"Ein bischen Gefängnis und ein bischen Irrenhaus" : Oskar Panizza : Ein Lesebuch 9783962331061

Das "Panizza-Lesebuch" zeigt den wütenden, den verzweifelten, aber auch den bisher kaum bekannten humorvollen,

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German Pages [303] Year 2019

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"Ein bischen Gefängnis und ein bischen Irrenhaus" : Oskar Panizza : Ein Lesebuch
 9783962331061

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edition monacensia Herausgeber: Münchner Stadtbibliothek / Monacensia im Hildebrandhaus Leiterin: Anke Buettner

MICHAEL BAUER stammt aus Tübingen und studierte in München Deutsche Literatur, Neuere Geschichte und Theaterwissenschaft; »Ernst Toller und die Massenfestspiele der Leipziger Arbeiterschaft 1920 bis 1924« (Magisterarbeit, 1979)/»Oskar Panizza. Ein literarisches Porträt« (Phil. Diss., publiziert 1984 im Carl Hanser Verlag). Seit 1981 Journalist. Weitere Informationen zum Autor und seinen Veröffentlichungen unter www.bauer-michael.de. CHRISTINE GERSTACKER, geboren in Klagenfurt, beendete ihr Studium der Germanistik, Anglistik und Amerikanistik in Wien mit einer Arbeit zur Selbstver­ marktung von Panizzas Zeitgenossen Frank Wedekind. Seit 1990 ist sie als freie Lektorin und Korrektorin für verschiedene Verlage (unter anderem Random House, Belser, Bibliothek der Provinz) und Autoren tätig. Sie lebt in München.

»EIN BISCHEN GEFÄNGNIS UND EIN BISCHEN IRRENHAUS« Oskar Panizza Ein Lesebuch

herausgegeben von Michael Bauer und Christine Gerstacker

Allitera Verlag

monacensia I im hildebrandhaus

Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.allitera.de

Originalausgabe September 2019 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2019 für diese Ausgabe: Landeshauptstadt München / Kulturreferat Münchner Stadtbibliothek / Monacensia im Hildebrandhaus und Buch&media GmbH, München Layout und Satz: Franziska Gumpp Umschlaggestaltung: Johanna Pedarnig Gesetzt aus der Sabon Umschlagvorderseite: Porträt Oskar Panizza © Münchner Stadtbibliothek/Monacensia, München Printed in Germany • ISBN 978-3-96233-106-1 Allitera Verlag Merianstraße 24 • 80637 München www.allitera.de fon 089 13929174 • mail [email protected] www.allitera.de

INHALT Exil im Wahn............................................................................. Ein Bischen Gefängnis

7

......................................................................

7

Ein Jahr Gefängnis - mein Tagebuch aus Amberg -...............

8

Ein Bischen Gefängnis und ein Bischen Irrenhaus XI ... .

44

Ein Bischen Gefängnis und ein Bischen Irrenhaus XII

...

47

Ein Bischen Irrenhaus - und vom Weg dorthin..........................

50

Die geisteskranken Psychiater

....................................................

51

Katholische Irrenbehandlung.......................................................

58

Christus in psicho-patologischer Beleuchtung......................

64

Das rothe Haus.................................................................................

76

München......................................................................................

85

Abschied von München, ein Handschlag.................................

85

Ueber die Stadt München zwischen einem Fremden und einem Einheimischen...............................................................

96

Das Liebeskonzil..........................................................................

112

Der Papst............................................................................................

112

Das Wachsfigurenkabinet...............................................................

117

Der Teufel im Oberammergauer Paßions-Spiel, eine text-geschichtliche Studie mit Ausblicken auf andere Mysterien-Spiele ...............................................................

138

Über die Generalprobe der Oberammergauer Paßions-Spiele 1890 ......................................................................

165

Das Liebeskoncil, eine Himmels-Tragödie in fünf Aufzügen.................................................................................

170

Frauen.........................................................................................

218

Der Corsetten-Fritz..........................................................................

218

Der Lateinschüler.............................................................................

236

Die gelbe Kröte.................................................................................

239

Eine Schleswig-Holstein’sche Venus

.........................................

249

Briefe an Franziska zu Reventlow................................................

252

Briefe an Anna Croissant-Rust....................................................

267

Editorische Notiz.............................................................................

298

Textnachweis .....................................................................................

300

Bildnachweis.....................................................................................

301

»Man muß in irgend einer Form Metafisiker sein, um den Gewaltigen dieser Welt Troz bieten zu können.«

EXIL IM WAHN

Ein Bischen Gefängnis

gronfefte am Unteranger, erbaut 1820 non 3- 91. Sßertfd) Mgmalaufnatin« für i>« Werf „3J!ün*en unb feine Sauten“

Landgerichtsgefängnis »Fronfeste«, München am Anger

1

Ein Jahr Gefängnis - mein Tagebuch aus Amberg Die Ortografie ist unter allen Umständen einzuhalten! Zwischen den einzelnen Abschnitten, die durch drei Kreuze möchte ich am liebsten eine kleine Blatt-Vinjette gesezt haben! etwa

getrennt,

»Wen haßen Sie am meisten? Den, der zerbricht ihre Tafeln der Werte, den Brecher, den Verbrecher. Der aber ist der Schaffende«

Nietzsche.

»Ich bin fest überzeugt, daß das berühmte Zellensystem nur ein falsches, trügerisches und auf das Äußere gerichtetes Ziel verfolgt; es saugt die Lebenskraft aus dem Menschen; entnervt seinen Geist, schwächt und schrekt ihn, und präsentirt endlich die sittlich gedörte Mumie eines Halbwahnsinniggewordenen als ein Bild der Beßerung und Reue.« Dostojewskij.1 2

1 Handschriftlich und mit Bleistift vom Autor hier vermerkt. 2 Vom Autor durchgestrichenes Motto auf der Rückseite des Titelblatts.

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Vorwort.

Heute, wo ich die wenigen Aufzeichnungen überlese, will es mir scheinen, als ob das Eine oder Andere gemildert werden könte, oder auch beßer weg­ geblieben wäre. Aber heute, wo ich gesättigt bin, wieder gute Kleider trage und mein Seelen-Zustand nicht mehr in Gefahr ist, habe ich keine Verfü­ gungs-Kraft mehr über meine damaligen Zeilen. Sie sollen stehen bleiben als Ausdruk meiner oft grenzenlosen Verzweiflung. Auch darf ich die unheim­ lichen Schatten der entkräfteten Gefangenen nicht vergessen. Schon der Anblik dieser Leute ist ein Zwangs-Gelübde, ihrer zu gedenken, welches durch Nichts wettgemacht werden kann. Mögen sie nach den Gesezen der Staatsraison unter allen Umständen schuldig sein, die Biologie spricht sie frei; und die Biologie lehrt uns, daß sie Blut in den Adern haben; und daß dies dasselbe Blut ist, auf dem auch wir Anderen unser Leben aufbauen. Dieses Blut muß ihnen unter allen Umständen erhalten bleiben, nicht blos gefristet werden, oder, wie es in der Regel der Fall, vermindert werden. So wie die Sache aber heute liegt, sind die Gefängniße nicht etwa nur Freiheits-Entziehungs-An­ stalten, sondern Blut-Entziehungs-Anstalten. Soviel kann ich sagen: daß, wo hier allgemeine Zustände besprochen wer­ den, dies nicht an die Adreße der Beamten und der Direkzion in Amberg geht. Ganz im Gegenteil. Denn nicht nur haben diese Herren, soweit es möglich war, mir die äußerste Rüksicht zu Teil werden laßen, wofür ich nur das Gefühl der Dankbarkeit habe, sondern gerade im Hinblik auf die Ernährungs-Verhältniße hat der dortige Anstalts-Arzt auf Grund wißenschaftlicher Darlegungen Vorschläge über Verbeßerung und reichere Abwechslung der Kost gemacht, die von der Staats-Regierung zurükgewiesen wurden. Alles was ich hier also u.A. über die Verköstigung im Gefängnis sage, ist eine Entlastung für die dortige Direkzion. Und wenn auch nicht zu hoffen ist, daß die folgenden Blätter irgendwie eine Änderung in den betreffenden Ministerial-Verfügungen zu veranlaßen im Stande sein werden, weil die Kraft der Iniziation von solchen Stellen aus, wie bekant, viel zu gering ist, und, speziell in Baiern, die geistige Verknöcherung in der höchsten Bürokratie einen unabweichlichen Widerstand gegen jede auf Grund neuer Erwägungen notwendig gewordene Masregel entgegensezt, so kann doch vielleicht von dritter Seite der Gedanke aufgegriffen werden und eine öffentliche Diskußion nach dieser Richtung hin Wandel schaffen. Und deshalb sollen die folgenden Blätter so stehen bleiben, wie ich sie im Gefängnis geschrieben. Ja, selbst auf die Gefahr hin, neuer­ dings verurteilt zu werden, sollen die hier folgenden Darlegungen nach jeder Richtung unbeschnitten bleiben. Denn Schreiben ist für einen Schriftsteller, Publiziren für einen Publizisten, Dichten für einen Dichter, Gedanken-Mit-

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teilen für einen Denker eine ebenso notwendige, nicht hintanzuhaltende und sichvonselbstverstehende Sache wie das Singen der Vögel, das Nesterbauen der Schwalben und das Fädenziehen der Spinnen. Ein unveräußerliches Na­ turrecht. Gedanken, die ausgesprochen werden müßen, wenden sich, unaus­ gesprochen, gegen ihren Besizer und zerstören ihn. Mögen diejenigen, die leichten Herzens Duzende von Monaten Gefängnis für wenige Zeilen, für wenige Worte austeilen, von Jenen lernen, die um weniger Zeilen, um weniger Worte willen, ohne zu muksen in’s Gefängnis gehen, daß Reden und Schrei­ ben ein mit Naturnotwendigkeit sich vollziehender Prozeß ist. »Wir haben geredet und geschrieben, getrieben von dem heiligen Geist«........ Diese Wor­ te der jungen christlichen Revoluzionspartei im 2"n Jahrhundert kann jede geistige Revoluzionspartei, d.i., die mit neuen Gedanken operirt, für sich in Anspruch nehmen. Der Jurist, der Staats-Bürokrat, sagt sich: »Dieser Schrift­ steller hat einen neuen Gedanken ausgesprochen, groß, unerhört, - schlagt ihn zu Boden, Verfasser und Gedanken, damit er nie mehr sein Haupt erhe­ be .............. ! - Absolut falsch!: Kein Mensch, und wenn ei der frechste und anmaasendste wäre, wäre im Stande, einen neuen Gedanken auszusprechen, der nicht in der Zeit selbst läge. Was er vor den Anderen voraus hat, ist nur der Wagemut, beim Künstler das Geschik. Alles Übrige ist geistiger Gemeinbesiz. Er rührt nur an die Harfe, produzirt den Ton - und die Gehirne seiner Zeitgenoßen stehen in Flammen. Was mag Juristen - oder die Legislative, was dasselbe ist - veranlaßen, gerade Schriftsteller, Publizisten, Männer der Feder, Poeten, bei individua­ listischen Gesezesübertretungen mit einer Strafe zu bedenken, die gerade sie, die Empfindlichen, tausendmal schwerer treffen muß, als einen realen, in seines Herzens Härte abgestumpften, materiellen Sünder? Und was mag Jene veranlaßen, gerade Musensöhne, Schüzlinge des Apoll, Schüler der Klio3, statt mit milden Übertretern, mit dem Abschaum der menschlichen Gesell­ schaft zusammenzuschmieden, um sie statt einfach - weit entfernt halb doppelt leiden zu laßen? - Hat einer jener Männer in der schwarzen Robe, die für ebensoviele Gedanken ebensoviele Jahre Gefängnis austeilen, jemals erwogen, was auch nur ein Monat, auch nur eine Woche Gefängnis bedeutet, die noch immer zu 168 Stunden Verzweiflung Anlaß gibt? Was mag Juristen veranlaßen, auf Grund innerer, ja moralischer, Überzeugung zu solchen Vivisekzionen der Seele zu schreiten? - Ist es die Tinte, das gleiche Materjal, das gemeinschaftliche Werkzeug und Papier, welche sie, die so superior sich

3 Eine der neun Musen, erkennbar am Schreibgerät, dem Griffel. Schutzpatronin der Geschichtsschreiber.

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fühlenden Themisjünger4 veranlaßt - um den gesellschaftlichen und geistigen Abstand so breit wie möglich zu zeichnen - ihre Kollegen vom Galläpfelsaft5 so tief wie möglich zu fletriren6, und sie mit Menschen auf denselben Qua­ dratfuß zu zwängen, die in der einen Hand den Dietrich, in der andern die Mordwaffe zu führen gewohnt sind? Was mag der lezte, tiefste Grund sein, daß man Schriftsteller schlimmer behandelt, als Jene, die in einer Waldlich­ tung vor Zeugen einen Nebenmenschen niederschießen? - Ist es der Haß, daß sie gerade jenen Galläpfelsaft benuzen, um, statt Diureisten7-Arbeit zu ver­ richten, das Kostbarste, was wir haben: Ideen zu verbreiten. - Und ist das der tiefere Sinn Jener Prometheus-Fabel? Daß Derjenige, der Feuer vom Himmel stielt, schlimmer behandelt wird, als Der, der seinem Landesfürsten das Gold aus der Erde gräbt? Daß er an den Felsen angeschmiedet wird, um seine Seele der Verzweiflung, seinen Leib den Geiern preiszugeben? -

München, den 3 September 1896."

4. Jünger der Themis, einer Titanin und antiken Göttin der Gerechtigkeit. 5 Tinte, die aus Galläpfeln gewonnen wird, einer durch Wespen verursachten Gewebewucherung an der Unterseite von Eichenblättern. 4 Zu erniedrigen, zu entehren. 7 Diuretisch: harntreibend. • Im Manuskript fehlen die S. 1-24.

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»Weiter! Marsch! Vorwärts! Spenser9 anziehen! Da ’naus! Als vorwärts! Dort ’nüber! Nicht hinfallen (ich stürze mit den nägelbehauenen Schuhen auf die steinerne Stiege). Vorwärts! Weiter! Da ’naus! Halt! Stehenbleiben! Da her! Vorwärts! Marsch! Da ’rein! .............. « - mit diesen und ähnlichen im bru­ talsten Kasernenjargon vorgebrachten Schimpf-Advertißements werde ich die ersten Tage zwei-dreimal aus der Zellenabteilung hinüber zum Direktor oder Aßeßor zitirt. Dort, im Büroo, entschiedene Höflichkeit, ausgesproche­ nes Wohlwollen. Die Einzelheiten des Verfahrens gegen mich, Beschäftigung, Kost, Spazierengehen u.dgl. werden in Form des Parlamentarismus, nicht des Komandos, durchgenommen. Ich werde gar »Sie« angesprochen. Und Alles geht bei beiderseitigem aufrichtigem Willen glatt. - Kaum ist die Türe hier geschloßen, empfängt mich wieder der bairische Höllenhund mit: »Marsch! Daher! Vorwärts! Was hat’s denn geben? Was bist’D denn? - E Doktor? -Was für e Doktor? - Der Medizin? - Wie viel hast’D denn? - A Jahr? - Z’weg’n was denn? - Weg’n an Buch? - Weiter! Marsch! Vorwärts! Was treibst denn? Was hast’D denn da für Bücher kriegt? - Gelt Du studirst Täologie? - Bist a Dichter? - Marsch! Weiter! Vorwärts! Da ’naus! Nicht hinfällen! Dort ’nü­ ber! ..... « - Ein fürchterlicher Schlag, als bräche die ganze Hölle zusammen: meine Zelle ist zugesperrt, und ich bin - Gott sei Dank! - wieder alleine. x

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Man spricht hier die Leute per »Du« an. Es trägt dies zur Verrohung des Verkehrs und zur Verrohung der Auffaßung des Verhältnißes von Mensch zu Mensch ebenso sehr bei, wie ehemals in den Kasernen, wo mit der Ein­ führung des »Sie« das ganze Verhältnis ein gesitteteres geworden ist. Mit der Disziplin hat das gar nichts zu tun. Und was die Ehre betrifft, die der Staat dem Gefangenen nehmen will, indem er ihn per »Du« anreden läßt, so ist dieser Begriff bekantlich in der Gesellschaft ein ganz anderer. Und mancher Volksmann und politische Verbrecher, der hier indem er mit »Du« angespro­ chen wird, infamiert wird, erhält draußen - vergleichsweise - vom Volk den Titel - Majestät. x

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Heute war ich in der Kirche, und ich mußte lachen und staunen über die un­ verminderte Wirkungskraft der alten Gesangbuchlieder.



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Spenzer, ein aus der Mode geratenes Stück der Herrenbekleidung.

»Morgenglanz der Ewigkeit Licht vom unerschöpften Lichte, schik uns diese Morgenzeit deine Strahlen zu Gesichte, und vertreib durch deine Macht unsre Nacht. In diesen Liedern, die auf die Natur zurückgehen, stekt eine unnennbare Kraft, eine Lust, eine Sehnsucht, ein Schluchzen, gegen das auch Gefäng­ niskleidung und Sträflingskittel in Nichts zerfallen. Freilich muß man sie als Knabe aus seinem Gesangbuch gesungen haben, um die keusche Kraft aus­ zuschöpfen, die Ängstigkeit und das Bangen nachzuempfinden, die ein junges protestantisches Herz schlagen läßt, wenn es zum erstenmal in die Hallen dieser Seelenzustände dringt. Nur eine Lerche war es, die singen konte:

»Deiner Güte Morgentau fall auf unser matt Gewißen; laß die dürre Lebensau lauter süßen Trost genießen, und erquik uns, deine Schar, immerdar. An wen ist es gerichtet? Ganz gleich! An Osiris, an Ra, an den Lichtgott, an Christus, an die aufgehende Sonne. Es ist ein Naturlied. Die ganze Ge­ gend steht um die Sonnenwende in der Morgendämmerung mit glitschnaßem Gras unter dem koloßalen Horizont von gespenstigen Lichtern durchhuscht in stummer Erwartung. Von den Tausenden gefiederter Sänger wartet einer auf den andern, auf das Signal, wann sie ihr Flaschonett10-Konzert beginnen dürfen, wann die Sonne aufgeht. Und das ganze Bild ist mit großer Kühnheit auf das Gemüt des Menschen angewendet. - Und endlich komt sie herauf:

»Gib, daß deiner Liebe Glut unsre kalten Werke töte, und erwek uns Herz und Mut bei erstandner Morgenröte, daß wir, eh wir gar vergehn, recht aufstehn. 10 Das Flageolett ist ein blockflötenartiges historisches Holzblasinstrument, während der auf Saiteninstrumenten erzeugte Flageolettton ein hoher, hochfrequenter Oberton ist.

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Nur brünstige Liebe, die selbstlos an den Geliebten sich anklammert, nichts will, als Glanz, Nähe, Licht, überirdisches Entzüken kann so die Sonne an­ sprechen, ihr sich hingeben wollen, ganz in dem Feuerball untergehen, die kleine Seele in den unendlichen Horizont. - Und bis zur Todesahnung steigert sich die erschöpfte, in ihrer Sehnsucht gesättigte, ausgegebene Empfindung: Leucht uns selbst in jene Welt du verklärte Gnadensonne; führ uns durch das Tränenfeld in das Land der süßen Wonne, da die Lust, die uns erhöht, nie vergeht! Hier, Katoliken, beugt Eure Knie vor diesem Schlesier (Christian Knorr von Rosenroth (1636-1689), vor dieser deutschen Spra­ che. Hier zerschmilzt Eure wälsche Kunst! -11 x

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Wieder war ich in der Kirche, und wieder hörte ich die Gesangbuchlieder. Immer hat der Protestantismus die poetischsten Formen sich ausgesucht, um seine Ideen drum zu kleiden. Eine ganz neue Empfindung - und dies war der Pietismus - kann nie auch gleichzeitig die neue Form schaffen, sondern muß sich an fremde Formen anlehnen. Während aber die katolische Kirche, um ihre wälschen Abnehmerinnen zu befriedigen, immer in den gefährlichsten sexualen Vorgängen herumgestirt hat - die Du ihn getragen hast, die Du ihn geboren hast, die Du ihn empfangen hast, die Du ihn in Windeln gewikelt hast - und so geradezu eine mariologische Geburtshülfe geschaffen hat, hat der protestantische Sänger aus dem Volksleben selbst, und aus seinen Lie­ dern, sich seine Formen geholt. Und besonders das »Tagelied« der Minne­ sänger war es, welches er, troz seines entfernt erotischen Gehaltes, sich ausge­ sucht und, mit dem neuen himlisch-sehnsüchtigen Gehalt erfült, zu kühner, frappanter Wirkung umgeschaffen hat: Es ist Nacht, und die Geliebte, die dem Schwur und der Minne-Regel vertrauend, zum erstenmal dem Gelieb­ ten das Entzüken des liebenden Beisammenseins gewährt hat, schläft ruhig und ahnungslos an seiner Seite. Versäumt sie den Auf bruch und komt in den Morgen hinein, ist sie verraten und dem Gespött preisgegeben. Da ertönt ein

11 Im Manuskript fehlen die S. 28-31.

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Horn: des mit ihr verbündeten Wächters. Und die ganze Szene wird nun in die überirdische Sfäre des jüngsten Tages-Aufbruchs gerükt: »Wachet auf, ruft uns die Stimme der Wächter sehr hoch auf der Zinne; wach auf, du Stadt Jerusalem! Mitternacht heißt diese Stunde; sie rufen uns mit hellem Munde: wo seid Ihr klugen Jungfrauen?«

Wer ist diese Jungfrau? Die hier in Gefahr zu verschlafen ist? Es ist wieder die bekante Seele des 17. Jahrhunderts. Nur trägt sie als Kopfschmuk eine güldene Marienkrone. Sie heißt Stadt Jerusalem. Und der Dichter nent sie mit dem mytischen Namen, den ihr der apostolische Seher verliehen:

»Zion hört die Wächter singen; das Herz tut ihr vor Freuden springen; sie wachet und steht eilend auf. Ihr Freund komt vom Himmel prächtig, von Gnaden stark, von Wahrheit mächtig; ihr Licht wird hell, ihr Stern geht auf.« Natürlich wird sie mit Freuden empfangen. Immer hat die deutsche Seele im Himmel gute Aufnahme gefunden. Und die des 17“n Jahrhunderts ganz be­ sonders. Gilt ihr doch das Transzendentale als ihre eigentliche Heimat. Mit ihrem weißen Linnenüberwurf, ihrer kleinen Katakomben-Lampe tritt sie mit leichenhaftem Antliz wie eine Gabriel-Max’sche12 Figur in den Himmel und wird wie eine Beatrice13- wie es der deutschen Seele gebührt - mit Stau­ nen und Bewunderung empfangen:

»Gloria sei Dir gesungen mit Menschen- und mit Engel-zungen, mit Harfen und mit Zimbeln schön. Von zwölf Perlen sind die Thore

12 Anspielung auf die Motive des Münchner Künstlers Gabriel von Max (1840-1915), eines zum Spiritualismus neigenden Darwinisten. 13 Die von Dante Alighieri (1265-1321) verehrte und in seiner »Göttlichen Komödie« besungene Beatrice; als Vorlage für sie diente dem Florentiner möglicherweise die Bankierstochter Bice Portinari (1266-1290).

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an Deiner Stadt; wir stehn im Chore der Engel hoch um deinen Tron. Kein Äug hat je gespürt, kein Ohr hat je gehört solche Freude. Des jauchzen wir und singen Dir das Halleluja für und für.«

Ja, diese Perlenthore, die haben in unserer Knabenfantasie eine große Rolle gespielt. Meist waren sie von Zuker-Kandis. Und jezt ist Alles zerbrochen und entsüßt. x

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Der Mond komt herauf. Wie eine überreife Pomeranze schiebt er dort am Rand der Berge, gelb, brünstig, vollgeladen, angstvoll wie ein schwangeres Weib. Diesen Weltkörper kontet Ihr uns nicht nehmen; diesen Blik in die Ewigkeit; diese koloßale Projekzion unserer Seele. Ich erkenne plözlich die Welt wieder und ihren Zusammenhang, und sehe, daß aller Kummer hier nur der Ausdruk einer niederen, gedrükten, ummauerten Zuchthausbetrachtung ist. - Ja, aber saperlot! warum wird er aber nicht mit Tüchern verhängt? Sind das schlechte Psichologen! Der einzige Blik macht ja den Gefangenen seelen­ frei! - Das ginge doch nicht. Der Mond bewegt sich doch. - Ja, aber mit ein paar schwarzen Tüchern ließe sich doch das erreichen. Saperlot, die Fase ist doch ganz kurz, mit 12 Meter schwarzem Serch14 entziehe ich dem Bewohner dieser Zelle den ganzen Mondlauf. - Es sind aber doch fast 40 Zellen auf der ganzen Seite. - Ei nun, man schiebt eben dann die Tücher an einem aufge­ hängten Strik hin und her. - Dazu wäre aber doch wieder ein eigener Mann nötig. - Nun, so gut Einer Nachts herumgeht, um zu sehen, ob sich Keiner aufgehängt hat, kann er doch auch diese Mondtücher schieben. - Es geht doch nicht, es sind doch noch andere Gefängnißgebaulichkeiten da, denen man auch den Mond nicht sehen laßen dürfte. - Gut, man macht es eben draußen am Feld, mit einer einzigen Stellasche. - Das käme doch ziemlich teuer. Das viele Tuch! - Ach, man verwendet die Chorröke der Geistlichen oder das Umhüllungstuch vom Schafott. - Und dann, der Mond steigt doch 14 Gemeint ist »Serge«, ein Stoffgewebe in »Köperbindung«, der Webart für »Fisch­ grat« oder den weiß-blau gewobenen Jeansstoff. Da Serge ursprünglich aus Nimes stammt, wurde aus »Serge de Nimes« der Begriff »Denim«.

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die folgenden Nächte höher. - Ei nun, man schiebt eben dann die ganze Vor­ richtung hinauf. - Das wäre doch eine ganz komplizirte Geschichte. Es müßte auch feuerfest und sturmsicher gebaut sein für die schlechten Zeiten; und müßte astronomisch konstruirt sein, um die Mondfase ganz zu treffen und sicher zu verhüllen. Dann die Bedienungsmannschaft. Es würde ein förm­ liches Observatorium. Was das den Staat kosten würde! - Ja, das ist richtig, es hapert am Geldpunkt. Welche Pracht! Welches Entzüken! Guter Mond, Du gehst so stille Durch die Abendwolken hin. Ich bin frei! Ich bin glüklich! - Nein, daß der Staat diese Marter außer Acht laßen konte! x

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Der gefrorene Hauch des Mondes.

Aus den Beschreibungen der Nordpolexpedizionen wißen wir, welch’ eigen­ tümliche Erscheinungen in bestirnten Breitegraden beim Atmen eintreten; wie klirrend dort der Hauch den Reisenden aus dem Munde strömt, einer weißen Wolke gleich; wie gefährlich das Schneuzen, Abwischen des Mundes und dergleichen wird, da hier sogleich die Gefahr des Zusammenfrierens mit der Haut, mit der Lippe, mit dem Gesichte entsteht; und wie ein ganz bestirn­ tes Verhalten, eine förmliche Instrukzion an die Reisenden nötig wird, um sie vor unangenehmen Folgen zu bewahren. Das ist am Nordpol. Aber es gibt Länder, wo viel merkwürdigere Dinge mit dem Hauch des Mundes vor sich gehen; wo auch der Atem gefriert; aber in ganz anderer Wei­ se. Mancher möchte meinen, daß diese Länder im Fabelland liegen. Als ein echter Deutscher träume ich hie und da im Gefängnis. Und da paßiren dann ganz merkwürdige Dinge. Da schien es mir neulich, ich befände mich in einer großen, nördlichen Stadt; etwa Hamburg oder Stockholm. Es war sehr kalt und die Leute huschten mit Fäustlingen und Pelzkappen lautlos durch die Straßen. Die Laternen waren angezündet, obwohl es Tag war. Der Nebel hing wie schmuzige Vorhänge in der Luft. Die Bewohner dieser Stadt, das war mir sofort klar, waren auf ihr Klima sehr wohl eingerichtet. Sie atmeten durch die Nase, wo die Luft nicht plözlich, sondern vorgewärmt in Kontakt mit der Außenwelt tritt. Und sie hielten sich feine Taschentücher vor den Mund, damit von hier keine direkte Luft ausströme. Aber Andere, sah ich, atmeten kühn und offenherzig durch den Mund. Und sofort bildete sich in dieser nördlichen

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Region ein harter, gefrorener Stab an ihren Lippen. Kaum war aber dies ge­ schehen, als von Hinten ein Schuzmann erschien, den Betreffenden an seinem Lippenauswuchs pakte und mit sich fortführte. »Komm herzu und siehe, was mit ihm geschehen wird!« - sagte der Traum­ gott zu mir. Ich eilte rasch hinter den Beiden drein, zumal auch alle Andern, die Nasenatmer dieser Stadt, kopfschüttelnd und verwundert stehen geblie­ ben waren, und uns nachsahen. Bald kam ich an einen Plaz, wo viele Duzen­ de dieser Mundatmer an ihrem gefrorenen Lippen-Auswuchs herbeigeführt wurden. Viel Volks umstand mit leisem, flüsterndem Nasenatmen, zornigen Bliken und klopfenden Schläfen diesen fabelhaften Aufzug. Alles, die Gefan­ genen und viel Volk, strömte in einen großen Saal. Dort wurden die armen Mißetäter einzeln den Richtern vorgeführt und erhielten, je nach der Qualität ihres Mundatems, der in deutlich geformter Gestalt vorlag, schwere Strafen: 6 Monate, 10 Monate, 1 Jahr, 1 Jahr 6 Monate, zwei Jahre, drei Jahre, bis hinauf zu acht Jahren Gefängnis. Ja selbst aus den Wirtshäusern schleppte man die Armen herbei, die dort in einem unbewachten Augenblik zwischen Lippen und Kelchesrand etwas Atemluft durch den Mundt hatten entströmen laßen. Und auch aus den Reihen der gaffenden Zuschauer riß man diejenigen heraus, die - über das Atmen ihrer Mitmenschen geatmet hatten: und wobei sich sofort der kalte, gefrorene Auswuchs an der Lippe, wenn auch in ver­ jüngtem Maasstab bildete. Was ist das? - rief ich, mich an den Traumgott wendend - wo sind wir? »Erkennst Du’s nicht? - antwortete dieser - wir sind hier in der Region der Majestätsbeleidigung. Die vorsichtigen Leute atmen hier durch die Nase. Die Gedanken, die durch die Nase strömen, geben keinen Laut; und können nicht gefaßt werden. Wir sind im Land der Gedanken-Nichtverlautbarung, Gedan­ ken, die durch den Mund strömen, erzeugen ein klapperndes Geräusch; weil sie hier mit dem Kehlkopfe, mit Zähnen, Zunge und Lippen in Berührung kommen. Und in dieser nördlichen Region gefriert diese Form des Atmens und wird eine Handhabe, an der man den Betreffenden vor den Strafrichter und in’s Gefängnis führt. Nimm Dich in Acht: auch die Verlautbarung über das Atmen, das Atmen über die bereits begangene Majestätsbeleidigung Anderer, über das Abstraktum der Majestätsbeleidigung, führt hier in’s Gefängnis -« Das Abstraktum dßl Majestätsbeleidigung? - rief ich voll Schmerz, und erwachte — und befand mich im Gefängnis. x

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Oft, wenn ich eben aufgestanden und meine Fantasie frisch wie ein junges Pferd ist, sehe ich, von den heimlichen und süßesten Empfindungen begleitet,

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eines der jungen Mädchen, die mir jüngst im Leben begegnet. Das ist dann das Leitmotif für den ganzen Tag. Sie geht, komt, schwindet - und plözlich ist sie wieder da. Das ist dann ein unsagbares Ereignis, die Wehmut und das Entzüken, mit dem so ein frisches Geschöpf vor mir steht. Immer in der lieb­ lichsten Pose, immer in der feinsten Anmut, in der ich sie im Leben gesehen. Nie frech-sinlich, nie entkleidet, nie unartig, sondern irgend eine freund­ liche, rein-menschliche, unbewußt-naive Stellung ist es, die sie einnimt, die ihr besonders charakteristisch, die mir damals in der Wirklichkeit gar nicht auffiel, die sie aber vor allen anderen ihres Geschlechts auszeichnete, und die mir geblieben ist. So präsentirt sie sich, und ein leichter, starrer Hauch, wie bei Gestorbenen, hält die Szene für einen Moment fest, und läßt mich rein psichisch genießen, welches ein unsagbar sauberer, überirdischer Prozeß ist. Und da sizt sie nun: die mattledernen Stiefletten übereinander geschlagen, wie sie zu tun pflegte; in ihrem dunklen Wollkleid; auf dem Kopf ein schikes Hütchen. Und das blaße, kindliche Antliz mich mit einer Starre ankiekend, als müße ich zuerst reden, und sie Antwort geben. Der geschloßene, sinliche Mund ohne Regung. Nur verheißend. Und die stahlblauen Augen wie neu­ geboren; glatt und kalt und klar durch den Schleier blikend; ohne Arg, ohne Fehl; als wären eben erst die Augenlider durch eine Operazion geöffnet, und die Augäpfel träten zum erstenmal an’s Tageslicht; so schaun diese Augen, glatt, rund und glänzig wie Glaskliker. Keine Konvergenz der Sehaxen. Son­ dern gerade, dumb, kindlich, ahnungslos. Und nun diese merkwürdig tollen Fragen bei einem achtzehnjährigen Mädchen, Fragen, die das Wunder des Mannes bilden: »Wo haben Sie den Stoff zu diesem Anzug gekauft? - Wie alt sind Sie? - Gelten S’, ich werd auch nochmal so gscheid? - Ist meine Schwester hübscher? - Wohnen Sie schon lange in der Wohnung? - Waren Sie schon in Amerika? - Sie, die Polizei war jüngst bei mir!« - Und jezt will ich das Bild festhalten. Ich seh’ nur noch den Kopf. Die wachsbleichen Züge. Durch den Schleier. Das Bild verschwindet, wird wieder intensiver, jezt ganz matt, und jezt ist es fort. - Ja, wo bin ich denn? - Ich laufe drunten im Spazirhof im Kreisel mit ca. 50 Spizbuben herum, einer hinter’m andern, wie im Bagno15. Und das regelmäßige Trip-trap hat die süße Figur aus dem Gedächtnis her­ aufsteigen laßen. Ich bin ganz erfrischt von dem herzig-süßen Kind. x

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Wieder ein Bild; Ganz wo anders her; ein blonder voller Kopf; die Lippen auf der einen Seite halb emporgezogen, daß man die Zähne lachen sieht. Und 15 Bezeichnet ein Lager für Zwangsarbeiter.

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stumm, stumm schaut mich das Bildnis an, wie eine Erinnerung von vor mehreren Jahren. Ich weiß nicht, was sie sagen will. Die Starre der Fisionomie ist, das weiß ich, ein Erzeugnis der imaginativen Reprodukzion; die eben nur diesen einen Moment festhält. Trozdem muß gerade dieser Moment, dieses halbseitige Lachen, seiner Zeit von ausschlaggebender Bedeutung gewesen sein, sonst hätte ich es innerlich nicht festgehalten. Denn in diesen Dingen sind wir Automaten und Künstler und Egoisten, und eignen uns nur das Beste und Entscheidendste an. Also in dieser seitlich halb-offenen Mundstellung liegt das ganze Wesen dieses Mädchens beschloßen. Der Blik, das Näschen, die Haarfranzen, die Ohrringe, das kleine Kinn, alles das ist von neben­ sächlicher Bedeutung. Gerade diese Lachen, weiß ich, schokirte mich im­ mer. Immer frug ich mich: was sie nur will? Ein halb hochmütiges, auf mich herabblikendes aber doch unendlich gütiges Lächeln. Und noch Etwas: eine zuversichtliche Sicherheit auf ihrem Gesicht, daß das, was sie jezt vorbringe und verlange, zweifellos wahr sei und gewährt werden werde. Und jedesmal war es so. Schon diese ganze Miene bestrikte mich jedesmal so, daß von vorn­ herein ich ihr Alles zugab. Nicht ihrer Schönheit wegen - sie war gar nicht schön - sondern dieser merkwürdigen Zuversichtlichkeit halber, die mich nur sagen ließ: ja wenn sie Alles so genau weiß, dann brauchst Du dich ja nicht zu besinnen. Eine absolute Sicherheit auf der anderen Seite bei mir, daß dieser blonde Struwelkopf nichts mir Nachteiliges, oder nichts Unwahres mir zu­ muten werde, war es, die mich ihr immer und regelmäßig16 unterliegen ließ. Jedesmal wenn sie an die Türe kam und klingelte und bat mit stummen Blik wußte ich, daß Alles längst entschieden sei, daß ich sie niemals wegschiken würde. Und immer nur wegen dieses halbseitigen offenen Lachens mit vollen, runden, roten gesunden Lippen, ohne Anspruch, ohne Bescheidenheit, wie ein Straßenkind---------- Ja, Kind, du kommst daher in meine Zelle mit dieser Sicherheit im Blik mit dieser starren, gefrorenen Miene - ich habe hier nichts zu geben - ich kenne dich, kenne diesen Mund, aber ich weiß nicht, wo ich dich hintun soll - du mußt wiederkommen - dann werde ich mich vielleicht erinnern - es tut mir leid, wenn irgend etwas vorgekommen ist, was dich trau­ rig macht, aber ich bin ja selbst nicht in glüklichen Verhältnißen - oder bist du nur der Ausdruk meiner Trauer? - Hat mein Zustand dich ausgewählt, und vor mir hingepflanzt, um mir zu sagen: Sieh, so bist du jezt beschaffen! - Und du lachst? - Und jezt lachst du mit allen Zähnen! - Nein, Kind, dann kann es nicht so schlecht um mich stehen! x

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16 Im Manuskript: »regelmäßiges«.

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Immer wieder muß ich hier die kostbaren Gesangbuchslieder bewundern, die eine Kraft und Fülle der Poesie offenbaren, die bewundernswert ist. Der protestantische Geistliche17 hatte mir, als einem abgebrühten Ateisten, es freigestelt, nicht zur Kirche zu gehen, sondern in der Zelle bei meinen Büchern zu bleiben. Aber ich entschied mich sofort für’s Kirchengehen. Ich erklärte, ich hörte mit vielem Vergnügen wieder einmal die alten Gesangbuchslieder....... ich schaute den Herrn Pfarrer an - und merkte, daß ich einen fürchterlichen Bok geschoßen hatte. Ich müßte die Predigt vor allen Dingen erwähnen, die mich zur Kirche zöge. Doch der prächtige, liebenswürdige Mann nahm mir nichts übel. Und so gehe ich denn wöchentlich dreimal zur Kirche. Und ich rate jedem meiner schriftstellernden Kollegen, sollte ihm das Unglük paßiren, in solchem Falle entschieden das Kirchengehen anzunehmen-wenn auch aus keinem andern Grunde, als um für eine halbe Stunde wieder aus der Zelle zu kommen, die troz ihrer verlokenden Einsamkeit ein Gift für die Seele ist: überhaupt jede Betätigung, die seinen Kräften entspricht, anzunehmen, um aus sich herauszukommen und den Würmern des Zweifels und der Grübel­ sucht zu entfliehen. Die höchste poetische Kraft erreicht das religiöse Lied, wenn es sich vom Boden sinnlichster, irdischer Betätigung erhebt und sich transzendental übersezt. Es erreicht dann einen Schwung, eine Triebkraft, die ohne Gleichen ist, und die unsere Seele, Lerchengleich, in die Höhe wirbeln läßt. - Viele dieser Lieder sind ja nach altdeutschen Liebesliedern komponirt. Aus »Den liebsten Buhlen, den ich han« wird »Den liebsten Jesum, den ich hab« u.drgl. - Es war ein Mädchen, ein ganz verliebtes Mädchen, voller Hingabe und naiven Entzükens, welches die Urform für das folgende, unvergleichlich schöne Ge­ sangbuchslied gedichtet hat: Ich will Dich lieben meine Stärke, ich will Dich lieben meine Zier, ich will Dich lieben mit dem Werke und immerwährender Begier; ich will dich lieben schönstes Licht, bis mir das Herze bricht.

Kann man mehr verlangen? Es ist das absoluteste Opfer, welches sie bringt; der Schmetterling, der sich in’s Licht stürzt und verbrent. Es ist keine bloße Fräse. Das Weib allein weiht sich rüksichtslos für ihre Liebe dem Tode.

17 Dekan Friedrich Lippert, der spätere Vormund Panizzas.

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Ich will Dich lieben, oh mein Leben, als meinen allerbesten Freund; ich will Dich lieben und erheben, so lange mich Dein Glanz bescheint; ich will Dich lieben, Gottes Lamm, als meinen Bräutigam. Die zwei lezten Verse sind vom späteren Dichter (Johann Scheffler 16241677)18 religiös gewendet; er hat eben auch hier für »Buhlen« »Jesum« eingesezt. Aber Alles Übrige konnte er ruhig stehen laßen. Da es für den höchsten Ausdruk des Herzens eben nur das Schema der sinlichen Freude, des sinlichen Wolgefallens gibt. - Aber welche ergreifende Stimmung spricht erst aus den folgenden fast unterwürfigen, fast demütigen Worten:

Ach, daß ich Dich so spät erkannt, Du hochgelobte Schönheit Du, und Dich nicht eher mein genannt Du höchstes Gut und wahre Ruh; Es ist mir leid und bin betrübt, Daß ich so spät geliebt. Ihre Dankbarkeit kent keine Grenzen. Fast erhebt es sich hier bis zur Höhe des bekanten Schumann’schen »Er der Herrlichste von Allen, wie so milde, wie so gut!«:

Ich danke Dir, Du wahre Sonne, daß mir Dein Glanz hat Licht gebracht; ich danke Dir Du Himmelswonne, daß Du mich froh und frei gemacht; ich danke Dir, Du süßer Mund, daß Du mich machst gesund. Und da sie Alles schon gesagt, bleibt ihr am Schluß nichts anderes übrig, als, die höchsten Worte, die sie kent, auf ihn anzuwenden:

Ich will Dich lieben meine Krone, Ich will Dich lieben meinen Gott; 18 Bekannt als Angelus Silesius (1624-1677), Lyriker und Theologe aus Schlesien, daher »schlesische Nachtigall«.

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Ich will Dich lieben ohne Lohne auch in der allergrößten Not.

Und so erneuert sie dann ihren Todesschwur: Ich will Dich lieben schönstes Licht, bis mir das Herze bricht. x

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Und so marschirt man Denn zur Kirche. Unter Kettengeraßel, wütendem Zelltüren-Zuschlagen, giftigen Bliken der Aufseher, zwischen Soldaten mit gespantem Gewehr humpeln und stolpern diese ausgehungerten Gestalten wie gezähmte Gorillas mit dem Gesangbuch unter’m Arm zum Haus des Herrn. - Ich wolte aber Keinem dieser leinenkittelenen armen Teufel raten, unter allzuwörtlicher Auffaßung des Liedes »Ich will Dich lieben meine Stär­ ke« bei der nächsten Terze durchzubrechen, um in’s Freie zu gelangen. Er bekäme eine brühwarme Kugel zwischen Leber und Gallenblase, die ihm das Travestiren von Gesangbuchliedern für alle Zeiten gründlich verleiden würde. x

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Zwei literarische Notizen: Als einer der Beamten meine Bücher sortirte, legte er fünf Bände auf einen Pak zusammen - ich glaubte schon, selbe würden mir nicht verabfolgt werden - dann nahm er sie in die Hand und sagte, indem er mir sie mit einigem Schmunzeln übergab: Diese fünf Werke, von denen ich glaube, daß sie einer allgemeinen, höheren Geistes-Richtung entsprechen, werden Sie weder jezt irgendwo in Amberg treffen, noch dürften sie früher zu irgend einem Zeitpunkt hier gewesen sein, noch werden Sie selbe in alle Zukunft - auch wenn die Stadt unter eine andere Regierung käme - jemals antreffen. Diese geistigen Ströme rauschen an unserer Stadt vorbei. - Ich war sehr begierig, welche Werke der Beamte ausgewählt haben mochte. In meiner Zelle angekommen betrachtete ich sie sofort. Es war ein Band von Carlyle, der die lectures on heroes enthielt19; es war Dostojewsky’s »Raskolnikow«20;

19 Thomas Carlyle (1795-1881), Historiker und Schriftsteller aus Schottland; Autor der Studien »Über Helden und Heldenverehrung«. 20 Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881), Autor von »Schuld und Sühne«, dessen Hauptfigur Rodion Raskolnikow ist.

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ferner Benjamin Kidd, »Soziale Evoluzion«21, William James, Principles of Psychology22; und Stirner, »der Einzige und sein Eigentum«23. - Amberg ist eine Stadt von über 20,000 Einwohner mit Gimnasium und Garnison - rein katolisch. x

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Und noch Eine: Die hiesigen protestantischen Gefangenen erhalten durch Vermittlung ihres Geistlichen auf Wunsch, gegen Entgelt eines minimalen Be­ trags ihres Arbeitslohns, jede Woche ihre Zeitung. Dieses Blatt bringt neben erbaulichen und belletristischen Betrachtungen die hauptsächlichen politi­ schen Mitteilungen; so, daß, wenn z.B. ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich ausbräche, der protestantische Gefangene die Haupt-Schlachten, Bewegungen der Armeen und Proklamazionen erführe - Und die katolischen Gefangenen? - Erhalten nichts. - Gar nichts? - Gar nichts! - So daß, wenn ein Katolik nach zehnjähriger Anwesenheit von hier fortkomt, er ein weltfrem­ der Mensch geworden ist. - Ich bemerke, daß es sich hier nicht etwa um eine Stellungnahme gegenüber dem amerikanischen Gefängnis-Sistem handelt, welches z. B. in dem großen New-Yorker Gefängnis Sing-Sing die Gefangenen sistematisch mit Lektüre überschüttet - derartig frische Luft braucht, bis sie über den Ozean nach Deutschland komt, über ein Jahrhundert; dann wird sie erst diskutirt - nein, es handelt sich einfach um das im Protestantismus stekende Bildungs-Prinzip, um die Aufklärung, gegenüber dem im Katolizismus stekenden quietistischen24 Prinzip, dem Prinzip der Unwißenheit. - Und die hiesigen katolischen Gefangenen erhalten gar nichts zum Lesen? - Sie erhalten, - wie die Protestanten ihre Bibel, Katechismus, Gesangbuch, - ein kleines Gebetbüchlein, in dem ihnen gegen soundsooftmaliges Herleiern von stupiden Gebeten an die Brüste der Maria Nachlaß von soundsoviel hundert Jahren Fegfeuerstrafen - leider keiner zeitlichen Strafen - versprochen wird. Ich bitte dich Leser, denk dir die Situazion, so ein armer Kerl in seiner schma­ len Zelle mit diesem geistigen Gehalt allein gelaßen. Wenn ein Historiker in 100 Jahren nichts weiter wie diese Notiz hätte, müßte er die Karte von 21 Benjamin Kidd (1858-1916), englischer Soziologe, dessen Bestseller »Soziale Evolu­ tion« 1894 erschien. 22 William James (1842-1910), einflussreicher amerikanischer Psychologe und Philo­ soph. Sein wegweisendes »The Principles of Psychology« erschien 1890 in den USA. 23 Der Bayreuther Philosoph Johann Caspar Schmidt (1806-1856) schrieb unter dem Pseudonym Max Stirner mit »Der Einzige und sein Eigentum« 1845 die Bibel der Individualanarchisten. 24 Das nach einer Erklärung suchende Prinzip.

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Deutschland, nach der Verteilung der Intelligenz, einfach mit Zu-Hilfe-Nahme der Religions-Verteilung mit Farbe komodig25 anstreichen können. Ich war heute beim Abendmahl. - Nun, ich muß sagen, ich glaube jezt auch, daß der Mensch aus zwei Drittel Magen, Ein Drittel Imaginazion und Ein Sechzehntel Geist besteht. Obwohl ich nicht ein Gleichgiltiger, sondern ein ausgesprochener Feind des Christentums bin, hat mich der Vorgang mächtig erschüttert. Gerade unter diesen leinenkittelenen Sträflingen, die, wie nur irgend die Insaßen der Franke’schen26 Waisenhäuser in Halle ihre Abend­ mahls-Choräle sangen. Wie gezähmte Hektoren27 knieten sie dort auf ihren Abendmahlschemeln, diese Propagandisten der Tat in fremden Hosenta­ schen, und zeigten vorne die Zähne, hinten die eisenbeschlagenen Schuhe. »Nehmet hin und eßet, dies ist mein Leib, der für Euch gegeben ward! - Neh­ met hin und trinket, dies ist mein Blut, das für Euch vergoßen wurde.« Ist das keine paßende Feierlichkeit für Galgenstrike und Wegelagerer? Nehmet! Nehmet! Nehmet - Nehmet und eßet! - Nehmet und trinket! - Mehr wollen sie ja nicht! Das tun sie ja auch! - Eine prächtige Simbolik, die diese Leute sehr gut verstehen. - Es war ein mächtiger Eindruk. - Der Zugang war fa­ kultativ. Ich ging, Erstens, weil ich dem Pfarrer eine Freude machen wolte, der mich mit vieler Liebenswürdigkeit behandelt; Zweitens, weil ich mir eine Freude machen wolte, indem ich die Sensazion genießen wolte. Ich habe es nicht bereut. Es war großartig. - Und der Wein war gut. - Ein Schluk Wein in dieser Einöde von Griessuppen, Hafergrüze und Brennmehl! -28 x

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»O Lamm Gottes unschuldig am Stamm des Kreuzes geschlachtet, allzeit gefunden duldig, wiewohl Du wardst verachtet: all Sünd hast Du getragen, sonst müßten wir verzagen. Erbarm Dich unser, o Jesu!

25 »Komodig« oder das österreichisch-süddeutsche »kommod« meint: bequem, gelassen. 26 1698 gründete August Hermann Francke in Halle für Kinder und Arme die heute als »Franckesche Stiftungen« bekannten Einrichtungen. 27 Plural des sich durch Homers »Ilias« kämpfenden Helden vor Troja. 28 Im Manuskript fehlen die S. 48-52.

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»O Lamm Gottes29 unschuldig, am Stamm des Kreuzes geschlachtet, allzeit gefunden duldig, wiewohl Du wardst verachtet: all Sünd hast Du getragen, sonst müßten wir verzagen, Erbarm Dich unser, o Jesu!

»O Lamm Gottes unschuldig, am Stamm des Kreuzes geschlachtet, allzeit gefunden duldig, wiewohl Du wardst verachtet: all Sünd hast Du getragen, sonst müßten wir verzagen. Gib uns Dein Frieden, o Jesu!«

Denke Dir Leser zu diesen larmoyanten Versen einen dumpfen Zellraum als Annex einer Kirche, durch Gitter gegen diese verschloßen, ausgetüncht mit Mörtel, der den Gesichtern eine graue, ungesunde Farbe gibt; und in dieser Zelle ein Duzend Häftlinge mit blöden, zerfreßenen Gesichtern, in graue Lei­ nenkittel gekleidet, die dumpf, monoton, zwangsmäßig, ohne Orgelbeglei­ tung die obigen Strofen aus dem Jahr 1526 zu einer quälenden, schleppenden Melodie aus dem Jahr 1542 singen, ohne Ritmus - da die Melodie keinen hat - ohne Gefühl - da die ewig gleichen Wiederholungen nur stumpfe Todes­ ahnungen weken - ohne Tonfall - da die ersterbende Tragik nur Gewinsel und mitleidiges Gluksen erlaubt - und Du hast einen Begriff, was hier im Gefängnis das Gemüt für Eindrüke empfängt: Wer hat diese mezgermäßige, blutige Auffaßung des Überirdischen in die Gefühlswelt der Menschen einge­ führt? Wer hat diese Schlachthausgerüche und Tierabstechungen als Simbol für Erbarmen und Mitleid den Menschen vorgezaubert30?! - »Geschlachte­ te Lämmer!« - Für wen? - Für mich? - Für meine Sünden? - Ich bedanke mich dafür! - Ich brauche kein Blut für meine Sünden. Meine Sünden mache ich mit mir aus, und stehe der Gesellschaft Rechenschaft. - Und diese Hen­ kers-Gesänge, diese behaglichen Abschlachtungen von Lämmern und Men29 Im Manuskript: »Gutes«. 30 Zunächst statt »vorgezaubert«: »in die Nüstern gestopft«; Religion als Magie zielt auf die blutrünstige Symbolik des Christentums.

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sehen mit Weihrauchduft und Rosmarin gewürzt sollen nicht verrohend auf Euer Gemüt wirken? - Tierschuzverein31 ich rufe Dich um Hilfe. Gegen diese Anpreisungen von Mezgerleistungen gegen arme Tiere. - Seid Ihr deshalb so grausam gegen die armen Leute, die armen Säugetiere: Arbeiter genant? Weil Ihr seit 2000 Jahren soviel Blut getrunken? - Herr Gott in Deinem Reich! Nie, nie ist mir das Christentum so erbärmlich, so hülflos, so miserabel vor­ gekommen, als heute morgen, als ich die armen Gefangenen diese Verse mit vertroknetem Patos singen hörte.

Die Kost ist ungenügend. Kübel voll Suppen werden hingestelt, in denen sich keine entsprechende Nahrung befindet, deren Zusammensezung den Verdau­ ungs-Organen nicht gemäß ist, oder deren Geruch und äußerliche Präsenta­ zion den Empfänger zurükschaudern läßt. Nach Buchbinderpapp riechen die meisten Suppen. Und es gibt nur Suppen. Die Qual des Würgens ist unsäglich. In Folge deßen sehen die meisten Gefangenen aus, als kämen sie aus Särgen. Nur Einen wirklich Gut-Genährten sah ich, und der war in der Küche be­ schäftigt. Ich weiß doch nichts davon, daß ein Urteil lautet: Ein Jahr Gefäng­ nis mit Gewichts-Verlust des Körpers um dreißig Pfund, oder bis man die Rip­ pen sieht. Schlauher Weise wird auch kein Gefangener gewogen: weder beim Eintritt, noch beim Austritt. So fält die Kontrolle weg; und mit der Kontrolle die Verantwortung. Einmal im Jahr komt der Regierungsreferent. Aber was kann innerhalb eines Jahres geschehen? Krumschließen, Ketten-Tragen und wochenlanger Dunkelarrest tun das ihre. Auf den Schanzen - sagte mir einer der Beamten - kommen Dinge vor, wo Sie Grausen empfänden. Aber dort wird man sich hüten, Sie, einen Mann der Feder, einen Blik tun zu laßen. Duzende von Briefen werden an Abgeordnete, besonders an Vollmar32 geschrieben. Alle werden zurückbehalten. Stirbt Einer, komt er auf die Anatomie. - Fidelio gibt es heute keinen mehr; aber Florestane gibt es immer noch.33 - Es ist Alles gesezlich. Es ist nichts gegen das Gesez. Die Verordnungen stüzen Alles. Ich wüßte nicht gegen einen der Beamten einen speziellen Vorwurf anzubringen. Es ist das Sistem, was ich verdamme. Der Staat ist verpflichtet, den Gefange­ nen in gleicher körperlicher und geistiger Verfaßung der Welt zurükzugeben, wie er ihn erhält. Koste es, was es wolle. Nur den Verlust der Freiheit darf er ausüben. Aber wo lebte der Minister, der auch nur die Empfindung für das

31 Vordenker des Tierschutzgedankens waren in Deutschland ab 1838 u.a. Pietisten. 32 Georg von Vollmar (1850-1922), adliger Sozialdemokrat der ersten Stunde. 33 In Ludwig van Beethovens Oper »Fidelio« wird Florestan zu Unrecht aus politischen Gründen gefangen gehalten. Verkleidet als Mann, unter dem Decknamen Fidelio, befreit seine Frau ihn und weitere Gefangene aus der Kerkerhaft des Tyrannen.

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besäße, um was es sich hier handelt? Das Einzige wäre, daß man sich hinter die Anatomie-Profeßoren stekte; daß Die einen einmütigen Protest an den Kultusminister richteten gegen den unerhörten Zustand der Abmagerung, in dem die Zuchthaus- und Gefängnis-Leichen bei ihnen abgeliefert würden, und der nicht einmal eine ordentliche Präparazion der Muskeln gestatte. x

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Leider, leider ist mit dieser Abmagerung ein großer Übelstand verbunden: die Psiche wird präponderirend, in einer Weise, die gefahrdrohend wird. Was bei der Askese überhaupt, was bei all’ den Hexen und Besenreitern, Som­ nambulen eintrat, die meist durch Armut und Nahrungsmangel herunter­ gekommene Mädchen aus dem Volke waren, das trit auch hier ein: die Psiche wird hell, schlüpfrig, sie gleitet leicht durch, sie wird transzendental, sie wird transluzent; die Widerstände eines gesättigten, konsistenten Gehirns fallen weg. Die Schranken fallen und eine Tätigkeit auf eigene Kosten begint. So rächt sich, was die Gesamtheit an den Einzelnen verbricht. Die Gesamtheit ist dafür verantwortlich, wenn der Einzelne, wenn ganze Volks-Klaßen dem Verhungern nahe komt. Und der Einzelne, oder eine arme Visionäre rächt sich, indem sie die Gesamtheit psichisch vergiftet und geträumten Sabat-Spuk für reale Tatsachen ausgibt.34 x

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Strafvollstrekungs-Gefängnis heißt man im offiziellen Jargon unsere Anstal­ ten. Der Staat hat keine Ahnung, was er damit sagt: Strafe voll Strekung: die Strafe voll streken: der Ausdruk komt aus der Zeit der Tortur und der kör­ perlichen Strafen: der Richter befahl: die ausgesprochene Strafe am Körper ganz streken, d. h. den Körper ad maximum streken, bis Sehnen und Bänder krachen. Heute wird nicht mehr der Körper gestrekt. sondern die Seele wird gestrekt, bis sie kracht, d. h. bis verblödet oder vermatscht ist. Die Folge war unausbleiblich, nachdem es für schimpflich galt, Körper schmerzlich zu be­ rühren. Weil die Seele nicht direkt schreit sondern langsam, wie der Frosch, den man im Glas hält, sich mit einer grünen Haut überzieht, und schließlich verstumt, hielt man dies für vornehm. Aber ich fürchte, die Menschheit hat einen schlechten Tausch gemacht. Und die Durchstechung der Seele ist ein schlimmeres Ereignis als die Daumenschrauben und Rutenstreiche. - Nach

34 Im Manuskript fehlen die S. 58-60.

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dem Gesez der Retaljazion35 muß den Täter dasselbe treffen, was er verübt hat. Wer den Andern ersticht, soll wieder ermordet werden. Obwohl dies psichologisch ganz falsch, hat es doch einen gewißen Grad von Vernünftig­ keit für sich. Daß man Jemanden, der ein kriminelles Buch schreibt, wozu er ein halbes Jahr braucht, ein halbes Jahr lang einen Schmerz erleiden läßt, hat ebenfalls ein großes Mas von Vernünftigkeit für sich, weil hier Zeit gegen Zeit steht. Aber, daß man Jemand, der einen Andern im Affekt ersticht, le­ benslänglich Schmerz erleiden läßt, das ist absolut pervers. Und gerade das ist die Glorie unserer heutigen Strafrechtspflege. Für die Meditazion und See­ lentätigkeit einer Sekunde Jemandes Seele 60 bis 70 Jahre, bis zu seinem Tote, einen dumpfen Scherz erleben laßen und ihm die Hoffnung, das einzige agens der gekränkten und zerschmetterten Seele, auslöschen, ist eine so furchtbare Handlung, daß alle Torturen und Hexenverbrennungen, Flechtungen und Öl-Siedungen, die doch über eine halbe Stunde kaum hinausgehen, dagegen verschwinden. - Ich rede hier nicht von der Staatsraison und den Forderun­ gen einer einheitlichen Strafrechtspflege; sondern ich rede von der Anwen­ dung eines Vernunftprinzips. - Das Umsezen in geistige Werte, die brutale Handlung in so und soviel Jahre Seelenverbitterung umrechnen, ist in obi­ gem Fall, wo Todesstrafe in lebenslängliches Zuchthaus umgewandelt wird, auf die höchste Spize getrieben. Seelenmishandlung von einem Monat oder einem Jahr wird Einheitsmas und Alles, was vorkomt dahin umgerechnet. Dieses Umsezen in geistige Werte, von materiellen Handlungen in ein geis­ tiges Aequivalent, ist eigentlich ein altes, katolisches Prinzip. Hundert oder fünfhundert Geißelhiebe waren gleich so und so viel Jahre Fegfeuerpein; und Herunterschnurren der sämtlichen Psalmen brachte so und soviel Erlösung von Jenseits-Qualen; mit obligatem Geißelschlag aber mehr; und mit einem stachlichen Panzer am Leib noch mehr. Je mehr materielle Schmerzen hier, je mehr geistige Freuden dort. Die Leute brachten 1000ende von gewonnenen Fegfeuer-Jahren zusammen. Und der gute, Dominikus Loricatus36 aus dem llte" Jhrh. könte davon erzählen. Dann kam Luther und sagte: Willst Du die Seligkeit, etwas Geistiges, erlangen, mußt Du etwas Geistiges tun: Glauben. Die Werke sind nichts nüze. Das neue Prinzip schlug wie ein Funken durch die Welt. Und hundert Jahre später lehrte Descartes37: Das Reich der Geis­ ter, des Gedachten, und das Reich des Materiellen, des Ausgedachten haben überhaupt Nichts miteinander zu tun: sie sind auf ewig getrennt. - Vom Vernunftstandpunkt aus muß also das Prinzip, für eine Augenblickshand­ 35 Vergeltung. 36 San Domenico Loricato (995-1060), italienischer Mönch. 37 Rene Descartes (1596-1650), französischer Gelehrter und Philosoph.

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lung das geistige Leiden eines ganzen38 Lebens als Buße tragen zu laßen, ein furchtbares genant werden. Es ist vom Standpunkt des Naturrechts aus wie für jede einfache Überlegung geradezu sinnlos, bornirt. Und es repräsentirt in der Tat nichts Anderes, als eine abstrakte, juristische Buchstabenüberle ­ gung, die sich von der Natur und ihrer Betrachtung grundsäzlich abgewant hat. - Als zweiter Einwand gegen die unmäßigen über fünf39 Jahre hinaus­ gehenden Zuchthausstrafen erweist sich die Tatsache der Veränderung der Psiche, worauf ich schon zu sprechen gekommen bin. Die Seele eines jugend­ lichen Gefangenen verändert sich schon nach Monaten, geschweige nach Jahren, geschweige nach Jahrzehnten. Wie kann man einen Menschen, der mit 20 Jahren einen Mord begangen und 15 Jahre Zuchthaus erhalten, mit 35 Jahren noch für eine so vergangene Tat verantwortlich machen? Schon nach 5 Jahren ist er ein ganz Anderer geworden. Einen jungen Menschen von 20 Jahren aber für eine Augenbliksleistung - prämeditirter Mord - eine Mortifikazion von etwa 60 Jahren, - lebenslängliche Zuchthausstrafe - auf­ zuerlegen, ist ein so furchtbarer Gedanke, daß man zum Heil der Mensch­ heit sagen kann, daß es überhaupt nicht das Resultat eines Gedankens ist, sondern die Anwendung eines rein mechanischen Zuchthausbegriffs; oder es stamt aus einer Zeit, in der man glaubte, das Leben begänne überhaupt erst nach dem Tote. Ich bin wohl kein Jurist? - Nein! Hier liegt ja eben der Vorteil.40 x

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Wieder war ich in der Kirche; und wieder erfreute ich mich an den alten Gesangbuchliedern. Die Religion hat immer die Kunst gepachtet und dann, wenn’s gut ging, sich den Erfolg zugeschrieben. Das taten die Päpste und meinten dann in ihrem alleinseligmachenden Eifer, ohne ihre Religion gäbe es gar keine Kunst. Aber die Kunst verdankt, wie jede menschliche Tätig­ keit, in lezter Linje einer viel tieferen Wurzel ihre Entstehung. Die Liebe und die Liebessehnsucht ist es, wie schon die Tierwelt zeigt, die zuerst die Brust bläht und endlich den Schnabel zu einem Lob- oder Bitt-Lied oder -Gebet öffnen läßt. Freilich wenn man solche schlesischen Nachtigallen zur Verfügung hat, wie der Protestantismus im 17. Jahrhundert, dann rutschen die Kehlen:

38 Im Manuskript: »ganzes«. 39 Im Manuskript korrigierte Oskar Panizza »zehn« zu »fünf« Jahre. 40 Im Manuskript fehlen die S. 64 und 65.

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O daß ich tausend Zungen hätte und einen tausendfachen Mund! so stimte ich damit um41 die Wette von allertiefstem Herzensgrund....... Sind es nicht Knaben und Mädchen, die auf der Wiese singen:

O daß doch meine Stimme schallte bis dahin, wo die Sonne steht! O daß mein Blut mit Jauchzen wallte, so lang es noch im Laufe geht! Ach wär’ ein jeder Puls ein Dank, und jeder Odem ein Gesang! Ein ganz verzükter Mensch komt auf solche Gedanken:

Ihr grünen Blätter in den Wäldern, bewegt und regt euch doch mit mir. Ihr schwanken Gräslein in den Feldern, ihr Blumen laßt doch eure Zier zu Gottes Ruhm belebet sein und stimmet lieblich mit mir ein. Ach Alles, alles, was ein Leben und einen Odem in sich hat, soll sich mir zum Gehilfen geben; denn mein Vermögen ist zu matt, die großen Wunder zu erhöhn, die allenthalben um mich stehn. Alles komt drin vor, die deutsche Kinderstube, das Schluchzen der Kleinen, die Züchtigung, dass um Verzeihung-Bitten:

Ich habe es ja mein Lebetage schon so manch liebes Mal gespürt, daß Du mich unter vieler Plage Getreu durch alles hast geführt. Denn in der größesten Gefahr Ward ich dein Trostlicht stets gewahr. 41 Im Manuskript: »in«.

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Vor andern küß’ ich deine Rute, die du mir aufgebunden hast. Wie viel tut sie mir doch zu Gute, und ist mir eine sanfte Last. Sie macht mich fromm und zeigt dabei, daß ich von Deinem Liebsten sei. Auch Zellwände im Gefängnis illuminiren sich, wenn die kleine Orgel Fol­ gendes vom Manual löst:

Wie solt’ ich nun nicht voller Freuden in Deinem steten Lobe stehn? Wie wolt’ ich auch im tiefsten Leiden nicht triumfirend einhergehn? Und fiele auch der Himmel ein, so will ich doch nicht traurig sein.

Ja, wenn Ihr Sachs, Dürer, »die wittenbergisch Nachtigall« und die beiden Schlesischen Schulen zu Eurer Verfügung habt, dann könt Ihr freilich Reli­ gion machen! x

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Das konnte ich nicht gleich beschreiben, wie ich zum erstenmal hinunter in den Spazierhof kam, und dort in einem engen, eingepferchten Raum - auf der einen Seite das Zellengebäude auf der andern eine hohe Pallisadenwand - mit einer Herde eingefangener Gorillas, denen man Leinenkitteln angezogen hatte, rundum herum im Kreise Tripp-trapp Karusell laufen solte. Man war mit mir gnädig und gestattete mir, statt der Karusell-Bahn einen Radius zu begehen. Auf und ab: hin und wider. Troz meines sonst sehr gewekten antropologischen Intereßes konte ich es wochenlang nicht über’s Herz bringen, diese Visaschen auf ihre wißenschaftlichen Indices zu prüfen. Nur auf die Schatten wagte ich zunächst meine Neugier zu richten, die mich hier umgaukelten

»Rundum herum im Kreise, Die tanzten einen Kettentanz Und heulten diese Weise: Geduld, Geduld, wenn’s Herz auch bricht, Mit Gott im Himmel hadre nicht....!«

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Da war ein Preuße. Ein schlanker, hochgewachsener Bursch, mit schöner Stir­ ne. Der einzig anständige Mensch. Alles Übrige kurzköpfiges, heimtükisches, keltisches Gesindel, ohne Wagemut auf der Stirne, mit kleinen hinterlistigen Äuglein, den Kopf eingezogen zwischen den Schultern, riesenmäßigen baju­ warischen Bukel, ein Igelgeschlecht, wo das Köpfchen, gerade noch, an einem Ende erscheint, Hamster, die im Drek wühlen, Erdenwürmer, die nichts mit dem Himmel zu tun haben, unfähig der Resignazion, unfähig der Spekulazion. - Alles ist rasirt. Alle Herzensfalten treten hier deutlich zu Tage. Alles ist geschoren. Die Intelligenzen kommen hier zum Vorschein. Alles trägt den gleichen Drilich-Anzug. Es ist wie am jüngsten Tage. Jeder komt mit seinen paar Knochen und seinem Sterbehemd - und die guten und bösen Taten, das Schuldbuch, das Buch des Lebens liegt oben beim Herrn Direktor im ersten Stok. Der hat 3 Monate Fegfeuer, der 6 Monate, jener 1 Jahr, ein anderer 1 Jahr 6 Monat, und wieder ein anderer gar 10 Jahre. Und keine Maria hilft. Kein Ro­ senkranz, kein Weihwaßer, keine Lichter, keine Seelenmeßen. Diejenigen, die Bärte tragen, sind schon erlöst, oder werden demnächst erlöst. Geheime Zei­ chen werden ausgetauscht, es wird geschnalzt, gepfiffen, grimaßirt, gekrazt und gespukt. Es ist die Gorillasprache. Und alles dreht sich um eine läppische, dumm-keifige Art, den Aufseher zu ärgern, oder um eine Prise Tabak. So schnalzt und pfaucht dieser Kreis der Verdammten um mich her. Gott! Was ist denn das? - Was ist denn das für ein Schatten mit dem krum­ men Bein da? - Diese verzwikte Siluette? - Gott, das bist ja Du! - Du bist ja auch ein Gorilla. Im Leinenkittel. Und sieh nur, wie die Andern herüber­ fletschen. Die haben dich längst erkant! - Um Gottes Willen ruhig! Ruhig! Wir sind hier auf der zoologischen Stazion. Es ist hier eine Art Urzustand der Menschheit. - Und der dort mit seinen gewichsten Stiefeln und enganliegen­ den Beinkleidern und dem Uniformrok? - Ruhig! Ruhig! Das ist Adam. Wir sind hier im Paradies. Er zählt gerade die Tiere und gibt ihnen Namen. Wir sind nach dem Sündenfall. Und man trägt Kleider aus Bast. x

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Dies ist hier eine Kaste sui generis. Ein Maulwurfs- und Ratten-Geschlecht, welches den Boden der Gesellschaft unterminirt, Löcher gräbt, alle Wurzeln des Gedeihens abfrißt, jeder Kultur widerstrebt, jeden Bildungsstand ver­ neint, von dem Wert des Gesezes nichts weiß und nichts wißen will, sich im Geheimen die Hände drükt und kabalistische Zeichen und Gesten macht, eine verschworene Gesellschaft, die nicht nach Politik, Landesfarben oder Sprache, sondern von Gefängnis zu Gefängnis, von Zuchthaus zu Zuchthaus, von Strafanstalt zu Strafanstalt rechnet und spekulirt. - Lese ich die verschie­

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denen Definizionen der Sozialdemokraten, wie sie in konservativen Blättern jezt gerade erscheinen, so muß ich sagen: hier, hier in Amberg, und in andern Detenzionsanstalten42, da leben Eure Sozialdemokraten, wie Ihr sie Euch denkt, das sind die Umstürzler, das sind die Feinde von Gesez und Ordnung, von denen Ihr immer sprecht, die nie zu versöhnenden Feinde jeder Kultur. Nehme ich dagegen die Partei-Sozialdemokraten, die politisch organisirten Arbeiter, wie wir sie in ihren öffentlichen Versammlungen sehen, so komme ich unweigerlich zu dem Schluß, daß eben sie, die leztgenanten, den hiesigen Menschen gegenüber, mit denen sie doch vielfach den gleichen Ständen ange­ hören, ein enormes Bildungselement repräsentiren. Gerade unsere Partei-Leu­ te mit ihrer kühnen43 Gedankenarbeit in hellem Tageslicht, mit ihrer Zucht, mit ihrer oratorischen Erziehung, mit ihren Lehr-Kursen und Bildungsver­ breitung, mit ihren Büchern und Preßen, mit ihren Entbehrungen und ihrem Eintreten für Ideale, die die heutige Generazion nicht mehr erreichen wird, mit ihrer Sparsamkeit und Unterstüzungskaßen, mit ihren Entscheidungen in den lezten und höchsten Fragen in Kunst, Filosofie und Literatur und - nicht zulezt - mit ihrem strikten Lobgesang der Geseze, besonders der Geseze, die die Kultur, die die Gesellschaft garantiren - gerade sie, gerade die Hundert­ tausende von Angehörigen der niederen Stände, die diese enorme Zucht haben über sich ergehen laßen, sie sind die Erhalter, und die Leute, die ich hier um mich44 sehe, das sind die bildungslosen, bildungsunfähigen Umstürzler.45 Darf man Menschen mit Ratten vergleichen, so darf man auch der lezteren Züge, Wanderungen und Kampf als Vergleichsmittel herbeiziehen. Es heißt, daß unsere braune, stumpfnäsige, kleine und dike Ratte, die sich im Lauf des Jahrhunderts in ganz Europa festgesezt, seit etwa zwei Jahrzehnten von einer grauen, langen, spiznäsigen, gewaltigen Ratte verdrängt werde, die aus Rußland komme, und die, nachdem sie ihr schwerstes Hindernis, die Wolga überschwommen, auf ihrem Zug nach Westen einen scharfzahnigen Vertil­ gungskampf gegen ihre braune Kollegin führe. - Ich sage: Laßt die neue rußische Ratte auf dieses mir hier entgegentretende umstürzlerische Geschlecht los, auf diese faule, bequeme, braune Menschenratte, die nur vom Diebstahl lebt und, als ihre höchste Leistung, die Europäischen Fettstücke ausgefreßen hat. Laßt dieses neue, magere, intelligente Geschöpf auf den diken Wanst treffen. Die Zwei werden sich aussprechen. Sie sprechen, der gleichen Schicht

42 Anstalten, in denen vermeintliche Übeltäter der Gesellschaft entzogen werden, diese somit vor ihnen bewahrt wird. 43 Im Manuskript: »kühner«. 44 Im Manuskript: »mir«. 45 Ab hier wohl von fremder Hand gestrichen.

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angehörend, die gleiche Sprache. Die braune Ratte kann dabei nur gewinnen. Und Eure Gefängniße werden leer! - Statt immer die rußische Ratte Nihilis­ tin zu schimpfen, sie zu bekriegen und sie ausrotten zu wollen. Sie, von deren Vermehrungsfähigkeit, scharfen Zähnen und Intelligenz Ihr keine Ahnung habt, und die, nachdem sie den Wolgafluß des Vorurteils und der bittersten Not überschwommen hat, keine Rüksichten mehr kent.46 x

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Die Stimmung der hiesigen Gefangenen und ihr Verkehr mit dem Direktor und den Beamten war mir lange Zeit ein Rätsel. Die meisten, wenigstens die den Bauernkreisen entstammenden, Häftlinge betrachten ihren Aufenthalt keineswegs als Sühne, würden eine moralische Erörterung im Hinblik auf Schuld und Sühne gar nicht verstehen, sie sehen ihren Aufenthalt lediglich als ein zufälliges Unglük an in einer Sache, in der das gesamte Volk (der Bauern) auf ihrer Seite steht. Daher ihr teils humoristischer, teils höhnischer Verkehr mit dem Direktor, den sie duzen, und dem einen Schabernak anzu­ tun ihre höchste Freude ist. Man sieht hier das Grundelement des Volkes, der ganzen Nazion, die großen Instinkte, die berechtigte Selbstsucht, die berech­ tigte Selbstverteidigung u.drgl., was Alles in Jedem, auch dem Gebildetsten lebt, zum Ausdruk kommen. Die Freude über einen gelungenen Anschlag, an einer brutalen Handlung u.drgl. Selbst die Aufseher, die denselben ländlichen Kreisen entstammen, können sich Dem nicht entschlagen, und simpatisiren bei Erzählung der Gaunerstüke mit ihren Gefangenen. Ja selbst die Beam­ ten, und besonders der Direktor muß, wenn er nicht den ganzen Tag mit Korzionsmitteln47 vorgehen will, was auf die Dauer ganz unhaltbar wäre, auf diese heiter-gestirnte Lebensauffaßung der Sträflinge eingehen, deren un­ sichtbarer Untergrund die Zufälligkeit aller Geschehniße im Leben ist, und die jenen eigentümlichen Diskurs und Verkehr erzeugt, der dem Neuling ganz unerklärbar ist. - Ein Mensch, wie ich, gilt hier als Kopfhänger, als Einer, der einen Sparren hat, als »Profeßor«. Die Aufseher können nicht den Ton finden, mit mir zu reden. Und auch den Beamten bin ich ungelegen, weil sie einen neuen Modus des Verkehrs erfinden müßten. x

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46 Merkwürdige Prophetie Panizzas zur Verbreitung revolutionärer Gedanken aus dem Zarenreich. 47 Möglicherweise Anspielung auf Kortin, den Überbegriff für Nebennierenrindenhor­ mone; hier wohl: aggressionsdämpfende Mittel.

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Ein Trupp Soldaten zieht draußen vorbei. Der ganze Zellenbau fängt leise zu zittern an und von draußen erschalt ein heiteres, lebensfreudiges, festgefüg­ tes Soldatenlied. Ein hübsches Intermezzo. - Der Aufseher komt herein und untersucht meine Stimmung. Wie es mir gefallen habe? Ich lobe es, und er, jezt ganz Soldat, ganz in Erinnerung an jene Zeiten, da er selbst da draußen vorbei gezogen (er ist hier in Garnison gestanden), erzählt weiter, daß es eine langjährige Übung sei, beim Vorbeimarsch vor dem Gefängnis kräftig mit Gesang einzusezen: »wenn wir an’s Gefängnis kommen sin, da hat’s immer g’heißen: jezt fest singen!« - Warum? - Er zukt mit den Achseln. Er weiß es nicht. - Er weiß es sehr wol. Er kann aber dem Gedanken nicht Ausdruk geben. Die Leute, die da draußen vorbeiziehen, Leute aus dem Volk, aus dem Bauernstand, meist arme Teufel, wißen sehr wol, daß es Ihresgleichen, ihr Stand ist, der hier gefangen sizt. Sie haben das sichere Empfinden dafür, daß sie nicht die Herren im Lande sind, sondern die Unterdrükten, daß sie nicht die Geseze machen, sondern daß selbe auf sie angewendet werden. Sie haben ein tief-innerliches Paria-Gefühl, und wißen sehr genau, daß sie, sie mögen anfangen, was sie wollen, als Besizlose in den Maschen der gegen sie ge­ schmiedeten Geseze hängen bleiben müßen. Und deshalb haben sie Simpatie mit den Eingeschloßenen. Und deshalb singen sie. x

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Der Protestantismus kann die revoluzjonäre Grundlage, aus der er sich entwikelt, auch in seinen Kirchenliedern nicht verbergen. Wo, in welcher Religi­ on, in welchem Lande, kann man solche Heerrufe hören, wie im Luthertum:

»Auf, Christenmensch! auf, auf zum Streit! Auf, auf zum Überwinden! In dieser Welt, in dieser Zeit Ist keine Ruh zu finden. Wer nicht will streiten, trägt die Kron Des ewgen Lebens nicht davon. Hier ist kein Quietismus, keine Beschaulichkeit. Obwohl den Dichter (Joh. Scheffler 1624-1677) ein ganzes Jahrhundert von der eigentlichen Refomazionsperiode trent, hört man doch noch die heftigen Kampfesrufe, mit denen sich Deutschland unter dem gesteigerten Intereße der umwohnenden Nazionen der blutigen, blutaussaugenden geistigen Umklammerung des Wälschtums im Denken und Fühlen zu erwehren sucht. Zwar wird immer der Teufel genant, die Hölle, der Antichrist. Aber das Volk verstand längst

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dieses quidproquo. Der Teufel das war der rasirte Kardinal in Rom. Wie mögen zu den Weihrauchschwaden und kastrirten Gesängen in der Sixtina die trampelmarsch-artigen Kriegsrufe der Deutschen geklungen haben, als sie im sacco di Roma unter Frundsberg 1527 in Rom eingezogen?!4849

»Gedenke, daß Du zu der Fahn Dieses Feldherrn hast geschworen; denk ferner, daß Du als ein Mann Zum Streit bist auserkoren; Ja denke, daß ohne Streit und Sieg Nie Keiner zum Triumpf aufstieg.

Und wie eine transparente Erscheinung, wie ein christliches Walhalla wird der überirdische Lohn verkündet: »Wer überwindet, der soll dort In weißen Kleidern gehen; sein guter Name soll sofort im Buch des Lebens stehen........ Wie Berserker singen diese Leinenkittelgesellen, die Gefangenen, mit einer Wut, als wären sie bei La Rochelle4’ dabei gewesen. Eine mächtige Melodie unterstüzt den koloßalen Trampelmarsch. Zwar krazt es vielfach in den mit Brennsuppe angebrözelten Kehlen. Aber die Festigkeit des Bauernorgans, und der Anblik dieser Gestalten, dieser unter Drilich infamirten Menschen­ leiber, überwältigt Alles, läßt Alles dröhnen und erzittern. Und plözlich, scheint mir, sehe ich durch diese bajuwarisch-keltischen Schädel das glühende sozialdemokratische Hirn liegen. Und brausend stürzt es heraus, wie zur Zeit des Bauernkriegs. Und Mistgabeln und Dreschflegel hochgeschwungen. Nicht an’s Luthertum, an die Gegenwart denken sie, in­ dem sie das protestirende Lied des Protestantismus singen:

48 Georg von Frundsberg (1473-1528), schwäbischer Söldner und gewaltbereiter Lands­ knechtsführer, vor allem in Diensten Kaiser Karls V. Statt Lohn stellte er seinen Leuten die Plünderung Roms und des Vatikans in Aussicht. Beim Sacco di Roma entlud sich 1527 die ganze Wut der zunächst um ihren Sold geprellten Kriegsknechte aus deutschen Landen, Spanien und Italien. Im Namen des Herrn und Kaiser Karls V. wüteten sie am Tiber. 49 Ein lange Zeit hart umkämpftes Zentrum des französischen Protestantismus.

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»So streit denn wohl, streit kek und kühn, daß Du mögst überwinden; streng an die Kräfte, Mut und Sinn, daß Du dies Gut mögst finden. Wer nicht will streiten um die Kron Bleibt ewiglich in Spott und Hohn.« x

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Ein Traumbild. Ein Zug brauner, abgehärmter Gestalten. Lauter Männer. Sie schwanken Alle mit dem Oberkörper etwas hin und her, und die Tritte geben den dump­ fen Klang des Marschritmus. Sie waren wohl Alle ehemals beim Militär. Doch fehlt die Festigkeit des Auftretens; eine Heimlichkeit des Sich-Fürchtens schleicht durch ihre Glieder und die scheue Angst des Fliehenden liegt auf ihren Gesichtern. Nur wenig Gepäk hat der Eine und der Andere. Im Schnupftuch Eingebundenes oder ein paar vollgepfropfte Taschen. Alle muß­ ten so, wie sie gingen, plözlich von der Lawa des ausbrechenden Schrekens und dem Wahnsinn der Verfolgungssucht ereilt worden sein. In der Ferne sieht man einen Schlagbaum, der weit geöffnet, und die diken Balken der Grenzpfähle werden im Nebel sichtbar. Ein Rotes Kreuz in weißem Feld. Es ist Morgendämmerung. Die feuchten Schwaden eines großen Binnen-Waßers dringen herüber, und saugen an den abgehärmten, ausgehungerten Ge­ stalten. Sie scheinen die ganze Nacht gegangen zu sein und Dumpfheit und Gleichgültigkeit über ihr Geschik liegt auf den gesenkten Mienen. Andere tragen die Hände in den Hosentaschen und fahren sich von Zeit zu Zeit mit dem rozigen Ärmel über die vor Dampf und Kälte triefende Nase. - »Ihr seid wohl Verbrecher? - Oder habt Ihr gemeutert? - Oder wolt Ihr in Amerika Euer Glük versuchen? - Oder seid Ihr verunglükt, vom Kohlendampf halb Erstikte, oder von schlagenden Wettern Verbräme und Gelähmte? - Seid Ihr Deutsche? - Offenbar! - Es sind das immer dieselben Züge an’s Ausland verkaufter Landeskinder oder von Emißären Angeworbener oder sonst in’s Unglük Hinausgestoßener. - Oder habt Ihr einen Mord auf dem Gewißen, Euren Fabrikherrn erschlagen, die Familie gemezelt und Alles zerstört und geplündert?.......... « - » »Nein, riefen sie mit jenem grauen Gesicht der morituri, wir haben Majestäts-Beleidigung begangen, einige Worte gesammelt, daß es uns so schlecht gehe, und fliehen jezt in die Schweiz!« « - Ganze Schwärme kamen jezt. Am Horizont wurde es ganz schwarz. - Um Gottes­ willen! - rief ich - haltet ein, Ihr entleert ja ganz Deutschland! - » »Nein« «,

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riefen sie, mit drohenden Mienen und erhoben die Fäuste. Heuschreken! Dik kam es jezt, und vor Schreken erwachte ich. - Die Bettdeke war mir ganz über den Kopf gefallen. -50 »Der Herr sächne Eich und behiete Eich, der Herr laße leichten sein Ange­ sicht über Eich und sei Eich gnädich, der Herr erhebe sein Angesicht auf Eich und gebe Eich seinen Frieden, Amen!« Das ist Amberger Deutsch. Das heißt: es ist pastorales Fränkisch. Es ist der Schlußsegen in der protestantischen Kirche, wie ihn unser Pfarrer spricht. Das Fränkische dringt an dieser Grenze zwischen Oberfranken und Ober­ pfalz vor, wie überhaupt alle nordischen Dialekte, auch der norddeutsche, weil sie schneidiger, ausdruksvoller, energischer und kräftiger sind, das süd­ liche, bairische Gemansch überschnattern und dem Gedanken einen adäqua­ ten, sicheren Ausdruk schaffen. Dagegen dringt die Grenze des Gefühlslebens nach Oben vor, weil es der wertvollere psichische Faktor gegen den Norden ist, daher auch das Lauschen der Nordländer auf den süddeutschen Stimmen­ fall, auf das Melodiöse und den Sing-Sang, wenn das Gemüt zu Wort komt. Der bairische Vierzeiler mit dem Ziterschlag ist heute ein mächtiger Faktor zur Gefühls-Reformazjon des Nordens. Kunstwerke, die vorwiegend auf Anschauung, auf Empfindung beruhen, solten niemals im Norden, nie in Berlin, verlegt werden, weil sie dort zernüchtert werden, notgedrungen zu Grunde gehen. Sie müßten immer in einem Lande des Sing-Sangs, wo das Volk und der Dialekt siegt, in Schwaben oder Sachsen, verlegt werden; nie nördlicher wie Leipzig.51 x

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Meine Zelle ist klein. Aber immer noch ein halb mal größer als die Zelle Savonarola’s im Kloster San Marco zu Florenz. Sie, die Asketen, wußten genau, was sie wolten, und was sie in der Seele aufwekten, als sie den Minoriten und Trappisten Schweigen, Hunger und Einsamkeit befahlen. Sie wußten, daß die spiritualistische Kraft wächst, wächst bis zur Vision, bis zur Halluzinazion, bis zur Bevölkerung des Himmels, mit Glorien und Engelschören. Wie sie’s nanten und wem sie’s schrieben, das ist heut’ einerlei. Wir wollen heute nicht den Himmel sondern die Psiche untersuchen; seitdem wir wißen, daß die Psiche das Alles »machen« kann. - Alles ist auf die modernen Klosterbrüder, die Isolir-Gefangenen, übergegangen. Schweigen, Hungern und Alleinsein. Und, 50 Im Manuskript fehlen die S. 77-84. 51 Im Manuskript fehlen die S. 86-92.

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merkwürdig, in denselben Zellen52, in denen jene halluzinirten, spintisiren diese. Nur waren Jene die Gebildetsten ihrer Zeit, diese sind die Flegel ihrer Zeit. Jene waren die geistige creme der Gesellschaft, diese sind der Abschaum der Gesellschaft. Jener Gedanken waren auf das Ewige gerichtet. Dieser Ge­ danken - sind säkularisirt.53 x

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Heute kam ein Männchen zu mir von zarter Konstituzion, eingedrüktem Brustkasten, sorgfältig geglättete Kammgarn-Figur mit schwarzer Krawatte und lispelnder Stimme. Er sprach von »Ideen«. - Von was für Ideen reden Sie? - frug ich. Er machte ein tief trauriges Gesicht. In seinen Falten lag diker Diaristenstaub54 - und er fuhr fort: Ich rede von den »Ideen«; verschließen Sie Ihre »Ideen« in Ihrer Brust! - Ich blikte mir den Mann genauer an. Seine eigene Brust war so eingesunken, daß da gar keine Ideen Plaz gehabt hätten. Und es kam mir plözlich so verwunderlich vor, daß gerade er von »Ideen« spräche. - Wie kommen gerade Sie auf »Ideen« zu sprechen - frug ich - und von dem Verschließen in der Brust, nachdem Sie - verzeihen Sie! - wie es scheint, weder das Eine noch das Andere haben? - »Ach Gott - sagte er - die Zeiten, sehen Sie denn nicht, daß sie nicht geeignet sind. Sie haben so viel Talent! - Tiefe Sorgenfalten bildeten sich auf seiner Stirne und das Kolorit seines Gesichts lag zwischen Mörtelfarbe und Mergelschleim. Ich leide, wie der Leser weiß, an visionären Zuständen, und der Gedanke kam mir - wie es uns in Träumen oft komt - der Mann könne nicht echt sein; wiewohl die Krawatte gut nachgebildet war. Aber unser Direktor stand mit seinem humo­ ristischen Gesicht neben uns und lächelte in sich hinein, als wolte er sagen: Jezt will ich sehen, wie Die Zwei miteinander fertig werden. - Von was für «Ideen» reden Sie? - frug ich auf’s Neue mein Vis-ä-Vis. - »Ach Gott! - sagte er - ich rede von den Ideen im Allgemeinen und von den Ihren im Speziel­ len!« - Ich wurde wieder psichologisch, und sagte mir: das ist die personifzirte Angst unseres Jahrhunderts! Der Mann ist nicht echt! Der komt aus meinem Unterbewußtsein - und will mit mir Karten spielen. Ich lächelte ihn mit meinem süßesten Lächeln an, um ihn perplex zu machen - Seine Angst steigerte sich noch mehr. Er riß die Augen auf, nahm die ganze Kraft seiner schwindsüchtigen Stimme zusammen und rief: »Hüten Sie sich vor »Ideen«.

52 Fußnote Panizzas: »Die hiesige Gefangenenanstalt ist, wie an vielen anderen Orten, ein früheres Kloster.« 53 Im Manuskript fehlen die S. 94-110. 54 Gemeint wohl: Diaristen im Sinne von Tagebuchschreibern.

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Ich bin Ober-Regierungsrat!.......« - In diesem Moment wurde mir klar, daß der Mann doch echt sei. - Oberregierungsrat sind Sie? - entgegnete ich - wie kommen Sie denn dann dazu, von Ideen zu reden? — Unser Direktor warf mir einen Blik zu, als wolte er sagen: So hätten Sie nicht spielen sollen! Da­ herein dürfen Sie nicht mit der As auf den Zehner schinden. Unser Männchen mit der schwarzen Krawatte aber machte Rechtsum und spazirte fort mit der Sicherheit eines Bleisoldaten. Der Direktor folgte. Später kam der Aufseher. - Was war das für ein Mann? - frug ich — »Das war der Gefängnis-Referent, Herr Oberregierungsrat - ich habe den Namen vergessen - er hat sich sehr lobend über Sie geäußert!« x

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Ein Traum gerade vor dem Einschlafen. Eine gedekte Szene wie auf einer Dorfbühne mit schlechten Öllampen und rohem Bretterverschlag. Eben war der lezte Violinton einer krazigen Uvertüre verklungen. Leises Getuschel im Parket, wo auf rohen Holzbänken mit Tapetenmuster beklebt die Honorazioren saßen. Der Bürgermeister in der Mitte mit einem schief abstehenden Müzenschild, einem Geisbart unter dem Kinn und einer Pfeife im Maul. Auf der Bühne saßen drei Puppen wie sie die Bauchredner gebrauchen, eine mit einem diken Bauch und einer Krone am Kopf, eine mit einem busenlosen blauen Kleid und blonden Zöpfen, und das Fingerchen bescheiden am Mundwinkel, und eine Dritte, ein junger sehr trauriger Mensch mit blondem Flaumbart und schmachtendem Augenauf­ schlag. - Ein Saltimbankör55 in schwarzen Trikots stürzte heraus und fing entsezlich zu gestikuliren an, so daß man die Zähne sah. Er schien den drei Leuten den Prozeß machen zu wollen. Doch diese rührten sich nicht und taten nicht dergleichen. Aber der schwarze Saltimbankör riß sie an geheimen Bindfäden, so daß sie Kopf und Arme bewegten, um so einen Vorwand zum Angriff zu haben. Dann zog er den Degen und fiel wie wütend die diken, unbeholfenen Puppen an. Ein Stich, und noch ein Stich, und das Sägmehl stürzte wie ein Blutstrom heraus und überflutete die ganze Bühne. Durch fortwährendes Reißen an den Schnüren und Drauflosstechen kam es zu ei­ nem wilden Kampf, in dem die Puppen schließlich unterlagen und der tapfere Fechter natürlich den Sieg gewann. Als die Zu-Tot-Getroffenen mit hinter­ baumelnden Köpfen dalagen und der Schwarze sich mit italjenischer Grazie 55 Frz. »saltimbanque«, ital. »saltimbanco«: Gaukler, Scharlatan, Artist.

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verbeugte, gab es einen immensen Sturm des Beifalls im Publikum, welches sich schon Anfangs an dem Hin-und-Her des aufregenden Kampfes kaum hatte satt sehen können. Indeß kam einer der klügeren Bauern ganz vor an die Rampe und frug den eschofirten Schauspieler auf Fränkisch: »Sage Se mal, was soll denn das Ganze bedeut’?« - » »Es ist der Kampf - antwortete das schwizende Trikot in elegantem Teater-Deutsch - der Kampf des Teufels mit der Drei-Einigkeit« «. - In diesem Augenblik erhob sich der Ortspfarrer mit seinem Stok und alle die Bauern folgten mit ihren Knütteln, stürmten auf die Bühne und schlugen den Saltimbankör, welcher gleichzeitig der einzige Schauspieler und Budenbesizer war, die Knochen entzwei, so daß er für tot liegen blieb. - Dann gingen sie in’s Wirtshaus. - Als es dann ganz dunkel geworden war, da die nur für die Dauer der Vorstellung mit öl versehenen Lampen erloschen, und Niemand mehr sich in dem qualmigen Raum bliken ließ, kam der Schullehrer des Orts mitleidigen Herzens und auf den Fußzehen hereingeschlichen und sagte zu dem am Boden Liegenden, in schmerzhaften Krämpfen sich Windenden: »Sie hawe ganz gut gespielt, aber Sie hätte’s net »Kampf mit der Drei-Einigkeit< nenne solle; hätte S’es Pluto und Proserpina und Orfeus genannt! S’is ja doch’es selbe Sägmehl.« -56 x

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Worauf eigentlich der psichische Schmerz des Gefängnißes beruht, scheint mir noch nicht eruirt. Ich kann mich nicht erinnern, etwas darüber gelesen zu haben. Silvio Pellico57 gibt nur die äußere Beschreibung seines morosen58 Daseins mit den ewigen, mitleidheischenden Klagen des Gefangenseins über­ haupt. Dostojewskij dringt tief ein die Verhältniße von Menschen und Ge­ genständen (»Memoiren aus einem Totenhaus«). Aber diese Verhältniße um ihn waren doch zu graß, um feinere psichologische Beobachtungen zuzula­ ßen; er hatte es mehr mit Haut-Wunden als mit Seelenwunden zu tun. Und Schubart und Bunyan59 wurden religiös, gläubig. Glüklich, wer das kann. Ich vermag hier Stundenlang, Tagelang über meinen Büchern und Gedanken zu sizen, vermiße nichts, bin in meiner Einsamkeit, wie draußen, glüklich. Aber dann komt ein Moment, wenn ich müde gearbeitet bin, wo ich - atmen will, geistig aufatmen will, Horizonte sehen will, und dann - erstike ich. Und

56 Im Manuskript fehlen die S. 115-133. 57 Silvio Pellico (1789-1854), Rebell aus erzkonservativem, katholischem Hause. 58 Eine Adjektivierung Panizzas aus Moros, in der griechischen Mythologie der Gott des Verhängnisses und Untergangs. 59 Christian Friedrich Daniel Schubart und John Bunyan, Lieblingsrebellen Panizzas.

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dieser Moment ist gräßlich. Dann fallen die Zellwände staubig über meine Seele zusammen. Und erdrüken sie. Ein Stükchen im Gehirn, wenn ich mich so ausdrüken darf, schmilzt und die Funkzion ist erloschen. Das nächste mal wird dieser brennende Durst weniger entzündlich auftreten; es wird nur ein !mäßiges Juken sein. Und hier liegt das Moment der Verblödung. Ein Mensch, bei dem die Sehnsucht gelöscht, gedämpft ist, - nach zehn Jahren etwa - ist etisch und geistig fertig. Ein Zustand, den der Gesezgeber allerdings nicht will, der aber unvermeidlich ist. Und hier ist es, wo der rasende Beifall der Menge einsezt. Ich rede vom politischen, idealen Verbrecher. Geben wir uns darüber keiner Täuschung hin: Was die Menge sehen will, ist - Blut, Zer­ treten des Herzens; den zukenden Muskel. Anderes läßt sie nicht gelten. Das wäre ein unerträglicher Zustand, daß Jemand sich kühn mit seinem Ideen­ gang über alle Geseze und Schranken hinwegsezte und dann heil herumliefe und sich sehen ließe. Er würde bald der tötlichsten Lächerlichkeit verfallen. Statt unsterblich zu werden, würde er sterben während er noch lebt. Ohne Marter kein Savonarola. Ohne Holzstoß kein Hus. Hus reitet von Konstanz mit dem freien Geleite des Kaisers nach Hause: und der Mann ist genau so wichtig wie die übrigen 500 Schreier auf dem Konzil. Das heißt: ein Sandkorn in einem Haufen. Bei Hieronymus von Prag merkt man deutlich den Moment, wo er schwankte, und wo er endlich mit kühnem Griff nach dem Lorber langte. Nur die imminente absolute Totesgefahr oder der drohende schwarze Kerker wie bei Luther und bei Schiller vermögen die Marter selbst zu ersezen. Warum ist Göthe bei aller Genjalität immer in unserer Erinnerung von einem schwabbelnden Dunst fade duftenden Tee-Geruchs eingehült und fehlt ihm die blutige Gloriole, die Schillern um die Schläfe leuchtet? Weil er nie gewagt, nie sein Leben eingesezt. x

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Es ist eine heillose Sugestion, die Einen hier umfängt. Man meint alle Augenblike: wäre ich jezt draußen, ich täte das und das. Und will anfangen zu weinen. - Alles Schwindel und Betrug! Neulich meinte ich: das Weihnachts­ fest wäre hübsch im Hause der Mutter. Aber seit Jahren gehe ich innerlich entfremdet und mit Hohn auf den Lippen zu diesem Fest, deßen gegenseitige Geld-Erpreßungen wir mit heiligerem Eifer zahlen, als die Staats-Steuern. Und nie versäume ich darauf60

60 Hier reißt der Text ab; das vorhandene Manuskript ist bis S. 135 nummeriert.

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Zuchthaus in Amberg, Planskizze

Ein Bischen Gefängnis und ein Bischen Irrenhaus XI 12 Juni61 Ich war heute wieder beim Untersuchungsrichter - und dann war ich beim Polizeikommißär62 - und dann war ich beim Arzt, und beim Gerichtsschrei­ ber, und beim Ordinarjus für gerichtliche Medizin, und bei weis Gott wem noch Allem......... diese Leute sind alle somit äuserlich anständig und honest, 61 1896. 62 »ß« oder »s« - wie Panizza am 13. Juni 1896 notierte, hatte er den Staatsanwalt gebeten, in Haft »ein deutsches Wörterbuch nach neuer Ortografie schreiben zu dürfen«. Die beiden Tagebuchskizzen vom 12. und 13. Juni 1896 dokumentieren vor allem seine Experimente mit »ß« und »s«, die er handschriftlich einander anglich. Um 1901 notiert er: »Ich schreibe Doppel-S, wenn der vorhergehende Vokal kurz ist und einfaches ,s«, wenn der vorhergehende Vokal lang ist. Bei Silben, die sozusa­ gen in der Mitte stehen, wie: auserhalb, los, bös u. dgl., wo also der Vokal vor dem S-Laut, weder ganz lang, noch ganz kurz geschrieben wird, ist es das Einfachste, ein einfaches S. zu schreiben, denn alle Doppelungen kompliziren die Schrift, überladen sie, geben dem Schreiber und dem Sezer unnötige Arbeit. [Tagebuch 66, S. 279f., Monacensia, Literaturarchiv und Bibliothek München, L 1109, 66]. Panizzas Rin­ gen um eine neue »Ortografie« veranlasste bzw. »veranlaste« uns als Herausgeber, Texte dieses Lesebuchs erstmals nach der Originalmanuskripten zu veröffentlichen.

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sogar unverkenbar freundlich - aber ich finde in all’ diesem Verkehr fehlt jene Note der Weltanschauung, jener Timbre, der allein dem Verbrecher gegen­ über angeschlagen werden solte - ich sehe jezt von meinem Fall ganz ab - der allein dem Verbrecher, auch dem schlimsten und rohesten Verbrecher gegen­ über angeschlagen werden solte, und das ist die Note des Naturrechts, die ihm volle Gerechtigkeit widerfahren läst, und ihn doch der Gesellschafts-Justiz ausliefert. Ich habe schon in früheren Blättern dieser Sache darauf hingewie­ sen, wie wichtig der Gedanke sei, einem Frevler der Gesellschaft gegenüber die niedrigste und primitivste Kultur in seiner Zelle demonstrativ zu versam­ meln: rohen Holztisch, harte Britsche, schlechtes See-Tang zum Nachtlager, rohgesponnene Leibwäsche, dünne Deken, schlechte Kost u.s.w., um ihn darauf hinzuweisen, daß die Handlung, die er verübt, in der Gesellschaft nicht geht, sondern ihn in die Raubritterzeit zurükwirft, in die Zeit des Faust­ rechts, der barbarischen Unkultur und der Selbsthilfe, wo man materjell so lebte, wie er jezt lebt. Aber hat man auch die andre Seite beobachtet? Hat man auch beachtet, welche Tatkraft, welches hohe Individualitätsgefühl, welche wilde Entschlosenheit, welcher Mut, welcher Aufwand an List, Verschmiztheit, Verstellung, Berechnung, Scharfsinn, Kaltblütigkeit nötig war, um seine Tat zu verwirklichen? Und hat man beachtet, daß es sich hier um die höchsten menschlichen Tugenden, um die kostbarsten Kräfte handelt, die nicht nur in der entfernten Zeit einer verschollenen Kultur brauchbar waren, sondern die auch noch heute dringend nötig sind, und die zu den höchsten menschlichen Leistungen führen werden, wenn der Täter nur sein Ziel vertrittt. Ich meine also, der Untersuchungsrichter, und selbst der Staatsanwalt in der öffentli­ chen Verhandlung, solte einem solchen Mißetäter gegenüber, wenn nicht ihm direkt sagen, doch in irgend einer Weise ihm zu verstehen geben, was sich etwa in den folgenden Worten zusammenfaßen ließe: Lieber Freund, was Sie hier begangen, zu Ihrem ausschließlichen und eigenen Vorteil begangen, ha­ ben Sie mit einer Entschloßenheit, einem Mut, einer Verwegenheit und Tap­ ferkeit in’s Werk gesezt, die Ihnen die höchste Ehre machen. Nur in der Ge­ sellschafts-Ordnung, in der Sie bisher lebten und in die Sie geboren wurden, gehen dergleichen Angriffe nicht. Sie haben sich nicht gegen das Naturrecht vergangen. Im Gegenteil, das Naturrecht müßte Ihnen die höchste Auszeich­ nung zu Teil werden laßen. Sie haben sich nur an der Gesellschaft vergangen, deren Geschriebenes Recht in direktestem Gegensaz zum ungeschriebenen Naturrecht steht. Die Gesellschaft straft sie, indem sie Sie zwangsweise in einer Detrazjonsanstalt63, in der ungefähr jene primitiven Verhältniße be­ stehen, innerhalb deren Taten, wie Sie sie begangen, ungestraft möglich wä63 Religiös: Schuldübertragung.

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ren, unterbringt. Nichts liegt mir ferner, als Ihnen den leisesten moralischen Makel anheften zu wollen. Die paßive Lekzjon, die Ihnen die Gesellschaft an­ gedeihen läßt, wird nach der Richtung in geeigneter Weise zum Nachdenken anregen. Sie haben Kräfte geübt, die Sie auch vor 100 Jahren zum gefeierten Helden gemacht hätten. Ändern Sie die Zielrichtung, und Sie können heute noch zu einem Woltäter der Menschheit werden u. s. w. - Ein derartiges Aus­ einanderhalten des Naturrechts, der »Freiheit«, die wir Alle umschwärmen, die nie erreichbar ist, die aber als Idee die höchsten Kräfte in uns entfeßelt und des Gesellschafts-Muß, das mit zunehmender Komplizirtheit der Kultur immer strenger wird, die »Freiheit« immer mehr einschränkt, immer mehr Leute wegen Mißbrauchs der »Freiheit« aus der Gesellschaft entfernen muß wird auf der einen Seite der Menge der betroffen Zuschauenden verständ­ licher erscheinen, auf der anderen Seite den Mißetäter mit seinem Geschik leichter aussöhnen, als wenn dieser Leztere ä tout prix fletrirt64 wird, und die Menge dann unwillkürlich den beßeren Teil in der Mißetat, die Übung kühner Kräfte im Gegensaz zu Justiz und Ankläger anstaunt und feiert....... Das Urteil ist dann nicht »Strafe« - bei der relativen Gleichheit der Men­ schen kann nur ein überirdisches Wesen »strafen« - sondern es ist ein Unglük, ein Unausweichliches, ein Fatum - und mit dem Schiksal finden wir uns leich­ ter ab, als mit Menschengeschik, mit von Menschen uns angetanes Geschik. Und dies entspricht ja auch der deterministischen Auffaßung, alter und neuer Zeit, wonach wir »unter einem Stern« geboren sind, wonach unsere Willens­ freiheit nur illusionistisch ist, nur ein Zuschauen Unsererseits zu dem auto­ matisch in uns sich vollziehenden Wechsel. Und in dieser Richtung bewegt sich auch der Gleichmut der Gefangenen, die in dem entsezlichen Ereignis etwas Unabänderliches, etwas Nie-zu-Beheben-Gewesenes, etwas Es-hat-SoSollen-sein sehen, deren Gewißen, wäre die menschliche Natur so beschaffen, daß es rebus sic stantibus65 auch anders hätte gehen können, ja nie zu Ruhe käme. Und leztlich bewegt sich in dieser Richtung des Unvermeidlichen auch die nächste Umgebung der Gefangenen, die Aufsicht, vom Direktor bis zum lezten Büttel, die den Humor zum Durchbruch kommen läßt, was implicite eine Anerkennung der deterministischen Basis ist, auf der die Gefangenen ihre Tat begangen, denn der Humor ist das Lachen dem Immer-und-Stets-Unvermeidlich-Gewesenen gegenüber, wie wir über das Wetter, auch über das schlechteste Wetter, schließlich lachen, weil wir es nicht ändern können......... Alles fegt hier durch die Gänge. Alles schreit und poltert und wirft die Tü­ ren zu in gleicher Weise. Alles bewegt sich hier in gleichen Manieren. Die 64 Um jeden Preis herabsetzen, seiner Würde berauben. 65 Unter gleichbleibenden Bedingungen.

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Aufseher erziehen die Gefangenen. Aber die Gefangenen erziehen noch mehr die Aufseher. Beide Sparten werden zu gleichen Dienstleistungen verwendet. Gefangene kommen schreiend herauf und verlangen in gebieterischem Ton den und den Gefangenen für den Untersuchungsrichter. Er wird ihnen aus­ geliefert. Und beide Gefangenen gehen ab. Der Eine als Büttel, der Andre als Vorgeführter. Aufseher sägen im Hof Holz, klopfen Matrazen, hantiren im Garten, und Gefangene gehen schlendernd vorbei und sehen zu. Nur zur entscheidenden Stunde, und in der Nacht, schließen die Einen zu, die Andern sind die Eingeschloßenen. Aber den Tag über verschwindet das Reglement, verschwindet das Gesez, verschwindet sogar die Subordinazjon. Alles arbeitet mit fast gleichen Kräften. Die Schwachen werden, auf beiden Seiten, geschont. Im Gefängnis-Hof hilft Alles durcheinander, miteinander, nebeneinander, hängt Wäsche auf, ladet Kohlen, sägt Holz, zieht Strike, stekt im Garten, streichelt den Hund, spielt mit den Kindern....... Auf der Mauer schlägt plözlich eine Amsel mit lautem, hellem Ton in die Frühlingsluft - Alles lauscht und steht still - Niemand unterbricht die feierliche Ruhe - das Gesez ist vergeßen Flucht, Beschimpfung, Urteil, Strafe, Alles ist vergeßen - der Unterschied zwi­ schen allen diesen Menschen ist ein so geringfügiger, ein so minimaler, alle Gräueltaten gewährend [?], ein so minuzjöser, verschwindender, daß es Alle hier einen Augenblik vergeßen haben, der Amselruf, dieser Naturlaut, und die Gemeinsamkeit des künstlerischen Genießens, rief in allen diesen Menschen hier einen Augenblik das Naturrecht wach, die »Freiheit« - und das ganze Gesellschaftsrecht schrumpfte plözlich zu einem puren Begriff zusammen. (Fortsezung folgt)

Ein Bischen Gefängnis und ein Bischen Irrenhaus XII 30 Juni66 Wir gehen da im Hof spazieren. Die Sonne scheint warm und behaglich. Der Himmel ist blau. Und man erwägt von Zeit zu Zeit, ob Das nicht auch eine Existenz ist. Ob Das nicht überhaupt eine Existenz ist. So gut wie eine ande­ re. Schriftsteller im Gefängnis. Man bekomt Feder und Papier. Warme Kost. Ein erträgliches Lager. Alle sechs Wochen erscheint der Gerichtsschreiber: Antrag abgelehnt. Antrag angenommen. Neuer Antrag. Hofnunglos u.s.w. Als ob das nicht auch eine Existenz wäre. Mein Gott! Hunderte haben ja 66 1896.

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so gelebt. Und wurden dabei noch berühmt. Der Mönch Gottschalk67 im 9. Jhrh., der den Augustinischen Lehrbegriff der Prädestinazjon in seiner gan­ zen Schroffheit ausbildete, wurde von seinem Metropolitan68 Hinkmar von Reims im Kloster Hautvillier69 während 20 Jahren eingespert. Dort arbeitete er in Ruhe seine Lehre aus und starb treu seinem Glauben in der Zelle. Auch Dichtern ging es so. Z. B. Bunyan70 schrieb ja erst im Gefängnis seine Pilgritn’s Progress71. Und das ist ja sein eigentliches dichterisches Werk. Galilei schrieb ja die lezten 10 Jahre sozusagen unter der Aufsicht der Inquisizjon. Wenn man die Leute zur Zeit der kirchlichen Omnipotenz nicht direkt umbringen wol­ te, schikte man sie wie Abälard72 auf lebenslänglich in’s Kloster. Das war ja auch nichts Anderes als Gefängnis. Der Staatsanwalt hat auf meine Bitte, ein deutsches Wörterbuch nach neuer Ortografie schreiben zu dürfen, sofort an­ geordnet, »Alles zu meinen Zweken nötige Materjal mir sofort zur Verfügung zu stellen«. Er hätte mir vielleicht auch Gedichte zu schreiben erlaubt....... Wie diese Amsel so schön singt! Dabei senkt sie den Kopf und schaut mit dem einen Aug gegen den Himmel hinauf, als ob sie sich selbst zuhörte - dort sizt sie auf der Gefängnismauer - ja Dich mein’ ich! .... Schubart73 durfte auf dem Aßberg74 sogar seine Gedichte druken laßen. Und unter diesen Gedichten, hört es all’ Ihr Amseln und Schwarzplättchen75, befand sich die »Fürsten-Gruft«76! - ist das sicher? - ich weiß es bestirnt auch den Erlös aus diesen Büchern - grotescens dictu77 - zog die herzogli­ che Kabinetskaßa78 ein! - Exz’llenz von Riedel79 hängen Sie sich auf! Daran

67 Gottschalk von Orbais, Philosoph und Mönch, der in der Abtei Hautvillers den Ge­ danken einer doppelten Prädestination, einer »zwillingshaften« Vorherbestimmung, ersann. 68 In der frühen Kirche war ein Metropolit ein Bischof über mehrere Bistümer. 69 Gemeint ist die Abteil Hautvillers. 70 John Bunyan (1628-1688), schriftstellernder Baptist in England. 71 The Pilgrim’s Progress from This World to That Which Is to Come: 1678 erstmals publizierte »Bibel« der Baptisten. 72 Petrus Abaelardus (vordem Pierre Abaillard, 1079-1142), Gelehrter und Geliebter, zudem Freund der Vernunft, auch in Glaubensfragen. 73 Christian Friedrich Daniel Schubart (1739-1791), einer der Lieblingsrebellen Panizzas. 74 Hohenasperg, Festung bei Ludwigsburg. Seit dem 18. Jahrhundert eine Strafanstalt, die durch prominente politische Gefangene wie Schubart bekannt und berüchtigt wurde. 75 Gemeint ist wohl die Mönchsgrasmücke (Sylvia atricapilla). 76 »Die Fürstengruft«, kritisches Poem. 77 Grotesk, das zu sagen, abgeleitet von »horribile dictu«: Es ist furchtbar, das zu sagen. 78 Im Sinne von Staatskasse. 79 Emil Heinrich Freiherr von Riedel (1832-1906), Finanzminister unter König Ludwig II.

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hätten Sie nicht gedacht: bairische Schriftsteller mit dem dolus eventualis*0 einsperren, ihre Gefängnisgedichte zu Gunsten des Fiskus druken zu laßen und dafür die Malzsteuer ermäßigen......... Es war eben das 18. Jhrh., man verkaufte die Landessöhne an England und ließ Majestätsbeleidigungen dru­ ken, wenn es der Kabinetskaßa was trug..... Hören Sie, wie diese Amsel singt! gestern sagte mir der Gärtner, der wegen Totschlags verhaftet ist, die Schwarzplättchen sängen noch schöner. »Ja ist denn Das nicht derselbe Vogel?« frug ich - o nein! meinte er, und gab mir eine so detailirte Beschreibung der beiden Sänger und schmazte dann die beiden Stimmen so täuschend und seelenvoll nach, daß Alles stehen blieb, die Gefangenen lauschten, die Kinder des Verwalters kamen herbei, aus der Waschküche drängten sich die Wäscherinnen, und selbst die Amsel auf ihrer hohen Mauerbrüstung hielt inne, um ihren Bruder singen zu hören.......Sa­ gen Sie mir nur mein Bester, frug ich, wie kommen Sie denn wegen Totschlags herein, wenn Sie ein so poetisch empfängliches Gemüt haben? - »Aber i bitt Ihna - meinte er - des g’hört ja do Alles z’sammen!« - Totschlag und Droßelschlag gehören zusammen? - Er meinte, Beides seien direkte Äußerungen des Temperaments, seien Beides Enthüllungen der Natur........ Goldener Sonnenschein flutet breit durch den Gefängnishof. Alles ist be­ rauscht. Alle zeigen helfende Mienen. Gefangene und Gefangenenhalter müßen ihre Fisjonomie preisgeben. Der zusammengekniffene Ausdruk im Gesichte der Häftlinge, jene facies hipocratica*1, verschwindet. Die Natur ist stärker als eine razjonalistische Erwägung. Und der Haftbefehl für alle diese Menschen ist nur eine razjonalistische Erwägung. Gegen die Natur hat keiner von Ihnen gefehlt. Nun komt die Sonne, die stärkste Naturgewalt, und sagt: Nein! Vor mir seid Ihr unschuldig! Ihr Alle! Oder Alle schuldig!.... Es kommen die gelben Wägen und fahren durch’s große Gefängnistor ein. Und es kommen die grünen, koloßalen Wägen und fahren durch’s Gefängistor ein. Aus den gelben Wägen steigen Damen - Alles steht auf den Fusspizen - Schaaren von behelmten Polizeileuten bilden die Begleitung - es sind gefangene Damen, in hübschen Matrosenhütchen, farbigen Schleifen, elegan­ ten Toiletten - und aus den grünen Riesenwägen, die aus einzelnen Zellen bestehen - wie der Bäker gewiße Brotformen nebeneinanderbakt und dann auseinanderbricht - steigen die Männer - Alles schweigt. Niemand spricht mit dem Andern - auch im Hof schweigt Alles - Neue Gefangene - immer mehr Gefangene - man denkt an seine eigene Schuld - seine eigene, winzige80 81 80 Bewusstes Inkaufnehmen aller denkbaren Folgen einer Tuns, einer Tat. 81 Facies Hippocratica (Hippokratisches Gesicht): Verlust der Mimik im Angesicht des Todes oder bei schwerster Erkrankung.

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Schuld - und Alle diese vielen Menschen, die da herauskommen, hängen sich Dir an’s Gewißen - es ist nur ein einziger großer Schuldbegriff, der Alle umfaßt - wie in den Triptichen der gotischen Kirchenportale eine große Kette alle Sünder mit einem einzigen Zug in den Höllenrachen schlept..... »So, wir gehen jetzt hinauf!« - tönt es vom Aufseher. Die gelben Wägen fahren zwischen uns durch, weil nur hier in der Ellipse der nötige Plaz zum Umkehren ist. Und dann komt der grüne Riesenwagen, ein förmliches Höl­ lentor, polternd und schnarrend. Wir sammeln uns zum Hinaufgehen und begegnen anderen Gruppen, die zum Hofgang herunterkommen. Sonne für Tausende, Amselschlag und blaue Luft noch für Tausende in diesem schma­ len Gefängnishof...... (Fortsezung folgt)

Ein Bischen Irrenhaus - und vom Weg dorthin »ich habe mich, in meinen Begriffen, in meinen Gefühlen, zu weit von der Menschheit entfernt, oder die Menschheit konnte mir nicht folgen ....«

Asyl St. Gilgenberg, Ort der ersten Unterbringung Panizzas

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Die geisteskranken Psychiater Über die Psychiater fällt jetzt alles her. Es ist kein Wunder. Man traut ihnen nicht mehr. Nicht nur haben sie ganz flagrante Fälle sich aufs Kerbholz82 schreiben lassen müssen, sondern - und das will mehr sagen - es ist eine neue Zeit angebrochen und die Psychiater haben noch nicht Zeit gefunden, sich dieser neuen Zeit zu akkomodieren83. Die Psyche ist immer das empfindlichste Zünglein an der Wage großer Kulturabschnitte, wie die Psyche der empfind­ lichste Warner ist für eine anbrechende Revolution im eigenen Körper. Man verlangt heute »Schöffengerichte«, Beteiligung des Laien-Elements, geistige »Geschworne«, um über Schuld oder Unschuld der Psyche unserer Mitmen­ schen zu entscheiden. Was heißt das anderes, als: wir halten den Psychiater, den Irrenarzt, trotz seiner Sachverständigkeit für keinen kompetenten, vor­ urteilsfreien, auf der Höhe seiner Mission stehenden Seelen-Richter mehr. Und so ist es in der That. Eine neue Zeit-Epoche ist über uns alle gekommen, und die Psychiater haben sich in derselben als die Zurückgebliebenen gezeigt. Soll ich mit zwei Schlagwörtern die alte, im Absterben begriffene, und die neue hereingebrochene Zeitrichtung bestimmen, so müßte ich sagen: Mate­ rialismus und: Psychismus. Es ist klar: wenn in einer neuen Kulturepoche die Seele selbst das Streitobjekt, oder auch nur der Gegenstand des intensivsten Interesses bildet, daß die Psychiater es zuerst merken müssen. Und dies ist hier der Fall. Keinem Menschen fiele es heute ein, bei den Entscheidungen der Chemie- oder PÄysffc-Professoren die Zuziehung des Laien-Elements zu verlangen. Mit schallendem Gelächter würde ein solcher Vorschlag aufge­ nommen werden. Und doch ist er im Grunde um nichts lächerlicher, als der andere, den Psychiatern eine Bank beratender Laien beizugeben. Beide, Che­ miker wie Irrenärzte, stützen sich auf die Naturwissenschaften. Beide ste­ hen im Hinblick auf ihre Weltanschauung und ihre erkenntnis-theoretischen Ansichten auf dem Boden des Materialismus, wie er in den fünfziger und sechziger Jahren unseres Jahrhunderts zur Entwicklung gelangt ist. Wäh­ rend aber dieser Boden bei den rein exakten Disziplinen, wie Chemie und Physik, unverändert geblieben ist, hat er sich bei den Geisteswissenschaften, bei Philosophie, Psychologie, Psychiatrie, ja bei Biologie, Ethnographie, Ent­ wicklungsgeschichte, verschoben. Dies ist der Grund, warum z.B. die Ent­ deckung der Röntgenschen Strahlen als ein »Fund« angesehen, die Urteile der

82 Historische Auflistung, Zählung auf einem Stück Holz, das dann gespalten wurde, sodassein »Quittungsbeleg« entstand. 13 Anpassen.

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auf dem materiellen Seelen-Prinzip sich stützenden Irrenärzte dagegen mit offenbarem Mißtrauen betrachtet werden. Der geistvolle Schüle84, Direktor der württembergischen Irrenanstalt Ille­ nau, dem wir die Rettung des wegen »Querulanten-Wahnsinns« für unzurech­ nungsfähig erklärten, bekannten Heilbronner Bürgermeisters Hegelmaier85 aus den geistes-würgenden Händen des Stuttgarter Medizinal-Kollegiums verdanken, begann sein im Jahre 1880 erschienenes »Handbuch der Geistes­ kranken« mit den Worten: »Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten«. In der sechs Jahre später erschienenen zweiten Auflage fehlt dieser Satz gänz­ lich. In dieser Zwischenzeit muß sich also für diesen Forscher die Wandlung hinsichtlich der Einwurfsfreiheit dieses Satzes vollzogen haben. »Geistes­ krankheiten sind Gehirnkrankheiten« war der Kampfesruf der gesamten Psychiatrie der sechziger und Siebziger jahre, um allen naturphilosophischen Spuk Schellings und was drum und dran hing aus den Köpfen hinauszutrei­ ben; und er bezeichnete so recht das Vogt86-Büchner’sche87 Prinzip der gro­ ßen Stoffanbetung, wonach »das Denken ebenso ein Produkt des Hirns sei, wie der Urin ein Produkt der Nieren«. Heute ist dieser Kampfesruf fast voll­ ständig verstummt, aber die Psychiater ruhen in ihren Überlegungen doch noch immer auf diesem Kraft- und Stoff-Prinzip. Inzwischen ist das Pub­ likum fortgeschritten. Die Physiologie ist fortgeschritten (Kölliker8889 ). Die Völkerpsychologie hat neue Gesichtspunkte gezeigt (Bastian)8’. Die gesamte Lehre des Hypnotismus und der modernen wissenschaftlichen Psychologie ruht im ganzen Abendland auf rein spiritueller Basis. Von Gehirn ist gar keine Rede mehr. Es handelt sich einfach um praktischen, psychologischen Empirismus und um Schlüsse daraus, die mit der Gehirnanatomie gar nichts mehr zu thun haben. In den ganzen ungeheuren Arbeiten und Enqueten der englischen »society of psychological research«, der französischen Forscher

14 Heinrich Schüle (1840-1916), badischer Psychiater, überzeugt von der Vererbbarkeit der Geisteskrankheiten. 85 Paul Hegelmaier (1847-1912), evangelischer Musikkundler, Städteplaner und Lo­ kalpolitiker, der sein Amt mit der aus »Götz von Berlichingen« bekannten Aufforde­ rung niedergelegt haben soll. 86 Carl Vogt (1817-1895), Naturwissenschaftler darwinistischer Prägung. 1892 Ha­ bilitation »Über den Glauben Geisteskranker an die Wirklichkeit von Halluzinatio­ nen«. 87 Ludwig Büchner (1824-1899), wie Vogt als Arzt und Naturwissenschaftler ein leidenschaftlicher Verfechter des Materialismus. 88 Albert von Koelliker (1817-1905), Anatom und Gewebe-Physiologe, der Darwins Lehre skeptisch gegenüberstand. 89 Adolf Bastian (1826-1905), Arzt und Pionier der Ethnologie.

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(Richet90, Janet91), der Berliner und Münchener wissenschaftlichen Vereini­ gungen (Dessoir92, Lipps93, Schrenck-Notzing94, Parish95, Moll96 u. a.) ist von dem Aufsuchen einer materiellen Basis für psychische Leistungen nichts zu finden. Hier handelt es sich glatt und einfach um Psyche; soll ich deutlicher reden: um die Priorität der Psyche gegenüber der Materie. - Diese ganze un­ geheure Bewegung, welche das Publikum in breitestem Maße Teil nehmen ließ, ist an den Psychiatern spurlos vorüber gegangen. Sie schlossen sich hin­ ter den Mauern ihrer Irrenhäuser ab, eigenwillig, wie soll ich sagen? - Pa­ schas des Gehirns, wähnend, sie hätten die Seele, wenn sie das Gehirn in der Hand haben. - Jetzt rächt sich diese Isolierung! Ich habe absichtlich bis jetzt nichts vom Spiritismus gesprochen, um nicht mit verdächtigen Trümpfen zu operieren. Wir wollen aber davon auch einmal reden und den Wechsel der Zeiten prüfen. Im Jahre 1874 erschien ein Buch von E. Sierke97 »Schwärmer und Schwindler zu Ende des achtzehnten Jahr­ hunderts«98. Unter diesen Schwindlern figuriert z.B. auch Swedenborg99. 1874 war gerade das Jahr der Hochflut materialistischer Geistesrichtung. Und Sierke, ein Mann seiner Zeit, konnte mit viel Behagen den nordischen Geisterseher in das Schema seiner kranken Gehirne einreihen. Ich glaube, heute möchte es nicht leicht einer, noch so nüchterner, der die Materie ver­

90 Charles Richet (1850-1935), Physiologe und Nobelpreisträger. 91 Pierre Janet (1859-1947), Pionier der Psychotherapie, der von Freud und Jung rezipiert wurde und den Begriff »Unterbewusstsein« prägte. Panizza, der den Begriff ebenfalls verwendete, dürfte dessen Hauptwerk »Der Geisteszustand der Hysteri­ schen« (Leipzig/Wien: Deuticke 1894) gelesen haben. 92 Max Dessauer, der sich Dessoir nannte (1867-1947), war ein Okkultist im Ungeiste des Niederbayern Carl du Prel (1839-1899) und mit zahlreichen Naturalisten aus dem Umfeld Panizzas bekannt. 93 Theodor Lipps (1851-1914), Pfarrerssohn und Psychologist, der auf reale Phäno­ mene setzte und an der Münchner Universität 1913 das Psychologische Institut gründete. 94 Albert Freiherr von Schrenck-Notzing (1862-1929), Arzt und wohl Kommilitone Panizzas, Vordenker der Psychotherapie, Hypnotiseur und Freund des Okkultisten Carl du Prel. 95 Edmund Parish (1861-1916), Psychologe und Halluzinationsforscher, Autor der Studie »Ueber die Trugwahrnehmung (Hallucination und Illusion) mit besonderer Berücksichtigung der internationalen Enquete über Wachhallucinationen bei Gesun­ den. Leipzig 1894. 96 Albert Moll (1862-1939), Arzt und Sexualwissenschaftler. 97 Eugen Sierke (1845-1925), resoluter, mutiger Journalist, Vorkämpfer einer unab­ hängigen Presse. ’’ Leipzig 1874. 99 Emanuel Swedenborg (1688-1772), Mystiker und Theosoph.

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stände, unternehmen, einen Mann wie Swedenborg, der auf Tausende gewirkt und noch wirkt, schlankweg unter die »Schwärmer« oder »Schwindler« zu registrieren. Ein Psychologe schon gar nicht. So hat uns die Zeit vorwärts geschoben. Aber die psychiatrischen Lehrbücher der sechziger und siebziger Jahre haben noch ganz andere Leute in ihren pathologischen Abteilungen untergebracht, und einen Luther, Mohamed, Christus, den heiligen Franzis­ kus u.a. ruhig als »Irre« in ihrem System festgenagelt. Und doch beruht auf diesen vier Menschen ungefähr fast die gesamte Kultur- und Geistesrichtung unseres halben Erdballs. Aber das war damals die große Leistung: ganze Kul­ turperioden mit einem Federstrich im Stile Büchners100, mit einer Deklara­ tion »Hallucinanten«, als Verirrungen zu bezeichnen. Auch das ist heute alles vergessen. Und wir haben uns auch im Stadium nüchternsten Kritizismusses daran gewöhnt, daß es zu einer ausgiebigen Weltbetrachtung und tieferen Er­ gründung des Menschendaseins nicht genügt, irgend eine Erscheinungsform der Psyche durch das Medium des Gehirns zu materialisieren und sie da­ mit unter unser Seziermesser zu nehmen; sondern wir wissen heute, daß das mannigfaltige Leben und Weben unserer Rasse unter Erscheinungsformen verläuft, deren letzte Ursachen und treibende Kräfte wir nicht zu erkennen vermögen, und daß jeder Versuch einer gerade herrschenden Schulmeinung, durch Beurteilung jener Erscheinungsformen auf das letzte Prinzip unseres Seins zu stoßen, es zu treffen oder gar zu wandeln, immer mit einem kläg­ lichen Resultat geendigt hat; wie die Geschichte des eben in unseren Tagen seinem Ende zuneigenden »Materialismus« deutlich zeigt. Ich komme zu diesen, vielleicht etwas zu breit angelegten Gedanken durch etliche jüngste Vorkommnisse, bei denen einige Psychiater älteren Schlags, wie ich glaube, gewisse moderne Geistesrichtungen mit dem Stempel ihrer materialistischen Schule zu zerstoßen und das gefundene Elaborat nach ih­ rem Schema als »defekt«, oder »krank«, oder als »Verirrung« zu deklarieren suchten. Angesichts einer jüngst erfolgten Beschlagnahme eines poetischen Opuskulums101 einer süddeutschen Schriftstellerin, in dem die Staatsanwaltschaft au­ ßer drei »Gotteslästerungen« ungezählte »Unsittlichkeiten« entdeckte102, of100 Ludwig Büchners. 101 Kleine Schrift. 102 Fußnote Panizzas: »Es handelt sich um die »Hetärenbriefe« der Johanna Szelinska, die unter ihrem Mädchennahmen Johanna von der Nahmer schreibt. Das Buch ist zum Teil aus dem Vollgefühl des modernen Weibes und seiner Emancipationsbestrebungen zu verstehen und giebt in Briefform, in zum Teil rührenden Klageton, den Empfindungen einer vornehm gesinnten, innerlich sittlich rein gebliebenen Hetäre Ausdruck, die das zufällige Zusammentreffen mit einem Herrn und die daraus sich

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fertierte sich nämlich ein süddeutscher Psychiater, par distance die Diagnose auf »cirkuläres Irresein« zu stellen. Und in der Heidelberger psychiatrischen Universitäts-Klinik waren jüngst unter »Zeichnungen und schriftlichen Ela­ boraten von Irren«103, unter Angabe der jedesmaligen geistigen Erkrankung auf dem Rand des Blattes, von dem dortigen Leiter der Anstalt ausgestellt: Ein »Trinklied« von Dehntel, das Blatt »Der Philosoph« von Max Klinger104, ein Sonett von Mallarme105 »Quand il est sorti«, das Titelblatt zu dem be­ kannten Roman von Prevost »Demi-Vierges«106 aus dem »Pan«, und zwei Blätter von Toroop107. Dem in der heutigen Kunst und Litteratur Versierten brauche ich nicht auseinander zu setzen, daß es sich hier ausschließlich um Künstlernamen allerersten Ranges handelt. Was soll man dazu sagen? Handelt es sich hier um einen frivolen Scherz? Oder kann man von Leuten, die die Universität absolviert haben, eine der­ artige Mentekaptivität erwarten, Kunst-Offenbarungen, wie die eines Max Klinger, eines Toroop, einfach durch ein Zettelchen aus ihrem Terminologen-Kasten: »Paranoia«, »Größenwahn«, »leichte Verblödung« u. dergl., die sie ihnen aufheften, ad acta zu legen? Aber es scheint schon so, daß die Welt immer sich gleich bleibt. Vor der »Himmelfahrt« zum Ruhm muß der Künstler die »Kreuzigung« zur Qual erleiden. Erst wenn er den Schierlings-Becher der Menschen-Vergiftung bis

ergebenden Konsequenzen als Gelegenheit wahrnimmt, um das Gewissen des heuti­ gen vornehmen Mannes dem Weibe gegenüber in seiner ganzen Roheit und Barbaren-Natur offen zu enthüllen. Es ist in gewissem Sinne eine Art deutscher dame aux camelias und offenbart ein absolut neues weibliches Empfinden. Die Beschlagnahme durch die Staatsanwaltschaft zeigt nur die komplette Fassungs- und Verständnis­ losigkeit des heutigen Staates gegenüber der modernen Litteratur; der da, wo sie Entrüstung und bebendes Verlangen zeigt, nur Auflehnung und sexuelle Gemeinheit erblickt.« Johanna Szelinska (1857-0. J.), Schriftstellerin, die unter dem Männernamen »Georg Berg« und dem Pseudonym »Johanna v. d. Nahmer« publizierte. Ihre »He­ tärenbriefe« (Leipzig: Friedrich 1895) widmete sie Oskar Panizza »in Verehrung und Dankbarkeit«. Er hatte die Publikation wohl unterstützt. »La dame aux camelias«, »Die Kameliendame« von Alexandre Dumas. 103 Vorläufer der »Sammlung Prinzhorn«, in die später auch Zeichnungen Panizzas ein­ gereiht wurden. 104 Max Klinger (1857-1920), Künstler des Symbolismus. 105 Stephane Mallarme (1842-1898), auch der französische Schriftstellerkollege belegt für Panizza die Fragwürdigkeit des Begriffs »geisteskrank«. 106 Marcel Prevost (1862-1941): »Halbe Unschuld«. München: Albert Langen 1895. 107 Jan Toorop (1858-1928), niederländischer Maler und Illustrator des Jugendstils und des Symbolismus.

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zur Neige geleert, beginnt für ihn die Zeit des Verstanden-Werdens. Und die Irrenhaus-Zelle ist oftmals für ihn der Weg zum Parnaß. Ich möchte aber die deutschen Herren Psychiater angesichts dieses Vor­ kommnisses in der That fragen: Ist es Ihnen wirklich darum zu thun, später einmal, wenn die heutige Ideen-Saat aufgegangen, als die wissenschaftlichen Henkersknechte für diesen oder jenen strebenden Zeitgenossen zu erschei­ nen? Sie, die heute deutsche Künstler für »defekt« erklären, wollen Sie einmal vor der Nachwelt als deficientes, als mangelhaft, als nicht ausreichende Be­ urteiler Ihrer Zeit erscheinen? Wollen Sie dann als »defekt« dastehen? - Ge­ lüstet es Sie nach dem Ruhm Ihres verflossenen Kollegen Dr. Puschmann108, der in einem gedruckten Gutachten aus den siebziger Jahren Richard Wagner für »geisteskrank« erklärte, weil er in dessen »Tristan und Isolde« die aus­ reichenden Beweise gefunden zu haben glaubte?109 - Gelüstet es Sie nach der Ehre Ihrer Wiener Kollegen aus dem vorigen Jahrhundert, die, wenn Beet­ hoven gelegentlich arretiert wurde, weil er, mitten auf dem Straßendamm stehend, sich rasch die Fanfaren zu der C-wo//-Symphonie notiert hatte, ohne auf den Wagen-Verkehr zu achten, - ihn mit den Worten empfingen »Ach, das ist ja der Narr!«? - Gelüstet es Sie nach dem Ruhm von Sierke und Genossen, die einen Swedenborg, Justinus Kerner110, Jakob Böhme111, Jung-Stilling112 u.a. für »Schwärmer und Schwindler« erklärten? Wenn ja, dann fahren Sie so fort. Wenn nein, dann eilen Sie und komplettieren Sie Ihre Bildung. Gehen Sie heraus aus Ihren Mauern und sehen Sie sich die so ganz veränderte Welt an. Schauen Sie sich die Sonne an, den Wald, die Wiese, den Fluß, die aufhor­ chenden Tiere, die summende Welt. Erinnern Sie sich dabei, daß schon ein Goethe dieselbe Natur mit hellem Entzücken betrachtet hat; daß ein heiliger Franziskus dieselbe Natur mit ebenso hellem Entzücken betrachtet hat; und daß ihr gegenseitiger Standpunkt doch ein himmelweit verschiedener war. Lernen Sie aufs neue den alten Satz, daß der Mensch das Maß aller Dinge ist; und daß die Menschen, besonders in Deutschland, verschieden sind wie die Kohlköpfe, d.h. keiner gleicht ganz dem andern. Lassen Sie sich keine Ge­ legenheitentgehen, die modernen Kunstströmungen - über die Sie doch, wie 108 Theodor Puschmann (1844-1899), Medizinhistoriker. 109 Fußnote Panizzas: »(Puschmann, Dr., Richard Wagner, eine psychiatrische Studie. Berlin 1872.)« 110 Justinus Kerner (1786-1862); Panizza meint hier den späten, den okkultistischen, spiritistischen Dichter. 111 Jakob Böhme (1575-1624), von Panizza als Mystiker erwähnt. 112 (Johann Heinrich) Jung-Stilling (1740-1817), Arzt und Pietist, von Panizza hier als spiritualistischer Autor und Mystiker genannt.

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es scheint, gerne urteilen wollen - an der Quelle kennen zu lernen. Lesen Sie französische Bücher. Lesen Sie englische Bücher. Beobachten Sie deren Illus­ trationen. Gehen Sie heraus aus Ihrer Provinz; besuchen Sie die Hauptstädte. Verfolgen Sie den großen Strom des Lebens. Sonst kann es Ihnen passieren, daß Sie eines Tages, wie ich schon oben er­ wähnte, vor einer ganz neuen Welt stehen, die Sie nicht mehr zu erfassen ver­ mögen. Wie Ihnen heute schon, die Sie noch auf dem materialistischen Boden stehen, die ganze moderne Psychologie auf spiritualistischer Grundlage als ein Rätsel, als ein überkühnes, luftiges Gebäude erscheint, das Sie nicht be­ greifen, welches Sie vielleicht gern als »geisteskrank« erklären möchten oder als »Schwindel«, wie Ihr Kollege Prof. Dr. Moriz Benedikt113 in Wien sagt, so wird es Ihnen auch eines Tags mit den modernen deutschen Kunstbestre­ bungen gehen. Dann aber wird es sich zeigen, daß Sie die Zurückgebliebenen sind, daß es »Ihnen fehlt«, nicht den andern, wie Sie glauben; daß Sie defekt sind, nicht die andern; daß Sie die »geisteskranken« Psychiater geworden sind, wie ich in meinem Titel angedeutet habe, und daß Ihr Urteil wertlos geworden ist. So wie jetzt kann es nicht weiter gehn. Es darf nicht der moderne deutsche Künstler, der mit seinem Herzblut arbeitet und seinen Gehirnsaft zu Thaten umschweißt, dem nächsten besten Provinz-Psychiater, der seit einem Viertel­ jahrhundert über der Lektüre seiner »Gartenlaube« Thränen des Entzückens vergießt, auf Gnade oder Ungnade überantwortet werden. Fahren die heu­ tigen Philister in Deutschland in allen Sparten des bureaukratischen Lebens fort, einer kräftig und selbständig aufstrebenden Jugend das Existenzrecht zu bestreiten, sie geistig zu brandmarken und ihre Ideale zu zerstören, so bleibt nur eine Alternative: Entweder: die gesamte moderne Künstlerschaft - Schriftsteller, Dichter, Maler, Bildhauer, Musiker - petitionieren beim Reichstag oder ihrem Lan­ desfürsten, für ungefährliche »Geisteskranke« erklärt zu werden, um unter diesem Kreuzes-Zeichen vor weiterer brutaler Behandlung sicher zu sein; um unter dem Schutz dieser Wartburg, wie einst Luther, ihre Zeit abzuwarten, und inzwischen die Sprache ihrer Seele in ihr geliebtes Deutsch zu übertra­ genOder: die heutigen Psychiater, Staatsanwälte und Richter entschließen sich in Gottes Namen, die Augen aufzuthun, ihre Bildung zu vervollständigen und die Zeichen ihrer Zeit zu verstehen.

113 Moriz Benedikt (1835-1920), österreichischer Neuropathologe.

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»Kurhaus Herzoghöhe«, Ort der endgültigen Unterbringung Panizzas

Katholische Irrenbehandlung Pinel11A nahm den Geisteskranken am Ende des vorigen Jahrhunderts die Ketten ab. Aber die Ketten der katholischen Kirche liegen heute noch um die Gliedmaßen der armen Irren und - um den Geist ihrer Wärter und geistlichen Oberen. Der erste Satz ist in einem berühmten Bilde der französischen Schule aus dem Anfang dieses Jahrhunderts verherrlicht und hängt in allen mo­ dernen Irrenanstalten im Direktorial-Zimmer. Der zweite Satz ist in einem anderen Bilde illustrirt, das der jüngst zu Ende gegangene Irrenhaus-Prozeß in Aachen vor unseren erstaunten Augen entrollt hat. Es ist eine lange Geschichte, die Geschichte der Irrenpflege und Irrenbe­ handlung. Von den Exorzisten der unter dem Einfluß der jüdischen und ägyp­ tischen Dämonen-Lehren stehenden frühesten christlichen Jahrhunderte an bis zu den lodernden Scheiterhaufen der römisch-katholischen Kirche im 16.* 1H Philippe Pinel (1745-1826), Pionier der Psychiatrie unter Verzicht auf Zwangsbe­ handlung der Patienten. Sehenswert hierzu: Francois Truffauts Film »Der Wolfsjun­ ge« (»L’enfant sauvage«) von 1970.

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und 17. Jahrhundert, wo Hunderttausende von Hysterikern und Epileptikern einen gewaltsamen Tod fanden; und von hier zu dem Versündigungs-Wahn und dem Dämonenglauben der protestantischen Pietisten und anglikani­ schen Methodisten im 18. Jahrhundert. Noch zu Beginn des gegenwärtigen Jahrhunderts standen sich zwei Theorien über das Wesen der Geisteskrank­ heiten feindselig gegenüber, Theorien, unter denen die Geisteskranken selbst leider am meisten zu leiden hatten: die psychische Theorie, nach welcher die Geisteskrankheit von der Seele selbst ausgehe, - »daß die Seele sich selbst krank mache, woraus sich nun bei hinzugekommener etwas starker Dosis von Obskurantismus, Mystizismus und süßlichem Pietismus allmählich die Idee entwickelte, daß Verleugnung der Vernunft und Moral, Leidenschaften und die Sünde die Quelle der psychischen Krankheiten seien; daß der Tugend­ hafte und Weise gegen diese Krankheiten geschützt, und jeder Wahnsinn ein selbstverschuldeter Zustand, jeder Wahnsinnige ein Kind des Teufels sei.« (J. B. Friedrich115, Historisch-kritische Darstellung der Theorien über das Wesen und den Sitz der psychischen Krankheiten. Leipzig 1836). Hauptver­ treter dieser Ansicht war in Deutschland Heinroth116. Man kann sich denken, was aus dieser Teufelstheorie für die armen Geisteskrankheiten herauskam. Und doch war sie noch besser als die folgende Theorie, die somatische. Nach ihr sind alle psychischen Krankheiten nur die Folge somatischer, d. i. körper­ licher Veränderungen; nur der Körper kann erkranken, nicht die Seele als solche. Dieser Theorie, der, wenigstens nach dem materialistischen Prinzip, noch heute die übergroße Mehrzahl der Naturforscher und Aerzte anhängt, sieht man nicht an, welche schrecklichen Folgen sie zu Anfang dieses Jahr­ hunderts in der Behandlung der Geisteskrankheiten nach sich zog. Wenn, sagte man sich, der Körper der Sitz der geistigen Erkrankung ist, dann greifen wir bei unseren Kurmethoden den Körper an. Und nun kam die fürchterliche Dusche, und der Scheitel des Unglücklichen, der sich z.B. für »Gott-Vater« hielt, wurde so lange bearbeitet, bis er seine Gott-Vater-Ideen aufgab, d. h. bis er unfähig war, sich denkend zu äußern. Dann wurde er »geheilt« aus dem Baderaum entfernt. Kaum war aber der Kopf warm, war auch die GottVater-Idee wieder da. Während aber die theoretischen Deutschen sich um den größeren oder ge­ ringeren Wert ihrer prinzipiellen Theorien herumstritten - hier Heinroth für

115 Nicht »Friedrich«: Johann Baptist Friedreich (1796-1862), fränkischer Arzt und Gelehrter, der früh (psycho-)somatische Ursachen für Krankheiten erkannt hatte. Gegner Johann Christian August Heinroths. 116 Johann Christian August Heinroth (1773-1843), Arzt und Anthropologe, Pionier der universitären Psychiatrie.

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die psychische, dort die Mehrzahl der neueren Philosophen und Naturfor­ scher für die somatische Theorie - geschahen im Ausland zwei Taten, die alles Theoretisiren beiseite schoben, und die als die glänzendsten in der ganzen, großen Geschichte der Irrenbehandlung bezeichnet werden müssen: Pinel, der französische Irrenarzt, forderte in seinem 1791 zu Paris erschienenen »Sur l’alienation mentale«117 vor allem eine menschlichere Behandlung der Irren und er war der erste, der in der Salpetriere11* 1794 den Geisteskranken die Ketten abnehmen ließ und so die Irrenanstalt aus einem Zuchthaus in eine menschliche, heitere Wohnstätte umschuf. - Und der Engländer Conolly119120 begann seit 1839 im Middlesex Asilum zu Hanwell die Durchführung seines berühmten »No restraint-«- (Kein Zwang-) Systems, welches er - charakte­ ristisch für den praktischen Engländer - erst, nachdem es sich praktisch be­ währt hatte, 1856, in seinem Werk »treatment ofthe insane without mechanical restraints« theoretisch begründete, und das jeden mechanischen Zwang bei der Heilung Geisteskranker grundsätzlich verwarf. Conollys System fand in Deutschland teils freudige Aufnahme, teils energischen Widerspruch. Und eine Zeitlang wogten die Ansichten auf und nieder. Aber seit vierzig Jahren, kann man sagen, ist das »No restraint« zur herrschenden Ansicht gewor­ den, und seit einem Vierteljahrhundert ist es zur ausnahmslosen praktischen Durchführung in allen wissenschaftlich geleiteten Irrenanstalten Deutsch­ lands gelangt. Das »No restraint« ist heute keine Examensfrage mehr für einen Studenten, sondern eine historische Erörterung. Und nun kommen wir zur Alexianer-»Irrenanstalt« Mariaberg110 in der Rheinprovinz. Ich muß sagen, es war ein Zeichen von hoher Gesittung und 117 Philippe Pinels Schrift über geistige Verwirrung oder Entfremdung, »Traite medico-philosophique sur l’alienation mentale ou La manie« von 1801, erschien noch im selben Jahr als »Philosophisch-medicinische Abhandlung über Geistesverwirrungen oder Manie« in Wien. 111 Höpital de la Salpetriere, von Ludwig XIV. auf dem Gelände einer Munitionsfabrik eingerichtete Heilanstalt für Geisteskranke. John Conolly (1794-1866), englischer Psychiater, dessen Schrift »The Treatment of the Insane without Mechanical Restraints« 1856 erschien. 120 »Alexianer-Skandal« in der Krankenanstalt des Klosters Mariaberg bei Aachen. Ein schottischer Geistlicher namens Forbes hatte dort bei den katholischen Laien­ brüdern Heilung gesucht. Nachdem er eines Abends zu spät und betrunken an der Klosterpforte Einlass begehrt hatte, erklärte ihn der Kreisphysikus und Aachener Polizeiarzt Dr. Kribben für geisteskrank. Es ist einer von vielen Skandalen im Alexianer-Kloster, das sich - so eine Spruchweisheit - vom Himmel darin unterschied, dass man in diesen schwer hinein, aus »Mariaberg« aber schwer herauskomme. Näheres bei Wikisource: https://de.wikisource.org/wiki/Die_Geheimnisse_des_Alexianer-Klosters_Mariaberg, abgerufen am 22.4.2019.

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humanem Feingefühl in der deutschen Presse, daß sie, ohne von Professo­ ren oder Irrenärzten beraten zu sein, gleich zu Beginn der Verhandlungen das Mittelalterliche, das Rohe, das Zuchthausmäßige in den Alexianer Ein­ richtungen herauswitterte. Und der Geruch, der gleich anfangs sich hier ver­ breitete, war ein so charakteristischer, so fader nach Weihrauch und faulem Psalmodiren, daß selbst die gut-katholischen Aachener diesmal ihre Kirche im Stich ließen und der Verurteilung der Klosterbrüder - denn das war es lauten Beifall zollten. Was mich am meisten frappirte, war das Fehlen jeder tieferen Ueberzeugung, jeder geistigen Basis, jeder ernsteren Weltanschauung für das unerhör­ te Tun. Es wäre noch ein mildernder Umstand gewesen, wenn, ähnlich wie bei dem bekannten wemdinger Exorzismus-Prozeß121122 123 vor einigen Jahren, ein dogmatischer Untergrund für die scheusälige Behandlung zu Tage gekom­ men wäre. Wenn der Bruder Irenäus121 vor seine Opfer hingetreten wäre und hätte mit katholischer Grimmasse geschrien: »Ego minister ecclesiae catholicae romanae in nomine sanctissimae trinitatis impero vobis, o Spiri­ tus execrandi, quotquot vexastis hominem hunc, ut nulla interposita mora ab eo discedatis.......... etc.«111, und hätte dann den kalten Wasserstral von soundsovielen Atmosphären Druck auf den Scheitel des Unglücklichen ge­ lenkt, in der Meinung, den Dämon zu treffen. Denn für geistige Absichten, für Probleme, für Denksysteme, selbst wenn sie sich in der baroksten Form präsentiren, haben wir doch immer eine gewisse Nachsicht, eine gewisse Mil­ de übrig. Aber nichts von alledem. Die Zustände in der klösterlichen Ver­ 121 In dem einstigen Kapuzinerkloster von Wemding, einem Wallfahrtsort im Do­ nau-Ries, fanden am 13. und 14. Juli 1891 Exorzismen an dem damals zehnjährigen Michael Zilk statt. Mit Erlaubnis des Bischofs von Eichstätt trieben die Patres Re­ migius und Aurelian nach eigenem Bekunden insgesamt zehn Teufel aus. Vom Bösen befreit, wurde Michael Zilk später Schutzmann in München, eine Berufung. 122 Gemeint ist wohl Irenäus von Lyon (2. Jahrhundert). 123 »Ich als Vertreter der römisch-katholischen Kirche befehle Euch im Namen der Heiligen Dreifaltigkeit, o Ihr verdammten Geister, wie viele auch immer von Euch diesen Menschen gequält haben, weicht unverzüglich von ihm!« - Fußnote Panizzas hierzu: »Dies ist eine der offiziellen Beschwörungsformeln der katholischen Kirche. (Gelasius di Cilia, Thesaurus continens selectissimas benedictiones, conjurationes, exorcismos .... Ratisbonae 1756).« Papst Benedikt XVI. hatte zahlreiche Teufelsaustreibungen sowie die Ausbildung junger Geistlicher zu Exorzisten befürwortet. Papst Franziskus folgte ihm und er­ kannte die Standesvertretung »Internationale Vereinigung der Exorzisten« offiziell an: https://www.faz.net/aktuell/politik/vatikan-erkennt-internationale-exorzisten-vereinigung-an-13025067.html, abgerufen am 22.4.2019. Auch hinter den Miss­ brauchsfällen in der katholischen Kirche sah der Heilige Vater weniger eine Schuld seines Klerus als ein Teufelswerk: »Behind this there is satan.«

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sorgungsanstalt Mariaberg sind nicht das Resultat eines Systems, einer auf dem Glauben an göttliche Einwirkung oder Paralisirung teuflischer Einflüsse beruhenden Kur-Methode, sondern der einfache Schlendrian auf einem Ge­ biet, auf dem man sich die alten Hocuspocusformen doch nicht mehr offen anzuwenden traut, wohin aber das Licht exakter Wissenschaftlichkeit als Ersatz noch nicht gedrungen ist. Und das Unglaublichste ist, daß Aerzte, staatlich geprüfte Aerzte, wie die­ ser Dr. Capellmann124, sich nicht scheuen, ihren Universitätstitel und ihr »signetur!« unter dieses infame Rezept katholischer Irrenbehandlung von Bischofs Gnaden zu setzen, und so der Methode jenen Schein der Wissen­ schaftlichkeit verleihen, ohne den selbst Pallienträger heute keine Diagno­ se mehr in Geisteskrankheiten wagen. Freilich, Dr. Capellmann, dessen mit den unglaublichsten pikanten Sexualismen gefüllte »Pastoral-Medizin« in deutscher Sprache bereichts acht Auflagen erlebt hat125, hat keine Zeit, ir­ renärztliche Studien zu machen, eine wissenschaftlich geleitete Irren-Anstalt zu besuchen und deren Maximen auf bischöfliche Inhaftirungs- und geist­ liche Kaltwasser-Heilanstalten zu übertragen. Er hat außer der deutschen Ausgabe seiner »Pastoral-Medizin« auch noch eine lateinische für die Freun­ de in Belgien und Frankreich jedes Jahr zu ediren. (Könnten die geistlichen Herren in Westfalen sich nicht auch mit dieser Ausgabe begnügen? Haben sie all ihr Latein verlernt?) Er muß im Stile des Sanchez126 zum großen Gau­ dium seiner geistlichen Cölibatäre seine Untersuchungen anstellen, »ob die Copula127 zur Zeit der Menstruation für ein peccatum veniale12* zu halten sei, oder nicht..... Die Moralisten unterscheiden bei dieser Frage zwischen der eigentlichen Menstruation129 und einem länger, oft sehr lange dauernden Fluxus extraordinarius.« - In der Tat, sehr extraordinär! - Er muß auf Seite 175 über die »quarante manieres« zu lieben nach Heineschem Muster tief­ sinnige Untersuchungen anstellen, und Hunderte von Seiten über Abortus, Selbstbefleckung, Potenz, Hermaphroditismus u. dgl. anfüllen. Wie kann

124 Karl Capellmann (1842-1898), Arzt und katholischer Fundamentalist. Der langjäh­ rige ärztliche Direktor des Alexianer-Klosters Mariaberg wurde wegen Machtmiss­ brauchs und folterähnlicher Gewalt gegen Patienten entlassen. Die Anstalt wurde ab 1895 als »Provinzial-Irrenanstalt« fortgeführt. 125 Fußnote Panizzas: »»Pastoral-Medizin« von Dr. Karl Capellmann, Arzt in Aachen 8. Auflage. Aachen, Rudolf Barth, 1892.« 126 Antonio Nunes Ribeiro Sanches (1699-1783), Arzt, mit Quecksilber-Bichlorid erfolgreich im Kampf gegen die Syphilis. 127 Kopulation, Geschlechtsverkehr. 128 Eine »lässliche Sünde«. 129 »Fluxus naturalis« vs. »Fluxus extraodinarius«, Zwischenblutung.

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ein so vielbeschäftigter Mann Zeit zu irrenärztlichen Studien finden? (Die Geisteskrankheiten werden im gleichen Buch auf etwas mehr als vier Seiten abgehandelt.) Ich freue mich über den aachener Skandal-Prozeß, besonders in Rücksicht auf mein engeres Vaterland Baiern. Dort kämpft seit bald einem Vierteljahr­ hundert die wissenschaftliche Richtung in der Irrenpflege mit dem Stock-Klerikalismus einen erbitterten Kampf um - die Zulassung geistlicher Orden zur Irrenpflege in staatlichen Anstalten. Der unvergeßliche Gudden330, der, als er die mit ungeheuren Kosten neuhergerichtete münchener Kreis-Irren­ anstalt übernahm, vom ersten bis zum letzten Wärter alles entließ, um ein Personal anzustellen, welches mit der Anwendung von Dusche oder Zwangs­ jacke überhaupt nicht vertraut sei, hat einen großen Teil seiner Kraft diesem Kampfe gegen die Zulassung geistlicher Orden in Irrenanstalten geopfert. Und er hat nicht nachgegeben. Und bei den ewig klerikalisirenden Neigun­ gen bairischer Minister war dies keine Kleinigkeit. Und er selbst war ein guter Katholik. Er war ein Westfale - Und Medizinalrat Dr. Bandorf333 hat bei der Gründung der ersten landwirtschaftlichen Irrenkolonie in Baiern (in Gabersee bei Mühldorf130 132), zu deren Direktor er berufen war, die Annahme 131 von der Erklärung abhängig gemacht, daß er von geistlichen Orden verschont bleibe; obwol ihm bedeutet war, nur ein Direktor, der die Irrenbehandlung auf katholische Grundsätze aufbaue, werde die Stelle erhalten. Auch er war ein guter Katholik. - Ein Franke. - Und jedes Jahr wird in dem mit klerikaler Majorität gesättigten oberbairischen Landrat die Frage gestellt: ob noch im­ mer nicht die geistliche Irrenbehandlung durch Ordensleute in den bairischen Staatsanstalten durchgeführt sei. - Hier stehen wir vor einem zähen, kolos­ salen System. Minister purzeln: Regirungspräsidenten werden davongejagt; wissenschaftlichen Autoritäten wird die Pistole auf die Brust gesetzt. Beugt euch! Erniedrigt euch! Im Namen der heiligen Dreifaltigkeit! Im Namen der heiligen, römischen Kirche! Adjuro te daemonem infernalem et spiri-

130 Panizza war Assistenzarzt des Psychiaters Bernhard von Gudden (1824-1886), dem Leibarzt König Ludwigs II. 131 Melchior (Josef) Bandorf (1845-1901). Der Psychiater arbeitete 1870 in der privaten Reform-Psychiatrie Dr. August Falcos, »Asyl St. Gilgenberg«, in der Panizza 1905 als Patient aus München von seiner Entmündigung erfuhr. Später hatte Bandorf als . Oberarzt unter Gudden gearbeitet. Möglicherweise hat Panizza durch Bandorf, der 1883 erster Direktor der Kreisirrenanstalt »Gabersee« bei Wasserburg wurde, Zu­ gang zu neuen Wegen der »Irrenbehandlung« gefunden. 132 »Gabersee« bei Wasserburg am Inn, nicht bei Mühldorf. Heute trägt die »Kreis­ irrenanstalt« aus dem Jahr 1883 nach Jahren als »Bezirkskrankenhaus Gabersee« den recht kryptischen Namen »kbo-Inn-Salzach-Klinikum«.

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tum malignum, qui perniciosum malum fabricasti, ut recedas!333 Moderner Geist der Wissenschaft, deutsche Kritik, nordische Gedankenfreiheit, weicht zurück, hier sind die Grenzpfähle des römischen Klerikalismus!133 134*Dieser Kampf Guddens und Bandorfs333 ist noch nicht zu Ende. Er muß im Abend­ lande noch ausgekämpft werden. Es ist der Kampf zwischen dem deutschen freien Gedanken und wälscher, brütender Beschaulichkeit. Es ist der Kampf des Germanentums gegen das ganze Erbe des Orients.136

Christus in psicho-patologischer Beleuchtung Welcher Leute Kind er gewesen, scheint schwer zu ermitteln. Die Mutter war jedenfalls eine ganz einfache Frau, der das exaltirte Wesen ihres Sohnes, wie das sich gemeiniglich findet, höchst zuwider war, und die Alles tat, ihn einem sog. bürgerlichen Lebensberuf zuzuweisen. Vom Vater wißen wir gar nichts. Und auch die lächerlichen und obszönen Legenden, wie sie sich, besonders in romanischen Ländern, an den Saint Joseph anknüpften, müßen hier, weil nichts zur Sache bringend, übergangen werden. In die gleiche Rubrik gehören [!] natürlich auch die teils razionalistischen, teils spirituellem Bedürfnis entsprungenen [!] Annahme, ein rö­ mischer Kriegsknecht, oder der »heilige Geist«, sei sein Vater gewesen. Den heiligen Geist hatte er im Leib, aber in ganz anderer Weise, als die Drei-Ei­ nigkeits-Konstruktöre im 4ten und 5ten Jahrh. meinten, die sich den heiligen Geist als eine Person, als Taube, oder wie später der Steinmez an der Würz­ burger Marienkirche, der ihn sich als Klistier-Sprize dachte. Der psichjatrische Terminus, unter dem sich Christus uns darbietet, ist die

133 »Ich beschwöre Dich, Du höllischer Dämon und bösartiger Geist, der Du dieses Ver­ derben bringende Übel bewirkt hast, verschwinde!« I3'< Fußnote Panizzas: »Und dieses System reicht fest fundirt, aus Knochen und Schä­ deln der Vergangenheit gezimmert, weit hinunter bis nach Rom.« 133 Der Kampf um eine reformierte Psychiatrie, später auch »Anti-Psychiatrie« genannt. 136 Schon »Baiern« galt Panizza als keltisch und wälsch, monotheistisch, katholisch. Der Norden und das »Germanentum« standen aus seiner Sicht für kämpferische Vernunft und Aufklärung.

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paranoia137138 , die »primäre Verrüktheit«, oder, wie es Magnan139 nent, degeneration hereditaire™. Langsam steigt das Krankheitsbild an. Früh zeigen sich exzentrische, nervöse, originäre Züge und Perversitäten. Eine starke Inner­ lichkeit läßt die eigene Persönlichkeit als über die Maasen wichtig, die Welt als voller Beziehungen auf das eigene Ich, erscheinen. Bald kommen Halluzinazionen, doch mehr innerlicher Art, als sog. »innere Stimmen«, die das längst gehegte und gepflegte innere Stimmungsbild auch äußerlich manifestiren; so die unumgänglich notwendige äußerliche Gewißheit von der Realität der inzwischen übermäßig angewachsenen Persönlichkeit und ihrer Anexa in der Außenwelt feststellend. Inhaltlich füllen sich diese »Stimmen«, die bald

137 Fußnote Panizzas: »Wäre es uns möglich, Christus mit rein-psichjatrischen Augen zu beobachten, und könnten wir von der jammervollen Verzukerungs- und Ver­ süßungs-Arbeit absehen, die die Evangelisten in Anwendung des damals üblichen griechischen Biografen-Stils - etwa von der Gattung des Apollonius von Tyana über ihn gebracht haben, wir würden ihn wahrscheinlich als »Mattoiden« erken­ nen, mit welch’ nicht ganz glücklichem Ausdruck Lombroso jene Unterabteilung der Paranoia (Verrücktheit) bezeichnet hat, aus der uns Menschen mit intakter, ja geschärfter Logik und Intellekt, ebenso intaktem Sensorium, tiefem, oft eigenartig entwickeltem Gemütsleben, daneben nun aber mit einer geradezu koloßal entwickel­ ten Persönlichkeits-Empfindung entgegentreten, also Leute, wie wir sie heute etwa in Guttzeit, in Pudor, besonders aber in dem bekamen Maler Diefenbach wieder­ erkennen, und denen, da sie die Grenze von normaler Nüchternheit und gänzlichem Irrsinn innehalten, also sozusagen das denkbar größte Maas geistiger Originalität und genialer Umbiegung des Lebens in Freiheit vorführen, meist ein tiefgehender Einfluß auf ihre Zeitgenossen gesichert bleibt.« Hierzu: Apollonios von Tyana (um 40-um 120), Philosoph und Wundertäter im Stile Jesu. Cesare Lombroso (1835-1909), Arzt, Psychiater und Forensiker, bekannt durch »Genio e follia, in rapporto alla medicina legale, alla critica ed alla storia«, das 1887 bei Reclam in Leipzig unter dem Titel »Genie und Irrsinn in ihren Beziehungen zum Gesetz, zur Kritik und zur Geschichte« erschien. Panizza spiegelte es in seiner klei­ nen Schrift »Genie und Wahnsinn«. Lombroso stammte aus einer jüdischen Familie und lieferte mit seiner populären Forschung und deren Irrtümern den Nationalso­ zialisten Stoff für ihre biologistische Rassenlehre. Johannes Friedrich Guttzeit (1853-1935), gegen die Prügelstrafe, aber auch gegen die Mode anschreibender Gelehrter, religiöser Nudist und Prä-Hippie. Heinrich Pudor (1865-1943), ebenfalls Nudist und Feind der Frauenmode. Scham­ los entwickelte sich Pudor vom Vegetarier zum Antisemiten. Panizza befasste sich . 1894 in einer Rezension mit frühen Schriften des schreibenden Privatiers. Karl Wilhelm Diefenbach (1851-1913), Ur-Kommunarde, Lebensreformer und malendes Gesamtkunstwerk. Tod auf Capri. 138 Jacques Joseph Valentin Magnan (1835-1916), Psychiater, der die allmähliche Ent­ artung der Menschheit lehrte und gegen den Alkoholismus kämpfte. 139 Vererbbare Degeneration, Entartung.

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als Tesen und Sentenzen sich an das Publikum wenden werden, mit dem je­ weiligen povren140 Bildungsgehalt, den die Zeit an die Hand gibt. Je weniger solche Leute, solche Schenies, wie Richard Wagner einmal treffend bemerkt, an Schulweisheit aufgenommen haben, je beßer ist es, um so prachtvoller entwikelt sich der patologische Keim, der bestirnt ist, ganze Völkermaßen zu vergiften und geistig umzugestalten. Gegenüber der Originärität der Anlage ist ja das bischen ortodoxes Wesen oder transzendentales Hoffen, welches ein Volk gerade zu solcher Zeit bewegt, so unendlich unwichtig. Es ist wir [!] bei der Seidenraupe, die ihren Faden am nächsten Weißdorn oder tiefer liegenden Gestrüpp anheftet, um das eigene glizernde Gespinst zu beginnen. Dieses Ge­ spinst ist die Hauptsache, das Gestrüpp nebensächlich. Es ist sonach ziemlich unwichtig, daß Jesus gerade an den Meßiasglauben seiner Zeit anknüpfte und sich mit den alten, vertrakten Puppen eines un­ säglich harten und egoistisch gestalteten, judaischen Glaubenssistems her­ umschlagen mußte. Mit der Sicherheit des Ingeniums und dem unfehlbaren Instinkt des Paranoikers substituirte er sich selbst als der Kommende, als der Meßias, ahnungslos der Graßheit dieser Anmaasung für ein in seinen ortodoxen Anschauungen hart und steril gewordenes Volk wie die damali­ gen Juden. Und was er für alte Götterbilder damals zerschlug und von den Postamenten stürzte, kam ja noch viel weniger in Betracht. Denn seine neuen Versinnbildlichungen und Figuren waren ja unendlich viel schöner und zivilisirter. Und »sein Vater im Himmel« unterschied sich von dem alten, cho­ lerischen, jüdischen »Jehova«, wie ein Tedeum von der bluttriefenden Stätte eines Menschenopfers. Wir haben hier eines jener psichischen Ur-Fänomene vor uns, wie sie zwar nicht selten sind, aber doch selten in so befruchtender Weise in die Geistes­ geschichte von Völkern eingreifen und deren Gemütslage bestimmen. Dieses Identifiziren der eignen, heftigen und nicht zu bewältigenden Gefühle mit »Gott«, oder irgend einem hochklingenden Simbol - hier, wenn den Evan­ gelien zu glauben, »der liebe Vater im Himmel« - ist das Urbild eines geisti­ gen Prozeßes, die psichische Zwangslage eines nach Gründe [!] suchenden, innerlich heftig bewegten Menschen, der Saz des zureichenden Grundes nach Innen gekehrt und antropomorfisirt, wie wir ihn heute fast mit expe­ rimenteller Sicherheit erweisen können. Wir finden das Fänomen bei allen Religionsstiftern, bei Muhamed, bei Buddha, bei Swedenborg, bei Fox141, wir finden es bei Allen, die plözlich in überzeugender Weise ganze VölkerH0 Spärlich. 141 George Fox (1624-1691), einer der Gründerväter der Quäker, Moral und Gewissen des Individuums betonend.

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schaaren an ihre Befehle geheftet: beim heil. Franziskus, bei der Jungfrau von Orleans, bei Louise Lateau342; wir finden es in den Kreuzzügen, bei den sektirerischen, kommunistischen Auswanderern nach Amerika im vorigen Jahrhundert, - wir finden es bei den kezerischen Begharden343 im 14. und 15. Jhrh., und bei der ganzen Gruppe, die die religiösen Umwälzungen im 16. Jhrh. hervorgebracht haben, bei Nikolaus Storch142 144145 143 , bei Thomas Münzer345, 146 bei Hans Böhm346, bei Luther, bei den Wiedertäufern u. a. - und wir finden es schließlich bei den visionären Epileptikern in den Irrenanstalten, deren »Himmels-Erscheinungen« und »Offenbarungen« an Kraft und Schönheit in Nichts den gleichen psichischen Leistungen der christlichen Heiligen und Büßer in den Klöstern nachstehen. Daß also Christus sich auf »seinen lieben Vater im Himmel« beruft, ist bei aller prächtigen, künstlerischen und poe­ tischen Wirkung nur ein klinischer Spezialfall in der Weltgeschichte für ein psichologisch feststehendes und gesezmäßig eintretendes Ereignis in unserer Psiche. Wie er aber dann das Resultat seines jünglinghaften Empfindens und Den­ kens, die Frucht Jahre-langer Isolirtheit und melancholischer Anwandlun­ gen, die Stimmung einer ganz reinen, von sinlichen Regungen freien, fast homosexual gearteten, dabei glüklich und heiter-veranlagten Seele in seinen lehrhaften Gesängen und Preisungen einer menschenumfaßenden, selbstlo­ sen Nächstenliebe aushauchte und ausströmte, das war von einer Innigkeit, Süßigkeit und von einer Neuheit, daß man glaubte, die Nachtigall schlagen zu hören; hier lag der Punkt in seiner Psiche, wo er nicht zu überwältigen war; hier war die Note angegeben, mit der er prädestinirter Sieger war; jedem Feind gegenüber; hieße er Staat oder kirchliche Ortodoxie; denn Selbstlosig­ keit einer Sache ist die unbedingteste Garantie für den Sieg der Sache selbst; und der Versuch, den Träger der Sache noch zum Märtirer zu machen, be­ schleunigt und und [!] verstärkt nur noch den Sieg. Hier zeigt sich aber auch die gänzliche Unabhängigkeit und Intaktheit des Gefühlslebens von allen lo­ gischen Fehlern und funkzionellen Verkehrtheiten des Verstandes, eines Ver­

142 Louise Lateau (1850-1883), aufopferungsvolle Kultfigur ihrer Zeit, deren Trancen und Stigmata die Öffentlichkeit beschäftigten. 143 Beginen, Begutten oder Begarden waren getrenntgeschlechtlich lebende religiöse Ge­ meinschaften, die auf Gelübde und Klausur verzichteten. 144, Nikolaus Storch (1500-1536), sich als Prophet empfindender Privatreformator mit Visionen. 145 Thomas Müntzer (1489-1525), Reformator, spiritualistischer Theosoph und Sozial­ revolutionär. 146 Hans Böhm, auch Pauker von Niklashausen genannt (um 1458-1476), musizieren­ der Viehhirte und Laienprediger, der Zeitgenossen zur Wallfahrt trieb.

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Standes, der längst bei Jesus, wie sein schroffes Sich-Gegenüberstellen gegen die Staatsraison zeigt, dem Bereiche deßen, was wir heute empirisch »Geistes­ krankheit« nennen, verfallen war: die Primordialität des Gefühlslebens vor dem Verstandesleben. Und ähnlich, wie wir oft bei sog. moral insanity das Anwachsen des Verstandes zu einer glänzenden Höhe beobachten können, sehen wir hier bei ausgesprochener Eingeengtheit des Verstandes die Brunnen und Schleußen eines überwältigenden Gefühlslebens sich öffnen. Nur ein einzigesmal hat sich später in der Weltgeschichte die Anstekung der Maßen von dem Gefühlsinhalt eines Einzelnen nocheinmal in dieser Weise gezeigt: bei Franz von Aßisi; freilich in Form einer Wiederholung, und in fla­ cherer Weise, und ohne die verstärkende Hülfe des Märtirertums. Doch der Kampf stand noch bevor. Nachdem er Jahrelang in der Einsamkeit verhart und dort - wie Luther, wie Mahomed, wie Savonarola147148 149 - wie alle diese paranoischen Geister, von einer fabelhaften geistigen Selbstsucht geplagten jungen Menschen - mit dem Teufel gerungen und alle Versuchungen abgeschlagen, und das Sistem des Selbst-Wahns gegen alle Feinde der Logik und der raison sieghaft ausgebaut, und den Prozeß der süßen Selbst-Vergottung glüklich zu Ende gebracht, tritt er hinaus, gegen alle Lapalien alltäglicher Zänkerei und Schelsucht gewapnet und im Besitz einer schneidig-satirischen Dialektir-Kunst, und fängt an, sich seinen Mitmenschen aufzuoktroiren. Hier tritt er harmlos in den Tempel ein und mischt sich unter die Oponenten. Dort harangirt er, als ein echter Agi­ tator, wie ein zweiter Laßalle}4i, wie ein zweiter Richard Wagner, die Men­ ge, die diesem süßen, blutleeren Jüngling nicht widerstehen kann. Ueberall, wo gerade Gelegenheit ist, beim Fischfang, auf der Hochzeit, bei Leichenbegängnißen, an der Zöllner-Schranke, während der Sabat-Ruhe greift er ein, knüpft an die kleinen Tages-Ereigniße an und wirft, wie Sokrates, den Harm­ los-Dahinwandelnden seine scharfen Antitesen in den Weg. Auch die tricks damaliger Wundertäter - die unvermeidliche Zugabe, um sich das air eines Uebermenschen, eines Geistesgewaltigen, eines Zauberers zu geben - hat er sich alle zu eigen gemacht und beherscht sie mit großer Bravur und Eleganz. Gar aber, wenn er eine glükliche corona™9 junger Landmädchen, erschöpfter Arbeitsfrauen, gutmütiger Prostituirten und naiver Taglöhner um sich ver­ sammelt hat, und darf sie die ganze zauberische Wirkung seiner innersten 147 Girolamo Maria Francesco Matteo Savonarola (1452-1498), Dominikanermönch, der sich früh radikalisierte und gegen den Pomp von Adel und Klerus zu Felde zog. Man verbrannte ihn. 148 Ferdinand Lassalle (1825-1864), nationalistischer Frühsozialist mit Neigung zum Duell, der er erlag. 149 Kranz, im Sinne von Kreis, Gruppe.

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Herzensregungen mit einem »Selig sind die Friedfertigen! Selig sind die Ar­ men! Selig sind die reines Herzens sind!« spüren laßen, und nimt von diesen geplagten Proletarier-Naturen die Angst und den Schimpf ihres Daseins, und öffnet ihnen den Himmel, der eigens für sie, mit Ausschluß der Reichen, be­ reitet ist - dann hat er sie Alle. Welcher Unterschied muß zwischen diesen rührenden Lauten eines Galiläischen Naturgefühls und dem harten, silben­ meßenden Gezänk ortodoxer Tempelgelehrten für diese Zuhörer bestanden haben! Wie mußten sie sich beglükt, von diesem äterischen jungen Menschen entzükt und begeistert fühlen! Haufenweise liefen sie ihm nach, wie später dem Pfeifer von Niklashausen1S0 am Ende des 15. Jhrh., wo immer er die süße Flöte seines Herzens ertönen ließ, schwuren hoch und heilig auf ihn, glaubten ihm alles, was er verlangte, seine Davidische Abkunft wie seine Gottes-Sohn­ schaft und sein zukünftiges kommunistisches Himmel-Reich, welches er auf Erden eröffnen werde - auf ein bischen Mehr oder Weniger kam es da nicht mehr an - und bald konte er die Provinz und das organisirte Landvolk gegen die prozige, schwelgende Hauptstadt im Sturm heranführen. Dort war man allerdings aufmerksam geworden. Dies schien eine gefähr­ liche Nummer. Aehnliche Geschichten kamen ja alle Tage vor. Bei der all­ gemeinen Unzufriedenheit, den wirklich niederträchtigen politischen Verhältnißen und der stumpfen Gleichgültigkeit gegen Alles, auch das Tollste, bei einem geknechteten, geistig unterdrükten Volk, kam es alle Augenblik vor, daß ein Verwegener oder Exaltirter den Straßenpöbel an sich zog, ihn hinausführte auf das steinige, sterile flache Land, dort harangirte und durch Hunger schwächte, um dann die solchermaasen zur Aufnahme jeder Sugestion Bereiten und Halb-Wahnwizig-Gewordenen im Sturm gegen die Stadt zu führen. Wiederholt war es geglükt und das Proletariat hatte sich dann in den Besiz des Stadtregiments gesezt. Meist aber avertirten die ortodoxen Teokraten, die hier ein politisches Scheinregiment führten, den römischen Landpfleger und baten um den »weltlichen Arm«. Römische Reiterei ward dann hinausgeschikt und die Entkräfteten und schlecht Bewafneten einfach zusammengehauen. Daß es sich hier bei Jesus vom Standpunkt der Staatsräson - und welchen anderen solte es denn geben? - um einen Aufrührer ganz ähnlicher Art han­ delte, daß war außer allem Zweifel. Aber die große Menge, um die es sich hier handelte, die zahlreichen Agitazionsreisen, die er gemacht hatte, das Auffiakern der Empörung auf allen Seiten, in verschiedenen Provinzen, die lange Vorbereitungszeit - zwei Jahre - die die Bewegung genommen hatte, gab der Regierung doch zu denken. 150 D. i.: Hans Böhm (um 1458-1476).

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Man probirte zuerst, ihn von der schwachen Seite zu nehmen und ihn sanft zu entwafnen, indem man sein - Gott wie ärmliches und offenbar verrüktes! - Lehrsistem widerlegte; und schikte ihm Farisäer auf den Weg. Aber siehe da, die waren dem Jungen nicht gewachsen. Sein Lehrsistem und seine Dialektir-Kunst, das waren seine starke Seite, nicht seiner schwachen Seite. Und wie gab er ihnen hinaus! Ein echter Paranoiker, der, troz der in seiner Psiche wuchernden grandiosen und graßen Wahnideen, seinen Intellekt zu einer scharfen, ja glänzenden Verteidigungswaffe umgeschmiedet hatte. Beizebub? Wie hat er ihnen den Vorwurf des Teufelsbündnißes hinausbezahlt und seine rührend-reine Seele diesen geistigen Schmuzfinken entgegengehalten! Was solte man nun tun? Irrenhäuser gab es nicht. Die »kranke« Psiche wurde zudem teologisch konstruirt. Psichjater gab es noch weniger. Aber Staatsanwälte gab’s. Die gibt es immer. So griff man denn zum Gottesläs­ terungsparagrafen. Das ist ja in solchen Fällen immer das Einfachste. Das Gouvernement sucht sich einen Paragrafen heraus, unter dem man den un­ angenehmen Menschen definitiv losbekomt. Ist zufällig die Totesstrafe nicht eingeführt, dann wendet man juristisch die Sache so, daß wenigstens 15 Jahre Zuchthaus herauskommen. Inzwischen wird er geisteskrank oder die Disziplin bringt ihn um. So oder so! Auf dem Gericht ist man ja seiner Sache sicher. - Hier lag die Sache noch günstiger, weil auf Gotteslästerung - und hier war er zu überführen - die Totesstrafe stand. Dann war auch diese Bewe­ gung niedergeschlagen, und der bürokratische Aparat hatte wie in so vielen früheren Fällen zur vollständigen Zufriedenheit funkzionirt. Aber der Wahnsinn machte in dem Kopfe unseres heidenmäßigen Jünglings reißendere Fortschritte, als die Herrn sich in Jerusalem träumen ließen. Als er sah, daß die psichische Anstekung seines Gottes-Reiches auf Erden zu lang­ sam vorwärts schreite und sich vertrötle, daß er aber die Volksmaße noch hinter sich habe, wagte er den coup und führte, wie Masaniello151, seine An­ hänger zum Sturm. - Die Evangelisten haben in ihrer Jahrhunderte-langen Verzukerungs-Arbeit diese Tat zu einem süßen Frühlings-Einzug mit Palm­ wedeln und weißgekleideten Mädchen gewandelt; als ob eine politische Herr­ schaft und eine römische Besazungstruppe mit Palmwedeln fortgeweht wer­ den könne! - Im ersten Ansturm warf er Alles nieder. Und faktisch bestand für einige Tage, für einige Wochen, seine Teokratie, wie später die Savonarola’s in Florenz, zu Recht. - Daß er das prästirte, mit seinem kranken Hirn, muß die Bewunderung jedes Kenners, jedes Psichjaters hervorrufen. - Aber wie ist denn bei diesen halb intelligenten, halb impulsiven Naturen Alles oft wunder­

151 Masaniello (1620-1647), 1647 Anführer bei der Hungerrevolte in Neapel.

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bar gemischt! Man denke doch an Knipperdollinck 151 und seine Leute, die ein halb politisch-, halb religiös-erotisch-fantastisches Reich s. Z. in Münster mit der größten Ehrlichkeit und zugleich mit der durchtriebensten Schlau­ heit über Jahresfrist hinaus führten und prästirten! Oder an jenen Zwickauer Tuchmacher Nikolaus Storch, der mit Halluzinazionen beladen Jahrelang in Mitteldeutschland umherzog und überall die Geister auffegte! Es gibt eben Zeiten, da sind Halluzinanten nicht mit Gold aufzuwiegen, und sie, ihre wei­ chen mit wunderbarer Gestaltungskraft begabten Naturen, die einzige Mög­ lichkeit, die in ihres Herzens Härte und Schädels Dike vollständig steril ge­ wordenen Maßen mit neuem Geist zu erfüllen. Juristen möchten in solchen Fällen, wenn dieselben vor ihr Forum kommen, immer unterscheiden, was noch dem »freien Willen«, der Zurechnungsfähigkeit mit den normalen Hem­ mungen, und was der unwiderstehlichen Impulsivität - was sie »Krankheit« nennen - zukomt. Als ob man das scheiden könne! Einem Psichologen graut es vor solchem Verfahren. Was sind Halluzinazionen? Es sind autochtone Aeußerungen der menschlichen Psiche, die uns mit den verborgensten Tiefen der menschlichen Seele bekant machen, der lezten Instanz, die wir als bewußte Wesen besizen. Sind sie religiös gefärbt, dann sind sie unbesiegbar. Weil sie auf gleiche Tiefen und Urgründe bei den zuhörenden Maßen stoßen. Werden sie aufgenommen, dann sind sie »die Wahrheit«. Wie M. Jacobi152 153 schon rich­ tig sagte: »Der Wahnsinn, wenn er epidemisch wird, heißt Vernunft.« - Die Halluzinazionen und Visionen Mahomed’s bilden die reale Grundlage für das islamitische Glaubenssistem. - Solche Leute nach der Regulatur juristischer Nominalismen behandeln wollen, heißt einen Riesen mit dem Lineal meßen, heißt ein Kunstwerk nach dem Materjal abschäzen, aus dem es hergestellt ist, heißt etwa: dem Vorspiel zu »Lohengrin« mit einem fisikalischen Lehrbuch über Akustik zu Leibe gehen wollen. - Verfaßer erinnert sich noch lebhaft einer prächtigen Figur in der Münchener Kreis-Irrenanstalt, eines armen Fei­ lenhauers B., deßen Schulranzen, wie begreiflich, mit den poversten Bildungs­ mitteln ausgestattet war. Er war, abgesehen von seinen paar Wahnideen, nach der intellektuellen Seite vollständig intakt. Seine räsonirende Kraft war frisch und klar. Nach der Gefühlsseite, nach der sensoriellen Seite, nach der Seite der Eingebungen und Ahnungen hatte er sich vollständig zur Christus-ähn­ lichen Figur mit jenen wunderbaren Allüren der Milde und der bestrikenden Sanftmut herangebildet. Jahre lang war er Landauf Landab gezogen, um sein

152 Bernd Knipperdollinck (um 1495-1536), religiös-rebellischer Scharfrichter und später selbst Exekutierter. 153 Maximilian Jacobi (1775-1858), aufklärerischer »Irrenarzt« und Vorfahre des Psy­ chiaters Bernhard von Gudden, dessen Assistent wiederum Panizza war.

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ungeheures Gefühl seiner meskinen154 Umgebung, seiner eigenen Armut anzu­ paßen. Und endlich ging’s nicht mehr. Und jezt stand er dort mit brennendem Blik, mit der ganzen Glut seiner Seele den Arzt umklammernd, bereit, Alles für die Heiligkeit seines Inneren zu opfern, eines Inneren, welches er mit ein paar Jugenderinnerungen, mit einigen Schulkentnißen vollständig in der rüh­ rendsten Einfalt durch einige heiligmäßige Sentenzen zu gestalten im Stande war. - Das ist das Menschenmaterial, aus dem Religionsstifter geschnizt wer­ den. Religionen sind relative Geisteswerte und -Wahrheiten, die einen güns­ tigen Boden zum Fortwuchern finden. Es gibt keine absolute Wahrheiten. Es gibt nur das relative Maas von Selbst-Offenbarung im Menschen, und die Anstekung durch die Maßen. Dieser junge Mann in Zeiten der Not, der Trübsal, der Angst, der allgemeinen Misere hinausgelaßen, unterwirft sich mit seiner keuschen Geste, mit einer der allgemeinen Trübsal angepaßten, überirdischen Sentenz, Dorf auf Dorf und Fleken auf Fleken. Dieser Feilenhauer hatte eine feinere Figur gemacht als der hämische Tuchmacher Nikolaus Storch im 16ten Jhrh., der sich Landstrich um Landstrich unterwarf, und sogar einen Mann wie Melanchthon155 tief erschütterte. Aber in Jerusalem stand die Reakzion bevor, und die Behörden hatten nach der ersten Ueberraschung sich rasch ralliirt. Wie hier Verstärkung der Ener­ gie, so war auf der andern Seite, bei Jesus, Erschlaffung nach einer furchtba­ ren geistigen Leistung eingetreten. Und wenn eine Sache nicht vorwärts geht, dann geht sie immer zurük. Was konte der unvergleichliche Jüngling, der mit dem Frühlingssturm seines Gefühles Alles vor sich her niedergeworfen und begeistert hatte, in dieser weitausgedehnten Stadt an Staatseinrichtun­ gen schaffen, an praktischer Teokratie leisten? Mit was wolte er den troknen bürokratischen Aparat, der hier das tägliche Leben in Ordnung hielt, und der doch nicht in seinen Händen war, ersezen, er, der nur Seligpreisungen hauchen, oder, im günstigsten Fall, harangiren und fantasiren konte. Bei der französischen Komune156 handelte es sich um Leute, die an Ort und Stelle gelebt hatten, den Gang der Geschäfte kanten und ihn, tant bien que mal157158 , wenigstens aufrecht erhalten konten. Aber hier handelte es sich um Fischer wie in Portici15* bei Masaniello - um Fischer, um Handwerker, um einen Haufen zusammengelaufenen, gutmütigen, aber gänzlich unfähigen Volks. In solchen Fällen ist die Niederschlagung des Putsches immer mit Sicherheit

154 155 156 157 158

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Mesquin: kärglich, ärmlich. Philipp Melanchthon (1497-1560), Humanist, Theologe, Reformator. Commune, in Frankreich untere Verwaltungseinheit. Einigermaßen. Einstige Fischerstadt nahe Neapel.

zu erwarten. Und hier speziell handelte es sich zunächst nur darum, den An­ stifter der ganzen Bewegung, den actor rerum159, den fanatischen und kran­ ken Kopf in seine Hände zu bekommen. Das Uebrige wolte nicht viel heißen. Auch hatte die Bewegung, wie es scheint, sehr bald darauf verzichtet, das Innere Jerusalems als sein Eigentum zu betrachten, und sich in die Umgebung geflüchtet. Die Verhaftung Jesu gelang anscheinend ohne Schwierigkeit. Eine Patrouille wurde, sobald man seinen Aufenthaltsort erfahren, hinausgeschikt und nahm ihn in Empfang. Im Nu war, als die Realität der Tatsachen herein­ brach, der ganze Haufe der Anhänger zerstoben. Nun wäre die Sache einfach gegangen und bei der Unkomplizirtheit des Falles - die einfache Ueberführung des geständigen Gotteslästerers - die An­ gelegenheit in wenigen Tagen erledigt gewesen, wenn nicht endlose Kompe­ tenzschwierigkeiten zwischen dem Synedrium, der jüdischen Religionsbehör­ de, und der römischen Exekuzion bestanden hätten, und, wie da immer so geht, eine Menge kleinlicher Intereßen sich bei dieser Gelegenheit auf fremde Kosten zu regeln unternommen hätten. Die römische Behörde mit ihrer alten kolonisatorischen Schulung und ihrem großartigen Blik für Parität vermied es ängstlich, sich in die religiösen Streitigkeiten dieser Duodez-Völkchen zu mischen, auch wenn ihr der örtliche Kult - der nicht einmal eine Ausbeute nach der sinlichen Seite für Rom erlaubte - weniger widerwärtig gewesen wäre. Und die jüdische Kult-Behörde andererseits hielt streng auf die Selb­ ständigkeit und die Unverlezlichkeit ihrer Anordnungen im Hinblik auf die Pastorisirung des Volkes, die einzige Freiheit, die ihr geblieben war. Zwi­ schen diesen beiden Gewalten war also die Möglichkeit einer Kolision, eines Kompetenzstreits, sozusagen ausgeschloßen. Und nur in einem Punkt verbat sich die römische Exekutive ernstlich jede Inanspruchnahme des weltlichen Arms: im Fällen von Totesurteilen und deren Vollziehung wegen angebli­ cher religiöser Vergehen. Einem Staat, wie dem römischen, dem längst die eigene Landes-Religion augurenhafter Mumpiz geworden war, und der aus dem großen Reservoir seiner asiatischen Provinzen Alles das zusammenge­ tragen hatte, was an erotisch gefärbten Kulten und religiösem Sinneskizel sich für Rom exportfähig erwiesen hatte, mußte es abstrus und unanständig vorkommen, Jemanden wegen religiöser Meinungen hinzurichten. Nun war Jesus nach dem jüdischen Gesez zweifellos überführter Gotteslästerer. Und auf Gotteslästerung stand nach dem jüdischen Gesez Totesstrafe. Wie aber diese Totesstrafe vollziehen, da der weltliche Arm religiöse Hinrichtungen auszuführen sich weigerte? Jezt entstand die große Frage: unter welchem Paragrafen bringen wir den Menschen unter? Ein Gelaufe und Gefrage nach 159 Wortführer, öffentlich Handelnder in einer Angelegenheit.

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einem Paragrafen. Ein Paragraf, ein Paragraf! Irgend ein Paragraf, der die Anwendung der Totesstrafe gestattet. Glücklicherweise hatte Jesus in einem unbewachten Moment auch Etwas von einem »König« gesprochen, »König der Juden«. Dies schien politischen Beigeschmak zu haben. - » »Bist du der König der Juden?«« fragt ihn Pilatus. - »Du sagst es!« - Nun schien’s ge­ wonnen. Und nun entstand jenes widerwärtige Gezeter und Gelaufe von Behörden und Gerichtsdienern, jenes verlogene Plädiren gekaufter Advoka­ ten, jenes Augenzwinkern und Akten-Umregistriren, jenes Aussuchen von Strafkammern, jene scheußliche Wühlarbeit von agents provocateurs160, die die Maße zu einem »Kreuzige!« aufstachelten, und Taggeld-süchtiger Kron­ zeugen, die zu jeder Wortverdrehung bereit waren, jenes Telegrafiren nach neuen Zeugen und Instanzengeschiebe, bei dem dem Staatsanwalt der Kopf brumt - denn wenn er den Prozeß verliert (es ist ein politischer Prozeß und die Verurteilung von der Behörde befohlen), dann ist es mit dem Avancement vorbei. Jeder Tag bringt eine neue Konstellazion, jede Stunde einen Paragra­ fenwechsel. Der »Meßias«-Paragraf, und der »Gottes-Sohn«-Paragraf, und der Paragraf, unter den falt, daß er gesagt habe: »er wolle den Tempel in drei Tagen abbrechen«, sind alle fallen gelaßen worden. Es geht mit dem »Gotteslästerungs«-Paragraf nicht. Jezt komt der »Majestätsbeleidigungs«-Paragraf. »König der Juden.« So geht’s, wenn’s geht............ Und es ging. Zwar Pilatus, ein ruhiger, trokner Beamter, dem dieses ekel­ hafte Gezeter bis in der Seele zuwider war, merkte genau, wo man hinaus wolle. Er erkante sofort, daß das Alles juristischer Schwindel und Humbug war, dieses Hinüber-Spielen auf’s Politische, erbärmlicher Paragrafen-Wechsel und Rechtsbiegung. »Was hat er denn Uebels getan? Ich finde keine Ursach an diesem Menschen!« - Aber die Maße war doch zu drohend. Die Agenten des Synedriums hatten furchtbar gearbeitet. Jezt fing die Sache wirklich an, politisch zu werden. Und dann: das Bischen Jesus. Noch dazu aus Galiläa. Ein Provinzler. Ein Handwerker. Ein Proletarier. Und offenbar krank. Das war das Leben dieses Mannes nicht wert, daß auch noch ein politischer Auf­ ruhr entstehe. - Am Ende die Aufforderung zu einem Immediat-Bericht nach Rom? - Eine krumme Miene des Kaisers? - o Gott!....... Und so starb Jesus. Starb den Tot durch Henkershand. Ein Paranoiker. Aber ein Geistesheld, der mit der ganzen zähen, nie wankenden Kraft des paranoi­ schen Wahns seine Ideen bis zum lezten Blutstropfen verteidigt; in dem er als Märtirer fält, die Maßen mit dem Inhalte seines Wahns anstekt, und so der »Geisteskrankheit« eine fast 2000jährige Dauer von »Wahrheit« verschaft. 160 Agent Provocateur, ein Spitzel, der im Auftrag der Mächtigen, meist des Staates, für dann zu bestrafende Unruhe sorgen soll.

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Er starb wie Sokrates, wie Savonarola, wie Hus, wie Servet'6', wie Sand'61, wie die Perowskaja'6i, wie Angtolillo'64, in dem als psichisches Fänomen ein­ zigen und unvergleichlichen Bewußtsein, nur durch den Tot einer idealisti­ schen Idee zum Siege zu verhelfen. Die Evangelienschreiber haben den Prozeß der Legendisirung an diesem wunderbaren Anarchisten bis zur Uebersüßung und Rührseligkeit vollzogen. Und das Meiste an diesem herlichen Charakterbild ist verschwommen und unsicher. Aber Eines scheint sicher zu sein: Das allmäliche und ruhige Auf­ wachsen und Keimen des eigentümlichen Ideengehalts bei ihm, das echt pa­ ranoische, primär durch die Vererbung gegebene und dann mit konsequenter Sicherheit bis zur Felsenhärte fortschreitende Anwachsen jener Ideen, jenes Wahns, jenes geistigen Fixums, das sich die Welt unterwerfen wird, - und dann das nunquam retrorsum'6S\ das Niemals zurük! auf dem einmal ein­ geschlagenen Pfade geistiger Entwiklung, das Aushalten bis zum lezten Mo­ ment: ..... »Du sagst es!« Und dies muß ihm selbst der Ateist, der Psichologe laßen. Daß er in Jerusa­ lem vor dieser erbärmlichen Sorte von Advokaten, Winkelschreibern, Polizis­ ten, Staatsbeamten, Doktoren, Geheim-Spizeln und Bürokraten, von denen jeder auf einen Wink des Kaisers für eine Gunstbezeugung, einen Orden, eine Gehaltserhöhung Alles, aber auch Alles getan hätte, nicht zurükhufte, keine Konzeßion machte, nie um Gnade bat, sondern als einzige Verteidigung diesen Kasuisten das blanke Ehrenschild seiner reinen Absicht und seiner rührenden Herzens-Güte entgegenhielt, das wird ihm zum unauslöschlichen Ruhmestitel gereichen, wenn längst der lezte Leipziger Ortodoxen-Schädel im Grabe vermodert sein wird.

161 Michael Servetus (um 1510-1553), als »Miguel Serveto y Reves« Arzt, als »Servetus« Humanist und als Theologe Gegner des Dogmas von der Trinität Gottes. Als Ketzer verbrannt. 162 Karl Ludwig Sand (1795-1820), hitzköpfiger Burschenschafter, 1817 Teilnehmer am Wartburgfest, 1819 erstach er den Schriftsteller August von Kotzebue, den er für einen Feind deutscher Freiheit hielt. 163 Sofja Perowskaja (1853-1881), russische Revolutionärin, am Attentat auf Zar Alexander II. beteiligt und daraufhin als Mörderin hingerichtet. Panizzas Prophetie von einer russischen Revolution stützte sich auf genaue Kenntnisse anarchistischer und revolutionärer Bewegungen im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts. 16,1 Michele Angiolillo Lombardi (1871-1897), italienischer Anarchist, der 1897 Premi­ erminister Antonio Cänovas del Castillo tötete. Dieser war in Spanien mit äußerster Härte und aller Macht des Staates gegen Republikaner, Sozialisten und Anarchisten vorgegangen. 165 Die Parole »Niemals zurück« geht auf die Welfen zurück, einst mächtiger Hochadel.

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Die Kunst und das Böse, Zeichnung Panizzas

Das rothe Haus Es war um Mitternacht, ich ging Nach Hause zu eilen alleine, Es war eine sanfte Sommernacht Mit weissem Vollmondscheine.

Mein Weg war lang, und äusser der Stadt Lief er gekrümmt und ferne, Ich wählt’ einen kürzer’n, denn ich war müd, Doch wählt ich ihn nicht gerne;

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Denn an dem Weg da lag ein Haus In rothem, flammenden Schimmer, Baroken Stils, - vor diesem Haus Laut warnen hörte ich immer;

Zimmer an Zimmer sei besetzt Mit sonderbaren Tröpfen, So hört’ ich, - gefüllt bis unter das Dach Mit geistesverwirrten Köpfen;

Und Köpfe voller Gedanken, sogar Gedanken die schwere Menge, Die Körper kämen nicht in Betracht, Die Köpfe oft in’s Gedränge. Die seltensten Gedanken spännen sie aus, Und liessen davon sich umgarnen, Doch vor den Gedanken und vor dem Haus Nicht laut genug hörte ich warnen.

Es sei die Geschichte von jenem Baum, Von dem verboten zu essen, Die Frucht sei wunderbar und süss, Doch die Folgen nicht zu bemessen.

Es sei die Geschichte vom Bäumchen, das Nie aufhörte sich zu beklagen, Und gläserne, blinkende Blätter bekam, Doch die gläsernen Blätter zerbrachen. Von Prometheus die stolze Sage sei’s, Vom Trotze, der nie entmuthet, Licht haben musste um all’s in der Welt, Und hat er’s, dann lachend verblutet.

(Es erinn’re an jenen sanften Mann, Der gequält von den schwärzesten Fragen, Und endlich bekannte, was ihn gequält, Und dann bat, ihn an’s Kreuz zu schlagen.)

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Dies überlegend kam ich hinaus, Der Vollmond strahlte hernieden, Da lag das prächtige, rothe Haus, Es lag im tiefsten Frieden.

Und all die grübelnden Häupter jetzt, Die unergründlich tiefen, Die ruhten nun von der Tageslast, Vom Denken aus, und schliefen.

Getäuschte Lippen, einst geküsst, Und tiefgekränkte Herzen, Die ruhten nun eine glückliche Nacht Von ihren Wahnsinnsschmerzen. Und Träume vielleicht aus goldner Zeit, Aus Sonnentagen, aus hellen, Als sie noch gedankenarm und froh, Die matten Seelen schwellen. Mir ward bei diesem Anblick so weh’, Ich dacht’ an die Qualen, die meinen, An das böse Gezänk’ in der eigenen Brust, Ich musste bitterlich weinen.

Ich dacht’ an den goldenen Jugendtraum, Ich dacht an die Mutter, die gute, An eingestürztes Lebensglück. Mir ward so schmerzlich zu Muthe. Doch sieh’, da regt’s an den Fenstern sich, Und die Gardinen rückten, Und weisse Gestalten in Röckchen und Hemd Die schauten heraus und nickten;

Männer und Frauen, sie schienen sich Für mich zu interessieren, Oft guckten weissnackend die Glieder heraus, Doch that sie’s nicht genieren.

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Die ersten holten and’re herbei. Es regt sich in jedem Geschosse, Es war, als wich ein Zauberbann Von diesem rothen Schlosse;

Als wär’ ein tausendjähr’ger Schlaf Auf diesen Leuten gelegen, Nun kommt der Prinz und spricht das Wort, Und nun beginnt sich’s zu regen.

Sie krochen selbst auf die Dächer hinauf Wie flinke behende Affen, Und deuten mit mageren Armen her Auf mich herab und gaffen. Es gab ein wildes, tolles Gedräng Mit ihren Busen und Kröpfen, Und ganze Fenster waren oft Bepflanzt mit lauter Köpfen. Sie blickten müd und kummervoll, Und scheuten sich zu sprechen, Es wollte nach so langer Zeit Keiner das Schweigen brechen. Die Augen rissen sie auf, - doch ach, Sie hatten wohl viel vergessen, Ich aber kannte manchen Mann, Mit dem ich am Tisch einst gesessen. Auch viel Familienähnlichkeit War hier, - der Vater nebst Sohne, Bruder und Schwester, der Stammbaum ganz Von manchem Graf und Barone. Auch mancher Freund, der einst, ich weiss, Am besten den Horaz übersetzte, Sah bleich und müd zum Fenster ’raus Und gesticulirte und schwätzte.

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Ich sah noch manches bekannte Gesicht, Doch will ich nicht länger verweilen, Man schont die Allernächsten gern, Drum lasst uns weiter eilen. Zuletzt kam auch der Director herbei, Er war im schwarzen Fracke, Sein riesiger Schädel glänzend und feist, Einen Orden am fetten Genacke. Der Director sei der geschickteste Mann, So hört’ ich, in Schmeicheln, Verführen; Die Nüchternsten und Gesunden sogar Vermöchte er zu rühren.

(Es erinnre an Scharfrichter dies Voll so zuversichtlicher Miene, Dass es manche gelüstet zu legen sich Unter seine Guillotine.) So behaglich er! Was die andern hier So verzehrte, schien ihm zu passen; Es schlug ihm an; - vom ersten Stock Fing er an mit mir zu spassen:

»Aha mein Freund!« (voll Bonhomie), »Sind wir nicht alte Bekannte? Bitte, treten sie näher nur, Sie sind doch der - wiegenannte?

»Ich vergass, - gleichviel, Sie sind mein Gast, Und soll’n wie zu Hause sich fühlen, Was Sie auch herführt, -« weiter unten rief’s: » »Es wird ihm im Kopfe wühlen!« « »Eine geist’ge Freistatt suchen Sie hier Für Ihre Ideen und Sparren, Die sollen Sie haben, -« die andern schrei’n: » »Wir haben die feinsten Narren!« «

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»Sie erhalten ein Zimmerchen nett und klein Mit Riegeln erster Classe, Die Kost wird allgemein gelobt, Der Staat füllt uns’re Casse.

Gelegenheit zum Denken ist hier, Zum trüben und zum heitern; Die Hirne schiessen hier in’s Kraut, Die Köpfe sich erweitern, Die Köpfe wachsen riesengross Mit Augen stier und hässlich, Arme und Beinchen werden klein, Die Gedanken unermesslich. Dort hinten ruht eine Collection Der prächtigsten Exemplare, Wir freuen uns schon auf ihr Hirn, Sie wuchsen viele Jahre.« Er deutete hier abseits, - voll Grau’n Folgt’ ich ohne Äthern zu schöpfen Und in der That, ich sah einen Saal Voll lauter schwitzenden Köpfen.

Von unten bis oben mit Köpfen gepfropft, Die Besinnung kam mir in’s Schwanken, Ein Zimmer mit lauter Köpfen voll, Die Köpfe voller Gedanken.

Köpfe bedeutend, kugelrund, Mit griechischen Nasen und Stirnen; Man sah es gährte und blitzte stark In diesen mächtigen Hirnen. Mit vorgetriebenen Augen oft Der Eine den Andern ansah, Eifersucht glast aus den Augen heraus, Sie kamen sich oft zu nah.

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Zum Kampfe käm’s hier sicherlich Doch fehlt es an Muskeln und Waffen: Die Spinnengliederchen sind zu fein Um den Kopf nur fortzuschaffen. Der Kampf, den sie führen, ist stumm und leis, Es brüllen im Kopf die Haubitzen, Gedankenschlünde brechen los Und geist’ge Lanzen blitzen. -

Einen Augenblick ging der Director zurück Einen Orden noch umzuhängen: Da fingen die Andern mit Ungestüm Gleich an mich zu bedrängen: »Komm doch zu uns herein und schau, Wir liegen in herrlichen Betten, Wir wandeln auf Parquet, und kaum, Höchst selten findest Du Ketten. Komm her zu uns, Du passt zu uns, Auch Deine Gedanken stürmen; Hier bist Du völlig gedankenfrei, Wir werden Dich schützen und schirmen.

Du brauchst keinen Pass und keinen Schein, Wenn Du nur Ideen im Hirne, Doch die hast Du, - man sieht sie brennen Dir ja Fast durch die verwegene Stirne. Du lebst wie ein Fürst hier, in Saus und Braus, Wein giebt es täglich zu schöpfen; Die besten Gerichte speist Du dazu, Wir wollen Dich dann köpfen.

Entflieh der Welt und ihrem Zwang, Dem geistigen Chikaniren, Hier bade Dich im Ideenrausch, Wir wollen Dich dann se^iren.

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Hier bist du jeglicher Fessel frei, Darfst toben, rasen und fluchen, Und leisten, was Dein Gehirn nur kann, Wir wollens dann genau untersuchen.

Die armen Menschen da draussen bei Euch Unter Zwang und Gesetzesverhängniss Sind übel daran, sie dauern uns sehr, Sie leben in lauter Bedrängniss.

Was sie zum täglichen Lebenskampf An geistigem Quantum spenden Lohnt nicht der Mühe, verglichen mit dem, Was wir nur stündlich verwenden.

Komm’ zu uns; - ein glänzendes Avancement! Du wirst Kaiser, Obergott, Rector Totius mundi, - und bist Du gescheid, So machen wir Dich zum Director!« Sie lockten mich mit vieler Lust, Mit sanftem ehrlichen Girren; Wie Zigeuner mit bäckigen Aepfeln oft Die blonden Kinder kirren.

Mich ergreifen durften beileibe sie nicht, Selbst musst’ ich hinein mich wagen, Im Märchen hat Alles sein Aber und Wenn, Doch dann nähmen sie mich beim Kragen. Im Märchen wird Alles bequem gemacht, Man lockt mit Braten und Schüsseln, Schon stunden zwei lachende Portiers da Und rasselten mit den Schlüsseln.

Ups lockt oft eine geheime Lust, Das Märchen muss sich erfüllen, Wir kämpfen, doch wir vermögen nichts Mit unser’m stolzen Willen.

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Doch dacht’ ich mir, noch bist Du gesund, Die wollen Dich nur betrügen, Noch bist Du gesund, noch bist Du gescheid, Und lässt das Haus links liegen!

Noch hast Du unendlich lieb die Welt Mit all’ ihren Schmerzen und Jammer, Und lieber verbluten, als leben hier In dieser rothen Kammer! Noch hast du die Liebe, - sie ist gewiss Das mächtigste der Gefühle, Sie rettet Dich vor dem rothen Haus Und vor dem schmutz’gen Gewühle.

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Bei diesem Volk ist Alles Darmarbeit und Nierenfunkzion

MÜNCHEN

München, Blick vom Isarhochufer

Abschied von München, ein Handschlag »Seit es denkende Menschen gibt, waren Verfolgung, Ketten und Kerker ihr Erbstük, und Sokrates hat sogar den Kerker geadelt. Beynahe ist der Men­ schenfreund, bey Durchlesung so häufiger Unfälle, zu der harten Vermuthung genöthigt, ob nicht solche der Tugend mit Recht widerfahren. Warum, möchte er rufen, zieht sie sich nicht in sich selbst zurük? Warum hebt sie ihr Haupt empor? Warum drängt sie sich unter diese Klaße von Leuten, in eine so ungleiche Gesellschaft? Sie sollte wißen, daß solchen Menschen ihre zu heterogene Gestalt ein Scheusal sey, und seyn müße.« A. Weishaupt, Verfolgung der Illuminaten in Bayern. Frankfurt 1786.

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Meine lieben Münchner! Ich gehe jezt von Euch. Wir sind lange beisammen gewesen. Und wie das so geht: man erwirbt sich diese und jene Freunde. Und ich habe deren Viele er­ worben. Ich kann nicht jedem Einzelnen Adjö sagen. Und wenn man nicht jedem Einzelnen das sagen kann, was man doch Allen sagen möchte, dann läßt man heutzutage ’was druken, sezt es in die Zeitung u.drgl. Man inserirt eine Annonce und schüttet sein Herz aus. Das soll nun meine Annonce sein. Sezt Euch her zu mir! Wir wollen ein Bischen Konzil halten; ein süß-vertrau­ liches, liebes Konzil. Ihr habt sowieso noch nie ein Konzil in Euren Mauern gehabt. Nördlicher als Trient hat sich der heilige Geist nicht heraufgewagt. Und doch hättet Ihr es verdient, Ihr, die Ihr wiederholentlich die katolische Kirche für Deutschland »gerettet« habt. Friert es den italjenischen heiligen Geist bei Euch? Oder erinnert er sich an das Wort des Eobanus Heßus1: »Der Deutschen Geist gefält den Romanisten nit fast wohl?« Mein Gott! Das käme gerade so heraus, als ob Ihr, die »Retter« der katolischen Kirche, deutschen Geist hättet und der Spiritus romanus sich nicht zu Euch herauf traute. Diese Schmach sei ferne von Euch! - Ich will aber tun, was in meinen Kräften steht, und, was Euer geistiger Nährvater in Rom bei Euch versäumt, nachholen. Sezt Euch her zu mir! Wir wollen ein Bischen Konzil halten. Ihr solt nicht allein mit Alkohol und Biersuden in der geistigen Geschichte Euro­ pas stehen. Ihr solt Euer Konzil haben. Lauschet: wir wollen Deutsch reden. Wo fang ich nun an? Traun2, Eure Vergangenheit ist groß und gewaltig. Und Ihr habt Ursache, Euch deshalb in die Brust zu werfen. Einer Salzstätte mit Brücken-Zoll über die Isar verdankt Ihr Eure Entstehung? Nun, attisches Salz habt Ihr damals gewiß nicht gehandelt. Und wenn man Euch betrachtet, muß man Jenen Recht geben, die sagen, es sei Viehsalz gewesen. Doch das macht Nichts. Es ist Euch wol bekommen. Noch heute besteht Eure Stadt aus 2/3 Mezgern. Die Fleischer-Innung ist bei Euch die vornehmste. Den halben Süden Deutschlands nebst der Schweiz verseht Ihr mit Euren vortrefflichen Rostbiefs. Und Eure Schlachthäuser sind mustergültig. Aber wehe, wer Euch mit Euren Fleischermeßern mit andern Dingen, als mit Rostbiefs und Kuttelfleck in die Quere komt! Wehe, wer Euch zumutet, Gedanken zu verdauen! Ihr zerhakt und zermezgert ihn in der entsezlichsten Weise. Schon Eure Schimpfnamen »Dünng’selchter«, »Dikg’selchter Hans­ wurst!« u. a. sind alle der Mezger-Innung entnommen. Bluttriefend muß der­ 1

Helius Eobanus Hessus (1488-1540), Lyriker aus dem Kreis der Erfurter Humanis­ ten. 2 Wahrlich, führwahr, in der Tat.

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jenige von Euch sich zurükziehen, der die frevelhafte Zumutung an Eure Gehirnchen gesteh hatte. Und Eure Rache ist komplet. Die erste, glänzende Leistung, mit der Ihr nach dieser Richtung in der Ge­ schichte steht, sind die Jahre 1519-1521, als durch die Reformazion an Euch die ungeheuerliche Zumutung herantrat, zu denken - ermeßet! - ohne den Papst, Euren geistigen Nährvater in Rom, in religiösen Dingen zu denken erstarrt! - und Eure Seele zu untersuchen - schaudert! - Wie habt Ihr damals auf’s Rad geflochten und Eure Meßerchen spielen laßen?! Duzendweis er­ säuftet Ihr die Lutherischen in der Isar. Und hundertweis schlepptet Ihr von den Wegen nach Augsburg und den protestantischen Zentren die Wanderer und Reisenden herein, berocht sie, ob es Geistes-Menschen waren, und warft sie dann in den Kerker oder in den Fluß. Ja, gegen das geistiger geartete Re­ gensburg schloßet Ihr Euch sogar hermetisch ab - so groß war Eure Furcht vor dem Geist! - und ließet nicht einmal protestantisches Gemüse, protes­ tantische Äpfel und protestantische Gelbe-Rüben herein. Und zu den Hin­ richtungen und Ersäufungen erschienen Eure Fürsten und nikten wolwollend Beifall und Eure Prinzeßchen patschten in die Hände. O Ihr süßen, herzigen Geschöpfe, auch in Euren Adern rolte das Münchner Mezgerblut! »Aber man nent uns doch >Isar-Athen