlichen Homosexuellen, zweitens die weibliche Homosexualität und Heterosexualität und drittens die Androgynen. Platon weist Kritiken zur ersteren Kategorisierung (wie die Knaben, die Männer lieben, seien schamhaft) zurück und verstärkt die positiven Seiten, wie, dass diese Knaben sich in der Polis betätigen werden, wenn sie erwachsen geworden sind und sich »als brauchbar für die Staatsleitung erweisen«32. Die Natur bestimmt die männliche Homosexualität und den Wunsch dieser Männer ehelos zu bleiben. Die zweite Kategorie ist in der Übersetzung des Textes von Platon, die ich benutze, nicht mehr so eindeutig denn dort heißt es, dass diese Frauen »mit Männern überhaupt [Hvh. D. L.] nichts zu schaffen« haben wollen, »richten vielmehr [Hvh. D. L.] ihren Sinn auf die Weiber« (Siehe Zitat oben). In der Übersetzung, die Gudrun Perko benutzt, wird diese Aussage noch weniger eindeutig, denn diese Frauen richten »den Sinn nicht sehr [Hvh. G. P.] auf Männer, sondern halten sich mehr [Hvh. G. P.] an die Frauen«. Perko schließt daraus, dass sich das Begehren der Frauen zwar in unterschiedlichem Ausmaß jedoch auf Männer und Frauen richtet.33 »Unlogisch zwar in der Logik des Begehrens nach dem je eigenen Ursprung, doch nicht unvorstellbar ist, dass die gänzliche Loslösung der Frauen von den Männern und die gänzliche Loslösung der Frauen von der Reproduktion für Platon nicht denkbar waren. Von diesen Frauen stammen nach Platon die Tribaden (Lesbierinnen) und die Buhlerinnen, wie es in anderen Übersetzungen heißt. Diese Frauen bleiben bei Platon mehrfach bedeutend: als Lesbierin, als Heterosexuelle oder – und damit führt Platon eine völlig neue Form ein, ohne diese als solche zu benennen – als Bisexuelle. Bei ihm ist allerdings nicht explizit von einem bisexuellen Eros die Rede; dieser bleibt vielmehr in seinen Werken begrifflich an Homo- oder Heterosexualität gebunden. Was diese Frauen in ihrer Mehrfachform aus ihrem Eros beziehen – ob »Sättigung und Beruhigung« – ,
31 Ebd. 191d-192a. 16. Kapitel, S. 29. 32 Ebd. 192b, S. 30. 33 Gudrun Perko: Queer Theorien. Ethische, politische und logische Dimensionen plural-queeren Denkens, Köln, 2005, S. 137.
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findet keine Erwähnung. Im Bereich des Politischen sind sie Platon zufolge nicht 34 relevant, insofern sie nicht mehr erwähnt werden.«
Die dritte Kategorie der Androgynen, der gemischt-geschlechtlichen Kugelwesen, und nach dem Schnitt von Zeus, die Heterosexuellen, haben bei Platon keine politische Bedeutung und deren zentrale Funktion ist die Reproduktion.35 Perko betont, dass ihr Begriff von »queer« eine plurale Version der Vielheit und Vielfalt verschiedener menschlicher Existenzformen ist, welche weitaus komplexer und mannigfaltiger sind, als bei Platon dargestellt.36 Sie sieht diesen Begriff in Abgrenzung von weiteren Auslegungen von »queer«37, die erste Variante nennt sie: (feministisch)-lesbisch-schwulqueer: hier fungiert queer als Synonym für lesbisch und schwul. Die zweite ist lesbisch-schwul-bi-transgender: die Erweiterung der ersten Variante um bisexuell und transgender. Die dritte, von ihr bevorzugte Variante, wie bereits weiter oben erwähnt, ist die plural-queere, »in der die größtmögliche Vielfalt von menschlichen Seinsweisen und Lebensformen (transgender Mann, transgender Frau, Intersexe, Drag Kings und Drag Queens, Camp, Cyborg, Tommboyfemme, lesbisch, schwul u.v.m.) unter dem politischstrategisch verwendeten Oberbegriff Queer gefasst wird.«38 Ich schließe mich hier ganz Perkos dritter Interpretationsmöglichkeit des Begriffes »queer« an und will meine Verwendung dieses Wortes auch so verstanden wissen. Perko fasst die Queer-Theorie folgendermaßen zusammen: »Ihre Kernaussagen – wie das Sein-Lassen pluraler und plurisexueller Lebensweisen, die Möglichkeit der Selbstdefinition, die Eröffnung vielfältiger Räume, die Anerkennung von Ambiguität und Pluralität etc. – richten sich gegen ein Denken in dichotomen Binaritäten und zielen so auf eine veränderte Denkweise ab: Grenzen werden durchbrochen, hierarchisierende Kategorisierungen, eindeutige Identitätsmodelle und Identitätspolitiken, die bestimmte Menschen ausgrenzen, marginalisieren und diskriminieren, und für einen demokratischen Gesellschaftsentwurf ein, der sich für die gegenseitige Anerkennung und für Pluralität ausspricht.«39
Diese Pluralität schließt auch die »Hautfarbe, kulturelle Herkunft, Kultur, Ability, Sex, Gender, Begehren und vieles mehr« ein, wie Perko eine Seite später erklärt. 34 35 36 37
Ebd. S. 138. Vgl. ebd. S. 139. Vgl. ebd. Queer als »umbrella-term« schließt verschiedene Felder ein und wurde auch kritisiert, da er angeblich Lesben und Schwule versteckt und unsichtbar macht, weil durch »queer« das Lesbisch/Schwulsein als solches nicht benannt wird. 38 Gudrun Perko, Queer Theorien, a.a.O., S. 8. 39 Ebd.
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Eine musikalische Bewegung aus der Populärkultur vereint diese queeren Versionen mit einem feministischen Anspruch – die Riot Grrrls oder auch Queer-Punk-Frauenbands. In meinen Musikbeispielen werden alle drei Versionen des Queer-Begriffs zu finden sein und was den Zeitraum betrifft, beginnt dieser mit den 1980ern und reicht bis in die Gegenwart. Der Grund für diesen Zeitrahmen ist wohl meine persönliche Wahrnehmung und mein Heranwachsen im Kontakt mit der Populärkultur. Wie Rosa Reitsamer erklärt, beginnt in den 1980ern (als der Punk schon vorbei war) ein neuer androgyner Frauentyp, auch afroamerikanische Musikerinnen, mit feministischen Kritiken, die internationale Musikindustrie, die Charts und die Herzen der Frauen/Lesben zu erobern (z. B. k.d. lang, Tracy Chapman und Melissa Etheridge). Sie wählen den Weg durch die kommerzielle Musikindustrie und nicht die Struktur des »women only« -Vertriebs.40 »Verstärkt durch das Coming-Out von k.d. lang und Melissa Etheridge wird die bis dahin im lesbischen Feminismus verortete Identität der Butch-Lesbe in den Mainstream übergeführt. Die lesbisch-schwulen Communities zelebrieren die Musikerinnen und die Majors, die sie unter Vertrag haben, zählen eifrig die Gewinne aus den millionenfachen Tonträgerverkäufen. Ihre Mainstream-Präsenz steht im Kontext mit den verstärkt in den öffentlichen Diskurs eingebetteten Diskussionen um die Forderungen nach Gleichberechtigung von homosexuellen Paaren einerseits und der Debatte um AIDS als vermeintliche »Schwulenkrankheit« andererseits.«41
Reitsamer gibt hier ein Beispiel, jenseits des Mainstreams, der selbst ernannten Königinnen aus der Schweiz an: Les Reines Prochaines: »I wanna be a butch42, I wanna be a butch just a butch cause butches are strong I wanna be a butch, I wanna be a butch cause butches are strong and sensitive butches are sexy and wonderful, powerful brave and queer and straight, nice and hot«43 Les Reines Prochaines »I Wanna Be A Butch« (1999) 40 Vgl. Rosa Reitsamer »Provokation, Poetik und Politik. Fragmente einer feministisch-lesbisch-queeren Rock- und Popgeschichte.« http://translate.eip cp.net/transversal/0307/reitsamer/de vom 06.03.2008. 41 Ebd. 42 Gudrun Perko führt einige Begriffe der queeren Terminologie in ihrem Buch »Queer Theorien« von Seite 22 bis 25 an. Unter »Butch« schreibt sie »(e)ine Butch begreift sich nicht als Lesbe, sondern bezeichnet sich als weiblich Geborene, die sich als maskulin ansieht. Manche Butches verstehen sich zudem als Lesbe, manche als besonders »männlich« wirkende Lesbe[...].« (Hervorhebung im Original). S. 22. 43 Rosa Reitsamer, Provokation, Poetik und Politik, a.a.O.
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Mit diesem Lied zeigen sie, wie Rosa Reitsamer analysiert, dass das Geschlecht durch Parodie, Täuschung und sarkastische Gesten zu einem performativen Akt wird. Auch eine Wiener Band, SV Damenkraft, die elektronische Musik produziert, zeigt in ihren Texten und Performances diese Strategie und ihre Liebe zu Foucault. »tom boy, faggot dyke, drag queen high femme, low femmy, nelly queer boy bi femme, femme top, femme bottom trans boy, lesbian, m2f, bi dyke and dykes bi woman, transwomen? riot girls? gay femme, gay mom, androgs queer women, gay girls womanist, dykes on bikes, leather dykes baby dykes, arty dykes, fashion dykes rock dykes, goddesses, ploy girls amazones and rural dykes hippy chicks, lipstick lesbian, lesbian avengers all dykes and YOU, all dykes and YOU 44 fancy girls with pearls will sleep together tonight« SV Damenkraft »all dykes and you« (2004)
Bei SV Damenkraft geht es nicht um die Unterdrückung der Frauen oder Lesben, sondern um Sexualität, Macht und Begehren, wie Reitsamer schreibt und sie beschreibt diese Variante von »queer« als die erste, also die (feministisch)-lesbisch-schwul-queere, von Gudrun Perko, weil es sich auf das Lesbisch/Schwule bezieht und nicht auf ausschließende Identitätspolitiken.45 Wie ich selbst bei einem ihrer Auftritte sah, trägt ihre Performance einiges zur Interpretation ihrer Lieder bei. Einer ihrer Songs beschäftigt sich mit Foucault und sein Name wird im Text oft erwähnt. Zum Ende des Liedes wird ein Geschlechtsakt simuliert, in dem ein eher weiblich aussehendes Bandmitglied eindeutig die Position des Mannes einnimmt und die männlich wirkende Sängerin die weibliche Stellung darstellt. Durch den Geschlechtertausch oder die Parodie wird die Machtposition durcheinander gebracht.
» G e n d e r c o p yl e f t « Der theoretische Bogen, der sich über meine Dissertation spannt, ist, wie bereits in dem vorherigen Beispiel gezeigt wird, die Theorie von Judith Butler, laut der es kein Geschlechteroriginal gibt. Durch Kopien oder Geschlechterparodien wird dieses Faktum zu Tage gebracht. Das Gender44 Ebd. 45 Vgl. ebd.
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»copyleft« sagt, es existiert kein richtiges/rechtes Gender, das kopiert wird, weshalb die Geschlechter beliebig manipulierbar und veränderbar sind und auf verschiedene Arten und Weisen neu erzeugt werden können. Die Geschlechter, die präsentiert werden, basieren auf einem falschen oder erfundenen Original. Näheres dazu schreibe ich in meinem Kapitel über die Geschlechterparodie. Ausgehend von dieser zentralen Aussage, begann ich Strategien zu suchen, die diese Theorie verwenden, oder zumindest Teile davon ansatzweise beinhalten. So kam ich auf Strategien, wie Ironie, Parodie, Camp, Maske/Masquerade, Mimesis/Mimikry, wobei in der zuletzt erwähnten Strategie schon neuere technologische Errungenschaften zum Tragen kommen, die für die folgenden Strategien entscheidend sind: Cyborg, Transsexualität und Dildo. Weiters interessiert mich an diesen Strategien, warum sie in einem queeren Sinne subversiv sind, oder wo, an/ab welchem Punkt, die Subversion einsetzt.
Methoden Die Methoden, die ich dabei verwende, sind, wie Judith Halberstam bereits in ihrem Buch »Female Masculinity« erwähnt, aus einer »queeren Methodologie«46 kommend, nämlich eine Kombination aus verschiedenen Methoden mit interdisziplinärer Anwendung: Textanalyse, Videoanalyse, Bildinterpretation, usw.: »A queer methodology, in a way, is a scavenger methodology that uses different methods to collect and produce information on subjects who have been deliberately or accidentally excluded from traditional studies of human behavior. The queer methodology attempts to combine methods that are often cast as being at odds with each other, and it refuses the academic compulsion toward disciplinary coherence.«47
Meine Methoden48 setzen sich aus mehreren Feldern, unter anderem aus der Queer Theory und den Cultural Studies sowie einer begriffsgeschichtlichen Analyse am Anfang jedes Kapitels, zusammen. Basierend auf einem konstruktivistischen Geschlechtsbegriff, lauten meine genauen Fragestellungen daher: Welche feministisch-queeren Strategien werden in der Rock- und Popmusik verwendet? Wie funktionieren sie? Wo (in welchen Beispielen) kommen sie vor? Die methodische Vorgehensweise ist, aus der Queer-Theorie jene subversiven Strategien herauszufiltern, die auch in der Rock- und Popmusik 46 Judith Halberstam, Female Masculinity, Durham (US), 2004, S. 9. 47 Ebd. S. 13. 48 Für mich persönlich sind Methoden negativ konnotiert, weil ich sie als einengendes Mieder empfinde, aber ich bemühe mich und versuche sie eher als ein stützendes Korsett für mein Unterfangen zu sehen.
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verwendet werden (wobei bei der Analyse der populären Musik, die literarischen, musikalischen und visuellen Komponenten wichtig sind). Die auf diese Art gefundene Strategie wird begriffshistorisch (was eine genaue Definition und Abgrenzung ermöglicht) erklärt und auf dieser Basis werde ich pro Strategiekapitel auch eine theoretische, philosophische Analyse bezüglich auf Erscheinungsformen im Feminismus und/oder der Queer Theory stellen, wobei ich versuche, möglichst nahe am Originaltext (mithilfe von Zitaten und abstrahieren der Texte) zu bleiben, da gleiche Begriffe von verschiedenen Autor_Innen häufig anders verwendet und definiert werden. In diesem Teil kristallisiere ich die subversiven Eigenschaften hinsichtlich auf die Hegemonie der Heteronormativität und des Zweigeschlechtersystems der Strategie heraus, die für die Analyse (die literarisch, musikalisch oder visuell sein kann) der Beispiele aus der Rock- und Popmusik ausschlaggebend sind. Die konkreten Beispiele dienen zur Veranschaulichung und besseren Beurteilung der Strategie. Meine Dissertation soll neue Erkenntnisse dahin gehend bringen, dass diese queeren Strategien in der Rock- und Popmusik aufgezeigt, definiert und analysiert werden, wobei ein Teil der Analyse auch mit einschließt, inwieweit diese Strategien in den Beispielen subversiv sind - im Hinblick auf eine queere Untergrabung des heterosexuellen und binären Geschlechtersystems. Mit diesem Versprechen lasse ich das Intro/die Einleitung ausklingen und versuche die Brücke zu jenem spannenden Teil zu schlagen, der uns zeigen wird, ob meine aufgeworfenen Fragen zufriedenstellend beantwortet werden.
T R AC K 01: I R O N I E – » T H E C U T T I N G E D G E «
Ich beginne mit der Klärung des Begriffs der Ironie, weil er für andere Strategien, wie z. B. die Parodie zur Unterwanderung der Geschlechternormen von zentraler Bedeutung ist. Die Ironie gilt als Voraussetzung für die Parodie, da sie ein grundlegendes Element liefert, das in der Parodie weiterverwendet wird. Die Merkmale der Ironie befinden sich auf einer semantischen Ebene, die in der Parodie auf eine textuelle oder performative Ebene ausgeweitet werden. Linda Hutcheon betont in ihren Werken zur Ironie und Parodie, dass diese und ähnliche Termini, wie Satire, Pastiche und Persiflage eng miteinander verknüpft sind, weil diese, wie zum Beispiel die Ironie und die Parodie, ineinander greifen. Weiters ist es diesen Figuren häufig eigentümlich nicht eindeutig zu sein, da sie auch historischen Umformungen unterlagen. Ungeachtet dessen wage ich es, mich durch das Dickicht dieses teilweise rhetorischen bis künstlerischen »Tropenwaldes« zu schlagen und ich möchte einige Anhaltspunkte festlegen, die der einfacheren Orientierung dienen.
Historisches, Definition, Erkennung Die Verwendung der Ironie reicht weit zurück und ist, wie uns das Historische Wörterbuch der Rhetorik zeigt, in weit gestreuten Gebieten zu finden. So finden sich ironische Elemente unter anderem in philosophischen Argumentationsweisen bei Sokrates, in Redefiguren der Rhetorik bei Cicero und Quintilian, als literarische Ausdruckform bei Cervantes und Thomas Mann, als kritische Mitteilungsformen in Theorie und Philosophie bei Schlegel und Kierkegaard sowie als dekonstruktive Elemente der Sprache bei Derrida und Paul de Man. Für all diese Anwendungsmöglichkeiten gilt folgende Definition: »dass durch die Ironie das Gegenteil des Gemeinten
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geäußert« wird, »dass man das Gegenteil von dem zu verstehen gibt, was man sagt.«1 Veranschaulichungen und Erklärungen zu den oben erwähnten Beispielen verdeutlichen die Reichweite und Bandbreite der Ironie. So erwähnt beispielsweise Platon Sokrates in seiner ironischen Funktion, welche die Haltung des prätendierten Nichtwissens ist. Am deutlichsten kommt dies im Gastmahl zur Geltung, wo Platon Sokrates schildert, wie er mit seiner Ironie leibt und lebt. In einer Lobrede vergleicht Alkibiades Sokrates mit den Silenen, die Gehäuse für kleine kostbare Götterbilder sind und einen Widerspruch zwischen außen und innen darstellen. »Anscheinend ist er verliebt in alle schönen Jünglinge, tatsächlich ist es nur der innere Wert, auf den er Gewicht legt.«2 Auch im Staat Platons heißt es über Sokrates: »O Herakles, das ist jetzt wieder die bekannte Ironie des Sokrates! Ich wusste es ja und sagte es diesen Männern auch zum voraus, daß du nicht selbst wirst antworten wollen, sondern dich unwissend stellen und eher alles andere tun als antworten werdest, wenn man dich etwas fragt«3 »[...] damit Sokrates wieder sein gewohntes Spiel treibt: er selbst gibt keine Antwort; wenn aber ein anderer antwortet, dann greift er das auf und widerlegt es.«4
In der Rhetorik sieht Aristoteles die Ironie auch als eine noble Form des Scherzens und konfrontierte die überlegene Haltung der Ironie mit der Possenreißerei. Der Ironiker amüsiert sich selbst und der Possenreißer versucht andere zu belustigen.5 »Was Scherze betrifft: Da sie in Debatten einigen Nutzen zu haben scheinen, soll man, so sagte Gorgias, den Ernst der Gegner durch Gelächter, ihr Gelächter durch Ernst zunichte machen – und er hat recht damit. Wie viele Arten von Scherzen es gibt, von denen einer sich für einen freien Mann schickt, ein anderer wieder nicht, darüber haben wir schon in der Poetik gesprochen. Jeder soll hier wählen, was zu ihm passt! Ironie allerdings entspricht eher einem freien Manne als Possenreißerei, erstere treibt man zur eigenen Erheiterung, letztere zur Belustigung anderer.«6 (Hervorhebung im Original)
1 2
3 4 5 6
Gert Ueding (Hg), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 4, Tübingen, 1998. S. 599f. Platon: Sämtliche Dialoge, Band III, Hamburg, 1988. Inhaltsübersicht zu Platons »Gastmahl« von Otto Apelt S. XXXIII. Und vgl. Platon »Das Gastmahl« 215-220, S. 65-73. Platon: Der Staat, Erstes Buch, 336e 11, München, 1991, S. 30. Ebd. 337c-338a, S. 31 Vgl. Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, a.a.O., S. 602. Aristoteles: Rhetorik, Drittes Buch, 1419b, Stuttgart, 1999, S. 200f.
TRACK 01: IRONIE | 29
Die ursprünglich gering geschätzte Ironie (sie musste sich immer gegen die Lüge abgrenzen) durchläuft einen grundlegenden Bedeutungswandel, der sich zunächst in der »Nikomachischen Ethik« des Aristoteles zeigt, in der er eironeía und alazoneía, Untertreibung und Übertreibung, Bescheidenheit und Prahlerei, als Abweichungskategorien der Wahrheit bespricht, die beide tadelnswert seien, wobei die Ironiker jedoch edler erschienen, da sie nicht wegen ihres Vorteils, sondern aus Abneigung gegen Bombast auf ihre charakteristische Weise sprechen würden.7 Im zweiten Buch der Nikomachischen Ethik schreibt Aristoteles über das rechte Maß der Tugend. »Die Tugend wiederum betrifft die Leidenschaften und Handlungen, bei welchen das Übermaß ein Fehler ist und der Mangel tadelnswert, die Mitte aber genau das Richtige trifft und gelobt wird.«8 Es gibt also drei Verhaltensweisen, zwei Schlechtigkeiten (aus Übermaß und aus Mangel) und die Mitte, wobei alle drei im Gegensatz zu allen stehen. Darum erscheint der Tapfere gegenüber dem Feigling als tollkühn und dem Tollkühnen gegenüber als feige.9 Aristoteles schließt daraus, dass sowohl das Übermaß als auch der Mangel uns dazu verhelfen, das rechte Maß, sprich die Mitte, zu finden: »Soviel ist nun aber gezeigt, daß die mittlere Haltung in allem die lobenswerte ist, daß man aber zuweilen auf das Übermaß, zuweilen auf den Mangel hin abbiegen soll. Denn so werden wir am ehesten die Mitte und das Richtige treffen.«10 Aristoteles sieht die Ironie als Mangel an, da sich der/die Ironiker_In gegenüber dem Eingebildeten erniedrigt und die Tugend in der Mitte liegt.11 »Der Ironische, der sich geringer macht, scheint eine feinere Art zu haben; denn er scheint nicht wegen des Gewinnes so zu sein, sondern um die Anmaßung zu meiden. Am liebsten verleugnet er, was große Ehre macht, wie es auch Sokrates zu tun pflegte. Wer sich aber in kleinen und offenkundigen Dingen verstellt, heißt affektiert und ist eher verächtlich. Zuweilen erscheint gerade dies als Prahlerei, wie etwa das Tragen eines lakonischen Kleides. Denn das Übermaß und der allzu krasse Mangel sind beide prahlerisch. Wer aber die Ironie mit Maß anwendet und in nicht gar zu handgreiflichen und bekannten Dingen, erscheint als liebenswürdig.«12
Die griechische Antike verlassend, so war bei den Römern für Quintilian ein Merkmal der Ironie, dass die Absicht des Redners von dem verschie7
Vgl. Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, a.a.O., S. 601f. 8 Aristoteles: Die Nikomachische Ethik, 1106b 25, München, 1975. 9 Vgl. ebd. 1108b 15-20. 10 Ebd. 1109b 25. 11 Ebd. 1127a 20-25. 12 Ebd. 1127b 25-30.
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den ist, was er wirklich sagt. Wir verstehen das Gegenteil von dem, was in der Rede ausgedrückt ist: »In utroque enim contrarium ei quod dicitur intelligendum est.«13 Die humorvolle Ironie kann sehr unterschiedlich sein und sogar tragische Ausmaße annehmen, wie es beispielsweise im »Ödipus Rex« des Sophokles der Fall ist.14 Eine weitere Form der tragischen Ironie, die bereits in Bitterkeit umschlägt und wie eine herbe Satire klingt, liegt in den Werken von J. Swift vor, wenn er z. B. in seinem »Modest Proposal« im 18. Jh. das Verspeisen von kleinen Kindern empfiehlt, um die Hungersnot in Irland zu lindern.15 Nietzsche hingegen hat den Begriff der Ironie kaum verwendet, dafür aber den klassischen Terminus der »dissimulatio«, den er mit »Maske« übersetzte. Ein wichtiger Aspekt bei ihm besteht darin, dass er die ironische, d.h. vieldeutige Haltung, aus dem bloß literarischen Gebiet auf das gesamte Leben ausweitete.16 Für die/den Rezipientin_/en ist es wichtig, die Ironie zu erkennen, um nicht die Bedeutung einer falschen Interpretation anzunehmen. Die Literaturwissenschaft gibt uns Hinweise darauf, wie die Ironie erkannt oder decodiert werden kann. Damit eine ironische Formulierung auch als solche wahrgenommen wird, ist sie mit Ironiesignalen verknüpft, die »im geäußerten Text selbst liegen (etwa als Stilbruch oder als inhaltlich gedanklicher Widerspruch), sie können aber auch außerhalb des eigentlichen Textes in dessen Performanz liegen (etwa im »ironischen« Tonfall des Sprechenden) oder gar nur aus dem Äußerungszusammenhang zu erschließen sein (etwa wenn eine Aussage so gar nicht zu ihrem Sprecher oder zum Anlass passen will).«17
Funktion der Ironie Wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrend, nämlich der Frage, wie die Ironie als subversive Strategie genützt werden kann, gehen wir näher auf die Funktion der Ironie ein und verfeinern die, dem Historischen Wörterbuch der Rhetorik entnommene, Definition noch einmal. Unter Ironie versteht man laut Margaret A. Rose «a statement of an ambiguous character, which includes a code containing at least two messages, one of which is the concealed message of the ironist to an ‚initiated’ audience, and the
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Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, a.a.O., S. 604. Ebd. S. 603. Ebd. S. 606. Ebd. S. 618f. Uwe Spörl: Basislexikon Literaturwissenschaft, Paderborn, 2004, S. 89f.
TRACK 01: IRONIE | 31
other the more readily perceived but ‚ironically meant’ message of the code.«18 Im Unterschied zu ähnlichen Tropen arbeitet die Ironie meistens mit einem Code, der zwei Nachrichten verbirgt. Die Satire wird meist als nur eine große, einstimmige Nachricht für den Leser beschrieben. Bei der im nächsten Kapitel näher behandelten Parodie wird es schwieriger, denn sie enthält nicht nur mindestens zwei Codes, sondern ist möglicherweise sogar beides, also ironisch und satirisch zugleich, indem das Objekt ihrer Attacke auch ein Teil der Parodie ist und der ihr möglichen ironischen multiplen Nachrichten. Das Objekt der Parodie kann, im Gegensatz zum Objekt der Ironie, genauer als separiertes Ziel definiert werden.19 Zur Veranschaulichung der Überschneidungen dieser drei Strategien der Ironie, der Parodie und der Satire dient uns eine Skizze von Hutcheon, die dabei den Terminus »Ethos« verwendet, der nicht wie bei Aristoteles gebraucht wird, sondern eher dem Konzept des Pathos verwandt ist – also jener Emotion, die die/der encodierende Sprecher_In der/dem decodierenden Zuhörer_In übermitteln will. Unter Ethos versteht Hutcheon die beabsichtigte Antwort, die ein in diesem Fall literarischer Text hervorrufen soll. Die Absicht erfährt die/der Decoder_In über den Text selbst. So überlappt das Ethos manchmal mit dem encodierenden Effekt (so wie er von der/dem Textproduzentin_/en gewünscht und beabsichtigt wird) und mit dem dekodierenden Effekt (der von der/dem Decoder_In erreicht wird) Abbildung 1: Ironie, Parodie, Satire - Ethos
Quelle: Linda Hutcheon: A Theory of Parody. The Teachings of Twentieth-Century Art Forms, New York/London, 1985, S. 55. In Hutcheons Werk »Irony’s Edge« werden zwei rivalisierende Auffassungen von Ironie argumentiert, die ich hier anführen will, um zu verdeutlichen, dass Ironie nicht immer als subversiv anerkannt wird. In der einen Tradition wird die Ironie als essenziell konservativ gesehen, welche die Ernsthaftigkeit, eine Gesellschaft zu transformieren, stört und die ihre Mitglieder mit einer zweitbesten Welt versöhnt. Im Unterschied dazu gibt 18 Margaret A. Rose: Parody: ancient, modern, and post-modern, Cambridge, 1993, S. 84. 19 Vgl. ebd. S. 89.
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es eine alternative Tradition, in der die Ironie als besonders subversiv gesehen wird, nämlich als an der Gewissheit einer sozialen Ordnung rüttelnd und alle letztendlichen Wahrheiten suspendierend. Letztere Art der Ironie besitzt in Hutcheons Worten das »cutting edge«, also eine »schneidende Kante« oder »Schärfe«, die ein Element in zwei Teile (oder eben in zwei Bedeutungen) schneiden oder teilen kann. Die zweite und verstecktere Bedeutung dient im Falle der subversiven Ironie zur Bewertung, d.h. dass sie eine politische Beurteilung beinhaltet. Die subversive Ironie ist also durch ein »cutting edge« gekennzeichnet, das eine politische Schärfe besitzt. Auch Donna Haraway sieht in der Ironie ein geeignetes politisches Mittel: »Irony is about contradictions that do not resolve into larger wholes, even dialectically, about the tension of holding incompatible things together because both or all are necessary and true. Irony is about humour and serious play. It is also a rhetorical strategy and a political method, one I would like to see more honoured within socialist-feminism.«20 Ein vergleichbares Set an Alternativen wurde durch die Reflexion über Parodie charakterisiert. Auf der einen Seite wurde Parodie als konservativ gesehen, da sie dazu benützt wird, um literarische und soziale Erneuerung zu verspotten und die Grenzen des Sagbaren im Interesse von denen zu überwachen, die wünschen, das, was schon immer gesagt wurde, auch weiterhin zu sagen.21 Beide, Ironie und Parodie, verwirren den normalen Kommunikationsprozess, indem mehr als eine Nachricht angeboten wird, die von den Leser_Innen dekodiert werden kann. Diese Verdopplung der Nachrichten kann in jedem der Fälle benützt werden, um die beabsichtigte Meinung der Autor_Innen vor einer sofortigen Interpretation zu verbergen.22 Hutcheon gibt zu, dass sie in ihrem Werk »A Theory of Parody« (1985) nie ganz und nicht einmal zu ihrer Befriedigung herausgefunden hat, wie die Ironie in der Parodie arbeitet. Sie sah das Zusammenspiel der beiden zunächst als Mikrokosmos und Makrokosmos an. Die Ironie war für sie dabei als eine Miniaturversion (semantisch) der parodistischen Verdoppelung (textuell) strukturiert. In ihrem nachfolgendem Buch mit dem Titel »Irony’s edge«(1995) hat sie herausgearbeitet, wie die »ironische Kante«, »Schneide« oder »Schärfe« der Parodie die »kritische« Dimension gibt, indem sie die Differenz im Kern der Ähnlichkeit markiert. Um dies erklären zu können, muss Hutcheon die zwei Funktionen der Ironie, und zwar die pragmatische und die semantische Funktion, ausführlicher behandeln.23 20 Donna Haraway »A Cyborg Manifesto: Science, Technology, and SocialistFeminism in the Late Twentieth Century« in: Simians, Cyborgs, and Women. The Reinvention of Nature, London, 1998, S. 149. 21 Vgl. Simon Dentith: Parody, New York/London, 2000, S. 20. 22 Vgl. Margaret A. Rose, Parody: Ancient, a.a.O., S. 84. 23 Vgl. Linda Hutcheon: Irony's Edge. The Theory and Politics of Irony, New York/London, 1995, S. 4.
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Semantische und pragmatische Funktion der Ironie Laut Hutcheon kann die Ironie auf der semantischen Ebene als die Markierung der Differenz des Sinns oder einfach als Antiphrase definiert werden. Als solche ist sie durch die Überlagerung semantischer Kontexte (was ist gesagt / was wird beabsichtigt) hervorgebracht worden. Es gibt ein Signifikat und zwei Signifikanten, also beispielsweise ein Wort und zwei Bedeutungen. Wie bereits erwähnt, kann die Ironie genauso auf einer mikrokosmischen (semantischen) Ebene operieren, wie die Parodie, die auf Wiederholung oder Nachahmung basiert, auf einer makrokosmischen (textuellen), denn auch die Parodie markiert durch das Mittel der Überlagerung (in einem eher textuellen als semantischen Kontext) eine Differenz. Beide Tropen und Strategien kombinieren Differenz und Synthese, Andersheit und Inkorporation. Aufgrund ihrer strukturellen Ähnlichkeit kann die Parodie die Ironie bevorzugt als einen rhetorischen Mechanismus benützen. 24 Der semantische Kontrast zwischen dem, was gesagt und dem, was gemeint wird, ist nicht die einzige Funktion der Ironie. Ihre andere, bedeutendere Rolle auf einer pragmatischen Ebene wird häufig so behandelt, als wäre sie für die rechtfertigende Diskussion zu offensichtlich: Ironie beurteilt.25 Meiner Meinung nach hat auch die Parodie diese pragmatische Funktion, da sie beurteilt oder verspottet. Die semantische Funktion der Parodie basiert aber auf anderen Gegebenheiten als die der Ironie. Die Ironie fußt auf einem Wort oder einem Zeichen, das zwei verschiedene Bedeutungen annehmen kann. Die Parodie wiederum besteht aus einer Wiederholung oder Nachahmung, die im wiederholenden Akt eine zweite Bedeutung annimmt und die Parodie benützt die Ironie als eine strukturelle Funktion, indem die Ironie durch die Beibehaltung der äußeren ursprünglichen Form (Stil, Struktur, Performanz) vorkommt und dem Inhalt eine andere Bedeutung gibt. Für Hutcheon ist die pragmatische Funktion der Ironie jene der bezeichnenden Bewertung, die meist von abwertender Natur ist. Ihre Verspottung kann, muss aber nicht, die übliche Form von lobenden Ausdrücken annehmen, das gehaltene Lob dazu verwendend, um den Spott und die Beschimpfung zu verstecken. Beide Funktionen, sowohl die semantische Umkehrung als auch die pragmatische Bewertung seien in der griechischen Wurzel »eironeía«, die Dissimilation, Verstellung und Hinterfragung bedeutet, impliziert. Da gibt es beides, den Unterschied und den Kontrast des Sinns und auch eine Frage, eine Beurteilung, die, wie bereits erwähnt, das »cutting edge« mit seiner politischen Schärfe darstellt. Ironie 24 Vgl. Linda Hutcheon: A Theory of Parody. The Teachings of TwentiethCentury Art Forms, New York/London, 1985, S. 54. 25 Vgl. ebd. S. 53.
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funktioniert also in zweierlei Hinsicht, als Antiphrase und als bewertende Strategie, welche die Haltung eines encodierenden Agenten gegenüber dem Text selbst impliziert, eine Haltung, die im Gegenzug die Interpretation und Bewertung des Decoders erlaubt und erfordert.26 Der Grad des ironischen Effekts in einem Text ist indirekt proportional zur Zahl der offensichtlichen Signale, die gebraucht werden, um diesen Effekt zu erzielen. Das Vorhandensein dieser Signale im Text gilt als Voraussetzung, damit die/der Decoder_In den bewertenden Versuch der/des Encoders_In erfährt. Die Ironie geht üblicherweise auf Kosten von jemandem oder etwas. Es läge daher in dieser pragmatischen und nicht in der semantischen Funktion, in der die Anpassung der spottenden Ironie an die Satire stattfindet.27 In einer Skizze stellt Hutcheon die verschiedenen Abstufungen von Ironie auf einer Skala dar. Sie startet unten mit der schwächsten Form der Ironie, die rein verstärkend dekorativ und emphatisch ist. In der Mitte beginnt die kritische Temperatur anzusteigen, bis zu jenen Zonen, in denen die Ironie generell als eine Strategie der Provokation und Polemik angesehen wird und die Unterscheidung zur Satire immer schwerer fällt. Jede Funktionsform28 kann positiv (auf der linken Seite) und negativ (auf der rechten Seite) interpretiert werden. Die unterste Stufe, die verstärkende Funktionsform, wird in Kritiken einerseits als emphatisch, also als zustimmend und andererseits als bloß dekorativ, also ablehnend gesehen, wobei sie relativ wenig an kritischer Schärfe enthält.29 Ich will an dieser Stelle noch die oppositionelle Funktionsform der Ironie hervorheben, auf deren positiver Seite Hutcheon ihre transgressive und subversive Eigenschaften erwähnte und deren negativer Charakter beleidigend und offensiv ist. Auf der Skala ist diese Funktionsform bereits näher zur maximalen affektiven Ladung hin ausgerichtet, was daraufhin deutet, dass das »cutting edge« hier schon eine gewisse politische Schärfe besitzt, die den Inhalt in zwei Richtungen oder Bedeutungen (einerseits transgressiv, subversiv oder beleidigend und offensiv) teilen kann. Ich unterstreiche hier wiederum deutlich, dass für eine subversive Ironie die eindeutige Erkennbarkeit des »cutting edge« mit einer politischen Schärfe vorhanden sein muss und mit eindeutiger Erkennbarkeit, meine ich, dass, obwohl die semantischen Ebene der Ironie zwei Bedeutungen haben kann, die pragmatische Funktion mit der politischen Nachricht trotz aller möglichen Verluste, das heißt, dass durch diese Eindeutigkeit von/m Sender_In in Kauf genommen wird, dass diese ironische Aussage von/m 26 Vgl. ebd. 27 Vgl. ebd. S. 55. 28 Hutcheon bezeichnet sie nur als Funktionen, ich möchte sie aber als Funktionsformen benennen, um sie besser von den zwei (semantischen, pragmatischen) Funktionen der Ironie, die auf verschiedenen Ebenen arbeiten, unterscheiden zu können. 29 Vgl. Linda Hutcheon, Irony's Edge, a.a.O., S. 46ff.
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Empfänger_In auch als offensiv und beleidigend gesehen wird, überwiegen und klar hervortreten muss. Abbildung 2: Funktionen der Ironie
Quelle: Linda Hutcheon, Irony’s Edge, a.a.O., S. 47.
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Hinsichtlich der semantischen und pragmatischen Funktionen der Ironie sei abschließend gesagt, dass in diesen zwei verschiedenen, wenn auch sich offensichtlich ergänzenden, Funktionen der Ironie, der Grund zur terminologischen Konfusion zwischen Parodie und Satire liegt. Beide benutzen die Ironie zwar, jedoch mit Mitteln unterschiedlicher Verbundenheit (die eine strukturell, die andere pragmatisch). Das macht die Ironie zur essentiellen Wichtigkeit, um zwischen den zwei Strategien zu unterscheiden. Aber, so Hutcheon, müssen wir mehr tun als nur die formalen Parallelen zwischen Ironie und Parodie herauszustreichen, wenn wir die Komplexität der Implikationen dieser Verwechslung verstehen wollen. Wir müssen die praktischen Effekte der encodierten und in weiterer Folge decodierten Nachricht berücksichtigen.30
Das Ethos der Ironie Hutcheon behauptet, dass die Ironie ein Ethos besitzt, nämlich ein verspottendes. Es ist im linguistischen Sinne des Terminus »markiert« und auf eine definitive Art und Weise kodiert: nämlich als abwertend. Ohne dieses spottende Ethos würde die Ironie aufhören zu existieren, da der pragmatische Kontext (kodiert und dekodiert) das ist, was die Wahrnehmung der Distanz oder des Kontrasts zwischen den semantischen Kontexten bestimmt. Dieses Ethos beinhaltet in sich eine große Skala vom leichtherzigen Gekichere, bis zur kumulativen ironischen Bitterkeit des wiederholten Refrains »Brutus ist ein ehrenwerter Mann« in Julius Caesar.31 Hutcheon modifiziert die einfache erste Skizze, indem sie das Ethos der Ironie, der Parodie und der Satire näher bestimmt: Abbildung 3: Mocking Ethos
Quelle: Linda Hutcheon, A Theory of Parody, a.a.O., S. 63. 30 Vgl. Linda Hutcheon, A Theory of Parody, a.a.O., S. 55. 31 Vgl. ebd.
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Falls es einen Moment gibt, in dem alle drei Kreise total überlappen, würden beide Strategien, also Parodie und Satire, involviert sein und die ironische Trope in ihrer stärksten Form benützen. Dies wäre der Moment der potentiellen maximalen Subversion, sowohl in ästhetischen als auch in sozialen Begriffen. Gleichzeitig wäre es auch der Moment der höchsten pragmatischen Feststellung. Als Beispiel nennt Hutcheon dabei das bereits erwähnte Werk von Swift »A Modest Proposal«.32 Hutcheon hat das Untrennbare getrennt, indem sie künstlich eine Serie von Elementen für die Diskussion, die in der Praxis zusammenspielen, isolierte, damit die Ironie mit ihrer kritischen Schärfe entstehen kann: ihre semantische Komplexität, die »diskursiven communities«, durch die Ironie erst ermöglicht wird, die Rolle der Intention und Hinzufügung der Ironie sowie ihre kontextuellen Rahmen und Markierungen.33 In ihrem Werk versucht sie zu verstehen zu geben, warum Ironie als diskursive Praxis oder Strategie gebraucht oder verstanden wird und erforscht die Konsequenzen ihres Verstehens, ihres Missverstehens oder ihrer Fehlzündungen. »Irony can and does function tactically in the service of a wide range of political positions, legitimating or undercutting a wide variety of interests.«34 Für Hutcheon wie für mich auch ist von Interesse, wie die Ironie als diskursive Strategie auf einer Ebene der Sprache (verbal) und der Form (musikalisch, visuell, textuell) operiert.35 Das Publikum ist für den Akt des Decodierens von großer Bedeutung: »The interpreter as agent performs an act – attributes both meanings and motives – and does so in a particular situation and context, for a particular purpose, and with particular means. Attributing irony involves, then, both semantic and evaluative inferences. Irony’s appraising edge is never absent and, indeed, is what makes irony work differently from other forms which it might structurally seem to resemble (metaphor, allegory, puns).«36
Ironie passiert im Raum zwischen dem Gesagten (das auch im Raum inkludiert ist) und dem Ungesagten. Eine Interaktion beider Elemente ist unbedingt notwendig, damit die Ironie existieren kann. Das Gesagte und das Ungesagte koexistieren für die/den Interpreter_In und kreieren die ironische Bedeutung, die nicht einfach die ungesagte Bedeutung ist. Aufgrund dessen, dass sie die gesagte Bedeutung unterminiert, indem sie die semantische Bedeutung entfernt, »verkomplexisiert«37 sie und der Ironie wird nicht vertraut. Mit der Ironie bewegt sich die Person außerhalb von 32 33 34 35 36 37
Ebd. Vgl. Linda Hutcheon, Irony's Edge, a.a.O., S. 4. Vgl. ebd. S. 10. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 12. Vgl. ebd.
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»wahr« oder »falsch« und innerhalb von »zutreffend« und »unpassend«. Die Ironie lässt die Sicherheit, dass Wörter nur das meinen, was sie sagen, verschwinden. Dem ist sicherlich auch beim Lügen der Fall und das ist, warum sich das Ethische genauso wie das Politische in den Diskussionen über den Gebrauch von und den Antworten zur Ironie nie weit unter der Oberfläche befinden. »It has even been called a kind of ‘intellectual teargas’ that breaks the nerves and paralyzes the muscles of everyone in its vicinity, an acid that will corrode healthy as well as decayed tissues.«38 Ironie macht die Leute offensichtlich unbehaglich und fasziniert eher den Geist als die Gefühle. Aber gerade die Skala der Unbehaglichkeit, welche die Ironie hervorruft, lässt das Gegenteil vermuten. Ironie, so wird gesagt, irritiert, weil sie unsere Gewissheit verneint, indem sie die Welt als Ambiguität demaskiert.39 Sie kann verspotten, attackieren und lächerlich machen, ausschließen, in Verlegenheit bringen und herabwürdigen.40
Ironie im feministischen Diskurs Ähnliche Debatten werden in feministischen Kreisen geführt, wo die Ironie zwar wegen ihrer Instabilität verdächtig sei, ihr aber auch die Macht, die in ihrem Potential der Destabilisierung liegt, zugestanden wird. Die Ironie kann als solche patriarchale Diskurse dekonstruieren und dezentrieren. Sie funktioniert als eine Form der Guerillakriegsführung und verändert das, was die Leute interpretieren. Das bereits erwähnte Zitat von Donna Haraway im Kapitel zur Funktion der Ironie verdeutlicht ihre Meinung, laut der die Ironie zugleich Humor und ernstes Spiel ist, und sie im Feminismus öfters angewandt werden soll. Nach Haraway ist die geltende Prämisse hier: »The political struggle is to see from both perspectives at once because each reveals both dominations and possibilities unimaginable from the other vantage point. Single vision produces worse illusions than double vision or many-headed monsters.«41 Hutcheon führt feministische Theoretikerinnen an, laut deren Meinung die Ironie der Zuschreibung von essentialistischen oder natürlichen Geschlechtsidentitäten die Legitimität entzieht. Als Beipiel dazu dient das Argument Judith Butlers, dass sich im Zitat zwar auf die Parodie bezieht, in diesem Fall jedoch auch auf die Ironie angewandt werden kann: »[...] so gender parody reveals that the original identity after which gender fashions itself is an imitation without an origin. To be more precise, it is a production which, in effect – that is, in its effect – postures as an imitation. This perpetual 38 Northrop Frye (aus: J. Ayre Northrop Frye: A Biography, Toronto, 1989) zitiert in Linda Hutcheon, Irony's Edge, a.a.O., S. 14. 39 Vgl. ebd. S. 15. 40 Vgl. ebd. 41 Donna Haraway, A Cyborg Manifesto, a.a.O., S. 154.
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displacement constitutes a fluidity of identities that suggests an openess to resignification and recontextualization; parodic proliferation deprives hegemonic culture and its critics of the claim to naturalized or essentialist gender identities.«42
Butler schreibt an dieser Stelle weiter, dass die Geschlechtsimitationen die Bedeutung des Originals verschieben und sogar den Mythos des Originals selbst imitieren. Durch die imitierenden Praktiken wird die Illusion einer primären und inneren geschlechtlichen Identität aufgedeckt.43 In meinen Augen zeigt das ironische Vorgehen, dass ein Wort oder ein Zeichen mit zwei unterschiedlichen Bedeutungen ausgelegt werden kann. Somit können keine eindeutigen Zuschreibungen auf ein bloßes Zeichen hin gemacht werden. Wie Hutcheon erwähnt, kann die Ironie, z. B. in Form der Mimikry der weiblichen Geschlechtsidentität, dann auch so interpretiert werden, dass sie die trügerischen und täuschenden Kräfte des Femininen inkludiert. Dieser Betrug oder diese Täuschung hinsichtlich des genuin Weiblichen kann aber von heterosexuellen Männern als attraktiv und wirkungsvoll gesehen werden.44 Ich persönlich sehe das hingegen als eine frauenfeindliche Auslegung der weiblichen Geschlechtsimitation, da sie beinhaltet, dass alle Frauen, was das »wahre« Wesen der Frau betrifft, täuschen und betrügen. Diese Darstellung darf nicht einfach als eine andere Leseart der Ironie angeführt und stehen gelassen werden. Meiner Meinung nach verabsäumt Hutcheon es hier aufzuzeigen, dass es eine falsche essentialistische Zuschreibung ist, die dem Weiblichen die trügerischen Kräfte zuordnet, denn, so meine Nachfrage, wie sieht es mit dem »wahren« Wesen des Mannes aus? Genauso wenig wie es ein männliches Original gibt, gibt es ein weibliches. Das Argument Judith Butlers zeigt bereits, dass die Imitation der Geschlechter falsche essentialistische Geschlechtsidentitäten und Zuschreibungen aufdeckt. Das Trügerische kommt erst durch ein fälschlich angenommenes Original ins Spiel. Hutcheon schreibt weiter, dass diese Idee auch so weitergesponnen werden kann, dass Frauen aufgrund der Nachahmung und der trügerischen Darstellung eines weiblichen Originals offener und toleranter für die Am42 Judith Butler: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York/London, 1990, S. 138. 43 »Although the gender meanings taken up in these parodic styles are clearly part of hegemonic, misogynist culture, they are nevertheless denaturalized and mobilized through their parodic recontextualization. As imitations which effectively displace the meaning of the original, they imitate the myth of originality itself. In the place of an original identification which serves as a determining cause, gender identity might be reconceived as a personal/cultural history of received meanings subject to a set of imitative practices which refer literally to other imitations and which, jointly, construct the illusion of a primary and interior gendered self or parody the mechanism of that construction.« Ebd. 44 Vgl. Hutcheon, Irony’s Edge, a.a.O., S. 33.
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bivalenz, Ambiguität und Vielfältigkeit sind. Aber, wie Hutcheon nun richtig erwähnt, ist für manche die Ironie mit ihrer Emphasis auf den Kontext, Perspektive und Instabilität einfach das, was die gegenwärtigen Bedingungen des Wissens oder der Kenntnis für jede/n und nicht nur für Frauen sind. So ist es nicht verwunderlich, dass das jüngste Wiederaufleben der Rhetorik zum Beispiel ein Zeichen für das Lockern der Fesseln, die uns an einem einzigen Weg, einer paranoiden Obsession mit Sicherheit und fixen singulären Bestimmungen, binden, wird.45 Ironie hat das Potential und die Anerkennung inne, dass alle Konzeptionen begrenzt sind, dass das, was sozial als Wahrheit aufrechterhalten wird, oft politisch motiviert ist.46
Madonnas ambivalente Ironie Als Beispiel für eine schwache Form der Ironie möchte ich den PopSuperstar Madonna anführen. Madonnas feministisch-queere Andeutungen sind sehr oberflächlich und zu ambivalent auslegbar, obwohl sie doch als Ikone der Lesben und Schwulen-Szene gilt. Ihre ironische Darstellung weiblicher stereotypischer Figuren, wie die der Jungfrau, der »femme fatal« oder des »material girl«, ist vielen bekannt. So sang sie zu Beginn ihrer Karriere »Like a Virgin« und räkelte sich dabei im kurzen weißen Rüschenkleid auf dem Boden auf eine Art und Weise, die nichts mit dem unschuldigen Verhalten einer Jungfrau zu tun hat. Wenn ich dieses Beispiel nun nach den Kriterien von Hutcheon analysiere, stelle ich fest, dass die semantische Funktion mit der Antiphrase gegeben ist. Die Bedeutung der Jungfrau wird ins Gegenteil umgekehrt, wobei in dieser zweiten Bedeutung, also die der aufreizenden, verführenden Frau, das «cutting edge« nicht erkennbar ist. Worin liegt denn die politische Schärfe? Das einzige, was mir dazu einfällt ist, dass auch sich eine Jungfrau so sexy darstellen darf. Die politische Botschaft wäre in weiterer Folge also eine weibliche Selbstermächtigung hinsichtlich der eigenen Sexualität. Andererseits liegt diese Darstellung auch gängigen Männerphantasien sehr nahe. Die pragmatische Funktion dieses ironischen Beispieles könnte die Beurteilung oder Verspottung dieser Männerphantasie sein. Die Frage bleibt aber, ob ein Großteil des Publikums das auch so verstehen würde. Auf der Funktionsformenskala von Hutcheon entspricht diese Ironie der zweiten Form von unten, die sie als »complicating« bezeichnet, deren 45 Vgl. ebd. S. 33. Hutcheon zitiert dabei D. Hebdige: Hiding in the Light: On Images and Things, London/New York, 1988, S. 225. 46 Vgl. ebd. S. 33. Hutcheon zitiert M. M. J. Fischer »Ethnicity and the postmodern arts of memory« in: J. Clifford and G. E. Marcus (Hg.), Writing Culture: The Politics of Ethnography, Berkeley, 1986, S. 224.
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positive Auslegung komplex, reich und mehrdeutig ist und die negative als irreleitend, unpräzise und unklar interpretiert wird. Madonnas Beispiel von »Like a Virgin« enthält daher eine eher minimale affektive Ladung und ist von der oppositionalen Funktionsform mit dem »cutting edge«, das eine politische Schärfe enthält und somit als subversive Ironie zählen könnte, weit entfernt. Wie Hutcheon hinweist, scheint schon die Namenswahl bzw. die Konstruktion von »Madonna« als Performerin viel ironisches Potential zu haben. Die westliche ikonographische Tradition, in der die jungfräuliche Madonna paradoxerweise häufig mit einem Kind dargestellt wird, erstellt einen weiteren intertextuellen Kontext. Die Selbstrepräsentation Madonnas im Film, in Videos, in ihren Songtexten sowie Live-Performances ist transgressiv und vielleicht auch ironisch. Im Italienischen wird das Wort »Madonna« auch für die Repräsentation (die Statue, das Bild) der Jungfrau Maria benützt. Ist es angemessen oder ironisch, dass vielleicht auch im Falle Madonnas die Ikone und der Referent dieselbe Bezeichnung teilen? Historisch gesehen ist »Madonna« der mittelalterliche oder RenaissanceTitel, der aus Respekt einer Frau von edler Herkunft gegeben wurde. Für eine italienisch sprechende Diskursgemeinschaft ist die hinzugefügte Idee von »ma donna« (meine Frau), in der Bedeutung von Besitztum und materiellen oder sexuellen Besitz leicht zu ironisieren, egal auf welcher Seite ihre persönliche Politik gesehen wird. 47 Diejenigen, die in Madonnas Engagement mit traditionellen musikalischen Zeichen von kindischer Verwundbarkeit eher eine Ironie als eine Komplizenschaft sehen, sehen sie mit patriarchalen Erwartungen spielen in einer wissenden und – für sich selbst und andere Frauen – selbstermächtigenden Art und Weise, wie sie selbst sagt: »Everything I do is sort of tongue in cheek«.48 Für diejenigen, die verweigern das als politische Ironie zu bezeichnen, ist dieses »sort of«, was stört: Wie weit kannst du dich anpassen, ohne dich gewissen Konventionen anzubiedern? Oder müssen Frauen freiwillig die Repräsentationen des Patriarchats annehmen, um aufzudecken, wie sie funktionieren? Ironie hat natürlich eine lange Geschichte, was es betrifft, im Arsenal von »Kultur in Widerstand« eine Waffe der Machtlosen zu sein. Es ist diese Geschichte, die der Stil von Madonna als Ironikerin hervorruft. Luce Irigaray bezeichnet dieses Spiel mit weiblichen Repräsentationen als »Mimikry«:49 »One must assume the feminine role deliberately. Which means already to convert a form of subordination into an affirmation, and thus to begin to thwart it. Whereas a direct feminine challenge to this condition means demanding to speak
47 Vgl. ebd. S. 34. 48 Vgl. ebd. Hutcheon zitiert Mc Clary S. »Feminine Endings« in: Music, Gender, and Sexuality N. 40. Minneapolis, 1991, S. 209. 49 Vgl. ebd. S. 34.
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as a (masculine) »subject«.[...] To play with mimesis is thus, for a woman, to try to recover the place of her exploitation by discourse, without allowing herself to be simply reduced to it. It means to resubmit herself – inasmuch as she is on the side of the »perceptible«, of »matter« – to »ideas«, in particular to ideas about herself, that are elaborated in/by a masculine logic, but so as to make »visible«, by an effect of playful repetition, what was supposed to remain invisible: the cover-up of a possible operation of the feminine in language. It also means »to unveil« the fact that, if women are such good mimics, it is because they are not simply resorbed in this function. They also remain elsewhere: another case of the persistence of »matter«, but also of »sexual pleasure«.«50 (Hervorhebung im Original)
Wenn Madonna nun politische Handlungen durch Ironie zugeschrieben werden sollen, so ist die Mimikry die Art von Argument, die dafür verwendet wird. Die Kontrolle, die hier über die Selbstpräsentation, über die Männlichkeit des Blicks vorgeschlagen wird, ist was selbst im Film »Truth or Dare« als Spektakel repräsentiert wird. Die Ambiguität geht jedoch niemals ganz verloren: Ist es die subversive Schneide oder Schärfe der Ironie, die in den Performances Madonnas so aufrüttelnd ist, oder die störende Tatsache und die Offensichtlichkeit ihrer Handlungen, sich in den »weiblichen Bequemlichkeitsfetischismus« einzukaufen? Eine Offensichtlichkeit, die nicht jede_/r als Ironie lesen will.51 Diejenigen, die ihr die Kontrolle ihrer erotischen Selbst-Repräsentationen zusprechen, stellen die Männlichkeit, also die patriarchale Natur dieser Bilder, in Frage.52 »Madonna the producer may have chosen the chain, but Madonna the sexual persona in the video is alternately a crossdressing dominatrix and a slave of male desire.«53 »Es ist irgendwie gut, sich stereotypisch zu verhalten«, sagte Madonna in einem Interview54, »solange du es mit deinem Kopf lenkst«. Kommentatoren haben gemeint, dass es das beschützende Schild der Ironie ist, das jede Bewegung Madonnas ambivalent werden lässt. Aber Ambivalenz ist nicht gleich Ironie. Ist Madonna wegen ihrer Ironie oder wegen ihrer Ambivalenz so erfolgreich? Oder aus beiden Gründen? Die Unfähigkeit, eine klare Unterscheidung machen zu können, ist auch der Grund, warum sie so viele ver50 Luce Irigaray: This sex which is not one, New York, 1985, S. 76. 51 Vgl. ebd. S. 35. Hutcheon zitiert Marcus J. »Daughters of anger/material girls: con/textualizing feminist criticism« in R. Barreca (Hg), Last Laughs: Perspectives on Women and Comedy, New York, 1988, S. 281. Und G. Pevere »The battle of the icons« in: The Globe and Mail (5. Juli): C 3. Und A. Tamburri »The Madonna complex: the justification of a prayer« in: International Semiotic Spectrum 17 (April): 1-2. 52 Ebd. S. 35. 53 Ebd. Hutcheon zitiert C. Paglia: Sex, Art and American Culture: Essays, New York, 1992. S. 4. 54 Ebd. Hutcheon zitiert S. McClary, Feminine Endings, a.a.O., S. 149.
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schiedene Publikumsgruppen anzieht: Diejenigen, die sie als vollkommen vom männlichen Blick (entweder zustimmend oder verurteilend) dominiert sehen, diejenigen, die sie »in control« sehen (egal welche Wahl an SelbstRepräsentation sie gerade getroffen hat); diejenigen, die nur ihre vifen kommerziellen Instinkte sehen (und auch wieder zustimmen oder verurteilen) und diejenigen, die sie als subversiv, flamboyant, provokativ die traditionellen Auffassungen des geeinten Subjekts mit endlichen Egogrenzen durch Ironie dekonstruieren sehen. 55 Das Spiel Madonnas mit der Ironie ist für Hutcheon doch eher nur Ambiguität. Sie stellt sich die Frage, ob Madonna die selbstermächtigte Frau »in control« oder aber das »material girl« ist, das eine Komplizin des Patriarchats und des Kapitalismus ist. Ihre ganze Karriere ist auf den Ambiguitäten aufgebaut, die durch das Attribut der Ironie hervorgerufen werden, das heißt, dass dasselbe Faktum immer benützt werden kann, um für beide Seiten zu argumentieren. Im Herbst 1992 war Madonna auf dem Cover der »Vanity Fair«, der »Elle« und der »Vogue« und sie veröffentlichte das Album »Sex« zusammen mit der Aufnahme von »Erotica« mithilfe eines 60 Millionen Dollar Vertrags mit Time Warner. Diejenigen, die sie als ironisch subversiv interpretieren sehen sie so, als ob sie ihre mehrfachen Repräsentationen und Maskeraden unter ihrer Kontrolle hat, ganz egal, ob sie mithilfe von Ironie oder Tricks den Vamp oder die Jungfrau spielt. Diejenigen, die sich weigern ihr Ironie zu zuschreiben, sehen nur eine Komplizenschaft mit den patriarchalen Repräsentationen und ihrem Verlangen danach, möglichst viel Geld einzunehmen. Madonna wiederum attackierte die Feministinnen, weil diese ihre Art der Ironie angeblich nicht verstanden. Sie meinte, dass Ironie ihre Lieblingssache sei und alles, was sie mache, mehrdeutig auslegbar sei.56 Hutcheon betont aber, dass Ambiguität und Ironie nicht dasselbe sind, da Ironie eine Schärfe hat. (»Irony has an edge«).57 Reena Mistrey schreibt in ihrem »online-essay« über Madonna und Queer Theory, dass diese Ambiguität auch ihren Preis hat, denn das Publikum liest diese schwache Ironie nicht immer auf die Art und Weise, wie es beabsichtigt ist. So zeigte ein Versuch, dass die Interpretationen von Videos, wie z. B. »Papa Don’t Preach« und »Open Your Heart« ziemlich variierten. Die Pornographie in »Open Your Heart« ließ Madonna für einige als ein klassisches Objekt männlicher Begierde erscheinen und nicht so sehr als einen Ausweg aus der patriarchalen Konstruktion der Frau als etwas, das angesehen wird. Zur Veranschaulichung dieses Arguments mag uns ihre Darstellung einer »femme fatal« dienen, die sowohl eine demaskierende als auch eine verstärkende und wiedereinschreibende Wirkung 55 Ebd. S. 35. 56 Hutcheon zitiert D. Ansen »Madonna: magnificent maverick« in: Cosmopolitan Magazine (1990), S. 310. 57 Ebd. S. 33.
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auf das Publikum haben kann.58 Es ist eine Art von oberflächlicher »Queerness«, die Madonna betreibt und die Kritik, die bell hooks an der Pop-Ikone äußerte, nämlich, dass sie sich die afroamerikanische Kultur angeeignet habe, um einen radikaleren und exotischeren Stil zu kreieren, kann auch gleichsam für ihren Umgang mit queerer Subkultur gelten. Meiner Ansicht nach gilt als Beispiel dafür der »skandalöse« Zungenkuss Madonnas mit Britney Spears bei einem gemeinsamen Auftritt, der weniger aus der Zuneigung zueinander entstanden ist, sondern eher aus Publicity-Gründen.
Feministisch-queere Beispiele in der Rock- und Popmusik Hutcheon sieht genau darin das Problem, dass Ironie tatsächlich beides, politisch und unpolitisch sein kann, konservativ und radikal, repressiv und demokratisch. Aus diesem Grund möchte sie ein symbolisches Zeichen vorschlagen, unter dem eine Theorie der Ironie geschrieben werden kann – das Bügeleisen (»iron«) als Zeichen der Aneignung der transgressiven, provokativen und subversiven Möglichkeiten der Ironie in Frauenbereichen. Das »iron« kann auch ein »branding« sein, das schmerzt und markiert und so als ein Mittel der auferlegten Macht zweckentfremdet und subversiv angewandt werden kann.59 Die Ironie entsteht als eine Reaktion auf die Krise großer Erzählungen wie Jutta Weber schreibt und steht nach meiner Ansicht auch im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Grenzziehung zwischen zwei Geschlechtern oder Geschlechtsidentitäten. Haraway erklärt diesen Sachverhalt anhand des Körpers eines Cyborgs: »A Cyborg Body is not innocent; it was not born in a garden; it does not seek unitary identity and so generate antagonistic dualism without end (or until the world ends); it takes irony for granted. One is too few, and two is only one possibility.« 60 Ironie ist also die Strategie für die Postmoderne und viele Künstlerinnen, wie zum Beispiel Jenny Holzer, Laurie Anderson, Cindy Sherman61
58 Vgl. Reena Mistrey »Madonna and Queer Theory« www.theory.org.uk%20 Resources%20Madonna%20and%20queer%20theory.html vom 21. 3. 2006. 59 Vgl. Hutcheon, Irony’s Edge, a.a.O., S. 36. 60 Jutta Weber »Ironie, Erotik und Techno-Politik: Cyberfeminismus als Virus in der neuen Weltunordnung?« in: Die Philosophin. Forum für feministische Theorie und Philosophie Nr. 24 (Dezember 2001) S. 82. 61 »While irony remains a major stylistic device, of great significance are also contemporary multi-media electronic artists of the non-nostalgic kind like Jenny Holzer, Laurie Anderson and Cindy Sherman. They are the ideal travel companions in postmodernity.« Rosi Braidotti »Cyberfeminism with a Difference« in: Sandra Kamp & Judith Squires (Hg.), Feminisms, Oxford/New York, 1997, S. 522.
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und auch Musikerinnen der 1990er und der Gegenwart, die sich diese Strategie auch zu Nutze machen.
Riot Grrrls und Girl Culture Durch die Ideologie der Riot Grrrls zieht sich ein postfeministischer Strang, es wirkt beinahe so, als ob Feminismus selbstverständlich wäre. Alte Punkte auf der feministischen Agenda spielen bei ihnen keine große Rolle mehr. Die Thematiken rund um die gleiche Bezahlung, die Kinderaufsicht und das Recht auf Abtreibung werden zugunsten symbolischer Wertigkeiten, wie der Repräsentation in den Medien, in den Hintergrund gedrängt. Ein verspielter Zugang zu den ernsten Themen der Vorgängerinnen zeigt sich in dieser Bewegung jedoch, zudem wird mit einer ironischen und provisorischen Konstruktion von Identität geflirtet, wohingegen der Feminismus mit einem authentischen Selbst beschäftigt war.62 Der ironischen Register, der eine inszenierte Form der Provokation darstellt und als solcher eine Art von symbolischer Gewalt darstellt, wird von den Riot Grrrls gerne verwendet. Riot Grrrls wollen ein eigenes Bild, ein unabhängiges projektiertes Wesen, kreieren. Sie wollen die Welt nach ihren ruhmreichen Bildern gestalten. Die Metapher des Kriegs dringt in unsere kulturelle und soziale Imagination ein, so zum Beispiel in der populären Musik: Es wurde begonnen den Konsum von Rockmusik als eine politische Kraft zu sehen und die Riot Grrrls sind im Krieg gegen den »cock rock« oder die Wiederbelebung des »geriatrischen« Rocks, wie die ewigen Auftritte der Rolling Stones und anderer Reliquien, aus den 1960ern.63 Die Macht der Ironie sieht Braidotti in den Formen, welch die kulturellen feministischen Praktiken des »als ob« annehmen. Die Ironie ist das Lachhafte in systematischen Dosen angewendet – es ist eine fortgesetzte Provokation und lässt einer exzessiven und vehementen Rhetorik die Luft heraus – nämlich jener der allgemeinen Nostalgie, welche die populäre Kultur zur damaligen Zeit beherrschte.64 Die Riot Grrrls wollen ihren eigenen Raum und ihre Zeit schaffen, um ihre eigenen Wünsche auszudrücken und zu entwickeln und wenn sie das nicht können, dann werden sie wirklich wütend. Ihre Wut zwingt sie dazu, die anderen zu bestrafen, indem die anderen ihre schlimmsten Phantasien und Horrorvorstellungen von Frauen in das alltägliche reelle Leben der Riot Grrrls interpretieren. So wie es eine andere große Simulatorin, Bette Midler, sagte: »Ich bin al-
62 Vgl. Joy Press, Simon Reynolds: The Sex Revolts. Gender, Rebellion and Rock’n’Roll, London, 1995, S. 317. 63 Vgl. Rosi Braidotti »Un ciberfeminismo diferente« in: Debats Nr. 76, (2002), S. 107. 64 Vgl. ebd. S. 108.
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les das, wovor du Angst hattest, dass deine Tochter oder dein Sohn so werden könnte!«65 In den frühen 1990er Jahren haben die Riot Grrrls damit begonnen, ihre Gefühle der Verfremdung in einer männlich-orientierten Hardcore Punk Szene, in der sie marginalisiert wurden, zu beschreiben (in der Musik, in den Fanzines). Sie kritisierten die mediale Werbung für unhaltbare Ideale perfekter Weiblichkeit. Sie schrieben bewegende Zeugnisse über ihre Erfahrungen von Sexismus und sexuellem Missbrauch. Anfangs waren sie in Olympia, Washington und in Washington DC.66 Riot Grrrls sind schnell in die Medien eingegangen. 1993 fühlten viele der Riot Grrrls, dass sie durch die Medien falsch oder verzerrt bzw. trivialisiert repräsentiert wurden.67 Dieser Bewegung gelang schließlich auch der Sprung nach Europa und zeigte sich in der abgeschwächten Form der »Girlie«-Mode oder in Songs von Girl-Bands wie Lucilectric (»Weil ich ein Mädchen bin«). Der ursprünglichen Idee der Riot Grrrls noch am nahe stehendsten sind die Ladyfeste, die in verschiedenen Städten Europas organisiert werden. (z. B. seit 2004 auch regelmäßig in Wien). Riot Grrrls sprechen von der Ermächtigung durch die Gründung von Bands und das Produzieren von Fanzines – das alte »Do it yourself« Punkethos – jede_/r kann es machen, aber mit einem feministischen Einschlag. Ihr Ziel ist es, einen Raum für junge Frauen zu schaffen, in dem sie frei sind, sich ausdrücken können ohne den übermächtigen Schatten der Männer. Bei den Riot Grrrls gibt es auch ein stark lesbisches Element und historische Links mit der schwulen Punk- homocore/queercore-Bewegung. Der Ansatz der Riot Grrrl-Ideologie ist, wie oben erklärt, ein postfeministischer. Viele der Riot Grrrls lehnen es ab, sich als Feministinnen zu bezeichnen. Viele haben Mütter, die in der »first« oder »second wave« des Feminismus involviert waren. Die Fanzines der Riot Grrrls sind voll mit problematischen Frauenbildern: Pornostars, viktorianische Schönheiten, glückliche Hausfrauen in den Werbungen, süße, kleine Mädels in Kinderbüchern. Diese illustrierten Artikel beinhalten emotionelle Berichte über Vergewaltigung und Inzest, über gelehrte politische Kritiken, Kochrezepte, Gedichte, bis hin zu Hitlisten (z. B. Top 10 Gründe, warum es cool ist, die Zeit mit sich selbst zu verbringen und keinen Mann zu haben). Das wohl Auffälligste in der Rhetorik der Riot Grrrls ist das Beharren auf das Wort »girl« gegenüber »woman«. In Grrrl-Zines steht dazu: »Clinical studies show being a teenage girl fights self-esteem better than most other leading factors.« Vielleicht ist es auch nur eine Nostalgie für das unbesiegbare »Tomboy«-Sein der Vorpubertät. Diese Möglichkeit ist durch das »sexualisiert« werden verloren gegangen. Daher auch die Na65 Vgl. ebd. S. 112. 66 Vgl. Sol Haring »Feminismus und Frauenpolitik im Underground« http://sol ways.mur.at/politik.html vom 1. 7. 2006. 67 Vgl. Joy Press, Simon Reynolds, The Sex Revolts, a.a.O., S. 323.
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men der Zines, wie z. B. »Crumbly Lil Bunny« und der Bands wie »Bratmobile«, deren Albumtitel »Pottymouth« das Bild von kleinen »shedevils« hervorruft, die sich weigern, sich wie »sugar and spice and all things nice« zu benehmen.68 Andererseits weisen die Riot Grrrls den »Tomboy-Rocker« zurück, so wie sie auch Joan Jett oder Kim Gordon als Prototypen nicht anerkennen. »To be one of the guys« wird als unbefriedigend angesehen. Kim Gordon sprach darüber, wie sie »always idolized male guitar players. It was exciting to be in the middle of it but you also feel like a voyeur. There were isolated female musicians, but there was never any bonding or anything.«69 Kathleen Hanna sieht das nur als halbe Sache. »What other (female) bands do is go, ‘It’s not important that I’m a girl, it’s just important that I want to rock.’ And that’s cool. But that’s more of an assimilationist thing. It’s like they just want to be allowed to join the world as it is; whereas I’m into revolution and radicalism and changing the whole structure. What I’m into is making the world different for me to live in.«70 Was ist aber mit der Musik? Trotz ihres »pro-girl« Ethos haben die Riot Grrrls nicht die Geschlechterorientierung der Musik in der Musik selbst beachtet, kritisieren Simon Reynolds und Joy Press. Es gibt nur ein Lippenbekenntnis von Bands wie »Raincoats« oder »Throwing Muses«, die versucht haben, die phallozentrischen Formen von Rockmusik per se zu hinterfragen. Von einer rock-kritischen Perspektive aus gesehen, scheinen die meisten Riot Grrrl Bands mit der Neuerfindung des Rades beschäftigt zu sein. Sie klingen wie traditionelle Hardcore- oder späte 1970er PunkBands. Sie kritisieren die Tomboys zwar, musikalisch klingen sie jedoch wie die Tomboys. Dies resultiert teilweise aus der Natur der Subjekte und Emotionen selbst, die sie behandeln – Wut, Misstrauen, Selbsthass, der Kampf zu sprechen, sich zu artikulieren. Ein anderer Grund, warum die Musik so einfach und altmodisch klingt ist, dass die »Do-it-yourself«Ideologie gegen das Erwerben von musikalischer Professionalität agiert, was eigentlich hilft, den Geschlechterunterschied in einem Sound einzuschreiben. Es ist auch eine Höherstellung des Inhalts über die Form, der »message« über die Musik. Diese Frauen sind nicht daran interessiert, einen Beitrag zur Rockgeschichte oder zur Evolution einer Form zu leisten. Ihnen geht es vorrangig um den Prozess, nicht um das Produkt. Es geht um das »empowerment«, das vom »Aufstehen und Es-Machen« kommt und um die Inspirierung des Publikums bei der Betrachtung des Spektakels der Selbst-Befreiung.71 Obwohl sich auch einige Frauen aus der Girl Culture, wie zum Beispiel Courtney Love, die in einem Interview erwähnte, dass die Feminis68 69 70 71
Ebd. S. 324ff. Ebd. S. 326. Vgl. ebd. S. 326f. Vgl. ebd. S. 327f.
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tinnen einen negativen Beigeschmack haben, weil sie hässlich sind und sich eigentlich mal die Beine rasieren sollten, nicht mit Feminismus in Zusammenhang bringen lassen wollten, signalisiert eine der Hymnen dieser Bewegung, »Girls Just Wanna Have Fun« (Cindy Lauper), Anknüpfungspunkte zur zweiten Frauenbewegung, denn junge Frauen sind nach wie vor sozialen Einschränkungen, sexueller Belästigung, Diskriminierung, ökonomischer Ausbeutung ausgesetzt.72 Anette Baldauf interpretierte dies als einen Generationskonflikt, in dem sich die Girls von ihren Müttern, dem »institutionalisierten« Feminismus und dem »Anti-Sex-Feminismus« differenzieren müssen, primär durch ihr sexuell explizites Vokabular, ihre Rhetorik und ihren sexuell aufgeladenen Habitus. Die Girl-Culture besteht aus Hedonismus, Lust und Konsum.73 Abbildung 4: Babydoll - Kleid
Quelle: Debbie Stoller »Love Letter« in: Anette Baldauf, Katharina Weingartner (Hg.), Lips.Tits.Hits. Power? Popkultur und Feminismus, Wien, 1998. S. 172. Der ironische Gebrauch des Babydoll-Kleides, wie er vor allem von Courtney Love inszeniert wurde, zeigt auf einer Ebene die LolitaVerkleidung und auf einer zweiten Ebene schloss er an eine zu jener Zeit aktuelle Debatte an. Courtney Love berührte damit nach Madonna einen völlig neuen Aspekt von Weiblichkeit, gerade zu der Zeit als Carol Gilligan eine Studie herausgab, in der sie angab, dass aus selbstbewussten, aufgeweckten jungen Mädchen in der Pubertät häufig unsichere, stille Frauen 72 Vgl. Anette Baldauf: Geneaologie einer »Revolution Girl Style«. Konstruktion, Distribution und Übersetzung popkultureller Phänomene am Beispiel »Girl Culture« und »Girlie Kultur«, Dissertation, Wien, 1998, S. 45. 73 Vgl. ebd.
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werden. An dieser Stelle möchte ich betonen, dass Carol Gilligan aufgrund ihrer essentialistischen feministischen Sicht umstritten ist. Courtney Love in ihrem »Kinderhuren«-Look mit lippenstiftverschmiertem Mund und ihren wilden, aggressiven Songs, schien die absolute Verkörperung von Gilligans Beobachtung zu sein: Wer sich an sein inneres, kleines Mädchen erinnert, was Courtneys Erscheinung provozierte, findet heraus, dass kleine Mädchen alles andere als süß und unschuldig sind. Im Gegenteil, sie sind zornig und laut und haben den typisch weiblichen Sozialisierungsprozess, der Frauen in adrette, sittsame, unterwürfige und stille Wesen verwandelt, noch nicht durchlitten. Courtney personifizierte eine Frau, die sich weigerte, ihre ursprünglichen Antriebskräfte aufzugeben.«74 Das ist also das versteckte oder verspottende »Ethos«, wie Linda Hutcheon es nennen würde, die »Girl-Power«, die Wut und Aggression der Mädchen, die nun traditionelle Zuschreibungen von Weiblichkeit ablehnten und provokant ins Spiel brachten. Indem Musikerinnen wie Courtney Love und Kat Bjelland (Babes in Toyland) »klassische Versatzstücke des Weiblichen (Kleinmädchen-Kleidchen, PlastikHaarspangen und rosa Strumpfhosen) verwendeten und dunklere Assoziationen von Kindesmissbrauch und Pädophilie weckten und beide Aspekte miteinander verknüpften, machten diese Frauen Schmutz zur Mode und zum Zeichen weiblicher Stärke. Gleichzeitig nutzte die Riot-Grrrl-Bewegung ihre Medienpräsenz dafür, die Öffentlichkeit mit den Themen des sexuellen Missbrauchs und sexueller Belästigung zu konfrontieren. Ganz offensichtlich ging es diesen Frauen um eine neue Art der Repräsentation, durch welche die abgenutzten Zuschreibungen von Weiblichkeit im Namen der Subversion neu besetzt werden sollten.«75
Mit der Zeit wendete sich das Blatt aber wieder, und mit dem Einzug in den Mainstream wurde dieser Look zur Mode und verlor seine politische Pointe und Schärfe. Die Riot-Grrrl-Bewegung wurde in den Medien verzerrt dargestellt, ohne ihren ironischen Subtext und was übrig blieb, waren süße, wütende sexy Girls in Modemagazinen. »The cutting edge« der Ironie der Riot-Grrrls wurde nicht weitervermittelt. Zum Glück bleiben uns Songtexte wie in Bikini Kills »Rebel Girl« erhalten, in dem Kathleen Hanna von »The queen of my world« singt, und »in her kiss I taste the revolution«.76 Braidotti schreibt ein Plädoyer für die Ironie, die unbedingt erhalten bleiben soll, denn das, was wir brauchen ist eine größere Komplexität, Multiplizität und Simultanität, und dass wir von neuem das Problem Sex, 74 Debbie Stoller »Love Letter« in: Anette Baldauf, Katharina Weingartner (Hg.), Lips.Tits.Hits. Power? Popkultur und Feminismus, Wien, 1998, S. 173. 75 Andi Zeisler »Babe Tease. Über den Schmutz in der Mode und die Mode des Schmutzes« in: Lips.Tits.Hits, a.a.O., S. 294f. 76 Simon Reynolds and Joy Press, The Sex Revolts, a.a.O., S. 330.
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Klasse und Rasse aufwerfen müssen, um diese multiplen und komplexen Differenzen zu suchen. Sie glaubt überdies, dass Sanftmut, das Mitfühlen und der Humor wichtig sind, um die Rupturen und Betrügereien dieser Epoche zu überwinden. Die Ironie und die Fähigkeit, über uns selbst zu lachen, stellen in diesem Projekt wichtige Elemente dar und sind für den Erfolg notwendig, wie so verschiedene Feministinnen wie Hélèn Cixous und French & Saunders gezeigt haben. Wie das Manifest der Bad Girls sagt: Durch das Lachen verwandelt sich unsere Wut in eine Waffe der Befreiung. Mit der Hoffnung, dass unser dionysisches Lachen, das kollektiv verhandelt wurde, sie endlich ein für alle Male begraben kann. Für den Cyberfeminimus ist es notwendig eine Kultur der Ungezwungenheit und Bestätigung zu kultivieren. 77
Angie Reed Angie Reed gibt uns ein gutes Beispiel für Ironie in der Post-Riot-Girrrl Ära, denn sie präsentiert sich als eine vielleicht gar nicht so ungewöhnliche, wütende Sekretärin, die ihre eigentlich so typische weibliche Rolle nicht ganz so ernst nimmt und ihrem Ärger durch einen sehr femininen »Machisma« Luft macht. Die Musik basiert, nicht wie bei den Riot Grrrls auf einer Punkband mit den herkömmlichen Instrumenten wie Gitarre, Bass und Schlagzeug, sondern auf elektronischer Musik und Angie Reeds Stimme. Ihre Musikrichtung wird als Elektroclash, Punk mit Hip Hop beschrieben. Ihre Performance auf der Bühne ist angeblich die einzige »one-secretary-show«. »Angie Reed presents the best of Barbara Brockhaus with music for the LaZy and not the BureaucraZy!« – steht auf dem CD-Cover geschrieben. Angie Reed schlüpft also in die Rolle der Barbara Brockhaus und liefert uns die hyperbolische, ironische Darstellung einer Bürosekretärin. Das selbstgezeichnete Booklet (der DIY-Methode der Riot Grrrls nachgeahmt), beginnt sie mit dem ironischen Satz »I’m Barbara Brockhaus and it’s my job to work here. Hurray, I cheer!« Das gerade das Gegenteil des Gesagten gemeint ist, wird in den nächsten Zeilen deutlich: 77 Übersetzt aus dem Spanischen: »Lo que necesitamos, más bien, es una mayor complejidad, multiplicidad, simultaneidad, y volver a plantearnos sexo, clase y raza para buscar esas múltiples y complejas diferencias. También creo en la necesidad de dulzura, compasión y humor para superar las rupturas y embelesamientos de la época. La ironía, reírnos de nosotros mismos son elementos importantes en este proyecto y son necesarios para el éxito, como feministas de corte tan diverso como Hélène Cixous y French & Saunders han señalado. Como dice el Manifesto of the bad Girls: »A través de la risa, nuestra ira se convierte en un arma de liberación«. Con la esperanza de que nuestra risa dionisìaca, negociada colectivamente, pueda, en efecto, enterrarlo de una vez por todas, el ciberfeminismo necesita cultivar una cultura de desenfado y afirmación.« (Hervorhebung im Original) Rosi Braidotti »Un ciberfeminismo diferente« in: Debats Nr. 76, (2002), S.116.
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»The hours are long, the days are short, backwards ticks the clock to remind me I’m bored.« Ihre Zeichnung zeigt eine äußerst sexy Sekretärin mit Netzstrümpfen und Stöckelschuhen, die gerade auf der Schreibmaschinse tippt: »abcdefghij.....« (siehe Bild). Und dann plötzlich »klmonp«, was onomatopoetisch verdeutlichen soll (wie auch der Pfeil von der Schreibmaschine in den Papierkorb zeigt), dass das Geschriebene in den Müll wandert. Sie schreibt unter dem Bild »As a secretary it is very necessary to know how to type, but everything I type goes right into the trash can – damn! However, I manage to answer the phone, when it rings + do other things at the same time, as a matter of fact! Contract hold, send a fax ... relax!« Abbildung 5: Angie Reed
Quelle: Angie Reed: Presents the Best of Barbara Brockhaus, Chicks on Speed Records 2003. In der Zwischenzeit bricht wieder die Langeweile über sie herein: »Oh, how bored I am as I stare at the clock hand and stare at the wall, and, think of the man I’d like to call – Lars Langenscheidt!« Diese zwar eindeutig heterosexuelle Gesinnung wird durch »Lars Langenscheidt. Ooh, he’s quite a guy with a femine side.« auf der zweiten Seite des Booklets wieder etwas »verqueert«. Was sie von ihm will, erklärt sie selbstbewußt nach dem Motto »Girls just wanna have fun« weiter: »He’s the man with whom I’d like to spend a hot couple of moments together. No talk about weather over brunch. Just a bunch of fun. I’m off here at one. So his number I’m gonna dial for some F-U-N!!« Sie schreitet sofort zur Tat und äußert am
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Telefon sehr offen ihre sexuellen Absichten: »Hey there Sweets, why don’t we grab a bite to eat just me and you about a quarter ’til two? I’ll letcha know I’m in the mood for more than food. Yes, I figure I could do something real good for you...like blow your didgereedoo!« Diese Aussagen entsprechen eher gängigen Männerphantasien und es ist nicht klar, ob sie weitere ironische Pointen sein sollen. Hinsichtlich der Ironie bleibt es, wie auch bei Madonnas, ambivalent – es fehlt ihr an politischer (sei es feministischer oder queerer) Schärfe. Dass Barbara Brockhaus sich anscheinend selbst nicht ganz im Klaren ist, was sie gerade gesagt hat, deutet sie in den folgenden Zeilen an: »Mind the pause before he speaks. It’s long. The clock is ticking and it’s got me thinking, gee, I said something wrong.« Dieses fehlende »cutting edge« der Ironie kommt dafür in dem Text des ersten Songs ihrer CD zur Geltung. Sie schlägt einen anderen Ton an, wenn es um ihren Boss geht. »I don’t do dirty work, Sucka!«: »just ask, just ask... yeah! I’ll do whatever task and oh, I’ll work fast. I’m always the last to leave – can you believe? This job is a jab in the ass so Mr. Boss, do if you will ... wave that dollar bill as if it were the last just remember...hey, sucka! I don’t do dirty work for you or I don’t care who. You know what I mean? You wanna lick my fingers clean? Suck my finger! Don’t linger! It’s a must, so just do it don’t fuss! We gotta good thing goin’ ... yeah, it’s showin’! You wanna play with the power? Then pay by the hour! But I don’t do dirty work for you... Suck my finger... I brought my badmington and my ball... I thought I’d play some badmington in the hall... so I don’t bounce off the wall! Say, why don’t you fetch my birdy...atta boy. I’m really sorry about the coffee stain on this important document. I figured I’d leave that file over there to ferment! Hey, sucka! I don’t do dirty...«
Hier nimmt Angie Reed wieder die eindeutig selbstbewusste weibliche Position ein und gibt klar zu erkennen, dass sie sich nicht alles gefallen lässt, und schon gar keine sexuelle Belästigung. Mit »Suck my finger« gibt sie konter und kehrt das offensichtlich unmoralische Angebot ins Gegenteil um und befiehlt ihm, an ihren Fingern zu lutschen. Das CD-Cover stellt diese Szene bildlich dar. Angie Reed alias Barbara Brockhaus im engen roten Rock mit roten Stöckelschuhen steckt zwei Finger in die Münder von zwei knienden Männern und genießt es sichtlich.
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Abbildung 6: Angie Reed II
Quelle: Angie Reed: Presents the Best of Barbara Brockhaus, Chicks on Speed Records 2003. Auf der dritten Seite ihres Booklets macht Angie Reed eine ironische Anspielung auf ihre Mitbewohnerin, die sie nicht hasst, ganz im Gegenteil...: »No, not so. I live in a Boxx with a room-mate whom, luckily, I don’t hate. No, au contraire it’s quite a pleasant affair – being we both enjoy having fun. She has fun written between the legs and fun is always on the tip of my tongue!« Diese lesbische Andeutung wird allerdings nicht mehr weiter ausgeführt. Angie Reed spielt mit mehr oder weniger subtilen (eher sehr plumpen) erotischen Andeutungen, die sehr naiv und unschuldig »herausgerutscht« wirken. Die ironischen Anspielungen besitzen um einiges mehr an »cutting edge« und politischer Bedeutung, als beispielsweise bei Madonna, obgleich Angie Reed häufig mit dieser leichten Ambivalenz (wie bei den mainstreamtauglichen Songs von Madonna) spielt, die einfach nur Männerphantasien beflügelt. Die Einflüsse der Riot Grrrls sind einerseits an der rohen, eckigen, punkigen Musik und der DIY-Methode des Booklets zu erkennen und andererseits an den sexuell expliziten Texten, die, wie im Beispiel von »I don’t do dirty work, sucka« Ausdruck für die Wut am patriarchalen System sind und deren Ironie klar in eine Richtung geht und kaum zweideutig auslegbar ist.
T R AC K 02: P AR O D I E – » G E N D E R T R O U B L E «
Historisches, Definition, Erkennung Eine kurze und effiziente Definition der Parodie gibt uns das Basislexikon Literaturwissenschaft, demzufolge die Parodie aus dem Griechischen kommt. »Par-odé«, was soviel wie Nach- oder Gegengesang bedeutet, ist eine intertextuelle Schreibweise (bzw. Verfahren), die sich durch folgende Eigenschaften beschreiben lässt: »Übernahme erkennbarer Struktur- und Gestaltungsmerkmale einer Vorlage zur Komisierung und Herabsetzung dieser Vorlage (bzw. einer mit ihr verknüpften Haltung, ihrer Rezeption usw.)«1 Näher auf die griechische Etymologie des Wortes eingehend, erklärt Margaret A. Rose, dass es in der griechischen Antike den Begriff »parados« gab, der einen »imitierenden Sänger« oder ein »imitierendes Singen«, im Gegensatz zum Konzept des »originalen Sängers«, beschrieb. Das Wort »lächerlich« wurde dazu benutzt, um die grundlegende Bedeutung von Parodie zu beschreiben, als das Singen eines Liedes, das seine Wörter verdreht oder geändert hat und von den homerischen »Rhapsodisten« oder Barden gesungen wurde, dessen Sinn in etwas »Lächerliches« – mehr »ein Lachen über« als »ein Lachen mit« verdreht wurde,2 wobei das moderne Konzept des Lächerlichen als etwas Negatives und Inkompatibles mit anderen ambivalenten Formen des Humors oder der Komödie nicht immer für die Übersetzung antiker Wörter brauchbar ist, da sie das Lachen mit beidem, dem Lächerlichen und dem Humor im Sinne von komisch eher assoziieren als mit Spott oder Hohn.3 Oder mit den Worten Isaac D’Israelis: »Far from converting virtue into a paradox, and degrading truth 1 2 3
Uwe Spörl: Basislexikon Literaturwissenschaft, Paderborn, 2004, S. 155. Vgl. Margaret A. Rose: Parody: ancient, modern, and post-modern, Cambridge, 1993, S. 7ff. Vgl. ebd. S. 24.
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by ridicule, parody will only strike at what is chimerical or false; it is not a piece of buffoonery so much as a critical exposition.«4 M. A. Rose geht im folgenden Zitat auf den komischen Effekt der Parodie ein: »The dictum that the essence of humour has resided in raising an expectation for X and giving Y, or something else which is »not entirely X«, instead is also particularly well suited to describing the mechanism at work in parody when a text is quoted and the quotation then distorted or changed into something else; although here too a contrast will generally be made comic by a careful rather than by a haphazard selection of elements. […] In parody the comic incongruity created in the parody may contrast the original text with its new form or context by the comic means of contrasting the serious with the absurd […]«5
In der Parodie geht es im Gegensatz zur Ironie um eine Nachahmung und es heißt im Historischen Wörterbuch der Rhetorik, dass die parodistische Schreibweise nicht nur das Imitationsgebot erfüllt, sondern auch die »imitatio« zur Schau stellen soll und nicht, wie in der klassischen Nachahmungslehre, ein Verbergen der »imitatio« verlangt.6 Aristoteles schreibt in der Poetik über die Dichtkunst, welche die Nachahmung mit Hilfe des Rhythmus, der Sprache und der Melodie bewerkstelligt.7 Weiters versucht Aristoteles die Tragödie mittels der Nachahmung von der Komödie zu unterscheiden und behauptet, dass die Komödie schlechtere und die Tragödie bessere Menschen nachahmt.8 Die Komödie ist für ihn eine »Nachahmung von schlechteren Menschen, aber nicht im Hinblick auf jede Art von Schlechtigkeit, sondern nur insoweit, als das Lächerliche am Hässlichen teilhat. Das Lächerliche ist nämlich ein mit Hässlichkeit verbundener Fehler, der indes keinen Schmerz und kein Verderben verursacht, wie ja auch die lächerliche Maske hässlich und verzerrt ist, jedoch ohne den Ausdruck von Schmerz.«9 In der Frühgeschichte der Parodie (auch z. B. bei den Begriffen wie »Pastiche« und »Kontrafaktur«) gilt es, auch die ursprüngliche Einheit von Musik und Literatur zu berücksichtigen.10 Wie bei der Ironie ist es auch bei der Parodie von Bedeutung, dass die Leser_Innen oder das Publikum die Parodie als solche erkennen und demnach ist ein
4 5 6
Ebd. S. 26. Margaret A. Rose, Parody, S. 33. Vgl. Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 6, Tübingen, 2003, S. 638. 7 Vgl. Aristoteles »Poetik« 1447a 20-25, Stuttgart, 2002, S. 5. 8 Ebd. 1448a 5–10, S. 9. 9 Ebd. 1449a 5. 32–37, S. 17. 10 Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Band 6, S. 638.
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»typisches Merkmal der parodistischen Intertextualität die Verwendung der Unangemessenheit als Parodiesignal. Unangemessenheit entsteht, wenn die Transposition von Figuren, Motiven, Stilelementen usw. zu einer kotextuellen oder kontextuellen Inkongruenz führt. Wird die Transposition »störungsfrei« (d.h. unter Wahrung des aptums) vollzogen, müssen zusätzlich zur Transposition Verfahren konterdeterminierter Transformation (»Verfremdung«) hinzutreten, damit eine parodistische Wirkung erzeugt wird.«11 (Hervorhebung im Original)
Eine Bedingung für die Wirksamkeit oder Erkennbarkeit der Parodie darf daher nicht vergessen werden, wie Hutcheon noch einmal näher anführt: Ein formales und pragmatisches Erfordernis, um die Parodie zu erkennen und zu interpretieren ist, dass gewisse Codes zwischen dem »encoder« und dem »decoder« geteilt werden müssen. Der/die Empfänger_In muss das Ethos und die doppelte Struktur erkennen.12 Hutcheon benutzt den Begriff »Ethos« vor allem in Hinblick auf den »encoding«-Prozess. Ein Ethos ist eine abgeleitete, beabsichtigte Reaktion, die vom Text motiviert wurde. Die Absichten werden von den »Decodern« aus dem Text selbst heraus schlussgefolgert. Manchmal überschneidet sich das Ethos mit dem »encodierten« Effekt (so wie er vom »Decoder« erfasst wurde). Um die Parodie näher zu erklären, führt Hutcheon den Begriff »Intertextualität« ein. Dabei bezieht sie sich nicht auf die Verwendung des Terminus wie bei Kristeva, den einige zeitgenössische Theoretiker_Innen als rein formale Kategorie der textuellen Interaktion sehen. Die für die Parodie wesentliche Bedeutung ist, dass nur der/die Leser_In oder »Decoder« diesen Intertext aktivieren kann. Michael Riffaterre wie auch Roland Barthes definieren Intertextualität als eine Wahrnehmungsmodalität, eine Handlung der Decodierung von Texten im Licht von anderen Texten. Barthes steht dem Leser frei zu, die Texte mehr oder weniger zufällig zu assoziieren, was nur durch die individuelle Eigenart und persönliche Kultur beschränkt wird. Zusätzlich zu dieser Beschränkung auf die intertextuelle Beziehung zwischen dem »Decoder« und dem Text verlangt die Parodie, dass die semiotische Kompetenz und Absicht eines andeutenden »Encoders« postuliert werden. Daher ist Hutcheons Theorie der Parodie intertextuell in ihrer Einbeziehung von beiden, dem »Decoder« und dem Text, der artikulierte Kontext ist sogar breiter: beides, das Encodieren und das Teilen von Codes zwischen dem Produzierenden und dem Empfangenen, sind zentral.13 Beides, Ironie und Parodie, operieren auf zwei Ebenen – auf der ersten an der Oberfläche, im Vordergrund und auf der zweiten, der angedeuteten oder hintergründigen. Letztere erhält ihre Bedeutung vom Kontext, in dem sie sich befindet. Die letztendliche Bedeutung der Ironie oder Parodie be-
11 Ebd. 12 Vgl. Linda Hutcheon, A Theory of Parody, a.a.O., S. 27. 13 Vgl. ebd. S. 37.
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ruht auf der Anerkennung oder Überlagerung dieser Ebenen. Es ist die Verdoppelung sowohl der Form als auch des pragmatischen Effekts oder Ethos.14 Viele der Künstler_Innen haben offen bestätigt, dass die ironische Distanz, die von der Parodie eingefordert wird, die Imitation zu einem Mittel für die Freiheit gemacht hat. Hutcheon schreibt über moderne parodistische Kunst: »By this definition, then, parody is repetition, but repetition that includes difference (Deleuze 1968); it is imitation with critical ironic distance, whose irony can cut both ways. Ironic versions of »trans-contextualization« and inversion are its major formal operatives, and the range of pragmatic ethos is from scornful ridicule to reverential homage.«15 Trotzdem zeigen moderne Kunstformen auch, dass die kritische Distanz zwischen der Parodie selbst und dem Hintergrundtext nicht immer zur Ironie führt. Viele Parodien machen die Hintergrundtexte nicht lächerlich, sondern benützen sie als Standard, unter dem sie das Zeitgenössische genauer überprüfen.16 Respektvoll markierte Parodie wäre eher als eine Hommage als ein Angriff zu sehen, obwohl eine kritische Distanz und eine Markierung der Differenz noch immer existieren. Aus diesen Gründen sollte das Ethos, das für die Parodie postuliert wird, eher als unmarkiert eingestuft werden, jedoch mit zahlreichen Möglichkeiten für eine Markierung. In Übereinstimmung mit der gegenübergestellten Bedeutung der Vorsilbe »para« (als »gegen«) können wir eine herausfordernde oder anfechtende Form der Parodie postulieren. Nur das geläufigste Konzept dieses Genres verlangt ein lachhaftes Ethos, trotzdem brauchen wir auch die andere Bedeutung von »gegen« als »nahe zu«, um das respektvollere Ethos zu beschreiben.17
Abgrenzungen Satire An diesem Punkt angelangt wird es nun immer dringlicher, die Parodie von anderen Genres bzw. Strategien, wie zum Beispiel der Satire, abzugrenzen. Obwohl die Parodie und die Satire ihr Zielobjekt auf eine ähnliche Art und Weise behandeln und es zu einem Lachobjekt machen, ist ein großer Unterschied zwischen den beiden, dass die Parodie das vorgeformte Material ihres Zielobjektes auch zur Herstellung ihrer eigenen Struktur benützt. Weiters basiert die Satire nicht auf der Imitierung, Verzerrung oder Zitierung von anderen literarischen Texten oder ist auf ursprüngliche künstlerischen Materialen beschränkt, und wenn sie sich mit solchen vorgeformten Materialen beschäftigt, so muss sie sich nicht selbst für die 14 15 16 17
Ebd. S. 34. Ebd. S. 37. Vgl. ebd. S. 57. Vgl. ebd. S. 60.
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eigenen Eigenschaften abhängig machen, wie es die Parodie tut, sondern sie belustigt sich nur über ihr Zielobjekt außerhalb von sich selbst.18 Weitere Unterschiede zwischen der Satire und der Parodie bestehen darin, dass der Satirist damit beschäftigt ist, entweder das zu attackieren, was als normativ betrachtet wird oder als Verzerrungen der Norm, die sie schützen wollen. Der Parodist aber kann auch gewisse Normen oder ihre Verzerrungen wiedererschaffen bzw. imitieren, um sie im Parodietext zu attackieren oder zu verteidigen.19 Sogar die besten Arbeiten über Parodie, so Hutcheon, tendieren dazu, sie mit der Satire zu verwechseln, die, nicht wie die Parodie, sowohl moralisch als auch sozial in ihrem Fokus und verbessernd in ihrer Absicht ist. Das soll aber nicht heißen, dass die Parodie keine ideologischen oder sogar soziologischen Implikationen haben kann. Parodie kann dazu benützt werden, die Rezeption oder auch die Kreation von verschieden Arten der Kunst satirisch darzustellen.20 Die Satire besitzt wie die Ironie ein markiertes Ethos, eines, das sogar noch negativer kodiert ist. Es kann auch als verächtliches oder gering schätzendes Ethos bezeichnet werden. Es ist eine Art von kodierter Wut, die dem Decoder durch Beschimpfungen mitgeteilt wird. Max Eastman beschreibt die Satire auch als Abstufungen des Beißens. Satire soll aber nicht mit einer einfachen Beschimpfung verwechselt werden, denn die korrigierende Absicht des verächtlichen Lächerlich-Machens ist zentral. Satire ist gleichzeitig destruktiv und besitzt auch einen Idealismus, da sie oft sehr ernst und didaktisch an ihrer Hoffnung auf ihre Kraft, eine Veränderung zu erzielen, festhält. So hat das Ethos der Satire auch eine aggressive Seite, was wir auch auf der Skala der ironischen Funktionsformen sehen, wo ganz oben die satirische Variante der Ironie steht, die ein bitteres und verächtliches Lachen hervorruft.21 Margaret A. Rose versucht die Unterschiede zwischen Ironie, Parodie und Satire anhand eines Diagramms darzustellen, wobei es vor allem um die Beziehung zwischen dem Autor und dem kritisierten oder gegenübergestellten Objekt geht. Die Buchstaben stehen für folgende Bedeutungen: A ist der Code des Autors, B der Code des zitierten Textes oder Werkes, C das kritisierte oder gegenübergestellte Objekt, ⇒ die Richtung der Kritik oder der Umformung der Nachricht oder der Nachrichten des Codes, und ⇐ ist die Richtung der Rückwirkung auf die Meinung des Autors. IRONIE = A⇐ ⇒C, PARODIE = A+B⇐⇒B = C, SATIRE = A⇒C.22 18 19 20 21 22
Vgl. Margaret A. Rose, Parody, a.a.O., S. 82. Vgl. ebd. Vgl. Linda Hutcheon: A Theory of Parody, New York/London, 1985, S. 16. Vgl. ebd. S. 56. Vgl. Margaret A. Rose, Parody, a.a.O., S. 89.
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Burlesque, Persiflage, Pastiche Die Burlesque ist von jüngerem Ursprung als die griechische Etymologie der Parodie. Es wird beschrieben, dass sie vom italienischen »burla« abstammt, was so viel wie »Witz« oder »Trick« bedeutet. Die Burlesque stellt in der Literatur eine Art Spottgedicht dar. 23 Die Persiflage beschreibt das leicht satirische Verspotten der Arbeit eines Anderen und wie manche Anwendungen von »Burlesque«, kann es auch eine komische oder verspottende Mimikry bezeichnen. Wenn sie für etwas Parodistisches angewandt wird, dient die Bezeichnung »Persiflage« mehr zur Beschreibung der Attitüde der Parodisten als der Struktur und Technik der Parodie. Wird sie zur Beschreibung von Mimikry gebraucht, ist sie nicht so sehr mit der komischen Zitierung oder der Veränderung von literarischen Arbeiten beschäftigt wie die literarische Parodie.24 Die Pastiche beschreibt eine neutralere Praxis der Zusammenstellung, die weder kritisch noch komisch sein muss.25 In der postmodernen Diskussion gibt es viele Beiträge und Meinungsverschiedenheiten über die unterschiedlichen Beschreibungen von Pastiche und Parodie. So lautet eine Meinung, dass das Verschwinden von gemeinsamen Normen der Moment ist, in dem die Parodie die »unmögliche« und »leerere« Form der postmodernen Pastiche übernommen hat. Die Pastiche ist wie die Parodie die Imitierung eines pekuliären oder einzigartigen Stils, das Tragen einer stilistischen Maske, die Rede in einer toten Sprache. Aber es ist eine neutrale Praxis einer solchen Mimikry, ohne den Hintergedanken einer Parodie, ohne den satirischen Impuls, ohne Lachen, ohne dem immer noch latenten Gefühl, dass etwas Normales existiert, verglichen zu dem, was imitiert wird und eher komisch wirkt. Pastiche ist eine leere Parodie, die ihren Sinn für Humor verloren hat.26 Diese Art des Pastiche wird als relativistisch kritisiert und unter dem Label »neokonservativer Postmodernismus« gesteckt.27 Dick Hebdige macht zwischen Parodie und Pastiche keine derart großen Unterschiede und hat überdies eine positivere Meinung über die Pastiche: »As semiotics gets increasingly annexed by the advertising and marketing industries, information and knowledge begin to circulate outside the old parameters on the other side of the established institutional circuits: in the fast forward, rewind and slow motion functions of domestic video machines, in the pause button on a walkman audio cassette. Once rescued from the aura of despair which surrounds 23 24 25 26 27
Vgl. ebd. S. 54ff. Ebd. S. 68. Ebd. S. 72. Vgl. ebd. S. 222. Hal Foster: Recodings. Art, Spectacle, Cultural Politics, Washington, 1985, S. 123.
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them in the original passages, pastiche and collage in this context shed their entropic connotations and become the means through which ordinary consumers can not only appropriate new technologies, new media skills to themselves, but can learn a new principle of assemblage, can open up new meanings and affects. Pastiche and collage can be valorised as forms which enable consumers to become actual or potential producers, processors and subjects of meaning rather than the passive bearers of pregiven »messages«.«28
Erkennungszeichen der Parodie Um die Parodie von all den anderen existierenden Formen abgrenzen zu können, gibt Margaret A. Rose folgende Erkennungszeichen für eine Parodie an:
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Erstens, was Veränderungen bezüglich der Kohärenz des zitierten Textes betrifft: 1, Semantische Veränderungen: a, Scheinbar bedeutungslose, absurde Veränderungen der Mitteilung, des Subjekts oder der Materie des Originals. b, Veränderungen der Nachricht, des Subjekts oder der Materie des Originals in einen bedeutungsvolleren, ironischen, oder komischen Charakter. 2, Veränderungen der Wortwahl und/oder der wörtlichen und metaphorischen Funktionen der Wörter, die dem Original entnommen wurden. 3, Syntaktische Veränderung, die auch die semantische Ebene betreffen kann. 4, Veränderungen der Zeit, Personen oder anderer satz-grammatikalischer Elemente. 5, Gegenüberstellung der Passagen innerhalb des parodierten Werkes oder mit neuen Passagen. 6, Veränderungen der Assoziationen des imitierten Textes, die vom neuen Kontext und anderen kontextuellen (und zwischen den Zeilen) Veränderungen hervorgerufen werden. 7, Veränderungen im Soziolekt, Idiolekt oder in anderen lexikalischen Elementen. 8, Veränderungen des Metrums oder Reims in Versparodien oder anderer solcher Elemente in Drama- oder Prosawerken.
28 Dick Hebdige: Hiding in the Light: on Images and Things, London/New York, 1988, S. 195.
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Zweitens, was das direkte Statement betrifft: 1, Kommentare zum parodierten Text, zum Autor der Parodie oder über deren Leser_Innen. 2, Kommentare zu oder über die Leser der Parodie. 3, Kommentare über den Autor der Parodie. 4, Kommentare über die Parodie als ganzer Text. Drittens, was die Effekte auf die Leser_Innen betrifft: 1, Schock oder Überraschung und Humor, hervorgerufen durch den Konflikt mit den Erwartungen über den parodierten Text. 2, Veränderungen in der Ansicht der Leser_Innen des parodierten Texts. Viertens, was die Veränderungen des »normalen« oder erwarteten Stils, des Subjektes oder der Materie des Parodisten betrifft: Eine Veränderung des Stils des Parodisten ist ein brauchbares Zeichen für die Präsenz der Parodie als auch das Erkennen von einer Inkohärenz innerhalb des parodierten Werks oder zwischen ihm und dem neuen Kontext. Das passiert dann, wenn der Leser zwischen dem bekannten Stil des Autors der Parodie und dem Stil, mit dem der Parodist die Parodie schreibt, einen merkbaren Unterschied erkennt. So zum Beispiel in der Stelle von James Joyce »Ulysses«, wo Joyce plötzlich im Stile Dickens schreibt und ihn in »Oxen of the Sun« parodiert. Weiters kann auch eine Änderung im erwarteten Subjekt oder der Materie ein Hinweis auf eine Parodie sein.29
P a r o d i e u n d S u b ve r s i o n Zum subversiven Aspekt der Parodie meint Margaret A. Rose, dass, auch wenn die Perspektive der Parodist_Innen antinormativ oder verzerrend erscheint, so hat die Parodie oft dazu gedient, Normen zu erneuern, indem sie diese Normen in einem neuen Kontext wiedererschaffen hat, bevor die sie zu einem Subjekt einer neuen Kritik oder Analyse wurden.30 So gesehen ist es keine einfache Imitierung, sondern eine Verzerrung des Originals. Die Methode der Parodie ist es, die Normen, die das Original zu realisieren versucht, zu »de-realisieren«, das heißt, was an normativem Status im Original ist, auf eine Konvention oder einen bloßen Kunstgriff zu reduzieren. Linda Hutcheon sieht die Parodie auf zweierlei Arten: »Parody can be thought of as a specific technique and also as a mode of discourse. As a technique, parody involves the articulation of a critique by expressing a meaning different to the stated or ostensible meaning through a repetition
29 Übersetzt aus dem Englischen: Margaret A. Rose, Parody, a.a.O., S. 37f. 30 Vgl. ebd. S. 82.
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or doubling.«31 Für Hutcheon ist eine Parodie eine »repetition with critical difference«.32 Kleinhans schreibt zur Politik der Parodie, dass der radikale Kritizismus zwischen drei Arten der Parodie unterscheidet: Erstens der inhärent apolitischen, zweitens der inhärent kritischen und drittens der Parodie als eine einfache Form der zeitgenössischen Form der Kunst und kulturellen Produktion. Zur ersten, inhärent apolitischen Art der Parodie erläutert er, dass diese Parodie zuerst die Form vom Inhalt trennt, danach die Trennung (ein Gewaltakt an der organischen Einheit) bewertet und dann der Form mehr Bedeutung zuschreibt als dem Inhalt (Formalismus). Es ist eine Variante des Ästhetizismus (oder Kunst um der Kunst Willen), eine Trennung der menschlichen Werte von der Kunsterfahrung und sieht die Kunst nur als eine Angelegenheit der inneren Form getrennt vom Alltagsleben, vom Betrachter. Sie ist an eine Beziehung zwischen Subjekt und Text gebunden, die unabdingbar ein Trainingsprogramm für Entfremdung ist.33 Die zweite, inhärent progressive Form kreiert eine offene Form, die eine komplexe Erfahrung erlaubt. Der Text wird offen (oder frei) und produziert einen befreienden Effekt im Publikum (wir sollten uns jedoch daran erinnern, dass Freiheit nur genommen und nicht gegeben werden kann.) Roland Barthes beschreibt diese Freiheit des Unbeteiligtseins, eines unbestimmten Schwebens, genauer: Die Feier der Unentschlossenheit, des keine Seite Einnehmens, reflektiert die Klassenposition der Kleinbourgeoisie. Die Gabe der Kleinbourgeoisie ist es vor allem, ihr Überleben mit dem Zusammenarbeiten der beiden größeren Klassen zu sichern. Sie schwebt, sodass es nicht passieren kann, dass sie eine Seite einnehmen muss (während eines Machtkampfes unbeteiligt zu bleiben, heißt in Wirklichkeit, mit den Mächtigeren zu paktieren.)34 »Barthes is right to argue against authority and for complexity. But in arguing for parody and indeterminacy he finally argues against practice, commitment, risk, or even testing the idea. [...] history forces decisions on us. The question of freedom is political and existential: what decision do you make, what side are you on?«35 Daher ist auch die ambivalente Ironie nicht subversiv genug, wie Hutcheon richtig erkannt hat. In einer ambivalenten Interpretationsmöglichkeit wird keine Entscheidung gefällt, sondern mit beiden Seiten paktiert. Eine dritte radikale Position ist, dass die Parodie einen inhärenten Aspekt der zeitgenössischen Kunst darstellt, da beide, sowohl die Hochkultur 31 Chuck Kleinhans »Taking Out The Trash. Camp And The Politics Of Parody« in: Moe Meyer (Hg.), The Politics And Poetics Of Camp, New York/London, 1994, S. 196. 32 Ebd. 33 Vgl. ebd. S. 196f. 34 Vgl. ebd. S. 197. 35 Vgl. ebd. S. 197f.
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als auch die Massenkultur heutzutage schwer parodistisch sind. Kunst ist niemals einstimmig. Sie bekommt immer verschiedene Antworten von verschiedenen Leuten. Die Parodie ist unter dem fortgeschrittenen Kapitalismus beständig. Parodie steht als ein Mittel der Anpassung an Dinge, von denen die Leute glauben, dass sie diese nicht ändern können. In diesem Sinne ist sie anpassungsfähig. Sobald die Leute fühlen, dass sich die Geschichte ändert und dass sie Dinge um sie herum ändern können, verwenden sie die Parodie jedoch anders. Sie wird dann tiefgehend und einschneidend gegen die Vergangenheit, gegen den Status quo, gegen das, was die Leute zurückhält. Sie ist verschmolzen mit Wut im künstlerischen und politischen Ausdruck, obwohl sie in der Praxis des Alltagslebens weicher und diffuser wird. Parodie dient in der Kunst dazu, Reichtum, Diversität, Möglichkeit und auch Hoffnung für die Zukunft anzuzeigen, da durch sie vielleicht eine ganze Kultur transformiert werden könnte. Parodie gibt uns die Möglichkeit, neue Verbindungen herzustellen. Hutcheon führt diesbezüglich ein Beispiel an: »At is best this is how the 1960s counterculture was able to use parody. It is what is marked in Jimi Hendrix's performance of »the Star-Spangled Banner«. That version of the national anthem took something totally identified with the dominant culture and magically transformed it into something that said to youth culture, »we have a right to this, too ... we can take it over and transform it to our own ends using our own unique tools and talents«. This kind of parody reveals a greater sense of the range of life and its possibilities, an awareness of the grotesque, of carnival, and of anger, sensuality, and sexuality.«36
So meint auch Dennis Denisoff, dass die Parodie speziell dafür geeignet ist, dass unterdrückte Gruppen oder Individuen normative Idealisierungen unterminieren und ihre eigenen Positionen innerhalb der Gesellschaft verhandeln. Parodie selbst sanktioniert ein solches Manövering nicht nur durch ihre strukturelle Abhängigkeit von der Feier der vielfachen Interpretationen, sondern auch dadurch, dass sie das Publikum dazu führt, über die potentielle Existenz von anderen ontologischen Möglichkeiten nachzudenken, die bis jetzt noch nicht artikuliert wurden.37 Ein zweites Beispiel zum Thema Parodie in der Musik punkto Nationalhymnen gibt Hutcheon anhand von Stockhausen: »[...] or when Stockhausen quotes but alters the melodies of many different national anthems in his Hymnen, parody becomes what one critic calls a productive-creative approach to tradition (Siegmund-Schultze 1977). In Stockhausen's words, his intent was »to hear familiar, old, preformed musical material with new
36 Ebd. S. 199. 37 Vgl. Dennis Denisoff: Aestheticism and Sexual Parody. 1840-1940, Cambridge, 2001. S. 3f.
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ears, to penetrate and transform it with a musical consciousness of today« (cited in Grout 1980, 748).«38 (Hervorhebung im Original). Hutcheon zeigt auf ein zentrales Paradox in der Parodie hin und behauptet, dass die Überschreitung immer bereits autorisiert ist. Die Imitation auch mit einem kritischen Unterschied unterliegt also dem hegemonischen System. In Foucaultschen Begriffen wird die Überschreitung zur Bestätigung des limitierten Seins,39 denn Foucault fordert, dass die produktive Effizienz, der strategische Reichtum und die Positivität der Macht gesehen werden sollen.40 Nancy Fraser verwies auch auf diese Sicht Foucaults, dass die moderne Macht eher »produktiv« als prohibitiv und »kapillar« ist, das heißt schon auf niedrigster Ebene des sozialen Körpers in den alltäglichen sozialen Praktiken wirksam ist.41 Weiters schreibt sie, dass die moderne Macht das Leben der Menschen durch ihre sozialen Praktiken fundamentaler berührt als durch ihre Überzeugungen, nämlich in den so genannten Mikropraktiken, die das soziale Handlungswesen des Alltags bilden. Diese »Politik des Alltagslebens« von Fraser42 dient bereits als theoretisches Grundgerüst für die Geschlechterparodie: Die Macht ist in den Bewachten selbst, in ihren Körpern, Gesten, Begehren und Gewohnheiten und die Wirkungsweise der Macht geschieht durch Selbsterweiterung.43 »Eine zweite strategische Implikation der Einsicht Foucaults in den kapillaren Charakter moderner Macht betrifft die Unzulänglichkeit staatszentrierter oder ökonomischer politischer Orientierungen. [...] Das heißt, die Auffassung, das Ergreifen und Umgestalten staatlicher und/oder ökonomischer Macht genüge, um das moderne Machtregime zu beseitigen oder zu verändern, scheidet von vornherein aus. [...] Denn wenn die Macht in den banalen sozialen Praktiken und Beziehungen verkörpert ist, dann müssen die Versuche, das Regime zu beseitigen oder umzugestalten, bei diesen Praktiken und Beziehungen ansetzen.«44
Nancy Fraser sieht in diesen alltäglichen Praktiken ein großes Potential zur Veränderung, wenn sich die Menschen ihrer Möglichkeiten bewusst werden, sich mit ihrer Lebensweise auseinanderzusetzen und vielleicht zu ändern versuchen. Wie sich diese Mikropraktiken für den Widerstand zur Normativität nutzen lassen und wie sich eine Veränderung zu einer queeren Kultur hin einstellen kann, erklärt David Halperin: 38 Linda Hutcheon, A Theory of Parody, a.a.O., S. 7. 39 Ebd. S. 26. 40 Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit 1: der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main, 1983, S. 106. 41 Vgl. Nancy Fraser: Widerspenstige Praktiken. Macht, Diskurs, Geschlecht, Frankfurt am Main, 1994, S. 31. 42 Vgl. ebd. S. 32. 43 Vgl. ebd. S. 40. 44 Ebd. S. 43.
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»Resistance to normativity is not purely negative or reactive or destructive, in other words; it is also positive and dynamic and creative. It is by resisting the discursive and institutional practices which, in their scattered and diffuse functioning, contribute to the operation of heteronormativity that queer identities can open a social space for the construction of different identities, for the elaboration of various types of relationships, for the development of new cultural forms.«45
Halperin argumentiert auch mit Foucault, wenn er meint, dass es nicht reicht nur »homosexual zu sein« – vielmehr geht es um die Aufgabe »queer zu werden«, eine Identität ohne Essentialität, keine vorgegebene Kondition, sondern ein Horizont einer Möglichkeit, eine Möglichkeit zur Selbsttransformation: »Foucault insisted that homosexuality did not name an already existing form of desire but was rather »something to be desired«. Our task is therefore »to become homosexual, not to persist in acknowledging that we are«. Or, to put it more precisely, what Foucault meant is that our task is to become queer. For his remarks make sense only if he understood his term »homosexual« according to my definition of »queer« – as an identity without an essence, not a given condition but a horizon of possibility, an opportunity for self-transformation, a queer potential. Because one can't become homosexual, strictly speaking: either one is or one isn't. But one can marginalize oneself; one can transform oneself; one can become queer. Indeed, »queer« marks the very site of gay becoming.«46
Zusammenfassend noch einmal auf die Parodie Bezug nehmend sei gesagt, dass die Parodie grundsätzlich doppelt und geteilt ist. Ihre Ambivalenz entsteht durch die Kräfte von konservativen und revolutionären Mächten, die ihrer Natur und der autorisierten Überschreitung inhärent sind.47 In diesem Sinne kann Parodie als subversiv bezeichnet werden – sie untergräbt die herrschenden konservativen Kräfte, die den Rahmen bilden, durch die Überschreitung und führt revolutionäre Kräfte mithilfe der kritischen Differenz ein. Die Autorität und die Überschreitung, welche die textuelle Undurchsichtigkeit der Parodie erfordert, muss in Betracht gezogen werden. Jede Parodie ist offensichtlich hybrid und zumindest zweistimmig.48 Das queere Element, das der Parodie innewohnen mag, kennzeichnet sich durch seine Fähigkeit zur Anti-Essentialität aus, wagt den Schritt zur Transformation der Identitäten und dient in seiner Veränderung als Beispiel und Möglichkeit für andere. Dennis Denisoff spricht im folgenden Zitat bereits die Geschlechterparodie an, indem er erläutert, dass es in der Parodie nicht um die Auslö45 David M. Halperin: Saint Foucault. Towards a Gay Hagiography, New York/Oxford, 1995, S. 67. 46 Ebd. S. 79. 47 Linda Hutcheon, A Theory of Parody, S. 26. 48 Vgl. ebd. S. 28.
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schung eines Subjekts, sondern um eine Veränderung geht: »This shift in focus reveals that parodists of aestheticism and the dandy-aesthetes did not, as is often assumed, try in some clumsy, hostile fashion to eradicate their subject. Rather, in many instances, they attempted to modify or revamp the subject while acknowledging its beneficial contributions to contemporary culture.«49 Er schreibt weiter, dass es auch nicht das Ziel des sexuellen Parodisten ist, vorhergehende Repräsentationen zu modifizieren, um sie näher hin zur fundamentalen Wirklichkeit zu bringen, sondern um ein Vergnügen hervorzurufen, das durch die Infragestellung der Idee des originalen Geschlechts entsteht.50 »In Butler's theorization, gender and sexual identity are constructs communicated as texts written on and by the body through dress and performance. Parody is more appropriate here than satire as the analytical model precisely because its traditional association with the intramural realm of coded discourse, rather than social and moral concerns, emphasizes the queer constructionist challenge to the assumption that gender, sexuality, and identity exist exclusively within the extramural domain.«51
Er warnt aber auch davor, dass Butlers Formulierung zu einem Verwischen zwischen bewussten Performances, wie des »drags« und unkonventioneller Sexualitäten im Allgemeinen führen kann. Wie Jonathan Dollimore herausstreicht, riskiert Butlers Modell, wenn es transhistorisch angewendet wird, dass die pre-sexologische, pre-psychoanalytische Konzeption der Sexualität als privater Akt gelöscht wird.52
Geschlechterparodie bei Judith Butler Butler setzt die Konstruktion von Geschlechtsidentitäten am Körper an und erklärt anhand von Foucaults »Überwachen und Strafen«, wie sich Gesetze im Körper selbst einschreiben. Foucault beschreibt in seinem Werk die Strategie, die nicht darin besteht, eine Repression des Begehrens der Gefängnisinsassen durchzusetzen, sondern ihre Körper so zu manipulieren, dass sie das verbietende Gesetz als ihr Wesen, ihren Stil und ihre Notwendigkeit sehen. Das heißt, dass dieses Gesetz buchstäblich verinnerlicht wird, es wird einverleibt. Somit entstehen Körper, die dieses Gesetz auf und durch den Körper (be)zeichnen.53
49 50 51 52 53
Dennis Denisoff, Aestheticism and Sexual Parody, a.a.O., 2001, S. 3. Vgl. ebd. S. 4. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt am Main, 1991, S. 198.
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Konstruierte Geschlechtsidentitäten Butler stellt weiters fest, dass auch die Geschlechtsidentität als Disziplinarproduktion reformuliert werden kann: »Diese Disziplinarproduktion der Geschlechtsidentität bewirkt eine falsche Stabilisierung der Geschlechtsidentität im Interesse der heterosexuellen Konstruktion und Regulierung der Sexualität innerhalb des Gebiets der Fortpflanzung. Die Konstruktion der Kohärenz verschleiert jene Diskontinuitäten der Geschlechtsidentität, wie sie umgekehrt in den hetero-, bisexuellen, schwulen und lesbischen Zusammenhängen wuchern, in denen die Geschlechtsidentität nicht zwangsläufig aus dem Geschlecht folgt und das Begehren oder die Sexualität im allgemeinen nicht aus der Geschlechtsidentität zu folgen scheinen;«54
Die Identifizierung wird als inszenierte Phantasie oder als Einverleibung verstanden, anders ausgedrückt schreibt Butler: »die Akte, Gesten und Begehren erzeugen den Effekt eines inneren Kerns oder einer inneren Substanz; doch erzeugen sie ihn auf der Oberfläche des Körpers, [...] – diese im allgemeinen konstruierten Akte, Gesten und Inszenierungen erweisen sich insofern als performativ, als das Wesen oder die Identität, die sie angeblich zum Ausdruck bringen, vielmehr durch leibliche Zeichen und andere diskursive Mittel hergestellte und aufrechterhaltene Fabrikationen/Erfindungen sind.« 55
Geschlechterparodie Akte, Gesten und Begehren schaffen die Illusion einer Identität, die dem reproduktiven heterosexuellen System dient. Durch das Beispiel der Travestie – Butler weist in diesen Zusammenhang auf den Aufsatz von Esther Newton über »Female Impersonators« hin – offenbart und entlarvt sich diese Illusion und Produktion der Geschlechtsidentität. Das Spiel mit der Geschlechterparodie heißt aber nicht, dass ein Original imitiert wird, es offenbart vielmehr, dass die ursprüngliche Geschlechtsidentität selbst nur ein Imitat eines nicht vorhandenen Originals ist.56 Butler betont, dass die Parodie als solche nicht subversiv ist, sondern sie erst in Wiederholungen auf die kulturelle Hegemonie störend wirken kann.57 »Betrachten wir also die Geschlechtsidentität beispielsweise als einen leiblichen Stil, gleichsam als einen »Akt«, der sowohl intentional als
54 55 56 57
Ebd. S. 199f. Ebd. Vgl. ebd. S. 203. Vgl. ebd. S. 204.
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auch performativ ist, wobei der Begriff »performativ« auf eine inszenierte, kontingente Konstruktion der Bedeutung verweist.«58 Butler benutzt den Terminus Strategie, um auf die zwanghafte Struktur der Performanz der Geschlechtsidentität hinzuweisen. Jene, die ihre Geschlechtsidentität »falsch« in Szene setzen, werden regelmäßig bestraft. Der Akt der Geschlechtsidentität ist an die wiederholten Inszenierungen gebunden und die Geschlechtsidentität ist durch die stilisierenden Wiederholungen der Akte festgelegt. Die Performanz hat als strategisches Ziel, dass die Geschlechtsidentität in einem binären Rahmen gehalten wird: »Die Möglichkeiten zur Veränderung der Geschlechtsidentität sind gerade in dieser arbiträren Beziehung zwischen den Akten zu sehen, d.h. in der Möglichkeit, die Wiederholung zu verfehlen bzw. in einer De-Formation oder parodistischen Wiederholung, die den phantasmatischen Identitätseffekt als eine politisch schwache Konstruktion entlarvt.«59 In Butlers Werk »Körper von Gewicht« räumt sie Missverständnisse aus dem Weg und betont, dass zwischen »drag« und Subversion keine Verbindung bestehen muss und dass »drag« sehr wohl im Dienste beider – der Denaturalisierung wie auch der erneuten Idealisierung von hyperbolischen heterosexuellen Geschlechternormen – stehen kann: »At best, it seems, drag is a site of a certain ambivalence, one which reflects the more general situation of being implicated in the regimes of power by which one is constituted and, hence, of being implicated in the very regimes of power that one opposes.«60 Zu behaupten, dass jedes Geschlecht Travestie ist, bedeutet, dass die Imitation im Inneren des heterosexuellen Projekts und seinen binären Geschlechtern liegt, dass »drag« nicht eine zweite Imitation ist, das ein vorhergehendes und ursprüngliches Geschlecht voraussetzt, sondern dass die hegemonische Heterosexualität selbst sich konstant und wiederholend bemüht, ihre eigene Idealisierungen zu imitieren, so sehr, dass sie ihre Imitation wiederholen muss, dass sie sogar pathologisierende Praktiken und normalisierende Wissenschaften aufsetzt, um die eigene Behauptung auf Originalität und Ursprung zu produzieren und konstruieren. Es bleibt eine gewisse Furcht bestehen, dass die eigene Idealisierung der heterosexuellen Performativität nie zur Gänze und endgültig erreicht werden könnte. »In this sense, then drag is subversive to the extent that it reflects on the imitative structure by which hegemonic gender is itself produced and disputes heterosexuality's claim on naturalness and originality«61 Butler stellt aber überdies klar, dass es trotzdem Gebiete gibt, in denen die Heterosexualität ihren Mangel an Originalität und Natürlichkeit zwar eingesteht, aber ge58 Ebd. S. 205. 59 Ebd. S. 207. 60 Judith Butler: Bodies That Matter. On the Discursive Limits of »Sex«, New York/London, 1993, S. 125. 61 Ebd.
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nauso ihre Macht beibehält. In diesem Zusammenhang führt Butler das Beispiel von Venus Xtravaganza aus dem Film »Paris is burning« an, eine präoperative Transsexuelle, die durch homophobe Gewalt ermordet wurde, wohingegen ein anderer Performer als »straight« gelten kann und sein »vogueing« in heterosexuellen Videoproduktionen von Madonna vorkommt. Auch leichte Unterhaltungsfilme, wie z. B. »Some Like it Hot« sind ein Beispiel für das nicht-subversive Einsetzen von »drag« laut Butler, da die versteckte und lächerlich gemachte Homosexualität nur das heterosexuelle Regime verstärkt.62
Kritik an Butlers Geschlechterparodie Sabine Hark führt Kritiken an Butlers Vorstellung des Parodierens an, die das Original, das Authentische bzw. Reale, als Täuschung bloßstellt und daher als Praxis angesehen werden kann, in der jede einer Geschlechtsidentität zugewiesene Eigenschaft entlarvt wird und dessen »Effekt die Vervielfältigung von Geschlechterkonfigurationen, die Destabilisierung substantivischer Identität und naturalisierter Zwangsheterosexualität sei«63. Dieser Zugang von Butler wurde vor allem aus dem Grund heftig kritisiert, da angeblich materielle Geschlechterverhältnisse negiert werden und der feministischen Politik die Basis verloren geht. Laut Hark treffen hier zwei Diskurse aufeinander, »die feministischen Konzeptualisierungen von Geschlecht einerseits und die Theoretisierungen von Parodie als Politik andererseits«.64 Ein Problem des zweiten Diskurses ist, dass im deutschsprachigen Raum bis zum Erscheinen der Werke Butlers kaum der Versuch unternommen wurde, über ästhetische Praxen als politische Praxen zu diskutieren. »Die Missverständnisse, die Butlers »Von der Parodie zur Politik« auslöste, waren insofern gewissermaßen vorprogrammiert, trafen sie doch auf eine Leerstelle, die als solche nicht einmal erkannt war. So fielen die Urteile über das politische Gewicht von Geschlechterparodien knapp und eindeutig aus: Gegenüber der beharrlichen Schwere realer Geschlechterverhältnisse kann Travestie und Parodie nur spielerisches, romantisierendes Fliegengewicht sein.«65
Im englischsprachigen Raum gingen den Überlegungen Butlers schon die Cultural Studies und die Analysen zur Camp-Kultur voran. Zwischen »vorpolitischer (Sub-) Kultur und organisierter Politik« liegt keine Grenz62 Vgl. ebd. S. 126-130. 63 Sabine Hark »Parodistischer Ernst und politisches Spiel« in: A. Hornscheidt, G. Jähnert, A. Schlichter (Hg.), Kritische Differenzen-geteilte Perspektiven. Zum Verhältnis von Feminismus und Postmoderne, Opladen/Wiesbaden, 1998, S. 116. 64 Ebd. 65 Ebd. S. 117.
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ziehung mehr vor, wie Kennedy und Davis »Spuren und Effekte politischen Handelns in den kulturellen Stilen lesbischer Frauen«66 zeigen. Sie »rekurrieren zwar auf die hierarchisch organisierte Unterscheidung von männlich und weiblich, sie nutzen dieses Repertoire jedoch nicht, um sich an herrschende Geschlechterrollen anzupassen, sondern um lesbisches Begehren und Leben, autonomes weibliches Leben sichtbar zu machen. In einer Zeit, in der die USamerikanische Politik und Gesellschaft unter Senator Joseph McCarthys Führung zur Hatz gegenüber allem »Unamerikanischen« – und das hieß vor allem gegenüber Kommunist_Innen und Lesben und Schwule – geblasen hatte, durchaus ein Akt der Rebellion gegen normative Stereotypen von Weiblich- und Männlichkeit und restaurative Geschlechterverhältnisse.«67
Für Hark stellen subkulturelle Stilstrategien sehr wohl ein antinormalisierendes Moment dar und sind deshalb politisch relevant. Eine Trennung von Kultur und Politik ist nicht angebracht. »Nur eine historische und politische Kontexte berücksichtigende Analyse kann deshalb Aufschluß über das subversive oder konservative Gewicht spezifischer Strategien geben, weshalb subkulturelle Stile verstanden werden müssen als innerhalb je spezifischer historisch-ideologischer Kontexte produziert, zirkuliert und gedeutet.«68 Auch Dick Hebdige, ein Theoretiker der Cultural Studies, schreibt der Subkultur eine politische Wichtigkeit zu: »Style in subculture is [...] pregnant with significance. Its transformation go »against nature«, interrupting the process of »normalization«. As such, they are gestures, movements towards a speech which offends the »silent majority«, which challenges the principle of unity and cohesion, which contradicts the myth of consensus.«69 Zur Kritik, die behauptet, dass durch Butlers Geschlechterparodie (Auflösung der Geschlechterkategorien) der feministischen Politik die Basis verloren geht, die auf die feministischen Kategorisierungen des Geschlechts beruht, meint Hark, dass politische Identitäten durch das Auftreten immer neuer Antagonismen nie starr und endgültig festgestellt sind. »Denn so sehr die Fixierung eines politischen Subjekts durch den Rekurs auf Identitätskategorien notwendig erscheint, um politische Forderungen abzusichern und um die Macht zu beanspruchen, sich selbst zu benennen, so unmöglich ist es, vollständig über die zukünftige Verwendung der Kategorien zu wachen.«70 Hark schließt sich also der Kritik nicht an, und be-
66 67 68 69 70
S. 118. Ebd. S. 118f. Ebd. S. 119. Dick Hebdige: Subculture. The meaning of style, New York, 1979, S. 18. Sabine Hark: Deviante Subjekte: die paradoxe Politik der Identität, Opladen, 1999, S. 19.
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hauptet, dass starre Identitäts- oder Geschlechtskategorien für die Politik gar nicht notwendig sind. Dennoch warnt sie davor, dass eine Destabilisierung der Kategorien nicht mit Subversion gleichzusetzen ist. »Ein »Gegendiskurs« kann ebenso gut – in einer in gewisser Weise traurig zu nennenden dialektischen Drehung – genau die Version, die in Frage gestellt wurde, wiederum bestätigen und in ihre hegemoniale Position einsetzen. Welche Form bzw. welche Richtung ein Gegendiskurs an/nehmen wird, ist mithin nicht vorab zu erkennen oder gar festzulegen.«71 So nimmt auch Butler wahr, dass ihr »drag«-Beispiel nicht immer subversiv sein muss. Anhand von Ernesto Laclaus und Chantal Mouffes »Praxis der Artikulation«72 erklärt Hark weiter, warum eine Identität nicht immer determiniert und absolut sein muss: jede Praxis, »die eine Beziehung zwischen Elementen so etabliert, dass ihre Identität als Resultat einer artikulatorischen Praxis modifiziert wird«73 ist eine Praxis der Artikulation. Diese »stellt dann die Form einer Verbindung dar, die eine Einheit verschiedener Elemente, die zu Momenten geworden sind, bilden können. Es ist eine Verkettung, die nicht notwendig, nicht determiniert und absolut ist.«74 (Hervorhebung im Original) Für identitätspolitische Strategien kommt der Begriff der Hegemonie ins Spiel, denn es geht um den Kampf über und um den Diskurs, »den Common sense oder die Doxa einer Gesellschaft zu bestimmen. Hegemonie bezeichnet mithin den Prozess, in dem kulturelle Autorität verhandelt und in Frage gestellt wird. D.h. Hegemonie wird ständig wiederhergestellt, erneuert, verteidigt und modifiziert. Keine Form der Hegemonie kann die Bedeutungen und Werte einer Gesellschaft auf Dauer erschöpfend festlegen.«75 (Hervorhebung im Original) Laclau und Mouffe schreiben über die Hegemonie, dass ihre Effekte sich immer aus einem Bedeutungsüberschuss ergeben, der aus der Verschiebung heraus entsteht – die Hegemonie ist also metonymisch76, was für die identitätspolitischen Bewegungen interessant ist: »Wenn Hegemonie sich aus einem durch metonymische Verfahren genutzten Bedeutungsüberschuss speist, müssen identitätspolitische Strategien einerseits notwendig bereits auf hegemonial gewordene Sinnbestände zurückgreifen und können andererseits soziale Identitäten niemals vollständig ausgearbeitet und abgeschlossen sein.«77 Im Sinne Bourdieus kann das politische Feld als ein Schauplatz des Wettkampfes um die Macht verstanden werden. Hier sind die Identitäten 71 Ebd. S. 20. 72 Vgl. Ernesto Laclau/Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien, 1991, S. 155. 73 Sabine Hark, Deviante Subjekte, a.a.O., S. 24. 74 Ebd. 75 Ebd. S. 25. 76 Vgl. Ernesto Laclau/Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, a.a.O., S. 201. 77 Sabine Hark, Deviante Subjekte, a.a.O., S. 25.
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sowohl die Einsätze als auch die Effekte der symbolischen Kämpfe und die Identität wird zum Modus um Politik zu inszenieren.78 Dass die Identitätspolitik auf einer mimetischen Theorie von Repräsentation als Entsprechung des »Realen« basiert, analysierte Teresa de Lauretis. Durch die Aufrufung eines vorgängigen »Realen« entstehen so kollektive Identitäten.79 »Diese Illusion, die Aufrufung und Einsetzung eines »Realen« als dem Garanten einer Repräsentation hat Judith Butler mit dem Begriff des »deskriptiven Ideals« beschrieben. Das »deskriptive Ideal« arbeitet mit einer doppelten Illusion. Es weckt nicht nur die Erwartung, daß eine vollständige und finale Beschreibung möglich ist, sondern auch, daß das Feld möglicher Bedeutungen für alle Zeiten ausgeschöpft werden kann, daß das »Ende der Geschichte« möglich ist.«80
Mit dem Subjekt kommt eine weitere Komponente auf das politische Spielfeld. Foucault schreibt dazu folgendes: »Es ist eine Machtform, die aus Individuen Subjekte macht. Das Wort Subjekt hat einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemanden unterworfen zu sein und durch Bewußtsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein. Beide Bedeutungen unterstellen eine Form von Macht, die einen unterwirft und zu jemandes Subjekt macht.«81 Laut Laclau und Mouffe reicht es nicht, die Vorstellung eines homogenen, vereinheitlichten Subjekts durch die Idee der Multiplizität und Fragmentierung zu ersetzen, wo jedes Teil seine geschlossene und voll konstituierte Identität hätte. Die Problematik der Essentialität ist weiterhin vorhanden.82 Hark fordert eine Dialektik der Nicht-Fixiertheit, die nicht als eine Dialektik der Separierung verschiedener Fragmente gesehen werden kann, »sondern als eine der Subversion und Überdeterminierung«83. Sie greift dabei auf die psychoanalytische Annahme zurück, »daß das Subjekt keine genuine Identität »besitzt«, sondern primär das Subjekt eines Mangels ist, den es durch permanente Akte der Identifikation mit anderen/anderem zu verdecken sucht. Folglich, welche Identität auch immer eine Subjekt »hat«, diese Identität wird immer nur konstituiert durch Akte der Identifikation, die nicht auf einen inneren Kern des Individuums rekurrieren.«84 Hark führt Jacques Lacans Theorie der Identifizierung als einen 78 Vgl. ebd. S. 53. Und Pierre Bourdieu »Identity and Representation: Elements for a Critical Reflection on the Idea of Region.« In: ders.: Language and Symbolic Power, Cambridge, 1997, S. 220-228. 79 Vgl. Sabine Hark, Deviante Subjekte, a.a.O., S. 55. 80 Ebd. 81 Michel Foucault »Das Subjekt und die Macht« in: Hubert L. Dreyfus/Paul Rabinow (Hg.), Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a. M., 1987, S. 246f. 82 Vgl. Ernesto Laclau/Chantal Mouffe, Hegemonie und radikale Demokratie, S. 143. 83 Sabine Hark, Deviante Subjekte, S. 60. 84 Ebd.
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transformatorischen Prozess an, in der die Identität als eine Effekt von Identifizierung mit etwas, das außerhalb des Individuums liegt, verstanden wird und das »Ich« als Reflexion und Spiegelbild von sich selbst annimmt. Die Identität gehört in die Ordnung des Imaginären (Spiegelbilder, Identifizierungen). Das Individuum versucht die Andersartigkeit des Anderen aufzulösen, indem es das Andere des Anderen gleichsam einverleibt.85 Zwischen der Ordnung des Imaginären, welche die Identität stabil zu halten versucht und der Ordnung des Symbolischen, welche die Stabilität von Identität kontinuierlich subvertiert, herrscht ein ständiger Kampf. Auf der Ebene der Politik bedeutet das, dass »vermehrt neue Akte der politischen Intervention und Identifizierung erforderlich werden«. 86 Identitäten sind also letztlich »leere Zeichen«, die phantasmatisch verschieden besetzt werden können und daher auf mehrere Arten angeeignet und artikuliert werden. Laclau und Mouffe haben das den »frei flottierenden Charakter« der politischen Signifikanten genannt. Zwischen Signifikat und Signifikanten gibt es keine essentielle Verbindung. Aus diesem Grund können die Signifikanten an verschiedenste politische Diskurse andocken und andererseits bedeutet das auch die »radikale Unbestimmtheit (in) der Demokratie«, wie Claude Lefort es interpretiert, denn der Namen oder die Benennung kann niemals von jemanden dauerhaft festgelegt werden. »Es ist dieses Moment der Subversion, das paradoxe Aufeinanderverwiesensein von Fixierung und Nicht-Fixierung, das die Differenz in Identität ausmacht, und verhindert, daß Identität je mit sich identisch würde.«87 (Hervorhebung im Original) Viele Theoretiker_Innen machen die Problematik mit der Subversion von starren Identitäten auch am Unterschied zwischen »Performance« und »Performativität« bei Judith Butler fest. (Ich werde später noch genauer auf den linguistischen Begriff »performativ« eingehen). Butler schreibt in »Critically Queer«, dass Performance ein »bounded act« ist, also die theatralische Darstellung von Geschlechternormen und dass die Performativität in der Wiederholung von Normen besteht, durch welche die Identität konstituiert wird und die nicht von eigenem Willen oder von der eigenen Wahl abhängen. Butler stellt klar, dass die Reduzierung des Begriffs Performativität auf Performance ein Fehler ist.88 Um auf die Charakteristik von Performance als selbstwählbar und von der Performativität als diskursiver Prozess hinzuweisen89, wird häufig 85 86 87 88
Ebd. S. 61f. Ebd. S. 63. Ebd. S. 66. Vgl. Judith Butler, Bodies That Matter, a.a.O., S. 234. Und auch: Frederick Roden »Becoming Butlerian: On the Discursive Limits (and Potentials) of Gender Trouble at Ten Years of Age« in: International Journal of Sexuality and Gender Studies, Vol. 6, Nr. 1/2, 2001, S. 27. 89 Vgl. Nikki Sullivan: A Critical Introduction to Queer Theory, Edinburgh, 2003, S. 89.
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auch zwischen »Voluntarismus« und »Anti-Voluntarismus« unterschieden. Die subversive Möglichkeit liegt in der »resignification«, obwohl sie auch nicht immer in der Kontrolle des/der Produzent_In ist: »The incalculable effects of action are as much a part of their subversive promise as those that we plan in advance. The effects of performatives, understood as discursive productions, do not conclude at the terminus of a given statement or utterance, the passing of legislation, the announcement of a birth. The reach of their signifiability cannot be controlled by the one who utters or writes, since such productions are not owned by the one who utters them. They continue to signify in spite of their authors, and sometimes against their authors’ most precious intentions.«90
Die Effekte der Performativität sind also viel weniger vorhersagbar als zum Beispiel die Effekte der Parodie – ich denke dabei an den Begriff des »Ethos« bei Hutcheon als die beabsichtigte Reaktion, die die/der Empfänger_In erkennen soll. Aus diesem Grund ist es bei der Geschlechterparodie um einiges komplexer abzuklären, ob dieser oder jener Akt als subversiv gilt oder nicht, denn wie Butler selbst im obigen Zitat sagt, liegt die Bedeutungsproduktion nicht mehr in der Reichweite der/des Autor(s)_In. Ein Beispiel dafür, wie eine bestimmte Performance verschieden interpretiert werden kann, gibt uns Nikki Sullivan anhand des Falles eines »BarbiePuppen Aufschlitzers« (»Barbie slasher«). 24 Barbie-Puppen wurden verstümmelt, indem ihre Brüste abgeschnitten wurden und der Schritt einer jeden aufgeschlitzt wurde. Die so verunstalteten Barbies wurden an öffentlichen Plätzen liegen gelassen. Die Polizei von Ohio schaltete daraufhin das FBI ein, da sie annahm, dass diese dargestellte Aggression Gewalt an Frauen symbolisierte und im schlimmsten Falle tatsächlich an jungen Frauen ausgeübt werden könnte. Es beunruhigt daher, dass auch wenn die »slashers« klare Zeichen dafür geben, dass ihr beabsichtigtes Ziel die Ideologie ist, die Barbie repräsentiert – also das typische weibliche Schönheitsideal – es noch immer als Gewalt gegen Frauen interpretiert wird, weil sie weiterhin in einer Kultur zirkuliert, in der diese Gewalt anscheinend teilweise akzeptiert wird und oft in Darstellungen vorkommt. Der historische, kulturelle und politische Kontext veränderte die Interpretation dieser Aktion.91 Butler führt einige Beispiele an, in denen performative Akte, was ihre beabsichtigte Interpretation betrifft, auch erfolgreich gelingen. Im Abschnitt über subversive Sprechakte wird noch einmal genauer auf die Performativität eingegangen. Judith Butler führt in »Bodies that Matter« selbst eine weitere Kritik an ihrer Geschlechterparodie an, nämlich dass radikale Feministinnen ar90 Vgl. Judith Butler, Bodies That Matter, a.a.O., S. 241. 91 Vgl. Nikki Sullivan, A Critical Introduction, a.a.O., S. 92.
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gumentieren, dass »drag« nur der Ersatz und die Aneignung von »Frauen« ist und daher misogyn ist. Laut dieser Argumentation gilt auch, dass Lesbianismus nichts außer der Ersatz und die Aneignung von Männern ist.92 Mit diesem Diskurs befasst sich auch Sabine Hark und sie stellt fest, dass die schwule Tuntenkultur in lesbisch-feministischen Kreisen lange Zeit als sexistisch galt, da sie es als eine misogyne Imitation heterosexueller Weiblichkeit deuteten. Auch »fem«93 und »butch« wurden tabuisiert. Jetzt kommt aber das parodistische Spiel mit dem Geschlecht wieder in Mode und erlebt ein kulturelles, politisches und theoretisches Revival, wie z. B. durch »drag king«-Workshops.94 Judith Halberstam liefert uns eine Definition von »drag king«: »A drag king is a female (usually) who dresses up in recognizably male costume and performs theatrically in that costume. Historically and categorically, we can make distinctions between the drag king and the male impersonator. Male impersonation has been a theatrical genre for at least two hundred years, but the drag king is a recent phenomenon. Whereas the male impersonator attempts to produce a plausible performance of maleness as the whole of her act, the drag king performs masculinity (often parodically) and makes the exposure of the theatricality of masculinity into the mainstay of her act. Both the male impersonator and the drag king are different from the drag butch, a masculine woman who wears male attire as part of her quotidian gender expression. Furthermore, whereas the male impersonator and the drag king are not necessarily lesbian roles, the drag butch most definitely is. In the 1990s, drag king culture has become something of a subcultural phenomenon. Queer clubs in most major American cities feature drag king acts: for example, there is a regular weekly drag king club in New York called Club Casanova whose motto is »the club where everyone is treated like a king! There is a monthly club in London called Club Geezer and a quarterly club in San Francisco called Club Confidential.«95
Eine »butch« kann verschiedene Verkörperungstechniken anwenden, um sich Männlichkeit anzueignen: Erstens die physiotechnische Praktik, um den biologischen Körper zu verändern, beispielsweise durch Fitnesstraining, die Einnahme von Hormonen oder auch mithilfe plastischer Chirurgie. Zweitens territorialisierende Praktiken, in denen es vorrangig um die Oberfläche des Körpers geht (Piercing, Tattoo, Krawatte, Siegelring, Nietenarmband, Baggy Pant, Kapuzenpulli und Basecap). Drittens transgressive Praktiken, die sich mit der Artikulation des Körpers, also wie der Körper im Raum wirkt, beschäftigen. Dazu zählen unter anderem typische Bewegungen, die Motorik, das Sprechen mit klarer und lauter Stimme, 92 Vgl: Judith Butler, Bodies That Matter, a.a.O., S. 127. 93 »Fem« kann auch »femme« geschrieben werden. Ich benütze in diesem Abschnitt jene Form, die auch Sabine Hark verwendet. 94 Vgl. Sabine Hark, Parodistischer Ernst und politisches Spiel, a.a.O., S. 121. 95 Judith Halberstam, Female Masculinity, Durham (US), 2004, S. 232.
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Gesten, die weit und ausladend sind und Blicke, die fest und durchdringend fixieren. Viertens soziale Spielpraktiken – das sind gesellschaftliche Rollen im Alltag: Wer wäscht ab, wer repariert den Fernseher, fragender und klärender Part in einem Gespräch.96 Als Beispiel für eine Kritik an der »fem/butch«-Ästhetik wiederholt Hark die Meinung von Carole-Anne Tyler (1991)97, nämlich, dass »butch/fem« parodistische Resignifikationen heterosexueller Normen sind und die Annahme verstärken, dass das »Authentische« oder »Natürliche« eben die Heterosexualität ist.98 Hark sieht hingegen in der lesbischen »butch/fem« Repräsentation den »Versuch, in der »Sprache des Geschlechts«, d.h. mit und durch hegemoniale Geschlechterrepräsentationen hindurch, ein anderes, lesbisches Begehren sichtbar zu machen, zum anderen das soziale und erotische »Innenleben« lesbischer Gemeinschaften zu organisieren. Die lesbischen Aneignungen der Ikonographie von butch/fem haben also nicht cross-dressing zum Inhalt; es geht nicht darum, das gender des anderen sex zu tragen, »die« Lesbe hinter der Maske des männlichen bzw. weiblichen Geschlechts zu verstecken und das Gegenüber zu täuschen.«99 (Hervorhebung im Original)
Sie betont, dass es in der »butch/fem« Praxis darum geht, eine soziale Sichtbarkeit von Lesben zu erzeugen und nicht um ein so »zu-tun-als-ob« man das andere Geschlecht sei oder »die heterosexuellen Originale zu imitieren, sondern genau darum, die ideologisch gestiftete Kohärenz zwischen sex, gender, Begehren und Identität durch Allegorisierung bloßzustellen und damit allererst einen Raum für lesbische Differenz zu schaffen.«100 Hark stellt klar, dass es um keine »Ersatzvision heterosexueller Romanzen« geht, sondern um die »sexuelle Entautorisierung von Geschlecht«101. Als Beispiel führt Hark einen Auftritt einer lesbischen Sängerin als Mann an: Phranc als Neil Diamond. »Phrancs Parodie agierte in dem zwar tendenziell unbewohnbar gemachten, dennoch vorhandenen kulturellpolitischen Raum zwischen den Geschlechtern, der mit Teresa de Lauretis (1987)102 als space-off verstanden werden kann, d.h. als diejenigen Orte, die von den hegemonialen Repräsentationen von Geschlecht und Sexuali-
96
Steffen Kitty Herrmann »Bühne und Alltag. Über zwei Existenzweisen des Drags.« in P. Thilmann, T. Witte, B. Rewald (Hg.), Drag Kings. Mit Bartkleber gegen das Patriarchat, Berlin, 2007. 97 Carole-Anne Tyler »Boys Will Be Girls: The Politics of Gay Drag« in: Diana Fuss (Hg.), Inside/Out: Lesbian Theories. London/New York, 1991, S. 32-70. 98 Sabine Hark, Parodistischer Ernst und politisches Spiel, a.a.O., S. 127. 99 Ebd. S. 128. 100 Ebd. S. 129. 101 Ebd. 102 Teresa de Lauretis, Technologies of Gender, Bloomington, 1987.
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tät ausgelassen bzw. aktiv zum Schweigen gebracht werden.«103 (Hervorhebung im Original). Als Ziel der Darstellung, gibt sie an, galt nicht die Irreführung des Publikums und somit eine Aufrechterhaltung der heterosexuellen Ökonomie, sondern eine Verkomplizierung dessen, was es heißt, ein »Mann zu sein«, aber auch dessen, was es heißt, eine »Lesbe zu sein«.104 »Tatsächlich war für das Gelingen der Inszenierung weniger relevant, daß das Publikum sich gewiß war über das anatomische Geschlecht »hinter« der Maske, entscheidend war vielmehr die zwischen Phranc und Publikum ins Spiel und in Bewegung gebrachte komplexe Begehrensökonomie.«105 Sabine Hark ist bemüht, eine hegemoniale Erzählung einer naturalisierten Zweigeschlechtlichkeit nicht einfach immer weiterzutragen, vielmehr möchte sie zur Abwechslung einmal andere Geschlechtergeschichten erzählen. »Geschichten, in denen Geschlecht nicht irrelevant wäre, aber in immer neuen und ungeahnten Inszenierungen erscheinen würde.«106 Judith Halberstam analysiert in ihrem Buch »Female masculinity« die Diskussionen innerhalb der queeren Gemeinschaft über Männlichkeiten bei Frauen von Butch bis hin zu FTM (Transsexueller, von Frau zu Mann): »Female masculinity is a particulary fruitful site of investigation because it has been vilified by heterosexist and feminist/womanist programs alike; unlike male feminitiy, which fulfills a kind of ritual function in male homosocial cultures, female masculinity is generally received by hetero- and homo-normative cultures as a pathological sign of misidentification and maladjustment, as a longing to be and to have a power that is always just out of reach. Within a lesbian context, female masculinity has been situated as the place where partriarchy goes to work on the female psyche and reproduces misogyny within femaleness.«107
Manchmal fällt die weibliche Männlichkeit mit den Maßlosigkeiten der männlichen Vormacht zusammen, manchmal aber auch mit einer Art der sozialen Rebellion. Laut Halberstam kann die Männlichkeit bei Frauen auch das Zeichen der sexuellen Andersartigkeit sein, gelegentlich aber auch eine heterosexuelle Variation bezeichnen. Das unkonventionelle Rollenverhalten und Aussehen der Frau wird sowohl als Pathologie als auch als die gesunde Alternative zu dem, was als das theatralische Getue von traditionellen Weiblichkeiten gilt, gesehen.108 »I want to carefully produce a model of female masculinity that remarks on its multiple forms but also calls for new and self-conscious affirmations of different 103 104 105 106 107 108
Sabine Hark, Parodistischer Ernst und politisches Spiel, a.a.O., S. 133. Ebd. S. 134. Ebd. Ebd. S. 136. Judith Halberstam, Female masculinity, a.a.O., S. 9. Vgl. ebd.
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gender taxonomies. Such affirmations begin not by subverting masculine power or taking up a position against masculine power but by turning a blind eye to convencional masculinities and refusing to engage. Frankie Addams, for example, constitutes her rebellion not in opposition to the law but through indifference to the law: she recognizes that it may be against the law to change one’s name or add to it, but she also has a simple response to such illegal activity: »Well, I don’t care.« I am not suggesting in this book that we follow the futile path of what Foucault calls »saying no to power«, but I am asserting that power may inhere within different forms of refusal: »Well, I don’t care.«109
Selbstverständlich argumentiert Halberstam gegen eine oben erwähnte Pathologisierung der »gender dysphoria«110 und beschreibt einen bestimmten lesbischen Maskulinitätstypen näher – die »stone butch«: »[...] within certain brands of lesbian masculinity, the effects of gender dysphoria produce new and fully functional masculinities, masculinities, moreover, that thrive on the disjuncture between femaleness and masculinity. By detaching the lesbian role of stone butch from dysfunctional sexuality, we establish a zone of gendering in which sexual practices and sexual identities may emerge from and within unstable gendering.«111 Halberstam zitiert Gayle Rubins Definition von »butch«: »Butch is the lesbian vernacular term for women who are more comfortable with masculine gender codes, styles, or identities than with feminine ones.«112 Weiters beschreibt sie verschiedene Arten der »butches«: »A »drag butch« is a kind of passing woman who takes on the form of a heterosexual male in clothes and style, but a »stone butch« is »a butch who does not let her partner touch her sexually.« There are also »femmie-looking butches« and »butch-looking femmes.«113 In Anlehnung an Butlers Performance Theorie schreibt Halberstam, dass die »stone butch« diese herausfordert, weil ihre Performance eigentlich eine Nicht-Performance ist. Butler selbst schrieb über die »stone butch«, als sie die Logik der Inversion diskutiert. »The logic of inversion gets played out interestingly in versions of lesbian butch and femme gender stylization. For a butch can present herself as capable, forceful, and all-providing, and a stone butch may well seek to constitute her lover as the exclusive site or erotic attention and pleasure. And yet, this »providing« butch who seems at first to replicate a certain husband-like role, can find herself caught in the logic of inversion whereby that »providingness« turns into a self109 110 111 112
Ebd. Warum nicht statt Dysphoria – Euphoria verwenden? Judith Halberstam, Female masculinity, a.a.O., S. 119. Gayle Rubin »Of Catamites and Kings: Reflections on Butch, Gender, and Boundaries« in: Joan Nestle (Hg.), Persistent Desire: A Femme-Butch Reader, Boston, 1992, S. 467. Zitiert in Judith Halberstam, Female masculinity, a.a.O., S. 120. 113 Ebd.
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sacrifice, which implicates her in the most ancient trap of feminine selfabnegation. She may well find herself in a situation of radical need, which is precisely what she sought to locate and find and fulfill in her femme lover.«114
Halberstam stimmt mit der Ansicht Butlers, dass die »stone butch« die Rolle des Weiblichen übernimmt, da sie ihr eigenes Verlangen vernachlässigt, nicht überein, denn Butler macht zwischen »feminine selfabnegation« and »butch self-abnegation« keinen Unterschied. Halberstam sieht also keinen Zusammenhang mit einer Selbstaufopferung der Frau für einen Mann. Butler geht auf die Kritiken, die ihre Geschlechterperformance-Theorie auslöste, noch näher in der Ambivalenz von »drag« in »Paris is burning« ein: »drag« ist beides, Zustimmung und Subversion. Es subvertiert und stimmt rassistischen, misogynen und homophoben Normen der Unterdrückung zu. Butler analysiert gelungene »Drag-King«-Performances, das heißt, die eine »Echtheit« so gut vortäuschen, dass sie nicht aufgedeckt werden können. Das Künstliche der Performance kann nicht als künstlich gesehen werden. »On the contrary, when what appears and how it is »read« diverge, the artifice of the performance can be read as artifice; the ideal splits off from its appropriation. But the impossibility of reading means that the artifice works, the approximation of realness appears to be achieved, the body performing and the ideal performed appear indistinguishable.«115 Die Anleitungen, wie die Performance als Drag-King funktioniert, gibt uns Diane Torr, die bereits in den frühen 1990ern in New York mit Johnny Armstrong die ersten Drag King Workshops und Wettbewerbe abhielt. Zu den wichtigsten Punkten die folgenden: • Brustbandagen: Die Brüste sollen nicht mehr wahrnehmbar sein; • Penis: verschiedene Arten, eingerollte Socke, ausgestopftes Kondom, Dildo; • Haare: lange Haare zurückbinden, Mittelscheitel; • Gesichtshaare und Make-up: zum Anfertigen von Bärten und Bartschimmer; • Kleidung: Männerkleidung, kann auch ein übergroßes T-Shirt sein, Männerschuhe; • Verhalten: nicht viel lächeln, wie ein Mann gehen: Füße nach außen, Gehen kommt aus Schultern, Hüften sind steif, viel Raum einnehmen, Gewicht von einer Seite zur anderen verlagern; wie ein Mann sitzen, Beine gespreizt, Füße am Boden; • männlicher Blick: durch etwas hindurchstarren; 114 Judith Butler »Imitation and Gender Insubordination« in: Diana Fuss (Hg.), Inside/Out: Lesbian Theories, Gay Theories, New York, 1991, S. 25. Zitiert in Judith Halberstam, Female masculinity, Durham, 2004, S. 126f. 115 Judith Butler, Bodies That Matter, a.a.O., S. 129.
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• •
männliche Stimme: langsam reden, tief und laut; männliche Gesten.116
In den »drag«-Aufführungen sind wir Zeugen eines Subjekts, das die legitimierenden Normen, von denen es selbst abgewertet wurde, wiederholt und nachahmt. Butler geht dieser Frage der Nachahmung und Wiederholung des hegemonischen Systems näher nach und greift auf Gramsci zurück, wenn sie herausfinden will, wie Hegemonie funktioniert. »these hegemonies operate, as Gramsci insisted, through rearticulation, but here is where the accumulated force of a historically entrenched and entrenching rearticulation overwhelms the more fragile effort to build an alternative cultural configuration from or against that more powerful regime. Importantly, however, that prior hegemony also works through and as its »resistance« so that the relation between the marginalized community and the dominative is not, strictly speaking, oppositional. The citing of the dominant norm does not, in this instance, displace that norm; rather, it becomes the means by which that dominant norm is most painfully reiterated as the very desire and the performance of those it subjects.«117
Den Terminus «rearticulation« erklärt Butler auf die Ideen von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe eingehend genauer »Against a causal theory of historical events or social relations, the theory of radical democracy insists that political signifiers are contingently related, and that hegemony consists in the perpetual rearticulation of these contingently related political signifiers, the weaving together of a social fabric that has no necessary ground, but that consistently produces the »effect« of its own necessity through the process of rearticulation.«118 Was den Film »Paris is burning« anlangt, fällt Judith Butler zusammenfassend dann doch ein positiveres und optimistischeres Urteil, was die Möglichkeit einer Veränderung der dominanten Kultur betrifft: »In these senses, then, Paris Is Burning documents neither an efficacious insurrection nor a painful resubordination, but an unstable coexistence of both. [...] This is not an appropriation of dominant culture in order to remain subordinated by its terms, but an appropriation that seeks to make over the terms of domination, a making over which is itself a kind of agency, a power in and as discourse, in and as performance, which repeats in order to remake – and sometimes succeeds.«119 (Hervorhebung im Original)
116 Vgl. Diane Torr »Geschlecht als Performance. Eine Anleitung zum DragKing-Crossdressing« in: Anette Baldauf (Hg.), Lips. Tits. Hits. Power? Popkultur und Feminismus, Wien, 1998, S. 209-213. 117 Ebd. S. 132f. 118 Ebd. S. 192. 119 Ebd. S. 137.
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Zum Schluss drückt sie hinsichtlich der subversiven Möglichkeiten von »drag« noch einmal ihr Unbehagen aus, betont aber, dass es in anderen Vorgängen, wie etwa bei der Aneignung des Begriffs »queer«, sehr wohl möglich ist, Widerstand zu leisten: »As Paris Is Burning made clear, drag is not unproblematically subversive. It serves a subversive function to the extent that it reflects the mundane impersonations by which heterosexually ideal genders are performed and naturalized and undermines their power by virtue of effecting that exposure. But there is no guarantee that exposing the naturalized status of heterosexuality will lead to its subversion. Heterosexuality can augment is hegemony through its denaturalization, as when we see denaturalizing parodies that reidealize heterosexual norms without calling them into question. On other occasions, though, the transferability of a gender ideal or a gender norm calls into question the abjecting power that it sustains. For an occupation or reterritorialization of a term that has been used to abject a population can become the site of resistance, the possibility of an enabling social and political resignification. And this has happened to a certain extent with the notion of »queer«.«120
Subversiver Sprechakt Warum ein Wort eine solche Fähigkeit des Widerstands besitzen kann, erklärt Butler später in »Hass spricht. Zur Politik des Performativen«, wo sie auf die Sprechakttheorie von Austin eingeht. Austin beschäftigte sich mit performativen Äußerungen und fand heraus, dass »A. they do not »describe« or »report« or constate anything at all, are not »true or false«; and B. the uttering of a sentence is, or is a part of, the doing of an action, which again would not normally be described as, or as »just«, saying something.«121 (Hervorhebung im Original) Er führt hierzu vier Beispiele an: »I do (sc. Take this woman to be my lawful wedded wife)« – as uttered in the course of the marriage ceremony. [...] »I name this ship the Queen Elisabeth« – as uttered when smashing the bottle against the stem. [...] »I give and bequeath my watch to my brother« – as occuring in a will. [...] I bet you sixpence it will rain tomorrow.«122 (Hervorhebung im Original) Austin unterscheidet zwischen drei verschiedenen Formen des Sprechakts, und zwar dem lokutionären, dem illokutionären und dem perlokutionären. »We first distinguished a group of things we do in saying something, which together we summed up by saying we perform a locutionary act, which is roughly equivalent to uttering a certain sentence with a certain sense and reference, which again is roughly equivalent to »meaning« in the traditional sense. Second, we said that we also perform illocutionary acts such as informing, ordering, 120 Ebd. S. 231. 121 J. L. Austin: How To Do Things With Words, Oxford, 1978, S. 5. 122 Ebd.
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warning, undertaking, &c., i.e. utterances which have a certain (conventional) force. Thirdly, we may also perform perlocutionary acts: what we bring about or achieve by saying something, such as convincing, persuading, deterring, and even, say, surprising or misleading.«123 (Hervorhebung im Original)
Im illokutionären Sprechakt ist die sprachliche Bezeichnung selbst performativ. Indem sie geäußert wird, führt sie selbst eine Tat aus. Im Vollzug der Äußerung passiert das, was geäußert wird. Handlungen werden also kraft der Worte ausgeführt. Bezeichnung und Ausführung fallen zusammen. »The illocutionary act »takes effect« in certain ways, as distinguished from producing consequences in the sense of bringing about states of affairs in the »normal« way, i.e. changes in the natural course of events. Thus »I name this ship the Queen Elizabeth« has the effect of naming or christening the ship [...] «124 Im perlokutionären Sprechakt werden Handlungen als Folgen und Konsequenzen von Worten ausgeführt.125 »Die Kraft der performativen Äußerung hängt mit dem Bruch des Kontextes zusammen, dem Szenario, in dem der Wortlaut seine strukturelle Unabhängigkeit von jedem der bestimmten Kontexte, in denen er auftritt, durch seine Wiederholung etabliert.«126 Laut Butler fehlt aber noch, dass die Kraft des Sprechaktes eng mit dem Status von Sprechen als körperliche Handlung zusammenhängt. Das gesellschaftliche Leben des Körpers stellt sich durch eine Anrufung her, die sprachlich und produktiv zugleich ist. Diese Anrufungen sind gesellschaftliche performative Äußerungen, die mit der Zeit ritualisiert und sedimentiert worden sind. Der Körper ist jedoch nicht nur eine Sedimentierung von Sprechakten, die ihn konstituiert haben. Kein Sprechakt kann die rhetorischen Effekte des sprechenden Körpers vollständig kontrollieren oder festlegen.127 Performative Äußerungen reflektieren nicht nur vorgängige gesellschaftliche Bedingungen, sondern haben auch eine Reihe gesellschaftliche Wirkungen. Die sedimentierte Anwendung gibt dem Körper kulturelle Bedeutung, ohne ihn zu determinieren. So vermag der Körper diese kulturelle Bedeutung auch in dem Moment zu verunsichern, in dem er die diskursiven Mittel enteignet, mit denen er selbst hergestellt wurde. Hier liegt das Moment des Widerstands.128 Das Wort, das verwundet, kann zum Instrument des Widerstands werden. »Das Sprechen des Widerstands wird zur unumgänglichen Antwort auf eine verletzende Sprache: ein Risi-
123 Ebd. S. 109. 124 Ebd. S. 117. 125 Vgl. Judith Butler: Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin, 1998, S. 67f. 126 Ebd. S. 211. 127 Vgl. ebd. S. 215-220. 128 Vgl. ebd. S. 224f.
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ko, das als Antwort darauf eingegangen wird, daß man Risiken ausgesetzt wird, eine Wiederholung in der Sprache, die einen Wandel erzwingt.«129 Auch Derrida arbeitet mit performativen Äußerungen und der Wiederholung in diesen, die er als Iterierung bezeichnet. Performative Äußerungen gelingen seiner Ansicht »nur deshalb, weil sie »zitieren«, und nicht weil Akteure intentional etwas Neues produzieren, was vorher noch nicht existierte.«130 Wirklichkeit wird durch Wiederholung hervorgebracht, so zum Beispiel das »Jawort« bei der Eheschließung. In hegemonialen politischen Diskursen wird die vorgegebene Struktur durch die Wiederholung verlängert, oder im Sinne Foucaults gedacht, stellen diese performativen Äußerungen keinen neuen Diskurs her, sondern erfüllen bestehende Regeln und setzen diese Regeln durch ihre Erfüllung ein.131 Die Iterierbarkeit ist eine Wiederholung mit einer »différance« (»eine aufgeschobeneverzögerte-abweichende-aufschiebende-sich unterscheidende Kraft oder Gewalt«132) in der Wiederholung. Die Differenz in der Wiederholung ist das Neue, was Derrida Austins Sprechakttheorie hinzufügt. Allein durch die Wiederholung wird die Wiederholung zu etwas Anderem. Derrida sieht darin eine Möglichkeit zur Dekonstruktion, nämlich in dem Versuch, eine textuelle Differenz ins Auge zu bringen, die im Text selber schon am Werk ist. Sabine Hark will den Begriff der Iterierbarkeit auch machttheoretisch wenden, damit sie »der Aufgabe, die versteinerten Identitätsbrocken zu zerbröseln, gerecht werden« kann. Sie will die Iterierbarkeit als Werkzeug verwenden, um politische Identitäten als performative Zeichen zu verstehen, die etwas Neues erschaffen. Somit ist es verständlich, warum Identitäten im politischen Feld so mächtig sind und wie ein Umgang mit Identität, der auf diese Macht Bezug nimmt, passieren kann.133 Ein großes subversives Potential liegt also in performativen Sprechakten und so sieht z. B. Judith Butler auch in der Aneignung des Wortes »queer« für die Lesben- und Schwulenbewegung ein gelungenes Beispiel dafür, wie einem anfänglich verletzenden Wort, das als Schimpfwort verwendet wurde, durch stetige Wiederholungen eine positive und stolze Bedeutung zu Teil wurde. Die Subversion ist in diesem Fall gelungen. Zusammenfassend hebe ich noch einmal drei wichtige Punkte einer subversiven Parodie hervor: Erstens, das »cutting edge« der Ironie wiederholend, da Elemente der Ironie (die zwei Bedeutungsebenen) auch bei der Parodie vorkommen und diejenige Bedeutung mit der politischen Schärfe klar erkenntlich sein 129 Ebd. S. 230. 130 Sabine Hark, Deviante Subjekte, a.a.O., S. 149. 131 Vgl. Bernd Liepold-Mosser: Performanz und Unterbrechung. Prolegomena zu einer Philosophie des Politischen, Wien, 1995, S. 96. 132 Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der »mystische« Grund der Autorität, Frankfurt am Main, 1991, S. 15. 133 Sabine Hark, Deviante Subjekte, a.a.O., S. 150.
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muss, also im Falle der Parodie, eine Wiederholung mit einer kritischen Differenz. Zweitens, wie Judith Butler in ihrer Geschlechterparodie analysiert hat, muss der Aspekt vorhanden sein, dass es hinter der Kopie kein Original gibt, also, dass durch Akte, Gesten und Begehren, ein innerer Kern an der Oberfläche des Körpers erzeugt wird. Drittens, der subversive Sprechakt, wie er erfolgreich am Wort »queer« angewandt und von Judith Butler als Beispiel angeführt wird.
Musikbeispiel: Peaches Das am meisten geeignete Beispiel für die Geschlechterparodie in der Rock- und Popmusik ist die Sängerin Peaches, die es in vielen Facetten und Ebenen schafft, männliche Musiker zu imitieren. Schon auf ihrem ersten Album »The Teaches of Peaches« parodiert sie den männlichen Rockzirkus und schimpft eine »Rock Show« als »Cock Show«. »Rock Show, You came to see a rock show A big gigantic cock show You came to see it all... You came to hear it You came to sneer it You came to do it all Do you wanna get it for credit? Forget it Don’t bet it Call in the medic It's pathetic You’ve gotta let it go Let’s go Rock show C’mon Rock show You come to see a rock show This ain’t a fucking talk show[...]«134
In Songs wie »Lovertits«, »Fuck the pain away« und »Set it off« imitiert sie das Macho-Gehabe ihrer männlichen Kollegen, sowohl in Worten als 134 Peaches: Rock Show, The Teaches of Peaches, Kitty-Yo, 2000.
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auch in den wilden, eckigen Rhythmen auf ihrer Beatbox, in die sie ihre Punkenergie steckt. Sie produziert eine Parodie der toughen Musik der bösen Buben. Im Song »Kick it« von ihrem zweiten Album duelliert sie sich mit Iggy Pop darum, wer von den beiden tougher ist – nicht ganz ohne Selbstironie! »How do you do a cool dance? Baby don't split those high pants I gots these rules that we can do – do and sink I don't look too good in pink. I used to slash myself up I like to play it tough Cuts, bruises, blood and there's bottles breaking rough You gotta handle that stuff. Yeah, yeah! Tear it up, Rip it up Kick it up Yeah, yeah![...]«135
Peaches erzählt, dass sie Iggy Pop kennengelernt hat, als sie bei einem Konzert im Backstagebereich die Bikinigirl-Poster mit Penissen und Haaren auf den aktuellen Stand des Gender-Diskurses brachte. Angeblich sollte Peaches dann auch in der Band von Iggy Pop mitsingen, sein Gitarrist weigerte sich jedoch mit ihr zusammenzuarbeiten, nachdem er auf ihrer Website die »Crotch Gallery« entdeckt hatte und schimpfte, dass kein Chick mit Haaren jemals bei den »Stooges« mitspielen werde. Daher singt Peaches im Duett: »Some people don’t like my crotch« und Iggy Pop antwortet ihr »cause it’s got fuzzy spots.«136 Auch der Inhalt eines Videos von Peaches geht um nicht gern gesehene Körperbehaarung: Auf einer Frauentoilette wuchert das Haar plötzlich meterlang aus den Achselhöhlen und der Bikinizone der betroffenen Frauen. Peaches sagt dazu: »Das ist doch faszinierend an Haaren: sobald ich sie hier (zeigt zwischen ihre Beine und unter ihre Achselhöhlen) wachsen lasse, anstatt lang auf meinem Kopf, wird das als schockierend angesehen. Ich sage ja nicht, Frauen sollen sich nicht rasieren. Aber ich möchte, dass wir eine Wahl haben.«137 Im ersten Lied ihres zweiten Albums »Fatherfucker« ist ein alter Hit von Joan Jett »I don’t give a ...« (about a bad reputation) enthalten, vielleicht gilt das zweite Album von Peaches als Hommage an Joan Jett, da 135 Peaches: Kick It, Fatherfucker, Kitty-Yo, 2003. 136 Vgl. »Lass uns (nicht) über Sex sprechen« Interview mit Peaches von Florian Sievers in: Spex. Das Magazin für Popkultur, No. 9/2003, S. 54. 137 Ebd.
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diese ein Vorbild für viele Frauenbands war und noch immer ist. Joan Jett gibt in einem Interview zu, dass sie zu ihrer Anfangszeit mit »Runaways« das ganze nur durchstanden, weil sie wollten, dass Musikerinnen nicht mehr als Freaks gesehen werden. Sie schildert, wie die Runaways 1976 behandelt wurden: »Die Menschen dachten, wir seien verrückt, sie behandelten uns wie Wahnsinnige, sie konnten nicht verstehen, warum wir Gitarre spielen und in einer Rock’n’Roll Band sein wollten. Sie glaubten, alles sei ein Spiel, alles aufgesetzt und Fake. Wenn wir dann wütend wurden und darauf bestanden, dass wir’s ernst meinen, fühlten sie sich bedroht und beschimpften uns als Huren und Flittchen. Dann wurden wir richtig zornig und fluchten zurück. [...] Unsere Musik wurde nicht im Radio gespielt, wir bekamen kaum Presse, man wollte so schrägen Teenagern einfach keine Chance geben, es gab keine Fairneß für uns.«138
Wie Simon Reynolds und Joy Press schreiben, imitierte Joan Jetts Band die Hard-Rock Attitüde der männlichen Bands zu ihrer Zeit und stellten die Härte, Unabhängigkeit und Respektlosigkeit des männlichen Rebellentums dar. Diese Frauen waren erfolgreich, indem sie ihre weiblichen Tendenzen unterdrückten. Dieser Tomboy Zugang ist aber unbefriedigend, da er mit der männlichen Rebellion wetteifert, auch was seine misogynen Komponenten betrifft.139 Manche Männer vertrugen nicht einmal das, wie Joan Jett von einem Konzert in Italien erzählt, wo sie sogar auf der Bühne angespuckt wurden, weil sie Frauen waren.140 Joan Jett war »macha« und spielte ihre trotzige »bad girl« Rolle. Ihr größter Hit war »I Love Rock’n’Roll« – der achte Song auf Peaches Album nennt sich ebenfalls »Rock’n’Roll«, nur werden diese Titelworte als Lyrik in dem Song verwendet und im wilden Gegröle und stampfenden Rhythmus wiederholt. Das Cover des Albums »Fatherfucker« ziert ein Portraitfoto von Peaches in »drag« mit einem schwarzen Vollbart und schwarzen falschen Wimpern. Außerdem ist noch eine kleine Locke ihres schwarzen Haares zu sehen und schwarze Träger eines weiblichen Kleidungsstückes. Die dargestellte Männlichkeit verliert durch den etwas zu vollen und sehr glänzenden Vollbart und vor allem durch die weiblichen Attribute (Wimpern, Locke und Träger) an Glaubwürdigkeit, was durchaus im Sinne Peaches sein kann. Sie nimmt nicht einmal die Drag-King-Performance ernst. Anscheinend ist es auch nicht ihre Absicht, wie ein echter Mann auszuse-
138 »We Got Spit On Quite a Bit. Interview mit Joan Jett« in: Anette Baldauf, Katharina Weingartner (Hg.), Lips. Tits. Hits., a.a.O., S. 258. 139 Vgl. Simon Reynolds, Joy Press: The Sex Revolts. Gender, Rebellion and Rock’n’Roll, London, 1995, S. 233. 140 Vgl. »We Got Spit On Quite a Bit. Interview mit Joan Jett« in: Lips. Tits. Hits, a.a.O., S. 258.
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hen, sondern sie wünscht sich eher ein zwischengeschlechtliches Wesen zu sein, wie aus folgender Episode hervorgeht: Auf Kritiken in denen ihr Penisneid vorgeworfen wird, hat sie geantwortet, dass sie den Begriff Hermaphroditenneid (obwohl es politisch korrekt »Intersexuellenneid« heiβen sollte) bevorzuge, da so viel Männliches und Weibliches in uns allen ist.141 Dafür bringt das Layout einiges an Kritik an dem männlichen Rockzirkus. Der Schriftzug »Peaches« ist im Stil des Heavy Metal- oder Hard Rock Design der 1980er gehalten. Abbildung 7: Peaches
Quelle:Peaches: Fatherfucker, Kitty-Yo, 2003. Der Aufdruck auf der CD selbst ist den oft sexistischen Graphiken der männlichen Musikkollegen nachempfunden, stellt aber ein explizit weibliches Organ dar mit einem Mikrophon. Vielleicht eine Anspielung darauf, wie Frauen lange Zeit im Rockbiz benutzt wurden, oder ein Hinweis darauf, dass Frauen auf ihre selbstbewusste Art und Weise nun endgültig den männlichen Musikhimmel erobert haben? Diese explizite Darstellung einer Vagina, wenn auch in einer aufgepeppten, rockigen Version, erinnert an feministische Künstlerinnen der 1970er in Kalifornien, die mit ihrer »cunt art« Aufsehen erregten. Schon damals wendeten sie die linguistische performative Idee Butlers der Wiederaneignung von Schimpfwörtern an142, indem sie das sonst negativ konnotierte Wort »cunt« wieder neu in einem positiven und selbstbewussten Sinn benützten und Bilder der Vagina den phallischen Abbildungen gegenüberstellten. Eine der Künstlerinnen, Faith Wilding, schreibt darüber: »Making »cunt art« was exciting, subversive, and fun, because 141 Vgl. http://en.wikipedia.org/wiki/Peaches_(musician) vom 8.8.2006. 142 Vgl. Beatriz Preciado »Género y performance. 3 episodios de un cybermanga feminista queer trans...« in Zehar, La repolitización del espacio sexual, 2004, S. 8.
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»cunt« signified to us an awakened consciousness about our bodies and our sexual selves. Often raw, crude and obvious, the cunt images were new: they became ubiquitous in women’s art of the 70s, and they served as precursors for a new vocabulary for representing female sexuality and the body in art.« (Hervorhebung im Original)143 Diese Bilder gingen aus »consciousness-raising« Seminaren hervor und hatten nichts, wie in den 1980ern fälschlich kritisiert wurde, mit essentialistischen Absichten zu tun. Die feministischen performativen Politiken gegen Ende der 1960er Jahre in Kalifornien gingen aus aktivistischen, radikalen Gruppierungen und dem Guerilla-Theater hervor und waren im Unterschied zum gängigen Bild des amerikanischen Feminismus politisch inkorrekt. Sie machten übertrieben Gebrauch von Ressourcen der Randgruppen.144 Auch bei Peaches mag dieser Vorwurf auftauchen: zu expliziter Gebrauch von sexistischem, softpornographischem Material (Worte, Bilder, Performances auf der Bühne) der Frauen, wenn da nicht auch die Männer ihren Teil abbekämen. Abbildung 8: Peaches II
Quelle: Peaches: Fatherfucker, Kitty-Yo, 2003. Schon der Titel der CD kritisiert ein oft vor allem im Hip-Hop genutztes Schimpfwort und Peaches macht dessen frauenfeindliche Komponente sichtbar, indem sie es auf die männliche Version umlegt und das Wort selbst parodiert: »Fatherfucker«. Auf der Internetseite Wikipedia.org gibt es dazu einen Kommentar von Peaches: »Why do we call our mothers motherfuckers? Why do we stub our toe and say, »Aww motherfucker!«? What is motherfucker? ... We use it in our everyday lan-
143 Faith Wilding »The Feminist Art Programs at Fresno and Calarts, 197075« in: Norma Broude and Mary D. Garrad (Hg.), The Power of Feminist Art: the American Movement of the 1970’s, History and Impact, New York, 1994, S. 35. 144 Beatriz Preciado, Género y performance, S. 7.
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guage, and it's such an insanely intense word. I'm not one to shy away from these obscene terms that we actually have in our mainstream. Motherfucker is a very mainstream word. But if we're going to use motherfucker, why don't we use fatherfucker? I'm just trying to be even.«145
In Butlers Sinne ist dies eine gelungene linguistisch-performative Subversion der patriarchalen, heteronormativen und zweigeschlechtlichen Verhältnisse, in Form einer Parodie. Den Erkennungskriterien von Margaret A. Rose für eine Parodie folgend, hat Peaches hier laut dem ersten Punkt Veränderungen in der Kohärenz des zitierten Textes ausgeführt und laut Punkt I. 2. die Wortwahl verändert. Durch den Geschlechterwechsel des ersten Wortteils schafft Peaches ein überraschendes Moment: Sie imitiert das Originalwort und erreicht durch die Verzerrung, dass die Aufmerksamkeit auf die eigentliche Bedeutung des Schimpfwortes gerichtet wird, was sonst bei so abgenützten Wörtern wie »Motherfucker« nur mehr wenigen auffällt. Die performative Subversion liegt nun darin, dass der/die EmpfängerIn über den Sinn des Worte zu überlegen beginnt, ob »Fatherfucker« überhaupt einen Sinn macht, funktioniert das eigentlich ...? Kann eine Frau das auch tun...? Die Wiederholung des veränderten Schimpfwortes bringt eine Differenz oder eine ironische Distanz ein, die die Bedeutung letztendlich subvertiert und sich eigentlich entgegen der ursprünglichen Absicht des Wortes stellt. Somit sind auch die zwei unterschiedlichen Übersetzungen aus der griechischen Etymologie des Wortes Parodie als »Nach« (im Sinne von nahe zu) – oder »Gegen«gesang in dem Beispiel von Peaches gegeben. Die Parodie wird im Wort »Fatherfucker« als solche sofort erkannt und kann auch nicht übersehen werden, darum ist die Gefahr einer Ambivalenz, einer nicht subversiven Auslegung, nicht gegeben. Das »cutting edge« und somit die politische Schärfe ist hier vorhanden. Ähnliches gilt auch für das folgende Beispiel: Mit dem Austauschen der Geschlechter will sie einen Ausgleich schaffen, darum parodiert sie auch das »Shake your tits«, das öfters von betrunkenen Jungs bei Konzerten gegrölt wird, mit »Shake your dicks«. Peaches macht das nicht, um mit gleicher Münze zurückzuzahlen, sie will nur, dass beide Geschlechter zu gleichen Teilen gefeiert und geschätzt werden. Es geht ihr um die Frage: »Kommst du mit dieser Feier klar, wenn sie wirklich völlig offen und gleichberechtigt ist?«146 »All right, all you men, you boys, you guys Are you with peaches? Then gimme some of this! 145 http://en.wikipedia.org/wiki/Peaches_(musician) vom 8.8.2006. 146 Vgl. »Lass uns (nicht) über Sex sprechen« a.a.O., S. 53.
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Shake your dicks, shake your dicks Shake your dicks, shake your dicks Ok, how about you girls, you women, you ladies Are you with peaches? All right then, let’s try this, are you ready? Shake your tits, shake your tits Shake your tits, shake your tits (...) Are the motherfuckers ready for the fatherfuckers? Are the fatherfuckers ready for the motherfuckers? Are the motherfuckers ready for the fatherfuckers, No?«147
Peaches kann auch ziemlich in die Details gehen und greift heterosexuelle Plattitüden an. So kritisiert sie beispielsweise im Song »Back it up, Boys« männliche Hip-Hopper, die den Analsex mit Frauen anpreisen. Sie singt die Zeilen »Don’t you know it’s supposed to feel better for boys« und liefert die Begründung gleich mit »it feels great to stimulate your prostate«. So »reißt sie die Grenze um den doch immer so uneindringbar erscheinenden heterosexuellen-männlichen Körper ein«148 und wirbt dafür, dass es die Männer doch selbst mal unter sich ausprobieren sollen, da sie es viel besser genießen können. Die Parodie von Peaches ist nicht bloß mehrdeutig auslegbar für eine verkaufsfördernde Wirkung, wie die ambivalente Ironie bei Madonna, sondern zielt darauf ab, dass jedes Geschlecht oder jede »queere Person« mit jedweder sexuellen Orientierung oder Identität gleichermaßen zum Zug kommt. Peaches mag zwar vulgär sein, aber nie aggressiv oder wütend, sondern offen und einladend. »Schließlich geht es dabei grundlegend immer um das gleichberechtigte Aufeinandertreffen von Körpern, egal welchen wie auch immer konstruierten Geschlechts diese sein mögen.«149 Ihre Parodie ist eine Einladung, alle Arten von Geschlechtern und sexueller Orientierung zu feiern. Es geht nicht darum, jemanden als lächerlich darzustellen oder es jemanden heimzuzahlen, es ist eine sehr offene und gerechte Feier. In dem Lied »I U She« spricht sie über ihre Bisexualität: »I u she together, I u he together, C’mon baby let’s go I don’t have to make the choice I like girls and I like boys ...«150 147 148 149 150
Peaches: Shake Yer Dix, Fatherfucker, Kitty-Yo, 2003. »Lass uns (nicht) über Sex sprechen«, a.a.O., S. 54. Ebd. Peaches: I U She, Fatherfucker, Kitty-Yo, 2003.
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Während ihrer Performances auf der Bühne legt die »Queen of the Electrocrap« manchmal auch den pinken Strap-on-Dildo an und posiert damit breitbeinig. Dies ist ihre Art, um die Geschlechterrollen des Publikums ins Schwingen zu bringen. Sie führt durch ein nettes Sexshow-Punk-HipHopInferno und sie weiß, wenn die herrschenden Verhältnisse wackeln sollen, muss der Schlag Wucht haben.151 Im Interview gibt sie auch zu, dass wenn sie so breitbeinig auf der Bühne posiert, sie sich immer wie ein KissKonzert konzentriert in einer einzigen Person fühlt152 – wie auch im Video von »Rock’n’Roll« auf ihrer zweiten CD »Fatherfucker« gezeigt wird: ihre Energien scheinen ungebändigt, in pinker Unterwäsche wirft sie sich fürs »stage diving« ins Publikum, oder turnt oben auf der Galerie herum, lässt sich breitbeinig lasziv über einen Lautsprecher nach hinten rollen, übergießt sich mit Wasser oder lässt Weintrauben auf sich herabfallen. Die einzige ambivalente Auslegungsmöglichkeit betrifft die pornographischen Inhalte bei Peaches, so wie es vor allem ihrem dritten Album »Impeach my bush« vorgeworfen wird, weil die harten und eckigen Klänge besänftigt wurden und die kritische Schärfe in den Texten fehlt. Die ironische Anspielung im Titel kann politisch (Anklage gegen US-Präsident Bush) ausgelegt werden, oder wenn »bush« als Synonym für »Vulva« gelesen wird, stellt sich die Frage, warum ihre Weiblichkeit angeklagt oder in Zweifel gezogen werden soll – aber entspricht das nicht genau einer queeren Ent-identifizierung als Frau? Das Video »Going Downtown« liefert dazu die Antwort, Peaches tritt darin als Frau und als Mann auf. Diesmal ist das Cross-Dressing perfekt (nicht so wie auf dem Cover von Fatherfucker) und sie sieht anfangs wirklich aus wie ein Mann in gelungener »drag king«-Performance, zum Schluss mischen sich die männliche und weibliche Person, die sie beide im Video darstellt.
151 Vgl. »Lass uns (nicht) über Sex sprechen« a.a.O., S. 53. 152 Vgl. ebd.
T R AC K 03: C AM P – »Q U E E R R E V O L T
IN
STYLE«
Historisches, Definition, Erkennung Der Ursprung des Wortes »Camp« ist nicht genau festgelegt. Im Fremdwörterbuch Duden steht als zweite Bedeutung, neben der des Zeltlagers, Ferienlagers oder Gefangenenlagers, dass es aus dem Englischen kommt, seine Herkunft aber unsicher ist: Der Camp: »männliche Person mit extravaganten (homosexuellen) Verhaltens- u. Erlebnisweisen, eine Art Dandy«1. Unter dem Wort »campy« läßt sich folgender Eintrag finden: »extravagant, theatralisch, manieristisch in der Art eines Camps«2. Auf englischsprachige Sekundärliteratur zurückgreifend, fand ich die folgende Auslegungen dieses Wortes, so steht in einem Wörterbuch spätviktorianischer Umgangssprache: »Actions and gestures of exaggerated emphasis. Probably from the French. Used chiefly by persons of exceptional want of character«.3 Es wurde vor allem in der Umgangssprache des Theatralischen, der Highsociety, der Modewelt, dem Showbiz und im städtischen Underground gebraucht. In der Hochkultur wurde das Wort in den 1920ern dazu benutzt, um einen literarischen Stil zu beschreiben, wie z. B. den von Oscar Wilde, Max Beerbohm, Ronald Firebank, usw. – Literaten, die sich der Strategien, wie Ästhetizismus, aristokratische Distanziertheit, Ironie, theatralische Frivolität, Parodie, Effeminiertheit und sexuelle Transgression bedienten. Bis Mitte der 1940er hat sich im englischen Sprachraum die konnotative Verbindung von Camp mit »schwul« und »lesbisch« eta1 2 3
Duden: Das Fremdwörterbuch, Mannheim, Wien, Zürich, 1990, S. 132. Ebd. S. 133. J. Redding Ware: Passing English of the Victorian Era, New York, 1909, S. 60 f. Zitiert in: Fabio Cleto »Introduction: Queering the Camp« in: Fabio Cleto (Hg.), Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject. A Reader, Edinburgh, 1999. S. 9. Und in Moe Meyer »Under the Sign of Wilde. An Archaeology of Posing« in Moe Meyer (Hg.), The Politics and Poetics of Camp, London/New York, 1994, S. 75.
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bliert.4 Die urbane Drag-Szene wird in Ishterwoods »The World in the Evening« (1954) und in den Analysen von Esther Newton »Mother Camp« (1972) beschrieben. In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhundert wurde Camp als Code oder Geheimsprache benutzt, um die »Normalität« nicht in diese Außenseiterwelt hineinzulassen.5 1963 wurde »The Girl of the Year«, der Essay eines populären amerikanischen Journalisten, Tom Wolfe, veröffentlicht, der das Wort Camp enthielt. Im selben Jahr kam von einer englischen Literatin C. Connolly die Parodie eines Agentenromans »Bond Strikes Camp« heraus, in dem schöne russische Spione in »drag« agierten.6 Als in den späten 1964ern ›Notes on ‚Camp’‹, der Meilenstein von Susan Sontag, veröffentlicht wurde, hatte sich der Bedeutungsbereich von »Camp« schon vergrößert und inkludierte den populären Geschmack. So bezog sich das Wort auch auf die Popmusik (mit Performer_Innen, die ihre androgyne und transgressive Repräsentation als Strategie verwendeten, wie im Falle der Kinks, der Rolling Stones, New York Dolls, David Bowie,...) und auf die Pop Art von Andy Warhol7 (Diese beiden Gebiete, Popmusik und Pop Art, waren aber nicht so stark getrennt, denn Andy Warhol arbeitete auch mit Musiker_Innen, wie z. B. Lou Reed und Nico zusammen). Der grammatikalische Gebrauch von »Camp« weist eine Parallele zu den vielen vagen Bedeutungen des Begriffs auf. Im Englischen kann »camp«, »campy« oder »campish« ein Adjektiv sein, auch in nominaler Funktion (camp), ein abstraktes oder adjektivisches Substantiv (campness, campiness), ein Adverb (campily) und sowohl ein transitives als auch intransitives Verb (to camp, to camp it up). Das Einzige, was allgemein zu diesem Begriff gesagt werden kann ist, dass er nicht mit einem einzigen passenden Wort aus dem Englischen in andere Sprachen übersetzt werden kann. Nicht einmal im Englischen wird er überall gleich benutzt. In Australien und Neuseeland wird er beispielsweise auch als »kamp« verwendet.8 Etymologische Vorfahren von Camp könnten das italienische »campeggiare« oder das französische »se camper« (eine breitbeinige Haltung einnehmen) sein. Moliére erwähnte 1671 in »Les Fourberies de Scapin« den Satz »campe-toi sur un pied«, als der Protagonist versucht, jemanden dazu zu überreden, sich zu verkleiden und auf eine provokative Art und 4
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Sabine Hark »Parodistischer Ernst und politisches Spiel« in: A. Hornscheidt, G. Jähnert, A. Schlichter (Hg.), Kritische Differenzen-geteilte Perspektiven. Zum Verhältnis von Feminismus und Postmoderne, Opladen/Wiesbaden, 1998, S. 7. Fabio Cleto »Introduction: Queering the Camp« in: Fabio Cleto (Hg.), Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject. A Reader, Edinburgh, 1999, S. 9. Vgl. Mark Booth »Campe-Toi! On the Origins and Definitions on Camp« in: Fabio Cleto (Hg.), Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject. A Reader, Edinburgh, 1999, S.75. Fabio Cleto, Introduction: Queering the Camp, a.a.O., S. 10. Ebd.
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Weise herumzustolzieren.9 Weiters gebrauchte Théophile Gautier in der parodistischen romantischen Novelle »Capitaine Fracasse« (1863) »se camper« im Sinne von sich selbst in einer überspannten aber dürftigen Art mit den Konnotationen von Theatralität, Eitelkeit, Aufgeputztsein und Provokation zu präsentieren. Das 17. Jahrhundert in Frankreich wurde nostalgisch als »camp« idealisiert, vor allem wegen Ludwigs XIV. und Versailles.10 Die Suche nach dem Ursprung von »Camp« hat auch einige groteske Blüten hervorgebracht, wie die Abkürzung »KAMP« für »Known As Male Prostitute«, das auf einigen Polizeiakten in den USA vermerkt war11 oder, aus dem Französischen ableitend, wo »camp« auch Zelt bedeutet und die militärischen Zelte, die während der Zeit Ludwigs des XIV. benutzt wurden, nichts mit khakigrünen kleinen Zelten zu tun hatten, sondern große wogende Kreationen aus glänzenden Stoffen, Seide oder Satin, waren und mit Juwelen, Gobelins und mit goldenen Fahnen verziert wurden.12 Auch die Theaterwelt benutzte anfangs Zelte für ihre SchauspielerInnen, um in diesen von Dorf zu Dorf ziehen und wenn ein/e SchauspielerIn mit einer/m anderen das Zelt teilte, hieß es, dass sie/er mit ihr/ihm »campte«.13 Das wohl bekannteste Werk zu Camp ist Susan Sontags Essay »Notes on Camp«, der 196414 erschien. Sie will eine Beschreibung dieser Sensibilität (sie bezeichnet »Camp« interessanterweise als solche im Unterschied zu einer Idee) geben, die bis dahin noch nicht existierte. Thomas Hübener schreibt in seinem Artikel »Vs. Interpretation« über die »Miss Camp«, Susan Sontag, und beschreibt Camp folgendermaßen: »Camp als Erlebnisweise ist die Betrachtung der Welt und der Kunst unter rein ästhetischen Gesichtspunkten. In dieser Verabsolutierung des Ästhetischen auf Kosten des Moralischen und Politischen ähnelt die Camp-Sichtweise der dandyistischen Perspektive auf die Welt. Camp ist dabei eher eine Haltung gegenüber den Dingen als eine Eigenschaft, die diesen selbst zukommt. Dennoch liegt es nicht allein im Auge des Betrachters, was camp ist und was nicht.«15
Er vergleicht Camp mit der Strategie der Ironie: »Camp sieht alles in Anführungsstrichen.« Camp etabliert also eine strukturell ironische – und das heißt zugleich: desengagierte, »coole«, nicht identifizierende Sicht auf die Welt. Als Rezeptionsweise verhält es sich zum Wahren und Eigentlichen wie bewusst konstruierter Pop zu authentizistischem, einem Ehrlichkeits9 10 11 12 13 14 15
Vgl. Mark Booth, Campe-Toi!, a.a.O., S.78. Vgl. ebd. S.75. Vgl. Fabio Cleto, Introduction: Queering the Camp, a.a.O., S. 29. Vgl. Mark Booth, Campe-Toi!, a.a.O., S.78. Fabio Cleto, Introduction: Queering the Camp, a.a.O., S. 29. In: Partisan Review 31:4, (Fall 1964), S. 515-30. Thomas Hübener: »Vs. Interpretation. 75 Jahre Susan Sontag (1933-2004)« in: Spex Nr. 312 (Januar/Februar 2008), S. 119.
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paradigma folgenden Rock. Camp steht der Ironie auch durch seine doppeldeutige Struktur nahe: Das Schöne an der Ironie ist, dass sie immer auch jemand nicht versteht. Das Interessante an der als camp erlebten Kunst ist, dass sie immer auch jemand nicht als camp, sondern identifizierend rezipiert.«16 Hübener gibt dazu das Synthesizermusikbeispiel von Jean Michel Jarre »Oxygène Part IV« (1976) an. Die 58 Notizen von Susan Sontag versuchen den Ursprung und das Innenleben des Camps zu erforschen. Es geht Sontag vor allem darum, wie Camp widersprüchliche Nachrichten vereinigt. Sie versucht diese diskursiven Widersprüche zu lösen, scheitert aber daran. Der Anspruch Sontags, eine stabile Definition von Camp zu finden, führt nur dazu, dass die destabilisierende Funktion gesehen wird, wie Cynthia Morill meint. Camp widersteht es, die notwendige Distanz herzustellen, die für die Klassifizierung und Aufteilung von Meinungen, Objekten und Verhalten notwendig ist, aber so deckt Sontag das Unbehagen von Camp auf, also die Destabilisierung von den Beziehungen zwischen den Dingen. Camp stört die binäre Logik der westlichen Kultur.17 Somit hat Camp eine große Ähnlichkeit zu »Queer«, denn der queeren Theorie geht es um die Auflösung von binären Kategorisierungen, oder wie Dominika Krejs in ihrer Diplomarbeit es ausdrückt: »Es zeigt sich also auch in Camp die ambivalente Bedeutung von Identität: einerseits in ihrer queeren Konstitution einer solchen, andererseits in der parodistischen Distanzierung von ihr.«18 Queeres ist unbeständig und unstet. Fabio Cleto führt zur Erklärung die indo-europäischen (twerkw) und germanischen Wurzeln (quer) dieses Wortes an und im 18. Jahrhundert ging das Wort mit der Bedeutung von »oblique, bent, twisted, crooked« in die englische Sprache ein. Ein Eintrag von »queer« ins Oxford English Dictionary 1933 (S. 41) ergab Folgendes: »Strange, odd, peculiar, eccentric, in appearance or character. Also, of questionable character, suspicious, dubious, […] not in normal condition […]«. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde »queer« durch das Gerichtsverfahren von Oscar Wilde in Zusammenhang mit Homosexualität benutzt.19 Havelock Ellis schließt aus Wildes Berühmtheit und seiner berühmt-berüchtigten Begegnungen mit dem Gericht, dass dadurch, so sein Wortlaut, vielen Homosexuellen erst ihrer Perversion bewußt wurde und paradoxerweise auch zu größerer Courage für andere verhalf. Linda Dowling hat auch ähnlich argumentiert, indem sie meinte, dass Wildes berühmte Rede zur Verteidigung der Liebe unter Männern, der Entstehung einer neuen Sprache der 16 Ebd. 17 Vgl. Cynthia Morrill »Revamping the Gay Sensibility. Queer Camp and Dyke Noir« in: Moe Meyer (Hg.), The Politics and Poetics of Camp, London/New York, 1994, S. 115. 18 Dominika Krejs: Queer und die Identitätspolitiken: Zwischen Dekonstruktion und erneuter Konstitution von Kategorisierungen, Unveröffentlichte Diplomarbeit, Wien, 2005, S. 52. 19 Vgl. Fabio Cleto, Introduction: Queering the Camp, a.a.O., S. 13.
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moralischen Legitimität diente, die ihre soziale Zustimmung durch den Applaus im Gerichtssaal erhielt.20 So wurde Camp oder Queer aus einem Verbot der »Selbstdarstellung« heraus zu einer erfolgreichen Strategie, indem es paradoxer Weise einen ermächtigenden Ausdruck der homosexuellen Persönlichkeit darstellt.21 Die Queer-Theorie löste Ende der 1980er das binäre System von »Schwul-Lesbischer«- Theorie ab. »Queer thinking thus promotes a sabotage – or, in an appropriate British English phrasing, a stonewalling – of the manifold binarisms (masculine/feminine, original/copy, identity/difference; natural/artificial, private/public, etc.) on which bourgeois epistemic and ontological order arranges and perpetuates itself.«22 Die Demystifizierung von kulturellen Konstruktionen dient als machtvolle Waffe, um die »straightness« zu verdrehen. Genauso wie Camp, schafft es auch Queer, Widersprüche nicht auszuschließen, ganz im Gegenteil, Queer fördert sie, obwohl unter diesem Terminus das lesbische Element zu verschwinden scheint.23 Zusammenfassend schreibt Fabio Cleto: »Camp and queer, in fact, share in their clandestine, substantional inauthenticity, and in their unstable and elusive status, a common investment in »heterodoxia« and »para-doxia« as puzzling, questioning deviations from (and of) the straightness of orthodoxy (...)«24 Camp und Queer sind verwandte Wörter, Camp ist Queer als eine Art und Weise des Seins, einen Körper in eine bestimmte Haltung zu bringen, als eine Verteilungsmodalität innerhalb von sozialen Räumen und innerhalb der Möglichkeit, eines sozialen Vertrags und eine Art der Kommunikation – indirekt, schräg und sekundär, instabil und improvisiert, je nach seiner/ihrer Beziehung zu der/dem Anderen. 25 Camp kann auch als die flüchtige, vorbeiziehende Kunst bezeichnet werden, im Sinne von theatralischem Herumziehen und im »passing« (d.h. als Hetero durchgehen, also nicht als Homo erkannt werden, oder auch in der Travestie, als das andere Geschlecht durchgehen.) Fabio Cleto sieht auch einen Zusammenhang mit dem nomadischen Subjekt und Diskurs von Rosi Braidotti, weil Camp als flüchtige Kunst auch eine Subjektivität und einen Diskurs postuliert, in dem es gleichzeitig aktiv artikuliert und passiv artikuliert wird. Das Nomadentum wird durch die Etymologie und dem theoretischen Gerüst von Camp als eine kurzlebige Architektur angedeutet.26 Camp als eine diskursive queere Architektur hält die kritischen Lesearten nicht als gemeinsame stabile Objekte zusammen, sondern eher 20 Dennis Denisoff: Aestheticism and Sexual Parody. 1840-1940, Cambridge, 2001, S. 101. 21 Ebd. S. 102. 22 Fabio Cleto, Introduction: Queering the Camp, a.a.O., S. 15. 23 Vgl. ebd. 24 Ebd. S. 16. 25 Ebd. S. 30. 26 Vgl. ebd. S. 31.
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als Performances des Camps, als ein mobiles Wissen, auf der kritischen, politischen und epistemischen Bühne, oder als provisorische Flügel und Räume eines queeren Gebäudes, dessen Mauern errichtet, abgebaut und woanders hingestellt werden, sobald ihre performatorischen Ziele erfüllt sind.27 Wieder zurück zu Camp, was laut Denisoff ein mitfühlender Akt der Legitimierung ist, der die Ansicht unterstützt, dass alle Identitäten sozial konstruiert und austauschbar sind. In »Epistemology of the Closet« bietet Eve Kosofsky Sedgwick eine Definition des Camps an, die auf der Sympathie beruht. Camp ist dann als Strategie der Selbstermächtigung erfolgreich, wenn sich die Autor_Innen mit den campen Subjekten verbünden, genau so wie die Leute, die die campe Qualität eines Textes schätzen und so indirekt ihre positiven Assoziationen damit anerkennen.28 Sedgwick benutzt auch den Begriff der »campen Anerkennung« (»camp-recognition«), der nicht die Registrierung von etablierten Codes bezeichnet, sondern eher einen plötzlichen Bruch und Expansion dieser Codes.29 »Unlike kitsch-attribution, then, camp-recognition doesn’t ask, »What kind of debased creature could possibly be the right audience fort his spectacle?« Instead it says what if: What if the right audience for this were exactly me? What if, for instance, the resistant, oblique, tangential investments of attention and attraction that I am able to bring to this spectacle are actually uncannily responsive to the resitant, oblique, tangential investments of the person, or some of the people who created it? And what if, furthermore, others whom I don’t know or recognize can see it from the same »perverse« angle?«30
Kim Michasiw betont den demokratischen Aspekt der campen Anerkennung im Sinne dessen, was Susan Sontag als den demokritischen Esprit von Camp diagnostizierte. Wie auch Sedgwick meint, bediene sich die campe Anerkennung der Leser_Innenbeziehung und der projezierenden Phantasie, indem das Objekt zu einem Bildschirm, einer Leinwand oder einem indirekter Spiegel wird, durch den die/der Betrachter_In gleichzeitig die/den Schöpfer_In und die anderen gleichgesinnten Betrachter_Innen erblickt. Diese campe Anerkennung könne auch als offenbar werdende Ironie verstanden werden. Michasiw führt hier das Beispiel von Sedgwicks primärer Szene für campe Anerkennung an: Judy Garlands »Somewhere Over the Rainbow«. Die sentimentale Investition in »Somewhere Over the Rainbow« ist ein Moment der Anerkennung, denn der Song ist einerseits 27 Ebd. S. 32. 28 Dennis Denisoff, Aestheticism and Sexual Parody, a.a.O., S. 123. 29 Vgl. Kim Michasiw »Camp, Masculinity, Masquerade« in: differences: A Journal of Feminist Cultural Studies, 6.2.+3 (1994), S. 151. 30 Eve Kosofsky Sedgwick: Epistemology of the Closet, Berkeley, 1990, S. 156.
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ein Übergangsobjekt, das es beispielsweise der/dem Jugendlichen aus Ohio ermöglicht, sich selbst zu finden und andererseits ein diagnostisches Instrument, das z. B. der/dem Jugendlichen dazu verhilft, seinesgleichen zu finden. Die erste Phase der Anerkennung ist laut Sedgwicks Logik die, der radikalen Individualisierung und Trennung vom falschen Selbst, die zweite die, der Anerkennung der »Community«. Wenn also die zweite Phase einsetzt und die/der Ohioer_In die Häufigkeit ihrer/seiner Erfahrung mitbekommt, wird das Gefühl der radikalen Andersheit durch ein duales Differenzgefühl gegenüber vielen, dass aber mit einigen geteilt wird, ersetzt. Diese Erfahrung begründet eine gemeinschaftliche Ironie – wir wissen es, die anderen nicht.31 Jack Babuscio argumentiert, dass Camp als Mittel subversiv sein kann, um diese kulturellen Ambiguitäten und Widersprüche, die uns alle, Homos, Heteros und im Besonderen Frauen, unterdrücken, zu illustrieren.32 Richard Dyer ist da etwas kritischer und meint, dass nicht jeder homosexuelle Camp progressiv ist. Camp kann allerdings die Bilder und die Weltansicht der Kunst und der Medien entmystifizieren. Camp, indem es die Aufmerksamkeit auf die List lenkt, die der Künstler anwendet, kann uns daran erinnern, dass das, was wir sehen, nur eine Ansicht des Lebens ist. Das hält uns nicht davon ab, es zu genießen, aber es stoppt uns darin, alles, was uns gezeigt wird, zu schnell zu glauben.33 Zusammenfassend schreibt Chuck Kleinhans, dass Camp, wie jede subkulturelle Haltung in unserer Gesellschaft, innerhalb der Grenzen einer rassistischen, patriarchalen, bourgeoisen Kultur funktioniert. Dass Camp sich nun im Unterschied zur dominanten Kultur definiert, konstruiert Camp nicht automatisch als radikal oppositionell. Nur ein Publikum und der Kontext einer Werkausstellung können diese Subversion vervollständigen. In manchen Momenten erscheint die Opposition offensichtlicher als in anderen.34
Susan Sontag »Notes on Camp« Auf diesen Artikel gehe ich näher ein und werde seinen Inhalt etwas verkürzt auf Deutsch wiedergeben, da er, wenn auch öfters vage, ein gewisses Gefühl und Merkmale für Camp vermittelt. Die Notizen fangen mit dem folgenden Satz an: »Many things in the world have not been named; and
31 Kim Michasiw, Camp, Masculinity, Masquerade, a.a.O, S. 152ff. 32 Chuck Kleinhans »Taking Out The Trash. Camp And The Politics Of Parody« in: Moe Meyer (Hg.), The Politics And Poetics of Camp, London/New York, 1994, S. 195. 33 Richard Dyer »It's Being so Camp as Keeps Us Going« in: Body Politik 10. S. 13. 34 Chuck Kleinhans, Taking Out The Trash, a.a.O., S. 195.
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many things, even if they have named, have never been described.«35 Dieser Einleitungssatz wirkt sehr geheimnisvoll und erweckt den Eindruck, dass Sontag etwas zwischen den Zeilen sagen will. Dies mag auch stimmen, da sie im gesamten Aufsatz nur zum Schluss auf den Zusammenhang zwischen Homosexualität und Camp eingeht, was für uns heutzutage irritierend erscheint. Dieser Satz mag auch eine Anspielung auf Oscar Wildes berühmter Aussage »the love, that dare not speak its name« sein. Durch die Blume gesagt kann auch folgende Beschreibung von Camp als konservative Kritik an der Homosexualität gesehen werden: »It is not a natural mode of sensibility, if there be any such. Indeed, the essence of Camp is its love of the unnatural: of artifice and exaggeration. And Camp is esoteric – something of a private code, a badge of identity even, among small urban cliques.«36 In der Einleitung schreibt sie darüber, wie schwer es ist, eine Sensibilität zu beschreiben und dass über Camp zu reden zugeich ein Verrat an Camp selbst ist. Die meisten Leute denken über die Sensibilität oder den Geschmack, dass sie rein subjektive Vorlieben seien. Sontag hält diese Meinung für naiv, denn nichts hängt mehr von Entscheidungen ab, als der Geschmack. In ihm geht es um eine freie Antwort des Menschen. So hält Sonntag sogar die Intelligenz für eine Art des Geschmacks, nämlich den Geschmack, was Ideen anbelangt.37 Die Schwierigkeit Camp zu beschreiben liegt darin, dass eine Sensibilität fast unaussprechbar ist und sich kaum kategorisieren lässt: »Any sensibility which can be crammed into the mold of a system, or handled with the rough tools of proof, is no longer a sensibility at all. It has hardened into an idea...«38 Eine Sensibilität in Worten einzufangen, noch dazu eine, die so lebendig, kraftvoll und modern ist wie Camp, ist für Sontag am besten in Form von Notizen möglich und nicht so sehr in Gestalt eines Essay, der ein klares und geradliniges Argument verfolgen soll. Die Notizen eignen sich, um diese besonders flüchtige Sensibilität festzuhalten. Sie widmet die folgenden, in 58 Punkte gegliederten Notizen, Oscar Wilde und zitiert seinen Satz: »One should either be a work of art, or wear a work of art« aus »Phrases and Philosophies for the Use of the Young«. In den ersten sechs Notizen schreibt sie sehr allgemein darüber, dass Camp eine gewisse Art des Ästhetizismus ist, bei dem es nicht so sehr um Schönheit geht, sondern um den Grad der Künstlichkeit oder der Stilisierung. Dem Stil mehr Bedeutung geben bedeutet, den Inhalt zurückzunehmen. Sontag behauptet daher, dass die Sensibilität des Camps nicht engagiert und de-politisiert ist, oder im geringsten Falle apolitisch ist. Diese 35 Susan Sontag »Notes on Camp« in: Fabio Cleto (Hg.), Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject, Edinburgh, 1999, S. 53. 36 Ebd. S. 53. 37 Vgl. ebd. S. 54. 38 Ebd.
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Aussage wurde/wird von vielen noch heftig kritisiert, weil sie damit jeglichen Zusammenhang zur Politisierung und Sichtbarmachung von lesbischschwuler Kultur abwies.39 Sontag weist aber auch darauf hin, dass es nicht nur eine campe Art und Weise des Sehens gibt, sondern auch in Objekten oder dem Verhalten von Personen vorkommt. Weiters schreibt sie, dass der campe Geschmack sich eher zu bestimmten Künsten hingezogen fühlt. Kleidung, Möbel, also Elemente des visuellen Dekors, machen dabei einen großen Anteil aus. Manchmal sind ganze Kunstformen, wie klassisches Ballet, Oper und Filme, mit Camp ausgefüllt. Es gibt campe Filme, Kleider, Möbel, Popmusik, Novellen, Leute, Gebäude. Ein paar Beispiele dazu sind: Tiffany Lampen, die Malereien von Aubrey Beardsley, der Schwanensee, der kubanische Popsänger La Lupe, Frauenkleider aus den 1920ern und interessanter Weise Filme nur für Männer ohne Lustempfinden zu sehen. (Meiner Meinung nach wäre es möglich, dass Sontag darauf anspielen wollte, dass der heterosexuelle Inhalt der Filme nicht auf das campe Publikum übertragen wird, oder sie wollte jegliches sexuelles Lustempfinden aus dem Begriff Camp nehmen.) Viele Beispiele des Camps sind von einem ernsten Gesichtspunkt aus gesehen, entweder schlechte Kunst, oder Kitsch. Camp ist nicht bedingter Weise schlecht/hässlich, aber es fehlt oft an ernster Bewunderung und Erforschung.40 Kritiken an Sontag sind, dass sie die homosexuelle Art der Selbstperformance in einen »entlesbischten/entschwulten« Geschmack verwandelte und ihn als etwas so Schlechtes/Hässliches darstellte, dass es eigentlich schon wieder gut/schön ist. Wie Fabio Cleto schreibt, ist Sontags (Nicht)Definition von Camp gefüllt mit Zugeständnissen an die dominante Kultur, die Camp als einen apolitischen, kitschigen Mittelklasse-Tick sah.41 Sontag führt ein weiteres Zitat von Oscar Wilde aus »The Decay of Lying« an: »the more we study Art, the less we care for Nature«. Die nächsten elf Notizen befassen sich also mit Künstlichkeit und Natur. Sie schreibt, dass alle Camp-Objekte und Personen ein großes Element an Künstlichkeit enthalten. Nichts aus der Natur kann camp sein.42 Bei Camp geht es um den Stil, um die Liebe zur Übertreibung, um Dinge, die etwas zu sein scheinen, was sie aber nicht sind. Laut Sontag ist das beste Beispiel hierzu der Jugendstil (»Art Nouveau«), der sich unter anderem durch Lampen in der Form von blühenden Pflanzen auszeichnet. Was die Personen betrifft, entspricht Camp dem besonders Geschwächten oder stark Übertriebenen. Das Androgyne ist sicherlich eines der großen Abbilder der campen Sensibilität, so z. B. die große androgyne Leere hinter dem 39 40 41 42
Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 54f. Fabio Cleto, Introduction: Queering the Camp, a.a.O., S. 10. Vgl. Susan Sontag, Notes on Camp, a.a.O., S. 55.
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Bild der perfekten Schönheit von Greta Garbo.43 (Ein gutes Beispiel dazu gibt uns Chuck Kleinhans in »Taking out the Trash. Camp and the Politics of Parody«, als er ein Zitat, in dem es um die Schlussszene des Films »Queen Christina« mit Greta Garbo geht, anführt: »Garbo asked me: »What do I play in this scene?« Remember she is standing there for 150 feet of the film - 90 feet of them in close-up. I said: »Have you heard of tabula rasa? I want your face to be a blank sheet of paper. I want the writing to be done by every member of the audience. I'd like it if you could avoid even blinking your eyes, so that you're nothing but a beautiful mask« So in fact there is nothing on her face: but everyone who has seen the film will tell you what she is thinking and feeling. And always it is something different.«44 (Hervorhebung im Original)
In dem oben genannten Film spielt Greta Garbo die Königin von Schweden, die sich auch manchmal als Mann ausgibt, in Männerkleider schlüpft, und sich so als »drag king« des Schwarz-Weiss-Films in einen Mann verliebt. Nun aber wieder zurück zur Androgynität und Camp bei Sontag: »Here Camp taste draws on a mostly unacknowledged truth of taste: the most refined form of sexual attractiveness (as well as the most refined form of sexual pleasure) consists in going against the grain of one’s sex. What is most beautiful in virile men is something feminine; what is most beautiful in feminine women is something masculine...«45 Was Hand in Hand mit der Vorliebe des Camps fürs Androgyne geht, ist der Genuss an der Übertreibung von sexuellen Charakteristiken und Persönlichkeitsmanieriertheiten. Aus offensichtlichen Gründen gibt sie Beispiele anhand von FilmdarstellerInnen, wie die flamboyante Weiblichkeit einer Gina Lollobridgida oder die übertriebene Männlichkeit eines Steve Reeves und auch das Temperament und die Eigenheit einer Bette Davis. Das Campe in Personen und Dingen zu verstehen, ist alles Dasein als eine Rolle spielend zu sehen. Es ist eine sehr weitgehende Auslegung, was die Sensibilität betrifft, wenn sie von der Metapher des Lebens als ein Theater spricht. Die Ursprünge des Camps können laut Sontag im 18. Jahrhunderr gefunden werden, in den Schauerromanen, der Chinoiserie, Karikaturen, künstlichen Ruinen usw.: »Still, the soundest starting point seems to be the late seventeenth and early eighteenth century, because of that period’s extraordinary feeling for artifice, for surface, for symmetry; its taste for the picturesque and the thrilling, its elegant conventions for representing in43 Vgl. ebd. S 56. 44 Tom Milne »Rouben Mamoulian« Bloomington, 1970. In: Chuck Kleinhans »Taking Out The Trash. Camp And The Politics Of Parody« in: Moe Meyer (Hg.), The Politics And Poetics of Camp, London/New York, 1994, S. 187. 45 Susan Sontag, Notes on Camp, a.a.O., S. 56.
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stant feeling and the total presence of character – the epigram and the rhymed couplet (in words), the flourish (in gesture and in music).«46 Das 19. Jahrhundert brachte erst gegen Ende den Jugendstil hervor, der zwar voll des Inhalts war, sogar in einem moralisch-politischen Sinne, weil er eine revolutionäre Bewegung der Kunst mit einer utopischen Vision (z. B. Bauhaus) war. Trotzdem gibt es auch Jugendstilobjekte, die rein unpolitisch sind, es geht nur um das ästhetische Aussehen. So ist Camp eine Sensibilität, die davon lebt, dass die Dinge in einem doppelten Sinne gesehen werden können, d.h. der Unterschied zwischen dem Ding, das etwas bedeutet, und dem Ding als reine Kunst. Sontag meint, dass dies durch den verbreiteten Gebrauch des Wortes »camp« im Englischen als Verb erklärt werden kann. Dieses Verb bedeutet, dass Leute etwas machen. »To camp is a mode of seduction – one which employs flamboyant mannerisms susceptible of a double interpretation; gestures full of duplicity, with a witty meaning for cognoscenti and another, more impersonal, for outsiders.«47 Genauso ist es der Fall, wenn das Wort als Substantiv benutzt wird, dann ist also eine Person oder ein Ding ein »Camp«, es ist eine Doppelheit involviert. Hinter dem »straighten« öffentlichen Sinn kann man eine private, komische Erfahrung über das Ding finden. Das nächste Zitat von Oscar Wilde, das Sontag wieder zur Einleitung für die kommenden Notizen von 18 bis 22 dient, ist: »To be natural is such a very difficult pose to keep up.« aus »An Ideal Husband«48. Sontag ist der Meinung, dass man zwischen naivem und absichtlichem Camp unterscheiden soll, wobei der reine Camp immer naiv und der Camp, der sich selbst als solcher erkennt, meist weniger zufriedenstellend ist. Die reinen Beispiele zu Camp sind also unbeabsichtigt und toternst. Sontag gibt dazu zwei Beispiele. Erstens versucht der Jugendstil-Handwerker, der eine Lampe herstellt, um die sich eine Schlange gewickelt hat, auch nicht sich daraus einen Spaß zu machen – er sagt mit aller Ernsthaftigkeit: Voilá! Der Orient! Das zweite Beispiel ist im Bereich der Oper zu finden. Es wäre unwahrscheinlich, dass vieles des traditionellen Opernrepertoires so befriedigend camp sein könnte, wenn all diese melodramatischen Absurditäten der Handlungen in Opern von den Komponisten nicht ernst gemeint wären. Der Versuch hingegen, absichtlich camp zu sein, ist schädlich und meistens ein Nachteil. So beruht Camp letztlich auf Unschuld, das heißt Camp enthüllt die Unschuld, korrumpiert sie aber auch, falls es gelingt. Personen können sogar zu Camp veranlasst werden, ohne es zu wissen, so, wie es Fellini in »La Dolce Vita« gelang, dass sich Anita Ekberg selbst parodierte. Camp kann also entweder komplett naiv oder gänzlich bewusst sein.49 Ein Beispiel für das letztere sind die Epigramme von Wilde: »It’s 46 47 48 49
Ebd. S. 57. Ebd. Ebd. S. 58. Vgl. ebd.
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absurd to divide people into good and bad. People are either charming or tedious.« aus »Lady Windermere’s Fan«.50 Sontag schreibt in den Notizen 23 bis 33 weiter, dass es bei der Ernsthaftigkeit des naiven oder puren Camps um eine verfehlte geht, jene, die aus einer Mixtur zwischen dem Übertriebenen, dem Fantastischen, dem Leidenschaftlichen und dem Naiven hervorgeht. Wenn etwas aber nur schlecht und nicht camp ist, so ist es oft zu mittelmäßig im Ehrgeiz. Der Künstler hat nicht wirklich versucht, etwas gänzlich Ausgefallenes zu machen. Das Kennzeichen des Camps ist die Einstellung zur Extravaganz. Camp ist eine Frau, die in einem Kleid herumgeht, das aus drei Millionen Federn gemacht wurde. Camp ist oft ein aus den Massen geratener Ehrgeiz, wie zum Beispiel Gaudís schreiende und wunderschöne Gebäude in Barcelona. Diese sind nicht nur wegen ihres Stils camp, sondern auch weil sie, wie am deutlichsten anhand der Kathedrale der Sagrada Familia sichtbar wird, den Ehrgeiz eines einzigen Mannes darstellt, etwas zu konstruieren, was eine ganze Generation, eine ganze Kultur braucht, um es fertig zu stellen. Camp ist meistens zu viel. Ohne Leidenschaft erhält man nur etwas bloß Dekoratives, Sicheres, Chices.51 So erklärt auch Thomas Hübner, warum Jean Michel Jarres Werke camp sind, »weil es ihm so besessen ernst mit seiner Kunst ist, weil er sich für Mozart hält. Sein Synthie-Kitsch wäre jedoch niemals so gut, es wäre niemals so viel Liebe in ihn eingeflossen, wenn Jarre sich bei seiner Erzeugung nicht auf einer höheren musikalischen Mission gewähnt hätte, sondern sein Ziel von vornherein die Schaffung camper Musik gewesen wäre.«52 Sontag erläutert weiter, dass der Kanon des Camps sich mit der Zeit verändern kann. Die vergangene Zeit macht es möglich, dass wir eine Phantasie als solche besser genießen können, wenn sie nicht unsere eigene Alltagsphantasie ist. Das ist auch der Grund, warum so viele Objekte, die als Camp bezeichnet werden, altmodisch, out-of-date oder nicht mehr in Mode sind. Was jetzt banal ist, kann im Laufe der Zeit fantastisch werden, obwohl der Effekt der Zeit unvorhersagbar ist.53 Camp ist auch die Glorifizierung des Charakters, die Aussage ist von keiner Bedeutung, wie zum Beispiel beim großen Idol des campen Geschmacks, Greta Garbo. Ihre Inkompetenz als Schauspielerin – ihr fehlte es an Tiefe – verstärkt ihre Schönheit. Sie ist immer sie selbst. Es ist eher ein »Instant-Charakter«, der hier gemeint ist, die Entwicklung eines solchen wird nicht mitgemischt. Er wird als ein Zustand des kontinuierlichen Glühens verstanden, eine Person, die ein einzig sehr intensives Ding ist. Dieses Element ist der Schlüssel zur Theatralisierung der Erfahrung, die 50 51 52 53
Vgl. ebd. S. 59. Vgl. ebd. Thomas Hübener, Vs. Interpretation, a.a.O., S. 119. Vgl. ebd. S. 60.
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der campen Sensibilität innewohnt. Daher sind auch die Oper und das Ballet so reich an Camp. Die Notizen 34 bis 44 werden durch ein weiteres Zitat von Wilde eingeleitet: »Life is too important a thing ever to talk seriously about it.« aus »Vera, or the Nihilists«54. Camp kümmert sich nicht um die gute oder schlechte Bewertung der Ästhetik, es bietet der Kunst und dem Leben vielmehr ein anderes Set an Standards an. Normalerweise schätzen wir ein Kunstwerk wegen der Ernsthaftigkeit und Würde dessen, was es darstellt. Wir nehmen also einen geradlinigen Bezug zwischen Absicht und Performance an. Wir beten das Pantheon der Hochkultur an: Wahrheit, Schönheit und Ernsthaftigkeit. Aber es gibt noch andere kreative Sensibilitäten, so zum Beispiel Qual, Grausamkeit und Geisteskrankheit, wie in den Werken von Sade, Rimbaud, Kafka und Artaud, deren Ziel es nicht ist, Harmonien zu erzeugen.55 Ein Werk kann also gut sein, indem es eine andere Art von Wahrheit über die menschliche Situation darstellt. Des Weiteren gibt es auch noch die campe Sensibilität der fehlgeschlagenen Ernsthaftigkeit, der Theatralisierung der Erfahrung. Camp verweigert sowohl die Harmonien der traditionellen Ernsthaftigkeit als auch die Risiken der vollständigen Identifikation mit extremen Gefühlszuständen. Camp ist zur Gänze ästhetisch, nicht moralistisch wie die Hochkultur und nicht den extremen Gefühlszuständen der zeitgenössischen Avantgarde zugewandt. »Camp is the consistently aesthetic experience of the world. It incarnates a victory of »style« over »content«, »aesthetics« over »morality«, of irony over tragedy.«56 Camp und Tragödie sind also Antithesen. In campen Werken gibt es zwar eine Ernsthaftigkeit und ein Pathos, aber der Kern des Camps ist es, den Ernst zu entthronen. Camp ist verspielt und führt einen neuen Standard ein: das Künstliche als Ideal – die Theatralität.57 »I adore simple pleasures, they are the last refuge of the complex.« aus »A Woman of No Importance«. Dieses Zitat leitet die 45ste bis 49ste Notiz ein. Camp kann auch folgendermaßen gesehen werden: Es geht um die Klärung der Frage, wie man im Zeitalter der Massenkultur ein »Dandy« sein kann. Der Dandy war eigentlich einer, der seltene Empfindungen suchte, die nicht von der Massenkunst verschmutzt waren. Camp macht dahingegen zwischen dem einzigartigem Objekt und dem massenproduzierten keinen Unterschied. Wilde stellte eine Übergangsfigur dar, als er die Gleichheit jedes Objektes verkündete, indem er sagte, dass ein Türknopf genau so bewundert werden kann, wie ein Gemälde. Er antizipierte also den demokratischen Esprit des Camps. Der Dandy des alten Stils 54 55 56 57
Ebd. S. 61. Vgl. ebd. Ebd. S. 62. Ebd.
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hasst die Vulgarität, der Dandy des neuen Stils schätzt sie. Es ist eine Leistung, die durch die Bedrohung der Langeweile in einer Wohlstandsgesellschaft angestachelt wird.58 »What is abnormal in Life stands in normal relations to Art. It is the only thing in Life that stands in normal relations to Art.« aus »A Few Maxims for the Instruction of the Over-Educated« Dieses Zitat leitet die Notizen 50 bis 53 ein. Da heutzutage kaum mehr Aristokraten existieren, die spezielle Geschmäcker sponsieren, ist es eine improvisiert selbsterwählte Klasse, hauptsächlich Homosexuelle, die sich selbst als die Aristokraten des Geschmacks konstituieren. Nun erklärt Sontag die einzigartige Beziehung zwischen dem campen Geschmack und der Homosexualität. Nicht alles was camp ist, ist ein homosexueller Geschmack, jedoch gibt es eine Affinität und ein Überlappen beider. Nicht alle Homosexuellen haben einen campen Geschmack, aber sie stellen die Avantgarde und das offensichtlichste Publikum des Camps dar. Die Homosexuellen haben ihre Integration in die Gesellschaft über die Promotion ihres ästhetischen Sinns versucht. Camp ist aber vielmehr als ein homosexueller Geschmack, offensichtlich ist seine Metapher vom Leben als ein Theater besonders als Rechtfertigung und Projektion eines gewissen Aspekts der homosexuellen Situation geeignet.59 »One must have a heart of stone to read the death of Little Nell without laughing.« Aus »In conversation«.60 Die abschließenden Notizen 53 bis 58 werden mit diesem Zitat übergetitelt. Camp bestätigt, dass es auch einen guten Geschmack des schlechten Geschmacks geben kann und dass der Mensch, der auf hohe und ernste Vergnügungen besteht, sich selbst von Vergnügungen fernhält. Camp ist eine Art des Genießens, der Wertschätzung, keine Bewertung. Camp ist großzügig und will genießen. Camp identifiziert sich mit dem, was es genießt. Leute, die diese Sensibilität teilen, lachen nicht über das Ding, dass sie »camp« nennen, sie genießen es. Camp ist ein zärtliches Gefühl. Der campe Geschmack ernährt sich selbst von der Liebe, die in gewisse Objekte und persönlichen Stilen eingegangen ist und zu guter Letzt: Camp ist gut, weil es schrecklich ist – nur unter den Bedingungen, die in diesen Notizen skizziert wurden.61 Moe Meyer sieht sich durch Sontags Notizen dazu veranlasst, Camp in zwei Arten einzuteilen: in »Camp« mit Grossbuchstabe, das die originale, fundamentale, politische und beabsichtigte parodistische Praxis ist, die mit Oscar Wild entstanden ist, um eine soziale Sichtbarkeit zu erzeugen – und in das kleingeschriebene »camp« oder »Pop-camp«, das seinen Ursprung 58 59 60 61
Vgl. ebd. S. 63. Vgl. ebd. S. 64. Ebd. Vgl. ebd. S. 65
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in Sontags Essay hat, welche als apolitischer Geschmack mit dem dominanten System kooperiert. Sie verwandelte dieses perverse System in einen »straighten« Geschmack, in ein massenkulturelles Phänomen, dessen queere Sichtbarkeit entleert wurde. Pop-camp ist nur mehr eine Spur des originalen Camp, eine gefälschte Version, aber wie Fabio Cleto richtig erkannte, unterliegt Meyer mit seiner Einteilung wieder einem binären System und wiederholt eigentlich das, was Sontag hierarchisch als puren oder naiven Camp und dem absichtlichen Camp, der weniger befriedigend ist, bezeichnet hatte.62 Das Element von Camp, das es zu einem politischen Werkzeug macht und es von Pop-camp unterscheidet, ist das männliche, homosexuelle Subjekt, der originale Erzeuger und Besitzer. Diese Voraussetzung schließt lesbische Formationen jedoch aus, da diese nicht auf die Gerichtsverhandlungen Oscar Wildes zurückzuführen sind. Meyer will eine queere Bedeutung als den Unterschied zwischen Camp und Pop-camp einführen, da Sontag die Interpretationen verkomplizierte, indem sie die bezeichnenden Codes von aller queerer Bedeutung herausnahm und Camp so mit rhetorischen und performativen Strategien wie Ironie, Satire, Burlesque, Travestie und mit kulturellen Bewegungen wie dem Pop verwechselt wurde.63 Pop-camp kann auch als die Parodie von Camp gesehen werden, die, wie Linda Hutcheon meint, sehr postmodern ist, da sie die intertextuellen Codes eines politischen Wertes manipuliert. Camp ist die primäre, originale Formation und der heterosexuelle Pop- camp die sekundäre, die rauhe Kopie, das Gefälschte. Aber wie Judith Butler über »drag« geschrieben hat, ist schwul zu hetero nicht wie eine Kopie zum Original, sondern wie eine Kopie zu einer Kopie. So ist Pop-camp sehr wohl eine queere und subversive Strategie, wie auch ein spezieller Fall. Andy Warhol und seine Pop Art zeigen, dass in der sexuellen und epistemologischen Devianz Serienproduktion und Pop mit der Bedeutung von Camp vermischt sind.64 Andererseits kann auch, wie George Melly es tut, behauptet werden, dass Pop-camp ein Widerspruch in sich ist, da Camp ja der »In«Geschmack einer Minderheitselite ist, Pop an sich jedoch ein Massenphänomen ist.65 Pop führt allerdings auch vor Augen, dass die Alltagsprodukte ihren Wert haben. Kultur kann auch in Pop-Form genossen werden, obwohl die Pop-Erfahrung auch jene ist, dass sie zugleich das Wissen enthält, bald wieder »out«, verbraucht oder obsolet zu sein – eine Wegwerfkultur, die aber auch wieder »recycled« werden kann. Dieses Wissen über die Geschichte oder das Vergängliche ist der Moment, in dem Camp ins Spiel kommt, denn Camp ist eine Wiederentdeckung des geschichtlichen 62 63 64 65
Vgl. ebd. S. 17. Vgl. Fabio Cleto, Introduction: Queering the Camp, a.a.O., S. 18f. Vgl. ebd. S. 20. George Melly: Revolt into Style: The Pop Arts in Britain, London, 1970, S. 174.
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Abfalls. Camp verwandelt das, was von der ernsten Hochkultur ausgeschlossen wurde, in etwas Glamouröses.66 »Camp, in this respect is more than just a remembrance of things past, it is the re-creation of surplus value from forgotten forms of labor.«67 Ein Zitat von Andy Warhol über seine Arbeit verdeutlicht diese Interpretation von Camp: »I always like to work on leftovers, doing the leftover things. Things that were discarded and that everybody knew were no good, I always thought had a great potential to be funny. It was like recycling work. I always thought there was a lot of humor in leftovers... I'm not saying that popular taste is bad so that what's left over is probably bad, but if you can take it and make it good or at least interesting, then you' re not wasting as much as you would otherwise. You're recycling work and you're recycling people, and you're running your business as a byproduct of other businesses. Of other directly competitive businesses, as a matter of fact. So that's a very economical operating procedure. It's also the funniest operating procedure because, as I said, leftovers are inherently funny.«68 (Hervorhebung im Original)
So spricht Susan Sontag in der 47sten Notiz über die Gleichheit aller Objekte und den demokratischen Esprit von Camp.69 Pop erfüllt eher nur das Gleichheitsprinzip, Camp nützt es dagegen aus, weshalb Sontag auch meint, dass Pop eher flach und trocken ist, Camp hingegen zärtlich und leidenschaftlich.70 Mark Booth hat die Unterschiede zwischen Pop und Camp näher herausgearbeitet. Wie George Melley unterstrich, war Pop in den 1960ern mehr oder weniger ein Synonym für Camp. Booth fertigte nun anhand von Richard Hamiltons Attributsliste für Pop eine ähnliche Liste für das Camp der Fernsehindustrie und der Werbemedien an, also dem, was Meyers als Pop camp beschrieb71: »Pop
Camp
Popular (designed for mass audiences) Transient (short-term solutions) Expendable Low cost Mass produced Young
Easily accessible Determinedly facile Trashy Mock luxurious Mass-produced Youth worshipping
66 Vgl. Fabio Cleto (Hg.), A Reader, Edinburgh, 1999, S. 319f. 67 Ebd. S. 320. 68 Andy Warhol: The Philosophy of Andy Warhol (From A to B and Back Again), New York, 1975, S. 93. 69 Vgl. Susan Sontag, Notes on Camp, a.a.O., S. 63. 70 Vgl. ebd. S. 65. 71 Vgl. Mark Booth, Campe-Toi!, a.a.O., S.73.
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Witty Sexy Gimmicky Glamorous Big business
Witty Mock sexy Wilfully hackneyed Mock glamorous BIG BUSINESS«72
Heutzutage ist es viel einfacher, eine Konfusion zwischen Camp und Pop zu vermeiden. Obwohl Camp auch ein wichtiger Faktor war, um den Stil von Pop zu definieren, wurde Pop mit anderen Stilen, vor allem Musikstilen, wie z. B. Folk, Country, Music-Hall und Hollywood Razzmatazz, vermischt.73 Chuck Kleinhans sieht Camp als eine parodistische Strategie, die ihren Ursprung in der schwulen Subkultur hat und einen Impetus für subtextuelles Lesen gibt. Für ihn ist eine politische Kritik an Camp und eine genauere Analyse der Parodie als eine Strategie für den subkulturellen Widerstand in den zeitgenössischen Medien von Bedarf.74 Zum Aufsatz von Susan Sontag, den er für originell und provokativ hält, meint er, dass wir darin Camp als eine Strategie des Lesens, welche die Welt in ästhetischen Augen und in einem gewissen Stil sieht, erkennen können. Er zitiert daraus den Satz, dass die Essenz von Camp die Liebe zum Unnatürlichen, dem Künstlichen und zur Übertreibung ist (Notiz Nr. 8).75 Camp ist eine ironische und parodistische Wertschätzung einer extravaganten Form, die außerhalb jeglichen Maßes bezüglich dessen Inhalts liegt, besonders wenn der Inhalt banal und trivial ist. Kleinhans schreibt weiter, dass Sontag bloßes Camp als naiv und unbeabsichtigt identifiziert und eine verfehlte Ernsthaftigkeit und/oder leidenschaftliche Ambition zur Schau stellt. Als ein gutes Beispiel für eine verfehlte Ernsthaftigkeit nennt er den in der Mitte der 1950er produzierten Film über Transvestismus, »Glen and Glenda«. In diesem Film wird das Ausleben einer Phantasie so stark verteidigt und auf eine eigenwillige Art und Weise (die Zuschauer_Innen werden ständig daran erinnert, dass Cross-dressing bei Männern absolut nichts mit Homosexualität zu tun hat), dass er sich selbst der Lächerlichkeit Preis gibt. Sontag strich diese schwierige Beziehung zwischen Parodie und Eigenparodie in Camp heraus. Erfolgreiches Camp, selbst wenn es Eigenparodie aufdeckt, ist voll an Eigenliebe.76 Sontag, die den Aufsatz 1964 schrieb, minimierte jegliche Zusammenhänge zwischen Camp-Kultur und lesbisch-schwuler Subkultur. Richard Deyer und Jack Babuscio berichtigen das Fehlen der Hinweise auf solche Zusammenhänge. Ein Zitat von Deyer: »It is just about the only style, lan72 73 74 75 76
Ebd. S. 73f. Ebd. S. 74. Chuck Kleinhans, Taking Out The Trash, a.a.O., S. 182. Vgl. Susan Sontag, Notes on Camp, a.a.O., S. 56. Vgl. Chuck Kleinhans, Taking Out The Trash, a.a.O., S. 186 und Susan Sontag, Notes on Camp, a.a.O., S. 65.
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guage and culture that is distinctively and unambigously gay male. In a world drenched in straightness all the images and the words of society espress and confirm the rightness of heterosexuality. Camp is the one thing that expresses and confirms being a gay man.«77 Bei Babuscio geht es um Camp und die schwule Sensibilität. Das soll aber nicht heißen, dass Camp die homosexuelle Sensibilität ist, Camp ist eine Invasion und Subversion anderer Sensibilitäten und funktioniert über Parodie, Pastiche und Übertreibung.78 Für Babusco stellt Camp ein anderes Bewusstsein dar: »a heightened awareness of certain human complications of feeling that spring from the fact of social oppression.«79 Babuscio arbeitete vier grundsätzliche Merkmale von Camp heraus: Ironie, Ästhetizismus, Theatralität und Humor. Camp ist ironisch »insofar as an incongruous contrast can be drawn between an individual/thing and its context/association. The most common of incongruous elements is that of masculine/feminine«80. Als Beispiele erwähnt Babuscio Greta Garbo als »Queen Christina« und David Bowie in »The Man Who Fell to Earth«, wo die Charaktere des Popstars durch die radikale Neutralisierung oder Auslöschung jeglicher männlicher oder weiblicher Zeichen dargestellt werden. Das zweite, grundsätzliche Merkmal von Camp, der Ästhetizismus, tritt als praktische Anerkennung eines Stils auf, der als Mittel zur Selbstprojektion dient und ein Übermittler der Bedeutung und des Ausdrucks einer emotionellen Befindlichkeit ist.81 Was die Aussage betrifft, dass die Homosexuellen ihre Integration in die Gesellschaft durch ihren ästhetischen Sinn erlangt haben und dass Camp die moralische Empörung neutralisiert, ist Babuscio mit Sontag einer Meinung, denn Babuscio findet auch, dass der wesentliche Aspekt des campen Ästhetizismus seine Opposition zur puritanischen Moralität ist. Camp ist subversiv, was allgemein angenommene Standards betrifft und fordert den status quo heraus. Statt harter und unflexibler moralischer Regeln fordert Camp eine Moral der Sympathie, die die Leute und Ideen, je nach ihren Umständen und individuellem Temperament, wahrnimmt.82 Laut Dollimore funktioniert Camp als Strategie für die Selbstermächtigung von marginalisierten Leuten durch die Unterminierung des tieflie77 Richard Dyer »It’s Being So Camp as Keeps Us Going« in Body Politic 10, 197, S. 11. Und Jack Babuscio »Camp and the Gay Sensibility« in: Richard Dyer (Hg.), Gays and Film, New York, 1984. 78 Jonathan Dollimore »Post/modern: On the Gay Sensibility, or the Pervert's Revenge on Authenticity« in: Fabio Cleto (Hg.), Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject. A Reader, Edinburgh, 1999, S. 24f. 79 Jack Babuscio, Camp and the Gay Sensibility, a.a.O., S. 40. 80 Jack Babuscio, The Cinema of Camp (Aka Camp and the Gay Sensibility), in: Fabio Cleto (Hg.), Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject. A Reader, Edinburgh, 1999, S.119. 81 Vgl. Jack Babuscio, Camp and the Gay Sensibility, a.a.O., S.43. 82 Jack Babuscio, The Cinema of Camp, a.a.O., S.120.
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genden Models der Identität von innen, indem Camp durch seine Parodie und Mimikry von drinnen nach draußen aushöhlt. Er argumentiert, dass die von Wilde vorgeführte Eingliederung von verschiedenen Sexualitäten in den Begriff Subjektivität, zum Beispiel die Ideen des Fin-de-siècles, zu destabilisieren drohte, welche festgelegt hatten, was die menschliche Natur und das Individuum ausmacht. Gerade deswegen, weil Wilde nicht versuchte, sich und seine Sexualität außerhalb des dominanten Systems zu stellen, waren seine Forderungen so bedrohend.83 In »Überwachen und Strafen« und im ersten Band von »Sexualität und Wahrheit« diskutiert Michel Foucault die Art und Weise, wie Identitäten durch Makrosysteme gebildet werden und welche die Prozesse der Wahrnehmung und Kommunikation innerhalb der privaten und häuslichen Räume beeinflussen. Das ist allerdings nur eine Perspektive in dieser Angelegenheit, denn wenn man nicht einer monolithischen Idee der Macht unterliegt muß man anerkennen, dass sogar in etablierten Institutionen dissidente und unparteiische Elemente vorhanden bleiben.84 Das dritte Element von Camp ist die Theatralität, d. h. das Leben als Theater, das Sein als Rollenspiel, die Wirklichkeit als Erscheinung zu sehen. Homosexuelle erfüllen in ihrem Rollenspiel nicht die traditionellen Erwartungen der Gesellschaft. Camp, indem es das Augenmerk auf die äußerlichen Erscheinungen legt, impliziert, dass Sexrollen oberflächlich sind, also eine Frage des Stils sind. Oft wird auch die einem zugewiesene männliche oder weibliche Rolle zurückgewiesen.85 Die vierte Charakteristik von Camp ist der Humor, der von der Identifizierung mit einer starken Inkongruenz zwischen einem Objekt, einer Person oder einer Situation und ihrem Kontext herrühren. Der Humor des Camps ist eine Strategie, um konfliktive Gefühle wieder zu vereinigen, denn es ist ein Mittel, um mit einer feindlichen Umgebung zurechtzukommen und gleichzeitig eine positive Identität zu definieren.86 Babuscio betont, dass der campe Humor auf der Miteinbeziehung, also der starken Identifizierung mit der Situation oder mit dem Objekt, beruht, während die Widersprüche amüsiert geschätzt werden. Dadurch kann es auch von der kühlen Distanziertheit, die Hohn oder Spott hervorruft, unterschieden werden.87 Esther Newton hat drei Charakteristiken für Camp angeben. Die Ironie Babuscios fasste sie anscheinend mit dem Wort »Missverhältnis« (im Original: incongruity) zusammen und als Beispiel für diese Inkongruenz gibt sie das Beispiel einer »campy queen« an, deren Idee es war, Pflanzen in dem Wasserbehälter ihrer Toilettenspülung wachsen zu lassen. Dann 83 84 85 86 87
Vgl. Dennis Denisoff, Aestheticism and Sexual Parody, a.a.O., S.5. Vgl. ebd. Jack Babuscio, The Cinema of Camp, a.a.O., S.123f. Vgl. Ebd. S.126 . Vgl. Chuck Kleinhans, Taking Out The Trash, a.a.O., S. 187.
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kommen auch bei ihr, wie bei Babuscio, die Theatralität und der Humor vor. (Der bei Babuscio erwähnte Ästhetizismus ist bei Newton in der Theatralität vorhanden, den sie als Stil des Camps beschreibt, die Inkongruenz ist der Hauptinhalt und der Humor die Strategie des Camps).88 Wie Kleinhans richtig erkannt hat, haben Dyer und Babuscio die viel breiteren Konzepte von Camp, die auf Verbindungen von Camp und der Kunst im weiteren Sinne beruhen (wie von Susan Sontag analysiert), nicht im vollen Ausmaß beachtet. Seit der Publikation von »Notes on Camp« hat die Medienwelt (Fernsehen, Radio, Musik, Werbung, Journalismus) Camp benutzt oder sogar kooperiert, aber leider auch viel subversives Potential durch Naturalisierung neutralisiert. In den Medien der Massenkultur gibt es die Tendenz fast alles, was anders ist, aufzusaugen und es in einen Aspekt eines modischen Wandels zu verändern. Etwas Anderes zu finden, um übersättigte Geschmäcker zu würzen. Die Kannibalisierung von Subkulturen durch die Medienwelt ist ein strukturelles Kennzeichen der Kulturindustrie.89 So stellt auch bell hooks in ihrem Kapitel »Das Einverleiben des Anderen. Begehren und Widerstand« im Buch »Black Looks« fest, dass die Ethnizität oft nur als Würze im Mainstream dient, und das Bejahen und Genießen »rassistischer Differenz« Vergnügungswert hat. Es ist »in«, kulturelle Tabus in Bezug auf Sexualität und Begehren zu brechen und zur Sprache zu bringen.90 Wenn Camp für einen nicht-homosexuellen Gebrauch angeeignet wird, indem die extravagante Theatralität, die Liebe zum Künstlichen, und extreme emotionale Bandbreite angewandt wird, so nennt das Kleinhans »Het Camp«. Andererseits, falls das Konzept von Camp auf beide Phänomene ausgeweitet wird, also in der schwulen Subkultur wurzelnd und eine nicht-schwule Aneignung darstellend, bringt uns das wieder zur Kategorie »Kitsch«, wie Kleinhans feststellt.91 Er unterscheidet weiters zwischen »High Camp« und »Low Camp«, wobei High Camp die nahtlose Illusion von weiblicher Nachahmung bedeutet und Low Camp die dekonstruierte Geschlechterpräsenz der Drag Queen akzeptiert. Ähnlich ist auch »trash«, oder was Kleinhans auch beabsichtigtes Low Camp nennt. Den »trash« macht deutlich, dass auch die ästhetische Sensibilität sozial konstruiert ist. In anderen Worten zelebriert Low Camp den schlechten Geschmack absichtlich und erregt Anstoß, was die ästhetischen und sozialen Empfindungen betrifft, um so seinen Standpunkt kund zu tun.92 Die campe Ästhetik und der Dandy-Ästhete galten in der spätviktorianischen Zeit als kulturelle Degeneration, wie Judith Halberstam in 88 Vgl. Esther Newton »Role models« in: Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject, a.a.O., S.102. 89 Vgl. Chuck Kleinhans, Taking Out The Trash, a.a.O., S. 187. 90 Vgl. bell hooks: Black Looks. Popkultur – Medien – Rassismus, Berlin, 1994, S. 33. 91 Vgl. Chuck Kleinhans, Taking Out The Trash, a.a.O., S. 188. 92 Vgl. ebd. S. 189.
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ihrer Studie zum gothischen Horror als »Technologie der Monstrosität« schreibt. Sie gibt auch Bram Stokers »Dracula« als Beispiel einer Persönlichkeit an, welche die Andersheit selbst, als eine destillierte Version aller Anderen darstellt, die durch und in fiktiven Texten der Sexualwissenschaft und der Psychopathologie produziert wurde.93 Heutzutage in der Postmoderne, so zeigt uns Thomas Hübener, ist Camp als Phänomen kaum mehr sichtbar, da postmoderne Charakteristiken teils mit den Eigenschaften des Camps übereinstimmen, wie z. B. der spielerische Geist der Unverbindlichkeit: »Kaum ein Film, der die augenzwinkernde Brechung, den Hinweis auf seinen Zitatcharakter und den eigenen ironischen Kommentar nicht gleich mitliefert. Das Werk des amerikanischen Regisseurs Quentin Tarantino besteht fast ausschließlich aus solchen Metaebenen.«94 Hübener kommt zu dem Schluss, dass reines Camp heute kaum mehr möglich ist, dennoch gibt er uns ein paar Beispiele: »Reines Camp im sinne Sontags ist heute selten. Sowohl bei Neo-Dandys wie Rufus Wainwright und Neil Hannon (The Divine Comedy) als auch bei PopIkonen wie Kylie Minogue, Madonna, Britney Spears oder gar den Meistern der Doppelcodierung, den Pet Shop Boys, sind distanzierende Brechungen immer schon Teil des Werkes. Eigentlich kommen als Kandidaten für eine CampRezeption heute nur ironiefreier Heavy Metal, die Band Tokio Hotel, der Berliner Beatles Eindeutscher (»Glück ist ein warmes Gewehr«) Klaus Beyer sowie der nach dem Tod Harald Juhnkes letzte große deutschsprachige Entertainer Udo Jürgens infrage.«95
Nach meiner Ansicht existieren in der Populärkultur sehr wohl noch mehrere Beispiele für Camp, wobei es ein subversiver Camp ist, der mehr an politischem Inhalt, dem »cutting edge«, besitzt, also konkreter zur lesbisch-schwuler, feministischer und queerer Kultur Stellung bezieht, als in der Beschreibung von Camp in den »Notes on Camp« von Susan Sontag und in dem Artikel von Thomas Hübener. Ich hebe noch einmal hervor, dass subversiver Camp, wie Sedgwick betont, auf Sympathie beruht, die diese Strategie der Selbstermächtigung erfolgreich macht - einer Sympathie, die von zwei Seiten vorhanden sein muss. Diese Sympathie versuchte Sontag durch ihre Umschreibung von Camp als Sensibilität als eine Leidenschaft auszudrücken. Erstens verbünden sich die Autor_Innen mit campen Subjekten und zweitens die Leute (also die Empfänger_Innen), welche die Qualität eines Textes schätzen und damit positive Assoziationen empfinden. Musikbeispiele dazu werde ich wie immer am Ende des Kapitels näher beschreiben.
93 Dennis Denisoff, Aestheticism and Sexual Parody, a.a.O., S. 84. 94 Thomas Hübener, Vs. Interpretation, a.a.O., S. 119. 95 Ebd.
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F e m i n i s t i s c h e r C a m p m i t M u s i k b e i s p i e l : M a do n n a Dennis Denisoff erwähnt in seinem Buch »Aestheticism and Sexual Parody 1840-1940« Ada Leverson, eine Zeitgenössin und Freundin Oscar Wildes, die Wilde während seiner Gerichtsverhandlungen Unterschlupf in ihrem Haus gewährte. Während der 1890er wurde sie für ihre kurzen und scharfen Beiträge für »Yellow Book« und »Punch« bekannt, die von Wilde als wundervolle, witzige und entzückende Skizzen beschrieben wurden. Sie war auch eine der schärfsten Kritiker_Innen von Camp, nicht wegen der sexuellen Neigungen, sondern wegen der »inclusiveness, specifically with regard to the gender politics inherent to aestheticism itself«96. In diesem Sinne stimmen ihre campen Werke mit dem, diesem Ästhetizismus eigenen Hinterfragen der Identitäts-, Geschlechter- und Sexualititätsmodelle, überein. Aber anstelle eines momentanen, feierlichen Loslassens von zeitgenössischer sex- und geschlechterbasierenden Politik, so kritisiert Leverson, bleibt dieser Ästhetizismus in seinem eigenen unterdrückerischen Essentialismus stecken.97 In »Guilty Pleasures« definiert Pamela Robertson feministischen Camp als »a female form of aestheticism, related to female masquerade and rooted in burlesque, that articulates and subverts the »image- and culture-making processes« to which women have traditionally been given access«. Dieser Definition kommt Leverson nach, indem sie die Misogynität innerhalb einer schwulenfreundlichen Community kritisiert. So auch in Leversons »Afternoon Party« (1893), in dem ein Lord Illingworth (der Name kommt auch in Wildes »A Woman of No Importance« vor) erklärt »There are two kinds of women, the plain and the coloured. But all art is quite useless.«98 Die Gastgeberin der Party kritisiert diesen Lord und meint, dass er zwar schrecklich klug und zynisch sei, aber in letzter Zeit immer genau dieselben Dinge sage. Leverson verwirft den Ästhetizismus des Camps nicht völlig, sie benützt Camp aber dazu, um Dandy-Ästheten anzuziehen, deren Prunk und Protz sie zu verringern beabsichtigt, damit sie ihre eigenen Grundlagen hinterfragen. Gleichzeitig versucht sie auch, den ästhetischen Impuls, der die Differenz bestärkt und jegliche naturalisierende Position der Autorität hinterfragt, voranzutreiben.99 Denisoff abschließende Worte an Leverson lauten: »The trait led Leverson to challenge aestheticim's misogyny by endowing her texts with an even broader sense of sympathy and skepticism regarding the normative models of moral and epistemological authority. It is this unique combina96 Dennis Denisoff, Aestheticism and Sexual Parody, a.a.O., S. 104. 97 Vgl. ebd. 98 Ada Leverson »An Afternoon Party« in: Punch, 15. Juli 1893, S. 13. Zitiert in Dennis Denisoff, Aestheticism and Sexual Parody, a.a.O., S. 107. 99 Vgl. Dennis Denisoff, Aestheticism and Sexual Parody, a.a.O., S. 105.
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tion of concerns in Leverson's aestheticist camp that foreshadows the poststructuralist claim that identity self-fashioning brings with it not only an expansion of possibilities for agency, but also the need for an increased sense of responsibility.«100
Pamela Robertson beschwert sich auch, dass Frauen aus den Diskussionen um Camp vor 1960 praktisch ausgeschlossen waren, da Frauen, Lesben und Heteras anscheinend sogar noch weniger Zugang zu den bilder- und kulturherstellenden Prozess hatten als schwule Männer zu ihrer Zeit. Es gelten zwar viele weibliche Künstlerinnen, wie z. B. Garland, Streisand, Callas, Dietrich und Garbo als camp und auch Aneignungen von weiblicher Kleidung, Stilen oder Sprache durch schwule Männer werden in camper Kultur als gegeben angenommen. Der Austausch zwischen Männer- und Frauen-Kultur fiel eher einseitig aus. Frauen sind camp, aber sie produzieren sich nicht wissentlich als solche. Sie sind Objekte des Camps, aber keine Subjekte.101 Frauen und/oder Lesben stehen zwischen der feministischen Theorie und Politik, die vor allem weiße heterosexuelle Frauen privilegiert und der schwulen Theorie und Politik, die vor allem weiße schwule Männer privilegiert. Jegliche Diskussion über die Beziehung der Frauen zu camp wird daher unvermeidlich Fragen zur Aneignung, Kooperation und Identitätspolitik aufwerfen. Die Tradition des feministischen Camps, der parallel zum schwulen Camp verläuft, aber nicht identisch ist, repräsentiert oppositionelle Arten der Performance und Rezeption. Robertson gewinnt eine weibliche Form des Ästhetizismus, die sich auf die weibliche Maskerade bezieht und in der Burlesque wurzelt, die den Bilder und Kultur herstellenden Prozess artikuliert und subvertiert, zurück. Zu diesem Vorgang hatten die Frauen traditioneller Weise her keinen Zugang.102 Robertson analysiert Madonna als ein Beispiel für feministisches Camp nach 1960. Sie wählt diese Ikone aus, weil sie in der Öffentlichkeit als Darstellerin des »gender bendings« (der Parodie und der weiblichen/männlichen Maskerade) am präsentesten ist. Obwohl im Februar 1993 in der Zeitschrift »New Yorker« ein Beitrag zum Thema »Camp is dead, thanks to Madonna« erschienen ist, in dem behauptet wurde, dass »gender tripping can't be subversive anymore«, weil Madonna »has opened all the closets, turning deviance into a theme park.«103 Dieser Artikel verdeutlichte aber auch die kontroversiellen Meinungen zu Madonna. Auch in der akademischen Welt erlebte Madonna ihren Hype, besonders nach der Publikation ihres Buches »Sex«, hätte laut Robertson eine größe-
100 Ebd. S. 109. 101 Vgl. Pamela Robertson »What makes the feminist camp?« in: Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject, a.a.O., S. 267. 102 Vgl. ebd. S. 271. 103 »Goings on About Town« in: New Yorker, 22. Februar 1993, S. 10.
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re Unterabteilung der »American Media Studies« als »Madonna Studies« institutionalisiert werden können.104 Wieder zurück zu unserem Ausgangspunkt Camp, von dem Robertson behauptet, dass er seit den 1960ern zwei wichtige Veränderungen durchgemacht hat. Die Erste ist das »Outing« und die »Heterosexualisierung« und seine Angleichung an Pop und die Postmoderne, was mit der Publikation von Sontags Notizen einherging. Die zweite ist die Veränderung zu einem offen politisierten Camp hin und des radikalen »drag« nach Stonewall und der homosexuellen Befreiungsbewegung in den 1970ern, die in den 1980ern durch AIDS wieder aufflammte und in die queere Politik überging. Der erste, vor allem heterosexuelle Pop und postmoderne Stil des Camps, gilt für die ganze Karriere von Madonna, was ihre außergewöhnliche Selbstvermarktung, ihre veränderten »Images« und ihre RetroCinephilie betrifft.105 »Madonna, especially in her Boy Toy and Material Girl incarnations, seemed the epitome of the newly defined camp style, embracing crass consumer culture, like pop, and updating it through new media forms. »the ultimate postmodern video star«.«106 Oder, wie Joyce Millman sie beschreibt, als eine Barbie der Videogeneration, da sie sich als ein immer anderes Barbiemodell verkauft: Madonna in Drag, S&M Madonna, Thin Madonna, etc.107 Die zweite, explizite homosexuelle und politische Richtung von Camp kommt vor allem in Madonnas expliziten Referenzen zur schwulen Subkultur, besonders des »drags« und des »vogueings« vor, im Zusammenhang mit ihren geäußerten Identifizierung mit schwulen Männern, ihren Flirts mit dem Lesbentum und ihren AIDS Wohltätigkeitsveranstaltungen.108 So wurde Madonna wegen ihrer sich ständig verändernden »images« und ihres Spiels mit den Geschlechterrollen öfter mit Performance Rock Stars, wie David Bowie verglichen. Genderbending war anfangs eine maskuline Privilegie, so wie der Glam Rock der New York Dolls, Lou Reeds und Iggy Pops usw. Auch war die Geschlechterparodie mit Bi- oder Homosexualität verbunden und ist eigentlich dem »drag« und der weiblichen Imitation näher gestanden als dem Pop oder Postmodernismus.109 Ob Madonna als feministisch bezeichnet werden darf, ist auch sehr kontraversiell, besonders nach ihrer Aussage »I'm just being ironic. That's the joke of it all. It's a luring device, like the whole boy-toy thing. It's playing into people's idea of what's humiliating to women.«110 Sie wurde auch 104 Vgl. Pamela Robertson, Guilty Pleasures. Feminist Camp from Mae West to Madonna, Durham/London, 1996, S. 118. 105 Vgl. ebd. S. 119. 106 Vgl. ebd. S. 123. 107 Vgl. ebd. 108 Vgl. ebd. S. 119. 109 Ebd. S. 124. 110 Brian Johnson »Madonna: The World's Hottest Star Speaks Her Mind« in: Macleans, 13. Mai 1991, S. 48.
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als postmoderne Feministin bezeichnet, weil es ihr um das Überleben von Frauen in der Musik geht und auch um die Infragestellung von feministischen Orthodoxien, wie Make-up, High Heels, Röcke, lange Haare usw. Dieselbe Debatte gibt es auch um die Politik ihres Camps.111 Warum Madonna unter Lesben uns Schwulen so beliebt ist, erklärt Lisa Henderson: »The heart of Madonna's appeal to lesbian and gay audiences […] include(s) her willingness to act as a political figure as well as a popular one and to recognize that such fraught domains as sex, religion, and family are indeed, political constructions, especially for lesbian and gay people.«112 Madonnas Video »Vogue« stellt eine besondere Beziehung zwischen schwuler Subkultur, Hollywood Stars und feministischem Camp dar. Es zeigt, für den Mainstream aufbereitet, die kulturelle Praxis des Vogueing, durch die Vorführung einer Kombination aus afro-amerikanischer und latino schwuler Tanzelemente (Breakdance) und weiblicher Imitationen, oder auch einfacher, nur gewöhnlich männlicher oder weiblicher Typen (z. B. der Beamte, das Schulmädchen). Wie bereits im Kapitel über Parodie erwähnt, benützt Judith Butler auch den Dokumentarfilm über diese Underground- Szene, »Paris is Burning«, um Beispiele für ihre Geschlechterparodie-Theorie zu geben. Sie kritisiert dabei auch »Vogue«, weil Madonna die politisch-homosexuelle Komponente für das straighte Publikum abgeschwächt hat. Meiner Meinung nach können der Dokumentarfilm »Paris is Burning« und »Vogue« als Beispiele nach Moe Meyers Unterscheidung für Camp, oder naives Camp, wie Sontag sagt, stehen und Madonnas Video als absichtliches Camp, daher nicht so gelungen, oder nach Meyers, als Pop Camp oder kleingeschriebenes camp, das sich durch seinen apolitischen Charakter dem dominanten System anpasst. Obwohl laut bell hooks der Dokumentarfilm »Paris is Burning« von Jenny Livingston, einer weißen Lesbe, politisch zu sehr auf der Seite der Weißen steht, denn die Zuschauer_Innen erleben schwarze Männer, »die von einer idealisierten, fetischisierten Vision von Weiblichkeit besessen sind, die weiß ist.«113 Dass Livingston weiß ist, wird gut verschleiert, da nur ihre Stimme zu hören ist, wenn sie Fragen stellt und dabei niemals hinterfragt, wie ihre Position das Interpretieren des Beobachteten in eine gewisse Perspektive verschiebt und verzerrt. Hooks berichtet, dass für sie, wie auch für andere Afro-Amerikaner_Innen, viele Szenen traurig oder tragisch waren, die wiederum die Weißen im Publikum zu belustigen schienen, besonders bei Berichten über Not, Schmerz und Einsamkeit. Die Tragik daran ist, zu erken-
111 Pamela Robertson, Guilty Pleasures, a.a.O., S. 125. 112 Lisa Henderson »Justify Our Love: Madonna and the Politics of Queer Sex« in: Cathy Schwichtenberg (Hg.), The Madonna Connection: Represential Politics, Subcultural Identities, and Cultural Theory, San Francisco, 1993. 113 Bell hooks, Black Looks, a.a.O. S. 182.
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nen, dass sich die färbigen Männer überschlagen, um die Mitglieder einer Gesellschaft zu imitieren, die sie eigentlich gar nicht haben will.114 Im maingestreamten Video von Madonna sind die Sex- und Geschlechterrollen nur ambivalent dargestellt, Männer in Anzügen nicht in »drag« und der Text des Liedes ist: »It doesn't matter if you're black or white, if you're a boy or a girl.« Dann rappt sie eine Reihe von Namen der Hollywod Stars (»ladies with an attitude, fellows that were in the mood«), die oft als camp erwähnt werden: »Greta Garbo and Monroe./Dietrich and DiMaggio./ Marlon Brando. Jimmy Dean./ On the cover of a magazine./ Grace Kelly. Harlow, Jean./ Picture of a beauty queen./ Gene Kelly. Fred Astaire./ Ginger Rogers. Dance on air./ They had style, they had grace./ Rita Hayworth gave good face./ Lauren, Katharine, Lana, too. / Bette Davis, we love you.« Die Stars werden wie Andy Warhols Superstars präsentiert: als Markennamen, die ihr schönes Gesicht verkaufen und so für uns alle zugänglich sind. Madonna wiederholt immer wieder den Satz: »Strike a pose, there's nothing to it«115, der wiederum an Oscar Wilde erinnert. Eine Eigenart des Camp ist das »posing«, bei dem, wie auch Sontag Wilde in ihren Notizen zitiert: »To be natural is such a very difficult pose to keep up.« Madonnas Song veranlasst aber zu einem unnatürlichem »Posen«, so wie die Bilder der Stars, deren Namen sie erwähnt. »Vogue« ermutigt das Publikum, selbst die Illusion zu manipulieren, durch die Maske zu schauen und ein gutes Gesicht zu machen.116 Kritiker_Innen Madonnas werfen ihr den leeren Inhalt ihrer Songs vor. So entstand eine Parodie von diesem Song, die in Julie Browns »Medusa: Dare to Be Truthful« enthalten ist und den Titel »Vague« trägt: »I'm not thinking nothing./C'mon get vague,/Let your body move without thinking./C'mon get vague,/Let your IQ drop while you bop [...] Brooke Shields/Dawber, Pam/Personality of Spam […] Ladies with no point-ofview./ Fellas who don't have a clue./ If they're stars, then you can do it./Just be vague, there's nothing to it.« Viele Kritiker_Innen sehen Madonnas Aneignung von homosexuellen und ethnischen subkulturellen Praxen eher als eine Aneignung des Stils und nicht als eine überzeugende Politik. Feministinnen haben Madonnas Postmodernismus oder pluralistische Queerness kritisiert, weil sie das Konzept der »Frau« und homosexuelle Identitäten in Frage stellt und Differenzen ignoriert. Robertson wirft dazu die Frage auf, ob dies nicht auch mit der Beziehung zwischen Camp, Populärkultur, Postmodernismus und Politik zu tun hat. Kann Camp heutzutage mit Differenz umgehen? Camp fußt in einer Kultur der Unterdrückung, weshalb sich die Frage stellt, ob es möglich ist, durch Camp etwas anderes als eine Machthierarchie auszudrücken? Daher beschließt Robertson näher auf die Macht in Beziehung zu Camp bei Madonnas Startum 114 Vgl. ebd. S. 185-190. 115 Vgl. Pamela Robertson, Guilty Pleasures, a.a.O., S. 132. 116 Vgl. ebd.
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einzugehen117 und beschäftigt sich mit der Debatte um die Macht und die Fanidentifizierung bei Lynne Layton näher: »Madonna's art and its reception by critics and fans reflect and shape some of our culture's anxieties about identity and power inequalities. Madonna disturbs the status quo not only because she is an outspoken, sexy, woman, but because she has a lot of social and economic power.«118 Weiters schreibt Layton, dass Madonna den komplexen Fall von jemandem einnimmt, der das Konzept der Machthierarchie annimmt, die Version dieses Konzepts, das Frauen, Homosexuelle oder andere Minderheiten ausschließt, jedoch attackiert. Madonnas »genderbending« kehrt nun einfach die Strukturen der patriarchalen Machtbeziehungen um. Das Weibliche nimmt den Blick vom Männlichen, die weinende Diva wird zur Dominatrix. Jetzt unterwirft der Sklave den Herrn. Madonnas Macht ermöglicht ihr, als ein wichtiges Symbol für Interventionspolitik zu stehen. Aber die Macht ist ein Privileg, das mit ihrer ökonomischer Macht, »Weißheit« und Einfluss zusammenhängt. Madonna kann die Machtlosigkeit der subkulturellen Gruppen durch ihre Performance von Wirkung und Macht maskieren. Sie scheint sowohl in der sprechenden Position, als auch in der des Subjekts, über das gesprochen wird, zu sein. Dies wird Madonna durch die Position einer »ungewöhnlichen« Frau ermöglicht.119 Sie muss sich aber nicht mit dem tatsächlichen politischen Kampf der Gruppen auseinandersetzen, oder wie es David Tetzlaff ausdrückt: »She has won for herself an unlimited ticket for subcultural tourism - she can visit any locale she likes, but she doesn't have to live there.« 120 Im schlechtesten Falle kann das auch zu einer herablassenden Art Madonnas zu den weniger Machtvollen führen, was bell hooks dazu veranlasste, sie als einen moderne Plantagenherrin oder Sklavenhalterin zu bezeichnen.121 Im Film »Truth or Dare« sagt Madonna, dass sie es liebe, das Kommando über ihre Crew aus Schwarzen und Schwulen zu haben, da diese »verkrüppelt« seien, und sie so die Mutter spielen könne.122 Robertson schließt nun aus all dem, dass, wenn Madonna den Tod des Camps präsentiert, dann nicht aus dem Grund, weil Camp sich selbst so verändert hat, sondern, weil sich der Kontext von Camp und die Art und Weise des Konsums verändert haben. Im Brennpunkt steht auch der Konflikt in Camp zwischen dem Verlangen der Subkultur, Zugang zum Mainstream zu gewinnen und dem subkulturellen Verlangen einer einzigartigen Identität. Die abschließenden Worte Robertsons zu diesem Thema lauten: 117 Pamela Robertson, Guilty Pleasures, a.a.O., S. 133. 118 Lynne Layton »Like a Virgin: Madonna's Version of the Feminine« in: Adam Sexton (Hg.), Desperately Seeking Madonna: In Search of the Meaning of the World's Most Famous Woman, New York, 1993, S. 171. 119 Pamela Robertson, Guilty Pleasures, a.a.O., S. 134. 120 David Tetzlaff »Metatextual Girl: Patriarchy, Postmodernism, Power, Money, Madonna« in: The Madonna Connection, a.a.O., S. 259. 121 Pamela Robertson, Guilty Pleasures, a.a.O., S. 135. 122 Bell hooks, Black Looks, S. 202.
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»The mainstreaming of camp taste in contemporary culture may help articulate a queer subjectivity and coalitional politics, but it may also serve to obscure real difference and to reduce gay politics to a discourse of style. Perhaps, in the future, camp will be dead - if the conditions of opression are gone and there is no longer any need for camp as a survival strategy. But, in the meantime, we need to scrutinize our camp icons, and our own camp readings and practices, to ensure that we do not naively substitute camp for politics.«123
Abschließend ein, für die campe Ästhetik (auch was den musikalischen Stil betrifft) passendes, Beispiel von Madonna: Ihr 2005 veröffentlichtes Album »Confessions on a Dance Floor«, greift auf die Disco-Ära zurück, Glitzerkugeln und bunte Scheinwerfer dienen als Dekoration. Die Musik nimmt zusätzlich noch Elemente aus den 1970ern auf, wie ABBA, deren Musik gerne in homosexuellen Zusammenhängen zitiert wird. (z. B. im Film »Priscilla, Queen of the Desert«). So beschreibt Sontag Camp auch als einen Stil, der sich gerne aus der Vergangenheit bedient und Elemente, die schon altmodisch und »out« waren, wiederaufnimmt und im jetzigen Alltagsleben die Phantasie neu beflügelt (Notizen Nr. 30/31). Abbildung 9: Madonna
Quelle: Cover der Maxi-Single »Hung up« Warner Bros, 2005.
F e m i n i n e C a m p An d r o g yn i t ä t m i t M u s i k b e i s p i e l : An n i e L e n n o x , G r a c e J o n e s Eine spezielle feminine Tradition des Camps sind »weiblich-androgyne« Figuren, wie George Piggford betont. Obwohl der Begriff ein Oxymoron zu sein scheint, will Piggford auf den biologische Sex der/des Performers/_In das Augenmerk legen, der/die versucht, Genderbegriffe aufzulösen, besonders in Kulturen, in denen der Mann als die Norm gesehen wird. Diese weiblich-androgynen Figuren kleiden sich nicht einfach als Männer, 123 Pamela Robertson, Guilty Pleasures, a.a.O., S. 138.
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sie sind eher Frauen, die sich kleiden, auftreten, schreiben und als »vergeschlechterte« Identitäten erscheinen, die irgendwo im Zwischenraum von Mann und Frau platziert werden. Diese Frauen verwenden eine campe Sensibilität, einen Erscheinungs- und Verhaltenscode, der die Geschlechternormen ironisiert und verspottet, um die Geschlechterzuweisungen ihrer Kultur zu unterminieren.124 So schreibt Sontag, wie bereits erwähnt, in ihren Notizen über die Androgynität als eines der großartigen Bilder der campen Sensibilität und dass die sexuelle Attraktivität gegen den Kern des eigenen Sexes gerichtet ist. So ist das Schönste laut Sontag oft das Männliche in Frauen und umgekehrt, das Feminine in Männern. Als Beispiel hierzu nennt Piggford Annie Lennox mit ihrem Video für die Single »Sweet Dreams (are made of this)« (1983), in dem sie einen konservativen, schwarzen Businessanzug trägt, einen flammend roten Bürstenhaarschnitt hat und dazu ein unverhältnismäßig dickes Make-up und Lippenstift. Obwohl viel davon auf männlich-assoziiertes Coding basiert, so ist sie in dem Video auch als essentiell weiblich erkennbar. Lennox ist also eine Frau, die sich der Androgynität bedient, die es erlaubt, zwischen kulturell männlichen (konservative Anzug und ein verdächtig phallischer Stock) und weiblichen (der Gebrauch von Augen Make-up, Rouge, und glänzender Lippenstift) Merkmalen auszuwählen.125 Abbildung 10: Annie Lennox
Quelle: www.news.softpedia.com/images/news2/Annie-Lennox-Mistakes vom 07.09.2006
124 Vgl. George Piggford »Who's that Girl?« Annie Lennox, Woolf's Orlando, and Female Camp Androgyny« in: Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject, a.a.O., S. 284. 125 Vgl. ebd.
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Das Tragen eines Männeranzugs, was historisch gesehen eigentlich ein Punkt der Rebellion der Rock-Stars war, stellte eine Herausforderung für die kulturelle Konstruktion der Sexualität und der Machtdynamik dar, denn, wie Lennox selbst sagte, verlieh ihr schon das Anziehen des Anzugs mehr Macht.126 Für Lennox ist der Anzug auch ein Ausdruck für die Musik der Eurythmics mit neuen Technologien, wie eine »Drum-Machine« und Synthesizer. Sie hatten ein eigenes Produktionsbusiness. »Her suit, her cropped hair, can thus be interpreted as a statement of business, female artistic control and disco style. As a woman conventionally defined by her body, her wearing of the male suit masked her femininity but, rather than constituting a denial of her identity, it was an assertion of autonomy.«127 Im nächsten Video, »Love is a Stranger« (1983), stellt die androgyn aussehende Lennox zwei Arten des »drags« dar: In der ersten Hälfte des Videos erscheint sie als zwei verschiedene weibliche Typen. Zuerst trägt eine platinblonde Perücke, lange falsche Wimpern und einen Nerzmantel, später eine lange schwarze Perücke, schweren Lippenstift und ein glänzendes schwarzes Kleid. In der zweiten Hälfte des Videos trägt sie einen schwarzen Business-Anzug und gespiegelte Sonnenbrillen, ohne ein wahrnehmbares Make-up. Es ist nicht klar, ob Lennox ein Mann in weiblichem »drag« ist (im ersten Teil des Videos) oder eine Frau in männlichem »drag« (in der zweiten Hälfte). Dieses Video hat sicherlich einen verwirrenden Effekt, so auch auf die MTV Zensur, die das Video in der Mitte der ersten Ausstrahlung abbrach. Es ging sogar soweit, dass alle EurythmicsVideos vom amerikanischen Fernsehen verboten wurden, bis Lennox bewiesen hatte, dass sie tatsächliche eine Frau war und nicht ein »die amerikanische Jugend verderbender Transvestit«. Für MTV spielte sie mit dem biologischen Sex und der geschlechtlichen Performance anscheinend ein zu gefährliches Spiel128, denn andererseits war der »drag«, der von HardRock Zeitgenossen, wie z. B. Kiss und Motley Crue dargestellt wurde, an eine gewisse Konstruktion der amerikanischen Maskulinität gebunden und unterstützte das dominante Geschlechtersystem, weil er das Groteske und Unangebrachte der Männer in Frauenkleider und Make-up zeigte. Die Performance dieser Gruppen war im Vergleich zur androgynen CampPerformance von Annie Lennox eher »clownisch«129. Hier passt meiner Ansicht nach auch die bereits vorher erwähnte Unterscheidung zwischen High Camp und Low Camp von Kleinhans. Die Hard-Rock »drag«Performance steht also auf der untersten Stufe von Camp und kann auch als »Het-Camp« oder »Pop-camp« bezeichnet werden. Moe Meyer hat,
126 Vgl. Sheila Whiteley: Women and Popular Music. Sexuality, identity and subjectivity, London/New York, 2000, S. 124. 127 Ebd. S. 125. 128 George Piggford, Who's that Girl?, a.a.O., S. 285. 129 Ebd. S. 287.
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was auf dieses Beispiel auch zutrifft, Pop-camp als apolitisch und mit dem dominanten System kooperierend beschrieben. Dabei waren diese Performances nur die Vorläufer eines ikonischen Camp-Moments: Die Erscheinung Lennox als die Wiederauferstehung von Elvis Presley bei der Grammy-Verleihung 1984. Als sie in Männerkleidung mit typischer Presley Frisur und stoppeligem Gesichtshaar auf die Bühne kam, war der erste Effekt für das Publikum genauso wie der für die MTV Zensur - Verblüffung. Dann begann sie »Sweet Dreams« zu singen und ihre Identität war geklärt. Das Video für die nächste Single »Who's That Girl?« beinhaltet Lennox sowohl als Elvis Double als auch eine blonde Liebesliedsängerin. Am Ende des Videos küsst Elvis Annie die Liebesliedsängerin Annie in narzisstischer Erfüllung leidenschaftlich auf die Lippen.130 Die Verwirrung, die beim Publikum und der Zensur ausgelöst wurde, hat etwas mit einer verfehlten »Camp-Erkennung«, wie Eve Kosofsky Sedgwick131 es nennt, zu tun. Jemand, der diese Sensibilität nicht teilt, kann Camp nicht dekodieren.132 Allerdings bleibt hier meiner Ansicht nach eine weitere Möglichkeit unerwähnt, nämlich, dass vielleicht das Publikum, wie die MTV-Zensur, die politische Nachricht (das Geschlechtersystem zu transformieren) des Camps sehr wohl erkennen und gerade deshalb gegen gewisse Performances vorgehen. Der letzte Song des Albums »Diva« (1992) von Annie Lennox heißt »Keep Young and Beautiful«. Die Musik ist dem Stil der 1920er oder 1930er nachgeahmt, also einer Zeit, in der Androgynität und Homosexualität »en vogue« waren. Der Refrain lautet folgendermaßen: »Keep young and beautiful, it's your duty to be beautiful«, was sehr nach den ästhetischen Pflichten eines Oscar Wildes klingt. Auch wenn Lennox die »girls« direkt im Text anspricht, ist nicht klar, ob sie damit nun Frauen oder möglicherweise Männer in »drag« meint. Oder will sie nur den Jugend- und Schönheitswahn aufs Korn nehmen? Bei Lennox ist es auf jeden Fall ein Spiel mit Geschlechtsstereotypen, wie auch Sheila Whiteley meint: »The constraint to »be young and beautiful« has little to do with the reality of women. Rather it provides an idealised and feminised reflection for the man, the masculine, »be strong and virile«. Heterosexual markers in mainstream performance rely on a presentation of the artist as male, as female, as inhabiting a particular gendered identity.«133 Whiteley lobt Lennox in ihrer Strategie, den traditionellen Frauenbildern in der Rockmusik zu entkommen und ein kraftvolles Beispiel des künstlerischen Ausdrucks einer Frau zu liefern. Als Musikerin hat sie die 130 Ebd. S. 285. 131 Vgl. Eve Kosofsky Sedgwick: Epistemology of the Closet, Berkeley, 1990, S. 156. 132 George Piggford, Who's that Girl?, a.a.O., S. 297. 133 Sheila Whiteley, Women and Popular Music, a.a.O., S. 122.
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Möglichkeit, sowohl ihre eigene Musik zu schreiben als auch sie aufzuführen und als eine der ersten Frauen profitierte sie von der zur Schaustellung bei MTV und bewies so ihre kühle Manipulation der Bilder und das war zu ihrer Zeit einzigartig. So meinte Annie Lennox auch selbst, dass in der Mitte zu stehen, also nicht offensichtlich Mann oder Frau zu sein, dich zur Bedrohung macht und dir Macht verleiht.134
Grace Jones Das beste Beispiel für einen »feminin-androgynen« Camp ist meiner Meinung nach Grace Jones. Ihre als »Disco-Diva« zur Schau gestellte scharfkantige Androgynität und ihre Verbindungen zur homosexuellen Clubkultur sprechen für sie als eine campe Kultfigur. Auf ihren Alben »Warm Leatherette« und »Nightclubbing« entwickelt sie ein postmodernes Rollentheater. So heißt ihre Live-Performance, auf ihren androgynen Look anspielend, tatsächlich »One Man Show«, ein Titel, der untermauert, dass es nicht nur eine und schon gar keine reale Grace Jones gibt. Die Innerlichkeit wird zugunsten der undurchdringlichen aber faszinierenden Fassaden aufgegeben.135 Der Stil, die Ästhetik, geht bei Camp über alles. Abbildung 11: Grace Jones
Quelle: www.lyricsdownload.com/album-B000001FU8.html vom 07.09. 2006. In »Warm Leatherette« (Islands Records, 1980), eine Version des DanielMiller Songs, der von den Ideen des J.G. Ballards über die Erotisierung von Autounfällen inspiriert wurde, geht es um fetischisierte Sexualität.
134 Ebd. S. 133f. 135 Vgl. Joy Press und Simon Reynolds, Who's That Girl? Maskerade und Herrschaft, a.a.O., S. 161.
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»Warm leatherette, See the breaking glass, In the underpass. Warm leatherette, Feel the crushing steel, Feel the steering wheel. Warm leatherette melts, On your burning flesh, You can see your reflection, On the luminescent dash. Warm leatherette, A tear of petrol, Is in your eye, The hand brake, Penetrates your thigh. A tear of petrol, Is in your eye, Quick let's make love, Before we die. On warm leatherette, Join the car crash set.«136
Die Hautfarbe ist wohl Grace Jones einziges authentische Element, alle anderen Rollen wechseln. In diesem Sinne erfüllt sie auch einen Punkt von Susan Sontag, nämlich, dass Camp etwas ausdrückt, was eigentlich sehr ernst ist, aber auf eine sehr spielerische Art - nämlich mittels Spaß, Künstlichkeit und Eleganz: »In naïve, or pure, Camp the essential element is seriousness, a seriousness that fails. Of course, not all seriousness that fails can be redeemed as Camp. Only that which has the proper mixture of the exaggerated, the fantastic, the passionate, and the naïve. […] Camp is an art that proposes itself seriously, but cannot be taken altogether seriously because it is »too much«.«137 June L. Reich schreibt über Camp einen Satz, der auch gut auf die Inhalte der Songs von Grace Jones zutrifft, nämlich, dass Camp das Feiern von leidenschaftlichen Verfehlungen ist. Der Triumph der Theatralität über die Substanz. Camp ist zynisch, ironisch, sentimental, Vergnügungen 136 Text von http://www.lyricsdownload.com/grace-jones vom 06.09.2006 übernommen. 137 Susan Sontag, Notes on Camp, a.a.O., S. 59.
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suchend, naiv unschuldig, und korrumpierend. Noch wichtiger ist, dass Camp mehr als bloße Umkehrung und Doppelspiel ist, es verändert die traditionelle Sensibilität. Sie zitiert folgende Notizen von Susan Sontag, die ihr als wichtig erscheinen: Camp kümmert sich nicht um die gute oder schlechte Bewertung der Ästhetik, es bietet vielmehr der Kunst und dem Leben ein anderes Set an Standards an. Camp ist eine Art des Genießens, der Wertschätzung, keine Bewertung. Camp ist großzügig und will genießen. Camp findet in gewissen leidenschaftlichen Verfehlungen Erfolg. Es ist eine Art der Liebe, Liebe für die menschliche Natur. Camp identifiziert sich mit dem, was es genießt. Leute, welche diese Sensibilität teilen, lachen nicht über das Ding, dass sie »camp« nennen, sie genießen es. Camp ist ein zärtliches Gefühl.138
Ästhetik des Camps »Fangoria: Hagamos algo muy vulgar« Für die Sensibilität oder Ästhetik des Camps ist das Video »Hagamos algo muy vulgar« von der spanischen Madonna, Fangoria (oder vorher auch als Alaska benannt), meiner Ansicht nach am besten geeignet. Die Lieder »A Quien le importa« und »Bailando« von Alaska sind inoffizielle Hymnen der spanischen Lesben-Schwulenbewegung. Im ersten Lied stellt sie die provokante Frage, wen es denn kümmern soll, was sie macht. Obwohl die Leute mit dem Finger auf sie zeigen und hinter ihrem Rücken tratschen, ist es ihr egal, weil sie ein anderes Leben führt. Sie wird kritisiert, sie hat aber keine Schuld, ihre Umstände beschimpfen die Leute. Vielleicht hat sie die Schuld, weil sie nicht der Norm folgt, jetzt ist es aber schon zu spät, um etwas zu ändern. Sie ist so und sie wird auch so bleiben und sich niemals ändern. Die zweite Hymne dreht sich um das Tanzen. Alaska oder Fangoria wird auch als die Königin der »Movida« bezeichnet, also jener Avantgarde (nicht nur in künstlerischer Hinsicht sondern auch, was die sexuelle Orientierung oder das binäre Geschlechtersystem betrifft), die in den 1980ern im Umkreis um Pedro Almodóvar entstanden ist. Die Texte dieser Lieder: »A quién le importa« »La gente me señala me apuntan con el dedo susurra a mis espaldas y a mí me importa un bledo. que más me da
»Bailando« Me paso el día bailando. Y los vecinos mientras tanto. No paran de molestar. Bebiendo. Me paso el día bebiendo.
138 June L. Reich »Genderfuck: The Law of the Dildo« in: Camp: Queer Aesthetics and the Performing Subject, a.a.O., S. 263.
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si soy distinta a ellos no soy de nadie, no tengo dueño. Yo sé que me critican me consta que me odian la envidia les corroe mi vida les agobia. Por qué será? yo no tengo la culpa mi circunstancia les insulta. Mi destino es el que yo decido el que yo elijo para mí a quien le importa lo que yo haga? a quien le importa lo que yo diga? yo soy así, y así seguiré, nunca cambiaré A quien le importa lo que yo haga? a quien le importa lo que yo diga? yo soy asi, y asi seguire, nunca cambiare
La cocktelera agitando. Llena de Soda y Vermut. Tengo los huesos desencajados, el fémur tengo muy dislocado tengo el cuerpo muy mal, pero una gran vida social Bailo todo el día, con o sin compañia. Muevo la pierna, muevo el pie, muevo la tibia y el peroné; muevo la cabeza, muevo el esternón, muevo la cadera siempre que tengo ocasión. Tengo los huesos desencajados, el fémur tengo muy dislocado; tengo el cuerpo muy mal, pero una gran vida social. Bailando... http://usuarios.lycos.es/ atlanti6/newpage120.html vom 15.1.2008.
Quizá la culpa es mía por no seguir la norma, ya es demasiado tarde para cambiar ahora. Me mantendré firme en mis convicciones, reportaré mis posiciones. Mi destino es el que yo decido el que yo elijo para mí a quién le importa lo que yo haga? a quién le importa lo que yo diga? yo soy así, y así seguire, nunca cambiare A quien le importa lo que yo haga? a quien le importa lo que yo diga? yo soy asi, y asi seguire, nunca cambiare. A quién le importa lo que yo haga? a quién le importa lo que yo diga?« http://www.musica.com/letras.asp?letra=5137, 15.11.2008.
Ein weiterer Song von ihr beschreibt den »König des Glams«, jemand, der im Jahr 1973 des Glam-Rocks hängen geblieben ist und Schuhe mit spitzen Absätzen, geschminkte Augen, zwei Kilo Kajal und schwarze Lippen mit Glitter im Haar, schwarzen Nagellack, Leoparden und Lederlook trägt:
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Rey del Glam »Con tu tacón de aguja los ojos pintados, dos kilos de Rimmel, muy negros los labios Te has quedado en el 73 con Bow y T-Rex. Hombreras gigantescas Glitter en el pelo esmalte de uñas negro leopardo y cuero
Te has quedado en el 73 con Bow y T-Rex. Eres el Rey del Glam, nunca podrás cambiar ajeno a otras modas que vienen y van porque tú, tú, eres el Rey del Glam.« http://usuarios.lycos.es/atlanti6/newpage120.html vom 15.1. 2008
Das Video von »Hagamos algo superficial y vulgar« ist 1990139 erschienen und beinhaltet sämtliche Zutaten des Camp. Den Hintergrund bilden pulsierende Farben, die, mit der Musik übereingestimmt, visuelle Effekte (dem Disco-Stil nachgeahmt) erzeugen. In der Mitte sieht man ein ovales Videobild, das ebenfalls von einem knallbunten und pulsierenden Rahmen umgeben ist. Zuerst taucht in diesem Video ein Spielzeugmonster mit leuchtenden grünen Augen auf, darüber steht der Schriftzug »Fangoria«. Die nächste Einstellung zeigt die Sängerin in einem prunkvollen Bett mit silbernen Schnörkselrahmen und roten Samtbezug sitzend. Im Hintergrund sind rote Rüschenpolsterherzen an eine lila Wand angelehnt. Fangoria trägt ein transparentes lila Nachthemd und ist mit rosa Bettwäsche zugedeckt. Nebelschwaden ziehen über das Bett. Der folgene Videoteil zeigt männliche »Backgroundtänzer« in äußerst camper Aufmachung – Auf den ersten Blick erscheinen sie wie Außerirdische, denn sie tragen eine silber-rosa glänzende enganliegende Haube, von der silberne Kugeln (Christbaumkugeln?) wie Antennen wegstehen, dazu ein rosa glänzendes Kleid, lila Ketten, Brillen mit schwarzen Rahmen, lila Lippenstift, rosa Gummihandschuhe und manchmal blitzen unter den Kleidern dunkle Brusthaare hervor. Sie bewegen sich vor allem mit den Händen und dem Kopf zu einer absurden und grotesken Choreographie. Fangoria »zappt« gähnend im Bett mit der Fernbedienung die außerirdischen Backgroundtänzer weg. In der nächsten Einstellung taucht unerwartet ein Mann mit schwarzer Sonnenbrille - wie ein Spion - durch eine Videokamera blickend auf. Das Muster- und Farbenspiel verteilt sich über den ganzen Bildschirm, bis wieder ein Videoausschnitt, diesmal in einem Rahmen in Herzform, in dem Fangoria tanzt, erscheint. Dann nähert sie sich einer Mikrowelle, gibt einen Schoko-Doughnut hinein und startet sie. Sie schaltet einen mit rosa
139 Das Lied erschien 1990 auf dem Album von Fangoria: Salto Mortal, Subterfuge Records, 1991. Das Video ist auf dem Sammelalbum: De Alaska a Fangoria, (CD und DVD) EMI, 2004 zu sehen.
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Flüssigkeit gefüllten Mixer ein. Die Küchenszene endet, indem sie den Doughnut isst. In der nächsten Szene befindet sich eine Barbiepuppe in der Badewanne mit viel Schaum, Fangorias Hände mit den schwarzen Fingernägeln spielen mit dem Schaum. Weiße Plastikschwimmenten tauchen schaukelnd im Wasser auf. Die folgenen Sequenzen zeigen einen klareren Zusammenhang, sie wirken eher wie ein Kurzfilm. Fangoria geht in einem schwarzen FetischOutfit Stufen hinunter und öffnet die Tür. Ein Mann überreicht ihr einen Stabmixer, sie schlägt ihn damit, er fällt zu Boden. Sie raubt ihm seine Kreditkarten, knebelt ihn mit einem grünen Plastikfrosch und fesselt ihn. Weiters fährt sie mit seinem Auto weg und betritt einen Supermarkt – noch immer den engen schwarzen Fetischanzug tragend – kauft einen Einkaufswagen voll mit Lebensmitteln und Putzmitteln ein, bezahlt mit seiner Kreditkarte und fährt weg. Der gefesselte Mann ist kurz zu sehen, dann ist plötzlich eine Kettensäge im Bild und Fangoria läuft im Freien schreiend vor dem Mann mit der Kettensäge weg. Der Kurzfilm ist zu Ende und es geht mit zusammenhangslosen Episoden weiter: Eine Frau mit rosa Hut und bunten Blümchenkleid hält einen rosaroten Pudel im Arm und tanzt mit ihm, nebenan dreht sich ein runder Tisch mit Essen. In der nächsten Einstellung sitzen die außerirdischen Backgroundtänzer und Fangoria in lila Kleidung vor den drehenden Tischen, zappeln und bewegen sich zur Musik. Einer der Außerirdischen singt mit einer Barbie, der andere hat eine Pistole in der Hand und der dritte einen Schoko-Doughnut. Einer will die Barbie mit dem Doughnut füttern, dabei bewegt sich sein rosaglänzendes Kleidchen und seine rote Unterhose blitzt hervor. Der Text zu diesem Popsong:
nebenan die deutsche Übersetzung:
»Hagamos algo superficial y vulgar,
Machen wir etwas Oberflächliches und Vulgäres, etwas Dummes, das wir schon gemacht haben. Seit Monaten schon können wir es nicht machen, Es ist jetzt Zeit es noch einmal zu versuchen.
algo tonto que hayamos hecho ya. Llevamos meses sin poderlo hacer, va siendo hora de intentarlo otra vez.
Dices que vas a sorprenderme, yo te digo que no.
Du sagst, du wirst mich über raschen Ich sage dir, das wirst du nicht.
130 | QUEERE TRACKS
No me importa lo que tú te inventes, yo ya lo hice mejor. Hagamos algo superficial y vulgar, algo tonto que hayamos hecho ya. Cada día me cuesta un poco más acostumbrarme a tanta vulgaridad. Así que hagamos algo muy, muy vulgar, algo tonto que hayamos hecho ya. Es muy fácil, pero hay que respetar los diez mandatos de la ley de Caifas. Así que hagamos algo muy, muy vulgar, algo tonto que hayamos hecho ya. Hagamos algo superficial y vulgar, algo tonto que hayamos hecho ya.«140
Es ist mir egal, was du erfindest, ich machte es schon besser. Machen wir etwas Oberflächliches und Vulgäres, etwas Dummes, das wir schon gemacht haben. Mit jedem Tag fällt es mir schwerer, mich an so viel Vulgarität zu gewöhnen. So machen wir etwas sehr, sehr Vulgäres, etwas Dummes, das wir schon gemacht haben. Es ist sehr einfach, aber die zehn Befehle des Caifagesetzes müssen respektiert werden. So machen wir etwas sehr, sehr Vulgäres, etwas Dummes, das wir schon gemacht haben. Machen wir etwas Oberflächliches und Vulgäres, etwas Dummes, das wir schon gemacht haben.
So, wie Susan Sontag in den ersten sechs Notizen schreibt, geht es im Camp nicht so sehr um den Inhalt, sondern um die Form der Künstlichkeit bzw. Stilisierung. Sowohl aus dem Text wie aus dem Video geht hervor, dass der Inhalt nicht von Bedeutung ist, die Oberfläche, also die Farben, Formen und die Kleidung scheint wichtiger zu sein. Der Kitsch und die Künstlichkeit bezeichnen Camp, wie auch die Liebe zur Übertreibung, die sich im Video vor allem durch die vielen Farben ausdrückt. Der campe Ehrgeiz, der sich in in diesem Musikvideo durch die Ansammlung von Kitsch und »Trash« zeigt, äußert sich durch den Einsatz verschiedener Objekte und Stile, die auch mit Massenkultur in Verbindung stehen, wie zum Beispiel der Barbiepuppe, Schwimmentchen, Doughnuts und dem Kleidungsstil, der vom Außerirdischen-Look bis zum Fetischismus reicht und sich selbst nie Ernst nimmt. Der Inhalt des Kurzfilms mit dem Raub der Visitenkarten des Mannes könnte durchaus als eine feministische Erzählung gelten, wenn das Ende 140 http://www.musicoscopio.com/fangoria/letras/7240/ vom 15.1. 2008.
TRACK 03: CAMP | 131
anders ausginge. Die Frau rächt sich an dem Mann, der sie, auf ihre traditionelle Rolle als Frau zurückdrängt, indem er ihr den Stabmixer überreicht. Der Schluss, als der Mann sie mit der Kettensäge verfolgt, ist jedoch den »trashigen« Horrorfilmen und »Splatter-Movies« nachempfunden. Sonst ist das Video ganz im Sinne von Sontags Camp verspielt (wie auch die erste Einstellung mit dem kitschigen Spielzeugmonster zeigt) und voll mit Theatralität (die übertriebenen Gesten von Fangoria und von ihren außerirdischen Backgroundtänzern). Wie Sontag in ihren letzten Notizen zeigt ist das, was im alltäglichen Leben abnormal erscheint, in der Kunst normal, so zum Beispiel die Fetisch-Kleidung von Fangoria, mit der sie im Supermarkt auftaucht. Es gibt im Camp auch einen guten Geschmack des schlechten Geschmacks (wie z. B. dieses kitschige und farbenfrohe Video), der dem Vergnügung und Genießen dient und nicht bewertet.
An a r c h o - C a m p : S c r e a m C l u b Scream Club, zwei Hip-Hoperinnen aus Olympia Washington, »betreiben neben dem »gender-fuck« auch noch den »genre-fuck««, wie Christiane Erharter und Sonja Eismann in ihrer Sound-Lecture141 so betreffend formulierten. Sie mischen Hip-Hop mit einer Ästhetik und Lyrik aus dem Punk. Ihre Videos »Don’t fuck with my babies«142, »I’m going crazy«143, »Acnecore«144 zeigen die Do-It-Yourself Ästhetik, wie sie von den RiotGrrrls aus dem Punk übernommen wurde und auch eine gewisse Naivität in der Themenauswahl, wie der Song »Acnecore«, in dem es um ein nicht immer nur pubertäres Hautproblem geht, zeigt. In ihren Texten mischen sich die rohen Gewaltausdrücke aus dem Bereich des Hip Hops und des Punks mit politisch ermächtigenden Slogans aus der feministischen Riot-Grrrl und Queer-Bewegung. Der Text zu »Don’t F*** With My Babies« (Album »Don’t Bite Your Sister« Retard Disco 2004) lautet wie folgt: »Don’t fuck with my babies (chorus) ‘cause if you try I’ll give you a titty twister And knock you on the ground like I was your big sister You know that I don’t like to kick ass, but I can and I will If I catch you acting creepy, trying to cop a feel 141 Unter dem Titel »Queering the bitch« am 12.1. 2008 während der Veranstaltung »Lust am Verrat« in Wien gehalten. 142 http://www.youtube.com/watch?v=6wd9fu9zJfE vom 14.1. 2008. 143 http://www.lastfm.de/music/Scream+Club/+videos/+1--N2-opLhvhw vom 14.1. 2008. 144 http://www.lastfm.de/music/Scream+Club/+videos/+1-I2Xh1rQvEuw vom 14.1. 2008.
132 | QUEERE TRACKS
Like David Copperfield I can make you disappear Because I’m sick of all these women living in fear So move over, ‘cause we run the town And no matter how you try, you won’t be pushing us around We got the whole queer army waiting for this So all my feminists raise your feminine fists In the air, prepare for war We’re not gonna sit and be quiet any more We gonna riot not diet We gonna fight your evil ways, No more dictating all the ways You think we should behave I’m gonna stick this sexist bible right up in the pope’s ass I’m gonna steal from the rich and give it to the lower class And once the truth of the revolution becomes self-evident We’re going to get rid of Bush…. Bell hooks for President! (Applause) Don’t fuck with my babies (chorus) And we say babies not just ladies, ‘cause there’s trannies and men And if we are all working together Then we are gonna win People lying and children dying I think it’s a sin We got to touch the hands all across the land Just like Granny D. And if you’re feeling what I am saying, won’t you join us please Don’t fuck with my babies (chorus)«
Scream Club schrecken also selbst nicht vor Gewalt zurück, um solidarisch andere Frauen zu verteidigen, denn sie haben es satt, dass Frauen mit Angst leben müssen, sogar eine queere Armee gibt es schon zu Verteidigungszwecken. Sie fordern alle Feministinnen dazu auf, ihre weiblichen Fäuste in die Höhe zu halten. (Bei Konzerten hat das einen Selbstermächtigungs- und Mit-Mach-Effekt). Sie wollen nicht mehr ruhig alles über sich ergehen lassen. »We gonna riot not diet« – ist ein Slogan von den Riot Grrrls und zielt darauf ab, sich nicht irgendwelchen Figurdiktaturen zu unterwerfen, sondern die Energie zu nützen, um sich auszutoben. Ihre Forderung »Bell hooks for President!« ist eine Anspielung an den gegenwärtigen amerikanischen Wahlkampf, denn bell hooks ist eine afro-amerikanische Feministin und Literaturprofessorin (mit ihr wären also zwei, eigentlich gleich drei, Fliegen auf einem Schlag getroffen: Sie ist eine Frau, die sogar eine authentische Feministin und zudem noch von dunkler Hautfarbe ist!).
TRACK 03: CAMP | 133
Die zwei Sängerinnen erwähnen auch, dass diese Ladies, die sie verteidigen, nicht nur Frauen sind, sondern auch »tranies«, also »transgender« oder Transsexuelle und, je nach Fortschritt des Geschlechtswechsels, auch gut Männer sein können. Mehr zur Diskussion über den Ein/Ausschluss von Transleuten, werde ich im Kapitel über Transsexualität berichten. Ich benannte diese Strategie Anarcho-Camp145, weil Scream Club in ihren Songs auf Punk-Einflüsse der Riot-Grrrls samt Parolen zur Revolution zurückgreifen und so ermächtigende feministisch-queere Elemente einbauen.
145 Beatriz Preciado gab mir die Idee, doch selbst neue Strategien wie »Anarcho-Camp« zu erfinden.
T R AC K 04: M AS K E /M AS Q U E R AD E – » T R AN S F O R M I N G T H E G AZ E «
Einführung Die Geschlechterrollen als Masken zu sehen, liegt nahe. Nietzsche erwähnte diesen Zusammenhang bereits kurz und als erste Frau analysierte Joan Riviere die Weiblichkeit als Masquerade in den 1929ern. Um zu erklären, warum die Maske und Masquerade eine queere Strategie ist, gehe ich noch näher auf den Blick und die Strategien, wie er getäuscht werden kann, ein. Zuerst noch ein Zitat aus der Anthropologie, das zeigt, dass die Masken nie für sich alleine stehen können und immer auf einen Kontext angewiesen sind. Claude Lévi-Strauss erkannte, dass sich Masken, ebenso wenig wie Mythen, nicht für sich und alleine als isolierte Gegenstände deuten lassen, sondern sich an Mythen knüpfen, die ihren Ursprung erklären und ihre Rolle begründen sollen: »Envisagé au point du vue sémantique, un mythe n’acquiert un sens qu’une fois replacé dans le groupe de ses transformations; de même, un type de masque, considéré du seul point de vue pastique, réplique à d’autres types dont il transforme le galbe et les couleurs en assumant son individualité. [...] Et puisque á chaque type de masques se rattachent des mythes qui ont pour objet d’expliquer leur origine légendaire ou surnaturelle et de fonder leur rôle dans le rituel, l’economie, la société, une hypothèse consitant à étendre à des œuvres d’art (mais qui ne sont pas seulement cela) une méthode qui a fait ses preuves dans l’etude des mythes (qui sont aussi cela) trouvera sa vérification [...] «1
1
Claude Lévi-Strauss: La voie des masques, Frankreich, 1979, S. 18f.
136 | QUEERE TRACKS
Nietzsche Ein Philosoph hat sich mit der Maske auf eine Art und Weise beschäftigt, wie es für meine Analyse der queeren Strategien in der Rock- und Popmusik von Bedeutung ist: Nietzsche vermied das Wort »Ironie«, das er durch den Begriff »dissimulatio« ersetzte und oft als Synonym für Maske verwendete, auch spricht er von der Verstellung. Auf die Masken kam er durch seine Beschäftigung mit der griechischen Tragödie. Er sah im Widerspruch zu seiner Zeit, in der Masken als unaufrichtig und böse galten, da sie die Ehrlichkeit und Offenheit bedeckten, die Masken nicht notwendigerweise als trügerisch und schlecht an. »Volkstümlich ist und bleibt die Maske! So mag denn alles dies Maskenhafte in den Melodien und Kadenzen, in den Sprüngen und Lustigkeiten des Rhythmus dieser Opern dahinlaufen! Gar das antike Leben! Was versteht man von dem, wenn man die Lust an der Maske, das gute Gewissen alles Maskenhaften nicht versteht! Hier ist das Bad und die Erholung des antiken Geistes – und vielleicht war dies Bad den seltenen und erhabenen Naturen der alten Welt noch nötiger als den gemeinen.«2 (Hervorhebung im Original)
Im Gebrauch der Maske sieht Nietzsche nichts Falsches, solange man sich dessen bewusst ist und sich daran erfreuen kann.3 Nietzsche schien sich auch mit den Rollenspielen zu beschäftigen, so sprach er in der »Fröhlichen Wissenschaft« (Aphorismus 356) vom Beruf als eine bestimmte Rolle. Überraschenderweise beschäftigte er sich auch mit der Rolle der Frau, die seiner Meinung nach ein erwünschtes Bild des Mannes ist: »[...] man denke über die Geschichte der Frauen nach – müssen sie nicht zu allererst und – oberst Schauspielerinnen sein?«4 (Hervorhebung im Original) Dann die Kritik an die Männer, die er in die Worte eines weisen Mannes legte: »Die Männer sind es, [...], welche die Weiber verderben: und alles, was die Weiber fehlen, soll an den Männern gebüßt und gebessert werden, - denn der Mann macht sich das Bild des Weibes, und das Weib bildet sich nach diesem Bilde.«5 Dann kann es Nietzsche aber nicht vermeiden, zwei Vorurteile über Männer und Frauen zu äußern: »Des Mannes Art ist Wille, des Weibes Art Willigkeit – so ist es das Gesetz der Geschlechter, wahrlich! Ein hartes Gesetz für das Weib! Alle Menschen sind unschuldig für ihr Dasein, die Weiber aber sind unschuldig 2 3
4 5
Friedrich Nietzsche: Fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 7, Köln, 2007, S. 96. Vgl. Walter Kaufmann »Nietzsches Philosophie der Masken« in: W. MüllerLauter, V. Gerhardt (Hg.), Nietzsche – Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzsche-Forschung, Bd. 10/11, Berlin/New York, 1981/1982, S. 112. Friedrich Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 361, a.a.O., S. 275. Ebd. Aphorismus 68, S. 90.
TRACK 04: MASKE/MASQUERADE | 137
im zweiten Grade: wer könnte für sie des Öls und der Milde genug haben.« – »Was Öl! Was Milde!« rief ein andrer aus der Menge: »man muß die Weiber besser erziehn!« – »Man muß die Männer besser erziehn«, sagte der weise Mann [...]«6 Nietzsche ist sich also dessen bewusst, dass die Umstände den Menschen verschiedene Arten von Rollen und Masken aufzwingen.7 Nietzsche selbst liebte für sein Philosophieren die Maske und trieb mit seinen Lesern Spiele. Er behauptete auch öfters, dass er absichtlich so schreibe, dass oberflächliche Leser ihn missverstehen.8 »Alles, was tief ist, liebt die Maske; die allertiefsten Dinge haben sogar einen Haß auf Bild und Gleichnis. [...] Es ist nicht nur Arglist hinter einer Maske, - es gibt soviel Güte in der List. Ich könnte mir denken, dass ein Mensch, der etwas Kostbares und Verletzliches zu bergen hätte, grob und rund wie ein grünes, altes, schwerbeschlagenes Weinfaß durchs Leben rollte. [...] Jeder tiefe Geist braucht eine Maske: mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine Maske, dank der beständig falschen, nämlich f l a c h e n Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens, das er gibt.« (Hervorhebung im Original)9
»Tief« bedeutet laut Walter Kaufmann nicht leicht zugänglich und gewöhnlich auch unerschöpflich. »Ein Schriftsteller, der seine ganze Bedeutung einem ersten Zusehen preisgibt, ist definitionsmäßig nicht tief. Daraus folgt natürlich nicht, dass Dunkelheit und Schwierigkeit Beweis von Tiefe sei. Was tief ist, muß ebenfalls erhellend sein, und Unerschöpflichkeit bedeutet, dass viele verschiedenartige, wenngleich nicht alle, Lesungen des Textes nicht nur den Text erhellen, sondern ebenfalls die menschliche Situation als solche.«10
Masken gibt es viele und hinter so mancher Maske verbirgt sich wiederum eine Maske: »Jede Philosophie verbirgt auch eine Philosophie; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske.«11 Walter Kaufmann meint abschließend über die Maske bei Nietzsche: »Freilich ist das Bild der Maske mit ihrem inhärenten Dualismus von Erscheinung und Wirklichkeit sicherlich fragwürdig. Vielleicht – wie Nietzsche selbst in einigen seiner späten Äußerungen nahe legt – gibt es nur den Fluß und nichts wirklich Festes. Und vielleicht gibt es nicht einmal ein Selbst. Vielleicht haben 6 7 8 9
Ebd. Vgl. Walter Kaufmann, Nietzsches Philosophie der Masken, a.a.O., S. 118. Vgl. ebd. S. 120 und 123. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut oder Böse. Zur Genealogie der Moral, Aphorismus 40, Stuttgart, 1964, S. 50f. 10 Walter Kaufmann, Nietzsches Philosophie der Masken, a.a.O., S. 126. 11 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut oder Böse, Aphorismus 289, a.a.O., S. 227.
138 | QUEERE TRACKS
die Individuen kein Wesen und keine Natur, und wenn sie es hätten, dann könnte man sagen, es sei ihre Aufgabe, dies zu überwinden. Nietzsches Tiefe rührt zum Teil daher, dass er diese Fragen aufgeworfen hat.«12
Hinter der Maske gibt es also bei Nietzsche wiederum nur eine Maske oder gar nichts.
Analyse des Blicks Für die Erklärung der Strategie der Maske und der Masquerade ist eine Analyse des Blicks oder des Schauens in unserer Gesellschaft eine große Hilfe, da die Maske oder Masquerade den Blick täuscht und die Aufmerksamkeit auf etwas Anderes lenkt, um von etwas abzulenken, was die/der Träger_In verbergen will. Die ersten Theorien des geschlechtlichen Blicks entstanden in den 1970ern und beschäftigten sich vor allem mit den unterschiedlichen Gewohnheiten des Schauens der Geschlechter. Caroline Evans und Lorraine Gamman erklären in »Reviewing Queer Viewing«, wie John Berger 1972 in seinem Buch und in Fernsehprogrammen verschiedene Arten des Sehens beschrieb. Dabei ging er auch auf die unterschiedlichen Arten des geschlechtlichen Blickes ein und ihm war auch klar, wie diese verschiedenen Ausführungen des Schauens persönliche, wie auch kulturelle Definitionen von Männlichkeit und Weiblichkeit beeinflusst. So argumentierte er 1972, dass Männer Frauen anschauen und dass sich Frauen beim Angesehen werden selbst beobachten. Er beschrieb, wie Machtunterschiede, die vor allem vom ökonomischen und ideologischen Effekt des Kapitals herrühren operieren und die Beziehungen zwischen den Geschlechtern beeinflussen, indem sie Frauen als Objekte und die Männer als Subjekte positionieren. In unserer Kultur, schrieb er, ist der Betrachter üblicherweise männlich, da den Frauen schon von frühester Kindheit an beigebracht wird und sie dazu überredet werden, sich ständig zu beobachten. Das Bild der Frau dient gewöhnlich dazu, dem Mann zu gefallen.13 So hat es ja auch schon Nietzsche erkannt. Bergers Arbeit beinhaltet kein Modell der »Macht«, das mit den Ideen über Konsumfetischismus und mit dem Kapital verbunden ist, aber es ähnelt dem Marxistischen Modell der Macht »von oben«. Foucaults Modell ist verschieden, da es alle sozialen Klassen durchdringt und nicht nur ökonomisch definiert ist. Foucault schreibt dem Wissen Macht zu und gibt uns ein Modell über die Objektifizierung von Frauen wie auch von Männern, ohne sich auf die Psychoanalyse zu beziehen.14
12 Walter Kaufmann, Nietzsches Philosophie der Masken, a.a.O., S. 130f. 13 Caroline Evans, Lorraine Gamman »Reviewing Queer Viewing« in: A Queer Romance, a.a.O., S. 18f. 14 Vgl. ebd. S. 19.
TRACK 04: MASKE/MASQUERADE | 139
Der Blick ist im Sinne Foucaults Überwachung. In seinem Buch »Überwachen und Strafen« nimmt er das Panoptikum von Bentham als Modell, um die disziplinäre Macht in der Gesellschaft zu erklären. Dieses Modell ist ein architektonisches Gebäude in der Form eines Rings mit einem Turm in der Mitte. Die Zellen sind in der Peripherie positioniert, eine jede mit zwei Fenstern. Eines geht nach Außen und lässt das Licht herein und das andere zeigt zum Turm hin, in dessen Innerem sich ein Bewacher befindet, der alle Abteile kontrollieren kann, darin kann sich ein Gefangener, ein Kranker, ein Verrückter, ein Schüler oder ein Arbeiter befinden, je nach Zweck des Gebäudes. Diese permanente Sichtbarkeit garantiert die Ausübung der Macht, sogar dann, wenn der zentrale Platz leer ist. Die Bewohner der Zellen wissen, dass sie bis auf kleinste Bewegungen kontrolliert werden. Daher sind sie ein permanentes Informationsobjekt und ohne expliziten Zwang verhalten sie sich den Regeln entsprechend. Diese Struktur dissoziiert das Sehen vom Gesehen werden. Bentham stellt für Foucault eine optimalisierte Form der Kontrolle dar, die es schafft, die Moral zu reformieren, die Gesundheit zu erhalten, die Industrie zu beleben, die Bildung zu erweitern, die öffentlichen Aufgaben zu verringern, zu entkoppeln anstatt zu kürzen. Für Foucault ist das Panoptikum eine neue politische Autonomie, die nicht auf der Souveränität basiert, sondern auf einer Disziplingesellschaft. Der Bestrafte wird nicht verfolgt, sondern die Körper werden als brauchbare Kräfte und als eine Zentralisation der Wissensanhäufung abgerichtet. Die Kriterien sind die wirtschaftliche Rentabilität der Machtmechanismen, die so eine größere Reichweite und Effizienz erreichen.15 Das Wachstum einer kapitalistischen Wirtschaft hat die spezifische Modalität der Disziplinarmacht erfordert, deren allgemeine Formeln die Vorgänge der Unterwerfung der Kräfte und der Körper sind. Dieses Modell wurde laut M. Rodríguez Magda durch omnipräsente Technologie ersetzt. Die Präsenz allgegenwärtiger Videokameras wurde akzeptiert. Uns beobachtet zu fühlen, entspricht einer gewöhnlichen Situation. Die Realität erhält ihre wahre Dimension durch das Registriert-, Kopiert- und Archiviert-Werden. Die Gesellschaft verteidigt sich so gegen Risiken. Der Bürger fühlt sich von den gewalttätigen Rändern der Gesellschaft eher beschützt als ausspioniert. Existiert das Individuum des 21. Jahrhunderts überhaupt, wenn es von niemandem gesehen wird?16 Sogar unser privates Leben können wir gar nicht mehr von Bildern trennen. (z. B. die Fotos und Videos unserer Urlaube, Familienfeste, etc.)17 Wir träumen davon, dass diese Bilder eine kohärente Erzählung ergeben und so unser Leben darstellen oder vielleicht sogar ersetzen. Das Pa15 Vgl. Rosa Maria Rodríguez Magda: Transmodernidad, Barcelona, 2004, S. 176. 16 Vgl. ebd. S. 177. 17 Vgl. ebd.
140 | QUEERE TRACKS
noptikum von Bentham produzierte seine normalisierenden Effekte unabhängig davon, ob der Platz des Bewachers besetzt war oder nicht und das transmoderne Panoptikum beruht auf diesem Sehen ohne Blick (z. B. Paul Virilios »Sehmaschine«). So entsteht eine Fernüberwachung in Echtzeit.18 Der disziplinierende Blick kam mit der Moderne auf die Welt der fragmentierte Blick ist postmodern und das transmoderne Paradigma bietet uns einen totalen Blick an, die Transparenz ist permanent gegenwärtig vor der Abwesenheit (eines Wächters). Diese Substitution der Präsenz durch das Bild wird in seiner extremsten Ausführung durch die Virtualität gezeigt. Der Exzess der Absenz wird z. B. in solchen Videospielen dargestellt19, in denen die Protagonisten eine Kopie von realen Schauspielern sind. Es gibt kein Original, das nicht wiederum eine cybertechnologische Konstruktion ist.20 Die Weiterentwicklung des Blicks bis zur Produktion eines Bildes ohne Objekt, führte zur baudrillardschen Ermordung des Realen.21 Die Analyse der Maske oder Masquerade wird zu einem ähnlichen Ergebnis führen, was im Laufe dieses Kapitels noch näher erklärt wird. So viel zur überwachenden oder disziplinierenden Funktion des Blickes bei Foucault, die veranschaulicht, von welcher Wichtigkeit der Blick in unserer Gesellschaft ist. In diesem Kapitel soll veranschaulicht werden, welche Strategien es gibt, um diesen Blick zu täuschen und in die Irre zuführen und so der Überwachung, Disziplinierung und auch Kategorisierung (z. B. der Einteilung in ein binäres Geschlechtersystem) zu entkommen. Bevor auf diese Strategie der Maske oder Masquerade eingegangen wird, bedarf es aber noch einer Abklärung des visuellen Genießens und des Vergnügens beim Schauen, so wie es Laura Mulvey in ihrem Artikel über »Visual Pleasure and Narrative Cinema«22 getan hat. Foucaults zentrale These ist, dass die Macht im Blick anfängt. Die psychoanalytische Perspektive verschiebt die Betonung auf die Idee der geschlechtlichen Machtbeziehungen (besonders die »phallische Macht«). Der erste Beitrag, der den Blick mit der Psychoanalyse von Freud und Lacan in Verbindung bringt, ist Mulveys Artikel.23 Sie schreibt darin, dass das Kino viele mögliche Varianten des Genießens bietet. Eine davon ist die Scopophilie, das Vergnügen während des Schauens. Freud schrieb darüber in den »Three Essays on Sexuality« und isolierte die Scopophilie als eine der sexuellen Instinkte, die als Trieb ziemlich unabhängig von den erotischen Zonen existiert. Freud assoziierte Scopophilie damit, andere Leute als Objekte zu nehmen und sie einem kontrollierendem und neugierigem Blick zu unterwerfen. In seinen Bei18 19 20 21 22 23
Vgl. ebd. S. 178. Vgl. ebd. S. 179. Vgl. ebd. S. 180. Vgl. ebd. S. 182. Das erste Mal erschienen in: Screen, 16 (13) Autumn 1975. Caroline Evans, Lorraine Gamman »Reviewing Queer Viewing« in: A Queer Romance, a.a.O., S. 21.
TRACK 04: MASKE/MASQUERADE | 141
spielen konzentriert sich Freud vor allem auf die voyeuristischen Aktivitäten der Kinder, d. h. auf ihr Verlangen, das Private und Verbotene zu sehen (Neugierde über die genitalen und körperlichen Funktionen anderer Leute). In seiner Analyse ist die Scopophilie im Wesentlichen aktiv. Sie kann sich aber zu einer narzisstischen Form entwickeln. Obwohl sich dieser Instinkt durch andere Faktoren, wie der Konstitution des Egos, verwandelt, setzt er ihn als die erotische Basis für das Vergnügen, jemand anderen als Objekt zu sehen, fort. Im extremen Fall kann das zu einer Perversion führen und obsessive Voyeuristen produzieren, deren einzige sexuelle Befriedigung vom Beobachten eines objektivierten Anderen in einem aktiv kontrollierenden Sinne erreicht wird. Das Kino scheint alles andere zu sein, als das Beobachten eines unwissenden Opfers. Was auf der Leinwand gezeigt wird, ist bewusst hergestellt wobei absichtlich mit der voyeuristischen Phantasie des Publikums gespielt wird. So hilft der extreme Kontrast zwischen der Dunkelheit des Kinosaals und der beleuchteten Leinwand, die Illusion einer voyeuristischen Trennung aufrechtzuerhalten. Die Position der Zuschauer ist die einer Unterdrückung ihres Exhibitionismus und die Projektion des unterdrückten Verlangens auf den Darsteller.24 Neben diesem skopophilen Aspekt, der durch das Vergnügen entsteht, eine andere Person als Objekt der sexuellen Stimulation zu benützen, gibt es noch einen zweiten, der sich durch den Narzissmus und die Konstitution des Egos entwickelt und mit der Identifizierung des gesehenen Bildes zu tun hat. Laura Mulvey führt zur Erklärung des zweiten Modells die Spiegeltheorie Jaques Lacans an, in der er beschreibt, wie wichtig für ein Kind jener Moment ist, in dem es sein eigenes Spiegelbild erkennt, da dies einen bedeutenden Ansatz zur Konstituierung seines Egos darstellt. Die Spiegelphase geschieht, wenn die physischen Ambitionen ihre motorischen Fähigkeiten überschreiten, mit dem Resultat, dass die Erkennung eines selbst freudvoll ist und sie sich das eigene Spiegelbild vollkommener vorstellen als sie ihren eigenen Körper selbst empfinden. Erkennung ist daher mit einer Misserkennung (recognition-misrecognition) verbunden. Wichtig ist, dass dieses Bild, das die Matrix eines Imaginären, einer Erkennung/Misserkennung und eine Identifizierung darstellt, und daher auch die erste Artikulation des Ichs, der Subjektivität. Somit ist es auch die Geburt einer langen Liebesaffäre oder auch einer Verzweiflung zwischen dem Bild und dem Selbst-bildnis. Mulvey führt die Ähnlichkeit der Leinwand und des Spiegels an, weist aber darauf hin, dass die Faszination des Kinos stark genug ist, um einen zeitlich begrenzten Verlust des Egos zu erlauben. Dieses Gefühl des Vergessens seiner eigenen Welt hat etwas mit dem presubjektiven Moment der Erkennung des Bildes zu tun. Gleichzeitig hat das Kino sich durch Ego-Ideale produziert, so zum Beispiel die Leinwandstars. Stars sind in zwei Bereichen im Mittelpunkt, sowohl, was den Platz 24 Vgl. Laura Mulvey: Visual and Other Pleasures, USA, 1989, S. 16f.
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auf der Leinwand betrifft, als auch, was das Drehbuch betrifft, wo sie eine Rolle zwischen Ähnlichkeit und Unterschied (die glamouröse Person stellt eine alltägliche dar) spielen.25 Diese zwei gegensätzlichen Aspekte verlangen nun einerseits die Trennung der erotischen Identität des Subjekts vom Objekt auf der Leinwand (aktive Skopophilie), andererseits aber auch die Identifizierung des Egos mit dem Objekt auf der Leinwand. Erstere ist eine Funktion der sexuellen Instinkte, zweitere der Ego-Libido. Diese Dichotomie war für Freud wesentlich, obwohl er die zwei als interagierend und überlagernd sah. So führt diese Spannung zwischen Instinkt, Trieben und der Selbsterhaltung zu einer Polarisierung des Vergnügens. So kann der Blick in seiner Form genussvoll sein, in seinem Inhalt jedoch bedrohlich, 26 da, wie in den nächsten Absätzen näher erklärt wird, die Darstellung der Frau auf der Leinwand Kastrationsangst auslösen kann. Das aktuelle Bild der Frau als (passiv) und rohes Material für den (aktiven) Blick des Mannes ist für den Inhalt und die Struktur der Repräsentation von Bedeutung. Hier wird nun der psychoanalytische Hintergrund gebraucht: Frauen in ihrer Repräsentation können auch die Kastration bedeuten und dabei aber voyeuristische und fetischistische Mechanismen aktivieren, um diese Bedrohung zu umgehen.27 Die fetischistische Repräsentation des weiblichen Bildes bedroht die Verzauberung durch die Illusion zunichte zu machen, indem das erotische Bild direkt auf der Leinwand ohne ein weiteres Hilfsmittel erscheint. Der Akt der Fetischisierung verdeckt die Kastrationsangst, lässt den Blick erstarren und fixiert den Zuschauer, da jede Distanzierung vom Bild vor ihm vermieden wird. Die visuelle Präsenz einer Frau in einem normalen, narrativen Film lässt den Fluss der Aktionen im Moment der erotischen Betrachtung stoppen (z. B. durch »closeups« der Beine bei Marlene Dietrich oder des Gesichtes bei Greta Garbo).28 Ein Teil eines Körpers zerstört die Illusion der Tiefe, die von der Erzählung gefordert wird. Das männliche Unterbewusste besitzt zwei Möglichkeiten, um der Kastrationsangst zu entkommen, entweder die Beschäftigung mit dem Wiedererleben des ursprünglichen Traumas (die Frau zu erforschen und ihr Geheimnis zu lüften), oder die Erniedrigung, Bestrafung oder auch das Retten des schuldigen Objekts. Weiters gibt es auch noch die komplette Verwerfung der Kastrationsangst, indem die Frau durch ein fetischisiertes Objekt ersetzt wird oder die repräsentierte Figur selbst zu einem Fetisch umgeformt wird, sodass sie auf den Zuschauer eher bestärkend und nicht gefährlich wirkt.29
25 26 27 28 29
Vgl. ebd. S. 17f. Vgl. ebd. S. 18f. Vgl. ebd. S. 25. Vgl. ebd. S. 20. Vgl. ebd. S. 21.
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Die fetischistische Skopophilie verstärkt also die physische Schönheit des Objekts und verwandelt es in etwas in sich selbst Befriedigendes. Der Voyeurismus hingegen ist mit dem Sadismus assoziierbar, da das Vergnügen darin liegt, jemandem die Schuld zu zuschreiben (Kastration) und darum die Kontrolle und Unterwerfung der schuldigen Person herbeizuführen. Diese sadistische Seite passt in die Erzählung, weil sie eine Geschichte verlangt, die etwas passieren lässt, die Veränderung einer Person zwingt, einen Kampf des Willens und der Stärke erfordert, der in einer linearen Zeit mit einem Anfang und Ende erfolgt. Fetischistische Skopophilie existiert hingegen außerhalb einer linearen Zeit, da der erotische Instinkt nur auf den Blick alleine fixiert ist und so die Männer, die im herkömmlichen Kino nicht der Erotisierung dienen, immer aktiver (sofern sie nicht schon vom Drehbuch aus mit einer solchen Rolle festgelegt wurden) wirken lässt.30 Mulvey basierte viele ihrer Argumente auf der Annahme, dass die männliche Figur nicht die Last einer sexuellen Objektifizierung tragen kann. Es stimmt, dass, als sie das in den 1970ern schrieb, es wenige erotische Männerbilder gab, aber inzwischen wurde der nackte männliche Körper zunehmend zur Schau gestellt und (homo- oder hetero)-sexualisiert. In den 1980ern und 1990ern wurde der männliche Körper auch verstärkt in der Werbung und Mode eingesetzt. In den 1990ern wurden Pornomagazine für Frauen »For Women« and »Women Only« gegründet, die Codes zur Objektifizierung der Männer benützen, die vorher in schwulen Magazinen gefunden wurden.31 Suzanne Moore hat sich als eine der ersten Kritiker_Innen von M. A. Doane distanziert und ihre Aufmerksamkeit hin zu dem voyeuristischen heterosexuellen weiblichen Blick gelenkt. Sie argumentiert, dass Codes und Konventionen, die mit schwulen Pornos assoziiert werden, für Frauen einen anderen Raum kreieren als aktive Voyeuristinnen des männlichen erotischen Spektakels. Auch die britischen StyleMagazine, wie z. B. »The Face«, »Blitz« oder »i-D« werden für beide Geschlechter vermarktet. Die Bilder der Popstars und Modelle sprechen zum Beispiel beide, den schwulen Mann und die heterosexuelle Frau an. So analysierte Linda Williams auch die Pornographie, die gleichzeitig auf schwule Männer und heterosexuelle Frauen in den USA ausgerichtet ist.32 Viele lesbische und schwule Kritiker_Innen haben die Theorie von Mulvey herausgefordert, wobei sich zwei hauptsächlich behandelte Themen herausgebildet haben: das erste betrifft die Dynamik des sexuellen Begehrens des Publikums in Bezug auf die Bilder. Das zweite betrifft die Art, in der sich Individuen narzisstisch mit den Bildern von Personen auf verschiedene Weisen identifizieren (auch mit Personen des anderen Ge30 Vgl. ebd. S. 22. 31 Vgl. Caroline Evans, Lorraine Gamman »Reviewing Queer Viewing« in: A Queer Romance, a.a.O., S. 28f. 32 Vgl. ebd. S. 30.
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schlechts).33 Jackie Staceys Analyse zweier Mainstream – Hollywood Filme inkludiert zum ersten Mal die lesbische Betrachterin in dieser Debatte und beschäftigt sich mit sexuellem Verlangen in Bezug auf die sexuelle Ähnlichkeit gegensätzlich zur sexuellen Differenz. Stacey betont, dass die strenge Trennung zwischen entweder Begehren oder Identifizierung die Herausbildung von Begehren nicht richtig erkennt, da diese ein spezifisches Zusammenspiel von beiden erfordert. Ihr Zugang lässt lesbisches Begehren in Bezug auf die Ähnlichkeit mit den Frauen auf der Leinwand und die Möglichkeiten einer Identifizierung mit diesen Frauen, die dadurch hervorgerufen wird, entstehen. Teresa de Lauretis kritisierte Stacey, da sie die lesbische Zuschauerin desexualisiert und stattdessen den weiblichen Narzissmus behandelt, anstatt die erotische Betrachtung von Frauen. Trotzdem hebt Staceys Artikel den psychoanalytischen Punkt hervor, dass alle Formen des Schauens aufgrund des skopischen Triebes sexuell geladen sind. Weiters fußt Staceys Annahme auf dem Standpunkt Lacans, dass das Schauen zwischen sexueller Objektifizierung und narzisstischer Identifizierung gespalten ist. Viele Kritikerinnen fanden Staceys Arbeit zu limitiert, dennoch wurde bis jetzt noch kein adäquates Modell für die lesbische Zuschauerschaft gefunden, das die Komplexität und die fließenden Übergänge der identifikatorischen Prozesse erklären könnte.34 Wie auch immer, wenn es schon keinen spezifischen lesbischen Blick gibt, dann gibt es aber ein gewisses lesbisches »Imagery« im Umlauf. Wie Suzie Bright beobachtet hat, erleben lesbisch Pornofilme mit butch/femme Beziehungen einen Boom in den USA. Hier gibt es keinen wesentlichen lesbischen Blick, stattdessen bringen lesbische Filmmacherinnen und Zuschauerinnen unterschiedliche kulturelle Kompetenzen ein, die auf der Produktion und dem Konsum von lesbischen »Imagery« beruhen. Deshalb bekommen es normale Mainstream-Pornoproduzenten nicht hin, sie kennen die subkulturellen Codes der Lesben nicht und verfehlen den lesbischen Markt.35 Um die Theorie des Blicks neu denken zu können, heißt es nicht nur lesbische und schwule Perspektiven mit einzuschließen, sondern auch die heterosexuellen Perspektiven zu überdenken und nicht nur deshalb, weil die Verantwortung für eine sexuelle Politik sowohl eine heterosexuelle als auch homosexuelle ist.36 Judith Halberstam kritisiert die psychoanalytische Erforschung des Blicks und besteht darauf, dass es sehr wohl ein »queer cinema« gibt, das mit verschiedenen Identifizierungen spielt: »The significance, then, of reformulations of spectatorship by queer film critics such as Traub and Mayne lies in their ability to multiply the gendered positions 33 34 35 36
Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 34. Vgl. ebd. S. 35. Vgl. ebd. S. 41.
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afforded by the gaze and to provide a more historically specific analysis of spectatorship. A less psychoanalytically inflected theory of spectatorship is far less sure of the gender of the gaze. Indeed, recent discussions of gay and lesbian cinema assume that the gaze is »queer« or at least multidimensional. It is important, I think, to find queer relations to cinematic pleasure that are not circumvented by the constrictive language of fetishism, scopophilia, castration, and Oedipalization. At this historical moment, we may simply have to avoid psychoanalytic formulations (rather than, say, negate them through a methodical critique) to get beyond them and forget the new cinematic vocabulary that Mulvey seemed to be calling for but seemed not to be able to imagine. Queer cinema, with its invitations to play through numerous identifications within a single sitting, creates one site for creative reinvention of way of seeing.«37
Eine Strategie, um der fetischistischen Skopophilie und dem hetersexuellen Blick entgehen zu können, ist die Maske oder Masquerade, da die Maske das Objekt vor dem Blick schützt. Die theoretischen Voraussetzungen dafür liefern Mary Ann Doane, Joan Riviere und Efrat Tseëlon.
Maske und Masquerade Mary Ann Doane geht näher auf die weiblichen Zuschauer und die Masquerade im Film ein und führt an, dass Freud die Frau immer für das Rätsel, das Hieroglyphische, oder das Bild hielt. Die Hieroglyphe ist für ihn einerseits, was den Diskurs über die Frau betrifft, eine unentzifferbare Sprache, ein bezeichnendes System, das die eigene Funktion verneint, da sie die Bedeutung für die, welche die Auflösung nicht besitzen, nicht enthüllt. Andererseits sind die Hieroglyphen, die am einfachsten lesbare Sprache. Diese Unmittelbarkeit kommt von ihrem Status als Bildersprache, denn es gibt keinen Spalt oder Abstand zwischen dem Zeichen und der Bezeichnung. Diese ikonischen Eigenschaften lassen die Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant weniger arbiträr sein als bei anderen Zeichensprachen. Für Freud ist die Frau zu nahe zu ihrem Selbst, verstrickt in ihrem eigenen Geheimnis.38 Allerdings ist das ikonische System der Repräsentation ungenügend, was sich vor allem bei abstrakten Begriffen zeigt. Es kann sich selbst nicht vom Realen oder Konkreten trennen, da dieser Abstand, der für die Verallgemeinerung notwendig ist, fehlt. (Laut Saussure entspricht das der Idee, dass Zeichen, die arbiträr sind, das Ideal des Semiotischen besser realisieren als andere. Mit diesem Vergleich zum sprachlichen System analysiert M. A. Doane die cinematische Repräsentation von Frauen, die ihr aber auch gleichzeitig den Zugang zu diesem System verweigert. Das 37 Judith Halberstam: Female masculinity, Durham/London, 2004, S. 179. 38 Vgl. Mary Ann Doane »Film and the Masquerade: Theorizing the female Spectator.« in: John Caugie (Hg.), The Sexual Subject. A Screen Reader in Sexuality, London, 1992, S. 230.
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Bild der Frau, wie schon Laura Mulvey zeigte, ist daher näher mit der Oberfläche des Bildes in Verbindung zu bringen als mit illusorischen Tiefen39. Die Frau ist wesentlich mehr an ihrem Körper gebunden als der Mann, wie auch Hélèn Cixous und Sarah Kofman analysierten. Die weibliche Besonderheit liegt daher in der örtlichen Nähe. Eine örtliche Distanz in der Beziehung des Mannes zu seinem Körper wird zu einer zeitlichen Distanz im Dienste seines Wissens. Das wird in Freuds Analyse zur Konstruktion des wissenden Subjekts gezeigt. Das Wissen, um das es hier geht, ist das Wissen um die sexuelle Differenz und wie dieses Wissen in Beziehung zum Blick steht, vor allem was die Sichtbarkeit des Penis betrifft.40 Das Mädchen, das einen kleinen nackten Bub beobachtet, sieht und weiß sofort um den Unterschied, den Penis, Bescheid. Der kleine Bub teilt diese Unmittelbarkeit der Erkenntnis jedoch nicht. Dann kommt die Angst vor der Kastration. Es ist die Distanz zwischen dem Blick und der Bedrohung, in der das Wissen oder das Erkennen der sexuellen Differenz erfolgt. Dieser Spalt oder Abstand zwischen dem Sichtbaren und dem Erkennbaren, die Möglichkeit des Nicht-Besitzens des Gesehenen, bereitet die Basis für den Fetischismus vor. Der männliche Betrachter ist also prädestiniert dafür, ein Fetischist zu sein, für die Frau hingegen ist es extrem schwierig, die Position einer Fetischistin einzunehmen.41 Für mich, wie für einige andere Theoretikerinnen, ist diese Analyse Freuds um das Wissen des geschlechtlichen Unterschieds wenig glaubwürdig, da sie einen sehr männlichen Ausgangspunkt annimmt. (Ich glaube nicht, dass ein kleiner Bub solche Gedanken hat.) Es klingt so, als ob der Bub beim Anblick des Mädchens Angst davor hat, auch seinen Penis zu verlieren, wie es scheinbar beim Mädchen geschehen musste, da sie ja ohne Penis ist. Was aber, wenn es auch so etwas wie den Uterusneid gibt: die Angst, keine Kinder gebären zu können? Oder auf einer »queereren« Stufe ausgedrückt, so wie es Peaches sagte: Intersexuellenneid? M. A. Doane weist darauf hin, dass die Zuschauerin zwischen einer weiblichen und einer männlichen Position oszillieren muss und daher die Metapher eines Transvestiten hervorruft. So erklärte auch L. Mulvey, dass das Kino zu einer Maskulinisierung des Publikums führt. Für Frauen scheint es auch laut Freud und Cixous viel leichter bisexuell zu sein als für einen Mann. Es ist auch wahrscheinlicher, dass der weibliche Transvestismus gelingt, der männliche führt oft nur zu einem Gelächter. Viele Feministinnen kritisierten Mulveys Aussage, dass neben dem männlichen Blick nicht viel Platz für Frauen im Mainstream-Kino ist. Die Kritikerinnen sehen gerade den Mainstream als eine Möglichkeit für feministische Intervention. In Filmen wie »Black Widow« oder Aliens 2 und 3 ist es angeblich gelungen, dass der weibliche Blick den patriarchalen 39 Vgl. ebd. S. 231. 40 Vgl. ebd. S. 232. 41 Vgl. ebd. S. 233.
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Diskurs und somit die Objektifizierung des erotischen Blicks auf Frauen gestört hat. Das heißt oft, dass um die Pointe zu verstehen, sowohl Männer als auch Frauen sich mit dem weiblichen Blickpunkt identifizieren müssen. Der Gebrauch des Sich-Lustig-Machens und der Ironie um die untergeordnete weibliche Position zu subvertieren, ist eine gängige Sit-Com Strategie, die in TV-Programmen, wie den »Golden Girls« und »Absolutely Fabulous« gefunden werden kann.42 Doane argumentiert, dass es viel verständlicher ist, dass Frauen eine männliche Position einnehmen wollen, da die weibliche Position nicht mit Privilegien verbunden ist. Was hingegen nicht so leicht erklärbar ist, warum eine Frau ihre Weiblichkeit unterstreicht und oft sogar einen Exzess an Weiblichkeit darstellt und somit eine weibliche Masquerade ausübt. Doane schreibt, dass die Masquerade komplexer ist als der Transvestismus, weil sie bereits anerkennt, dass die Weiblichkeit selbst als Maske konstruiert ist und nur eine dekorative Schicht für eine Nicht-Identität ist.43 Theoretikerinnen wie Judith Butler haben aber darauf hingewiesen, dass auch der Transvestismus durch seine Geschlechterparodie diese scheinbare originale Identität aufdeckt und seine Nicht-Existenz bloß stellt. Mary Ann Doane bezieht sich in ihrer Analyse auf Joan Riviere, die als erste dieses Konzept analysierte. Ihr Artikel »Womanliness as a Masquerade« wurde zum ersten Mal in »The International Journal of Psychoanalysis« (IJPA), (Vol. 10.), 1929 publiziert. In dieser Fallanalyse beschreibt sie eine intellektuelle Frau und betont, dass solche Frauen zu jener Zeit einem maskulineren Typ entsprachen. Riviere unterstreicht in ihrem speziellen Fall, dass die Frau eine typisch weibliche Rolle verkörperte, sie hatte eine ausgezeichnete Beziehung zu ihrem Mann, die auch eine intime Zuneigung und ein erfülltes Sexualleben inkludierte. Auch war diese Frau auf ihre Fähigkeiten als Hausfrau stolz. (Laut Teresa de Lauretis besteht auch eine Ähnlichkeit zum Leben Joan Rivieres selbst und vielleicht hat sie sich in diesem Fall selbst als Beispiel angeführt.) Ein Bereich in ihrem Leben war aber von einer gewissen Angst erfüllt, die sie nach jedem öffentlichem Auftritt empfand, in dem sie vor einem Publikum sprach. Trotz ihres Erfolges und ihrer praktischer als auch intellektueller Fähigkeiten mit einem Publikum umgehen und Diskussionen führen zu können, ist sie in der Nacht nach dem Vortrag aufgeregt und unsicher, als ob sie irgendetwas Unangebrachtes getan hätte. Weiters ist sie nach einer bestimmten Form der Bestätigung besessen, die sie meistens durch eine Aufmerksamkeit oder eines Kompliments eines Mannes suchte, der einer Vaterfigur entsprach. Zwei Arten von Bestätigungen werden von ihr gesucht: erstens direkte Komplimente über ihr Auftreten (»performan42 Vgl. Caroline Evans, Lorraine Gamman »Reviewing Queer Viewing« in: A Queer Romance, a.a.O., S. 27f. 43 Vgl. Mary Ann Doane »Film and the Masquerade: Theorizing the female Spectator.« in: The Sexual Subject, a.a.O., S. 234.
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ce« im Original) und die zweite, wichtigere - eine indirekte Bestätigung der sexuellen Aufmerksamkeit von diesen Männern. Die Analyse ihres Verhaltens nach ihrem Auftritt zeigte, dass sie mit diesen Männern auf eine mehr oder weniger versteckte Art und Weise flirtete und kokettierte. Dieses Verhalten stand im krassen Gegensatz zur ihrer unpersönlichen und objektiven Haltung während ihres intellektuellen Vortrags. Riviere betont, dass sich in der Analyse dieses Falls zeigte, dass die Patientin in großer Rivalität mit ihrem Vater stand. Ihre intellektuelle Arbeit basierte auf einer offensichtlichen Identifikation mit ihrem Vater. Träume und Phantasien, wie das Kastrieren ihres Ehemannes, zeigten ihre ziemlich bewussten Gefühle von Rivalität und des Verlangens nach Überlegenheit. Jede Annahme, dass sie unterhalb der Männer stand und ihnen nicht gleich war, wies sie scharf zurück. Riviere ordnet an diesem Punkt ihre Patientin in die erste Typusgruppe von homosexuellen Frauen bei Ernest Jones ein, auf dessen Artikel »The early development of female sexuality«, sie zu Beginn ihrer Abhandlung verwies. Dieser Typus entspricht Frauen, die zwar kein Interesse an anderen Frauen haben, aber sich Anerkennung für ihre Männlichkeit von Männern wünschen und ihnen gleich sein wollen, in anderen Worten, also Männer sein wollen. Die Patientin gab das aber nicht offen zu, ganz im Gegenteil, in der Öffentlichkeit suchte sie nach Aufmerksamkeit für ihre Weiblichkeit. In der Analyse stellte sich heraus, dass das Flirten und Kokettieren Abwehrhandlungen darstellten, die sie aus Angst vor Zurückweisung und Bestrafung ihres durch ihre intellektuelle Performance kastrierten Vaters ausführte. Das Ziel ihrer kompulsiven Handlung ist also nicht die Bestätigung sondern das Hervorrufen von freundlichen Gefühlen bei Männern, das sie durch das Maskieren als unschuldig und harmlos erreichte. Zuvor hatte die Patientin auch Träume, in denen sich Leute Masken auf ihre Gesichter aufsetzen, um Katastrophen zu vermeiden. So verhinderten diese Leute zum Beispiel, dass ein hoher Turm auf einem Hügel auf ihr Dorf herabfiel. Weiblichkeit kann daher angenommen und als Maske aufgesetzt werden, um einerseits den Besitz der Männlichkeit zu verstecken und andererseits der Zurückweisung durch die Männer zuvorzukommen. Riviere gibt zu, dass sie in der Masquerade und der Weiblichkeit keine Unterschiede sieht. Die Masquerade wird hauptsächlich dazu benutzt, um diese Angst zu vermeiden und nicht als eine Art des sexuellen Vergnügens. Signifikant dabei ist, dass diese Frauen-Maske, obwohl sie für andere Frauen durchschaubar ist, bei Männern erfolgreich ist und so der Absicht diente. Viele Männer wurden dadurch angezogen und waren ihr milder gestimmt. Eine genauere Untersuchung zeigte, dass diese Männer auch die ultra-weiblichen Frauen fürchteten. Sie bevorzugten Frauen, die selber männliche Eigenschaften besaßen und so waren die Ansprüche, die diese Frauen an sie stellten, geringer.
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Riviere vermutet in ihrer Patientin eine latente oder unbewusste Homosexualität, dennoch besteht aber das Faktum, dass sie in einer erfüllten heterosexuellen Beziehung lebt, auch was das Intimleben betrifft, obwohl die Genugtuung eher von der Natur einer Versicherung und Wiederherstellung von etwas Verlorenem war und nicht nur reines Vergnügen. Die Liebe des Mannes gibt ihr ihre Selbstsicherheit zurück. So steht der Narzissmus für Riviere im Mittelpunkt der femininen Masquerade der Weiblichkeit, wohingegen der Fetischismus das Analoge im Mann darstellt - also die männliche Masquerade der Weiblichkeit. Riviere gibt dazu das Beispiel eines homosexuellen Patienten, der nur dann sexuell befriedigt werden konnte, wenn er sich wie seine Schwester kleidete.44 Für Lacan ist der Fetisch ein spezifischer Wert, welcher der Frau durch die Masquerade auferlegt wird, denn ihre Absicht ist es, der Phallus zu werden. So weist sie alle Attribute der Masquerade zurück. Sie wünscht sich, für das, was sie nicht ist, geliebt und ersehnt zu werden.45 Lacan nimmt das Beispiel der Maske von Riviere, um die weibliche Homosexualität näher zu erklären: Sie ist im Gegensatz zur männlichen Homosexualität nicht durch das Begehren konstituiert, sondern durch die Enttäuschung, die wiederum das Verlangen nach Liebe verstärkt. Die Funktion der Maske beherrscht die Identifizierungen, in denen die Zurückweisungen gegen das Verlangen nach Liebe eingelöst werden. Lacan glaubt, dass die weibliche Homosexualität von der ödipalen Enttäuschung der Liebe für den Vater kommt. Daher fragt auch Judith Butler, ob es die Maske der weiblichen Homosexuellen ist, die beobachtet wird. Sie weist damit daraufhin, wer eigentlich wen zurückweist. Es ist nicht klar, ob Lacan sagen will, dass die homosexuelle Frau den Mann zurückweist, oder ob er meint, so wie es sich Butler denkt, dass die lesbische Sexualität eine Zurückweisung der Sexualität an sich ist und Lacan somit die Sexualität mit der heterosexuellen Sexualität gleichsetzt.46 Gegen diese Sicht der Weiblichkeit als Masquerade, durch welche die heterosexuelle Frau selbst zu einem Simulakrum wird, zu einem Anschein (Ähnlichkeit der Weiblichkeit, die auf eine angenommene Maskulinität gestützt wird), schlägt Emily Apter in »Feminizing the Fetish« vor, dass die weibliche Subjektivität und der Fetischismus mit Begriffen wie eine Ästhetik des Schmückens ohne unmittelbaren Rückgriff auf einen kompensatorischen Phallus-Ersatz erklärt werden.47 Apter demaskiert die phallische Theorie der Masquerade und will sie durch eine projizierte Bestätigung der weiblichen Ontologie ersetzen. Weiblicher Fetischismus ist kompensatorisch nicht wegen des Fehlens des Phallus, sondern wegen 44 Vgl. Teresa de Lauretis: The Practice of Love. Lesbian Sexuality and Perverse Desire, Bloomington and Indianapolis, 1994, S. 270. 45 Vgl. ebd. S. 270f. 46 Vgl. ebd. S. 271. 47 Vgl. ebd. S. 273.
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eines unspezifischen weiblichen Verlusts und wird durch das weibliche Sammeln von Objekten, Kleidern, Relikten kompensiert, die für einen Liebhaber, Eltern, Kinder oder weibliche Doubles stehen. Dieser feminine Fetisch gehört zu einer erotischen Ökonomie des Bruches oder der Trennung und Enteignung und ist daher weniger auf eine Kastrationsangst fixiert. Teresa de Lauretis sieht also die Masquerade eng mit Fetischismus und Narzissmus verbunden, die zumindest teilweise auf der erotischen Ökonomie des Verlusts beruhen.48 De Lauretis geht noch einen Schritt weiter und behauptet, dass die weibliche Masquerade der Männlichkeit im männlichen «drag« oder in der zeitgenössischen »butch« nicht ein phallisches Symbol, ein Ersatz für den Penis, ist, sondern der Verlust des weiblichen Körpers.49 Die Masquerade ist für Lauretis eine Art des Per-forming, das heißt eine öffentliche Zurschaustellung des Selbst für andere in einem bestimmten sozio-kulturellen Kontext. Daher ist auch die Form und die Weise des Ansprechens, was für eine Form die Masquerade annimmt und an wen sie adressiert ist, ein Teil ihres psychosexuellen Inhalts. Sie führt drei Beispiele für eine Unterscheidung des Adressierens, des Ziels und der Objektwahl an: Wie sexuelles Vergnügen erlangt wird, durch welches Fetisch und ob die libidinöse Investierung des Subjekts im weiblichen Körper oder im Phallus ist. In der folgenden Figur gibt Lauretis ein Beispiel für diese Unterteilung, wobei die ersten zwei aus verschiedenen Filmen sind: Abbildung 12: De Lauretis
Quelle: Teresa de Lauretis: The Practice of Love. Lesbian Sexuality and Perverse Desire, Bloomington and Indianapolis, 1994, S. 276. 48 Vgl. ebd. S. 274. 49 Interessant in diesem Zusammenhang ist auch, dass viel Material über männliche Weiblichkeit vorhanden ist, wohingegen aber die übertriebene Weiblichkeit vor allem auch in butch/femme Analysen kaum vorkommt. Das Blatt scheint sich aber zu wenden, und in zukünftigen Publikationen wird auch der »femme« mehr Beachtung geschenkt. Mehr zu diesem Thema gibt es im Beispiel von Annie Lennox am Schluss dieses Kapitels zu lesen. Vgl. Del Lagrace Volcano und Ulrika Dahl (Hg), femmes of Power. Exploding Queer Femininities, London, 2008. Und gerade im Erscheinen: Sabine Fuchs (Hg.), femme!: radikal - queer – feminin, Berlin, 2009.
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Der Widerstand der Masquerade zur patriarchalen Positionierung liegt laut M. A. Doane in ihrer Verneinung, die Weiblichkeit als Nähe, als Präsenz zu sich selbst zu produzieren. Der Transvestit hingegen nimmt die Sexualität des Anderen an, die Frau wird zum Mann, um den nötigen Abstand zum Bild zu bekommen. Die Masquerade aber erfordert eine Simulation des fehlenden Abstandes oder der Distanz, sie dient dazu, etwas Fehlendes in der Form eines gewissen Abstandes zwischen einem selbst und dem Bild eines selbst herzustellen. Die Frau benützt ihren eigenen Körper dazu, um etwas vorzutäuschen, was ein Mann nicht muss. Die Masquerade verdoppelt die Repräsentation und ist durch die Übertreibung der Weiblichkeit gekennzeichnet. Diese Art der Masquerade wird auch als »femme fatale« bezeichnet und wird bei Männern als das Böse angesehen, denn wenn immer die Frau ihren Körper einsetzt, um das Gesetz oder die Worte zu beeinflussen, subvertiert sie das Gesetz oder die Worte, die hauptsächlich auf der männlichen Struktur des Blickes beruhen. Indem das Bild destabilisiert wird, verwirrt die Masquerade den männlichen Blick.50 Die Masquerade zeigt auch die bloße Art des Seins für den Anderen, wie die reine Objektifizierung oder Bestätigung der Repräsentation. Wenn die Patientin bei Joan Riviere ihren Status als Subjekt des Sprechens aufgibt, wird sie zum totalen Bild der Weiblichkeit, und kompensiert so ihren »Fehltritt« in die Subjektivität (Männlichkeit). M. A. Doane hebt aber hervor, dass nach ihrer Ansicht, die Masquerade eine Destabilisierung des Bildes darstellt, und nicht wie bei Lacan oder Irigaray und auch Riviere selbst, eine Normierung der Weiblichkeit ist. In Rivieres Analyse ist die normale Weiblichkeit eine Masquerade, aber die Masquerade ist im Falle ihrer Patientin gleichzeitig pathologisch.51 In der Beschreibung von Riviere existiert die Weiblichkeit als solche nicht, sie dient nur als Verkleidung, um die weibliche Aneignung der Männlichkeit zu verheimlichen und als Täuschung, um den sich rächenden Vater zu beruhigen. 52 Doane hebt hervor, dass in all diesen psychoanalytischen Abhandlungen bei Freud, Lacan und auch bei Riviere, die Weiblichkeit als Reaktion auf die ungebührliche Vereinnahmung von Männlichkeit gesehen wird. In der Sprachtheorie oder im semiotischen System liegt das Ideal des semiotischen Prozesses im Abstand zwischen dem Signifikat und dem Signifikanten und, wie Irigaray und Montrelay aufzeigen, wird den Frauen dieser Abstand, der in der Sprache erforderlich ist, entzogen. Doane behauptet nicht, dass diese Beschreibungen der Weiblichkeit angemessen sind, sondern dass sie in den Diskursen persistent sind. Diese Diskurse schreiben 50 Vgl. Mary Ann Doane, Film and the Masquerade, S. 235. 51 Vgl. Mary Anne Doane »Masquerade Reconsidered: Further Thoughts on the Female Spectator« in: Femmes Fatales. Feminism, Film Theory, Psychoanalysis, New York, 1991, S. 33. 52 Vgl. ebd. S. 34.
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den Frauen eine bestimmte Position und Platz in einer patriarchalen Kultur zu, obwohl diese Position nicht real ist, denn sie zeigt nicht die Differenzen individueller Frauen auf. Doane gibt zu, dass, auch wenn die Unwirklichkeit dieser Zuschreibung anerkannt wird, dennoch nicht die Effektivität oder Kraft dieser Beschreibungen der Weiblichkeit ignoriert werden kann.53 Zusammenfassend zur Weiblichkeit und Masquerade sagt Doane, dass die Behauptung, dass die Weiblichkeit eine Funktion der Maske sei, die Frage des Essentialismus schon auflöst, bevor sie überhaupt gestellt wurde. In einer Theorie, in der die klaustrophobische Nähe der Frau in der Beziehung zu ihrem Körper, hervorgehoben wird, bedeutet das Konzept der Masquerade einen Bruch im System. Doane war auf der Suche nach einem Widerspruch in der psychoanalytischen Erklärung der Weiblichkeit und hat ihn somit gefunden. Die Masquerade schreibt der Frau die Distanz und Verfremdung von eigenem Selbst zu (welche für die Konstituierung der Subjektivität von Bedeutung ist), wohingegen die Nähe und die exzessive Präsenz als das Ergebnis des psychoanalytischen Dramas des sexuell - linguistischen Unterschieds ausgelegt wird. Die Theoretisierung der Weiblichkeit als Masquerade ist ein Weg, um diese notwendige Distanz oder Spalt für sich innerhalb der Funktion eines semiotischen Systems einzunehmen und es für die Frauen zu verwenden. Dies ist auch der Grund für das ständige Hin und Her zwischen der normalen und pathologischen Weiblichkeit bei Riviere. Die Weiblichkeit ist für Riviere das Spiel mit der Maske. Es gibt allerdings nichts hinter der Maske, dahinter versteckt sich nur eine Absenz der reinen oder realen Weiblichkeit. So enthüllt die Annahme einer Maske mehr von der Wahrheit der Sexualität als jeder andere Rückgriff auf das Sein oder die Essenz bei Lacan. Für ihn sind die Masken eine eigene Sphäre der Sexualität und diese Betonung auf die Erscheinung hat den Effekt, dass die ideale oder typische Manifestierung des Verhaltens beider Geschlechter in eine Komödie ausartet.54 Schwierigkeiten und Rückfälle, die Doane im Konzept der Masquerade aufzeigt, sind, dass sie als Gegenzug zum Besitz von Männlichkeit gesehen wird und so die Weiblichkeit von der Männlichkeit abhängig macht. Zweitens wird die Masquerade nicht als ein freudiges und affirmatives Spiel theoretisiert, sondern als eine von der Angst getriebene kompensatorische Geste.55 Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich, wenn der Begriff der Masquerade mit dem des weiblichen Publikums in Verbindung gebracht wird, die sich einerseits aus der kuriosen Mischung von Aktivität und Passivität in der Masquerade ergibt. Masquerade würde leichter den Status einer Frau als Betrachtete als eine Betrachterin erklären. Gleichzeitig ist die Masque53 Vgl. ebd. S. 35. 54 Vgl. ebd. S. 37. 55 Vgl. ebd. S. 38.
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rade aber ein weibliches Gegenkonzept zum Fetischismus. Beide Konzepte theoretisieren die Subjektivität als sowohl zeitlich als auch räumlich durch einen Abstand oder Spalt konstituiert, aber der Fetischismus braucht ein Szenario, das von der Präsenz der Abwesenheit des Phallus abhängt. Masquerade ist eigentlich genauso von der Männlichkeit als Maßstab abhängig, aber die Männlichkeit ist nicht im Konzept selbst verinnerlicht, denn die Masquerade zeigt den Abstand zwischen der Frau und dem Bild der Weiblichkeit (der Fetisch ersetzt den mütterlichen Phallus). In der Masquerade ist die Männlichkeit als der Kontext präsent, der die Reaktion und das Verhalten der Patientin hervorruft. 56 Wie Efrat Tseëlon in der Einleitung zu dem von ihr herausgegebenen Buch »Masquerade and Identities. Essays on Gender, Sexuality and Marginality« schreibt, ist die Maskierung ein Werkzeug für die Dekonstruktion von Identitätskategorien. Sie führt dabei die Unterschiede zwischen Maske, Verkleidung und Masquerade an, die sie dem Oxford English Dictionary entnommen hat: Die Maske dient einem Verheimlichen im Sinne von vor dem Blick schützen oder verstecken. Verkleidung im Sinne von einer Missrepräsentation (durch die Verwendung falscher Elemente) und die Masquerade als eine falsche Erscheinung annehmend. Aus einem weiten Feld des anthropologischen, historischen oder literarischen Feminismus destillierend, schlägt Tseëleon vor, dass die Maske repräsentiert, die Verkleidung wird als ein Sich–Verstecken, Verheimlichen und als EtwasAnderes-Durchgehen gedacht. Die Masquerade ist als Standpunkt über den Träger gedacht, sie kann vergnüglich, exzessiv oder auch subversiv sein. Die Maske deckt teilweise ab, die Verkleidung deckt zur Gänze ab, die Masquerade deckt absichtlich ab. Die Maske hinterlässt eine Spur, die Verkleidung löscht etwas vor dem Blick aus, die Masquerade übertreibt. Aber diese Unterschiede sind sehr fein und flüchtig und Tseëlon zieht es vor, auf die dynamischen Ähnlichkeiten zwischen Maske, Masquerade und Verkleidung hinzuweisen.57 Auf jeden Fall dient die Masquerade durch ihre Dialektik von Verstecken und Enthüllen zur Kritisierung von fundamentalen Konzepten, wie die der Natur oder die der Wahrheit einer Identität, der Stabilität von Identitätskategorien und der Beziehung zwischen der angenommenen Identität und der äußeren Erscheinung. Die Masquerade stört die Phantasie einer kohärenten, stabilen und sich gegenseitig ausschließenden Unterscheidung und ersetzt die Klarheit durch Ambiguität und phantasmatische Konstruktionen von begrenztem Inhalt und Verschlossenheit durch Konstruktionen, die diverser, unreiner und nicht so perfekt sind. Sie stellt also eine paradigmatische Herausforderung dar, nicht nur für die dualistischen Differenzen zwischen Essenz und Erschei-
56 Vgl. ebd. S. 39. 57 Vgl. Efrat Tseëlon (Hg), Masquerade and Identities. Essays on Gender, Sexuality and Marginality, London/New York, 2001, S. 2.
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nung, sondern auch für den ganzen Diskurs über die Differenz, die mit der Modernität entstand.58 Efrat Tseëlen gibt eine kurze Übersicht über die Geschichte der Maske und der Identität. Schon in den ersten Quellen der westlichen Zivilisation wird die Maske eng mit dem Begriff der Person verbunden. In der klassischen, griechischen und römischen Tradition des Theaters wurde die Maske als Identifizierung mit einem Charakter benutzt und nicht als eine Täuschung oder Verkleidung. Zu Beginn des Mittelalters erklärte Augustus (der den christlichen Begriff der Person einführte) Theater und seine »personae« in Bezug auf die wahre Identität als antiethisch. Vom Mittelalter an bis später war die Maske mit teuflischen und dunklen Konnotationen verbunden. Die Maske bedeutete Un-Authentizität, Künstlichkeit und Vortäuschen im Kontrast zur ursprünglichen Identität, die durch Wahrheit und Authentizität gekennzeichnet ist. So repräsentiert die Philosophie der Maske zwei Annäherungen zur Identität. Eine nimmt die Existenz eines authentischen Selbst an. Dieser Zugang sieht die Maske – real oder metaphorisch – in Bezug auf das reale Selbst als bedeckend und manchmal sogar als täuschend an. Der andere Zugang behauptet, dass jede Manifestierung authentisch ist, dass die Maske die Vielfältigkeit unserer Identität aufdeckt. Die wichtigsten Fragen hier sind: Gibt es ein Wesen, das bedeckt werden kann? Ist die Maske ein reales oder ideales Selbst? Versteckt sie oder befreit sie das reale Selbst? Dieses dualistische Modell von Persönlichkeit ist in seiner langen Tradition des Imports von theatralischem Vokabular in das soziale Leben sichtbar. Im Theater des Lebens tragen Leute, die in ein situationsbedingtes Verhalten involviert sind, Masken und spielen eine bestimmte Rolle. Für Nietzsche sind Rollen Masken, welche die Dualität der privaten Handlung und der sozialen Kontrolle ausdrücken. So liegt der Unterschied zwischen dem Selbst und der Rolle nicht zwischen einer tieferen Wahrheit und einer oberflächlichen Erscheinung, sondern zwischen zwei Masken, zwei Arten zu sprechen, zwei Möglichkeiten. Laut Tseëlon ist das Paradox der Masquerade nämlich, dass sie die Wahrheit in der Form der Täuschung präsentiert. Gleich einem neurotischen Symptom enthüllt sie etwas, indem sie es zu verstecken versucht.59 Näher auf den Diskurs von Differenz und der Phantasie von einer kohärenten Identität eingehend, schreibt Tseëlon, dass die Beschäftigung mit der Differenz eine Basis für die Persönlichkeit (oder Identität) einer moderne Denkweise ist. Während der Aufklärung haben sich Typologien entwickelt, welche die Kategorien des Wesens (oder der Essenz) erschufen. Die Obsession der Modernität alles zu ordnen, die am Beispiel des Nationalstaats gipfelte, kreierte den Mythos einer kulturellen Hegemonie. Das wurde durch die Unterdrückung dessen, was als das Andere definiert 58 Vgl. ebd. S. 3. 59 Vgl. ebd. S. 4f.
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wird, erreicht. Das Andere kann nicht klassifiziert werden. Die bloße Existenz des Anderen stellt sowohl eine konstante Bedrohung als auch einen notwendigen Bezugspunkt für das Klassifikationssystem selbst dar. So wurde zum Beispiel das Nationalstaatssystem zugleich eine Identitätsquelle als auch ein Ausschlussverfahren. Indem Grenzen um das Selbst gesetzt werden, wird auch das Nicht-Selbst definiert.60 Das Andere ist der Feind im gleichen System. Oft fehlt auch ein sichtbares Zeichen zur Unterscheidung und das Andere wird zur Ambiguität und daher zur Bedrohung. Masken sind ein Mittel, mit dem mit der Andersheit umgegangen werden kann. Masken repräsentieren nicht nur einfach das wesentlich Andere, sondern auch die Inversion und die Möglichkeit der Überschreitung. Die Maske ist dem Fremden in der Moderne in grundlegenden Problemzügen ähnlich: Beide verleugnen die Ordnung, führen eine Ambiguität ein und propagieren eine schwache Zustimmung und die Frage von Zugehörigkeit und Ausschluss. In der Antike oder in Stammesgesellschaften hat die Maske eine fixe Rolle, nämlich eine transformative, beschützende und selbstermächtigende. Ihre modernen und postmodernen Gebrauchsweisen sind vielfältig und verändern sich, metaphorisch und real, drücken Gefahr und Erleichterung aus. Sich selbst als das Andere oder als maskiert zu situieren, bedeutet, sich bereits in eine Abseitsposition zu begeben, wobei der Unterschied zur herrschenden Ordnung und zu den definierten Kategorien bedrohlich ist. Naturwissenschafter klassifizierten im 18. Jahrhundert Menschen, Tiere und Pflanzen und privilegisierten das Physische und Beobachtbare als Basis für ihre Klassifikationen. So wurde eine Veränderung von der Betonung auf fundamentale physische und moralische Homogenität hin zur Betonung auf wesentliche Unterschiede hin bemerkbar. Um 1800 wurde das vor der Aufklärung verwendete Modell der männlichen und weiblichen Körper als hierarchisch geordnete Version eines einzigen biologischen Geschlechts in ein Bild von zwei verschiedenen Geschlechtern umgewandelt, obwohl es keine wissenschaftliche Entdeckung in diese Richtung gab – eher im Gegenteil – Fortschritte in der Anatomie wiesen auf die gemeinsamen Ursprünge der Geschlechter in einem morphologischen androgynen Embryo hin und wie Laqueur sagt, waren nicht biologische Fragen im Spiel, sondern kulturell-politische Fragen, welche die Natur der Frauen betrafen. (Im Kapitel über die Transsexualität gehe ich näher darauf ein.) Foucault zeigte auch, dass die Kategorien der Sexualität ähnlich konstruiert waren. Die Konzeption der Sexualität als eine, in der das jeweils andere Geschlecht in Betracht kommt, ist laut ihm ein Produkt eines Prozesses, in dem das Verlangen politisiert wurde und auf das 17. Jahrhundert zurückgeht.61 Dieses Verfahren der Herstellung von Differenzen (körperlich, moralisch oder spirituell) war nicht nur auf das (biologische) Geschlecht 60 Vgl. ebd. S. 5. 61 Vgl. ebd. S. 6.
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und die Sexualität limitiert. So wurde die Idee der »Rasse« zum Beispiel anfänglich durch die Erklärung der Klassenunterschiede in Europa hervorgerufen und stellte so einen Rückschlag gegen die Ideen der Aufklärung von Gleichheit und Fortschritt dar, zeigte aber auch die Angst der Elite vor sozialen Veränderungen. Diese Diskurse wurden benützt, um all diese angenommenen kategorischen Differenzen (die tatsächlich Unterschiede der sozialen Macht sind) entlang biologischer Linien zu legitimisieren und sie im Körper festzusetzen. Ein weiteres ideologisches Werkzeug in diesem Prozess war die Idee der Degeneration, die den unteren Klassen, Frauen und Farbigen, Geisteskranken und Homosexuellen zugeschrieben wurden. In der psychiatrischen Literatur und Handlungen des frühen 20. Jahrhunderts wurde sie für einige Verhaltensweisen verwendet, die als sexuelle Perversionen bezeichnet wurden, einige davon waren Kleidungsobsessionen und Rituale (z. B. Fetischismus und Transvestismus). Diese wurden als Zeichen der männlichen Degeneration, Homosexualität oder Kriminalität angesehen.62 Die Geschichte der Devianz in der Kultur ist durch die Verwerfung des Karnevalesken von Europas Bourgeoisie in der Moderne gekennzeichnet. Das Karnevaleske war alles, was von der sozialen bourgeoisen Ordnung ausgeschlossen wurde: der groteske Körper, die Armen und Prostituierten, die Kultur (das Vulgäre und Kontaminierte) und die Materie (Schmutz). Das transgressive Potential des Karnevals und anderer populärer Festlichkeiten, wie das Feiern, Trinken, Gewalt und Spektakel wurden marginalisiert und unter Beobachtung und sozialer Kontrolle gestellt. Es wurde aber nicht ganz aus der Kultur entfernt, sondern in andere Bereiche, wie der Kunst und der Psychoanalyse (in Form des Unterbewussten) abgeschoben. Das unterdrückte Karnevaleske kehrte in seiner ambivalenten Mixtur von Attraktion und Ekel, in Form von Horror und Faszination, Nostalgie und Verlangen zurück. Oberflächliche Modelle demystifizierten solche »Tiefenmodelle« von einer wesentlichen Subjektivität, denn sie teilen die Beschäftigung mit sozialen Aspekten von Phänomenen, die von allen gesehen werden können und nicht in einer psychischen Tiefe liegen. Objekte dieser Oberflächenuntersuchung sind die Sprache, der Diskurs, und die Performance. Zur Sprache schreibt Tseëlon, dass das erste Oberflächenmodell argumentiert, dass die sozialen und psychischen Parameter nicht die realen Strukturen tief in uns repräsentieren, da sie durch den Diskurs produziert werden. Das zweite Oberflächenmodell, die semiotische Thesis, wird im Beispiel von Barthes Idee erklärt, dass wir im Angesicht des Offensichtlichen blind sind. Die Zurückweisung der Psychoanalyse in der Suche um versteckte Bedeutungen wird auch als eine Verlagerung von der Analyse des Bezeichneten hin zur Analyse des Bezeichnenden.63 62 Vgl. ebd. S. 7. 63 Vgl. ebd. S. 8.
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Die zweite Oberflächenstruktur, die Performanz, findet ihren Ursprung in den Werken Austins, der, wie bereits näher behandelt, Sprechakte nicht als bloße Ausdrucksformen sieht, sondern als Handlungen. Der Begriff der Performanz wurde eigentlich eingeführt, um auf ein Ritual hinzuweisen. Die Beziehung zwischen Performanz und Subjektivität wurde von Judith Butler, wie bereits erwähnt, herausgearbeitet und sie schlug vor, dass die Identität durch körperliche Stile (wiederholte öffentliche Akte) konstituiert wird. Die Maske teilt einige Elemente mit diesen Modellen. Wie das Diskursive ist sie ambivalent und kontextuell und wie das Performative signalisiert sie Transformation und keine Fixiertheit, wobei die Maske eine Verlängerung des Begriffs der Performance darstellt.64 Wie die Performance ruft sie die Idee einer authentischen Identität hervor (»hinter der Maske« oder »hinter der Performance«), aber nur, um die Illusion einer solchen Identität zu enthüllen. Sie ist eine Dissimulation einer authentischen Identität. Tseëlon bezieht sich auch kurz auf die Masquerade von Riviere, betont aber, dass Rivieres Begriff von Weiblichkeit nicht dem Konzept von Lacan, des Fehlens oder der Nicht-Identität entspricht. Hinter Rivieres Maske ist immer etwas anderes. Für Lacan ist die Zurschaustellung von Weiblichkeit, wie jedes andere begehrte Objekt, das Maskieren einer Leere, etwas zu verstecken zu versuchen, was in Wirklichkeit gar nicht da ist. Für de Lauretis ist die Masquerade der Maske vorzuziehen, da sie die Maske als eine Einschränkung des Ausdrucks für die eigene Identität sieht und die Masquerade als Vergnügen für den Träger sieht, auch wenn sie von ihm verlangt wird.65 Tseëlon sieht das Konzept des Maskierens als breiteren und paradigmatischeren Begriff der Verkleidung. Das Maskieren ist fundamental dialektisch und kann sowohl als eine Technologie der Identität als auch als Mittel zur Hinterfragung dieser selbst benutzt werden, als Mittel zur Selbst-Definition und Dekonstruktion. Als Mittel zur Selbstdefinition konstruiert sie, repräsentiert sie, versteckt sie, enthüllt sie, beschützt, protestiert, hebt sie hervor, transformiert sie, verteidigt sie, gibt eine Erlaubnis für, ermächtigt sie, unterdrückt und befreit sie. Sie stellt für die Auslebung von gewünschten, erträumten, gefürchteten oder verbotenen Drehbüchern einen versteckten Platz zur Verfügung. Sie stellt verschiedene Bühnen zur Verfügung, um andere Möglichkeiten darzustellen, die den engen, streng definierten Rollen, die wir gewöhnlicher Weise einnehmen, entkommen. Als ein Mittel zur Dekonstruktion ist die Maske ein Moment der Reflexion. Es ist ein wichtiger postmoderner Artikel zur Destabilisierung von Kategorien, zur in Fragestellung von überschätzten Bildern, Problematisierung von Gewissheiten, Subversion etablierter Bedeutungen, Exponieren von künstlichen Fassaden und der Erzählregeln, die Praktiken des Rituals, 64 Vgl. ebd. S. 9. 65 Vgl. ebd. S. 10f.
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die Mechanismen der Kunst und die stilisierten Elemente der Performance.66
Männlichkeit als Masquerade Harry Brod hebt durch seinen Artikel hervor, dass die Maskulinität selbst eine Masquerade sei, obwohl das Männliche traditionell der Täuschung oder der Schauspielerei gegenübergestellt wurde. So verbietet Platon die Poesie in seinem idealen Utopia, weil ihr dramatisches Vortragen erfordert, dass jemand etwas zu sein vorgibt, was er gar nicht ist und Rousseau folgt Platons Anweisungen, indem er vor den korrupten Beeinflussungen der theatralischen Künstlichkeit auf die reine Seele eines edlen Wilden warnt. Genauso wie der amerikanische Cowboy, verkörpern »echte« Männer die primitiven, ungeschmückten, offensichtlichen und natürlichen Wahrheiten der Welt und nicht die täuschenden Effekte der urbanen Dandys, die auf einem Maskenball herumtänzeln. Die Masquerade hat ihren Ursprung im Femininen, wie Joan Riviere analysierte. Nur verweiblichte Männer würden eine Masquerade annehmen. Für jene, die eine solche traditionelle Ansicht teilen, bilden die Worte »männliche Masquerade« ein Oxymoron, einen Widerspruch in sich. Brod versucht zu erklären, wie wir überhaupt zu diesem Punkt gekommen sind, an dem wir die Männlichkeit als Masquerade bezeichnen können. Er setzt die Wurzeln einer Rekonzeptualisierung der Geschlechter mit dem Aktivismus in den 1960ern und 1970ern an. Die Diskussion über die Männlichkeit und Weiblichkeit wurde durch die Unterscheidung zwischen »sex« und »gender« eröffnet. Das eine ist ein Produkt der Natur, das andere ein Produkt der Kultur67- oder computer - technologisch gesehen, die Hardware und Software, wobei die letztere programmiert werden kann. Gender ist daher eine Rolle, keine biologische Bedingung. (Meiner »queeren« Meinung nach muss ich aber darauf hinweisen, dass auch die Hardware ausgetauscht oder neue Teile hinzugefügt werden können.) Das Konzept der Rolle, wie sie von soziologischen Theoretikern benutzt wird, wurde von der Theaterwelt ausgeborgt. Der entscheidende Punkt in diesem Konzept ist, dass die Rolle verschieden und unterschiedlich von der Person, die sie spielt, ist. Eine Rolle ist eine Performance, eine Darstellung einer Person, die vom Schauspieler abhängig ist. Das Konzept der Geschlechterrolle ist radikaler als sie auf den ersten Blick zu sein scheint, da eine Rolle zu spielen bedeutet, dass zwischen dem Geschlecht und dem eigenen Wesen kein Zusammenhang
66 Vgl. ebd. S. 11f. 67 Vgl. Harry Brod »The Masculine Masquerade« in: Andrew Perchuk, Helaine Posner (Hg), The Masculine Masquerade. Masculinity and Representation, Massachusetts/England, 1995, S. 13.
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besteht , denn eine Rolle zu spielen, bedeutet, das eigene Geschlecht von einem Selbst zu trennen.68 Feministinnen zeigen, dass Geschlechterrollen Herrschaftsbeziehungen sind. Die wichtige feministische Entdeckung ist, dass, indem das Geschlecht genannt wird, nicht einfach eine geschlechtliche Unterscheidung stattfindet, sondern auch und damit viel mehr ein Machtsystem, das als Patriarchat, Sexismus oder männliche Herrschaft bezeichnet wird. Dann kam es zu einer Multiplizierung der Rollen hinsichtlich der Klasse, »Rasse«, Ethnizität, sexuelle Orientierung, Religion, Alter, Aussehen, mentale und physische Fähigkeiten, usw. Dies führte aber zu einer Unterminierung der erklärenden Macht dieser Rollentheorie. So kam es zu einer alternativen Theorie, die in den späten 1980ern und frühen 1990ern auftauchte. Eine Geschlechterrolle ist mehr als eine Rolle, die auf einen geschriebenen Text beruht, der dann auf einer Bühne aufgeführt wird, sie ist eine Performance, ein »enactment«, die durch einen Handelnden durchgeführt wird, der unabhängig von dem gegebenen Text der Rolle ist. Für die Geschlechter als Performance Theorie, ist das Geschlecht nicht etwas, das wir sind, sondern etwas, was wir tun.69 Das Geschlecht ist eine kodifizierte Form der Aktivität, der sozialen Praktik, die sich auf Individuen anhängt, die diese sozialen Strukturen internalisieren. Das Geschlecht ist kein bloßes Attribut, das den Individuen zugeschrieben wird. In seiner radikalsten Form löst die performative Theorie des Geschlechts die fundamentale Unterscheidung zwischen »sex« und »gender« auf, indem sie argumentiert, dass es eigentlich nur »gender« gibt. Die Unterteilung der Menschen in zwei verschiedene biologische Geschlechter ist nicht mehr als eine soziale und ideologische Konstruktion.70 Laut Brod ist es nur ein kleiner Schritt vom Geschlecht als Performance zum Geschlecht als Masquerade. Zwischen den beiden steht die Metapher der »Maskulinität als Masquerade«, die schon 1979 in Paul Hochs »White Hero, Black Beast: Racism, Sexism and the Mask of Masculinity« (London, 1979) erklärt wird. Hoch bezieht sich auf Freud und argumentiert, dass das, was maskiert und unterdrückt wird, um ein Gesicht der Männlichkeit zu zeigen, ein früherer weiblicher analer Eros ist. Eine Verdrängung, die auch der Unterdrückung der Homosexualität dient. Diese männliche Maske wird auch getragen, um eine normative, performanceorientierte, phallische, heterosexuelle und männliche Sexualität zu erlangen.71
68 Vgl. ebd. S. 14. 69 Vgl. Judith Butler: Gender Trouble. Feminism and the Subversion of Identity, New York, 1990 und: Bodies That Matter: On the Diskursive Limits of »Sex«, New York, 1993. 70 Vgl. John Stoltenberg: Refusing to Be a Man. Esssays on Sex and Justice, Portland, 1989. Vgl. auch in: The Masculine Masquerade, a.a.O., S. 16. 71 Vgl. ebd. S. 17.
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Zwischen der Konzeptualisierung von Geschlecht als Performance und der von Geschlecht als Masquerade gibt es einen grundlegenden Unterschied, da die Masquerade einen Unterschied zwischen dem Künstlichen und dem Realen hervorruft. Aber es ist genau dieses Bild einer Wahrheit, die sich hinter der Fiktion versteckt, die von der performativen Geschlechtertheorie zurückgewiesen wird, denn für sie gibt es nur die Performance. Unsere Geschlechterperformance ist künstlich, in dem Sinne, dass sie von uns kreiert wurde und demzufolge nicht natürlich ist. Die Masquerade ist ein Schritt zurück in die Richtung der Rollentheorie, da sie eine wahre oder reale Person hinter der Maske vermuten lässt, steht aber dennoch der Performancetheorie näher als der Rollentheorie.72 Brod bezieht sich lieber auf die Vielheit der Männlichkeiten, vor allem in Bezug auf die U.S. Nachkriegserfahrungen in den 1950ern, als sich die Angst vor der Erosion der Männlichkeit verbreitete. Diese Angst entstand durch verweiblichte »Beats« und andere Rebellen, die das bedrohliche (für die etablierte Kultur) Spektrum der Homosexualität sichtbar machten, durch die Technologisierung der Arbeit und dem Einzug der Frauen in die Arbeitswelt, welche die männliche Identität als Broterwerber erschütterte und durch die Technologisierung des Krieges, welche die Identität des Mannes als Krieger unterminiert.73 Brod betont, dass es drei Dekaden lang nach der Erscheinung des Artikels von Sherry B. Ortner »Is Female to Male as Nature is to Culture?«74 dauerte, um zu entdecken, dass Männer genauso in der Natur verhaftet sind, wie Frauen, was vor allem mit der Erforschung des männlichen Körpers in Zusammenhang steht.75 Abschließend zur Theorie über die Maske und Masquerade führt Sue Ellen Case einen Vergleich mit der Computerwelt an: »Die Tradition, eine Maske aufzusetzen, könnte man als Praxis interpretieren, eine Gesichtsprothese für die Übertragung kulturellen Wissens zu benutzen. Die Maske könnte sogar im wörtlichen Sinn als Zwischen-Stück (»Inter-face«) zwischen dem einzelnen Körper und der gesellschaftlichen Geste angesehen werden.«76 Die Maske als Gesichtsprothese oder Inter-face für die Übertragung kulturellen Wissens zu sehen ist ein gutes Beispiel, um die Konstruktion von der männlichen und weiblichen Maske und somit die Klassifikation in zwei Geschlechtern in unserer Kultur zu erklären. Obwohl ich betone, dass 72 Vgl. ebd. 73 Vgl. ebd. S. 18. Und Barbara Ehrenreich: The Hearts of Men: American Dreams and the Flight from Commitment, New York, 1983. 74 In: M. Zimbalist, R. und L. Lamphere (Hg.), Woman, Culture, and Society, Stanford, 1974. 75 Vgl. ebd. S. 19. 76 Sue Ellen Case: »Cyberbodies auf der transnationalen Bühne« in: Die Philosophin. Forum für feministische Theorie und Philosophie, Nr. 24 (Dezember 2001), S. 12.
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zwischen dem Körper und der Zuschreibung eines Geschlechts kein Zusammenhang bestehen muss, zumindest nicht so, wie es die jetzige Kultur vorschreibt, und zwar, dass auf einen mit bestimmten sexuellen Merkmalen definierter anatomischer Körper ein genau definiertes und dem Körper entsprechendes soziales Geschlecht gesetzt wird. Zusammenfassend über die subversive Maske und Masquerade wiederhole ich, dass die Weiblichkeit als Masquerade verdeutlicht, dass es die Weiblichkeit als Original nicht gibt, wie auch Riviere in ihrer Analyse feststellt. Es wird versucht, den Blick der/s Betrachter_In zu kontrollieren und strategisch auf etwas hinzulenken, das in Wirklichkeit nicht vorhanden ist. Sie zeigt, wie schon Judith Butler feststellte, dass die Geschlechterkopie von keinem Original abhängt. Diese Strategie ist im Gegensatz zu den vorhergehenden (Ironie, Parodie, Camp) rein visuell. Die Anderen können zumindest eine mehr oder weniger starke rhetorische oder literarische Komponente besitzen, welche die subversive Strategie innerhalb der Sprache (sei nun gesprochen oder schriftlich) verortet. Bei Camp wie auch bei der Geschlechterparodie können beide, visuelle und rhetorisch/literarische, Strategien vorkommen. Zum Beispiel ist Camp in den Werken Oscar Wildes literarisch.
Musikbeispiele Suzanne Vega Beispiele für eine feine Unterscheidung zwischen der Maske als Bürde für die eigene (geschlechtliche) Identität und der Masquerade als ein vergnügliches Spiel, wie sie Teresa de Lauretis andeutet, liefert Suzanne Vega in ihren Songtexten von »Private goes Public« und »As girls go«. »Private goes Public« »Smile no smile On this face today Jerk like a thing on a string And go join the parade Code will keep your privacy in It won't help to win friends Influence strangers Or otherwise be in the swim Mask will keep your features in check Cause face is the place Where the private goes public And steps through the gate
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Take your last kick now At any regime Smile no smile See if they see what you mean Da da da...«77
In diesem Lied singt sie über die Maske, die das Private vor dem Öffentlichen schützt und sobald ein Schritt durch die Tür zur Öffentlichkeit gemacht wird, kümmert sich die Maske, die aufgesetzt wird, darum, dass die gesellschaftlichen Codes eingehalten werden. »As Girls Go« »You make a really good girl As girls go Still kind of look like a guy I never thought to wonder why If I could pull this off Would I know for certain The real situation Behind the curtain So beautiful damsel in distress Not exactly natural Stunning none the less What happened to you? To make you more girl than girls are Would you ever show or tell Cause you're so good so far You make a really good girl As girls go Let's chronicle The dark side of the life Did you ever keep the date With the steel side of the knife Doesn't matter to me Which side of the line You happen to be At any given time You make a really good girl As Girls Go«78
77 Suzanne Vega: Private Goes Public, auf »99,9F°« Universal, 1992. European Version. 78 Suzanne Vega: As Girls Go, auf »99,9F°« a.a.O.
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Die Masquerade macht ihn weiblicher als eine Frau oder ein Mädchen, singt Suzanne Vega. Sie fragt sich, ob er es jemals zeigen wird, denn seine Masquerade scheint perfekt zu sein. Sie kennt aber die wahre Situation hinter dem Vorhang. Sie ist schön, aber nicht unbedingt natürlich, dennoch erstaunlich. Aber trotz allen Vergnügens bei dieser Masquerade gibt es eine dunkle Seite in seinem Leben, da eine Verabredung mit der Stahlseite des Messers in Erinnerung bleiben kann. Suzanne Vega betont aber, dass es ihr egal ist, auf welcher Seite er/sie zu welcher Zeit auch immer steht. Auf jeden Fall macht sie sich als ein richtig gutes Mädchen.
Peaches »Downtown« – Musikvideo Ein Video, das sowohl die männlichen als auch die weiblichen Masqueraden und Masken verdeutlicht, ist »Downtown« von Peaches. Der Song ist auf dem Album »Impeach My Bush« 2006 (XI Recordings) erschienen. Darin spielt sie die beiden Protagonist_Innen selbst, einen Mann und eine Frau, die sich in einer Wohnung treffen. Das Publikum bemerkt auch, dass die Performance der Frau wie des Mannes eine Masquerade ist, obwohl es sehr realistisch dargestellt ist, nicht, wie auf dem Album »Fatherfucker«, wo gewisse Details (wie falsche lange Wimpern) auf das jeweilige andere Geschlecht hinweisen. Der Hinweis erfolgt durch die Einblendung von lebensgroßen Puppenköpfen im Badezimmer, wobei einer einen angeklebten Bart hat. Nach dem gemeinsamen Liebesakt auf dem Bett bringt die Frau den Mann um und schreitet nach vollendeter Tat als zur Hälfte Mann/Frau aus der Tür.79 Peaches führt in diesem Video das aus, was McRobbie als postfeministische Masquerade bezeichnet. Diese neue Masquerade vieler Frauen wird als lizenzierte, ironische, quasi-feministische Darstellung der Weiblichkeit im Exzess beschrieben.80 Wichtig dabei ist auch, dass die Signale der Hyperweiblichkeit wie Stiletto-Stöckelschuhe oder enge Röcke als freie Wahl gesehen werden und nicht als eine Verpflichtung. Diese postfeministische Masquerade (verkörpert auch durch die so genannte »Fashionista«) ist eine Strategie, die ihren unerzwungenen Status betont, aber die Theatralität der Masquerade, jener schräge Hut, oder der zu kurze Rock, die zu hohen Stöckelschuhe, sind wieder einmal eine Hervorhebung der weiblichen Verwundbarkeit, der Fragilität, Unbestimmtheit und tiefsitzender Angst durch das männlichen »Nicht«-Verlangen bestraft zu werden. Sowohl Butler als auch Riviere schrieben über die sublimierte Aggression gegenüber Männlichkeit und der männlichen Dominanz in der Form der Masquerade.81 McRobbie betont, dass diese post-feministische 79 http://www.youtube.com/watch?v=awKR4vQi5xY vom 21.1.2008. 80 Vgl. Angela McRobbie: the aftermath of feminism. Gender, culture and social change, London, 2009, S. 64. 81 Vgl. ebd. S. 67.
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Masquerade die Unterwerfung der weißen Frau unter die weiße männliche Dominanz wiederum versichert, wie auch durch das Beispiel der Protagonistin von »Bridget Jones’s Diary« verdeutlicht wird. Peaches entspricht auch der Figur des phallischen »girls«, welche eine Gleichheit mit dem männlichen Verhalten vortäuscht und Aggression und unweibliches Verhalten auch bei Frauen erlaubt. Das phallische »girl« erweckt den Eindruck ihren männlichen Kollegen ebenbürtig zu sein. Sex ist für sie ein leichtherziges Vergnügen, eine Freizeitaktivität, Hedonismus und Sport. Auch nimmt sie folgende männliche Verhaltensweisen an, wie starkes Trinken, Fluchen, Rauchen, Raufereien, aber das alles ohne ihr eigenes Verlangen an Männern nachzuverlässigen. Das allerdings ist ein schwieriger Seiltanz, denn einerseits sollen sie ihre Männlichkeit darstellen, andererseits aber auch die Weiblichkeit, die sie für Männer so begehrenswert machen.82
Annie Lennox »Diva« – CD-Cover Auch Annie Lennox beherrscht das Spiel mit der Maske und Masquerade beider Geschlechter, wie auch schon ansatzweise im Kapitel über androgynen Camp gezeigt wurde. Simon Reynolds und Joy Press beschreiben Annie Lennox als den weiblichen David Bowie, in ihrem schultergepolsterten Männeranzug, rotem Haar und dem kantigen Aussehen ähnelt sie dem »Thin White Duke«.83 Ein weiteres Beispiel für eine verwirrende männliche (vom Verhalten und den Aussagen her) und weibliche (Aussehen betreffend) Masquerade ist der Song »I Need A Man« (vom Album »Savage« von 1987), in dem die weibliche Protagonistin Männer so behandelt, wie Macho-Männer Frauen behandeln. Ihre Verachtung ist genauso offensichtlich wie ihre Lust. Im Video ist Lennox so aufgeputzt und trägt dicke Make-up Schichten, dass sie auch genauso gut ein männlicher Transvestit sein könnte. Sie wirkt wie ein Mick Jagger in »drag«, indem sie eine makellosen Imitation der von Disco-Elementen geprägten Geilheit zeigt, die für die Stones Mitte der siebziger Jahre kennzeichnend waren84, und ihre Wiederholung des Wortes »Baby« klingt auch sehr herabwürdigend.85 »»I Need A Man« ist ein Möbiussches Band der Geschlechterverwirrung: Spielt Lennox einen Mann in Frauenkleidung, der einen männerfressenden Vamp darstellt, einen »wirklich« weiblichen Vamp oder ganz etwas anderes?«86
82 Vgl. ebd. S. 84. 83 Simon Reynolds and Joy Press, The Sex Revolts, a.a.O., S. 294. 84 Vgl. Joy Press und Simon Reynolds »Who's That Girl? Maskerade und Herrschaft« in: Lips. Tits. Hits, a.a.O., S. 163. 85 Vgl. Simon Reynolds and Joy Press, The Sex Revolts, a.a.O., S. 296. 86 Joy Press und Simon Reynolds »Who's That Girl? Maskerade und Herrschaft« a.a.O., S. 163.
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Ein ähnliches aber sanfteres Spiel scheint Anni Lennox noch einmal auf ihrem 1992 erschienen Album »Diva« zu betreiben. Das Cover zeigt sie in weiblicher Masquerade – in einer typischen »Drag Queen« Aufmachung: eine pinke und orange Federboa als Kopfschmuck und Haarersatz, gelber Lidschatten, Kajal und knallroter Lippenstift. Abbildung 13: Diva
Quelle: Annie Lennox: Diva, BMG, 1992. Stan Hawkins hat eine ähnliche Meinung zu Annie Lennox doppeltem Spiel mit der Geschlechtermasquerade: »[...], Lennox, in foregrounding her masquerade as a distancing strategy, appears to transform all the wellworn normative realities of gender in a dazzling semiotic play. This is framed by the imaginative space of the pop promo – a space where identity can easily be interpreted as queer.«87 Durch die weibliche Masquerade bei Lennox soll die Grenze zwischen ihrer Weiblichkeit und der Maske verwischt werden, was es aber im Endeffekt nicht tut. Erstens ist schon ihre Weiblichkeit nicht genau definiert, da sie sonst ein androgynes Bild von sich selbst gibt und zweitens wird durch das »drag« selten eine einfache Täuschung oder Umkehrung erzeugt, sondern eine Hinterfragung des Originals. »Based upon a strategy of queering, it seems that Lennox dons the mask of the drag artist to blur the divide between her »womanliness« and masquerade. This occurs through a cunning process of renegotiation. Yet, casting aside for a moment, the potency of the female artist in drag, there are implications here that are problematic. For imitation transports with it the meaning of the »derivative« or »copy« in order to confirm the original of itself. Particularly in gender imitation, 87 Stan Hawkins: Settling the Pop Score. Pop Texts and Identity Politics, England/USA, 2002, S. 124.
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simple inversions never, in reality, take place. [...] Thus, the problematics of Lennox’s transgression are located in a logic of inversion where she replicates a femme role for the more androgynous role she knows her fans are familiar with. Intent in making her position crystal clear, Lennox sets out to emphasise her pose on the album cover. As a snap shot from the opening promo video of the song, »Why«, this image seems to brilliantly thematises the female diva bent on playing with drag in all her glory.« 88
Stan Hawkins beschreibt die multiplen Charakteristiken ihrer Konstruktion als Diva als das, was Butler ein Set an psychischen Identifizierungen beschreibt. Diese Identifizierungen destabilisieren die fixen Bedeutungen von Geschlecht und Sexualität. So gesehen macht die Identifizierung Lennox‘ den Verlust jeglicher Art von Identität deutlich. Hawkins geht so weit zu behaupten, dass diese Identitätskategorien, die sie produziert, beabsichtigen, die Wiederholung der kompulsiven Heterosexualität zu unterbrechen.89 Abschließend meint er: »Very much like Madonna, she longs to escape the confines of socially defined gendered identity by journeying into a world of unlimited guises and masks. Generally one has the impression that Lennox goes out of her way to control the gaze of the viewer to her advantage. And this is most borne out by her spectacular manoeuvres of masquerade that seductively entice us into a visual space where gender constructions are playful.«90
Zum Abschluss dieses Kapitels soll noch einmal hervorgehoben werden, dass weiterführende Forschungsarbeiten zur weiblichen Masquerade oder »femme« noch ausstehen, zum Glück sind aber bereits einige Projekte im Gange, wie folgendes Beispiel ein Workshop in Sevilla 2007 beweist: Stars aus der populären Kultur eignen sich besonders gut zur Analyse einer weiblichen Masquerade und so entwickelten die »ex_dones« ein Projekt, dass sich »Pantojismo« nennt, nach Isabel Pantoja, einer andalusischen »Copla«91 Sängerin, benannt. In diesem Prozess des Erlernens der Hyper»femme«inität geht es nicht nur um die ästhetischen Zugaben, sondern auch die emotionale Komponente, vor allem die Liebe, die Eifersucht und das Schicksal darf nicht fehlen. Die pathetischsten Momente eines Liebeslebens werden in Worten und Handlungen parodiert.92 88 89 90 91 92
Ebd. S. 124f. Vgl. ebd. S. 125. Ebd. S. 127. Die »Copla« kann als folkloristischer Schlager umschrieben werden. Vgl. Itziar Ziga »Playing with Our Latin Female« in: femmes of Power, a.a.O., S. 97. Zu diesem Workshop, an dem ich auch selbst teilnahm, gibt es ein Video auf »YouTube«, das kurz einen Ausschnitt aus einer Nachrichtensendung des spanischen Fernsehens zeigt, in dem über »Pantojismo« berichtet wird: http://www.youtube.com/watch?v=GahICLa6rog »El pantoj-ismo entra en la universidad« (23/05/2007).
T R AC K 05: M I M E S I S /M I M I K R Y – »POETISCHE ÄSTHETIK«
Laut Thomas Metscher kann der Begriff »Mimesis« im Deutschen am Besten mit dem Wortfeld »Darstellung, Ausdruck, Ähnlichmachung, Nachahmung, sinnliche Vergegenwärtigung, Präsentation/Repräsentation«1 wiedergegeben werden. Weiters erklärt er, dass sich von dem Stammwort »mimos« folgende Wörter herleiten lassen: »»mimeisthai, mimesis, mimema, mimetes, mimetikos. »Mimeisthai« bedeutet »darstellen, ausdrücken, ähnlich machen, nachahmen« [...]. »Mimos« und »mimetes« bezeichnen die Personen, die die Mimesis vollziehen, »mimema« das »Ergebnis mimetischen Handelns«. »Mimesis« ist die Handlung selbst.«2 Anfänglich bezog sich die Mimesis auf magisch-rituelle Tänze, wie Hermann Koller durch ethnologische Untersuchungen herausfand. In den Feierlichkeiten wurde das Spiel als Ausdrucksweise für das verstanden, was unserer Wahrnehmung sonst entgeht. Metscher erwähnt weiters, dass die Bedeutung von Mimesis als »Darstellung« durch »Ausdruck« ersetzt wurde, denn die sinnliche Vergegenwärtigung von etwas, das nicht im Alltag wahrgenommen wird, stand im Mittelpunkt: »Das vergegenwärtige Etwas kann dabei als Naturkraft, Dämon, Gott oder Seele vorgestellt sein. Mimesis, im ursprünglichen Sinn, hieße dann Vergegenwärtigung in sinnlicher Form eines Abwesenden [...].«3 (Hervorhebung im Original)
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Thomas Metscher »Ästhetik und Mimesis« in: Thomas Metscher (Hg.), Mimesis und Ausdruck, Köln, 1999, S. 36. Ebd. Ebd.
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An t i k e M i m e s i s Mimesis wird sowohl als Repräsentation als auch als Imitation gesehen. Valeriano Bozal betont aber, dass Mimesis ursprünglich »Repräsentieren« in einem speziellen Sinn bedeutete, der am besten mit dem Begriff des Kolosses erklärt werden kann. Damit werden auch der Zusammenhang mit den magisch-rituellen Tänzen und eine Vergegenwärtigung von etwas nicht Vorhandenem erklärt. Mit dem Koloss ist eine Figur mit großen Dimensionen gemeint, die uns beeindruckt und einer anderen Ebene zugehört, eine, die höher ist als die unsere. So befanden sich Kolosse zum Beispiel auf beiden Seiten des Eingangs zu den ägyptischen Tempeln. Auf alle Fälle ist kolossal ein Synonym für groß und monumental. Das Monumentale beeindruckt und ist einfach, direkt und evident, verbindet sich mit der Umgebung und trägt dazu bei, es zu organisieren, ein bestimmtes Ambiente zu schaffen.4 Dies ist laut Bozal eine zeitgenössische Erklärung des Kolosses, mit dem Terminus »kolossós« bezogen sich die Griechen auf ein anderes Phänomen. Der Koloss war doppelt, er erlaubte diese Welt mit einer anderen, jener der Toten, in Verbindung zu bringen.5 Die Tugend des Kolosses wurzelt nicht in der Ähnlichkeit, sondern zeigt sich in den objektiven Zügen, wie den Materialien und den Formen, denen im Laufe einer rituellen Handlung Wert beigemessen wird. Dieser Punkt ist für das Verstehen der Mimesis der antiken Griechen wichtig. Es sind Charakteristiken, die auch für Platon und Aristoteles von Bedeutung sind. Der Koloss ist ein harter, undurchsichtiger Stein. Die Versteinerung ist auch ein Symbol des Todes, die Unmöglichkeit einer zyklischen Natur, der Fruchtbarkeit oder des Wachstums. Der Stein ist unbeweglich, ihm fehlt es an »animus«. Das Gedenken vor dem Koloss ist ein Ersatz. Die formalen und materiellen Eigenschaften sind wichtig, aber nicht genügend, um einen Toten zu mimetisieren. Es braucht ein Ritual, dass seine Ankunft erlaubt, die Versammlung und die Anrufung ist für seine Herstellung wichtig. Mit dem Ritus wird der Stein zum Koloss, zum Doppelgänger. Der Doppelgänger ist etwas Komplementäres, verschieden vom Bild. Es ist kein natürliches Objekt, aber auch kein geistiges Produkt, weder eine Imitation eines realen Objekts, noch eine Illusion des Geistes, auch keine Kreation des Denkens. Der Doppelgänger ist eine Realität außerhalb des Subjektes.6 Die Mimesis des Kolosses ist eine Verkörperung in materialen und formalen Elementen mithilfe eines Ritus, der, wie jede sakrale Handlung, Resultate erzielt – die Präsenz des Todes. In dieser Verkörperung setzen sich zwei verschiedene Welten in Kontakt und das Unzugängliche wird
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Valeriano Bozal: Mímesis: las imágenes y las cosas, Madrid, 1987, S. 66f. Ebd. S. 67. Ebd. S. 68f.
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präsent, so erklärt Valeriano Bozal den mimetischen Charakter des Kolosses.7 Er geht auch auf die Etymologie der Mimesis ein und schreibt, dass sie von »mimos« und »mimeisthai« kommt, Begriffe, die sich ursprünglicherweise auf eine Persönlichkeitsveränderung bezogen, die in gewissen Ritualen stattfand, in denen die Anhänger fühlten, dass sie andere Naturwesen, die nicht menschlicher Herkunft waren, göttlich oder tierisch, verkörperten. Mimeisthai heißt nicht imitieren, sondern vielmehr repräsentieren, ein anderes Wesen, das von einem entfernt ist, verkörpern.8 Meiner Ansicht nach kann dieses Ritual mit dem Koloss in der heutigen Zeit mit dem Ritual eines Konzertbesuches verglichen werden. Der Koloss ist mit dem Kult um eine Rock/Popband oder einen Stars vergleichbar, er/sie oder es ist im Sinne des Kolosses unerreichbar und monumental, beeindruckend. Das Ritual des Konzertbesuches ist für die Ankunft eines solchen »Kolosses« organisiert, die Konzertbesucher_Innen versammeln sich und »rufen« den Koloss »an«. Die Anhänger des Ritus, in diesem Falle die Fans, repräsentieren und verkörpern das Idol oder die Band.
Platon Aber nun wieder zurück zum antiken Mimesisbegriff: Mimesis wird von Platon in einem philosophischen Sinne verwendet und dient ihm zur Kritik am Wahrheitsanspruch der Dichtung. »Diese gilt ihm, gleich den anderen Künsten, als Nachahmung dritten Rangs der Ideen: Abbild von Abbildern, der Künstler als bloßer Nachbildner (Politeia, Zehntes Buch). In seiner Diskussion der Bedeutung des Künstlers im politischen Gemeinwesen unterscheidet er zwischen drei Arten von Produzenten: dem Wesensbildner (d.i. der intellectus archetypus, der göttliche Verfertiger von Urbildern oder Ideen, im platonischen Beispiel: »der Verfertiger des wahrhaft seienden Bettgestells«), dem Werkbildner (d.i. der materielle Produzent, im Beispiel der Tischler) und dem Künstler als dem bloßen Nachbildner. Dieser produziert nicht, sondern reproduziert lediglich die Produktionen anderer. So vermag er zwar alles zu kopieren, doch sind seine Kopien nur »Schattenbild« und »Erscheinung«, kein »Wirkliches«. Kunst ist leere Imitatio, Abbildung von Abbildern.«9 (Hervorhebung im Original)
So unterteilt Platon im späteren »Sophistes« die »bilderzeugende« Kunst (mimetike) in »ebenbildnerische« und »scheinbildende« bzw. »trugbildnerische«. Dabei wird die ursprüngliche Bedeutung von tänzerischer Darstel7 8 9
Ebd. S. 69. Ebd. S. 70. Thomas Metscher, Ästhetik und Mimesis, a.a.O., S. 37. Und Platon: Der Staat, 595c-599d, München, 1991, S. 424-431.
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lung beibehalten, die Konnotation von abbildender Wiedergabe hinzugenommen und Platons Konzept der Mimesis bezieht sich auf alle Künste, sowohl auf Malerei und Plastik, als auch auf Dichtung, Tanz, Musik und Architektur.10 Zusammenfassend schreibt Thomas Metscher: »Die Vieldimensionalität und »Plastizität« [...] des antiken Mimesisbegriffs ist zu konstatieren. Angelegt in ihm sind die Grundmuster auch der modernen Begriffe ästhetischer Mimesis. In der Vielschichtigkeit der Bedeutungen dominieren Darstellung und Ausdruck durch körperliche, sprachliche, musikalische und bildstiftende Handlungen, nicht im Sinne der Wiederholung des faktisch Geschehenen, sondern des »Erfahrbarwerdenlassens« des Möglichen im Wirklichen, der Versinnlichung des Wesens in der Erscheinung. Erst die »Übersetzung« von Mimesis im Sinn von Imitatio und Nachahmung legt eine Bedeutung nahe, die bis in die Gegenwart hinein ein verbreitetes Vorurteil dem Widerspiegelungs- bzw. Mimesisbegriff insgesamt unterstellt hat: die bloße Wiedergabe dessen zu meinen, was ohnehin bekannt oder empirisch der Fall ist.«11
In der Neuzeit haben sich, nicht zuletzt durch die Vermittlung des arabischen Aristotelismus, drei unterschiedliche Mimesisbegriffe herausgebildet: Erstens der realismus-theoretische Mimesisbegriff, welcher die »Kunst als Mimesis des gesellschaftlichen Lebens und gesellschaftlicher Handlung, meist bezogen auf Literatur und Theater, oft auch im Bild eines Spiegels gefasst, der menschliches Leben in seinen Tugenden und Lastern spiegelt und das Wesen des Zeitalters enthüllt«12 sieht. Zweitens die ontische oder externe Mimesis (Imitation/Nachahmung im engeren Sinn), welche die Nachahmung natürlicher Dinge ist, das Prinzip der imitation naturae also, was vor allem in den Bildenden Künsten und ihrer Theorie zum Einsatz kommt. Metscher meint dazu, dass die Künste an die Seite der empirischen Wissenschaft gestellt werden, »weil das Prinzip ontischer Mimesis für beide gilt: Kunst wie Wissenschaft sind Abbildungen der natura naturata: der Welt in der Vielfalt ihrer Erscheinungen.«13 Drittens der ontologische (bzw. interne) Mimesisbegriff, »im Sinn der Vorstellung, dass der Künstler nicht die erscheinende Natur in der Form ihrer Erscheinung, sondern die ihr inhärenten Formprinzipien nachbildet [...]: nicht die Natur nachahmt, sondern nach ihrem Vorbild, wie die Natur schafft, also in Analogie zu den in ihr wirkenden Gesetzen. [...] In diesen Zusammenhang gehört auch die Auffassung, die Musik als Repräsentation kosmi-
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Ebd. und Platon: Sophistes, 23. Kapitel, Leipzig, 1914, S. 63ff. Thomas Metscher; Ästhetik und Mimesis, a.a.O., S. 39. Ebd. Ebd. S. 40.
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scher Harmonie begreift (so Johannes Kepler, Harmonices mundi).«14 (Hervorhebung im Original) »Zu sehen ist, dass die drei Begriffe von Mimesis sich ergänzen. Die ontische Mimesis ist orientiert an Wirklichkeit als einer unendlichen Vielfalt natürlicher Erscheinungen (physis), die den Menschen und seine Welt einschließt. Der realismustheoretische Mimesisbegriff ist orientiert an gesellschaftlicher Wirklichkeit in der dieser zukommenden Dialektik von Gegebenem und Möglichem. Die ontologische Mimesis ist gleichfalls an Wirklichkeit orientiert, doch nicht an ihren phänomenalen Erscheinungsformen, sondern an inhärenten Prinzipien: ihren inneren Kräften und Bauformen – den Strukturen also des erscheinenden Seins. Die drei Begriffe der Mimesis sind drei Dimensionen der einen Sache wirklichkeitsorientierter Kunst.«15 (Hervorhebung im Original)
Platon schrieb über die negative Seite der Mimesis in »Die Gesetze« und über den mimetischen Charakter im Tanz oder in der Musik und zeigte auch ihre erzieherische Seite: »Das die Chortänze Nachahmungen menschlicher Verhaltungsweisen sind und es mit mannigfachen Handlungen, Schicksalen und Sinnesarten zu tun haben, wie sie in jedem einzelnen Fall durch Nachbildung dargestellt werden, so werden notwendigerweise diejenigen, deren durch Natur oder Gewohnheit oder durch beides bestimmter Sinnesweise das durch Wort oder Gesang oder irgendwie tanzmäßig Dargestellte entspricht, daran auch ihre Freude haben und werden es loben und schön nennen; diejenigen dagegen, denen es wider ihre Natur oder Sinnesweise oder Gewohnheit ist, können sich unmöglich darüber freuen noch es loben, sondern es nur hässlich nennen. Diejenigen aber, bei denen Natur und Gewöhnung in Widerspruch miteinander stehen, indem entweder bei rechtschaffender Naturanlage die Gewöhnung die entgegengesetzte Richtung einhält oder aber gute Gewöhnung sich der fehlerhaften Naturanlage entgegenstellt, werden ihr Lob so erteilen, dass es mit dem in Widerspruch steht, was ihnen tatsächlich Vergnügen macht. Denn sie nennen dergleichen Darstellungen zwar vergnüglich, erklären sie aber für verwerflich und im Beisein anderer Leute, denen sie Einsicht zutrauen, schämen sie sich dergleichen Körperbewegungen vorzuführen, schämen sich auch dergleichen Sangesweisen hören zu lassen als ob sie sie im Ernste für schön ausgeben wollten; im Geheimen aber haben sie ihre Freude daran.«16
In der Musik und im Tanz können die Charaktere der Personen imitiert werden, die schlechten und die guten Eigenschaften, weshalb diese Modelle laut Platon zur Entwicklung des eigenen Charakters bei jungen Menschen beitragen können.
14 Ebd. 15 Ebd. S. 41. 16 Platon: Gesetze, Zweites Buch: 655-656, Hamburg, 1988, S. 44f.
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»Wenn also einer das bloße Lustgefühl als ausschlaggebend für die Beurteilung der musischen Kunst hinstellte, so werden wir dieser Ansicht keine Berechtigung einräumen und werden eine solche Musenkunst, auch wenn es vielleicht eine gibt, nicht als einen Gegenstand ernstlichen Bemühens gelten lassen, sondern nur diejenige, die in der Nachahmung des Schönen ihr Ziel – die volle Ähnlichkeit – erreicht.«17
Platon meinte dabei auch, dass Jugendliche jene Musik oder jenen Tanz hören oder praktizieren sollen, welche/r die Mäßigung und die Rationalität, die Ordnung und das Maß verkörpert. Der Gesetzgeber sollte alles, was mit der Musik oder dem Tanz in Verbindung steht, aufzeigen, da es eine Angelegenheit der Stadt ist und keine private oder individuelle Frage.18 »[...] vielmehr soll jene Kunst den Preis der Schönheit davontragen, die das Wohlgefallen der sittlich Besten und gründlich Gebildeten erweckt, und an erster Stelle jenes Einen, der hervorstrahlt durch Tugend und Bildung. Unerläßlich aber, so behaupten wir, ist für die Richter auf diesem Gebiet die Tugend deshalb, weil sie neben der Einsicht und dem, was zu ihr gehört, vor allem auch der Tapferkeit bedürfen.«19
(In »Der Staat« geht Platon sogar so weit, dass er über die Vertreibung des Künstlers aus der Stadt spricht.) Die gleichen Elemente, auf die sich die mimetische Tugend der Musik stützt, nämlich auf die Harmonie und den Rhythmus, erlauben es, die Rationalität und das erhebende Moment zu bestärken. Gleichzeitig zeigen sie den Weg, auf dem die Mimesis ihre Erklärung findet: nicht auf einer empirischen Ähnlichkeit, was in der Musik unmöglich ist, sondern auf der Existenz zweier gemeinsamer Züge von zwei ähnlichen Motiven, die eine betrifft die edelste Seite unserer Seele und die andere die mathematische Struktur der musikalischen Komposition. Es gibt keine Imitation, aber einen gemeinsamen Kontaktpunkt. Platon sieht die Musik nach den traditionellen Zuordnungen allerdings sehr geschlechterdifferenziert, die er auch so gesetzlich verankern lassen will: »Ferner wird es nötig sein, die für das weibliche und für das männliche Geschlecht sich eignenden Gesänge nach einer bestimmten Norm zu unterscheiden und ihnen also auch die entsprechenden Melodien und Rhythmen zu geben. Denn es wäre unverzeihlich, wenn Harmonie und Rhythmus in vollem Widerspruche stünden mit der (darzustellenden) Sache selbst, indem man den Gesängen eine Form gibt, die in keiner Weise charakteristisch ist für die genannten Unterschiede. Es ist also notwendig, bestimmte Formen dafür gesetzlich festzu17 Ebd. Zweites Buch: 668, S. 63. 18 Valeriano Bozal, Mimesis, a.a.O., S. 75. 19 Platon, Gesetze, Zweites Buch: 658f, a.a.O., S. 49.
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legen. Man muß aber beiden beides auch in entsprechender Weise zuteilen, dabei aber die Bestimmungen für das weibliche Geschlecht eben durch den Unterschied in der Natur beider auch genau erläutern. Das Erhabene (in der Tonweise) also und auf die Tapferkeit hinweisende ist als männliche Art anzuerkennen, der Zug nach dem Sittsamen und Bescheidenen hin ist als mehr dem weiblichen Geschlecht angemessen hinzustellen und so soll es durch Gesetz und Erläuterung geschehen.«20
In »Der Staat« spricht er über die imitierenden Künste: Der Maler imitiert die Bilder, die Dinge sind aber nicht nur Bilder und weit von der Wahrheit entfernt, wodurch er laut Platon die Menschen mit seinen Täuschungen betrügen kann. Der Poet ist nicht nur ein Imitator der Bilder mit Bildern, denn auch er koloriert und imitiert mit Worten und Sätzen. Beide sind Imitatoren, die nichts vom Wesen verstehen, nur von den Erscheinungen, beide kennen die Wahrheit dessen, was sie imitieren, nicht.21 »»Lieber Homer«, müssen wir fragen, wenn du also hinsichtlich der menschlichen Tüchtigkeit nicht bloß dritter im Abstand von der Wahrheit und nicht nur der Erschaffer eines Bildes bist, als den wir den Nachahmer definiert haben, sondern wenn du auch zweiter bist und also erkennen konntest, welche Bestrebungen die Menschen im häuslichen und im öffentlichen Leben besser oder schlechter machen, so sage uns nun, welche Stadt durch dich zu einer besseren Verfassung gekommen ist.«22
Der Grund, warum Poeten nicht in einer idealen Gemeinschaft akzeptiert werden können, ist die Mimesis. Platon benützt das Wort mit einer vor allem visuellen Bedeutung: Sie schlägt eine Bild vor, ein visuelles Bild, das sich auf die Imitation oder Re-präsentation bezieht. Die Poetik liefert ein armes und wenig verlässliches Wissen, so sagt es Sokrates im zehnten Buch in »Der Staat«, es ist also die Imitation aus zweiter Hand einer bereits aus zweiter Hand stammenden Imitation. Der Philosoph kommt am ehesten in die Nähe eines Wissens der wahren Wirklichkeit aus erster Hand. Er kann die Form, die Ideen oder die ideale Form der Dinge sehen und kann die Imitationen aus diesem Grund missachten. Die geringe Moralität der Kunst kommt von ihrem mimetischen Kurs: Die Kunst ist mit dem empfangsbereiten Wissen der Sinne verbunden, was so viel heißt wie, dass es auch unsere schlechtesten Teile in Anspruch nehmen wird und den sich ärgernden und komplizierten Charaktertyp imitiert, anstatt des idealen Ruhigen und Guten und uns eher ein zweifelhaftes Vergnügen gibt, als die ideale und wahre Befriedigung.
20 Ebd. Siebentes Buch: 802f, a.a.O., S. 285. 21 Valeriano Bozal, Mimesis, a.a.O., S. 77. 22 Platon, Der Staat, 599d, München, 1991, S. 431f.
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»Das also war der Sinn meiner Behauptung, als ich sagte, die Malerei und die nachahmende Kunst überhaupt verrichte ihr Werk weit weg von der Wahrheit: sie gebe sich mit dem Teil in uns ab, der der Besinnung fern steht, und sei mit ihm als Hetäre befreundet, und zwar zu keinem guten und wahren Ende.[...] Die nachahmende Kunst ist also minderwertig, verkehrt mit dem Minderwertigen und gebiert Minderwertiges.«23
Sokrates verweigert sogar Homer in der Stadt zu verweilen, wenn er die Mimesis in seiner Kunst benützt. »Und du musst wissen, dass Homer der größte Dichter überhaupt und der erste unter den tragischen Dichtern ist. Doch sollst du wissen, dass wir von der Dichtung nur Götterhymnen und Loblieder auf die tüchtigen Männer in die Stadt aufnehmen dürfen. Nimmst du aber die lustvolle Muse auf, sei es in lyrischer oder in epischer Form, dann werde in deiner Stadt Lust und Schmerz König sein statt des Gesetzes und der Vernunft, die sich noch immer und überall als das Beste erwiesen hat.«24
Es scheint also, dass es auch eine Poesie gibt, die nicht mimetisch ist.25 Trotz dieses hypothetischen »wenns« ist das Wesen der Poetik doch die Mimesis, so versichert Sokrates, dass der Imitator nichts Wertvolles von den Dingen, die er imitiert, weiß, aber dass die Mimesis eine Form des Spiels ist, das nicht ernst genommen werden kann. Und dass jene, die sich in tragischer Poesie versuchen, egal ob in jambischen oder heroischen Versen, alle Imitatoren (mimetikous) sind. »Im andern Falle aber, lieber Freund, halten wir es wie die, die einmal in jemanden verliebt waren, sich aber dann mit Gewalt losreißen, weil sie diese Liebe für schädlich halten. Infolge der Liebe zu dieser Dichtung, die uns durch die Erziehung in unseren schönen Staaten eingepflanzt worden ist, werden wir wohlwollend mitansehen, daß sie als ganz vorzüglich und wahr erscheint. Solange sie sich aber nicht zu rechtfertigen weiß, wollen wir, während wir sie anhören, uns diesen unseren Grundsatz als eine Zauberformel vorsprechen und uns in Acht nehmen, daß wir nicht wieder in die kindische und bei der großen Menge übliche Liebe verfallen. Wir werden also zuhören, in der Überzeugung, daß man eine solche Dichtung nicht ernst nehmen darf, als ob sie etwas mit der Wahrheit zu tun hätte und eine ernsthafte Sache sei, sondern dass sich jeder Zuhörer, der um die Verfassung in seinem Inneren besorgt ist, vor ihr hüten und das glauben muß, war wir über die Dichtung gesagt haben.«26
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Ebd. 603a, S. 438. Ebd. 606d, S. 444. Arne Melberg: Theories of mimesis, Cambridge, 1995, S. 11. Platon, Der Staat, 608a, München, 1991, S. 445f.
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Aber dieser berühmte Schluss des zehnten Buchs der Republik wäre ein sehr effizientes und zwingendes Argument, wenn da nicht dieses »wenn« stünde, als eine gewisse Ambiguität, wie Melberg aufdeckt. Dieses Paradox wird niemals direkt angesprochen, aber es ist in Platons Argument gegen die mimetische Poesie präsent: das Argument selbst ist mimetisch. Platon verwirft die Poesie poetisch, es ist der Dichter Platon, der die Dichter zurückweist.27 Mimetische Aktivitäten werden von Platon auch mit Termini, wie »pseudos« und »pharmakon« beschrieben. Melberg schreibt dazu folgendes »The latter means poison as well as antidote, and Plato drifts between the oppositions indicated by the very word. That is, mimesis can be prescribed as a drug to be used under control and in moderation – only to be rejected in the next sentence as a dangerous poison. The pseudo-world, says Socrates a bit further on in the text, is of no interest to the gods, but it can be used by man as a pharmakon (389B); and he comes to the conclusion that mimetic lying should be restricted to experts who know how to handle the stuff! (The real addict was, after all, Plato himself, who stubbornly uses dialogical form – thereby mimetically creating a pseudo-world – to represent the mimetically uncontaminated world of ideas.)«28 (Hervorhebung im Original)
Den ersten zögernden Schritt zur Ausweisung der Dichter aus der idealen Stadt macht Platon im dritten Buch in »Der Staat«. Diese Zurückweisung wird im zehnten Buch wiederholt und dramatisiert. Der nächste Schritt ist für Sokrates Beispiele aus dem »Ilias« oder der »Odyssee« aufzuzählen, die von einem vernünftigen Unterricht verbannt werden sollen. Sokrates versichert, dass der Grund für die Verbannung keine minderwertige Poesie ist, sondern ganz im Gegenteil, es ist eine schöne Poesie. Aber umso poetischer sie ist, umso weniger ist sie für die Ohren von Buben und Männer geeignet, die dazu bestimmt sind, frei zu sein. Melberg definiert dies als erste Version des bekannten »umso besser, umso schlechter« Argument in der moralischen und kritischen Ästhetik.29 Sokrates zeigt, auf welche Art Mimesis nicht nur ein Bild oder eine Repräsentation ist, sondern auch eine Art und Weise des Repräsentierens. Die Definition ist einfach, das heißt die Geschichte auf eine mimetische Art zu repräsentieren (dia mimeseos), so zum Beispiel: Die Stimme eines anderen eher in direkter Rede zu benutzen als seine eigene Stimme in direkter oder indirekter Rede. Ein Beispiel dazu, das Sokrates aus dem »Ilias« benützt ist, wie Homer uns von Chryses erzählt, als er Agamemnon für seine Tochter anfleht. So berichtet Homer laut Sokrates die Geschichte so, als wäre er selbst Chryses und versucht uns glaubhaft zu machen, dass 27 Arne Melberg, Theories of Mimesis, a.a.O., S. 12. 28 Ebd. S. 15. 29 Ebd.
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nicht er, Homer, der Sprecher ist, sondern der Priester, ein alter Mann. Melberg fügt dem hinzu, dass so auch Platon selbst seine Forschung oder Analyse über die Mimesis, eine Kritik an diese inkludierend, in genau derselben Art und Weise präsentiert, und er eigentlich Sokrates als mimetisch definieren und kritisieren sollte.30 Platons dritte Zurückweisung der Dichter findet sich in »Die Gesetze«, wo er über den Athenischen Fremden spricht, der plötzlich erkennt, dass die Diskussionen über die ideale Stadt genauso wie ein Gedicht geführt wurden. Die Stadt, die er in seinem Kopf gebaut hat, imitierte das ideale Leben und wurde so zu einer Mimesis des wahren Lebens. Wenn sich ein Dichter dieser idealen Stadt mit einer Tragödie in seiner Hand nähert, dann wird er mit der Beobachtung empfangen werden, dass er überflüssig ist, denn die, welche dort leben, sind bereits Dichter in dem von allen möglichen am besten konstruierten Kunstwerk. Platon gibt hier die Analogie für die gehobene Dichtung zu.31 »Haben wir nun nicht erst vor Kurzem dich behaupten hören, der Gesetzgeber dürfe den Dichtern nicht erlauben ganz nach ihrem Belieben zu dichten? Denn sie wüssten ja nicht, ob sie nicht etwas den Gesetzen Widersprechendes vortrügen und dadurch den Staat schädigten? [...] Eine alte Mär, mein lieber Gesetzgeber, von uns selbst oft nachgesprochen und von allen geglaubt, sagt, dass ein Dichter dann, wenn er auf dem Dreifuß der Muse sitzt, nicht recht bei Sinnen sei, sondern wie eine Quelle alles, was sich hervordrängt, willig hervorsprudeln lässt, und, da seine Kunst Nachahmung ist, sich gezwungen sieht, wenn er Menschen von einander entgegengesetzter Sinnesart darstellt, häufig mit sich selbst in Widerspruch geraten ohne zu wissen, ob die eine oder die andere Aufstellung wahr ist. Der Gesetzgeber dagegen darf sich bei einem Gesetze dessen nicht schuldig machen: er darf nicht zweierlei Reden über ein und dieselbe Sache vorbringen, sondern über eine Sache stets nur eine Rede.« 32
Aristoteles Melberg erkennt auch, dass sich Aristoteles gegen Ende der »Poetik« auf diese Kritik von Platon an Homer bezieht und sich gegen diese stellt, in dem er Homer lobt, weil er nicht zu exzessiv in seiner eigenen Stimme spricht, aber uns nach ein paar Worten der Einleitung sofort einen Mann, eine Frau oder einen anderen Charakter auf die Bühne bringt.33 30 31 32 33
Ebd. S. 16f. Ebd. S. 20f. Platon, Gesetze, Viertes Buch: 719, a.a.O., S. 136. Arne Melberg, Theories of Mimesis, a.a.O., S. 17. Aristoteles: Die Poetik, Kapitel 24, Stuttgart, 2002, S. 83: »Homer verdient in vielen Dingen Lob, insbesondere auch darin, dass er als einziger Dichter nicht verkennt, wie er zu verfahren hat. Der Dichter soll nämlich möglichst wenig in eigener Person rede; denn insoweit ist er nicht Nachahmer. Die anderen Dichter setzen sich fortwährend selbst in Szene und ahmen nur weniges und nur selten
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»Da der Dichter ein Nachahmer ist, wie ein Maler oder ein anderer bildender Künstler, muß er von drei Nachahmungsweisen, die es gibt, stets eine befolgen: er stellt die Dinge entweder dar, wie sie waren oder sind, oder so, wie sie sein sollten. All dies wiederum wird in einer sprachlichen Form ausgedrückt, in der Glossen und Metaphern und viele Veränderungen der Sprache enthalten sind; denn dies gestehen wir ja den Dichtern zu.«34
Aristoteles Mimesis ist durch den Mythos und die Praxis (Handlung) definiert, die das Konzept in die Nähe von Zeit und Aktion bringt, im Gegensatz zur Platons Mimesis, die näher zum Bild, Imagination und Imitation steht.35 »Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, [...]. Die handelnden Personen die Nachahmung vollführen, ist notwendigerweise die Inszenierung der erste Teil der Tragödie; dann folgen die Melodik und die Sprache, weil dies die Mittel sind, mit denen die Nachahmung vollführt wird. [...] Nun geht es um Nachahmung von Handlung, und es wird von Handelnden gehandelt, die notwendigerweise wegen ihres Charakters und ihrer Erkenntnisfähigkeit eine bestimmte Beschaffenheit haben.«36
So wird der platonischen Mimesis durch den Mythos und die Praxis bei Aristoteles eine neue Funktion gegeben und vielleicht wird in der Poetik sogar eine konzeptuelle Ordnung errichtet und sozusagen Platons Mimesis »detoxicated«. Viele Kommentare zur Mimesis bei Aristoteles betonen auch, dass seine Mimesis im Vergleich zu der von Platon, kreativ und produktiv sei. Aristoteles definiert die Kunst als Mimesis und dass der Künstler ein Schaffender ist. Bei Platon ist die Mimesis passiv und imitierend. Diesen dynamischen Charakter bekommt die Mimesis bei Aristoteles durch die Einführung des zeitlichen Elements.37 Aristoteles stellt sich die poetische Arbeit als ein »nachher« vor, das immer ein »vorher« hat. Die poetische Arbeit imitiert oder re-präsentiert das, was zeitlich vorher kam. Platon sorgt sich um die moralischen Effekte der Poetik, wohingegen Aristoteles bei der Psychologie bleibt und wiederholt zum schauderhaften Terror (phobos) oder Mitleid (eleos) zurückkehrt, den die Tragödie beim Zuschauer auslöst, der daher das wiederholt oder imitiert, was vorher auf der
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nach. Homer dagegen lässt nach kurzer Einleitung sofort einen Mann oder eine Frau oder eine andere Person auftreten; hiervon ist keine ohne Charakter, vielmehr eine jede mit einem Charakter begabt.« Aristoteles, Die Poetik, Kapitel 25, a.a.O., S. 87. Arne Melberg, Theories of Mimesis, a.a.O., S. 44f. Aristoteles, Die Poetik, Kapitel 6, 1449b-1450a, a.a.O., S. 19. Arne Melberg, Theories of Mimesis, a.a.O., S. 45.
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Bühne stattgefunden hat und das wiederum wiederholt und imitiert, was vorher als Aktion stattgefunden hat.38 Aristoteles zeigt in der »Poetik«, dass die Mimesis zum Menschen von Kindheit an gehört, denn mit ihrer Hilfe lernt und erlangt er neue Kenntnisse. Anhand der Mimesis erklärt Aristoteles den Unterschied zwischen Philosophie und Kunst. Der Philosoph versucht die Ähnlichkeit im Wesen zu produzieren, es geht um »das ist jenes« und nicht wie beim Künstler, wo die Ähnlichkeit im Aussehen oder Anschein liegt, also im »das scheint jenes zu sein«. 39 (Hervorhebung im Original) Paul Ricoeur bezieht sich in seinem Werk »Zeit und Erzählung« auch auf den aristotelischen Mimesisbegriff als schöpferische Nachahmung die Betonung legt er damit »auf den Bruch, der den Fiktionsraum eröffnet«40. Er analysiert die Mimesis hinsichtlich der verschiedenen Zeiterfahrungen in einem Text und teilte diese in drei Teilaspekte ein: Mimesis I: ist die erste Schnittstelle zwischen Lebenswelt und Text, in der sich die Erzählung der Parameter aus der Realität bedient und auf die prinzipielle Narrativierbarkeit von Erfahrung verweist. (z. B. die Lebensgeschichte) Mimesis II: = entspricht dem aristotelischen Begiff des »Mythos« und bezeichnet die intratextuelle Gestaltung bzw. Konfiguration der fiktionalen Welt. (z. B. Fabelkomposition). Mimesis III: ist der zweite Schnittpunkt zwischen Wirklichkeit und Text, an dem die Konfiguration der fiktionalen Welt auf die Welt des Lesers trifft. (z. B. professionelle, literaturwissenschaftliche Lektüre).41
Mimesis und Musik Auf das Problem der Repräsentation in der Musik bei den griechischen Philosophen geht Roger Scruton in seinem Werk »The Aesthetics of Music« näher ein. Die Mimesis, oder Imitation, wird in diesem Zusammenhang sowohl von Platon als auch von Aristoteles erwähnt, denn sie behaupteten, dass auch die Musik eine Form der Mimesis ist. Die Musik, die sie meinten, wurde gesungen, getanzt oder zu ihr wurde auch marschiert. Das Ding, welches imitiert wurde, wurde auch automatisch von der Person, die sich mit der Musik bewegte, imitiert. Roger Scruton betont, dass Platon keine Anstrengung unternimmt, um das Wort Mimesis zu definieren. Platons Gebrauch dieses Begriffes erstreckte sich über alle Arten der Imitation im Leben, von der Imitation, durch die ich lerne, bis zur Imitation, durch die ich lächerlich mache, aber auch, um alle Formen der künst38 Ebd. S. 46. 39 Valeriano Bozal, Mimesis, a.a.O., S. 83. 40 Paul Ricoeur zitiert in: Vera und Ansgar Nünning (Hg.), Erzähltextanalyse und Gender Studies, Stuttgart, 2004, S. 75f. 41 Vgl. ebd. S. 76.
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lerischen Bedeutung zu beschreiben. In Platons Sinne, unterscheidet die Mimesis nicht zwischen Repräsentieren, Ausdrücken, und bloßem Kopieren.42 Seine Theorie fußt auf zwei Behauptungen, erstens, dass die Imitation des Charakters durch die Musik auf demselben Phänomen beruht, wie die Imitation des Charakters durch eine Person und zweitens, dass unser Interesse an der Musik eine Art von Engagement involviert, die für das Tanzen, Mitsingen oder Dabeisein wichtig ist.43 Die kritische Sichtweise der Mimesis bei Platon, wie ich bereits vorher angeführt habe, erklärt uns Wayne D. Bowman in »Philosophical Perspectives on Music« auf seine Weise: »Ideals are the eternal models by which all particular instances or concrete occurences are recognized or evaluated. Since in this account of things particulars always fall short of their archetype, the universal of which they are particular examples, all particular things in the world are in some way or other imitations of their ideals. This is the Platonic doctrine of mimesis. Plato’s world, then, consists of varying degrees or levels of reality, the ideal that are most real, faithful imitations that are »somewhat« real, and faulty imitations or outright deceptions that only distort and falsify.«44
Mimesis und Wiederholung Arne Melberg weist auf ein weiteres Merkmal der Mimesis hin, die Wiederholung (die auch in der Parodie eine wichtige Rolle spielt). Zwei verschiedene Arten, um das Phänomen der Mimesis zu analysieren und zu beschreiben, gibt er preis: Erstens ist die Veränderung von Mimesis hin zur Wiederholung das Resultat eines historischen Prozesses, bei dem die Moderne, die er im 18. Jahrhundert ansetzt, eine entscheidende Wichtigkeit einnimmt. Die moderne Entwicklung der Mimesis resultiert paradoxerweise in ihrer Erfüllung und Auflösung, das heißt, dass die Ähnlichkeit der Differenz den Weg frei macht. Zweitens ist die Mimesis in sich selbst schon immer eine Wiederholung, was soviel bedeutet wie, dass die Mimesis immer ein Treffpunkt von zwei gegensätzlichen, aber dennoch verbundenen Arten des Denkens, Agierens und Machens ist: Ähnlichkeit und Differenz.45 Melberg bezieht sich in seinem Buch über die Theorien der Mimesis vor allem auf diese zweite Art und erwähnt das Werk von Erich Auerbach »Mimesis« von 1946, das die ganze Geschichte der Mimesis innerhalb der Tradition einer 42 Roger Scruton: The Aesthetics of Music, New York, 1997, S. 118f. 43 Ebd. S. 390. 44 Wayne D. Bowman: Philosophical Perspectives on Music, York/Oxford, 1998, S. 26. 45 Arne Melberg, Theories of mimesis, a.a.O., S. 1.
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literarischen und textuellen Analyse erzählt. Die für ihn am interessantesten Beobachtungen macht Auerbach über das mimetische Spiel der Ähnlichkeit und der Differenz, nicht im Begriff der Repräsentation, sondern im Begriff der Figur, des figurativen Stils und der figurativen Interpretation. Weiters erwähnt er Gunter Gebauers und Christoph Wulfs Buch »Mimesis. Kultur-Kunst-Gesellschaft«. Sie nennen ihren Ansatz historische Anthropologie und sie fertigen eine Skizze der Veränderungen der Mimesis (von den archaischen Bildern bis zur modernen Imagination und darüber hinaus zur post-historischen Zeit des Simulakrum) an, wo die Mimesis mit ihrem Verschwinden zusammentrifft: Es ist nichts mehr übrig zur Imitation, wenn alles bereits Imitation ist und das Originale vorbei oder verschwunden ist. Die historische Zäsur kommt mit der Moderne, im ästhetischen Denken von Diderot, Lessing, Moritz und Kant verortet. Sie wählten Lessing als den Denker aus, der die Zeit in die mimetische Repräsentation einführte. Die Zeit ist als das entscheidende Charakteristikum der Poesie von Lessing entdeckt worden. Melberg kritisiert hier aber, dass die Zeit auch schon vorher bei Platon und Aristoteles als Problem in der Ästhetik behandelt wurde. Sogar das Simulakrum kann von einer antiken Diskussion über Ähnlichkeit und Differenz hergeleitet werden.46 Melberg betont, dass die Mimesis niemals ein homogener Terminus ist und auch wenn ihre grundlegende Bewegung zur Ähnlichkeit hin ist, so ist sie immer auch zum Gegenteil hin offen. Heidegger bestand zum Beispiel, als er die griechische, speziell Platons Mimesis diskutierte, darauf, dass das Konzept auf die Wahrheit ausgerichtet ist, aber auf der Distanz von der Wahrheit basiert, eine Nachahmung hingegen war es nicht. Im Gegenteil, die Mimesis basiert auf dem Faktum, dass der Künstler nicht die Wirklichkeit als Ähnlichkeit reproduzieren kann. Es ist viel eher eine Produktion im Nachhinein. Die Mimesis ist in ihrem Wesen durch die Distanz situiert und definiert. Heideggers Nachmachung als eine Definition von Mimesis ist wie die Wiedererkennung H. G. Gadamers, eher produktiv als imitierend. Diese Definitionen stehen nahe zur Wiederholung als Konzept und Terminus, der die Last der Mimesis erbt, wenn wir die Zeit der Moderne betreten und verschiedene Strategien der Wiederholung, die z. B. von Nietzsche, Freud oder Deleuze benützt werden, finden.47 Walter Benjamin analysiert diese unterschiedliche Wiederholung in »Zum Bilde Prousts« (1929) näher. Proust schaffte es in seinem Werk »A la recherche du temps perdu«, die Kraft der Zeitlichkeit zu zeigen sowie gleichzeitig eine traditionelle Mimesis zu unterscheiden und zu dissoziieren und so die literarische Moderne anzusagen. Benjamin benutzt den Terminus »Ähnlichkeit«, um uns zu erklären, dass Prousts Welt in der »À la recherche du temps perdu« einer Welt entspricht, die im Zustand der Ähnlichkeit entstellt ist. Das Wort Ähnlichkeit inkludiert bereits die Diffe46 Ebd. S. 2f. 47 Ebd. S. 4.
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renz und das Verb entstellt zeigt, dass etwas fehl am Platze ist, korrumpiert und verunstaltet.48 »Da ist Prousts frenetisches Studium, sein passionierter Kultus der Ähnlichkeit. Nicht da, wo er sie in den Werken, Physiognomien oder Redeweisen, immer bestürzend, unvermutet aufdeckt, lässt sie die wahren Zeichen ihrer Herrschaft erkennen. Die Ähnlichkeit des Einen mit dem Andern, nur die tiefere der Traumwelt, in der, was vorgeht, nie identisch, sondern ähnlich: sich selber undurchschaubar ähnlich, auftaucht.«49 Proust, der für seinen Bruch mit der traditionellen Mimesis und seinem revolutionären Gebrauch der Zeitlichkeit berühmt ist, wurde dabei erwischt, wie er Varianten der Ähnlichkeit als Instrument für die Installierung zeitlicher Differenz benützt.50 Melberg beschäftigt sich näher mit Prousts leidenschaftlichem Ähnlichkeitskult, wie Benjamin es beschrieb und erforscht seine oftmaligen Vergleiche, Metaphern mit Metonymien vermischend. Proust benützt das Konzept der Metapher und somit den Ersatz und die Ähnlichkeit als ein wesentliches Moment in der Entwicklung des Protagonisten. Die Metapher ist die Wahrheit der Ähnlichkeit, die sich in der Welt der Differenz versteckt. Die Metapher ist die Wahrheit und die Wahrheit beginnt nur dann, wenn der Schreiber zwei verschiedene Objekte nimmt, ihre Verbindung herstellt und sie in einem guten Stil einbindet. Dies fasst laut Melberg einen poetischen Impuls zusammen: die Poetik einer metaphorischen Ähnlichkeit, die gebraucht wird, um die Welt der Differenz zu zeigen. Dieser poetische Impuls ist ein wesentliches Paradox in der Tradition der Mimesis.51 Bei Walter Benjamin ist die Mimesis nicht mit den visuellen Ökonomien Platons, welche Unterscheidungen wie wahr-falsch, Model-Kopie, wirklich-imaginär vorantreiben, verbunden, sondern mit sinnlichem Denken und ähnlichen Beziehungen. »Mimesis is not a means of ordering experience, but a »faculty« that enables alienated subjects to experience the other/the world. To rethink experience from within the divisions of subjectivity, we need to think mimetically, to let correspondence back into thought.«52 Walter Benjamin beschreibt die Theorie der Mimesis als historischanthropologisches Vermögen. Er entwickelt den Begriff eines mimetischen Vermögens, das in naturgeschichtlichen Prozessen verankert ist, »dafür ist der Begriff einer Ähnlichkeiten (»Mimikry«) erzeugenden Natur verantwortlich. Der Mensch erreicht laut ihm die höchste Stufe des mime48 Ebd. S. 6f. 49 Walter Benjamin »Zum Bilde Prousts« in: Gesammelte Schriften, Bd. II-1, Frankfurt am Main, 1991, S. 313f. 50 Arne Melberg, Theories of Mimesis, a.a.O., S. 7. 51 Ebd. S. 9. 52 Elin Diamond: Unmaking Mimesis. Essays on Feminism and Theater, London/New York, 1997, S. 153.
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tischen Vermögens, es ist dies die höchste Fähigkeit im Produzieren von Ähnlichkeiten, zu der auch die Gabe gehört, diese Ähnlichkeiten zu sehen. Außerdem ist sie die Grundlage kultureller Bildung.« (Hervorhebung im Original)53 Die Sprache ist für Benjamin die höchste Stufe der Mimesis. In ihr kommt es zu einer Verschmelzung des Semiotischen und des Mimetischen. Im Ästhetischen ist die Mimesis auf die Poesis als Träger angewiesen und in der Sprache auf die Semiotik.54 Das mimetische Vermögen wird bei Benjamin »als Produktivkraft verstanden, die ihren genetischen Ort in der Ähnlichkeiten erzeugenden Natur hat. Ja, die Struktur »natürlicher Korrespondenzen«55 durchwaltet die gesamte Natur, in einem Maß, sodass hier von einem naturontologischen Prinzip gesprochen werden kann. Im Menschen erreicht die Fähigkeit, Ähnlichkeiten zu erzeugen, ihre höchste Form: Mimesis ist für Benjamin (wie außer ihm vielleicht nur noch für Lukács) in der Geschichte menschlicher Kultur so zentral, dass diese geradezu als »Geschichte des mimetischen Vermögens« gelesen werden kann. Alle Kultur, vor allem Schrift und Sprache, sind Archiv historischer Erfahrung. Benjamin gewinnt diesen äußerst folgenreichen Gedanken kraft des Begriffs der unsinnlichen Ähnlichkeit. Unsinnliche Ähnlichkeit verweist auf die, der sinnlichen Erscheinungsform nicht ablesbaren, strukturellen Korrespondenzen (Homologien und Isomorphien), die Dingen und Zeichen eingeschrieben sind (die Reflexionsstruktur solcher Dinge und Zeichen, wie auch gesagt werden kann). Sprache und Schrift nun sind ein Archiv geschichtlicher Erfahrung, weil sie »ein Archiv unsinnlicher Ähnlichkeiten, unsinnlicher Korrespondenzen sind. [...] In der Sprache sind ganze Geschichtsstufen sedimentiert – sie ist das »vollkommenste Archiv der unsinnlichen Ähnlichkeit«.«56 Der linguistische »turn« ist ein bekanntes Zeichen der modernen Philosophie und der Literaturtheorie. So ist auch die Wiederholung (oder später Iteration) in der dekonstruktiven Strategie von Derrida ein wichtiges Instrument. Sowohl in »La Mythologie blanche« als auch in der »Economimesis« sieht Derrida die Mimesis als eine Version der klassischen metaphysischen Ontologie, die auf Analogie, »resemblance«, Ähnlichkeit, beruht. Seine Lektüre von Kant entdeckt die wahre Mimesis zwischen zwei produzierenden Subjekten und nicht zwischen zwei produzierten Dingen, das heißt, dass die wahre Mimesis eine Verdammung der Imitation und ein Tribut zur kreativen Imagination des Künstlers ist. Wie Heidegger, findet auch Derrida die klassische Mimesis in der »Physis«, wohingegen die Moderne, beginnend mit Kant, in die Imagination wanderte. Derridas eigene Wiederholung ist weder Physis noch Imagination, weder
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Thomas Metscher, Ästhetik und Mimesis, a.a.O., S. 43. Ebd. S. 44. Ebd. Ebd. S. 63.
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imitierend noch produktiv, sondern ein linguistisch motivierter Mechanismus, der in allen Versionen der Mimesis arbeitet.57 Dieses Argument von Melberg zeigt einen ontologischen »turn« an: Der historische Zugang zur Mimesis, der von Auerbach und Gebauer/Wulf mit der Zäsur der Moderne skizziert wurde, veränderte sich nach Nietzsche und mit Heidegger und Derrida in verschiedene mimetische Ordnungen und zu einer mimetischen Ordnung der Differenz hin. Dieser ontologische »turn« zu Gunsten der Differenz, kann als zwei Formen von Wiederholung zusammengefasst werden. Die eine geht auf die Ähnlichkeit zu, die andere auf die Differenz.58 Timothy Murray schätzt das literarische Ziel der Mimesisanalyse von Auerbach genauso utopisch ein, wie die unterschiedlichen Absichten von Platon und Aristoteles. Was nach Auerbach ohne Vorurteile in der Mimesis ist, ist die Vereinheitlichung und die Vereinfachung der Mimesis und ihre Fähigkeit, Wirklichkeit als externe und universale Konstante zu präsentieren. Der französische Poststrukturalismus fordert die Mimesis heraus, da die radikale Infragestellung des Originals, dem ersten Mal, der Ähnlichkeit, der Imitierung und ähnlicher Termini wie Natur, Kunst, Gleichheit, Originalität, Genie, Autorität, Souveränität, Patriarchat, aufdeckt, dass diese Begriffe nicht die utopischen Bedeutungen von Fiktion und Alltagsleben aufrechterhalten.59 Wie ich vorher bereits erwähnte, fängt in der Moderne das Verschwinden der Mimesis an, die Originale waren vorbei und sind verschwunden. Foucault erwähnt auch das Denken als Mime (Wiederholung ohne Modell). Die Mime ohne Modell, ohne originales Wesen, wurde durch eine aufregende Analyse der Sexualität auf einer verwandten politischen Front erforscht, die Mime, Masquerade und Performance als kulturelle Praktiken, die der Identitätspolitik der phallozentrischen, heterosexuellen Norm entgegen gesetzt sind, sieht. (z.B: Jacques Derrida, Luce Irigaray, Julia Kristeva, Jean-François Lyotard.) Judith Butler, Teresa de Lauretis und Sue-Ellen Case beziehen die Mimikry der Performance auf das »drag« und »camp« queerer Praktiken und Identitätspolitiken. Ein wichtiger Unterschied zur Geschlechterparodie ist, dass bei der Mimesis der Humor fehlt. Diese Strategie hat also den Vorteil, dass sie ernst genommen wird und nicht Gefahr läuft, etwas ins Lächerliche zu ziehen.60 Ähnliche politische Fragen wurden Homi K. Bhabha, Isaak Julien, Trinh T. Minh-ha gestellt, indem das Versprechen von Mime und Perfor-
57 Arne Melberg, Theories of mimesis, a.a.O., S. 5. 58 Ebd. S. 5f. 59 Timothy Murray »Introduction: The Mise-en-Scène of the Cultural« in: Timothy Murray (Hg.), Mimesis, Masochism and Mime. The Politics of Theatricality in Contemporary French Thought, Michigan, 1997, S. 2f. 60 Auf diese wesentliche Unterscheidung wies mich Prof. Lucille Cairns hin.
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mance für das Verstehen von postkolonialen Praktiken, Improvisationen und Widerstand angesehen wird.61 Julia Kristeva argumentiert hoffnungsvoll, dass die amerikanischen Experimental-Performances des Anderen in einer Wiederkehr des mütterlich Unterdrückten resultierte, durch die das feministische Theater, psychedelische Theater, schwarze Theater etc. - Alle verwenden dieselbe Struktur, um ein direkteres soziales und politisches Projekt zu erlangen. (Auf Kristeva und Bhabha gehe ich in diesem Kapitel über postkoloniale Mimikry noch genauer ein.) Régis Duran detailliert Marguerite Duras cinematische Erweiterung und Veränderung der politisch geladenen Beziehung zwischen weiblichem Ton und Bild. Josette Féral analysiert wie jüngste »mixed-media«-Experimente in der Performance eine Alternative zum Theater anbieten, indem sie in diesen extrem verschwommenen Verbindungspunkten die »différance« wahrnehmbar machen, aus denen das Subjekt hervorgeht.62
Mimesis und Macht Wie Metscher erwähnt, wird der Mimesisbegriff bei Adorno ontologischanthropologisch verankert, so, wie es Benjamin vermittelt hat. »Mimesis sei ursprünglich identisch mit »Mimikry«, der Angleichung von Tieren an die umgebende Natur zum Zweck der Selbsterhaltung, zu der sie aus Schrecken schutzsuchend in Erstarrungsreaktionen gelangen.«63 Mimesis wird in der »Dialektik der Aufklärung« als die Tendenz bezeichnet, mit der sich das Lebendige an die Umgebung verliert, anstatt sich an ihr durchzusetzen. Sie stellt den Hang dar, sich gehen zu lassen und in die Natur zurückzuziehen. Es ist also das Gegenteil vom sich herrschaftsgesteuerten Sich-Absetzen und Selbstbehaupten des Subjekts gegenüber der Natur. Die Mimesis kann im Extrem zu einem Sich-Verlieren des Subjekts im anderen führen.64 Adorno entwickelte einen dialektischen Mimesisbegriff, der die utopischen Möglichkeiten aufdeckt, die im mimetischen Verhalten impliziert sind, nämlich die Potentiale des Nicht-identischen. Die echte Mimesis geht auf das Nichtidentische in den gegebenen Sachen ein, dafür führt Adorno den Begriff der »ungegenständlichen Nachahmung« ein. »Diese ist nicht Imitation eines Wirklichen, sondern Vorwegnahme eines Anderseins, das noch gar nicht ist.« 65 61 62 63 64
Vgl. S. 3. Ebd. S. 21. Ebd. S. 45. Brigitte Scheer: Einführung in die philosophische Ästhetik, Darmstadt, 1997, S. 183. 65 Timothy Murray »Introduction: The Mise-en-Scène of the Cultural« in: Mimesis, Masochism and Mime, a.a.O., S. 46.
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Metscher erläutert die Doppelnatur der Mimesis näher: »Ihr eignet immer, als Erbe genetischer Mimikry, die Anpassung an ein Gegebenes. Diese ist die Bedingung der Reproduktion und des Überlebens, doch zugleich die Bedingung der Unterwerfung unter eine herrschende Macht, sei sie naturhaft oder sozial – der Unterwerfung auch unter Konvention, Überlieferung, Sitte. In diesen Zusammenhang gehören Akzeptanz von Herrschaft, Eingliederung in existente Machtformationen, gehören Phänomene wie Gleichmacherei, Herdenmentalität, Opportunismus. Ich spreche hier, bezogen auf soziale Herrschaft, von der ideologischen Funktion der Mimesis. Teil dieser Funktion ist ihr Einsatz in Formen sozialer und politischer Repräsentation. Die Dialektik der Mimesis nun besteht präzise darin, dass in dem Gleichen, was Bedingung des Überlebens, der Bildung und Selbstwerdung, Bedingung schließlich der Befreiung ist, auch das Potential der Unterwerfung und Selbstentfremdung steckt – Mimesis ist Bedingung der Freiheit wie der Unfreiheit. Nur eine Theorie, die sich dieses Doppelcharakters der Mimesis bewußt ist, kann ihre historische Komplexität und Funktion angemessen begreifen.« (Hervorhebung im Original)66 »Diese Dialektik nicht begriffen zu haben, ist Mangel eines großen Teils der vorliegenden Theorie. Haben humanistisch inspirierte Konzeptionen (bis in den Marxismus hinein) den Aspekt produktiver Bildung im mimetischen Vorgang einseitig hervorgehoben, so haben, im Zuge der antihumanistischen Wende der Kulturtheorie, poststrukturalistisch orientierte Theorien einseitig den Zusammenhang von Mimesis und Macht in den Mittelpunkt gestellt. Mimesis erscheint hier ausschließlich als Ausdruck oder Medium im Konstitutionsprozeß von Herrschaft und Autorität, oder auch als Form und Agens von Gewalt im Kampf der Individuen und Geschlechter. So unstrittig es ist, dass Mimesis historisch soziale Macht konstituiert hat und konstituieren kann, als Mittel ihrer Inszenierung dienlich war und ist (ich spreche von ideologischen Formen der Mimesis), so einseitig bleibt eine Theorie, die das Phänomen auf diesen einen Aspekt beschränkt. Wieder zeigt sich, dass allein eine dialektische Theorie die Wirklichkeit als Widerspruchsfeld – hier: die Mimesis in ihrer Zwienatur – beschreiben und in der Beschreibung auf den Begriff zu bringen mag.« (Hervorhebung im Original)67
Dieser dialektische Aspekt der Mimesis in Bezug auf die Macht, ist meiner Meinung auch mit Hilfe der Subversions- und Hegemonietheorie von Gramsci, Laclau und Mouffe, Nancy Fraser und Foucault erklärbar. Eine kurze Hegemonieanalyse sowie eine theoretische Abhandlung für subversive Möglichkeiten, führte ich bereits im Kapitel über Parodie durch. So sieht Sabine Bayerl in diesem dialektischen Mimesisbegriff bei Adorno ein utopisches Potiential, und zwar in dem Zauber, den die Kunst als Rest der magischen Phase auf uns ausübt. Mimesis kann sowohl die Assimilierung an eine erstarrte Umwelt sein, als auch das sympathetische 66 Ebd. S. 66. 67 Ebd.
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Verstehen. Daher ist für Adorno die Mimesis auch ein notwendiges Gegengewicht zur Rationalität.68
Affektive Modellierung Die Macht der Mimesis in einem hegemonischen System wirkt vor allem durch die affektiven und außergewöhnlichen Zustände, die durch die Mimesis erreicht werden können. Georg Lukács schreibt in seinem Kapitel »Magie und Mimesis« über den Zusammenhang dieser zwei Vorgänge folgendes: »Es handelt sich also, das Allgemeinste zusammenfassend, darum, daß durch Nachahmung von Vorgängen oder Gegenständen der Wirklichkeit diese selbst im gewünschten Sinne beeinflußt werden kann.«69 Riten sind oft mit ekstatischen Tendenzen verbunden, indem es um ein künstlerisches Hervorrufen gewisser subjektiver Zustände geht, »in welchen und über welche ein Glauben entsteht und verbreitet wird, daß sie den Menschen in sonst unerreichbarer Weise mit transzendenten Mächten in eine direkte Berührung zu versetzen imstande sind.«70 Ekstatische Zustände werden durch Tanz, Trunkenheit, toxische Exzesse, Selbstverstümmelung usw. erreicht und sind von außen nach innen angesetzte Handlungsreihen. Die so gewollte Übersteigerung der Affektivität und Sensibilität erreicht ein hohes Niveau, auf dem eine als beglückend empfundene Befreiung und Entlastung des Menschen erreicht wird.71 »Ekstase und Askese wollen dagegen den Menschen radikal aus dem normalen Leben herausreißen; die transzendente Wirklichkeit, die sie zu erzwingen beabsichtigen, soll einen absoluten Bruch mit diesem bedeuten.«72 Lukács stellt einen Vergleich mit dem Spielen junger Tiere an, in dem die Nutzbarmachung des Widerspiegelten verdeutlicht wird. Auch im Leben der Menschen erweckt das Spiel Lustgefühle, die an der Freude der so eben erworbenen Geschicklichkeit gebunden sind.73 »[...], da die mimetischen Gebilde vor allem Gefühle, Leidenschaften etc. zu evozieren berufen sind, muß jener, der die direkt (im Tanz, Schauspiel) oder indirekt (Dichtung, bildende Kunst etc.) hervorrufen will, diese Gefühle und Leidenschaften denkbar intensiv erleben; die Echtheit und Tiefe seiner Leidenschaft wird sich dann auf den Rezeptiven entsprechend 68 Sabine Bayerl: Von der Sprache der Musik zur Musik der Sprache. Konzepte zur Spracherweiterung bei Adorno, Kristeva und Barthes, Würzburg, 2002, S. 67. 69 Georg Lukács in: Georg Lukács Werke, Ästhetik Teil 1, Band 11: Die Eigenart des Ästhetischen, 1. Halbband. Neuwied, 1969, S. 379. 70 Ebd. S. 387. 71 Vgl. ebd. S. 388. 72 Ebd. S. 391. 73 Vgl. ebd. S. 399.
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übertragen.«74 Diese Kraft der Mimesis wie die Ekstase, die durch Gefühle und Leidenschaften auch beim Tanzen hervorgerufen werden kann, ist also eine Intensivierung von Eindrücken und Gefühlszuständen, die mich an die Tanzkultur des »Raves« erinnern und deren Droge Ecstacy. Bei meinem Musikbeispiel am Ende des Kapitels gehe ich näher darauf ein. Im späten Werk Lukács ist die Mimesis eine allgemeine Fähigkeit des menschlichen Bewusstseins. Die Mimesis befindet sich auf allen Stufen des menschlich-gesellschaftlichen Lebens: »als elementare Mimesis in Alltag und Arbeit, als theoretische Mimesis in der Wissenschaft), als ästhetische (»evokative«) Mimesis in der Kunst. Magie, Mythos und Religion bilden Zwischenstufen in der Herausbildung dieser fundamentalen Mimesisformen.« (Hervorhebung im Original) 75 Für Lukács ist die ästhetische Mimesis eine weltschaffende Mimesis: »Produktion von Wirklichkeitsmodellen in der ästhetischen Form je individueller Werkwelten; Form, in der historische Welt, menschliches Leben seiner selbst ansichtig wird, der Mensch sich als »Mensch ganz« erfährt, erfühlt und erkennt. Gegenstand der Kunst ist das gesellschaftliche Subjekt im Verhältnis zu sich selbst, zur Geschichte, zur Natur«76 Die Mimesisauffassung ist bei Lukács die Frage nach der Wahrheit der Kunst, so ist der »kategoriale Ort der Wahrheit der Kunst die Besonderheit: d.h. die Synthesis oder Einheit des Partikularen und Allgemeinen. Kunst konstituiert objektive Wahrheit im Modus der Besonderheit. Erst kraft dieser Eigenschaft – und das bedeutet konkret: kraft der ästhetischen Form – kann Kunst ihre »defetischisierende« Funktion (und überhaupt besondere Funktionen) erfüllen, hat sie Teil an der Mission der Menschheitsbefreiung.« (Hervorhebung im Original)77
»So steht im Zentrum der Kunst »die Vindikation der Rechte des Menschen in der Gesellschaft wie in der Natur«, ist die Kunst der immerwährende Kampf »für die Integrität des Menschen, gegen jeden Schein und jede Erscheinungsweise seiner Deformation.« (Lukács 1963, I, 697 f.) Jener Tatbestand ist angesprochen, den Lukács mit dem Begriff der Defetischisierung, dem Kern einer Theorie die Kunstfunktion, gefasst hat. »Das Konzept der Defetischisierung schließt die Auffassung ein, dass sich die Wahrheit der Kunst immer gegenüber dem falschen Bewußtsein von Ideologien, wie auch gegenüber den Fetischen des Alltagsbewußtseins behaupten und durchsetzen muß. Sie muß sich durchsetzen gegenüber den Deformationen des Le-
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Ebd. S. 430. Thomas Metscher, Ästhetik und Mimesis, a.a.O., S. 48. Ebd. S. 49. Ebd.
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bens, die stets Deformationen des Denkens und Fühlens einschließen. Künstlerische Wahrheit stellt sich nur im Durchbrechen von falschem Bewußtsein her, im Widerstand gegen Verdinglichung und Ideologie.«78
Thomas Metscher fasst die affektive Möglichkeit der Mimesis noch einmal zusammen: »Die Grundbegriffe der Mimesistheorie – Darstellung, Ausdruck, Nachahmung – beziehen sich auf das ganze Spektrum ästhetischer Totalität –, das Ganze der Kunst-Welten, die uns in der Geschichte der Künste entgegentreten. Kunst ist Nachbildung und vergegenwärtigende Darstellung lebensspraktischer Handlung und Erfahrung (der Praxis Begriff selbst, wie er hier verstanden wird, umschließt die Einheit von Handlung und Erfahrung), und sie ist Ausdruck: Artikulation und Kommunikation von Psyche: affektive Modellierung, wie gesagt werden kann.« (Hervorhebung im Original) 79
Feministische Mimesis Irigaray Irigaray hat sich in ihren Werken vor allem mit dem männlichen Blick in der Psychoanalyse und der Philosophie beschäftigt und analysiert beide Felder auf die Möglichkeiten hin, wie Frauen sich in den männlichen Diskurs einbringen können. Die Strategie, die Irigaray dabei am effizientesten schien, ist die Mimesis als ein Instrument, das die Frauen dem stereotypischen Blick der Männer erneut unterwirft, um diese vorurteilhaften Attribute in Frage zu stellen. Diese männlichen Auslegungen der Weiblichkeit werden nicht getreu wiederholt. So zum Beispiel, wenn eine dieser Ansichten ist, dass die Frauen unlogisch sind, so sollen sie logisch darüber reden. Diese Gegenüberstellung von logisch und unlogisch sollte die Meinung, das Frauen unlogisch seien, unterminieren. »Ailleurs de «matiére»: si les femmes peuvent jouer de la mimésis, c’est qu’elles peuvent en réalimenter le fonctionnement. Qu’elles en ont toujours nourri le fonctionnement? Le «premier» enjeu de la mimésis n’est-il pas de re-produire (de) la nature ? De lui donner forme pour se l’approprier? Gardiennes de la «nature», les femmes ne sont-elles pas celles qui entretiennent, qui permettent donc, la ressource de la mimésis pour les hommes? Pour le logos?«80 (Hervorhebung im Original)
78 Ebd. S. 50f. 79 Ebd. S. 72. 80 Luce Irigaray: Ce sexe qui n’en pas un, Paris, 1977, S. 73f.
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Ein anderes Beispiel ist, wenn die Frauenkörper als multipel und nicht festlegbar angesehen werden, dann sollen die Frauen von dieser Position aus auf eine spielerische Art und Weise sprechen und vorschlagen, dass diese Ansicht von einer männlichen Ökonomie herrührt, welche die Identität und Einheit (z. B. den Penis oder Phallus) wertschätzt und Frauen als das Andere (als das Fehlen, das »Nicht-Sehbare«, das Zerstreute) ausschließt. »Autrement dit, l’enjeu n’est pas d’élaborer une nouvelle théorie dont la femme serait le sujet ou l’objet, mais d’enrayer la machinerie théorique elle-même, de suspendre sa prétention à la production d’une vérité et d’un sens par trop univoques. Ce que suppose que les femmes ne se veuillent pas simplement les égales des hommes dans le savoir. Qu’elles se prétendent pas rivaliser avec eux en construisant une logique du féminin qui prendrait encore comme modèle l’onto-théo-logique mais qu’elles essaient plutôt de déprendre cette question de l’économie du logos. Qu’elles ne la posent, donc, pas sous la forme : «la femme, qu’est-ce que c’est?» Mais que, répétant-interprétant la façon dont, à l’intérieur du discours, le féminin se trouve déterminé: comme manque, défaut, ou comme mime et reproduction inverseé du sujet, elles signifient qu’à cette logique un excès, dérangeant, est possible du côte du féminin.«81 (Hervorhebung im Original)
Diese Art der Mimesis ist als strategischer Essentialismus bekannt. Darüber schreibt Irigaray in ihrem Text »Ce sexe qui n’en pas un« und gibt einige Beispiele dieser Methode an. Laut Irigaray schlägt gerade die ungetreue Wiederholung eines negativen Standpunktes vor, dass die Frauen etwas Anderes sind als im männlichen Blick angenommen wird. Diese, für die Frauen schädigenden Ansichten, können nicht durch simples Ignorieren beiseite geschafft werden, sondern müssen der Methoden der Psychoanalyse getreu dargelegt und demystifiziert werden. Wenn sie erfolgreich angewandt werden, wiederholt die Mimesis die negative Sicht über die Frauen ohne die Frauen auf diese Sicht zu reduzieren und macht diese Ansicht lächerlich, sodass dieser Blickwinkel verworfen werden muss. »Mais, en fait, cette «fémininité» est un rôle, une image, une valeur, imposés aux femmes par les systèmes de représentation des hommes. Dans cette mascarade de la féminité, la femme se perd, et s’y perd à force d’en jouer.«82 Wenn eine neue Art der Subjektivität mit dem Tod des modernen transzendentalen Subjekts in Erscheinung treten soll und wir niemals wirklich die weibliche verformte Art des Subjekts erforscht oder mimetisch verarbeitet hätten, würde nichts davon abhalten, die Logik des Herrns/Subjekts/Männlichens und Sklave/Andere/Weiblichens zu wiederholen. Wir müssen nach dem weiblichen Anderen fragen, nur durch das 81 Ebd. S. 75f. 82 Luce Irigaray, Ce sexe qui n’en pas un, a.a.O., S. 80.
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mimetischen Fragen nach dem Anderen wird es möglich sein, einen Paradigmenwechsel herbeizuführen. Irigaray spricht daher vom Standpunkt der zum Schweigen gebrachten Frauen aus, um a, die Autorität der entweder negativen Sicht oder der Unterdrückung herauszufordern, indem sie enthüllt, dass diese Position nichts Anderes als eine Fabrizierung ist und um b, zu zeigen, wie der Frauenkörper ausgeschlossen wurde, indem sie den stereotypischen Blick als falsch enthüllte oder indem sie die ausgeschlossene Frau/Körper zum Sprechen anstiftete und c, dadurch eine Veränderung in der Konzeption der weiblichen Subjektivität und Körpers ermöglichte. Irigaray verwendet die Mimesis, weil sie glaubt, dass das »zweite Geschlecht« solange nicht in seiner eigenen Ordnung existieren kann (oder mit einer positiven Identitätsform, die der deformierten Sicht der männlichen Identität gegenübergestellt wird), bis wir nicht nur die unterdrückende Formulierung der sexuellen Differenz herausgefordert sondern auch abgelegt haben.83 »Excès qui ne déborde le bon sens qu’à la condition que le féminin ne renonce pas à son «style». Lequel, bien sûr, n’en est pas un selon la conception traditionnelle. Ce «style», ou «écriture», de la femme met plutôt feu aux mots fétiches, aux termes propres, aux formes bien construites. Ce «style» ne privilégie pas le regard mais rend toute figure à sa naissance, aussi tactile. Elle s’y re-touche sans jamais y constituer, s’y constituer en quelque unité. La simultanéité serait son «propre». Un propre qui ne s’arrête jamais dans la possible identité à soi d’aucune forme. Toujours fluide, sans oublier les caractères difficilement idéalisables de ceux-ci: ces frottements entre deux infiniment voisins qui font dynamique. Son «style» résiste à, et fait exploser, toute forme, figure, idée, concept, solidement établis. Ce qui n’est pas dire que son style n’est rien, comme le laisse croire une discursivité qui ne peut le penser. Mais son «style» ne peut se soutenir comme thèse, ne peut faire l’objet d’une position.«84 (Hervorhebung im Original)
Bei Irigaray ist die Mimethik der einzige Weg, der dem Weiblichen historisch zugeschrieben wird und es ist jener, in dem sich die Frau der männlichen Auffassung von Weiblichkeit anpassen muss. »Es bedeutet, [...] sich wieder den »Ideen«, insbesondere der Idee von ihr zu unterwerfen, so wie sie in/von einer »männlichen« Logik ausgearbeitet wurden; aber nur, um durch einen Effekt spielerischer Wiederholung das »erscheinen« zu lassen, was verborgen bleiben musste: die Verschüttung einer möglichen Operation des Weiblichen in der Sprache«.85
83 http://www.iep.utm.edu/i/irigaray.htm »Internet Encyclopedia of Philosophy: Luce Irigaray (1932 – present)« vom 11. 7. 2007. 84 Luce Irigaray, Ce sexe qui n’en pas un, a.a.O., S. 76. 85 Luce Irigaray: Das Geschlecht, das nicht eins ist, Berlin, 1979, S. 78.
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Bussmann sieht darin einen Nachteil, da, indem Irigaray den Ort des Weiblichen innerhalb der einen Theorie, in immer noch der einen Sprache sucht, die Gefahr einer »Wiederaufnahme des Weiblichen ins Innere einer Logik, die es in der Verdrängung, unter der Zensur, genauer in der Verkennung festhält«, besteht.86 Einen Ausweg aus diesem Dilemma sieht Bussmann in der Möglichkeit, eine Konkurrenzlogik des Weiblichen der männlichen Logik des Selbst und seinen Repräsentationen entgegenzusetzen. Irigaray geht es aber nicht um eine solche Konkurrenz, sie fordert dahingegen, dass der theoretischen Maschinerie selbst Einhalt geboten wird. Bussmann bezweifelt aber, ob das Spiel der Mimesis diesen Theoriestop über das Weibliche als das Andere einleiten kann. Sie sieht sogar das Weibliche selbst als Möglichkeit zu diesem Theoriestop, da die Weiblichkeit nie eindeutig präsent ist und sich in seinem Spiel von Verschleierung und Erscheinung der begrifflichen Benennung entzieht.87 »Mimesis spielen ist ein Sich-Schmiegen an/in die herrschende Philosophie, eine Wiederholung also ihrer Standpunkte und Sichtweisen von Welt. Was herkömmlicherweise als Reproduktion einer Theorie verstanden wird, von der aus neue Gesichtspunkte einer universellen Welterkenntnis ausgehen, spielt sich bei Irigaray mimetisch ab: »Das mimetische Wiederholen, das Nachplappern verzerrt, vexiert, karikiert den pietätvollen Ernst wissenschaftlicher Theorie«.«88
Es geht also darum, die Theorien, ihre Begriffe und Sätze in anderer Weise als der üblichen zu benutzen, um über die bloße reproduktive Darstellung hinaus zu gelangen. »Warum also«, so fragt Irigaray, »soll man nicht das Mißverständnis bis zur Erschöpfung wiederholen? Bis das Ohr sich an eine andere Musik gewöhnt hat, bis die Stimme (die bisher stumme Stimme des Weiblichen; AB) wieder klingt, bis der Blick aufhört, ausschließlich auf die Zeichen seiner Selbst-Repräsentation zu starren, bis die (Re)Produktion nicht immer wieder auf das Selbe (die Selben) und zu den mehr oder weniger gleichen Formen zurückkommt.«89 Bussmann betont, dass das mimetische Wiederholen als Irigarays Variation der Derridaschen Dekonstruktion gesehen werden kann. Die Mimesis als die weibliche Praxis im Umgang mit Texten. Laut Irigaray können nur Frauen die mimetisch interpretierende Textwiederholung durchführen, da nur sie »»ihren« Ort des Weiblichen im schriftlichen Diskurs aufspüren können: »Aber wenn die Frau [...] noch einmal Wege in einen Logos öffnet, der sie als sprachlos definiert, der sie aussperrt von allen Aufgaben, es 86 Ebd. S. 80. 87 Anne Bussmann: Elemente feministischer Philosophie im Werke Luce Irigarays, Frankfurt (Oder), 1998, S. 21. 88 Ebd. S. 22. 89 Luce Irigaray: Speculum. Spiegel des anderen Geschlechts, Frankfurt/Main, 1980, S. 182.
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sei denn, sie prostituiert sich im Interesse der herrschenden Ideologie, dann bedeutet das, dass ein bestimmter Sinn, der immer auch den der Geschichte ausmacht, einer unerhörten Prüfung, einer unerhörten Veränderung unterworfen würde«90 Bussmann sieht die Veränderung darin, dass die Funktion des Weiblichen im Diskurs sichtbar gemacht, ausgesprochen und benannt wird. Irigaray verdeutlicht diese Erkenntnis dieser geschlechtsspezifischen Konstellationen im Diskurs anhand der Vorgehensweise der Psychoanalyse. Bussmann erklärt, dass Irigaray durch die Methode der Psychoanalyse und durch ihren Diskurs über die Weiblichkeit auf dem Wege der nochmaligen Mimesis die Geschichte der Philosophie reproduziert. Freud, so meint Irigaray, hat durch seine Theorie der Sexualität das sichtbar gemacht, was nur funktionierte, weil es verborgen war, nämlich die sexuelle Indifferenz. Das Weibliche galt als Negativ, als Fehlen, oder Verkümmerung des männlichen Geschlechts. Bei Freud wird das Weibliche als dunkler Kontinent umschrieben, und liegt außerhalb des Systems der Sexualtheorie, bildet lediglich die Kehrseite des Männlichen zur Konstruierung des männlichen Systems. 91 »La question de l’articulation du sexe féminin dans le discours. Même si la théorie de Freud, par un effet de répétition générale de la scène – en tout cas pour ce qui concerne le rapport entre les sexes –, montre clairement la fonction du féminin dans celle-ci. Reste, donc, à entreprendre de «détruire» le fonctionnement discursif. Ce qui n’est pas une entreprise simple… Car comment s’introduire dans une systématicité aussi coherente? Il n’est, dans un premier temps, peut-être qu’un seul «chemin», celui qui est historiquement assigné au féminin: le mimétisme. Il s’agit d’assumer, délibérément, ce rôle. Ce qui est déjà retourner en affirmation une subordination, et, de ce fait, commencer à la déjouer. Alors que récuser cette condition revient, pour le féminin, à revendiquer de parler en «sujet» (masculin), soit à postuler un rapport à l’intelligible qui maintient l’indifférence sexuelle.« (Hervorhebung im Original)92
Irigaray betreibt eine mehrfache Wiederholung bei der wiederholenden Lektüre der Psychoanalyse und wendet deren Methoden auf sie selbst an. Es ist also eine Wiederholung des Textes, der Theorie und der Anwendung der Theorie. Sie wendet es auch im psychoanalytischen Lesen der Philosophie an, wobei sie an den philosophischen Text drei verschiedene Fragen stellt: Erstens fragt sie nach der Materie, von der das sprechende Subjekt sich nährt, reproduziert und produziert. Wenn sich, zweitens, eine Szenerie der Repräsentation im philosophischen Diskurs darstellt, befragt sie diese Szenographie, welche die Geometrie, das Raum-Zeit-Verhältnis, die Schauspieler und die Dialoge der Szene untersucht. Die dritte Frage ist 90 Ebd. S. 180. 91 Ebd. S. 23f. 92 Luce Irigaray, Ce sexe qui n’en pas un, a.a.O., S. 73f.
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die nach dem Spiegel, der »zumeist versteckt, dem Logos, dem Subjekt erlaubt, sich selbst zu verdoppeln, sich zu reflektieren«93 Diese Figuren werden aufgebrochen, um das Weibliche hervorzubringen. Bussmann deutet bei diesem Konzept von Irigaray auf zwei Probleme hin, nämlich, dass sie Frau und Weiblichkeit gleichsetzt. Es bleibt auf ein biologisch-geschlechtliches Wesen reduziert. Zweitens bleibt die reale Frau in dem gefangen, »was die Theorie über sie = Weiblichkeit aussagt.«94 Durch Mimesis und Wiederholung soll es zur Auffindung von bisher unbeachteten Strukturen dieses Diskurses kommen. »Wenn sie diese Strukturen weiblich nennt, eröffnet sie eine andere Sicht der Philosophiegeschichte, die aber mit Frauen nicht unbedingt zu tun hat. Insofern kann auch ein »Zurückgeben« der weiblichen Diskursanteile von traditioneller Seite aus niemals einer erstarkenden Frauenbewegung oder einer realen Ortsauffindung des Weiblichen (im Sinne der Schaffung einer weiblichen Subjektivität zur Stärkung der realen Person/Persönlichkeit) zuarbeiten. Dieses »Zurückgeben« des Weiblichen ist lediglich die Sichtbarmachung der Kehrseite der Ordnung, und eine solche Auffassung von Weiblichkeit, die die verdrängte als wieder hervorgeholte Weiblichkeit positiviert und diese zugleich der Frau zuschreibt, bleibt in der Ordnung, die sie kritisiert. Weibliches als Anderes ist in dieser Auffassung – trotz gegenteiliger Bemühung durch die Methode der Mimesis – suspendiert.«95
Weiters verfolgt Irigaray auch in der Sprache die Methode der Mimesis: »Die Arbeit an der Sprache im Sinne des In-die-Sprache- und Ins-Spiel-Bringen des weiblichen »Stils« widersetzt sich damit – es wurde schon darauf hingewiesen – unter anderem insofern der wissenschaftlichen Beschreibung, als sie eine Praxis ist, die sich im Akt der schreibenden Wiederholung der Philosophiegeschichte vollzieht.« (Hervorhebung im Original)96
Laut Bussmann ist dies ein Grenzgang, der auf der sprachlichen Ebene mit dem der Methode der Mimesis im Allgemeinen korreliert sowie auf der Ebene der feministischen Philosophie, zwischen Subversion, institutioneller Vereinnahmung und Neuauflage traditioneller Weiblichkeitskonzepte.97 In ihrem Hauptwerk »Speculum« führt Irigaray den Schlüsselterminus der »Spekulation« in seiner dreifachen Denotation ein: erstens die (physikalische) Spiegelung, zweitens das (ökonomische) Spekulieren, drittens die (theoretisch-philosophische) Spekulation.98 93 94 95 96 97 98
Luce Irigaray, Das Geschlecht, das nicht eins ist, a.a.O., S. 77. Anne Bussmann, Elemente feministischer Philosophie, a.a.O., S. 26. Ebd. Ebd. S. 28f. Vgl. ebd. S. 29. Vgl. ebd. S. 30.
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Ein Punkt, so deckt Bussmann auf, bleibt bei Irigaray dennoch problematisch, denn auch wenn Irigaray den eindeutigen Sinn zerstören will, »indem sie Mehrdeutigkeiten von Begriffen ins Spiel bringt, so belässt sie doch weiterhin im unklaren, wo dieser neue, »andere«, weibliche Sinn sich herstellt. Denn auch ein Begriff, der an anderer Stelle als der gewohnten, auf anderer Ebene als der ihm zugeordneten abweichend eingesetzt wird, macht dort wiederum Sinn. So hält sich die Frage, ob die andere Sprache des Weiblichen tatsächlich einen anderen Sinn transportiert und hervorbringt.«99 Auf die psychoanalytische Ebene eingehend meint Irigaray, wenn sie über die Theorie des Penisneids bei Freud spricht, dass der Mann über das »Nichts« der Frau seinen Wert wiederherstellt. Der Körper der Frau wird zum Spiegel, der das erkennbare Bild des Ähnlichen zurückwirft. »Indem die Frau negativer Spiegel ist, kann der Mann anhand des Blicks in diesen Spiegel seiner Existenz/der Existenz seines Geschlechts nochmals habhaft werden.« (Hervorhebung im Original)100 In den Worten Irigarays klingt das folgendermaßen: »Aber damit dieses Ich wertvoll wird, muß ein »Spiegel« ihm seine Gültigkeit versichern, immer wieder versichern. Die Frau wird diese Spiegel-Verdopplung unterstützen, indem sie dem Mann »sein« Bild zurückwirft und es als ihr »Selbst« wiederholt. Das Eingreifen eines Bild-»Anderen«, eines Spiegel»Anderen« bedeutet allemal das Risiko einer tödlichen Krise. Die Frau wird folglich – dank einer Inversion – das Selbe sein, ebenso wie sie als Mutter die ständige Erneuerung des Selben ermöglicht, unter Missachtung durch ihren »Penisneid« wird sie das, was sich in dieser Spekulation und Spiegelung verlieren könnte, erhalten. Seit je erinnert sie an diesen Rest, der in den Spiegeln verschwindet, an diese sexuelle Energie, die notwenig ist für die Ausarbeitung des Werkes.« (Hervorhebung im Original)101
Laut Irigaray kann der Mann nur das Selbe wieder erkennen, er ist blind, wenn er etwas radikal Anderes sehen könnte. »Die Frau wird in der ihr zugewiesenen Funktion des Spiegels Grundlage für die geblickte Existenz des Mannes und damit in die Ökonomie des Sehens eingeschlossen. Als unsichtbares weibliches Geschlecht ist sie aus der Ökonomie als unergründlich und unkenntlich jedoch gleichzeitig ausgeschlossen.«102 »Cet ailleurs de la jouissance de la femme ne se retrouve qu’au prix d’une retraverseé du miroir qui sous-tend toute spéculation. Ne se situant simplement ni dans un procès de réflexion ou de mimétisme, ni dans son en-deçà – empirique 99 100 101 102
Ebd. S. 30f. Ebd. S. 34 Luce Irigaray, Speculum, a.a.O., S. 66f. Anne Bussmann, Elemente feministischer Philosophie, a.a.O., S. 35.
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opaque à tout langage -, ni dans son au-delà – infini ces catégories et coupures aux nécessités de l’auto-représentation du désir phallique dans le discours. Retraversée ludique, et confondante, qui permettrait à la femme de retrouver le lieu de son «auto-affection». Si l’on veut, de son moins d’admettre son dédoublement, est toujours reconduction du féminin à l’économie phallocratique.« (Hervorhebung im Original)103
Irigaray geht, um die Spiegelung besser erklären zu können, auf Platon ein und meint, dass eine philosophische Betrachtung bei ihm immer nur über ein Medium stattfindet. So wird nie direkt in die Sonne geblickt, selbst bei einer Sonnenfinsternis wird ein Spiegel dazwischen geschoben, damit die Sehkraft nicht verloren geht.104 Luce Irigaray verbindet die phallische Macht mit der Mimesis bei Platon. Durch das Fehlen des privilegierten Organes ist es den Frauen unmöglich, ihr Verlangen in einer männlichen Symbolik darzustellen. Die Frauen sind auf die Position des Spiegels beschränkt und reflektieren so die männliche »Ähnlichkeit«. Irigaray nennt diesen Vorgang die auferlegte Mimesis. Ein Begriff mit provokativer Resonanz für eine widerständige Praxis.105 »In his account of the »mimetic faculty«, Benjamin identifies the »powerful compulsion to become and behave like something else«, the ability – now in decline – to recognize and generate similarities. Becoming the other, or inventing similarities, might seem perilously close to Irigaray’s critique of Platonic mimesis, an expropriation of, or subsumption of, the other by the Same. But for Benjamin oddly, queerly, it was the opposite. The truth mimesis produces is not in the model (Platonic Form or My Ego) but in the social object.«106
Das dialektische Bild hängt vom mimetischen Denken ab, dem Denken in Beziehung, wobei niemals ein Element in das andere kollabiert. »Benjamin posits a »phylogenetic« origin to the mimetic faculty in the »natural correspondences (between) microcosm and macrocosm, (expressed) in dances, whose oldest function [...] was to produce similarities, and also to recognize them«. These »origins« are unrecuperable, the faculty itself in decay. Nature is no longer a terrifying Other that must be appeased through mimicry, but rather a fully rationalized piece of the capitalist economy.«107
Die Erkenntnis wird laut Bussmann über den vernünftigen Spiegel der Seele vermittelt, die Erkenntnis findet nur mehr gedanklich statt, auf der
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Luce Irigaray, Ce sexe qui n’en pas un, a.a.O., S. 75. Luce Irigaray, Speculum, a.a.O., S. 188. Vgl. Elin Diamond, Unmaking Mimesis, a.a.O., S. IV. Ebd. S. 153. Ebd. S. 153f.
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Ebene der Bilder der Dinge. »Nicht die Welt und die Dinge selbst werden angeschaut, sondern die ihr und ihnen ähnlichen Abbilder, so wie sie in Gedanken erscheinen.«108 Die Spiegelungen lassen die immer gleichen Formen erblicken, die Erkenntnis tritt somit auf der Stelle und reproduziert sich fortwährend in ihren Aussagen. So wie der Mann sein Geschlecht mit dem Blick auf die Frau reproduziert und sie zum Spiegel macht.109 Etwas Unsichtbares würde die optische männliche Wahrheitsfabrik sabotieren: »Die Möglichkeit, dass einem Nichts-zu-Sehen, einem nicht durch den Blick, die Spekulation und Spiegelung Beherrschbaren eine Realität zukommen könnte, wäre für den Mann in der Tat unannehmbar, denn es würde Theorie und Praxis der Repräsentation bedrohen...«110 Bussmann kritisiert Irigaray in zwei Punkten, erstens klärt Irigaray das Gewaltpotential des analysierten männlichen Blicks nicht ganz und zweitens problematisiert Irigaray ihren eigenen Blick nicht, denn der weibliche Blick oder die feministische Philosophie machen sich mit dieser Vorgangsweise das männliche Instrumentarium zu eigen.111 Cooper Sarah weist in ihrem Werk »Relating to Queer Theory: Rereading Sexual-definition with Irigaray, Kristeva, Wittig and Cixous« auf den unterdrückenden Charakter der Mimikry112 bei Irigaray hin, indem sie Carole-Anne Taylor heranzieht, die meint, dass Irigaray für eine Vorstellung der Weiblichkeit wirbt, die für viele Frauen außerhalb ihrer Reichweite liegt (für all jene die nicht weiß, Mittelklasse und heterosexuell sind). Diese Frauen müssen eher als eine weitere von mehreren dieser Kategorien durchgehen, als eine Sichtbarkeit für ihre eigenen Identitätskategorien zu verlangen. Tylers Argument fokussiert auf der kritischen Distanz die Irigaray zwischen der Mimikry und der Masquerade herstellt und fragt, was der sichtbare Unterschied zwischen den beiden ist. Tylers These ist, dass es zwischen der Mimikry und der Masquerade tatsächlich keinen Unterschied gibt: »Once it is recognized that feminity is not a natural expression of an essence but an identity that is always already alienated, the distinction between irony or mimicry and imitation or masquerade is no longer selfevident.«113 Tyler deckt zwei weitere Probleme in Irigarays Werk auf: Wenn das Weibliche im neuen Sinne sichtbar wird, werden nicht alle Frauen unter dem Überbegriff dieser Kategorie sichtbar, aber wenn die
108 109 110 111 112
Anne Bussmann, Elemente feministischer Philosophie, a.a.O., S. 36. Vgl. ebd. S. 39. Luce Irigaray, Speculum, a.a.O., S. 61. Vgl. Anne Bussmann, Elemente feministischer Philosophie, a.a.O., S. 41. Sarah Cooper benützt hier den Begriff »Mimikry«, wo ich den Begriff »Mimesis« verwende. 113 Carol-Anne Tyler »The Feminine Look« in Martin Kreiswirth und Mark A. Cheetham (Hg.), Theory between the Disciplines: Authority, Vision, Politics, Michigan, 1990, S. 196.
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Mimikry nicht mehr von der Masquerade unterschieden werden kann, bleibt das Weibliche gänzlich unsichtbar. Irigaray definiert die kritische Mimesis folgendermaßen: »Jouer de la mimésis, c’est donc, pour une femme, tenter de retrouver le lieu de son exploitation par le discours, sans s’y laisser simplement réduire. C’est se resoumettre – en tant que du côté du »sensible« , de la »matière« … - á des »idées«, notamment d’elle, élaborées dans/par une logique masculine, mais pour faire »apparaître«, par un effet de répétition ludique, ce qui devait rester occulté: le recouvrement d’une possible opération du féminin dans le langage. C’est aussi »dévoiler« le fait que, si les femmes miment si bien, c’est qu’elles ne se résorbent pas simplement dans cette fonction. Elles restent aussi ailleurs: autre insistance de »matiére«, mais aussi de »jouissance«.«114 (Hervorhebung im Original)
Im Kontrast zur Irigarays Begriff der Masquerade, die existierende Machtstrukturen verstärkt, verhindert das die kritische Mimesis, indem sie übertreibt. Wie es Diana Fuss in ihren »Idenification Papers« ausdrückt, ist die Mimesis verfehlt, wenn die Masquerade nicht exzessiv genug ausgeführt wird.115 Sowohl Butler als auch Tyler sind sehr achtsam darauf, wen die Kategorie des Weiblichen von Luce Irigaray ausschließt, wobei Butler die Irigaraysche Strategie der mimetischen Verschiebung beibehält. Butler beschäftigt sich in »Bodies that Matter« mit der körperlichen Materie, dem philosophischem Diskurs und dem Weiblichen und sie führt die Gedanken Irigarays weiter: »This explains in part the radical citational practice of Irigaray, the catachrestic ursupation of the »Proper« for fully improper purposes. For she mimes philosophy – as well as psychoanalysis – and, in the mime, takes on a language that effectively cannot belong to her, only to call into question the exclusionary rules of proprietariness that govern the use of that discourse. This contestation of propriety and property is precisely the option open to the feminine when it has been constituted as an excluded impropriety, as the improper, the propertyless. [...] If she takes on a proper name, even the proper name of »woman« in the singular, that can only be a kind of radical mime that seeks to jar the term from is ontological presuppositions. Jane Gallop makes this brilliantly clear in her reading of the two lips as both synecdoche and catachresis, a reading which offers an interpretation of Irigaray’s figural language constitutes the feminine in language as a persistent linguistic impropriety.«116
114 Luce Irigaray, Ce sexe qui n’en pas un, a.a.O., S. 74. 115 Vgl. Sarah Cooper: Relating to queer theory: rereading sexual selfdefinition with Irigaray, Kristeva, Wittig and Cixous, Bern, 2000, S. 117. 116 Judith Butler: Bodies that matter. On the discursive limits of »sex«, New York/London, 1993, S. 37f.
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Butler hat es auf die westliche Metaphysik abgesehen, die in ihrer Ansicht genauso von dem Verbot von nicht-heterosexuellen Beziehungen abhängig ist, wie von der Ausschließung des Femininen, was Irigaray aufzeigte. »Irigaray’s response to this exclusion of the feminine from the economy of representation is effectively to say, Fine, I don’t want to be in your economy anyway, and I’ll show you what this unintelligible receptacle can do to your system; I will not be a poor copy in your system, but I will resemble you nevertheless by miming the textual passages through which you construct your system and showing that what cannot enter it is already inside it (as its necessary outside), and I will mime and repeat the gestures of your operation until this emergence of the outside within the system calls into question its systematic closure and its pretension to be self-grounding. This is part of what Naomi Schor means when she claims that Irigaray mimes mimesis itself. Through miming, Irigaray transgresses the prohibition against resemblance at the same time that she refuses the notion of resemblance as copy. She cites Plato again and again, but the citations expose precisely what is excluded from them, and seek to show and to reintroduce the excluded into the system itself. In this sense, she performs a repetition displacement of the phallic economy. This is citation, not as enslavement or simple reiteration of the original, but as an insubordination that appears to take place within the very terms of the original, and which calls into question the power of origination that Plato appears to claim for himself. Her miming has the effect of repeating the origin only to displace that origin as an origin.« (Hervorhebung im Original)117
Butler analysierte Irigarays Platon-Lektüre und führt dann ihre eigene Ansicht über Platon an, im Rahmen derer sie hervorhebt, wie sehr die westliche Metaphysik auf die Erhaltung der stabilen Geschlechterpositionen innerhalb der heterosexuellen Matrix baut. Diese Matrix versichert, dass innerhalb dieser Tradition das Männliche immer das Weibliche penetriert. Nun fordert Butler diese fixen Geschlechterpositionen hinsichtlich dieser penetrativen Beziehungen heraus. Sie fragt sich, was passiert, wenn eine männliche Penetration des Männlichen und eine weibliche Penetration des Weiblichen autorisiert werden. »This textual practice is not grounded in a rival ontology, but inhabits - indeed, penetrates, occupies, and redeploys - the paternal language itself. One might well ask whether this kind of penetrative textual strategy does not suggest a different textualization of eroticism than the rigorously anti-penetrative eros of surfaces that appears in Irigaray’s »When Our Lips Speak Together«.«118
Sie meint, dass das mögliche, umgekehrte Mimen sind, die Irigaray nicht in Betracht zog, die aber nichtsdestoweniger mit ihrer Strategie der kriti117 Ebd. S. 45. 118 Ebd. S. 45f.
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schen Mime kompatibel sind. Für Butler ist die Performance der exzessiven Mimesis das, was den konstruierten Status aller Identitäten demaskiert und sie benützt beharrlich eine solche Theorie um den privilegierten und normativen Status der Heterosexualität zu hinterfragen.119 So schreibt auch Elin Diamond über Performance KünstlerInnen der 1970er und 1980er Jahren: »Shaw, McCauley, and Margolin use storytelling to tell history, to change aesthetic time to a temporality that, metaphorically at least, makes »space« for women’s experience. They assume the »I«, not to assert that they speak from personal experience, not to claim a unitary self-presence, but to produce exoteric experiences from which new performative I-positions can »struggle to appear«. Their stories (paraphrasing Benjamin) decompose into dialectical images, complex mimetic productions that help us read history against the grain – and read the body against the grain ... recovering its transgressiveness. By inhabitating not a character, nor a narrative »I«, but a dialectical image, the auratic body with all its cultic power is instantiated and destroyed. Instantiated because its »presence« generates, like all auratic objects, a whole series of pleasurable identifications, fantasies, and »natural« correspondences (indeed Shaw and Margolin trope the goddess themes that inspired 1970’s feminism). Destroyed because the bodyimage is suddenly apprehended as constellated pieces of disparate experience belonging not to the performer but to our cultural junkheap, our collective memory.«120
Elin Diamond zieht auch Teresa de Lauretis heran, um zu erklären, dass Erfahrung nicht mit authentischer Subjektivität zu tun hat, sie stattdessen aber eine Interaktion des Realen oder Unmittelbaren mit spezifischen politischen und sozialen Realitäten sehen. De Lauretis hält sich von der empirischen Bedeutung der Erfahrung als Sinneseindruck und dem behavioristischem Sinn der Erfahrung als eine Ansammlung von Fähigkeiten und Kompetenzen fern. Sie weist auch die individualistische, idiosynkratische Bedeutung von etwas, das zu einem gehört und ausschließlich zu einem gehört, zurück: »De Lauretis links experience to subjectivity exoterically, as »a process by which, for all social beings, subjectivity is constructed. Through that process one places oneself or is placed in social reality, and so percieves and comprehends as subjective (referring to, even originating in oneself) those relations – material, economic, and interpersonal – which are in fact social and, in a larger perspective, historical… The subject in social reality (must be) rearticulated from the historical experience of women.« (Hervorhebung im Original)121 119 Vgl. Sarah Cooper, Relating to Queer Theory, a.a.O., S. 118. 120 Elin Diamond, Unmaking mimesis, a.a.O., S. 154. 121 Teresa de Lauretis: Alice Doesn’t: Feminism, Semiotics, Cinema, Bloomington, 1984, 159f. Zitiert in Elin Diamond, Unmaking mimesis, a.a.O., S. 149.
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Luce Irigaray verbindet die phallische Macht mit der Mimesis bei Platon. Da Frauen das privilegierte Organ nicht besitzen, ist es unmöglich, ihr Verlangen in einer männlichen‚ Symbolik zu repräsentieren. Frauen sollen wie ein Spiegel sein und das männliche »Selbst« gleichsam widerspiegeln. Irigaray nennt diesen besonderen Vorgang »auferlegte Mimesis«, ein Terminus, der provokativ nach einer widerständigen Praxis verlangt. Derridas Vorschläge spielen mit einer ursprünglichen Mimesis, Irigaray sticht das aus und beschattet Mimesis mit Mimetismus: »Ähnlich wie Derrida und De Man kehrt Irigaray das Verhältnis zwischen der Aussage der Texte und ihrer Tropik um: Metaphern sind nicht nachträgliche Illustrationen begrifflicher Wahrheiten, sondern Wahrheiten sind erstarrte Metaphern [...] Gleicht dieses Verfahren Irigarays zunächst dem Derridas, so zielen die konkreten Konsequenzen, die sie daraus ableitet in die entgegengesetzte Richtung. Sie strebt keine Dekonstruktion der Geschlechterdifferenz an, sondern fordert vielmehr eine Einschreibung der Geschlechterdifferenz, die bislang nicht »existierte«, in das »Symbolische« selbst.«122
Irigaray macht dies laut Lindhoff aus einem strategischen Grund heraus und nicht, wie ihr vorgeworfen wird, aus einem essentialistischen, da die Feministin versucht, die Hierarchien umzukehren, um dem Weiblichen einen eigenen Wert zu zuschreiben, letztendlich aber doch einen Hierarchieabbau erreichen will. »Ihre Mimesis hat ein Ziel: Sie versucht die Leerstelle, die die Durchquerung der männlichen Diskurse offenbarte, wo der ort des Weiblichen sein sollte, neu zu besetzen. An die Stelle der patriarchalischen Verabsolutierung des Männlichen soll ein zweifaches, geschlechtlich differenziertes Symbolisches treten, das auch der Andersartigkeit der weiblichen Erfahrung Rechnung tragen würde.«123 Bevor Elin Diamond auf Irigarays potente Rekonfiguration der Mimesis als Mimikry eingeht, erklärt sie eine Spannung zwischen der Art und Weise Mimesis so zu verstehen, dass sie die objektive Natur des Kunstwerkes, den wahren Wert oder die Wahrheit des Repräsentierten garantiert und des Verstehens von Mimesis als repräsentierend, als generierend, als Performance - eine machtvolle Inszenierung «Instantiation» der Rolle der Subjektivität (und kultureller Spezifität) des Künstlers und Betrachters, des Sprechers und Lesers. Zwischen der Imitation als Repräsentation oder Aufführung und der Imitation als die Produktion eines Objektes, das seinem Modell ähnlich sieht gibt es also eine ungelöste Spannung.
122 Lena Lindhoff: Einführung in die feministische Literaturtheorie, Stuttgart, 2003, S. 121. 123 Ebd. S. 123.
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Kristeva Julia Kristeva verbindet den Begriff der Mimesis eng mit dem poetischen Text. Die Wirkung der Mimesis spielt sich im symbolischen Bereich der Sprache ab. »Bedeutungsbildung in der Sprache geht aus von und beruht auf der Möglichkeit zur Denotation: konstante, kontext- und situationsunabhängige begriffliche Grundbedeutungen eines sprachlichen Ausdrucks sind fixierbar. Diese für das Funktionieren der begrifflich-bedeutungshaften Sprache notwendigen starren, invariablen Zuordnungen unterläuft die Mimesis, die ihrerseits Herstellung eines Gegenstandes ist«124, der laut Kristeva »nicht wahr, sondern wahrscheinlich ist, in dem Maße nämlich, wie er als solcher gesetzt (d.h. abgetrennt, notiert, aber nicht denotiert) wurde, […]«(Hervorhebung im Original) 125 In der poetischen Sprache unterläuft die Mimesis die symbolische Setzung bezüglich ihrer Bedeutungsmöglichkeit (Denotation) und der Erzeugung von grammatischem oder syntaktischem Sinn. »Poetische Mimesis simuliert eine Sinnkonstitution im Symbolischen, um doch durch ihr Vorgehen die denotative Funktion der Sprache partiell aufzulösen, welche bisher unangetastet blieb.«126 Bei Kristeva beinhaltet die Mimesis. wie auch bei Adorno, die Komponenten des Rationalen. »Kristeva verlagert Mimesis nicht in ein illusionäres Außerhalb des Symbolischen, entzieht sie (wie auch Adorno) nicht der Rationalität. Mimesis verweist nicht nur auf das Andere, sondern ermöglicht mit dessen Hilfe eine Umgestaltung des Symbolischen.«127 Mimesis meint bei ihr einen Rückbezug der Sprache auf sich selbst. »What is more when poetic language – especially modern poetic language – transgresses grammatical rules, the positioning of the symbolic (which mimesis has always explored) finds itself subverted, not only in its possibilities of Bedeutung or denotation (which mimesis has always contested), but also as a possessor of meaning (which is always grammatical, indeed more precisely, syntactic). In imitating the constitution of the symbolic as meaning, poetic mimesis is led to dissolve not only the denotative function but also the specifically ethic function of positing the subject. In this respect modern poetic language goes further than any classical mimesis – whether theatrical or novelistic – because it attacks not only denotation (the positing of the object) but meaning (the positing of the enunciating subject) as well.«128 (Hervorhebung im Original)
124 Sabine Bayerl, Von der Sprache, a.a.O., S. 170f. 125 Julia Kristeva: Die Revolution der poetischen Sprache, Frankfurt am Main,1978, S. 66. 126 Sabine Bayerl, Von der Sprache, a.a.O., S. 171. 127 Ebd. S. 2. 128 Toril Moi: The Kristeva Reader, New York, 1986, S. 109.
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Kristeva verwendet Michail Bachtins Begriff des Karnevals im Sinne von Transgression. Im Allgemeinen könnte der Karneval als ein GlaubenMachens des über-den-Haufen-Werfens des Gesetzes und der existierenden sozialen Normen gesehen werden, aber Kristeva meint mit der Karnevalisierung etwas anderes, subtileres, als eine scheinbare Umkehrung der existierenden sozialen Beziehungen: Karneval als Parodie, zum Beispiel. Ganz im Gegenteil, der Karneval ist eine echte Transgression, nicht nur eine spiegelverkehrte Ordnung der Dinge, wie sie sind. Der Karneval ist nicht einfach die andere Seite des Gesetzes, er bezieht sie auch mitein.129 Meiner Meinung nach ist ein Konzert der Popularmusik auch eine Art von Karneval, der Alltag wird ausgeschaltet, häufig exzessiv und manchmal treten die Bands in Verkleidungen auf, was dann oft zur nachgeahmten Verkleidung bei den Fans führt. Diese Verkleidungen gehen teilweise ins Alltagsleben über, ein gewisser Kleidungsstil wird zur jeweiligen bevorzugten Musikrichtung getragen.130 Das literarische Wort wird im Karneval nicht als eindimensional, sondern als eine Überlagerung von Text-Ebenen gesehen und das mehrfach bestimmte poetische Wort gehorcht den Regeln der Logik des kodifizierten Diskurses nicht mehr, es geht darüber hinaus. Die Sprache durch Grammatik und Semantik geregelt wird befreit. »Der einzige Diskurs im dem sich die poetische 0/2-Logik völlig realisiert, wäre der des Karnevals: er durchbricht die Regeln des linguistischen Kodes und die Regeln der gesellschaftlichen Moral, indem er eine Logik des Traums annimmt.«131 Adorno schreibt, dass die Musik sprachähnlich ist und Kristeva führt diese Überlegung weiter, denn die Verbindung von Semiotischen und Symbolischen bleibt dialektisch: »Sprache ist eine Praxis, in der Semiotisches und Symbolisches ineinander wirken; - diese Denkfigur macht es Kristeva möglich, ein mit der Metapher »Musik« belegtes, bislang Ausgeschlossenes – welches Adornos »Rest«, seinem Nichtidentischen bzw. ganz Anderen parallel gestellt werden kann, ohne mit jenem homolog zu sein – innerhalb der Sprache zu situieren. Dieses – letztlich dichotome – Gefüge hebt über das Reziprozitätsverhältnis von sanktionierendem, abbildendem Symbolsystem und sich abarbeitendem, triebhaften Semiotischen den Binarismus von Sprache und Musik (zumindest vordergründig) auf. Musik fungiert für den nichtsprachlichen Anteil der Sprache als Metapher und wird bei Kristeva vorzüglich mit semiotischer chora als damit quasi »musikalischen«
129 Vgl. John Lechte: Julia Kristeva, New York/London, 1990, S. 105. 130 Siehe auch Dick Hebdige: Subculture. The meaning of style, London, 1991. 131 Julia Kristeva »Bachtin, Das Wort, der Dialog und der Roman« in: Jens Ihwe (Hg.), Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse undPerspektiven, Bd. 3., Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft, I. Frankfurt am Main, 1971, S. 353f.
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zweiten Konstituenten des Sinngebungsprozesses in Verbindung gesetzt, der innerhalb des Sprachsystems anzusiedeln ist. Beide – semiotische chora als (von Platon abgeleiteter) ortloser Ort und Musik als Zeitkunst – sind prozessual, nicht lokalisierbar, nicht statisch und ohne Resultat.«132
Auch Derrida schreibt über »chora« bei Platon: »Was Platon unter dem Namen chora bezeichnet, fordert anscheinend – im Timaios – die »Logik des Nicht-Widerspruchs der Philosophen«, diese Logik »der Binarität, das Ja oder Nein«, heraus. Sie könnte also vielleicht dieser »anderen Logik als der Logik des logos« unterstehen. Die chora, die weder »sinnlich« noch »intelligibel« ist, gehört einer »dritten Gattung« einem »dritten Geschlecht« (triton genos, 48e, 52a) an. Man kann von ihr nicht einmal sagen, dass sie weder dieses noch jenes oder dass sie zugleich dieses und jenes sei.« (Hervorhebung im Original)133 Laut Derrida liegt die chora zwischen Mythos und Logik: »Wird man zum Denken der chora einen Zugang gewinnen können, wenn man sich noch der Alternative logos/Mythos anvertraut? Und wenn dieses Denken ebenfalls nach einer dritten Diskursgattung/einem dritten Diskursgeschlecht (un troisième gendre de discours) riefe? Und wenn –vielleicht wie im Fall der chora – dieser Ruf nach der dritten Gattung/dem dritten Geschlecht nur die Zeit eines Umwegs wäre, um hinzuweisen auf ein Geschlecht jenseits des Geschlechts/eine Gattung jenseits der Gattung?« (Hervorhebung im Original)134
Obwohl chora in Hinsicht auf das sexuelle Geschlecht bestimmt ist, so ist sie die »Mutter«, die »Amme« und Empfängerin allen Werdens« bei Platon.135 Chora ist anachronisch und die Anachronie des Seins: »Wir werden niemals Anspruch darauf erheben, das richtige Wort für chora anbieten zu können, weder sie endlich nennen/rufen zu können, sie selbst, jenseits aller Wendungen und Umwege der Rhetorik, noch endlich an sie heranzugehen können, an sie selbst, auf das hin, was sie, außerhalb jeden Gesichtspunkts, außerhalb jeder anachronischen Perspektive, gewesen sein wird. Die Tropik und der Anachronismus sind unvermeidlich.«136 Chora ist ein Behältnis, aber kein Subjekt: »Doch wenn Timaios es Behältnis (dechomenon) oder Ort (chora) nennt, so wir mit diesen Namen kein Wesen, nicht das stabile Sein eines eidos bezeichnet, denn chora gehört weder zur Ordnung des eidos noch zur Ordnung der mimemata, der Bilder des eidos, die sich in ihr eindrücken werden – chora, die somit nicht ist, nicht den beiden bekannten oder anerkannten Seinsgattungen zugehört.«137(Hervorhebung im Original) 132 133 134 135 136 137
Sabine Bayerl, Von der Sprache, a.a.O., S. 129. Jacques Derrida, Chora, Peter Engelmann (Hg.), Wien, 2005, S. 12. Ebd. S. 13. Vgl. ebd. S. 15. Ebd. S.18. Ebd. S. 21.
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Wieder zurück zur semiotischen chora bei Kristeva und ihrer Verwandschaft zur Musik, die auch Adorno näher beschreibt. Adorno räumt der Musik »als begriffslose, affektiv funktionierende beim Versuch, das Andere, ein Nichtidentisches einzuholen«, die besseren Möglichkeiten ein, »wenn dies auch ein aporetisches, stets scheiterndes Unterfangen bleibt.«138 Die Sprache, die immer schon »affekthaft« oder triebbesetzt, abegrifflich ist, kann nicht für »logische« Urteile garantieren.139 Kristeva gibt uns auch eine etymologische Beschreibung von »semiotisch: »Wenn wir »semiotisch« sagen, so berufen wir uns auf die griechische Bedeutung des Terminus: [...] = Unterscheidungsmal, Spur, Kennzeichen, Vorzeichen, Beweis, graviertes oder geschriebenes Zeichen, Aufdruck, Hinweis, Gestaltung«140 Das Denken von ihr über die semiotische chora, erklärt Elisabeth Schäfer folgendermaßen »Ihre Konzeption eines Raumes vorsprachlicher vorsymbolischer Spuren stützt sich auf Freuds Konzept der Triebe. Das Semiotische ist zu verstehen als Hinterlassenschaft, als Spuren der präödipalen Phase.«141 Von Melanie Klein und Freud ausgehend, sieht Kristeva die semiotische chora auch als »Triebauflage«, wobei sie den Trieb als etwas Ambivalentes sieht, sowohl aneignend als auch destruktiv. Schäfer schreibt dazu: »Wenn also der Trieb immer schon etwas Zweigeteiltes, Oppositionelles ist, und sich der verschwimmende Untergrund auf das Fundament des Mutterkörpers, eine vom Körper des Kindes verschiedene Auflage gründet, dann ist hier eine Spaltung/Gespaltenheit vorgegeben, die ihre Auswirkungen haben muß auf das semiotische Kontinuum. Diese Spaltung ist noch nicht Struktur des Semiotischen zu nennen. Vielmehr ist diese Gespaltenheit der Grund, warum sich Identität noch nicht bilden kann, »auch nicht die eines »eigenen Körpers«.«142
Schäfer setzt fort, dass gegenläufige Strömungen in der chora »Diskontinuitäten« sind, die gleichzeitig auch die ersten Grenzsetzungen im Semiotischen sind, »An denen sich sowohl körperliche Bedürfnisse konzentrieren, wie Hungergefühl, Schmerz, als auch gesellschaftliche Zwänge, das Eingebundensein in den Alltag der versorgenden Personen, das zeitliche Rhythmen und Ordnungen vorgibt.«143 Als Beispiel führt sie auch sprachliche Fehlleistungen im Sinne von freudschen Versprechern an, durch die die semiotische chora als Untergrund der Sprache »durch die manifeste Sprache als etwas Latentes, Selbst Undifferenziertes hindurch erkennbar werden kann. Kristeva führt hier die 138 139 140 141
Sabine Bayerl, Von der Sprache der Musik, a.a.O., S. 187. Vgl. ebd. S. 130. Julia Kristeva, Die Revolution der poetischen Sprache, a.a.O., S. 35. Elisabeth Schäfer: Die offene Seite der Schrift. Jacques Derrida und Helène Cixous Côte à Côte, Diplomarbeit, Universität Wien, 2006. 142 Ebd. S. 55. Zitiert aus Kristeva, 1978. S. 39. 143 Schäfer, Die offene Seite der Schrift, a.a.O., ebd.
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Metonymie und die Metapher an, in denen das Semiotische im Symbolischen wiederkehrt.«144 Judith Butlers Kritik an Kristevas Theorie der Revolution der poetischen Sprache durch das Semiotische als das subversive Mittel innerhalb des Symbolischen in »Das Unbehagen der Geschlechter«, bezweifelt das subversive Potential, indem Butler behauptet, dass Kristevas Theorie geradezu von der Stabilität und Reproduktion des Gesetzes abhängt, das sie zu verschieben sucht. Butler schreibt dazu über Kristeva: »Während sie einerseits die Schranken von Lacans Bemühungen aufzeigt, dem Gesetz des Vaters in der Sprache universelle Geltung zu verschaffen, räumt sie andererseits ein, dass das Semiotische dem Symbolischen stets untergeordnet ist, bzw., dass es seine Besonderheit gerade innerhalb einer Hierarchie gewinnt, die gegen jede Anfechtung immun ist. Wenn das Symbolische seine Hegemonie stets wieder geltend macht, obgleich das Semiotische die Möglichkeit zur Subversion, zur Verschiebung oder zur Störung des väterlichen Gesetzes fördert – welche Bedeutung können dann diese Begriffe noch haben?«145
Bayerl argumentiert, dass Butlers Kritik nicht so einfach aufrechterhalten bleibt, da die Behauptung, das Semiotische sei dem Symbolischen stets untergeordnet für Kristevas »Text«-Begriff nicht zutrifft. »In dieser Praxis der Sinngebung dominiert die Bewegung der semiotischen chora das Symbolische.«146 Butler beendet ihre Kristeva Kritik mit folgendem Ausblick, wie eine Subversion dennoch möglich ist: »Wenn Subversion möglich ist, dann nur als eine, die von den Bedingungen des Gesetzes ausgeht, d.h. von den Möglichkeiten, die zutage treten, sobald sich das Gesetz gegen sich selbst wendet und unerwartet Permutationen seiner selbst erzeugt. Dann wird der kulturell konstruierte Körper befreit sein, allerdings weder für seine »natürliche« Vergangenheit noch für seine ursprünglichen Lüste, sondern für eine offene Zukunft kultureller Möglichkeiten.«147
Bayerl setzt die semiotische chora mit der Musik gleich und kommt zum Schluß, dass gerade dort der Charakter der Unfassbarkeit auftritt und somit dort das subversive Element der Mimesis liegt, das eine SprachRevolutionierung ermöglicht: »Die Bedeutung der Mimesis in Kristevas Sprach-Revolutionierung wird hieran evident: ist sie es doch, die im poetischen Text genau diese Aufgabe übernimmt. Mit ihrer Hilfe vermag das Identische, d.h. Symbolische, zum Schauplatz des 144 145 146 147
Ebd. S. 56. Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, a.a.O., S. 124. Sabine Bayerl, Von der Sprache, a.a.O., S. 192. J udith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, a.a.O., S. 141f.
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Nicht-Identischen, den sich in Regelverstößen äußernden Schüben der energetischen chora, zu werden. Chora immanentisiert – und darum trägt sie die Metapher Musik zurecht – eine musikalische, primär affektive Dimension. In der Sprache bewahrt sie – dort nicht lokalisierbar, dennoch vorhanden – als »ortloser« Ort ihren Charakter der Unfassbarkeit. Gerade darum kann das Nichttheoretisierbare mit Hilfe der chora paradox Bestandteil einer komplexen Spracherweiterungstheorie werden.«148
Die Musik dient bei Kristeva als Metapher, um den »Gesang unter dem Text«149, den semiotischen Rhythmus der chora begrifflich fassbar zu machen und somit die Poesie in Richtung der Musik zu erweitern, die nichtsprachliche Dimension von Sprache zu forcieren. Die Musik (Metapher für chora) ist am somatischen, triebhaften Geschehen beteiligt und steht im engen Zusammenhang einer Sprache des Körpers.150 »Tritt die Stimme hinzu, entsteht »Musik« in den Buchstaben.«151 Die Stimme transportiert außer der begrifflichen Bedeutung im Signifikant eine Art Musik. Der Doppelcharakter der Stimme besteht aus den somatischen und symbolischen Partikeln im Gehörten und vereinigt sie zu einer eigenen Mischung aus Timbre und Sprache. Die affirmativ skandierenden Rhythmen und somatischen Klänge lassen das triebhafte Geschehen das sprachliche Material durchbrechen.152 »Der poetische Rhythmus ist nicht die Anerkennung des Unbewussten, sondern dessen Verausgabung und »Inbetriebnahme«.«153 Dabei ist laut Bayerl das Resultat die Wiedereinführung von Lust(erleben) in den Text über den wiederbewegten Trieb. Die Lust ist kein Bestandteil des Textes, sondern revolutionäres und asoziales Treiben. Wenn die chora im poetischen Text agiert »duldet sie in der Explikation und Imagination keine andere Analogie als den Rhythmus von Stimme und Geste, so muß die in der Sprache zu vollziehende Revolution auch auf den sprechenden Körper ausgeweitet werden. Denn erst wenn man diese Beweglichkeit der semiotischen chora«154 »wieder im Lichte des Gebärden- und Stimmspiels sieht (das uns hier als Beispiel im Hinblick auf die Sprache interessiert), eines Spiels, das sie auf dem Register des sozialisierten Körpers vollführt, wird dieser Körper von der Ontologie und der Leblosigkeit befreit, in die Platon ihn versetzt hatte, wohl um ihm den Rhythmus zu nehmen, den Demokrit ihm noch zugedacht hatte.«155 148 149 150 151 152 153 154 155
Sabine Bayerl, Von der Sprache, a.a.O., S. 254. Julia Kristeva, Revolution der poetischen Sprache, a.a.O., S. 41. Sabine Bayerl, Von der Sprache, a.a.O., S. 254. Julia Kristeva, Revolution der poetischen Sprache, a.a.O., S. 72. Sabine Bayerl, Von der Sprache, a.a.O., S. 255. Julia Kristeva, Revolution der poetischen Sprache, a.a.O., S. 169. Sabine Bayerl, Von der Sprache, a.a.O., S. 255f. Julia Kristeva, Revolution der poetischen Sprache, a.a.O., S. 37.
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Postkoloniale Mimikry Wie Lacan betont, ist der eigentliche Effekt der Mimikry die Camouflage, in der es darum geht, genauso wie der Hintergrund gemustert zu sein: »Mimikry reveals something in so far as it is distinct from what might be called an itself that is behind. The effect of mimicry is camouflage. It is not a question of harmonizing with the background, but against a mottled background, of becoming mottled exactly like the technique of camouflage practised in human warfare.«156 Dieser Aspekt der Mimikry ist für die postkoloniale Auslegung von grundlegender Bedeutung, da die Mimikry im kolonialen Diskurs aus der Spannung zwischen einer synchronischen, panoptischen Vision der Herrschaft und dem Verlangen nach Identität und Stillstand einerseits, und dem Gegendruck von der Diachronie der Geschichte, dem Wechsel und Unterschied andererseits, entsteht. So schreibt auch Homi Bhabha, indem er auf Edward Said Bezug nimmt, dass die Mimikry einen ironischen Kompromiss darstellt.157 Er bezieht sich auch auf Samuel Webers Formulierung des marginalisierenden Blicks der Kastration, denn die koloniale Mimikry ist das Verlangen nach dem reformierten, wiedererkennbaren Anderen als ein Subjekt des Unterschieds, das fast dasselbe ist, aber nicht ganz. Der Diskurs der Mimikry ist daher rund um die Ambivalenz konstruiert, denn um effektiv zu sein, muss die Mimikry kontinuierlich eine Verzögerung produzieren, ihren Exzess, ihren Unterschied.158 »Mimicry is, thus the sign of a double articulation; a complex strategy of reform, regulation and discipline, which »appropiates« the Other as it visualizes power. Mimicry is also the sign of the inappropriate, however, a difference or recalcitrance which coheres the dominant strategic function of colonial power, intensifies surveillance, and poses an immanent threat to both »normalized« knowledges and disciplinary powers.«159 Der Effekt der Mimikry auf die Autorität des kolonialen Diskurses ist tief und verstörend. Die Ambivalenz dieser Strategie ist auch in Lockes »Second Treatise« wahrnehmbar, der in einem doppelten Gebrauch des Wortes »Sklave« die Begrenzungen der Freiheit enthüllt: »first simply, descriptively as the locus of a legitimate exercise of power. What is articulated in that distance between the two uses is the absolute, imagined difference between the »Colonial« State of Carolina and the Original State of Nature.«160 156 Jacques Lacan »The line and light« in: The Four Fundamental Concepts of Psychoanalysis, London, 1977 S. 99. Zitiert in Homi Bhabha: The location of culture, London/New York, 1994, S. 85. 157 Vgl. Homi K. Bhabha, The location of culture, a.a.O., S. 85. 158 Vgl. ebd. S. 86. 159 Ebd. 160 Ebd.
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Diese Ambivalenz stellt das koloniale Subjekt als »teilweise« oder »inkomplett« dar. Der Erfolg der kolonialen Aneignung hängt von der Zunahme von unpassenden Objekten ab, die ihr strategisches Versagen garantieren und die Mimikry zugleich Ähnlichkeit und Bedrohung ist: »It is from this area between mimicry and mockery, where the reforming, civilizing mission is threatened by the displacing gaze of its disciplinary double, that my instances of colonial imitation come. What they all share is a discursive process by which the excess or slippage produced by the ambivalence of mimicry (almost the same, but not quite) does not merely »rupture« the discourse, but becomes transformed into an uncertainty which fixes the colonial subject as a »partial« presence. By »partial« I mean both »incomplete« and »virtual«. It is as if the very emergence of the »colonial« is dependent for its representation upon some strategic limitation or prohibition within the authoritative discourse itself. The success of colonial appropiation depends on a proliferation of inappropriate objects that ensure its strategic failure, so that mimicry is at once resemblance and menace.« (Hervorhebung im Original)161
Was aus Mimesis und Mimikry hervorgeht, ist etwas »Geschriebenes«, eine Art des Darstellens, welche die Monumentalität der Geschichte marginalisiert und einfach ihre Macht als Model verspottet. Jene Macht, die sie imitierbar macht. Die Mimikry wiederholt eher als sie darstellt oder repräsentiert.162 »What is the nature of the hidden threat of the partial gaze? How does mimicry emerge as the subject of the colonial surveillance? How is desire disciplined, authority displaced?«163 Bhabha zitiert Freud, der die koloniale Mimikry als eine Art Unterschied anführt. Ein »almost the same but not quite« oder »almost the same but not white«: »The »desire« of mimicry, which is Freud’s striking feature« that reveals so little but makes such a big difference, is not merely that impossibility of the Other which repeatedly resists signification. The desire of colonial mimicry – an interdictory desire – may not have an object, but it has strategic objectives which I shall call the metonymy of presence.« (Hervorhebung im Original) 164 Bhabha betont, dass die Mimikry in ihrem metonymischen Spiel mit der Macht konfliktreiche, fantastische und diskriminatorische Identitätseffekte produziert, die keine Essenz, kein Wesen und kein eigentliches »Selbst« verbergen: »In mimicry, the representation of identity and meaning is rearticulated along the axis of metonymy. As Lacan reminds us, mimicry is like camouflage, not a har161 162 163 164
Ebd. Vgl. S. 87f. Ebd. S. 89. Ebd.
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monization of repression of difference, but a form of resemblance, that differs from or defends presence by displaying it in part, metonymically. Its threat, I would add, comes from the prodigious and strategic production of conflictual, fantastic, discriminatory »identity effects« in the play of a power that is elusive because it hides no essence, no »itself«.«165
Das koloniale Aufeinandertreffen zwischen »Weiß« und ihrem »schwarzen« Widerschein, zeigt die Ambivalenz der Mimikry als Problematik der kolonialen Subjektbildung. Sie ist eine »erratische, exzentrische Strategie der Autorität im kolonialen Diskurs«166: »Mimicry does not merely destroy narcissistic authority through the repetitious slippage of difference and desire. It is the process of the fixation of the colonial as a form of cross-classificatory, discriminatory knowledge within an interdictory discourse, and therefore necessarily raises the question of the authorization of colonial representations; a question of authority that goes beyond the subject’s lack of priority (castration) to a historical crisis in the conceptuality of colonial man as an object of regulatory power, as the subject of racial, cultural, national representation.« (Hervorhebung im Original)167
Die fetischisierte koloniale Kultur ist für Homi K. Bhabha ein Aufruf zur Aufruhr und Widerspruch. Die Wirkungen der Mimikry, die er als »Identitäts-Effekte« bezeichnet hat, sind immer gespalten. »Under cover of camouflage, mimicry, like the fetish, is a part-object that radically revalues the normative knowledges of the priority of race, writing, history. For the fetish mimes he forms of authority at the point at which it deauthorizes them. Similarly, mimicry rearticulates presence in terms of its »otherness«, that which it disavows. There is a crucial difference between this colonial articulation of man and his doubles and that which Foucault describes as »thinking the unthought« which, for nineteenth-century Europe, is the ending of man’s alienation by reconciling him with his essence. The colonial discourse that articulates an interdictory otherness is precisely the »other scene« of this nineteenth-century European desire for an authentic historical consciousness.« (Hervorhebung im Original) 168
Angela McRobbie betont, dass Bhabha über das Alltagsleben leben schreibt, der gelebten Realität unter einer kolonialen oder post-kolonialen Autorität, wo ein bestimmter Handlungsraum erlaubt ist, indem die Bedeutung (im Sinne einer Übersetzung von einer Kultur in die andere) verändert werden kann, wie es auch Judith Butler mit ihrem Begriff der »resignification« erklärt. »This produces distortion when subordinated peo165 166 167 168
Ebd. S. 90. Vgl. Homi K. Bhabha: Die Verortung der Kultur, Tübingen, 2000, S. 133f. Ebd. Ebd. S. 91.
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ples are expected to copy the manners, behaviour and education of the coloniser. Their mimicry unsettles the ruler, precisely because the space of translating from one culture to the other also provides a space for insubordination, or antagonism. In this sense Bhabha’s »translation« comes close to Butler’s »re-signification«;[...]«169 Die Verbindung zwischen Kunst und Literatur spielt in Bhabhas Theorie eine grosse Rolle, wie auch McRobbie hervorhebt: »Artists and writers use the freedom of their own practices to begin from the unruly or hitherto marginalised locations, previously overlooked because they belonged, or referred, to seemingly unimportant spatial regions. A formal quality of much of this work is then the deliberate obliqueness of vision.«170 Bhabhas »location of culture« enthält das Potential der Kunst als eine oppositionelle Praktik auf Seiten der Armen und Benachteiligten.
Musikbeispiele: Grace Jones, Bishi Grace Jones Ästhetik steht auch mit der Erotisierung des Fremden, des Exotischen im Zusammenhang.171 Sie täuscht den kolonialen Blick durch ihr scheinbares Einfügen in das Anderssein, aber im Text des Liedes »Slave to the Rhythm«(1985) gibt sie ihre Kritik an diesem mimetischen Bild zu erkennen. Auf diesen Alben ist aber zu beachten, dass sie nicht der künstlerische Ausdruck von Jones selbst sind, sondern von einem Spezialisten-Team entworfen wurde. Es ist daher schwer zu sagen, ob sie nur deren Ausführerin oder Schauspielerin ist und daher die Fantasien ihres Teams darstellte, oder ihr eigener Wille dahinter stand und sie diese Fantasien durch ihre Darstellung hinterfragen wollte. Schon das Cover zu »Island Life« zeigt einige Punkte der postkolonialen Mimikry. Ihr schwarzer Körper ist fast nackt, die Brüste nur mit einem Stoffband bedeckt und sie wirkt sehr androgyn, sportlich. Sie hat eine rein ästhetische Funktion, die durch die Pose einer lebendigen Statue noch verstärkt wird. Grace Jones scheint eine jener afrikanischen Statuetten zu sein, mit denen sich reiche Weiße gerne ihr Wohnzimmer schmücken, um eine gewisse Exotik und Exzentrik zur Schau zu stellen.
169 Angela McRobbie: The Uses of Cultural Studies, London, 2005, S. 101. 170 Ebd. 171 Vgl. Simon Reynolds and Joy Press, The Sex Revolts, a.a.O., S. 294.
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Abbildung 14: Grace Jones II
Quelle: http://www.lyricsdownload.com/album-B000001FTH.html vom 15.11.2006. Auf diese Art und Weise kann auch der Titel »Slave to the Rhythm« interpretiert werden. Es ist nicht klar, ob Grace Jones hier ihre Authentizität ausnützt, damit spielt und sich einen Spaß daraus macht. Sie als eine Nachkommende jamaikanischer Sklav_Innen, ist im Stereotyp der rhythmischen und musikalischen Afrikaner_Innen verfangen und wird so zu einer Sklavin der Musik für die in der Mehrzahl weißen Hörer_Innenschaft: »Work all day, as men who know, Wheels must turn to keep the flow, Build on up, don't break the chain, Sparks will fly, when the whistle blows, Never stop the action, Keep it up, keep it up, Work to the rhythm, Live to the rhythm, Love to the rhythm, Slave to the rhythm, Axe to wood, in ancient times, Man machine, power line, Fires burn,
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heart beats strong, Sing out loud, the chain gang song, Never stop the action, Keep it up, keep it up, Breath to the rhythm, Dance to the rhythm, Work to the rhythm, Live to the rhythm, Love to the rhythm, Slave to the rhythm.«172
Dieses Spiel mit Übertreibungen und Andeutungen war irgendwann auch für eine populäre Feministin zu viel und so kam es 1978, nachdem der Stern als Titelbild ein Foto Helmut Newtons publiziert hatte, auf dem Grace Jones nackt und in Fesseln liegend zu sehen war, zur Sexismus-Klage von Alice Schwarzer. Diesem Foto waren allerdings schon mehrere Abbildungen leichtbekleideter Frauen vorangegangen. Alice Schwarzer bezeichnete das Foto als eine Darstellung der Frau als bloßes Sexualobjekt und dies sei ein Verstoß gegen die Menschenwürde aller Frauen. Die Klage wurde als Popularklage abgewiesen, mit dem Zusatz, dass Frauen als Kollektiv nicht beleidigungsfähig sein können.173 Interessant finde ich dabei, dass Alice Schwarzer auf den besonderen Fall der Grace Jones gar nicht eingegangen ist, denn es handelte sich bei dieser Darstellung doch um eine Anspielung auf die »doppelte« Sklaverei der schwarzen Frauen. Ein anderes Musikbeispiel, bei dem die postkoloniale Mimesis anscheinend gelungen ist, ist Bishi, deren eigentlicher Name Bishnupriya Bhattacharya ist, mit ihrem Debütalbum »Nights At The Circus«. Als Kind indischer Einwanderer in London aufgewachsen, kam sie mit ihren englischen Schulkamerad_Innen nicht klar und flüchtete sich deshalb in die Musik- und Kunstszene. Ihre Lieder sind eine Mixtur aus Electroclash, Balkanfolklore und Bollywoodsound. Bei ihren Konzerten spielt sie selbst die Sitar mit einem Gurt wie eine E-Gitarre umgebunden. Weitere Instrumente für ihre Lieder sind: Tablas, Maultrommel, Akustikgitarre, Klavier und Orgel. Bishi produziert ihre Songs auf dem Laptop oder auf der Ukulele und die Texte sind von den Romanen der postfeministischen Autorin Angela Carter174 inspiriert. »Nights At The Circus« (1984) ist das bekannteste Werk dieser englischen Schriftstellerin und reflektiert auch die 172 Text von http://www.lyricsdownload.com/grace-jones vom 06.09.2006 übernommen. 173 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Sexismus-Klage vom 07.09.2006. 174 Sie schrieb unter anderem auch den »queer«- feministischen Roman »New Passion of New Eve.« (1977), obwohl es den Begriff »queer« als solchen,wie wir in heute benutzen, damals noch nicht gab.
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Selbstwahrnehmung Bishis als heimatlose Exotin. »»Angela Carter schreibt über eine hybride Künstlerexistenz, die rastlos die Welt durchstreift. – ähnlich wie ich.« Bishi singt »von London als einem Zirkus, der diverse künstlerische Ausdrucksformen birgt, andauernd in Bewegung ist und eine Fluchtmöglichkeit in unserer globalisierten Welt darstellt.« »Das ist mein Leben als Musikerin« stellt sie fest.«175 Abbildung 15: Bishi
Quelle: http://blog.zeit.de/tontraeger/2008/02/18/wenn-die-sitar-leiseweint_661 8.6.2009. Bei ihren Auftritten ist sich Bishi auch ihrer Rolle aus Exotin bewusst und unterstreicht dies durch eine große weiße Blüte im Haar oder durch ein T-Shirt mit dem glänzenden Aufdruck eines Tigers und macht sich so die postkoloniale Mimesis, auch durch die verschiedenen Musikrichtungen von Balkan bis Indien, in ihren musikalischen Performances zu eigen.
Mimesis und Technologie Martina Leeker schreibt, dass Mimesis nur im Rückbezug auf den antiken Mimos erklärt werden kann. Es ist dies eine burleske und derbe Spielform, die im 5. Jahrhundert vor Christus nach Griechenland kam und neben der Attischen Tragödie als Spielform stand.176 »Mimesis steht nicht in einem besonderen Zusammenhang mit Musik und Tanz, sondern hängt eher mit Mimos zusammen. Nachahmen bzw. eine Ähnlichkeit herstellen ist zunächst nicht die Bedeutung von Mimos, sondern: eine Posse aufführen, sich verhalten wie eine Mime ist hier die Bedeutung des Begriffes, sie
175 Martin Hossbach »Bishi. Früher Bartók, heute Clash« http://www.spex.de/ t2/342/artikel.html vom 4.2.2008. 176 Martina Leeker: Mime, Mimesis und Technologie, München, 1995, S. 13.
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verweist auf das »niedrige« Leben, das bei den Feiern der Reichen mit der Absicht, sie zu unterhalten, vorgeführt wurde.«177
Als markante Daten für die Entwicklung der Mimesis führt Leeker folgende Innovationsschübe in der Technologisierung der Kommunikationsmedien an, wobei sie unter Technologisierung der Kommunikation diejenigen historischen Prozesse versteht, »innerhalb derer motorische, mentale und psychische menschliche Fähigkeiten sowie soziale Institutionen in Medien veräußert und durch diese ersetzt werden (Also entspricht z. B. die Schrift bereits einer Technologisierung des Wortes).«178 1, Erfindung des Alphabetes im Antiken Griechenland (ab 750 v. Chr.) 2, Erfindung des Buchdrucks (ab 1475) 3, umfassende Alphabetisierung und industrielle Revolution im 19. Jahrhundert 4, Erfindung von Telegraph, Telefon, Foto/Film bis hin zum Computer (ab 1870-1960).179
Ad 1, »Denn mit der Aufschreibbarkeit von Lauten in Schrift verliert geschriebene Sprache die Kontrolle über Klang und Rhythmus, wird sie ihrer sinnlichen Qualitäten beraubt. Was der Leser entziffert, muß er in einem imaginären »Theater« in seinem Kopf in Szene setzen. Pantomime als bewusst stumme theatralische Darstellungsform füllt dieses Loch, indem sie in der Schrift verloren gegangene sinnliche Qualitäten wie Mimik und Gestik visualisiert.«180 Die Pantomime betreibt die Unterwerfung der Imagination unter sprachliche Ordnung. Körperliches Verhalten und Beziehung zur Welt werden von einer Mimesis an die Repräsentation von Realität und Wirklichkeit bestimmt. Ad 3, Ab dem 16. Jhdt kam es zu einer umfassenden Alphabetisierung, ab dem 18. Jhdt. konnten 25-40 % der Bevölkerung lesen. Die Schrift wurde zum Synonym für Wissen und Bildung.181 Ad 4, »Seit 1900 wird das Imaginäre selbst dingfest gemacht. Medien wie die Fotografie, der Film oder das Grammophon entzaubern die geistige Welt der Schrift und machen bis dahin Unsichtbares speicherbar und reproduzierbar. Die Neuen Medien von heute werden noch handgreiflicher und tauschen in computergenerierten Virtuellen Realitäten »materialisierte« Vorstellungen gegeneinander aus. Es entsteht der Eindruck, der
177 Christoph Wulf »Mimesis« in: Burkhard König (Hg.), Historische Anthropologie, Reinbek, 1989. 178 Martina Leeker, Mime, Mimesis und Technologie, a.a.O., S. 17. 179 Vgl. ebd. S. 15. 180 Ebd. S. 16. 181 Vgl. ebd. S. 143f.
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Mensch könne im Meer der Zeichenkörper Imaginäres veräußern und in immer neuen Konfigurationen austauschen.«182 Unter dem Eindruck der Realisierung bis dato imaginärer Signifikate in der vokalischen Buchstabenschrift in den Medien Bewegungsphotographie und Film bis hin zu computergesteuerten Generierung virtueller Realitäten harmonisiert und steigert Pantomime die Illusionierung der Sinne. Sie treibt den Austausch des Imaginären mit Realem und eine Mimesis an die Simulation von Wirklichkeit voran.183 Für Leeker endet die Gutenberggalaxis mit der Erfindung des Computers und zeigt daraufhin, dass die Qualität Neuer Medien nicht in der Beschleunigung der Information liegt, sondern darin, dass das digitale Medium interaktiv ist und der Körper in diesem Simulationsmechanismus als »Selbst-Bild« geschaffen wird. »Mimesis mausert sich zum Management von Wirkung. Anschluss an dieses Management erlangt der Mensch in der Inszenierung, der Darstellung. Denkschema ist dabei, dass Bilder Wirklichkeit, Wahrheit repräsentieren bzw. hervorbringen.«184 Schon die Schrift führte zu einer deduktiven Manier, mit den Vorstellungen, Einbildungen auf die äußere Welt projiziert und dann als real angeeignet werden. Neue Strategien der Wahrheit sind die Empfindungen durch die Wirksamkeit der Darstellungen auszulösen. So wird in diesem digitalen Netzwerk, die von ihm selbst erzeugte Wirklichkeit zur Einbildung. Laut Leeker stellt sich die Frage nach einer Identität oder Referenz zum Modell nicht mehr, weil es keine bloße Abbildung ist, die Bilder produziert. Die Bilder, Bewegungen und Empfindungen werden durch sich selbst hervorgerufen und die Mimesis befindet sich nur mehr im Wirkungsradius der Medien.185 Die Mimesis lässt sich bei Leeker als eine Vermittlung zwischen der Wirklichkeit des Leibes und der äußeren Realität umschreiben, die dabei resultierende Anbindung der Pantomime/Mime an den Leib ist eine kluge Sozialisierungsstrategie. »Pantomime/Mime ist die Transposition des mimetischen Vermögens in eine ästhetische Praxis (Kunstform), die im Gewand sozialer und nonverbal kommunikativer Verhaltensweisen auftritt. 182 Ebd. 183 Vgl. ebd. S. 24. 184 Ebd. S. 144. Zur Mimesis beim Schauspielern möchte ich noch zwei Meinungen anführen: Laut Bozal ist die theatralische Mimesis eine fiktive Mimesis, in welcher der Schauspieler vorgibt jemand anderer zu sein. Vgl. Valeriano Bozal: Mímesis: las imágenes y las cosas, Madrid, 1987. »(the actor) on a stage plays at being another before a gathering of people who play at taking him for the other person.« Jorge Luis Borges in »Everything or Nothing«. Im Original: »... la del actor, que en un escenario, juega a ser otro, ante un concurso de personas que juegan a tomarlo por aquel otro.« www.um.es/cat_hisp/borges_pessoa.pdf »borges-pessoa« vom 22.7.2007. 185 Vgl. ebd. S. 145.
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Diese Ästhetisierung des Sozialen entspricht seiner Mediatisierung. Zum Sozialen gehören dabei das individuelle Erleben von Physis und Umwelt, Umgang mit und Zugang zum anderen, zum Mitmenschen sowie zu Affekten und Begehren.«186 Eine Hypothese Leekers ist, dass gerade repräsentative und d.h. imaginäre Medien, wie die Schrift, zu einer Verbilderung der Welt führen. So wird die Welt zu einem groß angelegten teatrum mundi umgewandelt, in der Fiktion, Imaginäres und Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden sind. »Prothese dieses Imaginären ist der Körper selbst. Dieses Verhältnis wandelt sich im Zuge elektronischer Medien. Sie sind selbst Veräußerungen des Imaginären, der Einbildung und des Denkens, lassen aber keine Tarnung ihres imaginären Status mehr zu.«187 In der voralphabetischen Mimesis hingegen diente die Sprache als primäres Kommunikationsmittel und ist ein Zusammenspiel mit dem Körper. Diese mimetische Art verhalf zur Konstituierung des Sozialen selbst. Es brauchte Strategien, um die Sozialität und Kommunikation herzustellen und zu erhalten. Der Tanz in Stammeskulturen galt auch als voralphabetische Mimesis. Hier sind wir wieder bei der Mimesis als Ritus, wie zur Einführung des Kapitels besprochen.188 »Dazu bedarf es einer gemeinsamen, verbindenden »Welt«, d.h. gemeinsamer Zeit sowie einer gemeinsamen Raumwahrnehmung. Diese Kohäsion wird im Tanz exemplarisch gestiftet. Gemeinsame Zeit entsteht durch die Synchronisation der Rhythmen der Bewegung, ein gemeinsamer Raum durch die Koordination ihrer Orientierung.«189 Meiner Meinung nach findet diese Mimesis bei heutigen Konzertbesuchen statt und erleichtert damit die Übertragung von Affekten und Gefühlszuständen durch den unmittelbaren Einsatz des Körpers und,wie bereits vorher bei der Mimesisanalyse von Georg Lukács erwähnt, kann diese Mimesis auch zur Ekstase führen (z. B. Rave und Ecstacy). Diese Gefühlswelle dient auch der Selbstermächtigung, wie ich später anhand eines Musikbeispiels zeigen werde.
Die binäre Phase der Mimesis Leeker erklärt, dass die Entwicklung der binären Phase das Ende der Analogie und damit das Ende des traditionellen Mimesisbegriffs sei. Das neue Verhältnis von simulierter Mimesis und der mimetischen Simulation wird endgültig festgelegt.190 Meiner Ansicht nach ist das Spiel »Second Life«, bei dem ein zweites Leben simuliert wird, das mit anderen Mitspie186 187 188 189 190
Ebd. S. 27. Ebd. Vgl. ebd. S. 31. Ebd. S. 32. Vgl. ebd. S. 198.
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lern/Personen gespielt/geführt wird und bei einigen fast mehr Zeit in Anspruch nimmt, als das wirkliche Leben, ein gutes Beispiel dafür. Wie Martina Leeker schreibt, ist das Ziel der binären Kodierung eine »Komplettierung« der Bilder, denn die Bits sind nicht nur Träger visueller sondern auch jeder anderer Information und beziehen auch andere Sinne mit ein. Die analoge/n Körperzeichen oder Körpersprache werden zu digitalen, binären Kodierung gewandelt und dem universellen, symbolischen Status des Bits, der sich als reine Differenz zwischen 0 und 1 konstituiert, angepasst. Dieser Status der Differenz ist mit dem Sprachbegriff Saussures vergleichbar, wobei die Differenz, nicht die Analogie, den »Wert« eines Sprachzeichens bestimmt. Leeker betont, dass die Menschen im Denken dennoch auf Analogien angewiesen sind.191 Martina Leeker geht nun näher auf Decroux Arbeiten ein: Decroux untersucht, wie »Sprache mit den neuen Medien in Einzelbereiche (optische, akustische, sensorische und motorische Reize) zerfällt« und interessiert sich zum einen »für die sensorisch-motorischen Koppelungen im Körper«. Er analysiert auch »die Arbeitsweisen von Maschinen und deren geistiges Potential. Ein solches haben nur kybernetische Maschinen durch ihre selbstgelenkten Steuerungsmechanismen.«192 Für ihn sind Sprache oder Körper keine stofflichen Substanzen, sondern schlicht Differenz, Verschiedenheit, die das eine Phonem bzw. Körperteil von anderen trennt.193 Laut Decroux operiere die Sprache nicht nur mit Lauten sondern auch mit dem Wegfall von Lauten. Sie begnügt sich mit der Gegenüberstellung von Etwas mit Nichts und hat damit etwas mit der Maschinensprache gemein. Im Binärsystem hat der Wegfall eines Impulses genauso einen Informationswert, wie der Impuls selber. Diese Maschinensprache stellt einen Transformationsmechanismus dar, mit dessen Hilfe Lautliches und Visuelles, Sprache und Schrift ineinander übersetzt werden kann.194 »Der Mensch passt sich den Möglichkeiten der Maschine an. Kinästhetisch und emotional sozialisiert Decrouxs Differenzen-Körper eine Veräußerung kybernetischer Vorstellungen: Der Körper als selbstregulierte Steuerungsmaschine. In Decrouxs Bewegungslehre und Körpertechnik entspricht dies dem Wechsel von Bewegung, d.h. intrakorporellen Positionsdifferenzierungen und Stille.«195 Der Körper wird dabei selbst zu einer Folie, an der sich innerer und äußerer Raum austauschen. Die taktile Mimesis vermittelt zwischen Berührt-Werden, Erregt-Werden im sinnlichen, physischen wie geistigen Sinne und den aktiven Personen, die berühren, erregen, hervorbringen und 191 192 193 194 195
Vgl. ebd. S. 199. Vgl. ebd. S. 209f. Vgl. ebd. S. 210. Vgl. ebd. Ebd. S. 211.
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die objektive Umwelt zum Klingen bringen. »Ähnlich einer rituellen, voralphabetischen Mimesis wird im Handeln Realität als physisch erlebbare Wirkungs-Wirklichkeit geschaffen. D.h. Erfahrung, Erinnerung und Repräsentation vermitteln sich konkret im Handeln und nicht in einem als Medium dienenden Zeichen (vgl. Alphabet, Körpersprache).«196 Leeker führt dann interessante Beispiele an, wie versucht wird, doch noch eine Annäherung an den Körper zu schaffen: »Im ausgehenden 19. sowie im 20. Jahrhundert – Epochen, in denen das gängige Mimesismodell (elektronische Mimesis) zu einer Betonung der Empfindsamkeit für den eigenen Leib führt – entwickelt die Alltagsmime eine zweifache Strategie für die Annäherung an den Körper. Erstens soll die Sensibilisierung durch Betäubung einen neuen Zugang zur Körperlichkeit ebnen. Die entsprechenden Strategien können entweder Formen regelrechter Schocktherapien annehmen, z. B. Discotänze der 70er/80er Jahre, bei denen sich die Tanzenden gegenseitig schubsten und ansprangen (»Pogo«) oder Stürze von Rockstars von der Bühne hinab in die Tiefen des Publikums sowie bungie-jumping. Oder der Zugang vermittelt sich zweitens durch kontemplative, sich selbst im Körper erfahrende Formen wie z. B. in Körperbewusstseinstechniken sowie autogenen Training. Dabei darf die Ambivalenz dieser Strategien nicht außer Acht gelassen werden. Sie führen nie zur Wiederkehr eines natürlichen, authentischen Körpers, den es per se nicht gibt. Ein solcher ist Phantasma unserer Einbildungen. Vielmehr sind diese Strategien Hilfsmittel, Gegenreizmittel zur Gewöhnung an ein neues Mimesismodell (Wandel von literarisierter zu elektronischer Mimesis).«197
Zusammenfassend zur technologischen Mimesis kann gesagt werden, dass die Kategorien von Urbild, Abbild, Vorbild oder Simulation und Mimesis durcheinander geraten sind und in den digitalen Medien nicht mehr einfach voneinander zu trennen sind: »Ist die Simulation das Mimetische, das Mimetische die Simulation? Was ist Vorbild, wer Abbild oder ist das Abbild Vorbild der Abbildung? Diese Fragen gemahnen nicht von ungefähr an die Querelen des Menschen mit digitalen Medien. Denn die kombinatorische Variante der Mime verhält sich mimetisch zu deren realitätsstiftenden Potentialen, indem sie das Prinzip der Variation auf Körper und Mimesis überträgt. Ihre Botschaft bleibt dabei eine paradoxe: Wirklichkeit und Simulation sind zu unterscheiden. Man weiß nur nicht, wer was ist! Dieses mimetische Verhältnis zur Simulation sowie das simulierte Verhältnis zur Mimesis dient dem Umgang mit digitalen Computer- und Videogestalten sowie mit Androiden.« 198
196 Ebd. S. 214. 197 Ebd. S. 273. 198 Ebd. S. 237.
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Die Magie lag eigentlich darin, dass das Absente vorgestellt oder eingebildet wurde, ohne vorher sichtbar zu sein. Diese Art von Magie wird durch eine Magie der allezeit realisierbaren Imagination abgelöst. Von den maschinellen Möglichkeiten werden zukünftig unsere Vorstellungen von Präsenz, Kommunikation und Erinnerung abhängen und was heute als Imaginär bezeichnet wird, wird morgen wirklich werden. Diese neue Konstellation von Mimesis und Neuen Medien kann auch zu einem sinnvollen, selbstbestimmten und subversiven Umgang mit Körper, Körpersprache, sozialer Ordnung und technologisch auferlegter Wirklichkeit führen. »Mimesis würde dabei zum Generator subversiver Tätigkeit. Denn sie sorgte für: 1, lexikalische Beweglichkeit (Bedeutungswildwuchs im Verhältnis zur Konventionalität von Bedeutung), 2, Autostimulierung bei Aufrechterhaltung der Bewusstheit dieses Zustands, 3, Erfindung neuer Konzepte und deren medialer Vermittlung in Anbindung an eine Vergleichbarkeit mit physischer Wirklichkeit und sozialer Realität.«199
Die Ambivalenz des mimetischen Prozesses verursacht im Gegensatz zum dialektischen Prinzip, in dem noch auf Fortschritt und linearen Geschichtsverlauf gehofft werden konnte, ein Denken der Ambivalenz, indem diese Vorstellungen von Linearität, Kontinuität und Identität vernichtet wurden. Es ist kein geordnetes Nacheinander herstellbar und es bleibt nur der unvermittelte Bruch, das Diskontinuierliche übrig. 200 Zum Abschluss fasse ich nocheinmal die subversive Mimesis und Mimekry zusammen. Bei Irigaray dient die Mimesis als Strategie, die sich zwar einerseits dem stereotypischen Blick der Männer unterwirft, allerdings nur, indem sie ihn in Frage stellt. Als subversive Strategie dient sie erstens, um diese negative Sicht auf die Frau als das Andere herauszufordern, zweitens, um zu zeigen, wie der weibliche Körper ausgeschlossen wurde und drittens, wie sich die Konzeption des weiblichen Subjekts und Körpers veränderte. Anhand des Speculums verdeutlicht Irigaray ihre Mimesistheorie, denn erstens dient das Speculum zur physischen Spiegelung, dann führt sie zweitens das ökonomische Spekulieren an und drittens die theoretisch-philosophische Spekulation. Die Frau bleibt bei Irigaray auf der Position des Spiegels beschränkt, kann aber mittels mimetischer Verschiebung subversiv handeln. Judith Butler behält diese Strategie Irigarays bei und erklärt so, dass die westliche Metaphysik erstens von einem Verbot von nicht-heterosexuellen Beziehungen abhängig ist, wie auch zweitens, von der Ausschließung des Femininen. Kristeva verortet die Mimesis im poetischen Text und teilt die Sprache in eine semiotische und eine symbolische Ebene ein, wobei die semioti199 Ebd. S. 320. 200 Vgl. ebd. S. 321.
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sche chora, der nicht-sprachliche Anteil ist, der am ehesten dem musikalischen Teil der Sprache (poetische Rhythmus) entspricht und in dem auch die Triebe am leichtesten durchkommen, wie zum Beispiel im Freudschen Versprecher. Die gegenläufigen Strömungen (durch die Triebe) in der chora sind Diskontinuitäten, die auch eine fixe Identität verhindern. Das subversive Potential liegt in dieser semiotischen chora. Judith Butler greift allerdings diese Behauptung Kristevas an, da sich angeblich das Semiotische nicht gegen das Symbolische auflehnen kann und der Reproduktion und Stabilität des symbolischen Gesetzes des Vaters unterliegt. Trotzdem schließe ich mich der Meinung Bayerls, laut der in dem semiotischen Anteil (poetische Rhythmus) eines Textes das Lusterleben aktiviert und so eine subversive Strategie mithilfe von Emotionen und Affekten ermöglicht wird. Bhabha sieht die koloniale Mimikry als ein Verlangen nach dem reformierten, wiedererkennbaren Anderen, das fast dasselbe ist, aber nicht ganz (almost the same but not white). Die Mimikry muß also eine Verzögerung produzieren, in der das subversive Moment liegt, aus dem dann Identitätseffekte entstehen. Für die postkoloniale Mimikry führte ich die Beispiele von Grace Jones »Slave to the Rhythm« und Bishis »Nights at the Circus« an. Laut Leeker kam es mit der technologischen Mimesis zu einem subversiven Umgang mit dem Körper, sozialer Ordnung und der technologisch auferlegten Wirklichkeit, denn die elektronischen Medien vergegenständlichen das Imaginäre, das somit zum Realen wird. Wie bei der Geschlechterparodie von Butler, wird die Kopie mit dem Original ausgetauscht und das Abbild wird zum Urbild.
Musikbeispiel: Lesbians on Ecstasy »This beat is lesbotronic!« Als Einstieg werde ich den sehr interessanten Artikel von Judith Halberstam »Keeping Time with Lesbians on Ecstasy« verwenden. Halberstam bezeichnet die Lesbians on Ecstasy als eine zeitgenössische queere Band, die alternative Formen der kulturellen Produktion präsentieren, indem sie mit der Logik des Cover-Songs spielen. Gewöhnlicherweise wurde ein Song, der von einer anderen Gruppe oder Musiker_In produziert wurde, entweder als ein Tribut (z. B. wenn sie Lieder von Bob Dylan singen), ein pathetisches Wiederinkraftsetzen oder Wiederholung (eine Cover-Band, die versucht mimetisch die originale Band zu reproduzieren oder in eine bestimmte Richtung zu lenken), oder eine eigenwillige Interpretation (sowie die französische Band »Nouvelle Vague« Lounge-versionen von New
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Wave - Songs geschaffen hat) oder ein Wiederbesuchen von zeitlosen Klassikern (z. B. irgendjemand singt Sinatras »My Way«) gesehen.201 Die meisten Bands inkludieren bei ihren Auftritten Cover-Versionen, Lesbians on Ecstasy haben sich auf die queeren Cover spezialisiert. Die Logik des »Coverns« ist meist das Original zu privilegieren oder die Bedeutung des Originalen selbst zu bestärken. Die postmoderne Kultur wird auch selbst als eine Pastiche von allem, was vorher kam, bezeichnet. Halberstam stellt nun aber die Frage, was denn eine Cover-Version queer, anders oder alternativ macht. Sie versucht die Queer Theory der CoverVersion herauszufinden und situiert die erneute Aufführung (»reperformance«) eines Liedes in Beziehung zu queeren Formen der Geschichte, Community, Freundschaft und über Generationen hinweg. Die Performance der Cover-Versionen kann ver»queert« werden und in diesem Prozess können neue Arten des Denkens über Zeit und generationenübergreifende Übertragung und Erinnerung entwickelt werden.202 Zeitgenössische queere Performer_Innen versuchen bewusst, die Vorhersagbarkeit von Arten und Weisen der Übertragung je nach Generation und die statischen Beziehungen zwischen Kopien und Original in ihren Performances durcheinander zu bringen. Sie machen es aber so, dass es nicht hauptsächlich als ironisch oder camp bezeichnet werden kann. Halberstam weist natürlich auf die »queerste« Formulierung der Beziehung zwischen Kopie und Original von Judith Butler in den 1990ern hin, in der Butler auf das Fundament der Homophobie antwortet, nämlich auf die Idee, dass die Beziehung zwischen Hetero und Homo soviel ist wie die Beziehung zwischen Original und Kopie. Butler zeigte mit Hilfe einer komplexen poststrukturalistischen Formulierung, dass die Beziehung zwischen Kopie und Original umgekehrt werden kann. Das heterosexuelle Paar von Mann und Frau schaut also nur im Vergleich mit dem homosexuellen Paar von butch-femme natürlich aus und verleiht so dem Original die Aura der Glaubwürdigkeit, wobei das Original aber eher von der Kopie abhängig gemacht wird als andersrum. Theoretiker_Innen haben dieses »gender trouble«-Paradigma herausgefordert und argumentiert, dass diese Umkehrung der Beziehung zwischen Kopie und Original unbeabsichtigerweise die Geschichte auslöschen kann und alle Performances, die früher geschehen sind, anachronistisch zu all den Performances erscheinen lässt, die später kommen. Das ist das Argument von Elizabeth Freeman in ihrem Essay »Unpacking History«, das ihr dazu dient, um die Möglichkeit von »über-geschichtlichen« Identifikationen herauszustreichen. Sie adaptiert Butlers Formulierung und entwickelt die Idee des »temporalen drag«, in dem einem Subjekt in einem bestimmten historischen Moment die Sen-
201 Vgl. Judith Halberstam »Keeping Time with Lesbians on Ecstasy« in: Women and Music. A Journal of Gender and Culture, Vol. 11. (2007), S. 51. 202 Vgl. ebd. S. 52.
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sibilität oder ein Set von verlangenden Strukturen eines Subjektes in einem anderen historischen Moment innewohnt.203 In queeren Subkulturen, behauptet Halberstam, stellen sich viele Performer_Innen Geschlechter, Rasse, Sexualität, Alter und Politik neu vor und produzieren neue Zeit-, Geschichts- und Identitätsmodelle. Halberstam beschäftigt sich bereits länger mit queerer Zeitlichkeit, die zeigt, dass Queers eine andere Zeit und andere an Zeit gebundene Erzählungen auf eine andere Art und Weise in Anspruch nehmen oder bewohnen. Viele junge Paare markieren ihre Zeit mit der Diktatur der Heirat und Reproduktion und somit auch mit der »Midlife-Krise«, »Menopause« und der Pension. Für Menschen, die allerdings außerhalb dieser reproduktiven Logik stehen, ergibt sich eine anderes zeitliches Schema (so z. B. HIV-positive Personen.)204 Einige queere Musiker_Innen, wie zum Beispiel Gretchen Philips, behaupten, dass die Cover-Version immer queer ist, denn das Cover ist wie ein »drag-act«, also eine Art und Weise eine andere Person oder Körper oder Stimme so darzustellen, dass die Performance eher gleichzeitig bewusst registriert wird, als bloß in das Original umgewechselt. Wenn Rufus Wainwright eine Version des »Chelsea Hotel #2« von Leonard Cohen performt, ein Lied, das eigentlich eine unsentimentale Beschreibung eines Stelldicheins von Cohen mit Janis Joplin darstellt, wird zu einer queeren Elegie auf ein weiteres anonymes schwules Treffen. Genauso, wenn Patti Smith auf ihrem 1975er Album »Horses« den Titel »Gloria«, einen anderen Cohen Song, singt, wird das Lied in eine lesbische Punkhymne verwandelt, trotz der Tatsache, dass sie zugibt, eine heterosexuelle Orientierung zu haben. Die lesbische Pose ist selbst eine Cover-Version, sie covert einen Song, der sie auch dazu zwingt, eine andere Identitätsposition einzunehmen und in diesem Prozess schafft sie, was sie »positive Anarchie« nennt. In beiden Fällen wird der originale Song durch die Cover-Version ersetzt, der unweigerlich queer macht.205 Halberstam verdeutlicht, dass innerhalb dieses Kontextes die aus Montreal kommende Dyke-Band Lesbians on Ecstasy (LOE) einen Kult geschaffen hat, indem sie elektronische Cover-Versionen von lesbischen Klassikern, wie den Indigo Girls, Melissa Etheridge, k.d.lang und Tracy Chapman herstellen. LOE verwendet das Genre der Dyke-Drama Musik, aber sie parodieren die Songs nicht oder verwandeln sie in eine anachronistische Form, sondern arbeiten diese Lieder für ein neues Publikum auf. Musikalisch wird das Lied »recycled«, aber sie behalten auch eine Kernempfindlichkeit des Songs bei, oder auch das Tempo bzw. die Stimmung der Musik und situieren die politischen Nachrichten für einen neuen politischen Kontext um. LOE verwenden offensichtlich Teile und Stücke von 203 Vgl. ebd. 204 Vgl. ebd. S. 53. 205 Vgl. ebd.
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anderen lesbischen Musikern, eine Basslinie hier, einen Chorus da, ein Textfragment, ein Gefühl, ein Konzept und imaginieren sich erneut die Bedeutung von Community und Eigentum. Sie definieren lesbische Kultur neu und auch den Schaffensprozess – sie lenken die Aufmerksamkeit auf die Art und Weise, in der sie sich etwas ausborgen, aufsammeln, aufpfropfen, kopieren und sampeln, was in der DJ-Kultur gelobt wird, aber wenn es so offensichtlich von queeren Musiker_Innen praktiziert wird, kann es auch missbilligt werden. Da queer und besonders lesbisch bereits synonym mit derivativ verwendet wird, ist das kreative Stehlen der LOE eine freche Verweigerung des Imperativs an Lesben, sich unter die Hintergrundgeräusche im Vergleich zu den lauteren Identitäten in der Umgebung zu mischen. Wie der Bandname schon andeutet, versuchen sie eine Version lesbischer Musikkultur darzustellen, als ob sie »auf Ecstacy« wären. Diese kreative Neuerfindung konstituiert die Geschichte als eine Art die Vergangenheit zu sehen, als würde sie durch eine willentlich verzerrte Linse besucht und die Aufmerksamkeit wird weg vom Ganzen auf den Teil hin zu fokussiert - es ist eine bewusst fetischistische Geschichte, die Geschichte des Unbedeutenden, des Vergessbaren und des Missglückten. Die Band findet Momente in der Musik, in denen sie erneut Momente der Sehnsucht oder Angst, der Revolte oder des Bruchs wiederherstellen. Die Bandmitglieder_Innen zeigen zwar ihre Zuneigung zu den Originalen, zerstückeln sie aber trotzdem willentlich.206 Berni Bankrupt207 aus der Band erklärt dazu: »The irony is thickly layered on top of our music, but in the end we’re doing our best to make the most sincere, awesome versions of these songs that we can. [...] Maybe part of being feminists, women and lesbians is that we can’t really escape our sincerity. We kinda like the songs, too.« 208 Sie versuchen also die Originalversionen neu zu definieren und überdenken die Beziehung zwischen dem Original und der Kopie. Sie setzen auch die Aufrichtigkeit oder Ernsthaftigkeit in den Mittelpunkt der lesbischen Ästhetik und verweigern letztendlich die Assoziation mit der Ironie und Camp. Wie Halberstam weiter aufzeigt, ist das Überraschende an LOE, dass sie bekannte und »cozy« lesbische Klassiker in das sowohl Statische wie auch Verzerrende der elektronischen Musik einbauen. Das »Neuverkabeln« der Stimme ist der Kern dieses Täuschungsprojektes. So spielen sie zum Beispiel eine schroffes Cover von k.d. langs Klassiker »Constant Craving«, das sie als »Kündstant Krøving« bezeichnen. Das Original, ein gefühlsbeladener Song, wird im metallischen Lärm eingegraben und 206 Vgl. ebd. S. 54. 207 Die Anderen heißen: Jacki Gallant, Fruity Frankie und Veronique Mystique, wobei diese Namen aus der Drag-King Tradition zu kommen scheinen. 208 Sarah Liss »Grrrl on Girl Music: Lesbians on Ecstasy More Than Mereley Clever Parody« http://www.nowtoronto.com/music/story.cfm?content=13 8576&archive=23,6, 2003. Zitiert in Judith Halberstam, Keeping Time with Lesbians on Ecstasy, a.a.O., S. 54.
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kommt nur im aufwühlenden Chorus durch: »even through the darkest phase, be thick or thin, always someone marches brave, there beneath my skin, constant craving has always been«. Die/der Sänger_In benutzt einen Stimmverzerrer und nimmt so das coole Schnulzige wie auch das Samtige aus k.d. langs Stimme heraus. LOE scratched die Stimme, macht sie rauer und verwandelt die langen hinausgezogenen Sätze in staccato Stücke. Nun hat das »constant« nicht mehr die Bedeutung von langen hoffnungslosen Nächten voll mit romantischem Verlangen inne, sondern wird stattdessen es zu einer Art irritierender Anklage und das »craving« hat weniger von dem dringenden Verlangen und mehr von einer persistierenden Aktivität, die der Song herausstampft. LOE verweigert die Virtuosität von k.d. langs Performance und findet den Ort des Widerstands im Song sowohl in der Stimme als auch im Inhalt – eine Antikonsum-Nachricht, die das Recycling des romantischen Klischees mit der kapitalistischen Produktion des Bedürfnisses neue Produkte zu konsumieren verbindet.209 Meiner Ansicht nach ist mit diesem queeren Cover der LOE eine subversive Strategie der technologischen Mimesis gelungen. Mit Hilfe der Mimesis und der elektronischen Musik als Technologie wird die Ursprünglichkeit des Originals und der nachahmende Charakter der Kopie vertauscht und erneuert, sodass das Original nicht mehr länger als solches gelten kann und die Kopie zum eigentlichen zeitgenössischen Original wird. Halberstam erläutert weiter, dass k.d. langs Songs eher »homo« sind, im Sinne von einem Engagement, es richtig hin zu bekommen, wohingegen die Lieder von LOE als »lesbo« definiert werden können – als ein Engagement für kreative Verstümmelung. »While a band like Indigo Girls and a performer like Tracy Chapman reached their audiences precisely by making sincerity, authenticity, and personal address part of the vocal core of the song, LOE erases the specificity of the voice and turns melodic signature into collective chants. In a way LOE resignifies the meaning of »sincerity« itself so that the sincere no longer only means »depth of feeling« but also refers to the texture of meaning, not the true but the blunt, not the genuine but the improvised.«210
In der LOEs Version von Tracy Chapmans »Talking about a Revolution« beginnt das Lied mit einem Gitarrenstück und einer Basslinie die an die »Gang of Four« erinnert und läuft dann eher mit der Energie des Songs weiter als mit seiner Melodie. Wie in vielen Le Tigre - Liedern spielt die hoch-ge»pitch«te Stimme mit dem Gefühl der Hysterie, die im Laufe des Songs stärker wird. Chapmans Stärke liegt darin, wie sie es schafft, die Ruhe mit dem Chaos zu verbinden und Texte wie »Poor people gonna rise up and take their share / Poor people gonna rise up and take what’s theirs« 209 Vgl. ebd. 210 Ebd. S. 56.
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ohne wechselndem Tempo darzubringen. Die Revolution, über die sie spricht, bringt sie zurück zur schwarzen Folk Musik, die sie aber mit einem neuen politischen Kontext verbindet. LOE verbinden das Sprechen über Revolution mit der Energie und der Dynamik von düsterer Tanzmusik. Chapmans Hymne wurde 1988 inmitten der Reagan-Bush Ära veröffentlicht. Halberstam vergisst hier auch zu erwähnen, dass 1988 in Südafrika noch die Apartheid herrschte, denn für mich war dieses Lied von Chapman eine Anspielung auf die bevorstehende (oder bereits andauernde) Revolution. Stattdessen weist Halberstam auf die oft übersehene Beziehung zwischen »race« und Genre hin, die ethnische Klassifizierung verschiedener Musikarten und die Unmöglichkeit solcher Genre-Darstellungen, innerhalb einer Geschichte von »Liebe und Diebstahl«211. LOE schafft es, einen »temporalen drag« darzustellen. Diesen Ausdruck entlehnt Halberstam von Elizabeth Freeman, die erklärt, dass der temporale drag gegen die postmodernen Formen des Pastiche arbeitet, die nur dickköpfige Identifizierungen sind, mit einem Set von sozialen Koordinaten, die den eigenen historischen Moment überschreiten. Die Möglichkeit solcher konträren temporalen Identifikationen drängt die Frage auf: »Was ist die Zeit der queeren Performativität?« LOE gibt die Antwort darauf, indem sie in den historischen Glücksbeutel greifen und ihre eigene Tanzmusik mit intertextuellen Wegweisern, welche die neuen Zuhörer_Innen zurück auf Tracy Chapman, Melissa Etheridge und den Indigo Girls blicken lassen und auch Gegengenealogien (countergenealogies) für die zeitgenössische alternative Tanzmusik produzieren.212 Im Gegensatz zu schwulen männlichen Sängern, wie Rufus Wainwright, Hedwig, oder Anthony and the Johnsons, die in ihren Tragikdramas Ausschluss, Zurückweisung und Abhängigkeit darbieten, verweigern die LOE aktiv die Melancholie des temporalen drag »then they do not identify in other words with what has been lost to history but instead embrace the ecstasy of finding earlier grammars for the articulation of rage, rave, and revolution.«213 Wie die Band Tribe 8 (die ich in meinem letzten Kapitel als Beispiel angebe), entschuldigen sie sich für ihre »Queerheit« oder ihre queeren Geschlechter nicht, vielmehr schwelgen sie in ihrer Überlegenheit. So teilen die Mitglieder_Innen von Tribe 8 den straighten männlichen Fans mit, dass »sie ihre Babies anmachen«, singen über Kastration, femmes und butches und produzieren eine Taxonomie von queeren Leben. So singen die LOE die Worte der Tribe 8 »I want to manipulate my girlfriend, I want to play games with her head.« Die Stimme klingt betrübt, aber der unbeschwerte Beat sagt etwas anderes. Diese gegensätzliche Anziehungskraft dieses Songs dient eher als Parodie für die essentialistische 211 Hier spielt Halberstam auf das Werk von Eric Lott »Love and Theft: Blackface Minstrelsy and the American Working Class« an. 212 Judith Halberstam, Keeping Time with Lesbians on Ecstasy, a.a.O., S. 57. 213 Ebd.
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Konstruktion des Lesbianismus als weinerlich, einsam und missmutig, so wie der Blues, der auf Ecstasy folgt. Zusammenfassend sagt Halberstam, dass wenn LOE Tracy Chapman oder k.d. lang wiederaufleben lassen, eine Art von ekstatische queere Geschichte geschaffen wurde und alle diese Performances verlangen nach einem anderen Geschichtsmodell, einem das fähig ist, Verbindungen zwischen verschiedenen Formen der queeren Community herzustellen, verschiedene Stimmen und verschiedene historische Momente. »The model of history implied by the cover song is not the progressive unfolding of a narrative of assimilation, it is a jagged story of cathexis and repudiation, identification and disidentification, love and hate.«214 Warum ich die LOE als Beispiel für eine technologische Mimesis verwende, wurde in Halberstams Artikel zwar angedeutet, dennoch werde ich es nun noch einmal genauer erklären. Die Performance der LOE erfüllt alle drei unterschiedlichen Mimesisbegriffe der Neuzeit: also den ersten, realismus-theoretischen Begriff, der die Kunst als Spiegel sieht. Im Falle der LOE wird die Musik und Bühnenpräsenz als Spiegel der gegenwärtigen lesbischen Musikkultur gesehen. Zweitens, die der ontisch-externen Mimesis, d.h. der Imitation und Nachahmung. LOE verwenden Strukturen (Texte, Musik, Symbole) der lesbischen Kultur, machen sie auf ihre eigenwillige Art und Weise nach, produzieren daraus aber etwas Neues. Drittens die ontologische-interne Mimesis, in der die Mimesis aufgrund inhärenter Formprinzipien nachgebildet wird und wie es in einigen Liedern von den LOE geschieht, wie zum Beispiel in »Tell Me Does She Love The Bass«, werden markante Musikteile (Formteile), z.B die Basslinie und Textstücke von Melissa Etheridges »Like The Way I Do« verwendet. Interessant ist es auch, die von Platon aufgezeigte erzieherische Seite der Mimesis zu verfolgen, denn die Musik von LOE kann durchaus die Funktion übernehmen, junges queer-feministisches Publikum in die Geschichte populärer lesbischer und feministischer Musik einzuweihen. (Obwohl die LOE sicherlich aus Platons idealem Staat vertrieben worden wären, alleine schon aufgrund des negativen Vorbilds in ihrem Namen. Nach meiner Ansicht ist das Wort »Ecstasy« auch nur als »Hinhörer« gewählt worden und um ihre Affinität zur elektronischen Musik zu verdeutlichen, denn sie verherrlichen in ihren Texten weder diese Droge noch teilen sie während ihrer Konzerte unscheinbare Tabletten aus.) Vielleicht bezieht sich ihr Name aber auch auf die ekstatischen Zustände während ihrer Konzerte, also die Übersteigerung von Affektivität und Sensibilität, die durch ihre magische Mimesis bei ihrer Bühnenperformance ausgelöst werden kann. So wie es auch Lukács in seinen Forschungen zur Mimesis festgestellt hat: Die Magie der Mimesis besteht durch die Nachahmung von Vorgängen der Wirklichkeit, wodurch diese 214 Ebd. S. 58.
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selbst beeinflusst wird. Diese Nachahmung geschieht auch oft verbunden mit ekstatischen Zuständen (außerhalb des Alltagslebens), die durch Tanz, Trunkenheit oder toxische Exzesse ausgelöst werden und die mimetischen Gebilde evozieren Gefühle und Leidenschaften, die intensiv erlebt werden. Die Musikbeispiele LOEs fallen in die dritte Form der Mimesis, die ästhetische Mimesis, (neben der elementaren und theoretischen Mimesis) die Lukács in der Kunst, Magie, Mythos und Religion als welterschaffend und -erschließend ansieht. Sehr nahe kommen die LOE Aristoteles Mimesisbegriff, der die Mimesis im Vergleich zu Platon als etwas Positives, Kreatives und Produktives sieht und für den das zeitliche Element, das »Vorher« und »Nachher«, für die Dynamik wichtig ist. So streicht auch Halberstam die Bedeutung der Zeit (die älteren Lesbo-Klassiker und die junge Techno-ElektroMusik) in den musikalischen Werken LOEs heraus. Wie Gebauer und Wulf andeuten, verschwindet die Mimesis immer mehr in der Moderne, die Zeit der Originale ist vorbei, es ist nicht mehr wichtig, ob es ein Original, eine Kopie oder ein Simulakrum ist. In den Songs der LOEs geht es auch nicht darum, von wem jetzt welcher Text oder Musik abstammt, wichtig ist das Ergebnis. Bei Walter Benjamin ist die Mimesis nicht ein Mittel, um Erfahrungen zu ordnen, sondern eine Fähigkeit, die es fremden Subjekten erleichtert, eine andere Welt zu erfahren, so wie es auch dem Publikum der LOEs ergeht, wo die jüngere Generation die Slogans und Hymnen von früher kennenlernt und die ältere Generation mit der Musik der jüngeren vertraut wird. Irigarays Idee der weiblichen Mimesis als eine Wiederholung des Textes, der Theorie und der Anwendung der Theorie aus der weiblichen Perspektive heraus, lässt sich auch im Schaffensprozess der LOE nachvollziehen, indem sie die eigentlich männlichen Wege des zeitgenössischen Musikproduzieren parodieren, wie ein Mitglied der LOE erzählt: »More than anything, we're trying to parody people like Tiga doing that Corey Hart song Sunglasses,« explains Bankrupt, who's hanging out with her family in BC. »They're all doing the same thing. They take a funny song and give it a new face. They get, like, hipster cred for being so ironic and campy, but it's really just dudes doing dude music in a closed circle. The irony is we're lesbians, playing lesbian music at lesbian events – that's our closed circle.«215 Das Spekulum der LOE spiegelt die feministisch-lesbischen Elemente der populären Musikkultur in der heutigen Zeit wieder und gibt diesen Zutaten eine aktuelle queere Note,so z. B. im Lied »Cold Touch of Leather«, das zwar harmlos mit »women loving women...sisters united....« anfängt, 215 Sarah Liss »Grrrl on Girl Music: Lesbians on Ecstasy More Than Mereley Clever Parody« http://www.nowtoronto.com/issues/2003-10-09/music_feature_ p.html vom 2.2.2008.
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dann aber in eine SM-Phantasie übergeht. (Die Sängerin trägt zu diesem Song ihre Lederhandschuhe und eine Lederkappe.) Die technologische Mimesis erlaubt LOE, ein elektronisches Lied schneller zu produzieren und wiederzugeben als eine Band, die nur mit traditionellen Instrumenten der Rockmusik spielt, obwohl natürlich eine gewisse Zeit notwendig ist, um das Bedienen der Hard- und Software in der elektronischen Musik zu erlernen. Ich will noch auf einen weiteren subversiven Akt der LOE hinweisen, nämlich die generationsübergreifende Selbstermächtigung, die nicht nur durch das Aufgreifen von Zitaten aus früheren Lesben- und Frauenhymnen produziert wird, sondern auch durch den Communitycharakter ihrer Konzerte (und Konzerte haben immer bereits die rituelle Mimesiseigenschaft), der von den LOE besonders betont wird, beispielsweise in Songs wie »Womyns’ Luv« oder auch »Mortified«, dem letzten Titel auf ihrem letzten Album »We know you know« (benannt nach dem ersten Album, das auf Olivia Records – das erste Frauenlabel - von Meg Christian »I know you know« erschienen ist)216, und »mortified« ist auch ihr Abschiedslied auf ihren Konzerten. »Because we are your friends, your friends [...] we like to move it, move it, [...] we are your friends, you are never going to be alone [...]«. Das Gemeinschaftsgefühl wird durch die Betonung des »wir« und »wir sind Freunde und du wirst niemals alleine sein« kreiert. LOE schaffen es mittels Ritual und technologischer Mimesis Affekte zu erzeugen und somit eine generationenübergreifende Selbstermächtigung zu produzieren und bewegen (im Sinne von »move«) nicht nur die emotionellen Seiten sondern bringen auch hartgesottene Dykes in Tanzbewegung - oder wie Ute H. so schön verbildlicht: »Sisters United, Women Loving Women«- Chöre gibt es bei LOE nicht mehr mit Gitarre und Lagerfeuer, sondern in Technogewitter und Strobo-Geflirre gekleidet. Der neue Anzug steht den Songs und Zitaten gut, sofern sie einen Bart haben, ist er gut geklebt.«217
216 Vgl. Ute H. »This beat is lesbotronic« vom 14.10.2007. http://www. fmqueer.at/fq1/index.php?option=com_content&task=view&Itemid=60&id =252. 1.2.2008. 217 Ebd.
T R AC K 06: C Y B O R G – » T R AN S H U M AN «
Entstehungsgeschichte »Cyborg« ist ein Kunstwort aus dem Englischen und besteht eigentlich aus den zwei Wörtern »cybernetic« und »organism«. Die Kybernetik ist eine Forschungsrichtung, die vergleichende Betrachtungen über Gesetzmäßigkeiten im Ablauf von Steuerungs- und Regelungsvorgängen in Technik, Biologie und Soziologie anstellt. Der Terminus »Cyb-org« bezeichnet im zeitgenössischen Kontext ein neues Technologie-Körper-Verhältnis und ist selbst ein »Hybrid« aus Kybernetik und Organismus: »Cyborg soll den prothetischen Charakter unserer posthumanen, postmodernen Existenz am Übergang zum 21. Jahrhundert bezeichnen: die menschliche Existenz als eine Mischung zwischen Mensch und Maschine, zwischen organischen Körperteilen und Prothesen, der Körper als modulares System von Körper und Technologie.«1 Der Begriff Cyborg wurde 1960 von Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline das erste Mal erwähnt, um selbstregulierende Mensch-MaschinenSysteme zu benennen. Die Raumfahrtforschung versuchte den menschlichen Körper technologisch so umzubauen, dass er sich an eine außerirdische Umwelt anpasst. »Der Zweck des Cyborgs sei, dass »robot-like functions«, als welche Clynes und Kline die Körperfunktionen verstehen, »are taken care of automatically and unconsciously, leaving man free to explore, to think, and to feel.« (Clynes/Kline 1960:27)«2. In einem NASA-Bericht wurde die Cyborg Forschung näher erklärt und es erschien darin auch folgende Grafik, die veranschaulicht, welche Felder mit der Cyborg-Forschung verbunden sind. 1
2
Mona Singer »Cyborg – Körper – Politik« in: Karin Giselbrecht, Michaela Hafner (Hg)., Data | Body | Sex | Machine: Technoscience und Sciencefiction aus feministischer Sicht, Wien, 2001, S. 20. Ebd. S. 22f.
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Abbildung 16: Cyborg
Quelle: Engineering Man For Space. The Cyborg Study, Final Report NASw-512 To: NASA (OART) Biotechnology and Human Research, Washington, D.C. May 15, 1963. Submitted by: W. Driscoll, Cyborg Program. Approved By: Richard J. Preston, Manager, Bio-Sciences and Technology. United Aircraft, Corporate Systems Center. Farmingdale, Conn. In: Chris Hables Gray (Hg), Ass. Heidi J. Figueroa-Sarriera, Steven Mentor, The Cyborg Handbook, New York/London, 1995, S. 81. In einem Interview, das von Chris Hables Grey geführt wurde, sagte Manfred Clynes, dass, als er das Wort Cyborg in einer Besprechung mit Dr. Kline fallen ließ, dieser meinte, dass ich das Wort wie eine Stadt in Dänemark anhöre. Was Clyne aber wirklich damit meinte, ist folgendes: »The main idea was to liberate man from constraints as he flies into space – that’s a kind of freedom–but it seemed necessary to give him the bodily freedom to exist in another part of the universe without the constraints that having evolved on earth made him subject to. For example, the level of gravitation that is here, the oxygen, the atmosphere. And some of the other things that have conditioned the physiology of man to be what it is.«3
Sichtlich irritiert war Clyne über den Gebrauch von Cyborgs in der populären Literatur und Science Fiction: »This recent film with this Terminator, with Schwarzenegger playing this thingdehumanized the concept completely. This is a travesty of the real scientific concept that we had. It is not even a caricature. It’s worse, creating a monster out of something that wasn’t a monster. A monsterification of something that is a hu-
3
Chris Hables Gray (Hg.): The Cyborg Handbook, a.a.O., S. 47.
TRACK 06: CYBORG | 231
man enlargement of function; as if making a man who reads a book into an inhuman monster, just because he reads a book.«4
Clyne betonte, dass es ihm in seiner Cyborg Idee, um keine Änderung der menschlichen Natur an sich ging, er aber dennoch von prothetischen Organen für die Aufrechterhaltung sprach. »Like a kidney, for example, functions to maintain the internal environment, blood levels, but does not affect man’s basic nature to any extent«5. In den Cyborg Vorstellungen von Clyne gibt es auch eine Entwicklung, wie er selbst anhand des Unterschieds von Cyborg I und Cyborg II anführt: »The important thing is that the Cyborg I paper was concerned with physiology. Then in 1970 Astronautics asked me to write a sequel. I wrote this and I pointed out that we had not dealt with the emotional nature of man in the Cyborg I paper. The Cyborg II paper pointed out that there was an incompatibility in the emotional aspect of man’s nature that didn’t simply permit one to choose the environment willy-nilly, even with physiologic adjustments.«6 (Hervorhebung im Original)
Während er über Cyborg II spricht, erklärt er auch die seine Idee der Geschlechtlichkeit des Cyborgs: »Actually the Cyborg II paper really focused on the problem of space flight from an emotional point of view and it suggested some exercise like the Senic cycle that you could do to help you avoid boredom, avoid the desert of emotional nothingness. Even sexuality. By the way, parenthetically, the idea of cyborg in no way implies an it. It’s a he or a she. It is either a male or female cyborg; it’s not an it. It’s an absurd mistake. The cyborgs are capable of the same emotional expression and experience as an uncyborg […]«7
Auf die Idee hin, dass wenn ein menschliches Bewusstsein auf einen Computer heruntergeladen wird, das Geschlecht ziemlich arbiträr und irrelevant sei, außer jemand macht sich die Mühe und stattet die Maschine mit sexuellen Organen aus, stellte Clyne fest, dass diese Annahme falsch ist. »It is the brain circuitry that engenders sexual feelings; the organs are just the buttons you press to turn it on and they could be replaced by more direct inputs. The genes and chromosomes already determine sex, and the brain circuitry expresses that sexuality, among other things. I’d like to come to that but in a more systematic way. It would take quite a bit to answer that. But right now I’d like to
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Ebd. S. 47f. Ebd. S. 48. Ebd. Ebd.
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say - that the cyborg, per se-talking now of men or women who have altered themselves in various cyborgian ways - in no way has that altered their sexuality. In no way has that altered their ability to experience emotions, no more than riding a bicycle does. And even more importantly, it hasn’t altered their essential identity.«8
Gray sprach im Interview davon, dass auch die sexuellen Organe geändert werden können. Manche Leute sind Paraplegtiker oder Quadriplegtiker und ihre sexuellen Organe sind für alle Versuche und Absichten tot. Sie existieren nur durch Cyborg-Technologien. Clyne meinte daraufhin: »They can be paralyzed, but the sexual natur of man isn’t just the sex organs. It is something very much in the identity fo the person and in the environment. These include unconscious things. What excites one sexually is determined by the kind of sexual person you are. If you are a man certain shapes would tend to excite you and if a woman, other ones. Or if you are a homosexual it is a different matter, but I’m talking right now of heterosexual persons. Those are not arbitrary things. You cannot change them easily.«9
In seinem Konzept des Cyborgs III, bei dem weiterhin die Emotionen eine wichtige Rolle einnehmen, steht die Molekularbiologie im Vordergrund: »It already is known that the emotional world of men is fashioned through molecules like neuropeptides. Many peptides in the brain affect, and really control, the emotional aspects. Not just what used to be called the old messengers like hormones, which travel throughout the body, but more specifically and more powerfully these peptides, that in minute quantities exert very specific effects, often entirely on the brain side of the blood-brain barrier. There are receptors for these various peptides and undoubtedly each basic emotion has their own peptide. Many of these have not yet been identified. These peptides have receptors scattered throughout the brain, and the question is what happens to the other side of these receptors? That is largely not known yet. However, it is known that the emotional world can be affected now by designer molecules. That’s where the computers and molecular biology will intermarry, they already have flirted with each other quite strongly. They will be able to have computer-designed molecules, designed along the lines of naturally occurring molecules, that will naturally work inside the brain and will be able to change the emotional aspects.«10
Das dritte Cyborgmodell wird auch die Gene gebrauchen und sie für sich zu verändern wissen: »The Cyborg III makes use of the abilities we have found now to alter the products of the genes, and also to insert new genes into existing DNA.«11 »Today, however, in Cyborg III, we shall be able to 8 9 10 11
Ebd. S. 49. Ebd. Ebd. S. 49f. Ebd. S. 50.
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use the molecules and design them, making use of our knowledge of what types of emotion we have and how we want to improve man’s emotional nature to make him less destructive and more creative, enjoying the various satisfactions of life. To better the quality of life, not in a hedonistic way alone.«12 Der Schritt zu Cyborg IV, wo Eingriffe ohne Bedenken in das weitervererbbare Genmaterial akzeptiert werden, ist dann auch nicht mehr weit: »Cyborg III, you see, is making use of all the knowledge of molecular biology to improve man without heredity. Now Cyborg IV will come maybe fifty or a hundred years from now, when we know enough about the relationship between these molecules and the mind, consciousness and emotions, so they will no longer be afraid to change something, even in heredity. So that they will be able to improve, clearly, without the possibility that this could be damaging. And then participatory evolution at that point will really change human nature, and for the better.«13 Clyne kritisierte, dass manche literarisch erfundene Cyborgs sich durch besondere Eigenschaften hervorheben, diese aber letztendlich nicht so unterschiedlich zum Ist-Zustand des Menschen und seiner jetzigen Fähigkeiten sind. »I think I should mention that some people writing about cyborgs talk about machines that are virtually invisible because they are made of what they call sunshine, electromagnetic light, electromagnetic waves, and they make a big deal of that. But what in fact is visible to us by nature? We live in a real virtual reality. That is, our senses give us a real virtual reality. For example, there are no colors. They don’t exist. How would the Good Lord see colors? Wouldn’t he have to have three receptors like we do, and our qualia as designed into our brains? There are no colors in ‚nature’, there’s no sound. There’s none of the stuff. It’s all filtered with active filters, our senses. We, our brains, create the sensory world. We create this. This is a virtual reality that we create. It is a real virtual reality and is our common home, derived from our sensing - and our feeling.« »Even beyond this, importantly, when you see anything, you see it out in space, even though the light touches your retina. You don’t feel it at the retina. You (your nervous system, of course) project it out into space. When you hear a sound coming, you don’t feel it normally at your eardrum, unlike when your body is touched. Evolution has figured out a projected virtual reality, that your brain creates for you. Enjoy it! That too is part of the real virtual reality. When you create this cyborg so that you can see a person 1,000 miles away you are changing things very little from what nature magically did for us. Of course, there is no »nature« either: there is no localized earthian »Nature«, only the universe.« (Hervorhebung im Original)14
12 Ebd. S. 51. 13 Ebd. 14 Ebd. S. 52.
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C yb o r g - F e m i n i s m u s Auch Donna Haraway bezieht sich auf die Virtuelle Realität, jetzt aber auf die neuen elektronischen Technologien bezogen, wie zum Beispiel Computer und Internet. Haraway ist für die Einführung der Figur des Cyborgs in den Feminismus bekannt und fordert die aktive Beteiligung der Frauen in den neuen Technologien. Sie schreibt allgemein über diesen hybriden Organismus und über die beiden Erfinder dieser Fusion und gibt damit eine Zusammenfassung von dem Vorangegangenen: »The cyborg is a cybernetic organism, a fusion of the organic and the technical forged in particular, historical, cultural practices. Cyborgs are not about the Machine and the Human, as if such Things and Subjects universally existed. Instead, cyborgs are about specific historical machines and people in interaction that often turns out to be painfully counterintuitive for the analyst of technoscience. The term cyborg was coined by Manfred Clynes and Nathan Kline (1960) to refer to the enhanced man who could survive in extraterrestial environments. They imagined the cyborgian man-machine hybrid would be needed in the next great technohumanist challenge – space flight. A designer of physiological instrumentation and electronic data-processing systems, Clynes was the chief research scientist in the Dynamic Simulation Laboratory at Rockland State Hospital in New York. Director of research at Rockland State, Kline was a clinical psychiatrist. Their article was based on a paper the authors presented at the Psychophysiological Aspects of Space Flight Symposium sponsored by the U.S. Air Force School of Aviation Medicine in San Antonio, Texas. Enraptured with cybernetics, Clynes and Kline thought of cyborgs as »self-regulating manmachine systems« (1960:27) One of their first cyborgs was a standard white laboratory rat implanted with an osmotic pump designed to inject chemicals continuously.«15
Haraway benützte den Cyborg als blasphemische, antirassistische, feministische Figur, die sowohl für die Analyse von Naturwissenschaften als auch der feministischen Theorie verwendbar war. Die Idee zur CyborgFigur bekam Donna Haraway über den Einfluss von Marge Piercys »He, She, and It«, wo Piercy ihr Denken über den Cyborg als Lover, Freund Objekt, Subjekt, Waffe oder Golem beschreibt. »Her cyborgs and mine exceeded their origins, defied their founding identities as weapons and self-acting control devices, and so troubled U.S. cultural commitments to what counts as agency and self-determination for people, much less machines.«16
15 Donna Haraway: Modest_Witness@Second_Millennium. FemaleMan© _Meets_OncoMouse™. Feminism and Technoscience, New York/London, 1997, S. 51. 16 Ebd. S. 280f.
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Der Cyborg ist ein Hybride aus Maschine und Organismus. Der theoretische Hintergrund in Haraways Cyborg-Welt ist ihre Kritik an den nach ihrer Ansicht totalisierenden Theorien, wie der marxistisch/sozialistische Feminismus und der radikale Feminismus. Der Cyborg bildet und zerstört Maschinen, Identitäten, Kategorien, Beziehungen, Distanzen und Geschichten. In dieser utopischen Welt kommt es zu drei grundlegenden »Grenzzusammenbrüchen«, nämlich: die Grenzen zwischen Mensch/Tier (z. B.: Tierrechte); Tier - Mensch (Organismus)/Maschine (z. B.: Medizin), physisch/nicht-physisch (Elektronik, Software) sind verschwunden. Die Dichotomien in einer Welt des hierarchischen Dualismus verschwinden. (So zum Beispiel die unterschiedlich gewerteten Begriffe und Konnotationen von Natur und Kultur). »The offspring of these technoscientific wombs are cyborgs-imploded germinal entities, densely packed condensations of worlds, shocked into being from the force of the implosion of the natural and the artificial, nature and culture, subject and object, machine and organic body, money and lives, narrative and reality. Cyborgs are the stem cells in the marrow of the technoscientific body; the differentiate into the subjects and objects at stake in the contested zones of technoscientific culture.«17
Eine weitere Erklärung für diese so lang aufrecht gebliebene Grenze zwischen Mensch und Maschine gibt Bruno Latour. Er beschreibt die moderne Zeit als einen Prozess der Reinigung. Die große Trennung zwischen dem Menschlichen und dem Nicht-Menschlichen ist das Resultat dieses Prozesses. Jedes Monster oder Hybrid, das diese Grenze überschreitet, wird klassifiziert und entweder dem Menschen, oder der nichtmenschlichen Sphäre zugeschrieben. Laut Latour sind moderne Akte der Reinigung niemals erfolgreich, ganz im Gegenteil, die Modernität präsentiert sich selbst in ihrer Produktion von Monstern und Hybriden. Frankensteins Monster war nur der Anfang einer Cyborg-Welt.18 Neue Reproduktionstechnologien sind ein solches Beispiel, bei dem die Grenzverwischung zwischen Tier-Mensch (Organismus) und der Maschine oft in der heutigen Medizin geschieht. Für heftige Diskussionen sorgten und sorgen noch immer die neuen Reproduktionstechnologien, wobei es um den weiblichen Körper geht, der mittels Maschinen teilweise »verlängert«, imitiert und letztendlich sogar vollständig ersetzbar wird. So transformiert sich der Körper immer mehr zu einer Cyborg-Kreatur. Was sind eigentlich diese neuen Reproduktionstechnologien? Es sind medizinische Techniken, welche die reproduktiven Möglichkeiten von Menschen, primär die Fruchtbarkeit, erhöhen und dadurch eine Schwan17 Ebd. S. 14. 18 Vgl. Nina Lykke: »Between Monsters, Goddesses and Cyborgs« in: Gill Kirkup, Linda Janes, Kathryn Woodward und Fiona Hovenden (Hg.), The Gendered Cyborg: A Reader, London, 2000, S. 76f.
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gerschaft ermöglichen. Es sind die künstliche Befruchtung von einem (anonymen) Spender, die Ei-Entnahme, die in vitro Befruchtung, der Embryo Transfer und die Leihmutterschaft. Zuvor aber noch einmal zurück zum menschlichen Körper, der auch den Ausgangspunkt für alle medizinischen Technologien bildet. Wie wurde der Körper in einer Zeit vor den Cyborgs definiert? Dazu ein Zitat von Thomas J. Csordas: »The kind of body to which we have been accustomed in scholarly and popular thought alike is typically assumed to be fixed, material entity subject to the empirical rules of biological science, existing prior to the mutability and flux of cultural change and diversity and characterised by unchangeable inner necessities.«19 Der Körper stand und steht noch im Mittelpunkt zahlreicher Forschungsprojekte. Es begann in den frühen 1970er Jahren und erreichte seinen Höhepunkt in den späten 1980igern. Verschiedenste Fachrichtungen waren und sind dabei involviert: medizinische Anthropologie, feministische Theorie, kritische Literaturwissenschaft, Geschichte, vergleichende Religionswissenschaften, Philosophie, Soziologie und Psychologie. In den neueren Forschungen zum Körper wurde im Gegensatz zum obigen Zitat festgestellt, dass, um es mit den Worten Foucaults zu sagen, auch der Körper seine Geschichte hat. Daher ist der Körper genauso ein kulturelles Phänomen, wie es auch ein biologisches Wesen ist. Die heutigen kulturellen Transformationen verändern unsere Wahrnehmung des Körpers weg vom biologischen Essentialismus. Donna J. Haraway zeigt, wie feministische Theoretikerinnen gegen einen biologischen Determinismus argumentieren und wie sie die wissenschaftliche Objektivität in Frage stellen: »Feminists, [...], have shied away from doctrines of scientific objectivity in part because of the suspicion that an »object« of knowledge is a passive and inert thing.«20 »Feminist technoscience inquiry is a speculum, a surgical instrument, a tool for widening the openings into all kinds of orifices to improve observation and intervention in the interest of projects that are simultaneously about freedom, justice and knowledge. In these term, feminist inquiry is no more innocent, no more free of the inevitable wounding that all questioning brings, than any other knowledge project.«21
Weder unsere persönlichen Körper noch unsere sozialen Körper können als natürlich angesehen werden. Der Mensch befindet sich in einer ständi19 Csordas, T. (Hg): Embodiment and Experience: The Existential Ground for Culture and Self, Cambridge, 1994, S. 1. 20 Donna J. Haraway: Simians, Cyborgs, and Women: The Reinvention of Nature, London, 1991, S. 197. 21 Donna J. Haraway »The Virtual Speculum in the New World Order« in: The Gendered Cyborg, a.a.O., S. 235.
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gen Beziehung mit der umgebenen Welt, involviert in der Befriedigung seiner Bedürfnisse. Für Haraway ist der Körper auch ein agierendes Wesen und keine bloße Ressource. Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit der Metaebene der CyborgTheorie Haraways und mit ihrer Besonderheit im Feminismus: Donna Haraway schafft es in ihrer Cyborg Theorie, ein politisches Werkzeug herzustellen, das vielseitig verwendbar und anpassungsfähig ist. Ihr, vielleicht etwas oberflächlich wirkender Schreibstil, der möglichst viele verschiedene Inhalte miteinander zu kombinieren versucht, ermöglicht ihre eine »ideologische« Leichtigkeit, die es schwer macht, sie auf einen spezifischen feministischen Diskurs oder fixe ideologische Position festzunageln. Diese Vielseitigkeit und Leichtigkeit ist für den feministischen politischen Kampf von Vorteil und bringt eine Beschleunigung in der Annäherung an feministische Ziele. Aufgrund dessen, dass sie kaum eine klare Definition der wichtigen Konzepte, mit denen sie arbeitet gibt, ist ein einfaches Verstehen oft erschwert. Sie bezieht sich auf eine breite Fächerung von feministischen Autorinnen auf eine diffuse Art und Weise und kompliziert dadurch das Verfolgen ihrer Argumente sowie das Nachvollziehen ihrer Schlussfolgerungen. Haraway schreibt gegen totalisierende Theorien, wie den marxistischen und radikalen Feminismus. Beide Theorien mussten sich auf die unordentliche Polyphonie stellen, die durch den Postkolonialismus und Migration ausgelöst wurde. So kritisiert beispielsweise Haraway, wie andere Feministinnen auch, den Marxismus wegen seines Konzepts der »original unity« und meint, dass der Cyborg ohne diese auskommt: »Hilary Klein has argued that both Marxism and psychoanalysis and their concepts of labour and of individuation and gender formation, depend on the plot of original unity out of which difference must be produced and enlisted in a drama of escalating domination of woman/nature. The cyborg skips the step of original unity, of identification with nature in the Western sense. This is its illegitimate promise that might lead to subversion of its teleology as star wars.«
Um zu wissen, was mit »original unity« gemeint ist, muss der Lesende das Buch »Der Ursprung der Familie« von Engels kennen, das er nach dem Tod Marxs geschrieben hat und in dem er sich auf die Theorie von Morgans Buch »Ancient Society« bezieht. Engels folgt Morgans Idee eines Wechsels von der matrilinearen zur patrilinearen (Bluts)-Verwandschaft hin. Es erfordert also dieses Hintergrundwissen, um zu erkennen, warum es für den Feminismus wichtig ist, von dieser ursprünglichen Einheit loszukommen. Weiters kritisiert Haraway den sozialistischen Feminismus, weil sie die grundlegenden Strategien des Marxismus übernommen haben und so
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zu einem essentialistischen Bild der Frau beitrugen. Sie haben die Kategorie der Arbeit auf das übertragen, was die Frauen machen: den Haushalt oder die Mutterrolle, beide stellen Reproduktionstätigkeiten dar. Darin liegt auch der essentialistische Zug, in der Identifizierung der Reproduktion mit Arbeit. Trotzdem betont Haraway den positiven Beitrag des Marxismus im Feminismus, wenn er auf die tägliche Verantwortung der Frauen hinweist, eine Einheit zu bilden. Die Identifizierung der Reproduktion mit der Arbeit naturalisiert und essentialisiert aber die Tätigkeiten der Frauen.22 Der radikale Feminismus wird aufgrund seines radikalen Reduktionismus, der zum radikalen Nicht-Sein oder Nicht-Subjekt der Frau führt, von Haraway abgelehnt. So zum Beispiel meint MacKinnon, dass der Feminismus vor der Klassenstruktur die Sex/Gender Struktur analysieren soll und so die Konstitution und sexuelle Aneignung der Frauen von den Männern entdeckt wird. Der Ursprung der Frau ist das Verlangen von jemand anderen, nicht die eigene Arbeit. Das feministische Bewusstsein ist das Selbst-Wissen eines Selbst, das als solches nicht ist. Sexuelle Objektivierung und nicht Verfremdung ist die Konsequenz der Sex/Gender Struktur. Für Haraway sind beide, der sozialistische und der radikale Feminismus, totalisierende Theorien, weil sie die Kategorie »Frau« naturalisiert und auch denaturalisiert haben. Sie argumentiert für die Anerkennung der divergenten Erfahrungen der Frauen, die durch Koalitionen ermöglicht werden, die auf Gemeinsamkeiten beruhen, die nicht auf dem verwandten Blut sondern auf den Wahlmöglichkeiten basieren, die Anziehung einer chemischen Gruppe auf eine andere, auf Begeisterung.23 Auch die gemeinsame Sehnsucht kann als ein verbindendes Element unter Frauen gesehen werden, wie Haraway von bell hooks übernimmt. »Rather, freedom, justice, and knowledge are – in bell hook’s terms – about »yearning«, not about putative Enlightenment foundations. For hooks, yearning is an affective and political sensibility allowing cross-category ties that »would promote the recognition of common commitments and serve as a base for solidarity and coalition« (hooks 1990:27). Yearning must also be seen as a cognitive sensibility. Without doubt, such yearning is rooted in a reconfigured unconscious, in mutated desire, in the practice of love, in the ecstatic hope fort he corporeal and imaginary materialization of the antiracist female subject of feminism, and all other possible subjects of feminism. Finally, freedom, justice, and knowledge are not necessarily nice and definitely not easy. Neither vision nor touch is painless, on or off screen.«24 22 Vgl. Donna J. Haraway, Simians, Cyborgs, and Women, a.a.O., S. 158. 23 Im Original: »not built by blood but by choice, the appeal of chemical nuclear group for another, aviditiy« Donna J. Haraway, Simians, Cyborgs, a.a.O., S. 155. 24 Donna Haraway, »Modest_Witness@Second_Millennium, a.a.O., S. 191f. Und: bell hooks: Yearning, Boston, 1990.
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Die Sehnsucht kann große Energien freisetzen, genauso wie die Spannung, wie die HerausgeberInnen des Cyborg Handbuches meinen: »We know, from our bodies and from our machines, that tension is a great source of pleasure and power. May cyborg, and this Handbook, help you enjoy both and go beyond dualistic epistemologies to the epistemology of cyborg: thesis, antithesis, synthesis, prosthesis. And again.« (Hervorhebung im Original) 25 Der sozialistische Standpunkt hat die unbeachtete Auslöschung der polyvokalen, nicht-angleichbaren, radikalen Differenzen und die Theorie MacKinnons für die absichtliche Löschung aller Differenz durch die »essentielle« Nicht-Existenz von Frauen, als Schwachpunkt. Ihre Lösung für die divergierenden weiblichen Identitäten, Geschichten und Erfahrungen ist eine neue Theorie, die Cyborg Theorie: »Cyborg feminists have to argue that »we« do not want any more natural matrix of unity and that no construction is whole«. 26 Der Weg zu einer Cyborg Welt in feministischer Hinsicht wird durch das Bauen und Zerstören von Maschinen, Identitäten, Kategorien, Beziehungen, »Space«-Geschichten ermöglicht. Sie behauptet, dass die Cyborg Theorie viele Sichtweisen zuläßt: »The political struggle is to see from both perspectives at once because each reveals both dominations and possibilities unimaginable from the other vantage point. Single visions produces worse illusions than double vision or many headed monsters.«27 Nach meiner Ansicht, tendiert aber auch Haraways Cyborgtheorie dazu, totalisierend zu sein. Der Zusammenbruch der Dichotomien, wie Mensch/Tier, Organismus/Maschine und Physisch/Nicht-Physisch, die Welt des Cyborgs, stellt für sie die Lösung des Problems dar und nicht eine teilweise Annäherung an das feministische Ziel. Gleichzeitig schließt sie in ihrer Darlegung Personen aus, die ihren theoretischen Ausführungen nicht folgen können, wie zum Beispiel Nicht-Akademiker_Innen. (Bell hooks hingegen, verfolgt eine andere Strategie, indem sie versucht, Populärkultur in ihren Werken miteinzubeziehen und somit den Zugang zu einer nicht so gebildeten Bevölkerungsschichte zu gewinnen.) Haraway sollte also auch beachten, dass sie nicht unabsichtlich durch ihre komplexe Methode (die Vielseitigkeit des Inhalts, der kaum erklärt wird und die Knappheit ihres Stils) und ihrer technischen Sprache die CyborgImaginierung zu einer weiteren totalisierenden Theorie wird. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist meiner Meinung nach, dass eine gewisse materielle und weiterbildende Infrastrukur für Frauen zur Verfügung gestellt wird, um ihnen den Zugang zu einer Cyborg-Welt zu ermöglichen. 25 Chris Hables Gray, Steven Mentor, Heidi J. Figueroa-Sarriera »Cyborgology. Constructing the Knowledge of Cybernetic Organisms.« in: The Cyborg Handbook, a.a.O., S. 13. 26 Donna J. Haraway, Simians, Cyborgs, a.a.O., S. 157. 27 Ebd. S. 154.
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So erkannte Haraway auch, dass es wichtig ist, die sozialistischfeministische Politik nicht ganz aus ihrer Cyborg-Welt zu entfernen: »some of the rearrangements of race, sex, and class rooted in high-techfacilitated social relations can make socialist-feminism more relevant to effective progressive politics.«28 Denn einerseits ermöglichten es die neuen Technologien auch, dass die Arbeit von der kapitalistischen organisatorischen Struktur her »verweiblicht« wurde. Haraway hebt die Risiken hervor, die durch die heutige Dominierung von Wissenschaft und Technologie entstehen und die eine massive Intensivierung von Unsicherheit und kultureller Verarmung vorantreiben, die wiederum mit einem Zerfallen von Netzwerken, die für die Lebensgrundlagen der verwundbaren GesellschaftsmitgliederInnen wichtig sind, einhergehen.29 Schreiben ist stark mit Macht und Herrschaft verbunden. So sind beispielsweise die Biotechnologie und die Mikroelektronik-Technologien, welche die Welt bechreiben und sich in ihr einschreiben (im Original: »write the world«) und unsere Körper und Code-Probleme textualisieren. In diesem Kontext ist der Cyborg Mythos hilfreich, da er die Aufgabe hat, die Kommunikation und die Intelligenz zu recodieren und den Befehl und die Kontrolle zu subvertieren. Der Traum einer gemeinsamen und perfekt wahren Sprache ist ein totalisierender und imperialistischer und passt nicht in die permante Parteilichkeit der feministischen Standpunkte. »Cyborg politics is the struggle for language and the struggle against perfect communication, against the code that translates all meaning perfectly, the central dogma of phallogocentrism.«30 Andererseits stellen die Wissenschaft und Technologie auch neue Machtquellen zur Verfügung. In der Produktion innerhalb dieses Bereiches haben die Frauen die Fähigkeit und Möglichkeit zur Konstruierung wissenschaftlicher-technologischer Diskurse, Prozesse und Objekte.
Cyborg-Utopie Nach Singer zeichnen sich zwei unterschiedliche Zukunftsvisionen bezüglich des Cyborgs ab. Erstens die technophile transhumane und postbiologische Phantasie der Technokörper und der entkörperten Intelligenz. Diese Männerphantasie sieht den »Cyborg als Möglichkeit und Versprechen, den rationalistischen Traum von der Kontrolle des Körpers und die Emanzipation vom »rohen Fleisch« zu realisieren.«31
28 29 30 31
Ebd. S. 165. Ebd. S. 172. Ebd. S. 176. Mona Singer, Cyborg – Körper – Politik, a.a.O., S. 21.
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Zweitens die feministische Konzeption der Cyborgs, die einen anderen Emanzipationstraum beherbergen, wobei die Körper, die nicht mehr so einfach abgegrenzt werden können, neu politisiert werden. Der »Sex« gerät technologisch in Bewegung und wird nicht mehr als »Naturtatsache« verstanden, womit er womöglich seine hierarchisierende Funktion im Sinne Donna Haraways verliert. »Wir haben also eine Sorte von Cyborgphantasien, die technologisch die Kultur/Natur- und Geist/Körper-Dichotomie zugunsten der ersten Seite auflösen wollen, und andere Cyborgphantasien, die technologisch und politisch auf den Zusammenbruch dieser als herrschaftsproduktiv verstandenen Dichotomien setzen.«32 Das umkämpfte Feld liegt dabei in den Bereichen des Körpers und der Politik, der Biopolitik. Der Cyborg schafft es, die Dualismen Mensch/Maschine und Materie/Inmateriell aufzuheben und stellt damit auch weitere, wie Kultur/Natur, Selbst/Andere, Geist/Körper in Frage. Haraway weist daraufhin, dass somit auch jene hierarchischen Dualismen unseres Denkens zusammenbrechen, die mit dem Geschlecht im Zusammenhang stehen und den Frauen z. B. die untergeordnete Position der Natur zuschreiben. Nun werden diese dichotomischen Strukturen »technologisch verdaut«: »Cyborgs verwischten den Unterschied zwischen Mensch und Maschine, Schöpfer und Geschöpf. Durch die Vermehrung von organischtechnologischen Hybriden werde der Rahmen der Moderne gesprengt, das moderne –männliche– Subjekt in seinem monopolistischen Akteurstatus demontiert.«33 Haraways Aufforderung an die Feministinnen ist daher auch, doch aktiv in dieser neuen technologischen Ordnung mitzuwirken, denn die Entwicklung könnte in zwei Richtungen gehen. Singer kritisiert Haraways Theorie, da, wie auch Laqueur aufzeigte, die Geschlechterdifferenz nicht auf der Ebene der Biologie entschieden wird. »Der Körper ist vielmehr unabdingbar an seine kulturellen Bedeutungen gebunden.«34 Ein weiteres Problem stellt für Singer dar, wie Haraway die symbolisch-kulturelle und technologisch-materielle Ebene kurzschließt. Haraway beschreibt die Dualismen modernen Denkens von der technologischen Seite her und legt so die Dialektik still, was zu einem zu einfachen Blickwinkel auf die Dichotomien der Moderne führt und zu einer Rede von einem scheinbar omnipotenten und polyvokalen Standpunkt aus.35 Wie ich auch selbst in einem Aufsatz (1998) aufzeigte, bringen Haraways Kritiken an den totalisierenden Theorien (z. B.: Feminismus, Marxismus) wiederum in ihrem Vorschlag der Cyborgtheorie ein 32 33 34 35
Ebd. Ebd. S. 27. Ebd. S. 29. Vgl. ebd.
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ebensolches totalisierendes Konzept hervor. Außerdem sind laut Singer nicht alle Grenzüberschreitungen eine Verbindung mit Ausgegrenztem oder Verdrängtem und weiters ist die Frage zu stellen, ob alle Technologietransformationen die Dichotomie zusammenstürzen lassen, denn bestimmte Dichotomien können mit Cyborgtechnologien sogar verstärkt werden. Das geschieht zum Beispiel in der Künstlichen – Intelligenz – Forschung, in welcher der Körper transzendiert wird, die Dichotomie Körper/Geist zu Gunsten des Geistes verstärkt wird und der Körper ganz zu verschwinden droht. Die menschlichen Gehirne könnten bald von Computern überholt werden, was die Verwirklichung folgenden Zitates von Haraway ermögliche: »Restlos vergegenständlicht, sind wir endlich vollendete Subjekte – oder als Subjekte am Ende.«36 Für mich sind die neuen Möglichkeiten der Transsexualität ein Argument für die positive Auslegung des Cyborgs für den Feminismus, ein Hybrid aus Mann und Frau bringt das partriachale System ins Wanken. Die binäre Geschlechterkonstruktion wird aufgedeckt, obwohl ihr System mit dem Wunsch dem anderen Geschlecht angehören zu wollen, wohl eher bestärkt wird. Anders wäre es, wenn Personen zwischen den Geschlechtern stehen bleiben wollen, wie Transgenders zum Beispiel. »Diese Ausdrücke für Zusammentreffen und Vereinigungen deuten darauf hin, dass die Gesellschaft neue Formen von Hybridität zwischen Mensch und »Maschine« (wie sie einst genannt wurde) in sich aufgenommen hat. Dazu gehören Cyborg-Fusionen, Kreuzungen verschiedener Arten durch Transplantationen, genetische Formen der Fortpflanzung und durch transsexuelle Technologien ermöglichte Kreuzungen zwischen den Geschlechtern, in denen ein Mann zur Frau werden kann und umgekehrt.«37
Sherry Turkle sieht den fragmentierten Körper des Cyborgs auch positiv und den virtuellen »Selbstentwurf« als therapeutische Performanz. So war der moderne Körper immer ein ganzer, für eine »normale« Subjektwerdung waren gebrechliche oder behinderte Körper ausgeschlossen. Im Informationsnetz hingegen ist das normale Subjekt immer schon fragmentiert und dezentriert, ein postmodernes Subjekt. »Sherry Turkle sieht für lädierte Subjekte daher die Möglichkeit, in den virtuellen Gemeinschaften der fragmentierten Subjekte einen Umgang mit ihren Mängeln zu finden. Das neue Subjekt wird im Netz mit all seinen Teilen versöhnt und verbunden, im Informationsnetz lockt der heilende Holismus«38 36 Vgl. ebd. S. 30f. 37 Sue-Ellen Case »Cyberbodies auf der transnationalen Bühne« in: Die Philosophin. Forum für feministische Theorie und Philosophie (Dezember 2001), Nr. 24. S. 10. 38 Vgl. Silke Bellanger »Begegnungen mit den Cyborgs. Zur Lebenssituation der Cyborgs in der Moderne und danach.« in: Data | Body | Sex | Machine, a.a.O., S. 54.
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Silke Bellanger vergleicht den »Cyborg« Haraways als »Figur« mit dem Crossdresser bei Judith Butler. Der Crossdresser war für eine Weile der Star, der die Geschlechterverhältnisse zum Tanzen bringen könnte, er stand dann bald unter dem Verdacht vielleicht doch nur ein apolitischer und modischer Selbstentwurf zu sein. Aber weder für Butler noch für Haraway waren ihre »hybriden Figuren leichtfüßige GrenzüberschreiterInnen. Eher begreifen und verdeutlichen sie mit den Figuren, wie schwierig und bisweilen lebensgefährlich es ist, quer/queer zu den üblichen Grenzverläufen zu leben«39. Diese zeitweiligen Grenzüberschreitungen schaffen noch keine komplette Aufhebung der Ordnung.40 In ihrem Buch »Modest Witness« führt Haraway zwei konkrete Beispiele für einen Cyborg an, FemaleMan und OncoMouse: »Both OncoMouse™ and the FemaleMan© are unnatural; both force a revaluation of what may count as nature and artifact, of what histories are to be inhibited, by whom, and for whom.«41 Die beiden Cyborgs sind erstens sowohl genetische Clones wie auch »transgertic« (genmanipulierte) Kreaturen. Zweitens sind beide Produkte von schreibenden Technologien. »Third, OncoMouse™ and the FemaleMan© are queer. Unsaved entities, fugitives from Christian sacred-secular salvation history, offspring of writing machines, vectores of infection for natural subjects, FemaleMan© and OncoMouse™ are, nontheless, the modest witnesses of matters of fact in technoscience.«42 Viertens sind OncoMouse und FemaleMan in den Gebärmuttern der Modernität und der Aufklärung herangewachsen, aber ihre Existenz umhüllt die Matrix ihres Ursprungs. Natur und Gesellschaft, Tier und Mensch, Maschine und Organismus: Diese Begriffe fallen in sich zusammen. Und als letzter und fünfter Punkt schreibt Haraway, dass sich die beiden Figuren in der energetisch implodierten Konversation über Konstruktivismus und Naturalismus in den transnationalen Naturwissenschaften und im multi-ethischen und multi-kulturellem Feminismus treffen.43 Die wirklich hervorragende Leistung von Haraway ist in meiner Meinung nach ihre Fähigkeit, den technologischen, computer-wissenschaftlichen Diskurs in den politischen Kampf des Feminismus einzubeziehen. Auf dem technologischen Gebiet ist es vielleicht nicht so einsichtig, was Frauen anders einbringen können als Männer, aber Haraway schaffte es, verantwortliche Aufgaben und Möglichkeiten für Frauen in diesem Feld einzubringen. Ich denke, dass das speziell im revolutionären Feld der Kommunikationstechnologie mit den vielseitigen Implikationen für die heutige Gesellschaft ein sehr wichtiges Unternehmen ist.
39 40 41 42 43
Ebd. Vgl. ebd. Donna Haraway »Modest_Witness@Second_Millennium« a.a.O., S. 119. Ebd. S. 120. Vgl. ebd. S. 121.
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»Zunehmend sehen wir uns demnach mit der Frage konfrontiert, ob und in welchem Umfang Menschen sich die »faszinierenden Mechanismen der Roboter aneignen und dabei selbst zu Robotern werden«, ob sie als Cyborgs und virtuelle Körper herkömmliche Dichotomien durch fluide Identitätskonzepte kreativ überschreiten lernen oder aber ob sie als fragile Wesen gegenüber effizienteren Maschinen immer mehr an Bedeutung verlieren.«44
Cyborg im Film Sue Short schreibt in ihrem Artikel über Cyborg und Kino, dass argumentiert wurde, dass die Bilder der hergestellten Weiblichkeit, die vom Cyborg im Film repräsentiert werden, obwohl sie als geschlechtliche Masquerade gelesen werden können, doch auch problematisch sind. Joan Riviere und Mary Anne Doane werden von Short als feministische Kritikerinnen angeführt, welche die Masquerade als Terminus benutzen, der aufdeckt, dass die weibliche Erscheinung und das weibliche Verhalten im Kino unnatürliche und partriachale Konstruktionen sind. Short zitiert Doane, indem sie sagt, dass diese weibliche Parodie im Film offenbart, wie die Weiblichkeit selbst als Maske konstruiert ist, eine dekorative Oberfläche, die eine Nicht-Identität versteckt.45 »Yet there are also evident problems with such an assertion, for it assumes that underneath this »mask« of femininity there is no real identity – an idea that recalls Sadie Plant’s reduction of women to »zeroes« and her claim that there is no need for female subjectivity to be outlined on the grounds that, simulation aside, »there is no subject position and no identity […] woman cannot exist.«46 »While such a stance is potentially liberating in refuting any essential »womanliness« that links women together, it veers dangerously towards reinforcing the idea that women have no signification without men.«47 Sadie Plant meint zu digitalen Cyborgs: »The ones and zeros of machine code are not patriarchal binaries or counterparts to each other: zero is not the other, but the very possibility of all the ones. Zero is the matrix of calculation, the possibility of multiplication, and has been reprocessing the modern world since it began to arrive from the East. It neither counts nor represents, but with digitization it proliferates, replicates, and undermines the 44 Barbara Becker »Cyborgs, Robots und Transhumanisten« – Anmerkungen über die Widerständigkeit eigener und fremder Materialität« in: Barbara Becker (Hg), Was vom Körper übrig bleibt. Körperlichkeit – Identität – Medien, Frankfurt am Main, 2000. 45 Vgl. Mary Anne Doane »Film and the Masquerade: Theorising the Female Spectator« in: Screen Vol. 23, (Sept./Oct. 1982), S. 81. 46 Sadie Plant »The Future Looms: Weaving Women and Cybernetics« in: Jenny Wolmark (Hg.), Cybersexualities, Edinburgh, 1999, S. 116. 47 Sue Short: Cyborg Cinema and Contemporary Subjectivity, London/New York, 2005, S. 84.
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privilege of one. Zero is not its absence, but a zone of multiplicity which cannot be perceived by the one who sees. Woman represents »the horror of nothing to see«, but she also »has sex organs more or less everywhere« (Irigaray, 1985b: 28). She too is more than the sum of her parts, beside herself with her extra links.« (Hervorhebung im Original)48
Sue Short hat ihre Bedenken, was die subversive Kraft einer Geschlechterparodie oder Masquerade betrifft, so wurden beispielsweise die männlichen Heldinnen in den späten 1980ern und 1990ern, wie Aliens Ellen Ripley (Sigourney Weaver) und Terminator 2s Sarah Connor (Linda Hamilton) sowohl als »Cyborgs« als auch als »transsexuell« bezeichnet. Das ist wiederum für das Ausmaß bezeichnend, inwieweit der Cyborg als Figur gesehen werden kann, welche die männliche/weibliche Unterscheidung aufzulösen vermag. »As active protagonists, both Ripley and Connor transgress traditional female roles, yet were strangely condemned for this, even by female critics. For example, Vivian Sobchack asserts in her article, »The Virginity of Astronauts«, that Ripley (in her first incarnation in Alien) is »hardly female« and deplores the fact that she is apparently »denied any sexual difference at all«49. Sobchack’s concern that Ripley is made into a »rational and asexual functioning subject«50 (a description which negatively likens her to a machine) is explained by the psychoanalytical approach she adopts, perceiving a »repression« of female difference within the SF genre as a whole.«51 Laut Sue Short entspricht diese Art von Feminismus einem, der von der Beziehung zu den Männern abhängig ist. Verglichen zu Haraways Konzept eines Cyborgs, sind die Kino-Science-Fiction Versionen, was die Geschlechterkonstruktionen und vor allem künstliche Frauen betrifft, konservativer. In Science-Fiction Filmen scheint eher die traditionelle männliche Rolle parodiert zu werden, wie die Cyborgs von Terminator und RoboCop, die miteinander nur wortkarg und mit Waffen kommunizieren. Judith Halberstam streicht auch hervor, dass »feminitiy is always mechanical and artificial – as is masculinity.«52 Auch Halberstam steht der Figur des Cyborgs kritisch gegenüber: »although the female cyborg proves to be a fascinating metaphor and an ex48 Sadie Plant »On the matrix: Cyberfeminist simulations« in: Gill Kirkup, Linda Janes, Kathryn Woodward und Fiona Hovenden (Hg), The Gendered Cyborg: A Reader, London/New York, 2000, S. 272. 49 Vivian Sobchak »The Virginity of Astronauts: Sex and the Science Fiction Film« in: Alien Zone: Cultural Theory and Contemporary Science Fiction, London, 1990, S. 106. 50 Ebd. S. 109. 51 Sue Short: Cyborg Cinema and Contemporary Subjectivity, London/New York, 2005, S. 84. 52 Judith Halberstam »Automating Gender: Postmodern Feminism in the Age of the Intelligent Machine« in: Feminist Studies Vol. 17, Nr. 3 (Herbst 1991), S. 454.
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citing prospect it may gloss or obscure certain relations between living women and technology«53. Short meint, dass zu einer Zeit, in welcher der Begriff »Frau« immer problematischer wurde, Haraways Cyborg einen neuen Weg für die Identitätspolitik eröffnete, auch einen, der ähnlich mit Paradoxien, Widersprüchen und besorgniserregenden Verallgemeinerungen geladen ist. Obwohl Haraway die Möglichkeit von »a monstrous world without gender« aufzeigt, schafft sie es nicht zu erklären, wie eine solche erreicht werden kann.54 In SF-Filmen soll sich der Cyborg oft den Menschen unterwerfen oder zumindest anpassen. »This can be seen to reflect the experience of migrant subjects who are similarly required to fit into their »host« culture or risk (potentially hostile) rejection. Yet although acceptance requires assimilation, or what Homi K. Bhaba refers to as »mimikry«, this must be moderated so that, in his words, the subject is »almost the same, but not quite«, demonstrating the frustrating position in which conformity is counterbalanced by the need to remain acceptable different.«55
Sue Short hebt hervor, dass die Debatten rund um Cyborg durch das Wort »Ungewissheit« am besten beschrieben werden, denn es fehlt an Überzeugung und Kohärenz in den Ideen, die benutzt wurden, um dem Sinn zu geben, wer oder was wir sind.56 Die Identifizierung mit Anderen, ohne auf den Essentialismus zurückzugreifen, ist eine Herausforderung, die Spivak mit ihrem strategischen Essentialismus oder auch Haraway mit ihren »elective affinities« versuchten, in den Griff zu bekommen.. Wie das erreicht werden kann, zeigen uns die fiktionalen Cyborgs, indem sie Allianzen bilden, die Landberg »a practice of empathy« nennt.57 Nina Lykke führt uns in den größeren Zusammenhang ein, woher eigentlich die Trennung zwischen Mensch und Maschine kam und zieht Latour heran, um zu zeigen, dass die Moderne versucht hat, diese Reinhaltung einzuführen, die jedoch durch die Untergrundproduktion von Monstern gestört wurde: »The constant emergence of hybrids, including non-human humans, presents a never-ending threat to the modern construction of the great divide. In fact, says Latour, hybrid characteristics are the norm rather than the deviation. The mod53 Ebd. S. 457. 54 Vgl. Sue Short, Cyborg Cinema, a.a.O., S. 102. 55 Vgl. ebd. S. 110. in Homi K. Bhaba »Of Mimicry and Man« in: October, Boston, 1987 zitiert in »Realism, Modernism and Post-Colonial Theory« von Ashish Rajadhyaskha in: John Hill und Pamela Church Gibson (Hg), World Cinema: Critical Approaches.Oxford, 2000, S. 37. 56 Vgl. Sue Short »Cyborg Cinema and Contemporary Subjectivity« a.a.O., S. 187. 57 Vgl. ebd. S. 204.
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erns will, however, persist in denying all this impure and improper stuff; but Latour argues that the denial in no way keeps the monsters from breeding and proliferating beneath the surface. Quite the contrary: modernity manifests itself in its production of monsters and hybrids. Frankenstein’s monster is only an early harbinger of the cyborg world of the late twentieth century. Cyborgs which, like Frankenstein’s monster, transgress forbidden borders are becoming more and more common, and their repression, conversely, less and less successful. In the cyborg world of postindustrial society the proliferation of monsters is indeed getting completely out of control. The processes of purification, which in Latour’s opinion have always been illusory, can no longer disguise this fact.«58
Besonders die feministischen Wissenschaften haben permanent solche Monster geliefert, welche die große moderne Unterscheidung zwischen menschlich und nicht-menschlich unterminieren, geliefert. Aber da Monster, Grenzgänger und andere dubiose Kreaturen die wahren Helden sind, so meint Lykke, gibt es keinen Grund zur Besorgnis. »In the last decade of the twentieth century it is perhaps clearer than ever before that no »pure« identity politics is possible. »Pure« women, workers, people of colour, gays and lesbians, indigenous peoples, ecoactivists and non-human actors in »wild« nature have been transformed into inappropiate/d others: a diversity of actors who do not fit into the pure categories prescribed for them (Haraway, 1992), the potential monsters have for creating embodied and never unambigous sites for displacing and transforming actions on many levels?«59
Nina Lykke führt auch Evelyn Fox Keller an und meint, dass auch sie, wie Haraway, versucht zu erklären, dass die moderne Wissenschaft grundsätzlich kulturell »vergeschlechtert« (im Original: genderized) ist, aber dass Keller die Wissenschaft auch nicht auf ein rein kulturelles und relatives Phänomen reduzieren will, genauso wie sie dem biologischen Sex nicht all seine Bedeutungen abstreifen will. »She knows that this search for this »middle ground« forces her to navigate in dangerous waters that constantly threaten to pull her out into a monstrous grey zone where clear statements can only be made at the expense of important ambiguities and excesses of meaning regarding science as well as gender. But for her, as for Donna Haraway, this affinity with the monstrous is one of the strengths of feminist science studies rather than their deficiency:«60
Mehrfach als Symbol für anti-technologische Gefühle benutzt oder als Möglichkeit für »ein besseres Leben mit Chemie« gesehen, sind die Cyborgs ein Produkt der kulturellen Angst und des Verlangens, die tief in 58 Nina Lykke »Between Monsters, Goddesses and Cyborgs« in: The Gendered Cyborg, a.a.O., S. 76f. 59 Ebd. S. 77. 60 Ebd. S. 79.
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unserem Unbewussten sitzen. Sie repräsentieren das unbekannte Andere, das die Stabilität der menschlichen Identität herausfordert. »Consider a continuum which has at one extreme the characteristics associated with machines and technology and, at the other extreme, the characteristics of humans and organic society. How are the end points identified? Machines are rational, artificial and durable; humans are emotional, organic and mortal. Every cyborg image constructs an implicit opposition between machine and human; at once repressing similarities and highlighting distinctions. This is the science fictional character of the cyborg – it is a hybrid, but the specific traits which mark its human-ness and machine-ess vary widely. Signs of human-ness and, alternatively, signs of machine-ness function not only as markers of the »essences« of the dual natures of the hybrid, but also as signs of the inviolable opposition between human and machine. This is to say that cyborgs embody human characteristics that reinforce the difference between humans and machines.«61
Anne Balsamo beschreibt anhand eines Zitats von Mary Ann Doane die Beziehung zwischen Technologie, Repräsentation und dem Weiblichen:62 »Although it is certainly true that in the case of some contemporary sciencefiction writers – particularly feminist authors – technology makes possible the destabilization of sexual identity as a category, there has also been a curious but fairly insistent history of representations of technology which work to fortify – sometimes desperately – conventional understandings of the feminine. A certain anxiety concerning the technological is often allayed by a displacement of this anxiety onto the figure of the woman or the area (sic) of the feminine.«63
Doane hebt hervor, dass die menschliche Reproduktion in der ScienceFiktion einen besonderen Stellenwert einnimmt. Das Geheimnis und die Gefahr der menschlichen Reproduzierbarkeit in diesen Filmen und Literatur veranschaulichen die Größe der kulturellen Angst über die Reproduktion der Spezies. Darum verdeutlichen die männlichen und weiblichen Rollen der Cyborgs in dieser Gattung wieder die stereotypischen Funktionen der Frauen in der Gesellschaft und Geschichte. »These female-gendered cyborgs inhabit traditional feminine roles – as object of man’s desire and his helpmate in distress. In this way, female cyborgs are as much stereotypically endowed with feminine traits as male cyborgs are with masculine traits. Cyborg images reproduce cultural gender stereotypes. I want to argue, however, that female cyborg images do more to challenge the opposition between human and machine than do male cyborgs because femininity is cultur61 Anne Balsamo »Reading cyborgs writing feminism« in: The Gendered Cyborg, a.a.O., S. 149. 62 Vgl. ebd. S. 151. 63 Mary Ann Doane »Technophilia: Technology, Representation, and the Feminine« in: The Gendered Cyborg, a.a.O., S. 110.
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ally imagined as less compatible with technology than is masculinity. This is to say that because our cultural imagination aligns masculinity and rationality with technology and science, male gendered cyborgs fail to radically challenge the distinction between human and machine. Female cyborgs, on the other hand, are culturally coded as emotional, sexual and often, naturally maternal. It is these very characteristics which more radically challenge the notion of an organicmechanical hybrid. Female cyborgs embody cultural contradictions which strain the technological imagination. Technology isn’t feminine, and femininity isn’t rational.«64
Anne Balsamo unterstreicht, dass feministische Autorinnen den Körper als den Ort der Produktion und Reproduktion der fragmentierten Identitäten und Affinitäten ehren. Der Körper und seine Ikonographie sind die Orte für die Einschreibung von Differenzen unter den Frauen, wie zum Beispiel schwarze und weiße Körper oder auch Körper mit Behinderungen: »Anne Finger (1986) challenges other feminists to examine their attitudes toward physical disabilities, especially at the point of building theories which rely on the implicit assumption of a fully abled body. As she argues (Finger, 1986: 295), »disability is largely social construct,« one which potentiates the impact of patriarchal domination.«65 Sie gibt dann auch noch ihre Kritik zur Haraways Cyborg Imaginierung an: »My criticsm of Haraway’s choice of image ist hat she fails to consider how the cyborg has already been fashioned in our cultural imagination. It is difficult to determine if Haraway chooses the cyborg image because she believes that women are inherently cyborgian, or because the image is useful and potentially liberating.«66 Wie Balsamo vorher beschrieb, sind Cyborg-Bilder oft limitiert, nicht befreiend, den Geschlechterstereotypen verfangen. Für mich unverständlich, argumentiert Balsamo, dass der Feminismus keine weitere utopische Vision braucht. Sein radikales Potential wird nicht durch die Aneignung von technologischen und wissenschaftlichen Diskursen für die feministische oder weibliche Agenda verwirklicht werden, meint sie.67 »But to the extent that Haraway’s ironic vision gives us pause to reflect on ways in which, historically, women have experienced fragmented subjectivities and 64 Anne Balsamo »Reading cyborgs writing feminism« in: The Gendered Cyborg, a.a.O., S. 151. 65 Zitiert in: Ebd. S. 151. Original in: Anne Finger »Claiming All of our Bodies: Reproductive Rights and Disability.« in: Susan Browne, Debra Donnors, Nancy Stern (Hg.), With the Power of Each Breath: A Disabled Women’s Anthology, Pittsburg, 1985. 66 Anne Balsamo »Reading cyborgs writing feminism« in: The Gendered Cyborg, a.a.O., S. 155. 67 Ebd. S. 156.
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identities and have overcome physical proscriptions, Haraway’s cyborg manifesto is thoughtfully invigorating. What we have here is a struggle of interpretation. The utopian reading of cyborgs makes them a symbol for integrating the new with the old in such a way that the cyborg becomes a symbol of feminism’s belief in a transcendental vision. The critical vision assembles woman as cyborg from bits and pieces of women’s experiences that have already been out there, a reassemblage that sustains a critical perspective of technological/scientific/ cybernetic discourse. Irony is a certain kind of writing that draws attention to the differences between what is apparently there and what is really there, a kind of writing that purposefully draws attention to the tension between appearances and interpretations.«68
Balsamos Konsequenz daraus ist, dass wir doch nach Cyborg Bildern suchen, welche die stabilen Geschlechtergegenüberstellungen unterbrechen und stören sollen, was ich jetzt auch tun werde, mit einer genauen Betrachtung des Musikvideos zu Björks »All is full of love«. Das Subversive an den Cyborgs liegt, wie Haraway analysiert, in den Grenzzusammenbrüchen der traditionellen Dichotomien, wie Mensch/Maschine, Physisch/Nicht Physisch und zusätzlich, dass sie keinen »natürlichen« Ursprung besitzen, wie eine Familie oder (Bluts)-Verwandschaft.
M u s i k b e i s p i e l : B j ö r k » Al l i s F u l l o f L o ve « – Musikvideo Tabelle 1: Audio-Video-Protokoll Einstellung/Inhalt 1. Eröffnungseinstellung: Fahrt im Dunkeln über kurz aufglänzende metallene Leitungen zu einem hellen Raum, in dem ein weißer Cyborg69 in der Mitte am Boden liegt und von beiden Seiten von riesigen Roboterarmen zusammengesetzt wird.
Zeit in Kamera Audio Sek./Minuten 1-12 Kamerafahrt über Intro Leitungen (Weit) bis zum Raum (Totale) mit Cyborg 13-26 (Halbtotale)
68 Ebd. 69 Zur Vereinfachung habe ich in dieser Schnittanalyse die zwei menschlichwirkenden Figuren Cyborgs genannt, (sie sind tatsächlich eine Mischung zwischen Maschine und Mensch) und die rein mechanischen Geräte mit Werkzeugaufsätzen als Roboterarme bezeichnet.
TRACK 06: CYBORG | 251
2. Gesicht (Björk) des Cyborgs, ein Roboterarm 3. Cyborg am Boden liegend, zwei Roboterarme 4. Roboterarm mit Dreh/Schraubaufsatz 5. Cyborg von oben am Bauch liegend, Gesicht zur Seite gedreht 6. Roboterarm fährt, dreht sich 7. Cyborg liegend, Knie angewinkelt, zweiter Roboterarm kommt ins Bild 8. Roboterarm mit Drehaufsatz 9. Cyborg von oben (wie 5. Einstellung), ein Roboterarm fährt ins Ohr) 10. Drehbewegung des Roboters im Ohr 11. Cyborg: Hüfte 12. weiße Platte mit 4 Löchern, Flüssigkeit 13. Nicht erkennbare Details 14. Cyborg ohne Beine sitzend, zwei Roboterarme arbeiten mit ihren Fingern am Kopf (Funken), an Ellbogen und Oberschenkel. 15. lötender Roboterfinger am Kopf, Funken sprühen 16. Funken fallen auf mit Wasser bedeckten Boden
27-29
Nah
Intro
30-32
Amerikanische
»You be
33-34
Detail
35-36
Nah
given love« »You’ll
37-41
Groß
be taken
42-45
Halbtotale
care of« »You be
46
Detail
given
47-50
Nah
love« »You
51-55
Detail
56 57-58
Groß Detail
59
Detail
have to trust it« »Maybe not from
1 Min. Amerikanische 1 Min. und 01 Sek.
the
1:01 - 1: 02
Detail
sour-
1: 03
Detail
ces,
252 | QUEERE TRACKS
17. Cyborg Oberkörper/ Kopf mit Funken 18. Roboterfinger dringt in linke Seite von Cyborgoberkörper ein 19. Cyborgober/ unterkörper: weiße Brüste, wo Genitalien sind: graues Dreieck mit Oval, 20. Vogelperspektive: CY sitzend und 2 Roboterarmen
1: 04
Nah
You’ ve
1: 05 - 1: 07
Detail
poured
1: 08 - 1:10
Nah
yours
1:11 - 1:15
Amerikanische
21. CY Oberkörper, Gesicht zur Seite gedreht, Roboterarme arbeiten am Kopf, Funken, 22. Gesicht, Augenaufschlag 23. Kopf: Lötstelle, Funken sprühen 24. Funken am Boden, regenbogenfarbig schimmernde Lichtreflexion 25. sich drehender Roboterarm 26. Vogelperspektive: wie Einstellung 20 27. weißes Plastikteil wird am Unterarm befestigt 28. Kopf: ein Deckel ist hochgeklappt, darin auf einer schwarzen Oberfläche der Buchstabe A mit einem Kreis herum und ein rotes Licht
1:16 - 1:20
Nah
into, maybe not from the directions, you are
1:21 - 1:22
Groß
1:23
Detail
starring at, twist your
1:24 - 1:26
Detail
head
1:27 - 1:29
Detail
1:30
Amerikanische
around, it’s all
1:31 - 1:32
Groß
around
1: 33 - 1:34
Detail
you
1:35
Groß
»all
29. Gesicht: Augen schauen auf...
TRACK 06: CYBORG | 253
30. Flüssigkeitstropfen 1:38 auf Boden, die Kreise bewegen sich rückwärts 31. Linke Schulter1:39 - 1:41 gelenk, fehlender Oberarm, Flüssigkeit fließt rückwärts um Rundungen des Gelenks
Detail
is full
Detail
of love, all
32. Vogelperspektive: 1:42 Cyborg sitzend, CY blickt in die Kamera herauf und ... 33. schaut zu zweiten 1:43 - 1:44 Cyborg (gleich wie CY 1) vor ihr stehend
Nah
around
Amerikanische
34. sitzender CY, Roboterarme drehen sich weg
1:45
Nah
you«
35. 2. CY singt, Kopf von CY 1 von hinten
1:46 - 1:48
Amerikanische
CY 2 »All is full of
36. zurückfließende 1:49 - 1:50 Kreise von Flüssigkeitstropfen am Boden
Detail
37. CY 1 sitzend, singt
1:51
Nah
38. wie Einstellung 35
1:52
Amerikanische
39. CY 1 sitzend blickt zu Boden...
1:53 - 1:55
Nah
40. auf ihren Unterleib am Boden sitzend mit weißer Flüssigkeit, die rückwärts fließt 41. Blick von rechts hinten auf CY 2 Rückseite und auf
1:56 - 1:58
Detail
1: 59
Totale
love« CY 1 »You just ain’t Receiving« CY 2: »All is of love« CY 1: »Your phone is Off the hook« CY 2: »All is full
254 | QUEERE TRACKS
sitzenden CY 1, zwei Roboterarme im Hintergrund. CY 2 hebt Arm und streckt ihn zu CY 1 aus, CY1 hebt den Kopf 42. Kopf CY 1, CY 2 2:00 - 2:01 vor ihr mit ausgestrecktem Arm 43. Gesicht CY 1 2:02 - 2:04
Amerikanische
of
Groß
44. wie Einstellung 41
2:05
Amerikanische
love« CY 1: »Your doors are
45. CY 2 von vorne, Finger spreizend, singend 46. CY 1 Gesicht: Augen schließend
2:06 - 2:07
Amerikanische
2:08
Groß
2:09
Detail
all CY 2: »All is shut« CY 2: full of love« »All
2:10 - 2:14
Halbtotale
is
2:15
Kamerabewegung
full
47. Flüssigkeit am Bauch (-nabel) fließt nach oben 48. zwei Cyborgs küssen und umarmen sich kniend, werden von den zwei Roboterarmen unterstützt 49. Heranzoomen auf CY 2, CY 1 streicht mit ihrer linken Hand über Po von CY 2, Roboterarme setzen Tätigkeit fort 50. Licht geht langsam aus 51. wird wieder hell, drehender Roboterarm mit zurückfließender Flüssigkeit 52. Dunkel wird wieder hell, kniende, küssende Cyborgs werden wieder sichtbar, Hand des CY
2.15 - 2:28
of love«
2:28 - 2:34
Detail
»All
2:35 - 2: 40
Halbtotale
is
TRACK 06: CYBORG | 255
1 zwischen Schenkel des CY 2. 53. Froschperspektive auf 2 küssende CY, Unterbrechung des Küssens 54. Flüssigkeit rückwärts fließend auf Drehelement 55. Flüssigkeit aus anderer Perspektive 56. Fortsetzung des Kusses 57. Roboterarm
2:41 - 2:50
Nah
full
2:51 - 2:54
Detail
of
2:55
Detail
love«
2: 56 - 2:57
Nah
2.58 - 3 .06
Detail
Beginn
58. weißes Blatt mit 4 3:07 Löchern, Roboterfinger, Flüssigkeit
Detail
des
59. 2 kniende, küssende Cyborgs 60. 2 Cyborgs mit Roboterarme, untere Drittel des Bildes schwarz 61. beginnende Kamerafahrt nach unten, darunter liegender Raum wird sichtbar, farbliche Lichtreflexe, dünnes Kabelgeflecht wird erleuchtet, sonst dunkel, manchmal blitzen immer größer werdende Leitungen (Kabeln) auf, bis endgültig alles schwarz bleibt.
3.08 - 3:09
Halbtotale
3:15
Totale
Ausklangs bis
3:15
Kamerafahrt
zum Schluss
3:44
3:51 4:09
Audio-Video-Protokoll nach Marion G. Müller »Grundlagen der visuellen Kommunikation. Theorieansätze und Analysemethoden.« Konstanz, 2003. Audio-Video-Protokoll von Björk »All is full of love« Musikvideo, 1998. Dir.: Chris Cunningham.
256 | QUEERE TRACKS
Wie aus der kurzen Inhaltsbeschreibung der Einstellungen hervorgeht, stehen zwei Roboterwesen oder Cyborgs im Mittelpunkt. Beide haben einen femininen Körper, die weiblichen Brüste sind angedeutet und ein menschliches, Björks Antlitz, das aber auch gleichzeitig wie eine Maske wirkt. Hier kommt auch die Metapher des Narzissmus ins Spiel, der mit der Homosexualität verknüpft ist, denn der Narzissmus ist in der Psychoanalyse eine Übergangstufe vom Autoerotismus zu einer Objektliebe, in der zuerst die Verliebtheit in die eigene Person (und in die eigenen Genitalien) ausschlaggebend ist.70 Die zwei Figuren werden von Maschinenarmen zusammengesetzt, durch deren Maschinenkörper fließt eine Flüssigkeit, aber in verkehrter Richtung. Obwohl es eigentlich ein Farbvideo ist, dominieren Schwarz und Weiß, Hell und Dunkel. Die Atmosphäre des Videos liegt zwischen klinisch-weiße Kälte, die aber das Dunkel durchbrechend, etwas Paradiesisches an sich hat – wie das Licht am Ende eines Tunnels. Der Raum wirkt wie ein moderner, medizinisch-sauberer, Operationsaal für Cyborgs. Die harten Kontraste, wie schwarz-weiß oder hell-dunkel mögen auf die Gegenüberstellungen, Dichotomien, hinweisen - auf eine Welt, genau eingeteilt und getrennt in Binarismen: Mensch – Maschine, Frau - Mann, kalt – heiß, Wasser (weiße Flüssigkeit) – Feuer (Funken). Das dies aber nicht so ist, darauf weist die Atmosphäre im Video hin, die einerseits durch die Musik und andererseits durch die behutsamen, sich drehenden und teilweise zärtlichen Bewegungen der Cyborgs und der Roboterarme und -finger zu Stande kommt. »Die Bewegungen sind behutsam, die Gesten fürsorglich. Das Szenario zeigt eine Welt, die vollkommen technisch ist, ohne die Spur von einem Menschen. Aber alles in ihr dreht sich um Menschlichkeit, und innerhalb dieses Codes dann um lesbische Liebe zwischen Roboterwesen.«71 Es wirkt so, als würden die zwei Cyborgs durch Liebe zueinander gesteuert. Die ganze Atmosphäre des Videos entspricht einem fließenden und zugleich schwebenden Zustand (fast wie in Schwerelosigkeit), in dem jede Bewegung sanft und gleitend abläuft, ohne Rucken oder Zucken, wie es eigentlich von Robotern oder Maschinen erwartet wird. (Das Gegenteil von der Musik von Kraftwerk, wo die Auslagerung von Funktionalität und Rationalität in den Roboter erfolgte. Der Körper ist nur mehr reine Geometrie, ein visueller Effekt des virtuellen Geburtsorts von Techno.)72 Re70 Über den Narzissmus forschten zum Beispiel: Isidor Sadger, Sigmund Freud und Havelock Ellis. 71 Olaf Karnik »Cunningham & Co. Körperinszenierungen in Elektronikclips« in: club transmediale und Meike Jansen (Hg), Gendertronics. Der Körper in der elektronischen Musik, Frankfurt am Main, 2005, S. 89f. 72 Vgl. Edward George in »Body Rock« von: Fantastic Voyages. Eine Kosmologie des Musikvideos, 3 Sat/ZDF, 2000/2001 zitiert in Olaf Karnik, Cunningham & Co, a.a.O., S. 89.
TRACK 06: CYBORG | 257
gisseur Chris Cunningham erklärt auch die Herkunft der Roboterteile und warum sie gerade so aussehen: »I had no involvement in or saw any A.I. Robot conceptual designs. I was testing and building an animatronic boy for Kubrick. The only connection my robot videos have to Kubrick’s A.I. is that I made the Autechre robot from aircraft parts stolen from a skip in the aircraft hanger Kubrick had me working in! The real Kubrick connection is, of course »2001«. His NASA influenced design aesthetic in that film has influenced nearly all Sci-fi from then on, including Alien, THX 1138 and Star Wars. It must have influenced modern industrial design too, because most car plant robots are white. I have always loved that look and when Björk asked me to make a »white heaven« video, it could only go that way.«73
Zwei Cyborgs, die von Maschinen geboren werden und auch noch in ihrer lesbischen Annäherung und Sexualität durch Maschinenarme im Hintergrund unterstützt, gepflegt, repariert werden. Steht die weiße rückwärtsfließende Flüssigkeit vielleicht als Metapher für die nährende Muttermilch? Wie auch schon Haraway erwähnte »The cyborg skips the step of original unity« und darum ist sie für die Queer Theory und den Feminismus auch so interessant. Cyborgs werden nicht durch eine Mutter geboren, sie reproduzieren sich selbst. Es gibt keine »kinship«, Blutsverwandschaft, keine Familie des Patriarchats. Cyborgs verkörpern eine radikalisierte Art der neuen Reproduktionstechnologien. Das heterosexuelle System fußt auf der Investierung in die Zukunft des menschlichen Subjekts. Der Mensch will für immer leben, länger als der andere. Er will, dass sein Name weiterhin existiert, auch nach seinem Tod. 74 Lee Edelman argumentiert gegen eine solche heterosexuelle Einstellung und plädiert für die »No future«-Haltung innerhalb der Queer Theory, die Zukunft sei Kinderkram. Queerness soll die Verkörperung des narzistischen, antisozialen und zukunftsverneinenden Triebes sein. Die queere Effizienz ist das Verweigern der sozialen und politischen Ordnung und nicht die Anpassung an die Heterosexualität. Meiner Ansicht nach liegt der Cyborg zwischen dem Reproduktionsschema der Heterosexualität und der »No future«-Haltung von Lee Edelman. Es gibt zwar die Möglichkeit einer mechanischen/technischen Reproduktion, aber eben ohne der symbolbehafteten Blutsverwandtschaft (interessanterweise kommt Rot in dem Video nur als Symbol der Herstellungsfirma der Cyborgs, das an den Cyborgs angebracht ist, und als das rot leuchtende Licht im Kopf des Cyborgs vor), die für die Heterosexualität von besonderer Wichtigkeit ist und durch die Patrilinearität ungleiche soziale Strukturen entstehen lässt und zur Binarität der Geschlechtereinteilung beiträgt. In diesem Video wurde eine doppelte Grenzüberschreitung realisiert: 73 Booklet zur DVD: The Work of Director Chris Cunningham, Chris Cunningham, Palm Pictures. 2003. S. 34. 74 Vgl. Lee Edelman zieht Elias Canetti zu dieser Analyse heran, in: Lee Edelman: No Future. Queer Theory and the Death Drive, Durham/London, 2004.
258 | QUEERE TRACKS
»Björks Roboterfigur suggeriert eine Post-Replikantentechnologie mit einzigartiger Vorstellungskraft, die eine alte philosophische Theorie neu belebt-, dass nämlich Befindlichkeiten wie Liebe, Begehren oder andere Emotionen nicht existieren, wenn in demselben Individuum nicht die Vorstellung eines geliebten Objektes exisitiert. Und der Raum, in dem diese gedankliche Erotik inszeniert wird, deutet auf eine Zukunft hin, in der die Grenzen der menschlichen Existenz eines Tages von Maschinen erzeugt werden und unsere Menschlichkeit, ihrer Exklusivität beraubt, womöglich Eigenschaft eines kybernetischen Wesens wird. Es wird hier ein Zustand suggeriert, der der Substanz vorausgeht. Ein Fall, in dem alle Dinge in ihrer cybersinnlichen Genese bereits aus einem Urstoff entstanden sind – von Seelen, die auf Körper warten. Es sieht aus, als ob sie sich liebten, als ob sie von Liebe gesteuert würden, vielleicht durch eine unsichtbare, unterirdische techno-organische Schöpferkraft. Dies ist das doppelt unmögliche Szenario, in dem »All Is Full Of Love« sich behauptet: Eine doppelte Grenzüberschreitung, inszeniert durch die Darstellung lesbischen Begehrens. Es ist eine Inszenierung, deren transzendentale Kraft die stumme Fixierung auf Heterosexualität ans Licht bringt, die die zwanghaften Inszenierungen radikaler Differenz in allen anderen Videos unterminiert.«75
Björk sagt im Interview zum »Making of« dieses Video, dass sie die Vorstellung davon hatte, dass alles in Weiß gehalten sein soll, so eine Art von Himmel, aber ein Weiß, dass nicht nur rein ist. Und sie wollte auch etwas Erotisches reinbringen, ein Weiß, das eine harte Oberfläche hat, wie gefroren wirkt, das aber schmilzt, wie zum Beispiel beim »making love«. In diesem Video geht es klar um das Auflösen fixer Konzepte, wie der Mensch oder die Maschine oder die Liebe als rein heterosexuelles Konstrukt. Flüssigkeiten (könnten auch menschliche Flüssigkeiten sein, die bei bestimmten Begehren ins Fließen kommen), müssen nicht immer dieselbe »heterosexuelle« Richtung fließen, sie können auch »andersrum« sein. Dies kann als eine Anspielung auf lesbische Sexualität interpretiert werden, oder vielleicht steht die Flüssigkeit auch für fluide Identitätskonzepte, oder als Antithesis zur Härte und Stabilität der Maschinenteile? Luce Irigaray schrieb ein Kapitel über »die Mechanik des Flüssigen«, in dem sie ein historisches Zurückbleiben der Mathematisierung des Flüssigen im Vergleich zu der der festen Körper feststellt und sie fragt sich, warum die Mechanik der festen Körper die Oberhand über die der flüssigen erhielt, und ob das nicht eine Komplizenschaft mit der Rationalität beinhalte? »Dennoch, Es spricht die Frau. Aber nicht »ähnlich«, nicht »gleich«, nicht »identisch mit sich« noch mit irendeinem x etc. Kein »Subjekt«, außer es wäre durch den Phallokratismus transformiert. Es spricht »flüssig« [...]. Daß es kontinuierlich, komprimierbar, dehnbar, viskös, leitfähig, diffundierbar ist [...]. Daß Es damit nicht aufhört, mächtig oder ohnmächtig, in diesem Widerstand gegen das Zählbare; daß Es genießt und darunter leidet, feinfühliger für Pressionen zu sein; daß es 75 Edward George in: Body Rock, a.a.O., S. 90f.
TRACK 06: CYBORG | 259
sich ändert – an Volumen oder an Kraft zum Beispiel – entsprechend dem Grad der Temperatur; daß Es in seiner physischen Realität durch das Aneinanderreiben von zwei unendlich Benachbarten determiniert ist – durch eine Dynamik der Nähe und nicht des Eigentlichen, durch Bewegungen, die aus dem Quasi-Kontakt zwischen zwei Einheiten hervorgehen, die als solche kaum definiert werden können (Koeffizient der Viskosität, den man in Poise berechnet, nach Poiseuille also), und nicht durch Energie eines abgeschlossenen Systems; daß Es sich leicht von Strömen durchqueren lässt, in Funktion seiner Leitfähigkeit für Strömungen, die aus anderen Flüssigkeiten kommen oder durch die Wände eines festen Körpers hindurch wirken; daß Es sich mit Körpern ähnlicher Beschaffenheit vermischt und sich dabei manchmal in nahezu homogener Weise verdünnt, was die Unterscheidung des (der) einen von dem (der) anderen problematisch macht; und dass Es darüber hinaus schon »in sich selbst« diffundiert, jeden Versuch statistischer Identifikation vereitelnd [...]« (Hervorhebung im Original)76
Die Frau ist bei Irigaray das Flüssige, das Andere des Diskurses. Das Sprechen der Frau ist auch fließend, niemals gleich, fluktuierend, flunkernd. »Das Flüssige – als dieses Andere, Drinnen/Draußen des philosophischen Diskurses – ist von Natur aus instabil. Es sei denn, dass man es der Geometrisierung unterwirft oder (?) idealisiert.« (Fragezeichen im Original)77 Abbildung 17: All Is Full Of Love
Quelle: Booklet zur DVD: The Work of Director Chris Cunningham, Chris Cunningham. Palm Pictures. 2003.
76 Luce Irigaray: Das Geschlecht das nicht eins ist, Berlin, 1979, S. 115f. 77 S. 116.
260 | QUEERE TRACKS
Im Video kommt durch den Gegensatz der Maschinen und des Flüssigen, auch der Gegensatz des Rationellen und Emotionellen zum Vorschein, dieses gegenteilige Paar bleibt aber nicht getrennt, sondern fügt sich zusammen, gehört zusammen, fusioniert die Dichotomien und führt zu einem Zusammenbruch der Grenzziehungen. »All Is Full Of Love« – alles und in nur jeder imaginierbaren Art und Weise ist von Liebe erfüllt. »Nicht umsonst ist »All Is Full Of Love« immer wieder als bestes Musikvideo der neunziger Jahre, wenn nicht aller Zeiten, bezeichnet worden. Dass wirklich alles von Liebe erfüllt sei – diese Utopie zu zeigen, ist vor und nach Cunninghams Meisterwerk, tatsächlich keinem Clip gelungen.« (Hervorhebung im Original)78
78 Olaf Karnik »Cunningham & Co« a.a.O., S. 91.
T R AC K 07: T R A N S S E X U AL I T ÄT – » B O R D E R W AR S «
Technologien des Geschlechts Bernice L. Hausman erklärt in seinem Artikel »En busca de la sujectividad: transexualidad, medicina y técnologías de género«, warum der Terminus »Technologie« für das Verstehen von Sexualität von so großer Bedeutung ist und welche Dimensionen dieser Begriff annehmen kann: Die Technologie kann auch als angewandte Wissenschaft verstanden werden, oder aus einem breiteren Blickwinkel gesehen, als ein Wissen, das gewisse technische Praktiken ermöglicht. Teresa Lauretis bestärkt auch, dass das Geschlecht ein Produkt aus verschiedenen sozialen Technologien, wie zum Beispiel dem Kino, institutionalisierten Diskursen, der Epistemologie und kritischen Praktiken ist.1 Diese zweite Dimension der Technologie basiert auf der Metapher der wissenschaftlichen oder industriellen Techniken, um die These zu unterstützen, dass die Repräsentationsarten des Geschlechts Technologien sind und das Geschlecht nur ein Effekt der Überschneidung von diesen Technologien mit den ideologischen Systemen ist. Es können auch andere Effekte, wie die Ethnie, Klasse, »Ability« und sexuelle Orientierung sein. Der Gebrauch des Terminus »Technologie« kommt von den Werken Michel Foucaults über die Sexualität, in denen er die Synthesis zwischen Macht und Wissen, die über die Institutionen und Diskurse zum Sex führen, darstellt.2 »[...] let us suppose that historical analysis has revealed the presence of a veritable »technology« of sex, one
1 2
Vgl. Teresa de Lauretis: Technologies of Gender: Essays on Theory, Film and Fiction, Bloomington, 1987, S. 2. Bernice L. Hausman »En busca de la sujectividad: transexualidad, medicina y técnologías de género« in: José Antonio Nieto (Hg.), Transexualidad, transgenerismo y cultura. Antropología, identidad y género, Madrid, 1998, S. 195.
262 | QUEERE TRACKS
that is much more complex and above all much more positive than the mere effect of a »defence« could be; [...]«3 und auch: »The medicine of perversions and the programs of eugenics were the two great innovations in the technology of sex of the second half of the nineteenth century. [...] The series composed of perversion-heredity-degenerescence formed the solid nucleus of the new technologies of sex. And let it not be imagined that this was nothing more than a medical theory which was scientifically lacking and improperly moralistic.«4
Wie Beatriz Preciado behauptet, besteht die Kraft des foucaultschen Technikbegriffs »darin, der Reduktion der Technologie auf Objekte, Werkzeuge, Maschinen oder andere Geräte ebenso zu entkommen wie der Reduktion der Technologien des Sex auf etwas, das zur Kontrolle der Fortpflanzung eingesetzt wird. Für Foucault ist Technik ein komplexes Dispositiv von Macht und Wissen, das Werkzeuge und Texte, Diskurse und Regime des Körpers, Gesetze und Regeln zur Mobilisierung des Lebens, der körperlichen Lust und der Artikulationen von Wahrheit integriert.«5
Auf die komplexeren Strukturen des foucaultschen Terminus der Technik eingehend schreibt Preciado: »Für Foucault ist Technik eine Art künstliche und produktive Mikromacht, die nicht von oben nach unten wirkt, sondern auf allen Ebenen der Gesellschaft zirkuliert (von der abstrakten Ebene des Staates bis zu der der Körperlichkeit). Aus diesem Grunde sind der Sex und Sexualität nicht nur Effekte eines Verbots, von Repressionen, die unsere intimsten Wünsche hemmen, sich zu entwickeln, sondern Ergebnis eines Ensembles produktiver (nicht nur repressiver) Technologien. Die stärkste Form der sexuellen Kontrolle ist also nicht das Verbot bestimmter Praktiken, sondern die Produktion unterschiedlicher Wünsche und Lüste, die aus natürlichen Vorannahmen (Mann/Frau, heterosexuell/homosexuell, etc.) abgeleitet scheinen und letztlich als »sexuelle Identitäten« verdinglicht und objektifiziert werden. Die Disziplinartechniken der Sexualität sind kein repressiver Mechanismus, sondern re-produktive Strukturen, aber auch Techniken von Lust und Begehren, die Subjekte des Wissens hervorbringen.«6
Die Bedeutungen und Gebrauchs des Begriffs Technologie sind also vielfältig und er erlauben uns eine Wendung vom repressiven Wissen weg hin 3 4 5 6
Michel Foucault: The History of Sexuality. Volume 1. An Introduction, England, 1990, S. 90. Ebd. S. 118. Weitere Stellen mit Erklärungen zu »technology of sex« S. 119123. Beatriz Preciado: Kontrasexuelles Manifest, Berlin, 2003, S. 115. Ebd. S. 116f.
TRACK 07: TRANSSEXUALITÄT | 263
zu einem produktiven Wissen der Konstitution des Sexes und der Sexualität.7 Bernice L. Hausman versteht den Terminus der Technologie als zwei mögliche Bedeutungen, erstens als spezifische technische Praxis in einem gegebenen Feld und als soziale Praxis der Repräsentation. Diese zwei Technologietypen sieht er in die Produktion der Subjektivität involviert und beide sind Instrumente des Vorgangs der Transsexualität, so wie wir sie heute verstehen. Das Buch von Teresa de Lauretis »Technologies of Gender« versucht die zweite Bedeutung des Begriffs so auszulegen, dass er die sexuelle Differenz als die natürliche Basis der sozialen Konstruktion des Geschlechts verdrängt. Diese Verschiebung innerhalb der feministischen Theorien hat sowohl dazu gedient, das »Geschlecht« als geeigneten Terminus (besser als »Sex« oder »Frau«) einzuführen, als auch dazu, dass es sich selbst als einziges Paradigma, das die Erfahrung der Frauen gänzlich erklärte, eliminierte. In der Analyse von Lauretis ist das Geschlecht von der »sexuellen Differenz« unabhängig und Lauretis ersetzt sie durch die Repräsentationen. Sie zeigt, dass sich das Geschlecht als und durch die Repräsentationen konstituiert und auch rekonstituiert werden kann, weil es sich in einem konstanten Produktionsprozess befindet. Daher ist das Geschlecht, was seine Unabhängigkeit von einer ideologischen Regulierung betrifft, eine besonders soziale Kategorie, ähnlich wie die Rasse oder die Klasse, und gleichwertig zu diesen, was die Mittel betrifft, die diese zur Verfügung stellen, um zu einer Konstruktion der Subjektivität beizutragen. So ist es auch in den feministischen Theorien allgemein akzeptiert, dass das Geschlecht als analytische Kategorie ihrer selbst willen, ungenügend ist.8 Die Transsexualität stellt ein besonders adäquates Beispiel dar, da sie am eindruckvollsten die Resultate des Sex/Geschlechtersystems aufzeigten, die wir als ein Zusammenspiel von Praktiken ansehen, über die das Geschlecht und der Sex als biologische und sozial-psychologische Gleichwertigkeiten innerhalb des Subjekts produziert werden, im Kontext der Unterordnung der Frauen und der Hegemonie der Heterosexualität (oder in anderen Worten eine Technologie des Geschlechts im Sinne von Teresa de Lauretis). Eine herbe Kritik, welche die Transsexualität trifft, ist, dass sie die Straffheit des Geschlechtersystems als Entstehungsgrund angibt. Aus einer anderen Perspektive gibt es die »Medizinisierung« der Transsexualität, die auf dem Glauben beruht, dass es sich um ein Phänomen handelt, das doch auch abseits seiner Beziehung mit den medizinischen Institutionen existiert und die wahren Ursprünge der Transsexualität mystifiziert werden, da ihre Wurzeln im sozialen Reich der Starrheit der Geschlechter findet und als Hindernis für politische Handlungen von jenen Subjekten gesehen 7 8
Vgl. Bernice L. Hausman, En busca de la sujectividad, a.a.O., S. 195. Ebd. S. 196.
264 | QUEERE TRACKS
wird, die an einer »Geschlechterdysphorie« leiden. Die Transsexuellen erscheinen in diesem Licht als Opfer des Sex/Geschlechtersystems, mehr sogar als traditionelle heterosexuelle Paare, insofern es sich um Subjekte handelt, die ihre Körper zu ändern wünschen, um sie den etablierten Codes des geschlechtertreuen Verhaltens und Sensibilität anzupassen. Nicht genug, die Subjektivität des modernen Transsexuellen ist nicht einfach ein Effekt der sozialen Technologien der Geschlechter. Sie wird durch den Versuch eines chirurgischen und hormonellen Geschlechterwechsels konstruiert. Diese Suche hängt von der materiellen Existenz von spezifischen medizinischen Technologien und Praxen ab. Die Nachfrage an Operationen wurde dank den Gebieten der chirurgischen Technologie, der endokrinischen Forschung und der psychiatrischen Kontrolle der Intersexualität ermöglicht.9 Die weiterhin wachsende Nachfrage bestärkt die Medizin, neue Technologien zu entwickeln und erlaubt ihr einen Zugang zu einer Diversität von experimentalen Subjekten, wodurch auch eine Erarbeitung von innovativen sexologischen Theorien angeregt wird. Die Arbeiten der ersten Ärzte, die verteidigten und publizierten, dass die Transsexualität ein psychologisches Ungleichgewicht ist, für die ein chirurgisches und hormonales Heilmittel existiert, zeigen, dass die Transsexuellen, die sich selbst diagnostizieren, sich der vorhandenen Technologien bewusst sind und den Arzt aufsuchen, damit er ihren Bedarf erfüllt. Diese Beziehung zwischen der Nachfrage und der Praktiken, welche die Technologien des Geschlechterwechsels kontrollieren, dient dazu, um zu verstehen, warum die Nachfrage ein wesentliches Faktum der transsexuellen Subjektivität in der Aufschwungsperiode zwischen den 1950ern und 1960ern war.
Zur Geschichte der Transsexualität Diese medizinischen Techniken der Transsexualität, die im 20. Jahrhundert entwickelt wurden, zeigen, dass jeglicher Versuch, Spuren von Transsexualität in historischen Perioden, in denen diese Technologien des Geschlechterwechsels noch nicht existierten, zu finden, als anachronistisch und daher problematisch resultiert.10 Ein solcher Fall war z. B. Chevalier d’Eon de Beaumont (1728-1810), den ich an dieser Stelle aber trotzdem erwähnen will, weil sein Name von Havelock Ellis verwendet wurde, um seinen Terminus für Transvestismus zu bezeichnen: der Eonismus. D’Eon de Beaumont war ein Adeliger aus Frankreich, der als Diplomat und Spion in Russland und England lebte.11 9 Vgl. ebd. S. 197. 10 Vgl. ebd. S. 198. 11 Vgl. Pat Califia: Sex Changes: the Politics of Transgenderism, San Francisco, 2003, S. 12.
TRACK 07: TRANSSEXUALITÄT | 265
Der Fall des Chevaliers ist wenig dokumentiert, viele seiner Biographien sind fiktiv. Er war anscheinend eher das Opfer von politischer und ökonomischer Manipulation und nicht so sehr Herr des eigenen Schicksals. Aus den Briefen, die uns erhalten blieben, geht hervor, dass er weder ein klassischer Transvestit noch ein Transsexueller war. Er selbst beschreibt seine Kondition folgendermaßen: »Estoy suficientemente mortificado por ser lo que la naturaleza ha hecho de mí y porque la frialdad de mi temperamento natural, que nunca me ha llevado a buscar el placer, haya inducido a mis amigos tanto en Francia como en Rusia e Inglaterra a pensar en su inocencia que soy del sexo femenino. La maldad de mis enemigos ha venido a confirmarlo [...]. Si el Gran Señor del Universo no me ha dotado con el vigor externo de los hombres, me ha resarcido ampliamente dándome cerebro y corazón [...]. Soy lo que las manos de Dios han hecho de mí; satisfecho en mi debilidad, no la cambiaría por la peligrosa fuerza de Marshall Saxe [...].«12
Ludwig der XVI. versuchte Chevalier zu überreden, nach Frankreich zurückzukehren, aber unter der Bedingung, dass er fortan als Frau weiterlebte. In seinen letzten Lebensjahren führte er ein Tagebuch, in dem er über sich selbst mit weiblichen Pronomen sprach.13 Der Name Chevaliers wird auch von Mylène Farmer in einem ihrer bekannten Lieder »Sans contrefaçon« (1988) erwähnt, in dem sie standhaft verteidigt, doch ein Junge zu sein: »Tout seul dans mon placard Les yeux cernés de noir A l'abri des regards Je défie le hasard Dans ce monde qui n'a ni queue ni tête Je n'en fais qu'a ma tête Un mouchoir au creux du pantalon Je suis chevalier d'Eon
Puisqu'il faut choisir, A mots doux je peux le dire, Sans contrefaçon Je suis un garçon Et pour un empire, Je ne veux me dévêtir, Puisque sans contrefaçon, Je suis un garçon [...]«14
Wie es eigentlich zu einer kulturell bedingten Unterscheidung in zwei Geschlechter und somit auch zur Notwendigkeit der Einteilung in männlich und weiblich gekommen ist, aus der wiederum die Transsexualität entstanden ist, werde ich im nächsten Abschnitt näher erklären.
12 C. Cox »The Enigma of the Age: The Strange Story of the Chevalier d’Eon« London,1966, S. 40. Zitiert in: Vern L. Bullough »La transexualidad en la historia« in: Transexualidad, transgenerismo y cultura, a.a.O., S. 65. 13 Vgl. Pat Califia: Sex Changes: the Politics of Transgenderism, San Francisco, 2003, S. 13. 14 http://www.hitslyrics.com/m/mylenefarmer-lyrics-9451/sanscontrefacon boysremix-lyrics-939725.html vom 12.3.2008.
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Der deutscher Soziologe, Stefan Hirschauer, skizziert in seinem Buch über die soziale Konstruktion der Transsexualität drei geschichtliche Entwicklungslinien: Erstens vom Hermaphrodismus zur Intersexualität, zweitens von der Sodomie zur Homosexualität und drittens die Travestie als historische Form des Geschlechtswechsels, die in der Transsexualität als Projekt des medizinischen Geschlechtswechsels endet. Er betont die Transsexualität »nicht als Krankheit von Individuen« zu beschreiben, »sondern als Ergebnis von »collective action« (Becker 1963), nicht als geniale und einmalige »Entdeckung«, sondern als konstruktive und anhaltende Aktivität Vieler, nicht als universale Tatsache, sondern als geographisch und historisch lokalisiertes Phänomen, in dessen Existenz individuelle und kollektive Akteure ihre Beiträge investiert haben.«15 Hirschauer führt Thomas Laqueurs Arbeit über die medizinische Präzisierung der Geschlechterunterscheidung an. »Er zeigt, daß es im späten 18. Jh. zu einer radikalen Neuinterpretation des Geschlechtsunterschieds in biologischen Theorien kam, die auf die aufklärerische Konzeption des »Menschen« und seiner »natürlichen Rechte« reagierte. Laqueur spricht von zwei Modellen des Geschlechtsunterschieds: einem von der Antike bis in die Renaissance gültigen vertikal-hierarchischen, das von einer Homologie der Genitalien ausging, und einem neuzeitlichen horizontalen Differenzmodell, das einen binären Gegensatz zwischen den Organen annimmt.« (Hervorhebung im Original)16
Zuerst wurde angenommen, »dass Frauen im Prinzip die gleichen Genitalien wie Männer haben, nur im statt außerhalb des Körpers. Die Ovarien wurden so im 19. Jh. als die weiblichen »testiculi« bezeichnet. Es gab auch die Geschlechtsumwandlung in dieser Vorstellung der spiegelbildlichen Gleichheit der Körper. Ärzte kannten Fälle von Frauen, die sich unter dem Einfluss von »Wärme« in plötzlicher Ausstülpung in Männer verwandelten.«(Hervorhebung im Original)17
15 Stefan Hirschauer: Die soziale Konstruktion der Transsexualität. Über die Medizin und den Geschlechtswechsel, Frankfurt am Main, 1993, S. 68f. 16 Ebd. S. 74f. 17 Ebd. S. 75.
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Abbildung 18: Anatomie I
Quelle: Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt/New York, 1992, S. 104 und 106. Galen zeigte schon im zweiten Jahrhundert nach Christus die strukturelle Ähnlichkeit der männlichen und weiblichen Reproduktionsorgane und argumentierte, dass bei Frauen die Strukturen aufgrund mangelnder Hitze im Körperinneren geblieben sind.18 Laqueur erklärt dazu, dass dieses anatomische Aufzeigen der Unterschiede der Geschlechter genau in einer Zeit geschah, als die soziale Gleichheit aller Menschen gefordert wurde und auch die Teilhabe der Frau an politischen Rechten. Plötzlich wurde die fundamentale Verschiedenheit der Geschlechter bewiesen und somit ein Argument gegen das Gleichheitspostulat gefunden.19 »So hat beispielsweise Jacques-Louis Moreau, einer der Begründer einer »moralischen Anthropologie«, im Jahre 1803 sich leidenschaftlich gegen den Unsinn gewendet, den Aristoteles, Galen und ihre modernen Gefolgsleute zur vermeintlichen Vergleichbarkeit von Frauen und Männern geschrieben hätten. Nicht nur im Geschlechtlichen sind sie verschieden, sondern verschieden unter jedem denkbaren Aspekt des Körperlichen und Seelischen.«20
18 Vgl. Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt/New York, 1992. S. 16f. 19 Stefan Hirschauer, Die soziale Konstruktion der Transsexualität, a.a.O., S. 76. 20 Thomas Laqueur, Auf den Leib geschrieben, a.a.O., S. 17f.
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Gegen Ende des 19. Jahrhunderts schien dann der Unterschied der Geschlechter fest in der Natur verankert, da er auch im Mikroskop nachgewiesen werden konnte.21 »Darunter die Zeichnung eines Penis und ein Querschnitt durch die weiblichen Genitalien von Frank Netter, CIBA Collection of Medical Illustration, Bd. 2 (1954), die angefertigt wurde, um zu zeigen, wie undifferenzierte embryologische Strukturen schließlich zu männlichen oder weiblichen werden. Beide zeigen, dass die geometrischen Beziehungen zwischen Penis und Vagina auf Renaissance-Stichen nicht von vorneherein unplausibel sind.«
Abbildung 19: CIBA
Quelle: Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt/New York, 1992. S. 105. Die beiden Arten der Geschlechterdarstellung hatten auch für Intersexuelle oder zu jener Zeit noch Hermaphroditen genannt entscheidende Folgen. Im alten Modell wurden sie geachtet und die Ärzte griffen nicht ohne weiteres ein. »Mit dem neuen Geschlechtsmodell wurden Hermaphroditen dagegen vom nahezu paradigmatischen Fall menschlicher Geschlechtlichkeit zum Hindernis der neuen Differenzbehauptung, die nun starrsinnig an ihnen wiederholt wurde [...]« (Hervorhebung im Original)22 Auf das Intersexuellenmodell Anfang des 20. Jahrhunderts geht Hirschauer näher ein, indem er die Sexualstudien Hirschfelds heranzieht.
21 Ebd. S. 18. 22 Stefan Hirschauer, Die soziale Konstruktion, a.a.O., S. 77.
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Hirschfeld »unterscheidet vier Gruppen von Geschlechtsmerkmalen (1910: 275 ff.): die Genitalien, andere körperliche Merkmale (wie Behaarung, Stimme, Brustgewebe, Gang, Teint, Knochenbau), den Sexualtrieb und sonstige seelische Eigenschaften. In jeder Gruppe ergeben sich zahlreiche Zwischenstufen: neben verschiedenen Formen des Hermaphroditismus z. B. Phänomene der »Gynäkomastie«, »Androglottie«, »Gynosphysie«, »feminae barbatae« sowie der »Succumbierung« von Männern »nach Frauenart«, des »Metatropismus«, der Bi- und schließlich der Homosexualität. Über die systematische Differenzierung weiterer Geschlechtsmerkmale kommt Hirschfeld mühelos zu einer achtstelligen Zahl von Geschlechtsvarianten und meint, es sei leicht eine Vielfalt zu konzipieren, die die Zahl der Erdbewohner übersteigen würde[...]. Hirschfelds humanisti-
sches Projekt war das einer geschlechtlichen Konzeption von Individualität.«23 (Hervorhebung im Original) Trotz der diskriminierenden Bewegung seitens der Justiz oder Medizin fand auch eine Normalisierung der Homosexualität im 20. Jahrhundert statt, wie Hirschauer betont: »Freuds These von der verborgenen Normalität homosexueller Wünsche im Unbewußten, Kinseys Feststellung der Verhaltensnormalität und die Behauptung eines schwulen Lebensstils als anderer Normalität. Hirschfelds Theorie hatte verschiedene Gegner in der Psychiatrie und Sexualwissenschaft, ihr größter erwuchs ihr jedoch aus einem Verfahren der Seelenforschung, das effektiver war als ältere Methoden der »moralischen« Traktierung von Patienten und eine komplexere Dechiffrierung von Symptomen ermöglichte als die Vermessung der Körper. Freud verwarf zwar nicht die Konzeption der Homosexualität als psychischen Hermaphroditismus, meinte aber, die Beziehung zum körperlichen Hermaphroditismus sei nicht so eng wie von Hirschfeld angenommen: beide seien »im ganzen unabhängig voneinander«[...] Überdies müsse man schärfer zwischen dem psychosexuellen Geschlechtscharakter und der Objektwahl trennen, da z. B. maskuline und sexuell männlich-aktive Männer auch andere Männer lieben könnten. Die populäre Vorstellung von der im falschen Körper gefangenen Seele vereinfache die Zusammenhänge zwischen drei Dimensionen von Geschlechtlichkeit: den somatischen Geschlechtscharakteren, dem psychischen Geschlechtscharakter (der »Einstellung«) und der Art der sexuellen Objektwahl (1920: 300). Die Genese des psychischen Geschlechtscharakters suchte Freud vor allem in einem oedipalen Dreieck, in dem neben dem Begehren »Identifizierungen« stattfänden: eine subjektive Aneignung der Geschlechtlichkeit statt Hirschfelds geschlechtlicher Eigenheit von Individuen. Freuds Beitrag zur Normalisierung der Homosexualität besteht vor allem darin, die Annahme natürli-
23 Ebd. S. 84.
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cher Heterosexualität zu problematisieren, anstatt sich wie Hirschfeld auf den Nachweis der Natürlichkeit der Homosexualität zu konzentrieren.«24
Wieder zum Ausgangspunkt der Travestie und der Transsexualität in der Geschichte zurückkehrend, meint Hirschfeld 1910, dass die Travestie eine seelische Zwischenstufe wie jede andere sei. 1918 beschreibt er noch ein weiteres Phänomen: den »androgynen Drang«, der versucht, durch verschiedene (auch operative) Manipulationen an Bart, Brust und Genitalien Geschlechtsmerkmale einer intersexuellen Psyche entsprechend zu »korrigieren«.25 »Wo Hirschfeld 1923 en passant und synonym für Transvestitismus von »seelischem Transsexualismus« sprach und Ellis deskriptiv eine große Gruppe Eonisten, die nur die Kleider des anderen Geschlechts anlegt, von einer kleineren, aber »vollständigeren« Gruppe unterschied, die sich ganz dem anderen Geschlecht zugehörig fühle, prägt 1949 der für die transvestitische Subkultur schreibende Cauldwell den Ausdruck »psychopathia transsexualis«.«26
Auch nach der Erwähnung »transsexuell« in Caudwells Artikel dauerte es noch bis in die Anfänge der 1950er, bis dieser Begriff in der in der Fachwelt anerkannt und die Transsexualität klinisch als medizinische Störung des Travestismus differenziert wurde.27 In dem Artikel behauptet Cauldwell, dass der transsexuelle Psychopath sich entschieden hat, sich dem anderen Geschlecht zugehörig zu fühlen, sich so zu zeigen und so zu leben. Der Terminus bedeutet laut Cauldwell eine mentale Krankheit, in der die Person wünscht, als das andere Geschlecht zu leben. Ironischerweise vertrat Cauldwell aber niemals die Meinung, dass eine chirurgische Intervention notwendig sei.28 Somit wurde der Begriff »transsexuell« im 20. Jahrhundert eingeführt. 1953 erschien ein Aufsatz von Harry Benjamin, in dem Transsexualität von ihm »zunächst als höchster Grad des Transvestismus aufgefaßt: der Wunsch nach den Kleidern des anderen Geschlechts könne so stark werden, dass eine vollständige Zugehörigkeit zu ihm erstrebt werde.«29 Gegen Ende 1952 wurde bekannt, dass ein ehemaliger US-amerikanischer Soldat, George Joergensen, (nachher Christine) in Dänemark umoperiert wurde.30 Es war nicht der erste Fall einer operativen Geschlechtsumwandlung, die weibliche Person wurde aber aufgrund der medialen Aufarbeitung als Starlet präsentiert und verkörperte so eine ge24 25 26 27 28 29 30
Ebd. S. 85f. Vgl. ebd. S. 96. Ebd. Bernice L. Hausman, En busca de la sujectividad, a.a.O., S. 199. Vgl. ebd. S. 200. Stefan Hirschauer, Die soziale Konstruktion, a.a.O., S. 97. Vgl. Patrick Califia, Sex Changes, a.a.O., S. 17-28.
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glückte Repräsentation von Weiblichkeit. Die Schlagzeile damals lautete: »Ex-GI became blond beauty«. Wie Pat Califia betont, ist der Kontext zu dieser Zeit interessant, McCarthys Hexenjagd erreichte gerade seinen Höhepunkt und die Leute gingen für Cross-Dressing oder Homosexualität ins Gefängnis. Das Nachkriegs-US-Amerika machte gerade eine »Geschlechterparanoia« durch. Während des Zweiten Weltkrieges mussten Frauen Männerarbeit erledigen, um die Wirtschaft am Laufen zu halten, aber sobald ihre Männer und Freunde zurückkehrten, gab es eine intensive Kampagne, die darauf abzielte, die Frauen wieder zurück an den Herd zu fesseln. Das Faktum, dass Joergensen als »Ex-GI« bezeichnet wurde, zeugt von dieser Hysterie. Auch wurden in dieser Zeit die Werke Sigmund Freuds in den USA bekannt und die Leute sprachen freier über Sexualität und sexuelle Variationen. Das öffentliche Bewusstsein über sexuelle Devianz war zwar erhöht, aber das Verstehen und die Toleranz für diese Differenz nahmen nicht zu.31 Joergensen machte später als Sängerin und Schauspielerin Karriere.32 Sie schrieb auch eine Autobiographie, die dazu beitragen sollte, dass die Öffentlichkeit die Transsexualität besser verstehe, vielleicht auch in der Hoffnung, dass es anderen, die auch einen Geschlechtswechsel durchmachen, besser gehen soll, als ihr. Pat Califia beschreibt hier die Strategie von Joergensen (die in Califias Werk »Jorgensen« geschrieben wird): «Jorgensen attempts to normalize transsexuality by disassociating it from perverse pleasure-seeking activities like cross-dressing or homosexuality. This strategy is weakened by her work as an entertainer. No matter how Jorgensen may have wished audiences to view her, her act was perceived by the public and advertised as the ultimate form of female impersonation.«33 Joergsen schreibt selbst über ihre Entscheidung einen Geschlechtswechsel durchzuführen im ihrem letzten Absatz ihres Buches: „I suppose the final question to answer is, »Has it been worth it?« I must admit, at certain moments in life I might have hesitated to answer. I remember times when I lived in a crucible of troubled phantoms, and faltered in the long, painful struggle for identity. But for me there was always a glimmering promise that lay ahead; with the help of God, a promise that has been fulfilled. I found the oldest gift of heaven – to be myself.«34 31 Vgl. ebd. S. 23 und S. 26. 32 Vgl. Marjorie Garber »Vested Interests. Cross-Dressing & Cultural Anxiety« New York/London, 1992. S. 112 zitiert in: Harald Begusch: CrossDressing?/Trans-Sex?/Core-Gender? Die Konstruktion der Effemination als Darstellung des Geschlechts, Dissertation an der Universität Wien, 1995, S. 119. 33 Patrick Califia, Sex Changes, a.a.O., S. 27f. 34 Christine Jorgensen: Christine Jorgensen: A Personal Autobiography, New York, 1968, S. 300. Zitiert in: Patrick Califia, Sex Changes, a.a.O., S. 27.
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Ein Musikbeispiel passt gut in diesen Kontext über die Frage, ob es eine solche Transformationsoperation trotz aller Komplikationen Wert ist, durchgeführt zu werden. Die Dresden Dolls warnen in ihrem Lied »Sex Changes« vor falschen Hoffnungen: »sex changes dear mr. and/or mrs. senderwe're pleased to inform you that your applications been accepted starting from the time you get this letter your life will be one never-ending »hope you're feeling better« you get your choice of an aesthetic we'll need to chop your clock off (tick tock tick tock tick tock tick tock) it might not be what you expected there is no money back once you've been ripped off today's a very special day the boys'll murder for it but what will the neighbours say it leaves you feeling pretty hollow it might be nice to look at don't forget you're stuck with it tomorrow (and tomorrow, and tomorrow....) you're big enough to stop pretending you'll start to really show within a week or so so don't go saying it's just come to your attention you'll get more than you're asking for without the right protection today's a very special day and how you'd love to have a little thing with which to play but love wont get you very far today be still your beating heart you'll have to keep on feeding it tomorrow and tomorrow and tomorrow boys will be boys will be boys will be boys will be boys will be boys will be girls with no warning girls will be girls will be guys will be boys that don't cry over toys that they use to beat girls they despise by the morning they always said that sex would change you...
no second thoughts the knife is nearing you'll never hear the little pitter patter pitter patter of this little feat of engineering of course i love you and of course it's what's inside that matters but i think the whole charade is ending it seems to me to be the only way to keep from getting
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caught up in a long life of regretting the doctors said that once you get a taste for it you'll keep on cutting but while you happen to be here why don't you whisper all those sweet forevers in my ear stiff upper lip for all this sorrow hurry up and stick it in you never when it will end tomorrow or tomorrow or tomorrow...«35
Nun wieder zurück zu Christine Joergensen: Einer ihrer Ärzte war Christian Hamburger, der diesen Fall mit seinen Kollegen im »Journal of the American Medical Association« beschrieb. Die Autoren bestätigen die charakteristischen Züge des »Eonismus« (Wahren Travestismus) und behaupteten, dass der Travestismus durch die klinische Analyse in verschiedene Zustände eingeteilt werden kann. Nur ein kleiner Teil der Fälle kann als wahrer Travestismus oder »psychischer Intersexualismus« bezeichnet werden, deren Wunsch so stark ist, dass er unter bestimmten Umständen nicht verschwinden könnte. Benjamin publizierte 1953 einen Artikel36 über Travestismus und Transsexualismus, in dem er schrieb, dass der Travestismus so mächtig sein kann, dass er sich bis zu dem Punkt dem anderen Geschlecht angehören zu wollen hinentwickelt und den anatomischen Fehler der Natur zu verbessern versucht. Für diese Fälle ist der Begriff Transsexualität passend. In besagtem Artikel argumentierte er auch gegen die psychoanalytischen und psychiatrischen Behandlungen von Transsexuellen. Er dachte, dass der Körper vielmehr in diese Störungen miteinbezogen war, als es die Ärzte dieser Disziplinen zugaben.37 Benjamin schrieb auch, dass zumindest die sekundären Sexualmerkmale verändert werden können, die chirurgischen und hormonellen Eingriffe sind in den passenden Fällen geeignet. Ein Patient hat das Recht, als Frau akzeptiert zu werden und das Leben einer Frau zu führen. Weiters behauptete er, dass das sexuelle Leben des weiblichen Mann aktiv sein kann, aber auch gänzlich ohne Genitalien. In ihm (oder besser gesagt in ihr) sitzt die Lust im Gehirn und daher brauche die Patientin nicht unbedingt eine künstliche Vagina, außer in indirekter Form, um den Mann, mit dem sie eine sexuelle Beziehung hat, zu dienen. So sind Benjamins Schlussziehungen die gleichen, wie die von Hamburger. Die Vaginalplastik ist nicht nötig, da sie keinen Teil der Forderungen der Patienten darstellt. Benjamin betonte deutlich die Verantwortung 35 Amanda Palmer 2002. Songtext von: http://www.dresdendolls.com/ downloads_n_lyrics/lyrics/sexchanges.htm vom 20.3.2008. Auf dem Album der Dresden Dolls: Yes, Virginia..., Roadrunner International B. V., 2006. 36 Harry Benjamin »Transvestism and Transsexualism« in: International Journal of Sexology 7 (1953):12, 13. 37 Vgl. Bernice L. Hausman, En busca de la sujectividad, a.a.O., S. 204.
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der Mediziner gegenüber den Transsexuellen und dass sie im Dienste der wissenschaftlichen Wahrheit, welche die kulturellen Vorurteile ausschließt, handeln sollen.38 Der Begriff »transsexuell« wurde durch Christian Hamburger und Harry Benjamin (beide Endokrinologen) in den 1960ern populär.39 Laut Dwight Billings und Thomas Urban beschuldigten Psychoanalytiker die Verteidiger der transsexuellen Operationen mit dem psychotischen Verlangen der Patienten zu kollaborieren.40 Jahre später publizierte Benjamin das Buch »The Transsexual Phenomenon«41, in dem er drei verschiedene transsexuelle Typen festlegte: die Nicht-Operierten, die Echten mit gemäßigter Intensität und die Echten mit hoher Intensität. Die echten Transsexuellen wollen operiert werden, jene mit hoher Intensität dringend. Der nicht-operierte Transsexuelle ist der Idee der Operation zwar zugetan, aber er verlangt nicht, dass er operiert wird. Der »klassische benjaminsche Transsexuelle« ist der echte Transsexuelle hoher Intensität, denn er ist der Kandidat, der sich selbst zerstört, Selbstmord versucht oder begeht. »Als sich Mitte der 60er Jahre der Terminus »transsexuell« für die Vorstellung eines subjektiven Geschlechtsempfindens zu etablieren beginnt, wird der Transvestitismus enger als eine gelegentliche Praxis des Kleidertauschs aufgefasst und (wie bereits von Stekel in den 30er Jahren) als fetischistisches Sexualverhalten begriffen.«42 Als erste Universitätsklinik initiiert das John Hopkins Hospital in Baltimore 1965 ein »gender-identity-programm«. Es folgen die Kliniken von Los Angeles und Minnesota und bis Ende der 70er Jahre entstehen etwa 40 Zentren.«43 In den 1970er Jahren wurde der Begriff des »Gender Dysphoria Syndrome« durch den der Transsexualität ersetzt. Die Geschlechterdysphorie ist offener als der Terminus Transsexualität, weil er sich auf Personen bezieht, die ab und zu wegen ihres biologischen Geschlechtes ein Unbehagen oder Unwohlsein empfinden und so der Wunsch nach einem neuen Geschlecht auftaucht.44
38 Vgl. Bernice L. Hausman, En busca de la sujectividad, a.a.O., S. 205. 39 Vgl. Vern L. Bullough »La transexualidad en la historia« in: Transexualidad, transgenerismo y cultura, a.a.O., S. 63. 40 Vgl. ebd. 41 Harry Benjamin: The Transsexual Phenomenon, New York, 1966, S. 22 und S. 47. 42 Stefan Hirschauer, Die soziale Konstruktion, a.a.O., S. 97. 43 S. 104f. 44 Vgl. Bernice L. Hausman, En busca de la sujectividad, a.a.O., S. 206.
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M e d i z i n i s c h e / p s yc h o l o g i s c h e / s o z i a l e As p e k t e der Transsexualität Die zur Geschlechtsumwandlung erforderlichen Technologien kommen aus dem Bereich der Endokrinologie (Hormonlehre), die sich mit den Drüsen der inneren Sekretion, deren Fehlentwicklungen/funktionen und deren Einfluss auf den menschlichen Körper beschäftigen. Die Endokrinologie bot den Theoretikern des menschlichen Verhaltens die physiologischen Erklärungen für die psychologischen Charakteristiken an. Falls das endokrine System geschwächt oder unausgeglichen ist, ist der Organismus der Krankheit ausgeliefert und es ist auch von großer Bedeutung, dass somit gedacht wurde, dass die Patienten antisozialem und abwegigem Verhalten exponiert waren.45 Die Entdeckung der Geschlechtshormone schien zu beweisen, dass der Unterschied zwischen Männern und Frauen auch auf chemischen Substanzen beruht. Diese Tatsache der chemischen Differenz zwischen den Geschlechtern hat die kulturellen Vorurteile über Frauen und Männer, wie z. B. dass die Aggressivität der Männer durch die männlichen Hormone verursacht wird oder die Periode der Frauen ihren Gemütszustand verändere, unterstützt.46 Die chirurgische Plastik ist die Praxis der chirurgischen Techniken, die auf der transformatorischen Kapazität des menschlichen Körpers und seiner Organe basiert. Von besonderer Wichtigkeit sind hier die Entdeckungen aus dem Bereich der Operationstechniken, wie die Keimfreiheit, die Antisepsis, die Heilung chirurgischer Wunden, die Fortschritte in der Anästhesiologie und die Produktion und Ausweitung des prophylaktischen Gebrauchs von Sulfonamiden und Antibiotika. In der Entwicklung der Techniken der plastischen Chirurgie spielten auch die Kriege eine entscheidende Rolle. Personen, deren Aussehen Deformationen aufwies, egal ob angeboren oder durch einen Unfall oder Krankheit verursacht, konnten ihre »normale Form« wiedererlangen ohne Angst davor zu haben, entdeckt oder lächerlich gemacht zu werden. Die Entwicklung der plastischen Chirurgie führte auch zur ästhetischen Chirurgie, plastische Eingriffe, denen es an funktioneller Rechtfertigung fehlt, die aber auf ausdrücklichen Wunsch des Patienten realisiert werden.47 Zur Rechtfertigung der ästhetischen Chirurgie wird auch die psychologische Natur herbeigezogen. Die Glücklichkeit des Patienten wird zum Index.48 Harold Gillies fabrizierte für Michael Dillon in den 1940ern einen Penis. Er verwendete dazu zwei abdominale Kanäle, von denen er einen in den anderen einführte und so einen Penis und eine Uretra produzierte. Darin im45 46 47 48
Vgl. ebd. S. 208f. Vgl. ebd. S. 210. Vgl. ebd. S. 211. Vgl. ebd. S. 212.
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plantierte er einen Knorpel, um einen halberigierten Zustand zu erzeugen. Gillies beschrieb diesen Fall in »The Principles and Art of Plastic Surgery«49. Nach der Operation gab es einige Probleme mit Fisteln, Narben und das kosmetische Ergebnis lies zu wünschen übrig. Die spezifischen Funktionen eines Penis, der zu einer Erektion fähig sein soll und urinieren können soll, sind nur sehr schwer zu reproduzieren. Schon die Versuche, ein mechanisches Mittel für die Erektion zu erfinden, sind aufgrund der Implantierung von Fremdkörpern in den menschlichen Körper ein Problem. Der Gebrauch des Knorpelgewebes bringt eine konstante Erektion mit sich.50 Die Vaginalplastik ist physiologisch ein einfacherer Vorgang, jedoch fehlt es auch ihr nicht an Schwierigkeiten. Die drei am häufigsten verwendeten Techniken, um eine Vaginalplastik herzustellen sind folgende: die Transplantation von äußerer Haut (Methode nach McIndoe), die Transplantation von Gewebe aus der Leiste oder dem Abdomen und der Gebrauch des Sigmoids (Teil des Dickdarms, Methode nach Schmid). Die erste Methode bringt eine trockene Vagina mit sich und es besteht die Gefahr einer Nekrose (Absterben der Haut). Das Sigmoidgewebe zu benutzen, ist vielleicht die beste Methode, um die normalen Bedingungen einer Vagina herzustellen.51 Im Falle der Transsexualität von Mann zu Frau wird die Haut des Penis benutzt, um eine Vagina zu formen, das erogene Gewebe des Penis wird benutzt, um die Klitoris zu formen. Das Gewebe des Hodens bildet die Schamlippen. Diese Technik wird von Gillies in »The Principles and Art of Plastic Surgery« beschrieben. Sie erlaubt Empfindungen in der Vagina, da die Nervenendungen in der Haut erhalten bleiben.52 Ein Beispiel für die Behandlung von Transexuellen im deutschsprachigen Raum gibt uns Wolf Eicher in seinem Artikel zu »Transformationsoperationen«. Ein Behandlungsprogramm sieht folgendermaßen aus: • Körperliche Untersuchung • Biographische Anamnese • Begutachtung • Psychotherapie • Alltagstest • Hormonelle Behandlung • Transformationsoperation • Nachsorge • Hormonelle Dauersubstitution • Personenstandsänderung53 49 Harold Gillies und Ralph Milliard: The Principles and Art of Plastic Surgery, 2. Band, Boston, 1957, S. 383ff. 50 Vgl. Bernice L. Hausman: En busca de la sujectividad, a.a.O., S. 213. 51 Ebd. S. 214. 52 Ebd. 53 Wolf Eicher »Transformationsoperationen« in: Ulrich Clement, Wolfgang Senf (Hg), Transsexualität. Behandlung und Begutachtung, Stuttgart, 1996, S. 58.
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Als Voraussetzungen zur Operation gelten folgende Punkte: • Betreuung durch Experten über mindestens 1 Jahr • Dauerhaft transponierte Geschlechtsidenität • Alltagstest (präoperativer Rollenwechsel) zur Diagnose und Indikation • Gutachterliche Stellungnahme • Hormonelle Vorbehandlung54 Die Ziele der Transformationsoperation FTM (Frau zu Mann) sind hier kurz zusammengefasst: • Brusttransformation • Kolpohysterektomie mit Exstirpation der Adnexen • Hodenimplantate und Penoide (Experimentierstadium)55 Bei der Konstruktion von Phalloplastiken gibt es verschiedene Techniken, wie zum Beispiel • das Rollhautlappenpenoid: Haut wird aus einem Hüftschnitt gewonnen und mit einer Silikonprothese versteift. • Phalloplastik aus geradem Bauchmuskel und Leistenhautlappen: Das so gewonnene Hautstück beinhaltet einen Gefäß-Nerv-versorgten Bauchmuskel, worin ein Silikonstab zur Versteifung dient. Phalloplastik mit Unterarmtransplantat: dazu wird im Unterarm ein • Lappen wachsen gelassen, der eine Harnröhre miteinschließt und dann transplantiert wird.56 Die Transformationsoperation von Mann zu Frau besteht aus den folgenden Prozessen: • Kastration durch Exstirpation der Hoden und Nebenhoden • Penisschaftresektion • Schaffung einer Neovagina, Auskleidung durch Penishaut • Schaffung einer weiblichen Harnröhrenmündung • Formung der Vulva mit großen und kleinen Labien sowie 57Klitoris • Prothesenaugmentation bei Ausbleiben der Gynäkomastie Nach der medizinischen Versorgung ist der Transformationsprozess jedoch noch nicht abgeschlossen, er hält mit seinen Alltagssituationen ein ganzes Leben lang an. Denn so wird auch das Geschlecht konstruiert und immer wieder überprüft. Hirschauer beschreibt drei Zwischenstationen des Geschlechtswechsels mit alltagspraktischer Relevanz: Hormonbehandlung, Stimmpädagogik und Kosmetik.58 54 55 56 57
Ebd. Ebd. S. 59. Vgl. ebd. S. 60. Vgl. ebd. S. 61.
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»Bis dahin ist es für Transsexuelle jedoch ein weiter Weg, denn so sehr sie ihre alte Geschlechtsdarstellung als kraftraubende Maskerade wahrnehmen, »den Mann« oder »die Frau« zu markieren, so groß sind anfangs ihre Schwierigkeiten, ihre Überzeugung anderen so zu vermitteln, wie es die Alltagserfahrung »offensichtlicher« Geschlechtszugehörigkeit erfordert, nämlich nicht verbal. Der ihnen zugewachsene Körper bietet als »Darstellungsmaterial« Nachteile für die überzeugende Verkörperung der von ihnen angestrebten Geschlechtszugehörigkeit. Die kulturell normalen Geschlechterbilder sind ihnen einfach nicht »auf den Leib geschnitten«. Transsexuelle arbeiten daher zunächst fast ausschließlich gegen ihren Körper: sie bearbeiten ihn durch Make-up, Epilationen, Hormonbehandlungen und kosmetische Operationen, aber auch Diät und Bodybuilding. Ferner betreiben sie situative »Informationskontrolle« (Goffman 1967), wenn sie etwa den Adamsapfel kaschieren, die Brust abbinden oder eine Brustprothese tragen, die Stimme anheben und Acht geben, dass sie nicht wieder »abrutscht«, aber auch wenn sie auf optische Verhältnisse und die Blickkonstellationen in Situationen achten. Sie wappnen sich so für die Beurteilung durch Betrachter, ob eine »Frau« oder ein »Mann« so aussehen kann.« (Hervorhebung im Original)59
Die Wirkung auf das soziale Umfeld ist das Um und Auf, die Beziehung zwischen Darsteller und Betrachter muss stimmen, sodass andere den Geschlechtswechsel »mitvollziehen« müssen, damit er gelingen kann.60 In dieser Interaktion ist das gegenseitige Entgegenkommen ein wichtiger Bestandteil.61 »Der Grund für die Kollaboration von Teilnehmern in der Geschlechtskonstruktion ist, dass sie als Darsteller und Betrachter in der Wahrnehmung ihrer Zuständigkeiten abhängig voneinander sind. Diese Abhängigkeit hat drei Aspekte: Über das Bewahren der kulturellen Ressourcen hinaus bewahren Teilnehmer einander vor dem geschlechtlichen Gesichtsverlust. Sie stellen das Geschlecht des anderen immer mit dar und ermöglichen einander so, Männer oder Frauen zu sein. Da es mit der Vertrauenswürdigkeit von Geschlechtsdarstellungen auch immer um die der Wahrnehmung geht, bewahren sich Teilnehmer auch gegenseitig ihre kognitive Integrität. Sie ermöglichen einander, an die Alltagstheorie zu glauben, die genau zwei Geschlechter postuliert. Teilnehmer bestätigen sich ihre Geschlechtszugehörigkeit als Teil des persönlichen Wertes und als Teil der Objektwelt, so wie sie sich ihren Augen darbietet. Darüber hinaus sind Teilnehmer jedoch auch von der Kenntnis der Geschlechtszugehörigkeit des anderen abhängig, um in ihrer Selbstwahrnehmung nicht irritiert zu werden. Wenn jemand an der Geschlechtszugehörigkeit eines Gegenüber zweifelt, so steht auch seine eigene insofern auf dem Spiel, als er Schwierigkeiten bekommt, ihre Bedeutung zu fixieren: als das gleiche oder andere Geschlecht. Von dieser sozialen Tatsa-
58 Vgl. Stefan Hirschauer: Die soziale Konstruktion der Transsexualität, Frankfurt am Main, 1993, S. 242. 59 Ebd. S. 41f. 60 Vgl. ebd. S. 53. 61 Vgl. ebd. S. 55.
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che gleich- oder verschiedengeschlechtlicher Interaktion aus gesehen, hat jedes Individuum eine ambivalente Geschlechtszugehörigkeit und kann von Situation zu Situation zu einem ständigen stressreichen »Geschlechtswechsel« genötigt sein.« (Hervorhebungen im Original)62
Die Sozialstruktur der Geschlechtskonstruktion trägt einiges zur Deplaziertheit des transsexuellen Mannes bei, genauso wie die Aufmerksamkeit seiner Kollegen und Arbeitgeber, die Trennung der Geschlechter am Arbeitsmarkt, die Lohnbenachteiligung der Frau, verschiedene Rechtsgrundlagen, sanitäre Anlagen. Dies wurde von Goffman als »institutional genderisms« benannt, die auf den Geschlechtsunterschied aufmerksam machen.63 Hirschauer stellt fest, dass sich die Transsexuellen »gegen die Möglichkeit einer subkulturellen Ausgrenzung bedingungslos in die Geschlechternormalität einschließen. Sie beanspruchen, zu denen zu gehören, von denen und mit denen sie wissen, dass sie zeitlebens entweder Männer oder Frauen sind. Nicht kritische Distanz, sondern größte Loyalität zur kulturellen Ordnung kennzeichnet die meisten von ihnen.«64 Dies ist auch der Vorwurf, der an die Transsexualität gerichtet wird. Sie hätte zwar ein subversives queeres Potential, das aber in den meisten Fällen nicht genutzt wird: »Der Widerspruch, auf den die Transsexualität verweist – dass sich nämlich ein geschlechtliches Empfinden im paradoxen Verhältnis zum biologischen Geschlecht entwickeln könne – führt in der Theorie vorerst nicht dazu, die Unauflöslichkeit von Körper/Geschlecht und Identität gedanklich zu lockern, sondern festigt im Gegenteil (in der Behandlungspraxis) jene Verknüpfung von Körper und Identität, vermittels derer durch einen meist medizinisch technologischen Zugang versucht wird, jene Einheit wiederherzustellen zu können.«65
Allerdings gibt es einen bekannten Fall einer Transsexuellen, Agnes, der sich als ungewöhnlich und die medizinischen Institutionen unterminierend herausstellt.
Fallbeispiele Robert Stoller kreierte die Theorie der »Core-Gender-Identitiy« und beschreibt so die natürliche Weiblichkeit eines transsexuellen Mannes. Laut der Psychoanalyse Stollers entwickelt sich dieses Zugehörigkeitsgefühl zu einem Geschlecht relativ schnell und ist mit etwa zwei Jahren abgeschlossen. Die Echtheit der Transsexuellen MTFs (Mann zu Frau) sieht er darin, 62 63 64 65
Ebd. S. 55f. Vgl. ebd. S. 61. Ebd. S. 52. Harald Begusch, Cross-Dressing?/Trans-Sex?/Core-Gender?, a.a.O., S. 120.
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dass sie nicht verstellen und ihre Weiblichkeit nicht spielen müssen, also keine Mimesis dafür benützen und sogar erwarten, dass ihr Körper »verweiblicht«.66 Ein prägnanter Fall für Stoller war eine junge Frau, die sich 1958 im Department der Psychiatrie an der Universität von Kalifornien in Los Angeles einfand. Sie wurde von den Ärzten Stoller, Garfinkel und AlexanderRosen, die Forschungen zur Intersexualität und zur Genderdysphorie durchführten, betreut. Im Bericht über diese 19-jährige Patientin, Agnes, steht, dass sie eine überzeugende weibliche Erscheinung war. Sie war groß, zart mit weiblichen Formen. Sie hatte männliche Genitalien mit einem normal entwickelten Penis, aber mit den sekundären Geschlechtsmerkmalen einer Frau. Bei der genaueren Untersuchung, Biopsien der Hoden, Haut- und Uretherzellen, wurden eine leichte Hodenatrophie und ein chromatin-negativer Typ (männlich) festgestellt, die Uretherzellen zeigten aber eine erhöhte Östrogenaktivität.67 Nach 35 Stunden Therapie schloss das Team der UCLA den Fall Agnes mit »ein echter Hermaphrodismus« ab. Sie war ein seltener intersexueller Typ, dessen Hoden eine erhöhte Quantität von Östrogen produzieren.68 Wie Money für die Behandlung intersexueller Kinder vorschlug, hormonell und chirurgisch einzuschreiten, um die Geschlechtszuschreibung zu fixieren, so beschloss das Team eine therapeutische Vaginalplastik. 1959 wurde Agnes operiert und konnte später ihren Vornamen ändern. Wie Beatriz Preciado in ihrem Artikel »Biopolitique du genre« über diesen Fall betont, kann diese Geschichte bis hierher als medizinischer Erfolg gewertet werden, oder im Sinne Foucaults, als maximale Effizienz des normalisierenden Prozesses der disziplinierenden Institutionen. Verglichen mit dem tragischen Fall des/r Herculine Barbin, der von Foucault in seinem Buch erzählt wird, ist der repressive Apparat nun in der Lage, was in der Zeit zu Herculine Babin nur geträumt wurde, die »ursprüngliche« Beziehung zwischen Sex und Geschlecht wiederherzustellen. Das Tragische am Fall der/s Herculine Barbin war, dass zu seiner/ihrer Zeit im 19. Jahrhundert bereits eine einzige sexuelle Identität ausgewählt werden musste. So wurde Herculine nicht nur ein medizinisches Spektakel sondern auch ein moralisches Monstrum.69 Vor dem 19. Jahrhundert lebten die Herma-
66 Robert Stoller »The Male Transsexual as »Experiment«.« in: International Journal of Psycho-Analysis, Vol 54., London, (1973). S. 215ff. in: Harald Begusch, Cross-Dressing?/Trans-Sex?/Core-Gender?, a.a.O., S. 120f. 67 Vgl. Harold Garfinkle, Alexader Rosen und Robert Stoller »Passing and the Maintenance of Sexual Identification in an Intersexed Patient« in: Archives of General Psychiatry, Nr. 2, 1960, S. 379-381. 68 Vgl. Robert Stoller »A Further Contribution to the Study of Gender Idenitity« in International Journal of Psycho-Analysis, Nr. 49 (1968), S. 365. 69 Vgl. Beatriz Preciado »Biopolitique du genre« in: Assembly International. A debate on micro-politics, self-organisation and international affairs, Vol. 1, (2005) S. 15.
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phroditen laut Foucault in einer Welt ohne sexuelle Identitäten, in der die Ambiguität sexueller Organe auch eine Vielfalt von sozialen Identifikationen ermöglichte.
» B o r d e r W a r s « – T r a n s s e x u a l i t ä t u n d S u b ve r s i o n Am Fall Agnes könnte laut Preciado kritisiert werden, dass sie sich zu leicht von dem biopolitischen Apparat vereinnahmen hat lassen, wenn da nicht 1966, sechs Jahre nach der Vaginalplastik, Agnes ihre wahre Geschichte erzählt hätte. Sie sagte, dass sie ein normaler Bub war und mit zwölf Jahren anfing, die Östrogenpillen ihrer Mutter einzunehmen und ihr aus dem Grund Brüste wuchsen und sie keinen Bart bekam.70 Agnes hat so die wissenschaftlichen Techniken ausgetrickst. Sie verschwieg strategisch einige Tatsachen, die sie anscheinend aus den Medien über den Geschlechtswechsel erfuhr. Preciado sieht mit der »flawed mimesis« von Homi Bhabha, also der Beziehung zwischen Wiederholung und Ungehorsam, die Bhabha in seiner Analyse über die Kolonisierten im kolonialen Diskurs erklärt, einen Zusammenhang. Was Preciado an dem Fall Agnes aber noch interessanter findet ist, dass Agnes als »modest witness« von Donna Haraway handelt: Sie benützt ihren Körper als Transcodierzone von Techniken und Erkenntnissen über den Sex (also das biologische Geschlecht). Damit öffnet sich der Weg für den »Trans-Aktivismus« von Kate Bornstein, Riki Anne Wilchins oder auch Del Lagrace Volcano, die 30 Jahre später die Techniken der Stimmanpassung verweigern und so ihre Position als Translesbe oder Transfeministin offen bestätigen und erklären, dass sie zu keinem der beiden Geschlechtern gehören wollen.71 Sandy Stone schreibt in ihrem Absatz über das Postranssexuelle Manifest, dass sich weder die Forscher noch die Transsexuellen selbst über den Begriff des »falschen Körpers« Gedanken gemacht haben. Mit größtem Misstrauen sollte dieser Terminus, der einem phallozentristischen und binären Charakter einer Geschlechterdifferenzierung entspringt, untersucht werden. »So long as we, whether academics, clinicians, or transsexuals, ontologize both sexuality and transsexuality in this way, we have foreclosed the possibility of analyzing desire and motivational complexity in a manner which adequately describes the multiple contradictions of individual lived experience. We need a deeper analytical language for transsexual theory, one which allows for the sorts
70 Vgl. Robert Stoller »A Further Contribution to the Study of Gender Idenitity« in: International Journal of Psycho-Analysis, Nr. 49 (1968), S. 135. 71 Vgl. Beatriz Preciado, Biopolitique du genre, a.a.O., S. 16.
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of ambiguities and polyvocalities which have already so productively informed and enriched feminist theory.«72
Sandy Stone kreidet die Transsexuellen, die sich so sehr an das neue Geschlecht angepasst haben und daher wieder unsichtbar geworden sind, durch das Erschaffen von totalisierenden und monistischen Identitäten die Möglichkeit von authentischen Beziehungen zu verhindern, an. »Under the principle of passing, denying the destabilizing power of being »read«, relationships begin as lies – and passing, of course, is not an activity restricted to transsexuals. [...] To deconstruct the necessity for passing implies that transsexuals must take responsibility for all of their history, to begin to rearticulate their lives not as a series of erasures in the service of a species of feminism conceived from a traditional frame, but as a political action begun by reappropriating difference and reclaiming the power of the refigured and reinscribed body. The disruptions of the old patterns of desire that the multiple dissonances of the transsexual body imply produce not an irreducible alterity but a myriad of alterities, whose unanticipated juxtapositions hold what Donna Haraway has called the promises of monsters – physicalities of constantly shifting figure and ground that exceed the frame of any possible representation.«73
Halberstam erklärt die Grenzkriege zwischen »transgender butches« und FTMs näher: »I use the term »transgender butch« in this chapter to describe a form of gender transitivity that could be crucial to many butches’ sense of embodiment, sexual subjectivity, and even gender legitimacy. As the visibility of a transsexual community grows at the end ot the twentieth century and as FTMS become increasingly visible within that community, questions about the viability of queer butch identities become unavoidable. Some lesbians seem to see FTMS as traitors to a »woman’s« movement who cross over and become the enemy. Some FTMS see lesbian feminism as a discourse that has demonized FTMS and their masculinity. Some butches consider FTMS to be butches who believe in anatomy, and some FTMS consider butches to be FTMS who are too afraid to make the »transition« from female to male. The border wars between transgender butches and FTMS presume that masculinity is a limited resource, available to only a few in ever decreasing quantities.«74
Transgender oder transsexuelle Männer sind oft fälschlicherweise in die lesbische Geschichte eingereiht worden, obwohl es auch wahr ist, dass die Unterschiede zwischen manchen transsexuellen Identitäten und einigen 72 Sandy Stone »The Empire Strikes Back. A Posttranssexual Manifesto« in: Katie Conboy, Nadia Medina und Sarah Stanbury (Hg.), Writing on the Body. Female Embodiment and Feminist Theory, New York, 1997, S. 353. 73 Ebd. S. 354. 74 Judith Halberstam: Female masculinity, Durham/London, 2004, S. 144.
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lesbischen Identitäten sehr verschwommen sein können.75 Halberstam glaubt, dass das Problem eher in einem maskulinen Kontinuum, das diese lesbischen, transgender und transsexuellen Männlichkeiten umfasst, liegt. Es sieht so aus: »Androgyny-Soft Butch-Butch-Stone Butch-Transgender Butch FTM Not Masculine --------------------------------------------Very Masculine«76 Wobei der Terminus »transgender« schwer zu definieren ist – ob sie Hormone nehmen oder nicht hat auch nichts mit der Bezeichnung zu tun, wie Jordy Jones und Judith Halberstam erklären.77 Diese Grenzkriege sind an und für sich problematisch, so analysiert Halberstam näher: »Because the production of gender and sexual deviance takes place in multiple locations (the doctor’s office, the operating room, the sex club, the bedroom, the bathroom) and because the discourses to which gender and sexual deviance are bound also emerge in many different contexts (medical tracts, queer magazines, advice columns, films and videos, autobiographies), the categories of transsexual, transgender, and butch are constantly under construction. However, in the border wars between butches and transsexual men, transsexuals are often cast as those who stay in one place, possibly a border space of nonidentity. The terminology of »border war« is both apt and problematic for this reason. On the one hand, the idea of a border war sets up some notion of territories to be defended, ground to be held or lost, permeability to be defended against. On the other hand, a border war suggests that the border is at best slippery and permeable.«78
Eine transsexuellenfeindliche Haltung im Feminismus gibt es schon seit den 1970ern, als Feministinnen argumentierten, dass MTF-Transsexuelle nur Männer sind, die sich selbst verstümmeln und wegen ihrer noch immer vorhandenen männlichen Psyche und Erziehung für Anlässe, wie »nur Frauen« Musikfestivals oder Treffpunkte nicht als Frauen gezählt werden können, da sie weiterhin die Züge ihrer männlichen Herrschaft darstellen (im Falle der MTF) und sie im Falle der FTM ihre Weiblichkeit abgelegt haben, um sich dem Patriarchat anzuschließen. Transsexuelle wollen nichts an den Geschlechternormen ändern, sie wollen nur zwischen den Geschlechtern wählen können.79
75 76 77 78 79
Vgl. ebd. S. 150. Ebd. S. 151. Vgl. ebd. Vgl. ebd. S. 163. Vgl. Anna Kirkland »When Transgendered People Sue and Win: Feminist Reflections on Strategy, Activism, and the Legal Process.« in: Vivien Labaton und Dawn Lundy Martin (Hg.), The Fire This Time, New York, 2004, S. 182f.
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Riki Anne Wilchins wehrt sich auch gegen eine transsexuelle Identität oder will keine transsexuelle Bewegung beginnen, die nur die Idee des binären Geschlechtersystems zementiert.80 Sie beschreibt ihre Erfahrungen im Michigan Womyn’s Festival unter dem Titel »The Menace in Michigan«, wo 1991 genau diese feministischen Bedenken gegenüber Transsexuelle kulminierten und zum Ausschluss führten. Eine transsexuelle Frau, Nancy Jean Burkholder, wurde von Securities am Eingangstor aufgehalten, weil die Festivalveranstalterinnen, Barbara Price und Lisa Vogel, ihre Politik der »womyn-born womyn only« verteidigten und die Wächter_Innen es so interpretierten, dass sie transsexuelle Frauen ausschlossen. Die an diesem Drama spät in der Nacht Beteiligten hatten wohl keine Ahnung, was für eine Kettenreaktion ihre Handlungen auslösen. Die Autorin und Aktivistin Gayle Rubin hatte das einen »cause célèbre« genannt und schreibt darüber: »After decades of feminist insistence that women are »made, not born«, after fighting to establish that »anatomy is not destiny«, it is astounding that ostensibly progressive events can get away with discriminatory policies based so blatantly on recycled biological determinism.«81 Laut Patrick Califia ist für den »feministischen Fundamentalismus«82 nichts so störend wie die Transsexualität. Califia versucht aufzuzeigen, was dieser daran so falsch findet: »In my more cynical moments, I believe that another underpinning of feminist fundamentalism is the fact that it is much easier to harangue and shame women about their sexuality and attack things like prostitution, pornography, and sexual deviation, which the state sees as dangerous, than it is to dismantle male domination. When I am feeling more patient, I can add other factors to that equation. We’ve all grown up in a sexist society. Bad as it is, it’s all we know of love, comfort, and security, as well as discrimination, stereotyping, and danger. And the current system has its compensations. Counter to what more simplistic feminists have claimed, we do not live in a society where men have all the power and women have none. Men (on average) have more privilege, wealth, freedom and security, but women also have the power to incite and control male lust, the ability to bear children, and the responsibility for socializing those children and setting a moral tone in society at large. If we really want to be free, women must realize that at the end of that struggle, we will not be women any more. Or at least we will not be women the way we understand that term today.«83
80 Vgl. ebd. S. 191. 81 Gayle Rubin »Of Catamites and Kings« in: The Persistent Desire: A FemmeButch Reader, Boston, 1993, S. 466. 82 Damit bezeichnet Califia Feministinnen, die sich gegen Pornographie und Prostitution einsetzen, wie Andrea Dworkin, Robin Morgan, Mary Daly und Adrienne Rich. 83 Patrick Califia, Sex Changes, a.a.O., S. 90.
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Unterstützt von diesen Feministinnen, wurde das 1979 publizierte Buch »The Transsexual Empire« (Janice G. Raymond), auf das sich auch Sandy Stone in ihrem Artikel »The Empire Strikes Back. A Posttransexual Empire« bezieht. Raymond versucht ihren anti-transexuellen Standpunkt intellektuell zu legitimieren und schreibt über die Fähigkeit der Transsexuellen die Frauengemeinschaft zu »penetrieren« und ignoriert aber, wie Pat Califia richtig erwähnt, den Hass, die Diskriminierung und Gewalt, mit denen die Transsexuellen konfrontiert werden. »Loss of a penis does not mean the loss of an ability to penetrate women – women’s idenitities, women’s spirits, women’s sexuality. As Mary Daly has noted, their whole presence becomes a »member« invading women’s presence to each other and once more producing horizontal violence«84. »All transsexuals rape women’s bodies by reducing the real female form to an artifact, appropriating this body for themselves. However, the transsexually constructed lesbianfeminist violates women’s sexuality and spirit, as well. Rape, although it is usually done by force, can also be accomplished by deception«85. In ihrer blühenden Phantasie geht Raymond so weit zu behaupten, dass transsexuelle lesbische Feministen genau so eine Männerkonstruktion sind, wie die vom Playboy produzierte lesbische Liebe.86
Musikalische Grenzkriege Raymonds Transphobie führte sogar so weit, dass sie Olivia Records attackierte und zum Boykott dieses lesbisch-feministischen Unternehmens, das lesbische Musik produzierte, weil Sandy Stone, eine transgender Frau, ein Mitglied dieses Kollektivs war, aufrief. Monate nach der Publikation von Raymonds Buch litten die Olivia Records unter der hasserfüllten Post und (Todes)-Drohungen und am Rande des finanziellen Ruins, entschlossen sie sich dazu, Sandy Stone zu fragen, ob sie das Kollektiv nicht verlassen könnte. Vor Raymonds Attacke waren die Frauen dieser Gruppe glücklich mit Sandy Stone arbeiten zu können.87 Pat Califia argumentiert auch richtig, dass Transsexuelle nur etwas über den Sexismus lernen können, wenn sie Zugang zu den feministischen Gruppen bekommen, ein Ausschluss verbessert die Situation nicht. Solche Ausschlüsse fanden schon öfters statt, z. B. 1972 aus einer prototypischen lesbischen Organisation, »Daughters of Bilitis«. 84 Janice G. Raymond »The Transsexual Empire: The Making of the SheMale« Boston, 1979, S. XIX zitiert in: Patrick Califia, Sex Changes, a.a.O., S. 95. 85 Janice G. Raymond, The Transsexual Empire, a.a.O., S. 104 zitiert in Patrick Califia, Sex Changes, a.a.O., S. 95. 86 Vgl. Janice G. Raymond, The Transsexual Empire, a.a.O., S. 118 zitiert in: Patrick Califia, Sex Changes, a.a.O., S. 95f. 87 Vgl. Patrick Califia, Sex Changes, a.a.O., S. 106f.
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Der zweite musikalische Grenzkrieg spielte sich im Frauenmusikfestival in Michigan ab, das eines der ältesten und sichtbarsten Versammlung von Lesben mit um die sieben- bis achttausend Besucherinnen jedes Jahr ist. Laut Riki Anne Wilchins war dieses Ereignis ein einzigartiges Symbol der lesbischen Kultur, außerdem wurde dieses Festival mit den radikalen lesbischen Separatistinnen identifiziert, für die transsexuelle Frauen nur von patriarchalen Ärzten operativ veränderte Männer waren, die in den für Frauen bestimmten Ort eindringen wollten. Es gab auch immer Lesben, die gegen diese Art von »Geschlechterpolizei« waren.88 So bemerkt auch Rubin: »Despite theoretically embracing diversity contemporary lesbian culture has a deep streak of xenophobia (responding with) hysteria, bigotry, and a desire to stamp out the offending messy realities. A »country club syndrome« sometimes prevails in which the lesbian community is treated as an exclusive enclave from which the riffraff must be systematically expunged.«89 Aber nicht nur Transsexuelle sind in manchen lesbischen Gruppen nicht willkommen, sondern auch Butch/Femme oder S/M Lesben wurden angegriffen, weil sie in einen Frauenort mit ihrem patriarchalen und unterdrückenden Einfluss eintreten. 1993 wurden Transsexuelle wieder am Eintreten ins Festivalgelände gehindert, sie weigerten sich aber, nach Hause zu gehen und schlugen ihre Zelte direkt vor dem Haupteingang auf. Sie machten jede, die zuhörte, auf ihr Anliegen aufmerksam. Wie die beteiligte Riki Anne Wilchins berichtete, wurde so das Camp Trans geboren und in vier Tagen blieben über 200 Festivalteilnehmerinnen stehen und boten Hilfe, Essen und Wasser an und nahmen sogar an spontanen Workshops teil. Camp Trans wurde zu einem Teil des Michigan-Festivals, mit oder ohne offizielle Bestätigung.90 Michelle Tea war selbst mit auf dem Camp Trans, um es zu dokumentieren und sie berichtete von den politischen Diskussionen. Sie überbrachte auch Exzerpte der ausgeteilten »Zines« der Festivalveranstalterinnen, die Manual Transmission hießen, und in denen sie zu erklären versuchten, warum sie keine »Trans« Personen ins Festivalgelände ließen: »Let’s be clear about what womyn born womyn means. It’s not about defining a goddamn thing. It is about saying this is what I’m gathering around for this particular moment. It is saying that this festival, this period in time, is for women whose entire life experience has been as a girl and who still live loudly as a woman. Period. How is that defining you? Why do you think we are so ignorant as to not »get« that, to not figure out that we also have privilege for not struggling with a brain/body disconnect? But can you be so obstinate, can you be so determined to not understand that we have an experience that is outside yours? 88 Riki Anne Wilchins: Read my lips. Sexual Subversion and the End of Gender, Canada, 1997, S. 110. 89 Ebd. 90 Ebd. S. 112.
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And that that experience, even though we have greater numbers, still entitles us to take separate space? Do you not see it as full on patronizing that you act as though these »thousands« of women’s shelters can’t make up their own minds and policies? Doesn’t it make you sick to have the same objectives as the religious right? Why is it okay to totally ignore the need of women who do NOT want to see a penis? How and what world do we live in that you can completely divorce these things? Like being white and telling everyone your skin color doesn’t matter because you are not a racist? Stop assuming our ignorance.«91
Ein zweiter Ausschnitt aus diesen »Zines« ist: »Dicks are not useless signifiers. Even unwanted ones. You who I love and call my community of political bandits, you who grew up being seen as, treated as, regarded as boys (and perhaps miserably failing that performance) you did not grow as I. You did not experience being held out as girl and cropped into that particular box. You gotta understand, you are my sister, but you don’t have that experience. And taking my experience and saying it is yours don’t make it yours, makes it stolen.«92 Die Reaktionen auf diesen Inhalt waren im Camp Trans folgende: die Festivalarbeiterinnen hatten zwar gute Absichten, das Produkt war aber schwach. Oder: »Admit they were rushed, that though they specified no submissions degrading or attacking transpeople would be published they did not get to read all the writings. They feel bad for the discord their zine has caused, but maintain that these are the opinions of workers inside the festival, like it or not; they didn’t feel it was proper to censor anyone’s thoughts – who can dictate what is right and what is wrong?«93 Eine andere Meinung dazu ist, dass es nur eine schwache Erinnerung an ihre guten Absichten sei, woraufhin eine junge Frau im Rollstuhl meint, dass sie jeden Tag von Personen verletzt wird, die gute Absichten haben. Eine Festivalarbeiterin lamentiert, dass sie nicht weiß, wie diese Situation sich verbessern könnte. Ein Mädchen schlägt vor, dass es jedermanns/_fraus Verantwortlichkeit sei, sich selbst in »Trans«-Angelegenheiten zu informieren, eine andere Frau fühlt aber, wie schmerzend diese Informationsprozess sei, obwohl sie hofft, dass niemand vom Lernen abgehalten wird. Abschließend schreibt Michelle Tea: »There’s a lot of fear here, everyone afraid of each other, afraid of their own ability to do the wrong thing from simple ignorance, their own ability to bungle a peace offering, offend the person you sought to help.«94
91 Michelle Tea: im Handout ihrer Präsentation von »Perdida en tierra de nadie« am 25.5.2007 in Sevilla auf S. 6. 92 Ebd. S. 7. 93 Ebd. 94 Ebd.
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Später starteten die Sprechchöre der Transleute: »What do we want? TRANS INCLUSION! When do we want it? NOW!« oder »Michigan will be so great/when they let trans women through the gate!« Es wurden auch Postkarten mit der Aufschrift: »This is NOT the feminism my mother taught me about! Help end the exclusion of trans women from the Michigan Womyn’s Music Fest!« verteilt. Michelle Tea schreibt weiter: »The back features quotes from old-school feminist icons Adrienne Rich on invisibility and Gloria Anzaldua on rigid thinking, as well as a zinger from the third wave transfeminist Emi Koyama which ends, »If the festival insists on removing certain groups of women because their genital structure or other physical characteristics reminiscent of male violence and domination, it should also tell white women to peel off their skin.«95
Michelle Tea fiel bei diesem Trans Camp auf, dass es mehr »trans men« als »trans women« gab: »The face of the transrevolution is, presently, a bearded one.«96 Sie begann eine Diskussion mit den Teilnehmer_Innen. Eine davon meinte, dass die Riot Grrrl-Bewegung es zugänglicher machte eine »dyke« zu sein und nun sehen die Leute, dass sie auch genderqueer sein können und es nicht zu verängstigend ist, aber für MTFs sei es nicht so. Eine Transfrau kam auch und bestätigte, dass Transfrauen in der Gesellschaft öfters missbraucht werden, denn es ist für sie auch schwerer in der Welt als Frauen durchzugehen (im Original »pass«) und sie werden dementsprechend schlecht behandelt, sodass viele Transfrauen kein »coming-out« durchziehen. Zusammenfassend zur Transsexualität hebe ich hervor, dass sie als subversive Strategie mit einem »cutting edge« gilt, wenn sie dieses fixe Zweigeschlechtersystem (also eine z. B. lebenslange und unveränderliche Identität als Mann) herausfordert. Besonders politisch relevant bleibt eine Position zwischen den Geschlechtern.
Musikbeispiel: Katastrophe Als Musikbeispiel suchte ich mir einen Transmann aus, da von ihnen in der Musikbranche viel weniger bekannt sind (vielleicht noch eher in der Jazzszene, wie zum Beispiel 1989 beim Tod eines Pianisten, Billy Tipton, festgestellt wurde, dass er eigentlich eine Frau, Dorothy Lucille Tipton, war, was nicht einmal seine vier adoptierten Söhne wussten.) Transfrauen stehen öfters im Scheinwerferlicht, weil viele auch aus der Travestie mit ihren Theater- und Bühnenshows kommen, so zum Beispiel RuPaul (1993 mit ihrem Song »Supermodel of the world«). Terre Thaemlitz ist, ein Mul95 Ebd. S. 11. 96 Ebd. S. 7.
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ti-Media Künstler und elektronischer Musiker auch interessant, da er es in seinen Werken schafft, viel politischen Inhalt der Trans- und Queerbewegung einzupacken, so wie in seinem Projekt »Trans-Sister-Radio«. Meine Entscheidung viel auf »Katastrophe«97, ein in San Francisco lebender FTM, der sich im Genre des Hip-Hop bewegt und einen »slampoetry background« hat. Seine Bühnenperformance ist die typische Darstellung eines männlichen Hip-Hopers (für ihn ist das »Durchgehen« oder »passing« offensichtlich sehr wichtig und es gelingt ihm auch sehr gut), im Gegensatz zum gängigen Hip-Hop sind seine Texte intelligent und witzig mit queerem Inhalt – Geschehnisse oder Gedanken, die aus seinem Alltagsleben zu sein scheinen. Sein Song »The Life«98 berichtet über sein alltägliches Leben und er spart darin auch nicht mit Eigenlob »I’m so handsome man«: »Pulling out the bottle, twisting off the cap. Make it a long hit. I’m taking a bong hit / I’m making my mom split / I’m shaking / my armpit sweating / forgetting, bedwetting, betting it will get in the way of letting me say I’m ready today to go the whole way. More four play, make out. Then we get the chinese take out. Get down, then break the cake out, or eclair. I’ll always be there. Be fair. Teen hair. Green glasses. Sass in all my classes. Katas is not easily understood by the masses. Massive. I give two craps kid, if you like my rap shit. I’m a basket case. Not concerned with the race. Can’t keep pace, to save face. Can’t face to save the place that caved under taste and shame. I’ll take the blame, cause I enjoy the attention. That’s right I like any kind of attention, negative, whatever Chorus: I love the life, the life. I love the finer points of live. I love the night tonight. So why don’t you stifle all the strife. Cause it’s not right to fight, when it gets hot under the light, you love the life tonight. Let’s take a taxi. Let’s go max these, no tax please. Let’s be fancy. Let’s go dance please. Let’s hold hands with nancy fan with ransom plans. I’m so handsome man, just like Hanson damn. I want a big fat mansion man, and a mention from Marilyn Manson. plan. Won’t leave it up to chance when I’m chosen. No woes and worries. My flow blows in blurry, frozen flurries, to dozing jurier of my peers, my dear.«99
In »Something different« singt er über sein »Etwas-Anderes-Sein«: Mann oder Frau, das ist nicht die Wahrheit, er ist etwas anders, es gibt etwas Anderes.
97 Vgl. http://www.katastropherap.com/ und http://www.myspace.com/katastroph erap vom 3. 3. 2008. 98 Auch auf »youtube« zu sehen: http://www.youtube.com/watch?v=d3nglLQ L5r0. 99 Aus dem Handout des Auftritts von Katastrophe am 25. 5. 2007 in Sevilla entnommen. S. 2 b.
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»The self respecting, hectic, heat trip. Infecting sections left that fed quick. My lips spit shit nobody wants to hear. My dear, I fear, we clear a mere tear for a bucket of rain, so fuck all this pain, I’m stuck on insane, I’m standing right next to you, A transsexual intellectual Perplex a few Have sex with you? No thanks, I already got a girl Not out to fuck the world, cause you think I’m a perv Deserve to serve, unnerved Not impervious to hurt I’m dirt to the dirt Buried in Earth You’re scared of this birth It came with a curse A man with a purse, puss Of course I push back if pushed first Attack the lack of thought out plans And white man poppin beer cans They fearing trans With overly suntanned necks That’s why we still get no respect Chorus: If you, didn’t understand Try to, woman or a man Not true, I’m something different If you, didn’t understand Try to, woman or a man Not true, there’s something different I’ll tell you what I am A mar on the gay community To soon for me to promote unity When we only see as far in front as a mirror And fear or hate keep us in our place Try to save face, instate grace, in a rat race Where free base is bought by the case Once you have your first taste You won’t remember haste Hates a waste after you defaced my fate Ask me to concentrate
TRACK 07: TRANSSEXUALITÄT | 291
Become a productive member of society Call me an ingrate And legislate in every state and tell me no one has lied to me But I tried to be Provided the Guide to be a decent human being Doesn’t leaving people fuming and fleeing And dooming with me in the drivers seat I’ll survive the heat Revive the beat Alive to meet another day Connive deceit and find some other way To destroy second hand notions Mans oceans are drowning me Chorus Are you forgetting? Upsetting the delicate balance I challange valiant violence Without silence and start getting my friends To forget why we fenced past tense progressiveness. This obsessiveness makes dense tense Hence the aggravated I’m not mad, just hated Berated for what fate did Disassociated Just supposed to play dead, Simon said But I don’t wanna play this game anymore It’s not even fun, It’s lame and no one’s even keeping score I’m even steven, just wanna be sleeping more With all these sheep and no roar I’ll be creepin in your back door Pack more facts for cracked or broken Smacked and smoking Barely coping Hoping dope and dreams Hear these broken screams I’m the token Joke in this world Part girl, part boy Stop world. Start joy I’m more than a toy, I’m real How you think it would feel? Cold steal can’t heal.«100
100 Ebd. S. 2 b, 3 b, 4 b.
292 | QUEERE TRACKS
Katastrophe beschreibt sich in diesem Song als transsexueller Intellektueller, der wohl so manche perplex zurücklässt. Diese Frage von »have sex with you« verneint er und meint, dass er schon mit einem Mädchen zusammen sei und kontert, dass er, aufgrund dessen, dass er ein Transsexueller ist, nicht vorhat, es mit allen zu machen, nur deswegen weil der Fragesteller denkt, dass er ein Perverser sei. Er zählt weitere Probleme auf, mit denen er zu kämpfen hat: Männer fürchten sich vor Transsexuellen und die Transleute erhalten keinen Respekt von ihnen. Auch in der Gay-Community sei er nicht willkommen, sondern verunziere diese Gemeinschaft nur. Er sei nicht verrückt, er werde nur gehasst. Er solle sich tot stellen, wird ihm geraten. (Ich vermute, er meint damit nur das »Passing«, also als Mann durchzugehen, um Schwierigkeiten zu vermeiden.) Aber er will dieses Spiel nicht mehr weiter spielen, es ist kein Spaß mehr und niemand gewinnt. Er ist ein gegebener Witz in dieser Welt, teils Mädchen, teils Bub. Er ist aber auch nicht einfach ein Spielzeug und er ist echt. Kalter Stahl kann nicht heilen. »Enough Man«101 »My girl makes me feel like a real man even though I have to stand with a needle in my hand plan so I don’t land fetal in the can inch and a half pin prick – stick so I can be a dude with an inch and a half thin dick –trick so when you hear I am trans I can say nice grins slick I win big either way I play, gay or straight I make it so you can’t concentrate and while you hate Your baby girl’s like »hey wait, he looks good, his sound’s tight too« and my shit’s new and your shit’s through and now you seen this side show freak you ride slow, geek wonderin if its the week of tweek or if I’m flipin this sippin twist rippin Kiss posters off the wall to make room for mine imagine that, oppressed with a spine should be depressed but I’m fine you’re hard pressed for a sign you couldn’t guess my next line and that’s time for ya and yeah I’ll shine for ya or anyone who wants to listen don’t glisten, I glitter 101 Auf Katastrophes Hompage downloadbar: http://www.katastropherap.com/ music.html vom 3. 3. 2008.
TRACK 07: TRANSSEXUALITÄT | 293
born with a clittor and a whole litter of bitter outfitters a babysitters dream I make my own mama scream when I’m home for the holidays I’m calling feys and marys to play act scary And take this hairy man dyke And give him the mic and let me recite I might have insight remind you of your basic rights Because the night belongs to lovers My brothers and sisters bliss is with blisters I kiss like twisters and come without warning So you better take cover Cause this is what it sound like to be enough man Thank you very much I’ll take your misogyny when you’re done massaging me We can discuss androgyny or me what it looks like to be enough man.102
Katastrophe spricht hier über sein »Mann-Sein« und darüber, dass er sich durch seine Freundin als richtiger Mann fühlt, obwohl er nur mit einer Nadel in der Hand stehen kann (vielleicht eine Anspielung auf medizinische Hilfsmittel) und sein »Stück« nur eineinhalb Inches groß ist. Er wurde mit weiblichen Geschlechtsorganen geboren und einem ganzen Abfall von bitterer Ausstattung. Ein Traum für einen Babysitter, aber wenn er jetzt im Urlaub nach Hause fährt, bringt er seine Mutter zum Schreien. »Your girlfriend« »I’m gonna take your girlfriend, because she’s looking at me She keeps on looking at me I’m gonna take your girlfriend, I’m gonna take her out tonight I’m gonna take your girlfriend, because she’s looking at me She keeps on looking at me I’m gonna take your girlfriend, I’m gonna take her out tonight You look at me, you think yeah right That guy’s probably had allot to drink tonight He couldn’t take flight if he was a Wright Brother Right Brother? But not tonight mother Cause I got more mojo than Michael does nose job No joke, even though I smoke I’m no slow poke I grew hope from helplessness I used to see selfish shit and sqash it Now I mosh pit, throw a posh fit Toss it out the window smoke indo 102 Aus dem Handout des Auftritts von Katastrophe am 25.5.2007 in Sevilla entnommen. S. 10 b.
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Never win though in Vegas But I may just get lucky with your girl tonight This world’s allright I’m plucky with an appetite for destruction What? You need another introduction Katastrophe has to be cuter than Justin Plus when it comes to lusting, the parents cussing I’m guzzling my troubles in a two litter of bubbling boiling point I’m past this toiling joint I light fire like the Toilet Boys but I’m clean Not mean like Charlie Scheen circa nineteen ninety You might just find me heart throbbing My Christopher Robin face to every girls mobbing this place You chase tail, play pass fail I just stand and wink and ask the ladies, what you think? Watch them blink and rub their eyes Watch other guys try to rub on thighs Feeble, I give’em butterflies Make’em utter sighs Treat’em equal, I’m not like other guys I’m not evil, deceitful conceited or real stupid I don’t need cupid Cause I got good looks and wit on my side You ain’t got shit but your ride And you could only fit one chick inside So gag on this bitch Chorus I’m gonna take your girlfriend, because she’s looking at me She keeps on looking at me I’m gonna take your girlfriend, because she’s looking at me She keeps on looking at me I’m gonna take your girlfriend, I’m gonna take her out tonight I may be little like Kim But I make’em work the middle like Moni And make’em horny Till they wanna ride the pony like genuine or wine Cause I’m fine like f-i-n-e So don’t you fine me, cause your jealous fellas You could do well just tell this swell miss How you felt this when you first kissed Now you burst just from thinking about her Don’t doubt her or pout Or make her feel like an idiot Cause you don’t deal with the little shit She’ll get a little bit restless
TRACK 07: TRANSSEXUALITÄT | 295
Want the best just cause I’m 5 foot 3 Doesn’t mean that your girl won’t do me baby Chorus«103
Für Katastrophe ist es anscheinend sehr wichtig, sich mit den »real boys« zu messen und ihnen auch die Freundinnen wegnehmen zu können. In diesem Musikbeispiel liegt die subversive Strategie im Körper des Künstlers, wobei das subversive Potential der Transsexualität nicht eindeutig ist, da sich die Transsexuellen mit wenigen Ausnahmen letztendlich doch dem Zweigeschlechtersystem unterwerfen. Einen Ausschluss aus feministischen-lesbischen Kontexten finde ich trotzdem nicht angebracht, weil auch Transsexuelle unter dem binären und heterosexuellen System leiden. Eine eindeutige subversive Seite mit politischer Schärfe in diesem Beispiel von Katastrophe befindet sich in seinen Texten, in denen er von seinem Alltagsleben berichtet, das sehr wohl an den Säulen der Geschlechterkonstruktion rüttelt.
103 Ebd. S. 12 b.
T R AC K 08: D I L D O – » G E N D E R B L E N D E R «
Einführung Der Dildo führt uns in das Reich der Sexualität und Foucault, der große Denker der körperlichen Lüste, wird uns die Einleitung in dieses Wissen geben: Die drei Bände Foucaults über Sexualität und Wahrheit beinhalten eine Analyse der Geschichte der Sexualität, aber nicht nach einer historischen Methode. So gibt er zum Beispiel an, dass es vom 18. Jahrhundert an vier große strategische Komplexe gab, die rund um den Sex spezifische Wissens- und Machtbereiche entfalteten: 1. Die Hysterisierung des weiblichen Körpers 2. Die Pädagogisierung des kindlichen Sexes 3. Die Sozialisierung des Fortpflanzungsverhaltens 4. Die Psychiatrisierung der perversen Lust1 Bei diesen Strategien geht es um eine Produktion der Sexualität: »Diese ist nämlich nicht als eine Naturgegebenheit zu begreifen, welche niederzuzwingen die Macht sich bemüht, und auch nicht als ein Schattenreich, welches das Wissen allmählich zu entschleiern sucht. »Sexualität« ist der Name, den man einem geschichtlichen Dispositiv geben kann. Die Sexualität ist keine zugrunde liegende Realität, die nur schwer zu erfassen ist, sondern ein großes Oberflächennetz, auf dem sich die Stimulierung der Körper, die Intensivierung der Lüste, die Anreizung zum Diskurs, die Formierung der Erkenntnisse, die Verstär-
1
Vgl. Michel Foucault: Sexualität und Wahrheit 1: der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main, 1983, S. 125ff.
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kung der Kontrollen und der Widerstände in einigen großen Wissens- und Machtstrategien miteinander verketten.«2
Die Sexualität ist aber nicht nur ein Bereich, welcher der Kontrolle dient und ständig von der Macht eingeschränkt wird, sondern sie ist auch produzierend, wie auch Preciado in ihrer Foucault Analyse schreibt. »Für Foucault ist Technik eine Art künstliche und produktive Mikromacht, die nicht von oben nach unten wirkt, sondern auf allen Ebenen der Gesellschaft zirkuliert (von der abstrakten Ebene des Staates bis zu der der Körperlichkeit). Aus diesem Grunde sind der Sex und Sexualität nicht nur Effekte eines Verbots, von Repressionen, die unsere intimsten Wünsche hemmen, sich zu entwickeln, sondern Ergebnis eines Ensembles produktiver (nicht nur repressiver) Technologien. Die stärkste Form der sexuellen Kontrolle ist also nicht das Verbot bestimmter Praktiken, sondern die Produktion unterschiedlicher Wünsche und Lüste, die aus natürlichen Vorannahmen (Mann/Frau, heterosexuell/homosexuell, etc.) abgeleitet scheinen und letztlich als »sexuelle Identitäten« verdinglicht und objektifiziert werden. Die Disziplinartechniken der Sexualität sind kein repressiver Mechanismus, sondern re-produktive Strukturen, aber auch Techniken von Lust und Begehren, die Subjekte des Wissens hervorbringen.«3
Gayle Rubin ist dafür verantwortlich, dass sich Foucaults Ideen durchsetzten, weil sie seine Werke von Frankreich in die USA brachte. In ihrem Artikel »Thinking Sex: Notes for a Radical Theory of the Politics of Sexuality« folgt sie Foucaults Ideen und betont sein Argument, dass die Begehren/Lüste nicht schon existierende biologische Daseinsformen sind, sondern dass sie im Laufe von historisch-speziellen sozialen Praktiken konstituiert werden.4 Die moderne westliche Gesellschaft teilt Geschlechtsakte in ein hierarchisches System des sexuellen Wertes ein. Rubin hat dazu zwei Skizzen angefertigt, die erste davon stellt einen allgemeinen Überblick über das sexuelle Wertesystem dar. Nach diesem System ist jene Sexualität »gut«, »normal« oder »natürlich«, die heterosexuell, ehelich, monogam, reproduktiv und nicht kommerziell ist. Sie soll im Paar stattfinden, in derselben Generation und zuhause passieren. Sie soll keine Pornographie, FetischObjekte, »Sextoys« oder andere als die konventionellen »weiblichen« und »männlichen«, also binären, Geschlechtsrollen beinhalten.
2 3 4
Ebd. S. 127f. Beatriz Preciado: Kontrasexuelles Manifest, Berlin, 2003. S. 116f. Vgl. Gayle S. Rubin: Thinking Sex. Notes for a Radical Theory of the Politics of Sexuality, in: Henry Abelove, Michèle Aina Barale, David M. Halperin (Hg.), The Lesbian and Gay Studies Reader, New York/London, 1993, S. 10.
TRACK 08: DILDO | 299
Abbildung 20: »Sexuality-Circle« The charmed circle: Good, Normal, Natural, Blessed Sexuality Heterosexual Married Monogamous Procreative Non-commercial In pairs In a relationship Same generation In private No pornography Bodies only Vanilla
The outer limits: Bad, Abnormal, Unnatural, Damned Sexuality Homosexual Unmarried Promiscuous Non-procreative Commercial Alone or in groups Casual Cross-generational In public Pornography With manufactured objects Sadomasochistic
Quelle: Gayle S. Rubin »Thinking Sex. Notes for a Radical Theory of the Politics of Sexuality« in: Henry Abelove, Michèle Aina Barale, David M. Halperin (Hg.), The Lesbian and Gay Studies Reader, New York/London, 1993, S. 13. Die zweite Figur stellt die Hierarchie der verschiedenen Sexualitäten dar. Vor der ersten abgrenzenden Mauer befindet sich der »gute« Sex, der mit der »normalen« Sexualität in der ersten Skizze übereinstimmt. Nach der ersten Linie befinden sich noch akzeptierte Formen der Sexualität, so zum Beispiel nicht ehelicher Sex, promiske (Geschlechtsverkehr mit vielen, oft wechselnden, Partnern) Homosexualität, Masturbation, lang anhaltende, stabile lesbische oder schwule Paare, Lesben in der Bar, promiske schwule Männer in Bädern oder im Park. Die letzte, also unterste Ebene nach der zweiten Grenzmauer, umfasst dann die Sexualität von Transsexuellen, Fe-
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tischisten und Sado-Masochisten, für Geld oder die Sexualität zwischen verschiedenen Generationen.5 Laut dieser Einteilung von Rubin wird promiske Homosexualität, Sadomasochismus, Fetischismus, Transsexualität und generationen-übergreifende Begegnungen noch immer mit Abscheu oder Ekel gesehen, unfähig, sich darin Gefühle, Liebe, freien Willen, Liebenswürdigkeit oder Transzendenz vorzustellen. Rubin beurteilt diese Vorstellung sehr heftig und meint, dass diese Art von sexueller Moral mehr Gemeinsamkeiten mit der Ideologie des Rassismus als mit einer wahren moralischen Tugend zu tun hat. Es schreibt den dominierenden Gruppen den Wert und die Tugend zu und den Unterprivilegierten die Sünden. Eine demokratische Moralität sollte sexuelle Akte durch die Art, wie sich die Partner gegenseitig behandeln, die Ebene der gegenseitigen Überlegung und die Präsenz oder Absenz von Zwang, und die Quantität und Qualität de Vergnügens, die sie zur Verfügung stellen, beurteilen.6
Dildonics Sexspielzeuge haben eine lange Geschichte. Penis-Prothesen aus Metall, Horn oder Holz werden in der Kamasutra beschrieben. Die antiken Griechen und Römer benutzen Lederdildos (oder auf Griechisch »olisbos«) sowohl für hetero- als auch für homosexuelle Penetration. Auch die Frauen aus Aristophanes Lysistrata, die einen Sex-Streik gegen ihre Männer im Krieg einsetzten, sprachen über die »olisbos« und deren Lederhilfe, also auch bereits in dieser Zeit wurden »Sextoys« als politische Mittel eingesetzt.7 Dildos machten im Laufe der Geschichte einige Veränderungen durch. Der ehemalige falsche Penis wurde mit einem mechanischen Antrieb versehen, was vor hundert Jahren mit Wasserdampf begann. Diese Vibratoren sollten die weibliche Hysterie mit medizinisch assistierten Orgasmen behandeln. Die Klitoris oder Vulva von weiblichen Patienten zu behandeln, wurde als Heilmethode für Hysterie oder andere weiblichen Störungen angewandt. Der mit Wasserdampf betriebene »Manipulator« wurde 1860 erfunden und wurde von den Ärzten gerne in Anspruch genommen. Da diese Behandlungen keine vaginale Penetration darstellten, wurden sie nicht als sexuell angesehen, obwohl eine Minderheit der Ärzte es doch als sexuellen Akt verstanden und nicht als Behandlung und deswegen dagegen waren. Viele andere warnten, dass es ein Vorgang sei, den nur Ärzte mit höchster
5 6 7
Vgl. ebd. S. 14. Vgl. ebd. S. 15. Chris Hables Gray: Cyborg Citizen. Politics in the Posthuman Age, New York/London, 2001, S. 152.
TRACK 08: DILDO | 301
Moral durchführen dürfen.8 Beatriz Preciado weist in diesem Zusammenhang auch daraufhin, dass zu jener Zeit Technologien, die einerseits an die Repression der Masturbation gebunden und andererseits von der Heilung der Hysterie nicht zu trennen sind, erfunden und benutzt wurden.9 In den 1890ern wurde der elektrische Vibrator erfunden, der auch viel billiger als die wasserdampfbetriebenen. Der Dildo wurde nur als einer von vielen elektrotherapeutischen Maschinen gesehen und der sexuelle Aspekt wurde für einige Zeit versteckt, bis der Verkauf der Dildos sich auf öffentliche Kunden ausweitete und die Hysterie-Diagnosen weniger wurden. 1913 wurde ein Vibrator im Frauenmagazin »Modern Priscilla« folgendermaßen angepriesen: »30, 000 thrilling, invigorating, penetrating, revitalizing vibrations per minute ... you will have an (i)rresistible desire to own it, once you feel the living pulsing touch of its rhythmic vibratory motion.«10 Vibratoren wurden als »Schwedische Massagegeräte« oder quasi medizinische Geräte verkauft, solange bis die sexuelle Revolution in den 1960ern es ermöglichte, offen ihre sexuelle Funktion zu proklamieren. Der Übergang von Sex-Therapie zum Sexspielzeug markiert eine Veränderung der Art, wie Vergnügen in der westlichen Gesellschaft aufgenommen wurde, es wurde vom medizinischen Mittel zu einer Frage der Konsumauswahl.11
Dildotektonik Abbildung 21: Dildotektonik
Skizze aus Beatriz Preciado: Kontrasexuelles Manifest, Berlin, 2003, S. 22. Beatriz Preciado widmet einen großen Teil ihres Buchs »Kontrasexuelles Manifest« dem Dildo, auch in der Absicht, durch ihn das traditionelle Sex/Gendersystem aufzubrechen. Dabei sieht sie den Dildo nicht als Phallus oder Penisersatz an, denn der Dildo kann sich über denn ganzen Körper erstrecken. All das beschreibt sie in ihrer Dildotektonik: Dildo = Plastiksex; Tekton = Konstrukteur, Generator.
8 9 10 11
Ebd. S. 152f. Beatriz Preciado, Kontrasexuelle Manifest, a.a.O., S. 73. Ebd. S. 153. Ebd.
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»Die Dildotektonik ist eine Gegen-Wissenschaft, sie untersucht Erscheinung, Entwicklung und Nutzung des Dildos. Sie macht die Deformationen sichtbar, die der Dildo am Sex/Gender-System bewirkt. Die Dildotektonik – als zentraler Zweig der Kontra-Sexualität – begreift den Körper als Fläche, als Terrain der Verschiebung und der Anwendung des Dildos. Allerdings ist dieses Unternehmen angesichts der medizinischen und psychologischen Definitionen, die Körper und Geschlecht naturalisieren, oftmals sehr schwierig. Aus heterozentristischer Sicht bezeichnet der Ausdruck Dildotektonik jede mit bloßem Auge sichtbare Beschreibung einer Deformation und Anormalität einzelner oder mehrerer Körper, die [...] Dildos«12
anwenden. »Die Dildos und Spielzeuge sind dazu da, um das heterosexuelle Szenario zu entromantisieren und zu entnaturalisieren.«13 Die Kontra-Sexualität macht aus der Dildotektonik eine GegenWissenschaft, die in den Hetero- und Homokulturen die Widerstandstechnologien entdeckt, die in erweitertem Sinne in »Dildos« umbenannt werden können, denn »der Dildo stiftet Unbehagen/Lust.«14 Allerdings war/ist der Dildo auch von einer bestimmten feministischen und lesbischen Kritik unter Beschuss genommen und scheint ein Zeichen der Nachhaltigkeit von patriarchalen und phallozentrischen Modellen in der lesbischen Sexualität zu sein. Für Preciado ist er aber gerade das Gegenteil, denn durch seine Hilfe wird der Penis – auch als Ursprung (als der kleine Unterschied im binären Geschlechtersystem) – abgeschafft. »Für die Kontra-Sexualität zeigt sich die Logik der Heterosexualität im Dildo. [...] Die Erfindung des Dildos ist das Ende des Penis als Ursache des sexuellen Unterschieds.«15 Beatriz Preciado meint, dass in feministischen Kreisen Judith Halberstam die einzige ist, die den Dildo nicht nur einfach als Abbild des Penis betrachtet hat, sondern als theoretisches Objekt. Für Halberstam wird der Dildo in der lesbischen Community und in den Darstellungen im Allgemeinen deshalb so wenig gebilligt, weil dieses peinliche Spielzeug deutlich macht, dass der wahre Penis nur ein Dildo ist, mit dem einzigen Unterschied, dass man den Penis nicht kaufen oder selbst basteln kann.16 Wobei der Dildo nicht nur als Nachahmung eines organischen Gliedes auftritt, sondern auch als ein Instrument unter anderen organischen und nichtorganischen Maschinen (Hände, Peitschen, Penis, Keuschheitsgürtel, Kondome, Zungen, etc.).17 Auch können Dildos ganz woanders als üblich befestigt werden, so wie Preciado anhand der Performance von Ron Athey beschreibt: »Er trägt Strumpfbänder mit Spitzen. Er geht auf hochhackigen Schuhen. Er bewegt sich langsam, sehr langsam, 12 13 14 15 16 17
Ebd. S. 37. Ebd. S. 56. Ebd. S. 37. Ebd. S. 59. Ebd. Ebd. S. 60.
TRACK 08: DILDO | 303
als wenn er befürchten würde, mit jedem Schritt zu fallen. Zwei Dildos sind wie zwei Sporen an seinen Absätzen befestigt. Er hat sie an seine Füße gebunden. Sie schleifen hinter seinen Schuhen wie sekundäre, schlaffe Absätze.«18 »Um die Sexualität als Ideologie zu demaskieren, muss man den Dildo (seinen Bruch mit dem Körper) als Zentrum einer verschobenen Signifikation verstehen. Der Dildo ist kein Objekt, das sich an die Stelle eines Mangels setzt. Es geht um ein Verfahren, das im Inneren der Heterosexualität stattfindet. Der Dildo ist nicht nur ein Objekt, sondern ein Verfahren des Schnitts. Eine Operation, bei dem das, was als organisches Zentrum der Sexualität gilt, an einen außerhalb des Körpers liegenden Ort verschoben wird. Als Bezugspunkt der Macht und der sexuellen Erregung verrät der Dildo das anatomische Organ, indem er sich auf andere Orte der Signifikation verschiebt, die aufgrund ihrer semantischen Nähe resexualisiert werden. Alles ist Dildo. Auch der Penis. [...] Diese grobe Imitation, diese skulpturale Reproduktion des Penis macht die Mechanismen, mit denen Original und Kopie zusammenwirken, sichtbar. Sie zeigt, dass der Begriff »Dildo«, der sozusagen eine ursprüngliche Realität repräsentiert, retroaktiv den ursprünglichen Penis hervorbringt. Der Dildo geht dem Penis voraus.«19
Meiner Meinung nach ist das eher utopisch gemeint, was aber auf das Geschlechtermodell von Judith Butler verweist, bei dem die Konstruktion der Geschlechter auch ein Geschlecht ohne Original aufdeckt. Preciado betont, dass einen Orgasmus mit einem Dildo zu haben bedeutet, von dem Objekt besessen zu sein. Es ist also ein Souveränitätsverlust. »Der Dildo ist der Virus, der die Wahrheit des Sexes korrumpiert.«20 »Der Dildo ist die parodistische Wahrheit der Heterosexualität. Die Logik des Dildos beweist, dass schon die Begriffe des heterosexuellen Systems schlecht ineinander gefügt sind. Der Dildo ist die signifikante Wahrheit. Der Penis ist die falsche Pose einer Herrschaftsideologie. Der Dildo sagt: der Penis als Sex ist eine Lüge. Der Dildo zeigt, dass der Signifikant, der die sexuelle Differenz erzeugt, aus seinem eigenen Spiel herausfällt.«21
Hier verfährt Preciado analog zur Analyse der Geschlechterparodie von Judith Butler. Der Dildo zeigt, dass der Penis nur eine Konstruktion ist, die dem Mann seine männlichen Privilegien verleiht, denn in Wahrheit reicht ein Dildo.
18 19 20 21
Ebd. S. 40. Ebd. S. 60. Ebd. S. 63. Ebd. S. 64f.
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Dildotopia Preciado stellt die Dildotopia durch Skizzen dar, in denen mehrere Körperteile, wie zum Beispiel der Arm, die Brust, ein Bein oder auch der gesamte Körper als Dildo eingezeichnet werden. Der zweite Teil des Wortes »topia« hat sowohl mit dem Ort oder der Lage zu tun, und scheint überdies auch eine Umformung von Utopia zu sein, also dem Land, wo ein gesellschaftlicher Idealzustand herrscht. Ein queeres kontrasexuelles Land vielleicht? Abbildung 22: Dildotopia
Quelle: Beatriz Preciado: Kontrasexuelles Manifest, Berlin, 2003. S. 36. Pat Califia schreibt über den Dildo in ihrem Traum: Was wäre, wenn sie eines Tages aufwachen würde und sie sich in eine »Penis-Person« verwandelt hätte? Ihre erste Reaktion wäre eine Mixtur aus Enttäuschung und Ärger, weil sie es genießt, eine Frau zu sein, die andere Frauen liebt und sie für ihre sexuellen Partnerinnen gerne eine phantastische Männlichkeit konstruiert und so z. B. für ihre Freundin Dildos einkaufen geht.22 Sie geht 22 Pat Califia »Dildo Envy and Other Phallic Adventures« in: Fiona Giles (Hg.), Dick for a Day. What Would You Do If You Had One, S. 90.
TRACK 08: DILDO | 305
sogar so weit zu behaupten, dass Dildos mehr Vorteile haben als Penisse, denn Größe, Härte oder Krankheiten (solange Kondome benutzt werden), und Schwangerschaften sind kein Problem.23 Pat Califia überinterpretiert die Homophobie mancher Männer wohl als Dildo-Neid. Lynda Hart beschreibt den Dildo humorvoll als »playful instruments that are appreciated for their utility (and) their very ability to appear and to disappear (into a dresser drawer).«24 Wie auch schon Donna Haraway behauptete, dass der technologisch verlängerte menschliche Körper eine Reihe von verstörenden aber auch genussvolle und enge Verbindungen bringen kann, welche die alt hergebrachten Unterschiede zwischen natürlich und künstlich, Geist und Körper in Frage stellen und sogar die Grenzen zwischen dem Physischen und Nicht-Physischem aufbrechen.25 Oder, wie Jean Baudrillard im Zitat über das Simulakrum sagt, dass das Simulakrum niemals das ist, was die Wahrheit zu verbergen versucht, sondern es ist die Wahrheit, die versucht zu verbergen, dass es keine gibt. Das Simulakrum ist wahr. So gesehen ist der Dildo keine Imitation oder Ersatz, sondern eher ein Simulakrum, eine Kopie, für die es kein Original gibt.26 Die Wirklichkeit eines Dildos ist nicht durch eine objektive Wahrheit, wie zum Beispiel den Penis bestimmt, sondern durch den Vergleich mit anderen Simulakra und der Evaluierung seiner Effizienz in einer sexuellen Handlung. In diesem Sinne schreibt June Reich: »The dildo, by itself, is a funny-looking piece of molded silicone or rubber. But in context, it is a powerful fucker. It is the law of the Daddy Butch. As a phallus, it assures difference without essentializing gender.«27 Der Dildo erlaubt es einer sexuell agierenden Frau der Mann zu sein, ohne ein Mann zu werden. Ein Beispiel für ein außerordentliche erotische Kurzgeschichte, die gut in diesen Bereich des Genres »Genderfucks« (d.h. in diesem Fall ist es beim sexuellen Akt egal ob Mann oder Frau) passt, gibt Carol A. Queen in »The Leather Daddy and the Femme«, in der die lesbische Femme einen Strapon Dildo benützt, um Sex mit einem schwulen Leder-Daddy zu haben.28
23 Ebd. S. 91f. 24 Lyndia Hart »Between the Body and the Flesh: Performing Sadomasochism« New York, 1998. S. 99. Zitiert in: Thomas Piontek: Queering gay and lesbian studies, Urbana/Chicago, 2006, S. 87. 25 Vgl., Donna Haraway, A Cyborg Manifesto, a.a.O., S. 152f. 26 Vgl, Jean Baudrillard »Selected Writings« Mark Poster (Hg.) Stanford, 1988. S. 6. Zitiert in: Thomas Piontek, Queering gay and lesbian studies«, a.a.O., S. 87. 27 June Reich »Genderfuck: The Law of the Dildo« in: Thomas Piontek, Cheryl Kader (Hg.), Essays in Gay and Lesbian Studies, Spezialausgabe von Discourse 15, Nr. 1, (Herbst-Winter 1992), S. 120. 28 Carol A. Queen: The Leather Daddy and the Femme: An Erotic Novel in Several Scenes and a Few Conversations, San Francisco, 2003. Zitiert in Thomas Piontek, Queering gay and lesbian studies, a.a.O., S. 88.
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Das subversive Element des Dildos liegt im Aufbrechen des Sex/Gendersystems. Der Dildo verdeutlicht das Ende des Penis als Ursache des sexuellen Unterschieds und dass der Penis eine Konstruktion ist, die dem Mann seine männlichen Privilegien verleiht, denn in Wahrheit reicht ein Dildo. Der Dildo bestätigt die Differenz ohne das Geschlecht zu essentialisieren. Die subversive Strategie des Dildos ist analog zu jener der Geschlechterparodie, denn auch er entlarvt, dass es für die Kopie kein Original gibt.
Musikbeispiele Tribe 8 Bei der berühmt-berüchtigten Frauenband, einer queere Punkband aus San Francisco, handelt es sich um Tribe 8, die Elemente aus dem »Genderfuck« benützt und 1994 durch den Gebrauch eines Dildos auf der Bühne während des Frauenmusik-Festivals in Michigan einen Skandal auslöste. Diese selbst ernannte »All-Dyke«-Band besteht aus der asiatischamerikanischen Gitarristin Leslie Mah, der afro-kanadischen Bassistin Lynne Payne, der weißen Drummerin Slade, der weißen Gitarristin Lynn Flipper und der weißen Sängerin Lynn Breedlove. Schon im Ankündigungsfolder des Musikfestivals drückten sie ihren wortgewaltigen Kampf aus und bezeichneten sich als messerschwingende, Rape-Gangs kastrierende und Dildos wedelnde Dykes. Während des Konzerts hat Lynn Breedlove einen Dildo umgeschnallt, der als Höhepunkt und Ritual mit einem Dolch abgeschnitten und in das Publikum geworfen wird. In ihren Texten geht es, wie bereits aus der Bühnenperformance ersichtlich, um frauenspezifische Tabubereiche, wie S/M und Inzest. Die Songs attackieren die »Mutter-Erde-Folk« Sängerinnen des Frauenfestivals.29 So lautet zum Beispiel der Text von »Manipulate«: »Manipulate« »women’s love is so friendly women’s love is like herbal tea women’s love it empowers me I just want to manipulate my girlfriend I just want to play games with her head I want to do some mental pushups I want her to apologize and beg 29 Vgl. Evelyn McDonnell »Queer Punk trifft Womyn’s Music« in: Anette Baldauf (Hg.), Lips. Hits. Tits. Power? Popkultur und Feminismus, Wien, 1998, S. 220-227.
TRACK 08: DILDO | 307
It’s such a sin It’s so wrong I feel guilty as fuck I try to quit I can’t help it I guess it’s just my lousy luck I just want to objectify my girlfriend I like her ’cause she’s hot between the sheets I just want to show her off at parties And dress her up as if she walked the streets I just want to slap around my girlfriend I just want to make her scream and yell I just want to tie her to the bedposts And call her nasty names like you evil bitch from hell It’s such a sin It’s so wrong I don’t give a fuck what you think She loves me so When I do it It gets me high So I don’t have to drink It’s such a sin It’s so wrong So what So I’m a social reject If it’s a sin If it’s so wrong It sure is fun being a social defect I just want to manipulate my girlfriend I just want to play games with her head I want to do some mental pushups I want her to apologize and beg«30
Durch dieses gegenseitige Vorwerfen der stereotypen Vorstellungen von verschiedenen feministischen Strömungen wurden die Fronten aber abgeschwächt und Tribe 8 konnten schließlich in Michigan triumphieren und die Frauen, »begrüßten die neuen, wütenden, sexuell toleranten Feministinnen.«31
30 Ebd. S. 219. Song »Manipulate« aus dem Album »Fist City«, Alternative Tentacles, 1995. 31 Ebd. S. 227.
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Peaches Auch Peaches, die »Queen« des Elektro-Punks und der Geschlechterparodie, macht öfters von einem Dildo Gebrauch, wie auf dem nachstehenden Konzertphoto (2004 in Reading, England), auf dem ihre Backgroundtänzerinnen Dildos tragen, sichtbar ist. Weiters befindet sich auf der letzten Seite des Covers ihrer letzten CD »Impeach my Bush« ein Photo mit einer Dildoträgerin. Abbildung 23: Peaches III
www.efestivals.co.uk/.../photos-Peaches4.shtml vom 21. 2. 2008.
F AD E O U T : S C H L U S S W O R T
Im Dildo materialisiert sich anschaulich die Idee einer queeren Strategie, denn erstens ist der theoretische Komplex hinter dem Dildo auf einer queeren Strategie, der Parodie, aufgebaut und zweitens bringt er durch seine Anwesenheit das Zweigeschlechtersystem und die gewöhnliche Heterosexualität im sexuellen Akt selbst durcheinander. Er bildet den krönenden Abschluss meiner Analyse der subversiven Strategien queerer Geschlechter, ein queerer Zauberstab und Geschlechterstabmixer, oder wie MarieHélène Bourcier im Nachwort zu Beatriz Preciados kontrasexuellem Manifest schreibt: »Die Trope des Dildos an sich genügt schon, um die Verfahren diskursiver Wiederverwendung, die in diesem Text ausgeführt werden, nicht im Feld der Vervielfältigung oder Markierung von Differenz anzusiedeln, sondern im Feld der Kontra-Körperlichkeit.«1 Weiters behauptet sie, dass so wie die wittigsche Lesbe dankenswerter Weise mit der Wahrheit der Frau gebrochen hat, bricht auch der Dildo mit der Wahrheit des Sexs. Aber kehren wir noch einmal zum Ausgangspunkt zurück. Die Wanderung durch den queeren Tropenwildwuchs fing mit meinem Wunsch nach der Analyse subversiver Strategien queerer Geschlechter am Beispiel der Rock- und Popmusik an. Wichtige Elemente dabei waren, die Aufzählung und versuchte Abgrenzung dieser Strategien, durch deren Analyse ich auch festzustellen versuchte, wo genau die Subversion liegt (was macht gerade diese Strategie subversiv?), und die Darstellung und Erklärung von Beispielen dazu aus der Rock und Pop Musik. Diese Beispiele sind im theoretischen Gestrüpp ein sehr wichtiger Orientierungspunkt und dienen der Veranschaulichung aus der Praxis, aber auch gleichzeitig der Überprüfung, ob diese Strategien auch subversiv sind.
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Nachwort von Marie-Hélène Bourcier in Beatriz Preciado: Kontrasexuelles Manifest, Berlin, 2003, S. 161.
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Ironie Im Folgenden gebe ich eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse dieser Untersuchungen. Die erste und für andere grundlegende Strategie, ist die Ironie mit ihrem subversiven »cutting edge«. Mit Hilfe der Ironie wird das Gegenteil des Gemeinten geäußert. In der griechischen Antike nimmt Sokrates die ironische Position des Nichtwissens ein. Bei Aristoteles ist die Ironie eine noble Form des Scherzens und in seiner »Nikomachischen Ethik« ist der Ironiker durch seine Untertreibung angesehener als jener, der das rechte Maß der Tugend durch das Übermaß oder die Einbildung überschreitet. Eine zeitgenössischere Definition der Ironie gibt uns Margaret A. Rose indem sie sagt, dass die Ironie eine Aussage ist, die in ihrem Code zumindest zwei Nachrichten enthält, wovon die eine eine versteckte Nachricht des Ironikers an das »eingeweihte« Publikum ist und die andere die unmittelbar verstandene, aber ironisch gemeinte Nachricht des Codes. Linda Hutcheon hat zwei Funktionen der Ironie herausgearbeitet, nämlich eine semantische, die mit den zwei Bedeutungen, und eine pragmatische, die beurteilt und bewertet und ein »cutting edge«, also eine politische Schärfe, besitzen kann. Ironie kann als die Markierung der Differenz des Sinns gesehen werden, was sie wiederum auf einer semantischen Ebene mit der Parodie überlappen lässt. In ihrer pragmatischen Funktion nähert sie sich dem Genre der Satire an. Sowohl die Parodie als auch die Satire können die Ironie als Mittel benutzen. Ich gehe noch näher auf diese pragmatische Funktion der Ironie ein, weil dieses »cutting edge« für das subversive Potential der Ironie wesentlich ist. In der pragmatischen Funktion wird auch eine Emotion von der sprechenden Person an die zuhörende Person vermittelt. Das »cutting edge« dieser pragmatischen Funktion der Ironie teilt oder schneidet ein Element in zwei Bedeutungen. Für eine subversive Ironie ist es essentiell, dass die Bedeutung mit einer politischen Schärfe überwiegt und als solche von der zuhörenden Person wahrgenommen wird. Hutcheon zeigt in ihrer Skizze über die neun Funktionsformen auch, ab welchem Punkt die Ironie anfängt, subversiv zu werden. Dieser Schnittpunkt liegt bei der oppositionellen Funktionsform der Ironie (die siebte von unten auf ihrer Skala), auf deren positiver Seite Hutcheon ihre transgressive und subversive Eigenschaft erwähnt, deren negativer Charakter aber beleidigend und offensiv ist. Auf der Skala ist diese Funktionsform bereits näher zur maximalen affektiven Ladung (als die dritte unterhalb des Maximums) hin ausgerichtet, was darauf hin deutet, dass das »cutting edge« hier schon eine gewisse politische Schärfe besitzt, die den Inhalt in zwei Richtungen oder Bedeutungen (einerseits transgressiv, subversiv oder beleidigend und offensiv) teilen kann.
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Ich unterstreiche hier deutlich, dass für eine subversive Ironie diese eindeutige Erkennbarkeit des »cutting edge« mit einer politischen Schärfe vorhanden sein muss und mit eindeutiger Erkennbarkeit, meine ich, dass obwohl die semantischen Ebene der Ironie zwei Bedeutungen haben kann, diejenige pragmatische Funktion mit der politischen Nachricht überwiegen und klar hervortreten muss – trotz aller möglichen Verluste – das heißt, dass durch diese Eindeutigkeit von/m Sender_In in Kauf genommen wird, dass diese ironische Aussage von/m Empfänger_In auch als offensiv und beleidigend gesehen wird.
Musikbeispiele: Madonna, Riot Grrrls, Angie Reed Hutcheon führt Madonna als ein Beispiel für eine schwache Funktionsform (die zweite von unten »complicating«, deren positive Auslegung komplex, reich und mehrdeutig ist und die negative irreleitend, unpräzise und unklar) der Ironie an. Für eine feministisch-queere Subversion fehlt bei Madonna das »cutting edge« mit der politischen Schärfe. Ein Beispiel mit einem »cutting edge« ist der Gebrauch des BabydollKleides in der Riot Grrrl Bewegung, wohinter sich die Wut und die Aggression der Mädchen versteckten, welche die traditionellen Zuschreibungen von Weiblichkeit ablehnen und provokant ins Spiel bringen. Sie nützen ihre Medienpräsenz, um die Öffentlichkeit mit den Themen des sexuellen Missbrauchs und der sexuellen Belästigung zu konfrontieren. Angie Reed schlüpfte für ihr erstes Album in die Rolle der Barbara Brockhaus, einer gelangweilten Sekretärin (»I'm Barbara Brockhaus and it's my job to work here. Hurray, I cheer!« Die Tatsache, dass gerade das Gegenteil des Gesagten gemeint ist, wird in den nächsten Zeilen deutlich: »The hours are long, the days are short, backwards ticks the clock to remind me I'm bored.«), die der sexuellen Belästigung ihres Chefs konter gibt. Im Song »I don’t do dirty work, Sucka!!« lässt sie sich nichts gefallen und dreht die schmutzige Aufforderung von Seiten ihres Chefs in »Suck my finger« um.
Parodie Die Parodie war in der griechischen Antike eine Nach- oder Gegengesang. Laut Margaret A. Rose gab es den Begriff »Parados«, der einen »imitierenden Sänger« oder ein »imitierendes Singen« im Gegensatz zum Konzept des »originalen Sängers« beschrieb. Das Wort »lächerlich« wurde benutzt, um die grundlegende Bedeutung von Parodie zu beschreiben, als das Singen eines Liedes, das seine Wörter verdreht oder geändert hat und von den homerischen »Rhapsodisten« oder Barden gesungen wurde, dessen Sinn in etwas »Lächerliches« – mehr »ein Lachen über« als »ein Lachen mit« verdreht wurde.
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Im Gegensatz zur Ironie geht es bei der Parodie um Nachahmung (Imitatio). So unterscheidet Aristoteles in der Poetik mittels Nachahmung, die Tragödie von der Komödie. Das Nachahmen guter Menschen geschieht in der Tragödie und das der schlechten Menschen, in der Komödie. In einer zeitgenössischen Beschreibung der Parodie sagt M. A. Rose, dass das Wesentliche der Parodie darin liegt, eine Erwartung für X zu erzeugen, dann aber Y, also etwas, das nicht ganz X ist, gegeben wird. Um die Parodie als solche zu erkennen, muss eine Unangemessenheit, Transposition oder Transformation zu erkennen sein. Das Ethos ist laut Hutcheon wichtig für den dekodierenden Prozess; wie bei der Ironie, gibt es auch hier zwei Ebenen: die Oberfläche und den Hintergrund. Die griechische Vorsilbe »para« weißt auf das »gegen« als das lachhafte Ethos hin und »nahe-zu« als das respektvollere Ethos. Die Parodie ist keine einfache Imitation, sondern eine Verzerrung des Originals. Die Methode der Parodie ist es, Normen, welche das Original zu realisieren versucht, zu »derealisieren«, das heißt, was an normativem Status im Original ist, auf eine Konvention oder einen bloßen Kunstgriff zu reduzieren. Die Subversion liegt in der Parodie laut Hutcheon in der Wiederholung mit einer kritischen Differenz. Sie kann genauso wie die Ironie ein »cutting edge« besitzen, die herrschenden konservativen Kräfte untergraben und subversive Kräfte mithilfe der kritischen Differenz einführen. Wie auch Judith Butler in ihrer Geschlechterparodie aufzeigt, ist die Geschlechtsidentität durch eine Disziplinarproduktion konstruiert und bestimmte Handlungen, Gesten und Begehren erzeugen den Effekt eines inneren Kerns der Geschlechtsidentität auf der Oberfläche. Die Travestie entlarvt diese Produktion und offenbart, dass nicht ein Original imitiert wird, sondern dass die Geschlechtsidentität selbst nur ein Imitat eines nichtvorhandenen Originals ist. Allerdings wurde Butler für diesen Ansatz des »drags« als subversiv kritisiert und sie gab in ihrem nächsten Buch auch zu, dass »drag« nicht immer subversiv sein muss. Sabine Hark verteidigte die Idee am Beispiel der lesbischen »femme« und »butch«, die nichts mit der Vervielfältigung von sozialen Geschlechtsidentitäten zu tun haben, sondern vielmehr eine Bloßstellung des Versagens des heterosexuellen Regimes seien, bei der es um die »sexuelle Entautorisierung von Geschlecht« geht. Laut Hark war die Kritik an Butler deswegen so heftig, weil erstens der feministischen Politik angeblich die Basis verloren geht, wenn es die Geschlechtsidentität »Frau« nicht mehr gibt, und zweitens die Theoretisierung von Parodie als Politik nicht anerkannt wurde. Das letztere Phänomen hatte seinen Ursprung im deutschsprachigen Raum darin, dass im englischsprachigen Raum den Überlegungen Butlers schon die Cultural Studies und die Analysen zur Camp-Kultur (die ich im dritten Kapitel behandelte) vorangegangen waren. Zum Vorwurf, dass dem Feminismus die Frau abhanden kommt, meint Hark, sich auf Lacan und Laclau/Mouffe beziehend, dass eine Identität nicht absolut sein muss, und es
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auch eine Dialektik der Nicht-Fixiertheit gibt, also eine Identifizierung als transformatorischer Prozess oder als frei flottierender Charakter. Weiters muss bei Butlers Geschlechterperformanz eine wichtige Unterscheidung getroffen werden, nämlich zwischen der Performance als der freiwilligen theatralischen Darstellung von Geschlechternormen und der Performativität der unfreiwilligen Wiederholung von Normen, durch welche die Identität konstruiert ist, wobei der Effekt der Performativität weniger vorhersehbar ist als jener der Parodie. Die Performativität hängt mit dem subversiven Sprechakt zusammen. Austins behauptet, dass der illokutionäre Sprechakt selbst performativ ist, weil etwas ausgeführt wird, indem es gesagt wird. Auch Derrida beschäftigt sich in der Iterierung mit performativen Äußerungen und deren Wiederholung, und wie die Wirklichkeit durch diese Wiederholung hervorgebracht wird. Die Iterierbarkeit beruht auf der Wiederholung mit einer »differánce«. So ist es laut Butler auch in der Aneignung des Wortes »queer« geschehen. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass es drei Kennzeichen einer subversiven Parodie gibt: Erstens, wie Hutcheon auf dem »cutting edge« der Ironie aufbauend behauptet, die Wiederholung mit einer kritischen Differenz bei der die politischen Schärfe klar hervortreten muss. Zweitens, wie Judith Butler in ihrer Geschlechterparodie analysiert hat, muss der Aspekt vorhanden sein, dass es kein Original hinter der Kopie gibt, also dass durch Akte, Gesten und Begehren ein innerer Kern an der Oberfläche des Körpers erzeugt wird. Drittens, der subversive Sprechakt, wie er erfolgreich am Wort »queer« angewandt wird und von Judith Butler als Beispiel angeführt wurde.
Musikbeispiel: Peaches Auf ihrem ersten Album »The Teaches of Peaches« parodiert sie den männlichen Rockzirkus und beschimpft diese »Rock Show« als »Cock show«. Mit Songlyrics wie »Fuck the Pain away«, »Lovertits« und »Set it off« imitiert sie das Macho-Gehabe vieler männlicher Kollegen, auch die eckigen Rhythmen lassen auf eine Parodie der »toughen« Musik der Jungs schließen. Hier ist also das erste Merkmal einer subversiven Parodie erkennbar, und zwar eine Wiederholung mit einer kritischen Differenz, einer politischen Schärfe des »cutting edges«. Der männliche Rockzirkus wird von Peaches nachgeahmt, aber mit einer deutlichen Differenz in den Texten. Ihr Gebrauch typischer Ausdrücke in der Rock- und Popmusik lässt das dritte Kennzeichen, die Aneignung von Wörtern im subversiven Sprechakt, hervortreten, wie z. B. im Titel ihres zweiten Albums »Fatherfucker«, auf dessen Cover sie auch optisch die Identität eines Mannes annimmt – ein Portrait von ihr als »drag-king« mit aufgeklebtem Bart – und sie verwendet hier das zweite Merkmal der subversiven Parodie, die Geschlechterparodie, welche das Original als Imitation entlarvt. Das Spiel
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mit der Parodie ist bei Peaches nicht verkaufsfördernd und ambivalent, wie es zum Beispiel bei der Ironie bei Madonna der Fall ist, denn bei Peaches geht es um eine Selbstverständlichkeit, die für eine echte Gleichberechtigung nötig ist.
Camp Zum Eintrag »camp« finden sich im Duden zwei Definitionen. Erstens »camp«, eine männliche Person mit extravagantem (homosexuellem) Verhalten und Lebensweise, eine Art Dandy, bezeichnend und zweitens »campy«, im Sinne von extravagant, theatralisch und manieristisch. Ab den 1940ern wurde Camp im englischen Sprachraum mit der Konnotation von lesbisch oder schwul verbunden. 1964 publizierte Susan Sontag den Artikel »Notes on Camp«, dessen Inhalt ich ausführlich behandelt habe. Sie versuchte in 58 Notizen das Innenleben von Camp zu erforschen, ohne dabei genauer auf den Zusammenhang mit lesbischer oder schwuler Kultur einzugehen. Grob zusammengefasst beschrieb sie Camp als Sensibilität und Liebe zum Unnatürlichen, Künstlichen und zur Übertreibung. Moe Meyer unterscheidet zwei Arten von Camp: Erstens eine original, politische beabsichtigte, parodistische Praxis, die mit Oscar Wilde entstanden ist, um eine soziale Sichtbarkeit zu erzeugen. Zweitens »popcamp«, den Meyer als apolitischen Geschmack sieht, der mit dem dominanten System kooperiert, ein »straighter« Geschmack ohne queere Sichtbarkeit. Ein subversiver Camp ist, der mehr an politischem Inhalt, dem »cutting edge«, besitzt, also konkreter zur schwul-lesbischer, feministischer und queerer Kultur Stellung bezieht als in der Beschreibung von Camp in den »Notes on Camp« von Susan Sontag. Wie Sedgwick betont, beruht subversiver Camp auf der Sympathie, welche diese Strategie der Selbstermächtigung erfolgreich macht – eine Sympathie, die von zwei Seiten vorhanden sein muss. (Diese Sympathie versuchte Sontag durch ihre Umschreibung von Camp als Sensibilität auszudrücken, als eine Leidenschaft.) Erstens verbünden sich die Autor_Innen mit campen Subjekten und zweitens auch die Leute (also die Empfänger_Innen), welche die Qualität eines Textes schätzen und damit positive Assoziationen empfinden.
Musikbeispiele: Madonna, Annie Lennox, Grace Jones, Fangoria, Scream Club Madonnas Camp entspricht am ehesten dem »pop-camp« von Meyer. Auf ihrem letzten Album (2005), »Confessions on the Dancefloor«, kommen einige campe Stilelemente vor. So benützt sie beispielsweise die Ästhetik der Disko-Ära: Glitzerkugel, Aerobic-Outfit, die 1970er Musik von Abba,
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also laut Sontag einen Stil, der schon veraltet und aus der Mode ist, der von Camp aber weiterhin verwendet wird. Annie Lennox hat auf ihrem Album »Diva« ein Lied mit dem Titel »Keep young and beautiful«, das an die ästhetischen Pflichten des Oscar Wildes erinnert. Grace Jones Ästhetik ist die eines »feminin-androgynen« Camps. Das Video von Fangoria »Hagamos algo muy vulgar« entspricht auch dem »pop-camp« Meyers, also im Sinne von Susan Sontags Camp ohne politische Schärfe. Das letzte Beispiel »Don’t fuck with my Babies« ist dafür voll mit eindeutigen, politischen, subversiven Aussagen und beinhaltet sogar einige revolutionäre Aufforderungen, weshalb ich diese Kategorie, auch aufgrund seiner Punk-Ästhetik im Video, Anarcho-Camp, benannte.
Maske/Masquerade Nietzsche sah in Masken nichts Unaufrichtiges oder Böses, wie zu seiner Zeit angenommen, solange man sich dessen bewusst war. Er beschäftigte sich auch mit dem Rollenspiel im Alltag und der Rolle der Frau, die dem Bild, das der Mann von ihr hat, entsprechen muss. Nietzsche selbst liebte das Spiel mit der Maske auch in seiner Philosophie, er versuchte eine Oberfläche vorzutäuschen, obwohl seine Philosophie beim genauen Lesen viel tiefer ging. Er konnte hinter der Maske nichts Festes entdecken, es gibt nur den Fluss, vielleicht gibt es nicht einmal wirklich ein »Selbst« der Individuen. Für die Erklärung der Maske ist die Analyse des Blicks notwendig. Bei Foucault dient der Blick zur Disziplinierung, wie er auch anhand des Gefängnismodells von Bentham in Form eines Panoptikums erklärt. Dort wissen die Insassen gar nicht mehr, ob sie bewacht werden oder nicht. Jetzt, in der neuen Technologie, übernimmt die Videoüberwachung diese Rolle des Wärters. Laura Mulvey gibt uns in ihrem Artikel »Visuell Pleasure and Narrative Cinema« eine psychoanalytische Blickanalyse im Kino mit Hinblick auf die geschlechtlichen Machtbeziehungen und geht dabei auf die Skopophilie Freuds, das Spiegelbild Lacans und die Fetischisierung, die angeblich aus der Kastrationsangst heraus entsteht, ein. M. A. Doane beginnt ihre Analyse über »Film and the Masquerade: Theorizing the female Spectator« auch mit Freud, der meint, Frauen seien zu nahe zu sich selbst, zu nahe an ihrem Körper. Doane verwendet auch die Analyse von J. Riviere über die »Weiblichkeit als Masquerade«. Riviere stellte bei einer Patientin fest, dass ihre weibliche Masquerade dazu dient, sich vor der Rache der Männer zu schützen, wenn sie als Frau männliche Rollen übernimmt und sich der Privilegien der Männer bemächtigt. Hinter der Masquerade gibt es keine »wahre«, echte Weiblichkeit. So behauptet Doane, dass Frauen ihren Körper benutzen, um zu täu-
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schen, wobei die Kritik Doanes ist, dass die weibliche Masquerade vom Mann abhängig ist. Weiters führte ich auch eine Darstellung über die Männlichkeit als Masquerade an. Halberstam kritisiert generell die psychoanalytische Erforschung des Blicks und meint, dass diese zu sehr an gängige Mann-Frau Vorstellungen und an der Heterosexualität gebunden ist. Es gibt aber sehr wohl einen queeren Blick, in dem die geschlechtlichen Positionen multipliziert werden und im neuen queeren Kino werden verschiedene Identitäten in einer Handlung durchgespielt. Zusammenfassend über die subversive Maske und Masquerade wiederhole ich, dass die Weiblichkeit als Masquerade verdeutlicht, dass es, wie bereits auch Riviere in ihrer Analyse feststellt, die Weiblichkeit als Original nicht gibt (Es wird versucht den Blick der/s Betrachter_In zu kontrollieren und strategisch auf etwas hinzulenken, das in Wirklichkeit nicht vorhanden ist. So können, wie auch Halberstam für einen queeren Blick oder ein queeres Kino verlangt, mithilfe der Maske oder Masquerade mehrere Geschlechtspositionen eingenommen und in einer Person im Laufe eines Films verschiedene Identitäten gezeigt werden. Damit wird gezeigt, wie schon Judith Butler feststellte, dass die Geschlechterkopie von keinem Original abhängt. Diese Strategie ist im Gegensatz zu den vorhergehenden (Ironie, Parodie, Camp) rein visuell. Die Anderen können zumindest eine mehr oder weniger starke rhetorische oder literarische Komponente besitzen, welche die subversive Strategie innerhalb der Sprache (sei nun gesprochen oder schriftlich) verortet. Bei Camp wie auch bei der Geschlechterparodie, können beide, visuelle und rhetorisch/literarische, Strategien vorkommen. Zum Beispiel ist Camp in den Werken Oscar Wildes literarisch.
Musikbeispiele: Suzanne Vega, Peaches, Annie Lennox Suzanne Vega trifft in zwei ihrer Lieder eine feine Unterscheidung zwischen Maske und Masquerade. Im Peaches Video »Downtown« ist ihre sowohl männliche als auch weibliche Masquerade gelungen. Ein subversives Beispiel für die weibliche Masquerade stellt Annie Lennox auf ihrem »Diva«-Albumcover dar, denn aus diesem Bild geht deutlich hervor, dass es hinter der weiblichen Masquerade kein weibliches Original gibt.
Mimesis/Mimikry In der Antike ging es in der Mimesis um Repräsentation und Imitation. Es wurden magisch-rituelle Tänze um einen Koloss veranstaltet, der etwas Vergangenes in der Gegenwart repräsentierte. »Mimos« oder »Mimesthai« bezog sich ursprünglich auf Persönlichkeitsveränderungen, die sich bei bestimmten Ritualen vollzogen. Der antike Mimesisbegriff war sehr viel-
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schichtig, wie auch Platons negative Meinung zur Mimesis zeigt: Er sieht die Mimesis als Nachahmung, die sowohl in der Dichtung als auch in Musik oder Tanz erfolgen kann und weist auf die erzieherische Seite der Mimesis hin, die vom Staat zum Schutze der Jugend überwacht werden soll. Platon meint, die Philosophie liege näher an der Wirklichkeit, weshalb er die Dichter mit ihrer Mimesis aus dem Staat ausweisen will. Aristoteles hingegen geht zu Ende seiner »Poetik« auf die Kritik Platons an die Dichter ein und macht drei Nachahmungsweisen für Dichter, Maler und die bildnerische Kunst fest: Sie stellen Dinge dar, wie sie waren oder sind, oder so wie sie sein sollten. Die Mimesis ist laut Aristoteles kreativ und produktiv. In der Neuzeit und Moderne wurde der Mimesisbegriff allmählich zu einem Synonym für Wiederholung. Nach Gebauer und Wulf verschwindet die Mimesis in der Moderne immer mehr, da anscheinend nichts mehr zur Imitation übrig ist. Die Originale sind vorbei oder verschwunden. Die feministische Mimesis wird bei Irigaray als Strategie unter dem männlichen Blick benützt, die den Frauen bleibt, um diesem Blick und seiner Disziplinierung zu entkommen. Diese Mimesis ist auch als strategischer Essentialismus bezeichnet worden und ist die ungetreue Wiederholung eines negativen Standpunktes, die laut Irigaray folgende drei wichtige Schritte beinhaltet: Erstens die Autorität herauszufordern und die Position der Frau als die Andere als Fabrizierung zu enthüllen, zweitens zu zeigen, wie die Frauen ausgeschlossen werden und drittens, und letztendlich als Ziel, die Veränderung der Konzeption der weiblichen Subjektivität des Körpers. Anhand des Spekulums verdeutlicht Irigaray ihre Mimesistheorie, denn erstens dient das Spekulum zur physischen Spiegelung, zweitens führt sie das ökonomische Spekulieren an und drittens die theoretischphilosophische Spekulation. Die Frau bleibt bei Irigaray auf der Position des Spiegels beschränkt und kann aber mittels mimetischer Verschiebung subversiv handeln. Judith Butler behält diese Strategie Irigarays bei und erklärt so, dass die westliche Metaphysik erstens von einem Verbot von nicht-heterosexuellen Beziehungen abhängig ist, wie auch zweitens, von der Ausschließung des Femininen. Bei Kristeva bezieht sich die Mimesis auf den poetischen Text. Die Sprache ist die Praxis in der Semiotisches und Symbolisches ineinander wirken, die semiotische »chora« ist dabei die Musik, der nicht-sprachliche Anteil der Sprache. Dort liegt der Charakter der Unfassbarkeit und sie entzieht sich der Rationalität Genau hier macht Kristeva das subversive Potential der Mimesis fest. Musik ist bei Kristeva der Gesang unter dem Text (Timbre, Rhythmus der Stimme und Geste.) Judith Butler greift diese Behauptung Kristevas allerdings an, da sich angeblich das Semiotische nicht gegen das Symbolische auflehnen kann und der Reproduktion und Stabilität des symbolischen Gesetzes des Vaters unterliegt. Trotzdem schließe ich mich der Meinung Bayerls an, dass in dem semiotischen An-
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teil (poetische Rhythmus) eines Textes das Lusterleben aktiviert wird und so eine subversive Strategie mit Hilfe von Emotionen und Affekten ermöglicht. In der postkolonialen Mimikry bei Homi Bhabha geht es um die koloniale Imitation, wobei Identitätseffekte innerhalb des Spiels der Macht, hinter denen sich keine Essenz, kein »Selbst« versteckt, produziert werden. Die Ambivalenz dieser Mimikry bricht den Diskurs zwar nicht, aber er wird zu einer Ungewissheit umgeformt, welche das koloniale Subjekt als »teilweise« Anwesenheit fixiert – ein »almost the same but not white«.
Musikbeispiele der kolonialen Mimikry: Graces Jones, Bishi Grace Jones »Slave to the Rhythm« und ihr Bild auf dem Albumcover »Island Life« reflektieren diese koloniale Mimikry, dem »fast« Entsprechen der weißen Vorstellung von der Andersheit. Auch Bishi verarbeitet mit Hilfe des Romans der postfeministischen Autorin Angela Carter ihre Erfahrung als indische Migrantin in London in ihrem Lied »Nights at the Circus«. Martin Leeker erklärt den Zusammenhang zwischen Mimesis und neuer Technologien. Durch die modernen elektronischen Technologien (Computer) nehmen die physischen Anteile ab, aber die Mimesis gewährt die Stimulierung des Menschs. Der Mensch passt sich den Möglichkeiten der Maschine an, auch wenn sonst Imaginäres im Kopf der Menschen stattfand, begegnet es ihm jetzt als Reales durch die Simulationstechniken (wie z. B. im Film oder in der Virtuellen Realität).
Musikbeispiel: Lesbians on Ecstasy LOE produzieren elektronische Versionen von Lesben- und Frauenklassikern und stellen so eine Verbindung zu einer älteren Musikgeneration her, ohne dass Symbole, Texte und Musik in ihrer technischen Mimesis an Wirksamkeit verlieren. Mit Hilfe der technologischen Mimesis erreichen die LOE die Stimulation der Emotionen und Affekte, die für die Selbstermächtigung wichtig sind, auch für das jüngere Musikpublikum, aber ohne die wichtigen Inhalte der vorangegangenen Generation zu verlieren.
Cyborg Der Begriff Cyborg wurde 1960 von Manfred E. Clynes und Nathan S. Kline das erste Mal erwähnt, um selbstregulierende Mensch-MaschinenSysteme zu benennen. Es wurde versucht, Menschen für die Raumfahrt an ihre außerirdische Umgebung anzupassen. Als Grundlage dieser Strategie dient mir Donna J. Haraways Cyborg Manifest, in dem sie die Wissenschaft, die Technik und den sozialistischen
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Feminismus im späten 20. Jahrhundert in Verbindung bringt und daraus ihre Cyborgtheorie begründet. Der Cyborg ist ein Hybride aus Maschine und Organismus. Der theoretische Hintergrund in Haraways Cyborg-Welt ist ihre Kritik an den nach ihrer Ansicht totalisierenden Theorien, wie dem marxistisch/sozialistischen Feminismus und dem radikalen Feminismus. Der Cyborg bildet und zerstört Maschinen, Identitäten, Kategorien, Beziehungen, Distanzen und Geschichten. In dieser utopischen Welt kommt es zu drei grundlegenden »Grenzzusammenbrüchen«, denen zufolge die Grenzen zwischen Mensch/Tier (z. B. Tierrechte); Tier - Mensch (Organismus)/Maschine (z. B. Medizin), physisch/nicht-physisch (Elektronik, Software) verschwunden sind. Die Dichotomien in einer Welt des hierarchischen Dualismus lösen sich auf. (So zum Beispiel die früher unterschiedlich gewerteten Begriffe und Konnotationen von Natur und Kultur). Das Subversive an den Cyborgs liegt, wie Haraway analysiert, erstens in den Grenzzusammenbrüchen der traditionellen Dichotomien wie Mensch/Maschine, Physisch/Nicht Physisch und zweitens darin, dass sie keinen »natürlichen« Ursprung, wie eine Familie besitzen und es keine (Bluts)-Verwandtschaft gibt.
Musikbeispiel: Björk Das Video »All is Full of Love« wurde von Chris Cunningham inszeniert und darin stehen zwei Roboterwesen oder Cyborgs im Mittelpunkt. Beide haben einen femininen Körper und ein menschliches, Björks, Antlitz, das aber auch gleichzeitig wie eine Maske wirkt. Die zwei Figuren werden von Maschinenarmen zusammengesetzt, durch deren Maschinenkörper eine Flüssigkeit fließt, aber in verkehrter Richtung. Bei Irigaray ist das Flüssige das Symbol für die Frau, für das Andere, das Gegenteil von Rationalität oder festen Körpern. Die Cyborgs werden von der Liebe zueinander gesteuert. Trotz der Maschinen wird eine Atmosphäre von Behutsamkeit, Liebe, Fürsorge und Zärtlichkeit erzeugt, die fast einem fließenden und zu gleich schwebenden Zustand (wie in Schwerelosigkeit) entspricht, in dem jede Bewegung sanft und gleitend abläuft, ohne Rucken oder Zucken, wie es ja eigentlich von Robotern oder Maschinen nicht erwartet wird. Das Subversive in diesem Video ist das Auflösen fixer Konzepte, was ist ein Mensch oder eine Maschine, oder die Auflösung der Liebe als ein rein heterosexuelles Konstrukt. Flüssigkeiten (könnten auch menschliche Flüssigkeiten sein, die bei bestimmten Begehren ins Fließen kommen) müssen nicht immer in die gleiche »heterosexuelle« Richtung fließen. Ein weiterer Subtext könnte auch sein, dass durch Liebe neue Lebewesen erzeugt werden, auch mit Hilfe der Technologie, auch wenn die Partner gleichgeschlechtlich sind, ohne auf die Blutsverwandtschaft zurückgreifen zu müssen.
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Transsexualität Zur Einführung behandelte ich kurz das Thema »Technologien des Geschlechts«. Dieser Begriff wurde von Theresa de Lauretis geprägt und wurde von ihr folgendermaßen erklärt: Das Geschlecht ist ein Produkt von verschiedenen sozialen Diskursen. Bei Foucault ist die Technologie eine Synthese zwischen Macht und Wissen und er sieht die Sexualität als Ergebnis von produktiven, nicht repressiven Technologien an. Laut Stefan Hirschauer entstand die Transsexualität als Antwort auf unser heutiges Zweigeschlechtersystem und dem Zwang, sich entweder den Männern oder den Frauen zuordnen zu müssen. Früher, siehe Laqueur, gab es anatomisch gesehen nur ein Modell der Geschlechtsorgane, das bei Frauen lediglich nach innen und bei Männern nach außen gekehrt war. Das heutige Differenzmodell wurde durch neue politische Ideen ausgelöst: durch die Aufklärung mit ihrer Idee der sozialen Gleichheit. Das neue naturwissenschaftliche Modell stellte die Unvergleichbarkeit der Geschlechter dar und diente als Rechtfertigung dazu, die Frauen an politischen Rechten auszuschließen. 1949 erwähnte Caudwell zum ersten Mal den Begriff »psychopathia transsexualis« und 1953 schrieb Benjamin, dass die Transsexualität als der höchste Grad des Transvestismus gesehen werden kann. Die Transsexualität wurde durch endokrinologische und chirurgische Eingriffe in den 1950ern und 1960ern ermöglicht. Der erste durch die Medien publik gewordener Fall (»Ex-GI became blond beauty«), war der Christine Joergensens im Jahre 1952. Für das Gelingen einer transsexuellen Umwandlung sind aber nicht nur die medizinischen (chirurgischen und hormonellen) Fähigkeiten von Bedeutung sondern auch die psychologische Betreuung (die aber auch von vielen Transsexuellen kritisiert wird, da sie sich nicht »geschlechterdysphorisch« sondern »geschlechtereuphorisch« fühlen) sowie soziologische Methoden. Das Verhalten, die Stimme, der Gang, etc. müssen verändert werden, um von der Gesellschaft als das andere Geschlecht akzeptiert zu werden. Die Kritiken an die Transsexualität sind, dass die Transsexuellen sich der Normierung des Zweigeschlechtersystems unterwerfen und sich so sehr an das neue Geschlecht anpassen, dass sie wieder unsichtbar werden. Manche Lesben sehen FTMs als Veräter_Innen an. Auch die Politik mancher Frauenräume keine Transsexuellen einzulassen ist umstritten, so kam es auch zum Ausschluss der Transsexuellen aus dem Frauenmusikfestival in Michigan und zur Gründung des Transcamps. Die Transsexualität als subversive Strategie mit einem »cutting edge« ist dann gegeben, wenn sie dieses fixe Zweigeschlechtersystem (also eine z. B. lebenslange und unveränderliche Identität als Mann) herausfordert. Besonders politisch relevant bleibt eine Position zwischen den Geschlech-
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tern, damit will ich aber nicht die Ausschlusspolitik und Grenzkriege zwischen den Geschlechtern fördern.
Musikbeispiele: Katastrophe Katastrophe ist ein FTM Hip-Hop Sänger und die subversive Strategie liegt schon im Körper des Künstlers. Eine eindeutige subversive Seite mit politischer Schärfe in diesem Beispiel von Katastrophe befindet sich in seinen Texten, in denen er von seinem Alltagsleben berichtet, das an den Säulen der männlich oder weiblichen Geschlechterkonstruktionen rüttelt.
Dildo Foucault und G. Rubin führen in das Reich der Sexualität ein, wobei Foucaults Behauptung ist, dass die stärkste Form der Kontrolle nicht durch das Verbot bestimmter Praktiken entsteht, sondern durch die Produktion unterschiedlicher Lüste und Wünsche, die letztendlich als »sexuelle Identitäten« kategorisiert werden. Rubin analysierte das westliche, hierarchische sexuelle Wertesystem, wonach sexuelle Akte mit hergestellten Objekten und mit Pornographie am äußeren Limit liegen. Schon in der Antike wurden Sexspielzeuge als politisches Mittel eingesetzt, wie das Beispiel des »olisbos« in Aristophanes Lysistrata zeigt. Später wurden sie zur Behandlung der Hysterie verwendet, wobei zur gleichen Zeit interessanterweise die Repression der Masturbation forciert wurde. Beatriz Preciado sieht im Dildo die Möglichkeit, das traditionelle Sex/Gendersystem aufzubrechen. Die Dildos entnaturalisieren das heterosexuelle Szenario und stiften gleichzeitig Unbehagen und Lust. Auch in der lesbischen Community wurde der Dildo lange Zeit nur als Nachbildung des Penis gesehen und daher nicht gebilligt. Für Preciado ist der Dildo aber gerade das Gegenteil, weil durch seine Hilfe der Penis als Ursprung - auch im Sinne des Unterschieds der zwei Geschlechter - abgeschafft wird. Der Dildo entlarvt, wie schon Judith Butler in der Geschlechterparodie feststellte, dass der Penis auch kein Original ist. Hier liegt die subversive Kraft des Dildos, das »cutting edge«. Die politische Schärfe dieses Spielzeugs erlaubt es einer Frau, die Position des Mannes einzunehmen ohne ein Mann zu sein. Der Penis ist also eine Konstruktion, die dem Mann seine patriarchale Macht verleiht.
Musikbeispiele: Tribe 8, Peaches Die Sängerin von Tribe 8 löste durch einen umgeschnallten Dildo bei einem Frauenmusikfestival einen Skandal aus, weil sich viele Frauen beschwerten, dass sie so etwas gar nicht sehen wollen. Sie verstanden das
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subversive Potential des Dildos nicht. Erst nachdem sich die verschiedenen feministischen Richtungen gegenseitig mit ihren Vorurteilen auseinandergesetzt hatten, wurde die Band begrüßt. Als krönender Abschluss des Konzertes wurde der Dildo triumphierend abgeschnitten. Peaches benützt im Rahmen ihrer Konzerte ebenfalls Dildos und auf der letzten Seite des CD-Booklets ihres neuen Albums »Impeach my Bush« ist auch ein Foto mit einer »dildobestückten« Frau zu sehen. Mit dem Dildo schließt sich wieder der Kreis zum Anfang des Schlusswortes. Was mir nun selbst bei dieser Zusammenfassung aufgefallen ist, ist, dass es mit den neueren Technologien auch zu Zusammenbrüchen und Grenzkriegen in der feministischen, schwul-lesbisch-queeren Community selbst kam, so wie es bereits Haraway in ihrer Cyborgtheorie ankündigte. Die ersten fünf subversiven Strategien (Ironie, Parodie, Camp, Maske/Masquerade, Mimesis/Mimikry) entsprechen noch den bekannteren Vorstellungen und führten noch zu keiner allzu heftigen Diskussion innerhalb der Community. Bei der letzteren dieser fünf, der Mimesis und Mimikry, fängt es aber mit der technologischen Mimesis schon zu kippen an, wie auch Halberstam am Beispiel der Lesbians on Ecstasy feststellte, wobei hier mit der Technik, der elektronischen Musik, dieser Bruch gekittet wird und eine Brücke innerhalb der lesbischen Szene hergestellt werden kann und die verschiedenen Zeiten (Generationen) zusammenführt. Ab den neueren queeren subversiven Strategien (ähnlich vielleicht wie beim »new queer cinema«?)2 kam es dann zu Kämpfen innerhalb der Gruppen – mit Fragen wie: Ist die Cyborgtheorie nur eine utopische Vorstellung, die politisch nicht funktionieren kann? Oder ist die Transsexualität die endgültige Unterwerfung unter das Zweigeschlechtersystem? Oder ist der Dildo die bloße Wiederholung der heterosexuellen Sexualität? Ich habe Argumente und Beispiele angegeben, die zeigen, dass diese neuen technologischen queeren Strategien doch eine Subversion beinhalten, die sogar radikaler ist, als in den ersteren Beispielen, weil sie Selbstverständlichkeiten wie zwei fixe Geschlechtsidentitäten oder den Penis aushebeln. Eine Schwierigkeit, die ich bis zum Schluss nicht zufriedenstellend lösen konnte, war Beispiele von queeren Musiker_Innen verschiedener ethnischer oder religiöser Herkunft zu finden. Ich versuchte, dieses Problem mit Hilfe der postkolonialen Mimikry zu lösen, wo ich zumindest zwei Beispiele, Grace Jones und Bishi, angab. So gibt es zum Beispiel viele schwarze Hip-Hop Musiker_Innen, aber mir ist keine mit queeren Ansprüchen in ihrer Musik bekannt. TLC und Salt’n’Pepa sprachen in ihren Songtexten zwar sehr offen über Sexualität, aber im Rahmen der Heterosexualität. Erykah Badu, Missy Elliott und Lauryn Hill präsentieren ein neues Frauenbild im Hip-Hop, allerdings fehlen auch hier wieder queere 2
Es würde jetzt zu weit gehen zu überprüfen, ob es da einen Zusammenhang gibt, ob sich die Elemente, die zu dem »neuen« queeren Film führten, mit denen meiner neueren queeren Strategien ähnlich sind.
FADE OUT: SCHLUSSWORT | 323
Sexualitäten. Vielleicht liegt es daran, dass in der schwarzen Hip-HopKultur queere Inhalte noch nicht legitimisiert sind, wie Rana A. Emerson schreibt: »Sexual diversity is another element of Black womanhood that is conspicuously absent and also reflects the desirability of perceived sexual availability for men. None of the videos featured performers who were lesbian or bisexual, nor did they show even implicit homosexual or bisexual themes. This was interesting in light of the emergence of critically acclaimed and commercially popular bisexual and lesbian artists, most notably, Me’Shell Ndgeocello (whose most controversial video Leviticus: Faggot was censored by BET). As can be gleaned from the frequently homophobic rhetoric in hip-hop and R&B songs, sexual difference and nonconformity are still not legitimized in Black popular culture.«3 Leider fand ich auch in der türkischen Kultur kein geeignetes Beispiel. Es gibt zwar homosexuelle Popstars, wie Zeki Müren und den MTF transsexuellen Bülent Ersoy, aber bei Frauen fand ich kein geeignetes queeres Beispiel. Obwohl Sängerinnen, wie Özlem Tekin (bekanntes Lied »Laubali«) in ihre Lieder (z. B. über die Zwangsheirat in »Duvaksız Gelin« auf Deutsch: »Die Braut ohne Schleier«) feministische Inhalte einfügen, fehlt es an queeren sexuellen Orientierungen. Hier zeigt sich, dass die Queer-Theorie wieder einmal trotz des grenzüberschreitenden Anspruchs das »Weißsein« als Norm sieht und weitere Analysen der Populärkultur hinsichtlich »queers of color« notwendig sind. Aber als hoffnungsvollen Ausblick konnte ich jetzt, kurz vor Ende der Arbeit, Beispiele queerer Bands, wie »Bunny Rabbit« oder »Yo Majesty« entdecken, die ich vielleicht für zukünftige Recherchen in Anspruch nehmen werde. Den Abschluss meiner Dissertation überlasse ich deswegen einer »queer of color«: Skunk Anansie, in deren Liedern »She’s my heroine«4 und »Yes, it’s fucking political«5 ihr lesbisches Begehren klar wird, wobei der letztere Titel in dreifacher Hinsicht ausgelegt werden kann: auch Populärkultur ist politisch, »Queer-Sein« ist politisch, »Farbig-Sein« ist politisch.
3
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ANHANG | 335
Videolink Für meine Dissertation relevante Videos befinden sich auf meinem »You Tube Account« unter dem Namen »subversivetracks«: http://www.youtube. com/subversivetracks
Ab b i l d u n g s ve r z e i c h n i s Abb. 1: »Ironie, Parodie, Satire - Ethos« S. 29: Hutcheon, Linda: A Theory of Parody. The Teachings of Twentieth-Century Art Forms, New York/London: University of Illinois Press 1985, S. 55. Abb. 2: »Funktionen der Ironie« S. 33: Hutcheon Linda: Irony's Edge. The Theory and Politics of Irony, New York/London: Routledge 1995, S. 47. Abb. 3: »Mocking Ethos« S. 34: Hutcheon, Linda: A Theory of Parody. The Teachings of Twentieth-Century Art Forms, New York/London: University of Illinois Press 1985, S. 63. Abb. 4: »Babydoll-Kleid« S. 46: Baldauf, Anette/Weingartner, Katharina (Hg.): Lips. Tits. Hits. Power? Popkultur und Feminismus, Wien: folio 1998. Abb. 5: »Angie Reed« S. 49: Booklet in: Angie Reed: Presents the Best of Barbara Brockhaus, Chicks on Speed Records, 2003. Abb. 6: »Angie Reed II« S. 51: Ebd. Abb. 7: »Peaches« S. 86: Booklet in: Peaches: Fatherfucker, Kitty-Yo, 2003. Abb. 8: »Peaches II« S. 88: CD-Aufdruck: Peaches: Fatherfucker, KittyYo, 2003. Abb. 9: »Madonna« S. 121: CD-Cover der Maxi-Single: Hung up, Warner Bros, 2005. Abb. 10: »Annie Lennox« S. 122: www.news.softpedia.com/images/ news2/Annie-Lennox-Mistakes vom 7.9.2006 Abb. 11: »Grace Jones« S. 125: CD-Cover von Grace Jones: Living My Life, Polygram Records, 1982. Abb. 12: »De Lauretis« S. 151: Lauretis, Teresa de: The Practice of Love. Lesbian Sexuality and Perverse Desire, 1994, Bloomington and Indianapolis: Indiana University Press, S. 276. Abb. 13: »Diva« S. 166: CD-Cover von Annie Lennox: Diva, BMG, 1992. Abb. 14: »Grace Jones II« S. 213: CD-Cover von: Grace Jones: Island Life, The Island Def Jam Music Group, 1985 Abb. 15: »Bishi« S. 215: CD-Cover von: Bishi: Nights at the Circus, Gryphon Records, 2007. Abb. 16: »Cyborg« S. 232: Hables Gray, Chris: Cyborg Citizen. Politics in the Posthuman Age, New York/London, 2001, S. 81.
336 | QUEERE TRACKS
Abb. 17: »All Is Full Of Love« S. 262: DVD-Booklet von: Chris Cunningham: The Work of Director Chris Cunningham, (DVD) Palm Pictures, 2003. Abb. 18: »Anatomie I« S. 269: Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt/New York: Campus Verlag, 1992, S. 104. Abb. 19: »CIBA« S. 270: Laqueur, Thomas: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, Frankfurt/New York: Campus Verlag, 1992, S. 105. Abb. 20: »Sexuality-Circle« S. 301: In Gayle S. »Thinking Sex. Notes for a Radical Theory of the Politics of Sexuality« in: Rubin Abelove, Henry/Barale, Michèle Aina/Halperin, David M. (Hg.): The Lesbian and Gay Studies Reader, New York/London, 1993, S. 10. Abb. 21: »Dildotektonik« S. 303: Preciado, Beatriz: Kontrasexuelles Manifest, Berlin: b_books, 2003, S. 22. Abb. 22: »Dildotopia« S. 306: Preciado, Beatriz: Kontrasexuelles Manifest, Berlin: b_books, 2003, S. 36. Abb. 23: »Peaches III« S. 310: http://www.efestivals.co.uk/.../photosPeaches4.shtml vom 21.2.2008.
Gender Studies Rita Casale, Barbara Rendtorff (Hg.) Was kommt nach der Genderforschung? Zur Zukunft der feministischen Theoriebildung 2008, 266 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-748-6
Dorett Funcke, Petra Thorn (Hg.) Die gleichgeschlechtliche Familie mit Kindern Interdisziplinäre Beiträge zu einer neuen Lebensform Juni 2010, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1073-4
Hanna Meissner Jenseits des autonomen Subjekts Zur gesellschaftlichen Konstitution von Handlungsfähigkeit im Anschluss an Butler, Foucault und Marx März 2010, ca. 308 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1381-0
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Gender Studies Elli Scambor, Fränk Zimmer (Hg.) Die intersektionelle Stadt Geschlechterforschung und Medienkunst an den Achsen der Ungleichheit
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Uta Schirmer Geschlecht anders gestalten Drag Kinging, geschlechtliche Selbstverhältnisse und Wirklichkeiten März 2010, ca. 454 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1345-2
Barbara Schütze Neo-Essentialismus in der Gender-Debatte Transsexualismus als Schattendiskurs pädagogischer Geschlechterforschung März 2010, ca. 220 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1276-9
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Gender Studies Marie-Luise Angerer, Christiane König (Hg.) Gender goes Life Die Lebenswissenschaften als Herausforderung für die Gender Studies 2008, 264 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN 978-3-89942-832-2
Cordula Bachmann Kleidung und Geschlecht Ethnographische Erkundungen einer Alltagspraxis 2008, 156 Seiten, kart., zahlr. Abb., 17,80 €, ISBN 978-3-89942-920-6
Ingrid Biermann Von Differenz zu Gleichheit Frauenbewegung und Inklusionspolitiken im 19. und 20. Jahrhundert Mai 2009, 208 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1224-0
Cordula Dittmer Gender Trouble in der Bundeswehr Eine Studie zu Identitätskonstruktionen und Geschlechterordnungen unter besonderer Berücksichtigung von Auslandseinsätzen September 2009, 286 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1298-1
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Ute Luise Fischer Anerkennung, Integration und Geschlecht Zur Sinnstiftung des modernen Subjekts Juni 2009, 340 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1207-3
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Rebecca Pates, Daniel Schmidt Die Verwaltung der Prostitution Eine vergleichende Studie am Beispiel deutscher, polnischer und tschechischer Kommunen Februar 2009, 234 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1117-5
Sylvia Pritsch Rhetorik des Subjekts Zur textuellen Konstruktion des Subjekts in feministischen und anderen postmodernen Diskursen 2008, 514 Seiten, kart., 39,80 €, ISBN 978-3-89942-756-1
Christine Thon Frauenbewegung im Wandel der Generationen Eine Studie über Geschlechterkonstruktionen in biographischen Erzählungen 2008, 492 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-89942-845-2
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