Phänomenologie in Spanien und Hispanoamerika: Ein Lesebuch 9783495999059, 9783495999042


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Table of contents :
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Einleitung: Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien und Hispanoamerika
Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien
1. Der historische Zusammenhang der Aufnahme der Phänomenologie in Spanien
2. Cervantes und die spanische Philosophie. Der Briefwechsel von Unamuno und Ortega y Gasset
3. Ortega y Gasset: Der Beitrag der Meditationen über »Don Quijote« zur Phänomenologie
4. Ortegas kritische Aufnahme der Phänomenologie
5. Reflexion, Erinnerung und Bewusstsein: »Sobre la fenomenología«
6. Realität und Irrealität am Beispiel der Idee des Theaters
7. Die Krise der theoretischen und praktischen Vernunft. Ortegas letzte Auseinandersetzung mit der Husserl`schen Phänomenologie
8. Manuel García Morente: Die phänomenologische Überwindung des Idealismus und die Metaphysik des Lebens
9. Xavier Zubiri: Vom phänomenologischen Objektivismus zu einer phänomenologisch angelegten Philosophie der Realität
10. Der phänomenologische Objektivismus und die Neubegründung der Mathematik und der Wissenschaft
11. Der phänomenologische Umbruch der traditionellen Intentionalitätslehre. Zubiris »Rezension« der Psicología desde un punto de vista empírico Franz Brentanos
12. Die Wende von Sobre la esencia. Die Frage nach den realen Wesenheiten
13. Zubiris Noologie und Philosophie der Realität
14. Neue phänomenologische Ansätze bei zwei spanischen Philosophinnen und Exilautorinnen: Rosa Chacel und María Zambrano: Die Debatte über die Geschlechterdifferenz
15. María Zambrano: Dichterische Vernunft, die Metapher des Herzens, das Wissen über die Seele und das Phänomen des Traumes
16. Phänomenologische Reduktion und Traum
17. Die Rezeption der Phänomenologie in der Schule aus Barcelona
Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Argentinien
18. Alejandro Korns Begriff der schöpferischen Freiheit
19. Carlos Astrada: Die existenziale Interpretation der Kantischen Ethik und der phänomenologischen Werttheorie Max Schelers
20. Der »Primer Congreso Nacional de Filosofía« von 1949 und die Wende zu neuen philosophischen Strömungen
21. Francisco Romero: Intentionalität und Transzendenz des Geistes
Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Mexiko
22. Das »Ateneo de la juventud« und die Überwindung des Positivismus
23. Antonio Caso: Existenzphilosophie, Phänomenologie und Positivismus der Wesenheiten
24. Die Kontroverse mit Samuel Ramos: Ein Wendepunkt in der Geschichte der mexikanischen Philosophie
25. Antonio Casos’ Aufnahme der Phänomenologie
Die Rezeption der Phänomenologie bei den Exilautoren
26. Joaquín Xirau: Die organische Vernunft und die Wiederentdeckung der Tiefendimension der Wirklichkeit
27. Die Krise der Menschheit im 20. Jahrhundert und die Wiedervereinigung der Welt
28. Juan David García Bacca. Der philosophische Weg García Baccas
29. Das phänomenologische Modell des Philosophierens
30. Die metaphorische Sprache der Dichtung und die Phänomenologie
31. Eduardo Nicol: Die phänomenologische Methode und die intersubjektive Metaphysik des Ausdrucks
32. Die phänomenologische Methode und die intersubjektive Metaphysik des Ausdrucks
33. José Gaos: Philosophie der Philosophie und Phänomenologie
34. José Gaos’ frühe Schriften zur Phänomenologie: Husserls Kritik des Psychologismus als heuristischer Moment der Philosophiegeschichte
35. Die Introducción a la fenomenología: die Geschichtlichkeit des Weltbegriffes
36. Gaos’ Darstellung der phänomenologischen Methode
37. Gaos’ Philosophie der Philosophie
38. Philosophie der Philosophie und Phänomenologie
39. Der Streit Gaos’ mit seinen Schülern um die Phänomenologie Husserls
Die Phänomenologie und das Vorhaben einer lateinamerikanischen Philosophie
40. El Hiperión: Das Projekt einer Philosophie des Mexikanischen
41. Ernesto Mayz Vallenilla: Das kulturelle Bewusstsein Lateinamerikas und die Erwartung einer Neuen Welt
42. Leopoldo Zea: Die europäische Philosophie und das amerikanische Bewusstsein
Textauswahl
Miguel de Unamuno (1864–1936): Text 1 Auszüge aus dem Briefwechsel mit José Ortega y Gasset
[Brief Miguel de Unamunos an José Ortega y Gasset vom 17. Mai 1906, Salamanca]
[Brief Miguel de Unamunos an José Ortega y Gasset vom 30. Mai 1906, Salamanca]
[Brief José Ortega y Gassets an Miguel de Unamuno vom 30. Dezember 1906, Marburg]
[Brief José Ortega y Gassets an Miguel de Unamuno vom 17. Februar 1907, Marburg]
[Brief Miguel de Unamunos an José Ortega y Gasset vom 2. November 1911, Bilbao]
José Ortega y Gasset (1883–1955): Text 2 Über die Phänomenologie (1929)
Text 3 Die Idee des Theaters (1946)
Text 4 Das Erdbeben der Vernunft (1944)
Manuel García Morente (1886–1942): Text 5 Über die Metaphysik des Lebens (1934)
Xavier Zubiri (1898–1983): Text 6 Rezension zu Brentano (1926)
Text 7 Phänomenologie, empfindende Intelligenz und Metaphysik der Realität (1944–1980)
[Erstbegegnung mit der Phänomenologie]
[Aporien der neuzeitlichen Erkenntnistheorie]
[Kritik am phänomenologischen Intentionalitätsbegriff]
[Realitätsauffassung und empfindende Intelligenz]
Text 8 Auszüge aus dem Kurs Über die Realität (1966)
Rosa Chacel: Text 9 Ein Entwurf der praktischen und gegenwärtigen Probleme der Liebe (1931)
Maria Zambrano: Text 10 Träume und Zeit (1957)
Carlos Astrada (1894–1970): Text 11 Eine Soziologie des Krieges und Philosophie des Friedens (1948)
Francisco Romero (1891–1962): Text 12 Intentionalität und Geist (1952)
Antonio Caso (1883–1946): Text 13 Was ist Bewusstsein? (Brentanos Entdeckung) (1938)
I
II
III
IV
V
Text 14 Intuitionismus (1943)
Text 15 Existenz als Ökonomie, Uninteressiertheit und Barmherzigkeit (1943)
Leben als Ökonomie
Kunst als Uninteressiertheit
Existenz als Barmherzigkeit
Joaquín Xirau (1895–1946): Text 16 Der Höhepunkt einer Krise (1945)
Juan David García Bacca (1901–1992): Text 17 Der phänomenologische Sinn der neuzeitlichen Philosophie (1964)
Eduardo Nicol (1907–1990): Text 18 Das Sein des Ausdrucks (1957)
José Gaos (1900–1969): Text 19 Bekenntnisse aus dem Berufsleben I & II (1958)
[Teil 1]
3
[Teil 2]
Text 20 Notizen zu Husserl (1961)
Text 21 Husserls Lebenswelt (1963)
Luis Villoro (1922–2014): Text 22 Der Indigene als der Andere, durch den ich mich selbst erkenne (1950)
Ernesto Mayz Vallenilla (1925–2015): Text 23 Die Prüfung unseres kulturellen Bewusstseins (1959)
Text 24 Das Problem Amerikas (1959)
Leopoldo Zea (1912–2004): Text 25 Europäische Philosophie und die Entwicklung des amerikanischen Bewusstseins (1969)
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Phänomenologie in Spanien und Hispanoamerika: Ein Lesebuch
 9783495999059, 9783495999042

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Phänomenologie

| 33

Ferrer | Schmich | Pérez-Gatica [Hrsg.]

Phänomenologie in Spanien und Hispanoamerika Ein Lesebuch

https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Phänomenologie Herausgegeben von Jakub Capek Sophie Loidolt Alessandro Salice Alexander Schnell Claudia Serban

33

Alle Bände in dieser Reihe durchlaufen vor der Annahme ein Peer-Review-Verfahren. https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Guillermo Ferrer | Niklas Schmich Sergio Pérez-Gatica [Hrsg.]

Phänomenologie in Spanien und Hispanoamerika Ein Lesebuch Eingeleitet von Guillermo Ferrer Aus dem Spanischen übersetzt von Niklas Schmich und Guillermo Ferrer

https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99904-2 (Print) ISBN 978-3-495-99905-9 (ePDF)

1. Auflage 2022 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2022. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de

https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Editorische Vorbemerkung

In der spanischsprachigen Philosophiegeschichte unterscheidet man zwischen drei Phasen der Rezeption der Phänomenologie in Spanien und Hispanoamerika. Die erste Phase – die der Aufnahme – erstreckt sich danach von den 1910er bis in die 1950er Jahre und fällt mit dem Prozess einer kreativen Erneuerung der hispanoamerikanischen Philosophie gegenüber dem Positivismus und dem Idealismus des 19. Jahrhunderts zusammen. Diese Phase findet hauptsächlich, aber nicht ausschließlich, in Spanien, Argentinien und Mexiko statt. In der zweiten Phase, ab den 1950er Jahren, werden zunehmend auch andere hispanoamerikanische Länder (Peru, Chile, Kolumbien, Venezuela usw.) in den Rezeptionsprozess eingebunden. Die hispano­ amerikanischen Denkerinnen und Denker ernten nun die Früchte, die sie durch die vorherige immense Übersetzungsarbeit phänomenolo­ gischer Werke, mit der die Schülerinnen und Schüler Ortega y Gassets den Anfang machten, gesät hatten. Parallel dazu beginnen die spani­ schen und hispanoamerikanischen Philosophen und Philosophinnen damit, sich mit Husserls Nachlass vertraut zu machen und eigenstän­ dige Beiträge zur phänomenologischen Forschung vorzulegen. Die dritte, gegenwärtige Phase ist durch eine akribische For­ schungsarbeit an den zu seinen Lebzeiten wie posthum veröffentlich­ ten Schriften Edmund Husserls und dem Werk anderer Vertreterinnen und Vertreter der phänomenologischen Bewegung geprägt. Davon ausgehend bemühen sich spanische und hispanoamerikanische Phi­ losophinnen und Philosophen heute einerseits, die phänomenologi­ sche Arbeit fortzusetzen, und andererseits, philosophische Fragen in einem aufgeschlossenen, aber auch kritischen Dialog mit den unter­ schiedlichsten philosophischen Strömungen und wissenschaftlichen Disziplinen zu klären.1 Bereits Ende des 20. Jahrhunderts gab es Bemühungen spanischer und lateiname­ rikanischer Phänomenologinnen und Phänomenologen (bzw. einer Philosophie, die in irgendeiner Weise von der Phänomenologie inspiriert war), mit der analytischen Philosophie, der kognitiven Psychologie sowie verschiedenen Ansätzen innerhalb 1

5 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Editorische Vorbemerkung

Die vorliegende Anthologie und die sie begleitende Einleitung beabsichtigen, die Frühphase der phänomenologischen Rezeption in Spanien und Hispanoamerika erstmals einem deutschsprachigen Publikum bekannt zu machen. Zugleich verfolgen sie das Ziel, systematisch den Kontext zu rekonstruieren, in dem die damals neuartige Strömung philosophische Fragen aufwarf, die auch heute noch Aktualität beanspruchen können und die in der gegenwärtigen hispanoamerikanischen Phänomenologie aus einer kritischen, aber auch konstruktiven Perspektive allmählich Widerhall finden.

Zur Textauswahl Bei der Auswahl der Texte haben wir uns zwei Ziele gesetzt. Zum einen soll das Lesebuch einem deutschsprachigen Publikum einen Überblick über eine bedeutende Episode in der Geschichte der spa­ nischsprachigen Philosophie ermöglichen. Die frühe Entdeckung des Werks von Edmund Husserl, dem Begründer der Phänomenologie und der phänomenologischen Bewegung, bot den spanischsprachigen Denkerinnen und Denkern ein Instrumentarium, um über die tradi­ tionellen Probleme der Philosophie nachzudenken. Sie gab ihnen auch eine Methode an die Hand, um sich mit Fragen zu beschäftigen, die sich aus ihrer eigenen historischen und philosophiegeschichtlichen Situation ergaben. In dieser Hinsicht lässt sich die kreative Rezeption der deutschen Phänomenologie in Spanien und Hispanoamerika als ein interkul­ turelles Ereignis bezeichnen. Die ursprüngliche Aneignung der phä­ nomenologischen Philosophie von Edmund Husserl, Max Scheler und Martin Heidegger spiegelt sich deutlich in der Entwicklung von Ortega y Gassets Philosophie der historischen Situation Spaniens hin zu dem Projekt einer lateinamerikanischen Philosophie wider.2 Es entstanden neue Problemhorizonte, zu deren Lösung die phänome­

der Hermeneutik und der Dekonstruktion ins Gespräch zu kommen. Die Auseinan­ dersetzung der Phänomenologie mit dem spekulativen Realismus beginnt heute in der spanischsprachigen Welt, in einen konstruktiven Dialog mit den verschiedenen Realismen und sogar mit den Naturwissenschaften zu treten. 2 Die Auszüge aus dem Briefwechsel zwischen Unamuno und Ortega y Gasset sowie die ausgewählten Texte von Luis Villoro, Ernesto Mayz Vallenilla und Leopoldo Zea sind in dieser Hinsicht repräsentativ.

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Editorische Vorbemerkung

nologischen Methoden beizutragen vermochten. Diese wurden nun an die spanische und lateinamerikanische Perspektive angepasst, was Fragen nach dem Wert der eigenen philosophischen Tradition und nach einem neuen Sinn der Philosophiegeschichte aufwarf.3 Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien und Latein­ amerika wies bald in die Richtung einer neuen Lebensphilosophie. In Spanien gab Ortegas Philosophie der vitalen und historischen Ver­ nunft den Anstoß für eigenständige Ansätze in seiner Schülerschaft. Über andere Kanäle wurde die Phänomenologie auch an der Univer­ sität von Barcelona rezipiert. Schwerpunkte waren dabei das Bemühen um Rettung der eigenen philosophischen Tradition und die Hervor­ bringung einer Philosophie der höheren Formen des Lebens und des Geistes. In Argentinien, Mexiko und anderen lateinamerikanischen Ländern entstand eine Lebens- und Kulturphilosophie als Reaktion auf die Verkürzungen eines programmatischen Positivismus, der die Ausrichtung von Bildung und Kultur übernommen hatte. So veran­ schaulichen beispielsweise die Texte von Antonio Caso und Francisco Romero die Übernahme von Grundbegriffen der Phänomenologie mit dem Ziel einer neuen Philosophie der Existenz bzw. des Geistes. In Lateinamerika gab es eine besondere Sensibilität für die historischen Krisen des 20. Jahrhunderts, da ihre Bewusstwerdung die Entwick­ lung eines eigenständigen Denkens motivierte, das zur Erneuerung der europäischen philosophischen Tradition beitragen sollte. Nach dem Beginn der Diktatur Francos waren in Spanien aber letztlich nur die exilierten Philosophinnen und Philosophen imstande, sich diesbezüglich zu äußern. Zum anderen soll unser Lesebuch als theoretischer Rahmen für weitere Forschungen zur Rezeption der Phänomenologie in spanisch­ sprachigen Ländern dienen. Hier ist die Pionierarbeit von Javier San Martín zu erwähnen, der eine Anthologie der phänomenologischen Schriften von Ortega y Gasset in deutscher Sprache herausgegeben hat.4 Diese Ausgabe motivierte uns dazu, weitere Texte von Ortega und anderen spanischsprachigen Autorinnen und Autoren zu über­ setzen, die von der Phänomenologie beeinflusst wurden. Im Fall 3 Die hier abgedruckten Texte von José Gaos zum Beispiel stellen einen der radikals­ ten und meist diskutierten Versuche dar, über die Historizität der Weltbegriffe, der Philosophie und der Phänomenologie selbst nachzudenken. 4 José Ortega y Gasset (1998): Schriften zur Phänomenologie. Hg. von Javier San Martín, aus dem Spanischen übers. von Arturo Campos und Jorge Uscatescu. Frei­ burg/München: Karl Alber Verlag.

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Editorische Vorbemerkung

Ortegas haben wir zunächst Auszüge aus seinem Briefwechsel mit Miguel Unamuno ausgewählt, da sie der Leserin und dem Leser den philosophiegeschichtlichen Kontext von Ortegas Rezeption der Phänomenologie aufschließen. Dabei haben wir gerade Texte von Ortega bevorzugt, die sein Verständnis von Phänomenologie erhellen (Text 2 »Über die Phänomenologie«) und die Originalität seiner eigenen philosophischen Ansätze sehen lassen. So wird in Text 3 »Die Idee des Theaters« die Frage nach Realität und Irrealität zugespitzt. Anders als bei anderen Formen der ästhetischen Betrachtung nimmt das Theaterpublikum nämlich stricto sensu eine fiktive Welt wahr. In Husserl’scher Terminologie spricht man von »perzeptiver Phantasie«. Die Präzision von Ortegas Beschreibungen und die Art und Weise, wie er diese mit seinem eigenen Denken verknüpft, sind ausgesprochen aufschlussreich. Text 4 »Das Erdbeben der Vernunft« kreist um eine der wichtigsten Konzeptionen der Phänomenologie Husserls, die »Krise« der Neuzeit. Ortega und Joaquín Xirau (siehe z. B. Text 16 »Der Höhepunkt einer Krise«) folgen dem von Husserl aufgezeigten Weg einer Erneuerung des Vernunftbegriffs. Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien und His­ panoamerika blieb nicht auf die Beschäftigung mit dem Werk ihres Begründers beschränkt. Dennoch bleibt der Fokus auf Husserl aus einer historiografischen und systematischen Perspektive ein erster Bezugspunkt für zukünftige Forschungen. Die lebhafte Diskussion über Grundbegriffe wie die eidetische Methode, die epoché, die trans­ zendentale Reduktion, das reine Bewusstsein und die Intentionalität war ausschlaggebend dafür, dass zahlreiche spanischsprachige Philo­ sophinnen und Philosophen diese in ihr eigenes Denken integrierten oder aber dem Weg anderer phänomenologischer Ansätze folgten.5 Die Einleitung ordnet sich vor allem in den Rahmen der jüngsten Diskussionen zur Rezeption der Husserl‘schen Phänomenologie in Spanien und Hispanoamerika ein. Es handelt sich dabei um eine Debatte, die als Besinnung auf die phänomenologische Tradition in den spanischsprachigen Ländern immer wichtiger wird. Zu den bedeu­ tendsten Werken in dieser Hinsicht gehören: Daniel Herrera Restrepo (1998): América Latina y la fenomenología. México: Publicaciones Universidad Pontificia; Javier San Martín (2012): La fenomenología de Ortega y Gasset. Madrid: Editorial Biblioteca Nueva/Fundación José Ortega y Gasset-Gregorio Marañón; ders. (2015): La nueva imagen de Husserl. Lecciones de Guanajuato. Madrid: Editorial Trotta; Miguel GarcíaBaró (2012): Sentir y pensar la vida. Ensayos de fenomenología y filosofía española, Madrid: Trotta; Antonio Zirión (2009): La fenomenología en México. Historia y anto­ logía. Mexiko: UNAM; Ángel Xolocotzi et Antonio Zirión (2018): ¡A las cosas mismas! Dos ideas sobre la fenomenología. Mexiko: Benemérita Universidad Autónoma de 5

8 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Editorische Vorbemerkung

Obwohl die Aufnahme der Husserl’schen Phänomenologie im vorliegenden Band durchaus im Zentrum steht, wird auch die Bedeu­ tung anderer phänomenologischer Ansätze für die spanischsprachige Philosophie hervorgehoben. Vor allem Max Scheler hat diese frühe Rezeption maßgeblich beeinflusst, worauf wir im Zusammenhang mit den Texten von María Zambrano, Carlos Astrada, Joaquín Xirau und Luis Villoro eigens hinweisen. Schelers Arbeiten zur Werttheorie, zur Intentionalität des Gefühlslebens und zur Erfahrung von Alteri­ tät stehen im Mittelpunkt gleich mehrerer philosophischer Begriffe der genannten Autorin und der Autoren. Die Rekonstruktion der Rezeption weiterer phänomenologischer Entwürfe könnte ein umfas­ senderes Projekt zur Geschichte der phänomenologischen Philoso­ phie in Spanien und Hispanoamerika begründen. Wir denken dabei vor allem an die Namen Husserl, Scheler und Heidegger. Darüber hinaus könnte auch die Präsenz von Autoren wie Nicolai Hartmann, Alexander Pfänder, Aurel Kolnai, Paul Ludwig Landsberg, Moritz Geiger und Theodor Celms und anderen erforscht werden.6 Die für den vorliegenden Band ausgewählten Texte zeichnen sich durch ihre thematische Vielfalt aus. So sind zum Beispiel Histo­ rizität und Perspektivismus ebenso wichtig wie der Gedanke einer objektiven Fundierung der Erkenntnis und der Wissenschaften. Die Affektivität ist ein thematisches Feld, das diskursiv mit einer neuen Konzeption der sinnlichen Erfahrung und des Logos verknüpft ist. Die Aufwertung des literarischen Essays wiederum geht mit dem Gebrauch der traditionellen Gattungen einer Philosophie einher, die als »strenge Wissenschaft« konzipiert ist. Die Betrachtung des denkenden Subjekts ist nicht getrennt von der Betrachtung der Wirk­ lichkeit als Ereignis, das sich dem denkenden Subjekt auferlegt. Und die Beantwortung existenzieller und lebensphilosophischer Fragen geht Hand in Hand mit einer phänomenologischen Fundierung der Wissenschaftsgeschichte – ein Aspekt, den insbesondere die erstma­

Puebla/Universidad Michoacana de San Nicolás de Hidalgo/Miguel Ángel Porrúa; Agustín Serrano de Haro (2016): Paseo filosófico en Madrid. Introducción a Husserl. Madrid: Editorial Trotta. 6 Edith Stein, Eugen Fink und Vertreterinnen und Vertreter der französischen und englischsprachigen Phänomenologie gewinnen in der zweiten und dritten Phase der Rezeption an Bedeutung. Herrera Restrepo (1998) untersucht ausführlich die Übergänge während der Rezeption und die Rolle, die jede Generation von Phänome­ nologinnen und Phänomenologen des 20. Jahrhunderts dabei spielte.

9 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Editorische Vorbemerkung

lig in Deutsche übersetzten Texte und Passagen von Antonio Caso, Xavier Zubiri und Juan David García Bacca unterstreichen. Wir hoffen, durch die Publikation einen Teil zur Verbesserung der interkulturellen Verständigung beizutragen, die bei der Anferti­ gung des Buches für unser deutsch-mexikanisches Team und seine internationalen Kooperationen prägend war.

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Danksagungen

Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis eines Forschungs­ projektes zur frühen Rezeption der Phänomenologie in Spanien und Lateinamerika, das durch die Finanzierung und Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zustande kommen konnte. Dafür möchten wir uns an dieser Stelle herzlich bedanken. Danken möchten die Herausgeber auch Herrn Prof. Dr. Gerald Hartung, Lehrstuhlinhaber für Kulturphilosophie und Ästhetik an der Bergischen Universität Wuppertal. Er hat diesem interkulturellen Projekt zur Geschichtsschreibung der Philosophie den entscheiden­ den Impuls gegeben und den Gesamtprozess großzügig gefördert. Des Weiteren danken wir dem gesamten Team des Arbeitsbereichs Kulturphilosophie und Ästhetik für die freundliche Unterstützung und die anregenden Gespräche im Laufe des Projektes. Das Institut für Grundlagenforschung zur Philosophiegeschichte (IGP) der Ber­ gischen Universität Wuppertal bildete den idealen institutionellen Rahmen für unser Vorhaben. Von Herzen danken wir auch Herrn Prof. Dr. Matei Chihaia, Professor für Romanistik an der Bergischen Universität Wuppertal. Mit Interesse und Begeisterung hat er das Projekt von Anfang an begleitet. Dank der intensiven und innigen Zusammenarbeit hat sich die Philosophie aus dem spanischen Exilkontext zu einem Schwer­ punkt des Projektes entwickelt. Seit der gemeinsamen Gründung des internationalen DFG-Netzwerks »The Literary and Philosophical Legacy of the Spanish Exile in Mexico« und der durch die Volkswa­ gen-Stiftung geförderten Auftaktveranstaltung Caminos cruzados: Filosofía y literatura del exilio español en América Latina (Oktober 2020, Hannover) steht unsere Arbeit in einem anregenden wissen­ schaftlichen Austausch mit einer Vielzahl von Forscherinnen und Forschern und wird in diesem Rahmen fortgeführt. Herzlich danken möchten wir auch Herrn Prof. Dr. Alexander Schnell, Lehrstuhlinhaber für Theoretische Philosophie und Phäno­ menologie, der unser Thema mit großem Interesse begrüßte. Das von ihm geleitete Institut für Transzendentalphilosophie und Phänome­

11 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Danksagungen

nologie (ITP) führt die von Herrn Prof. Dr. em. Klaus Held und Herrn Prof. Dr. László Tengelyi (†) angestoßene phänomenologische Tradi­ tion an der Bergischen Universität Wuppertal fort. Der vorliegende Band dokumentiert die interkulturelle Prägung der Wuppertaler Phä­ nomenologie. Ein herzlicher Dank geht an all die Personen, die den Nachlass der hier erscheinenden spanischen und hispanoamerikanischen Phi­ losophinnen und Philosophen bewahren und der Veröffentlichung der ausgewählten Texte zugestimmt haben: an Herrn Andrés Ortega Klein, Vertreter der Erben José Ortega y Gassets, sowie Herrn Jorge Magdaleno und Frau Noemí Cueto von der Fundación José Ortega y Gasset – Gregorio Marañón; Herrn Prof. Dr. Diego Gracia, Herrn Prof. Dr. Antonio González, Frau Prof. Dr. Marta Lladó und Frau Elisa Romeu von der Fundación Xavier Zubiri. Wir danken auch Frau Isabel Bonelli und ihrer Familie, die die Veröffentlichung der Übersetzung des Textes von Manuel García Morente autorisiert haben. Ebenfalls danken wir Frau Ángeles Gaos und Herrn Carlos Camacho Gaos für ihre freundliche Genehmigung, die Schriften von José Gaos ins Deutsche zu übertragen und zu publizieren. Für die Erlaubnis, den Text von Juan David García Bacca zu veröf­ fentlichen, danken wir herzlich Herrn Francisco Palacios, Vorsitzender der Fundación García Bacca, Frau Ana Rosa Palacios und Frau Cristina García Palacios. Unser Dank gilt auch Herrn Dr. Roberto Aretxaga Burgos der Red Internacional de Estudios García Baquianos. Frau Leonor Mayz de Garriga und der Familie Mayz gilt unser Dank für die Autorisierung der Texte von Ernesto Mayz Vallenilla. Der Text von Luis Villoro wird mit der freundlichen Genehmigung von Herrn Juan Villoro veröffentlicht. Der Text von Francisco Romero wird mit freundlicher Genehmigung des argentinischen Verlagshauses Losada veröffentlicht. Wir danken Herrn José Juan Fernández Reguera für die Unterstützung bei der Einholung dieser Genehmigung. Frau Prof. Dr. Alcira Beatriz Bonilla, Herrn Dr. Martín D’Ascenzo, Frau Dr. Victoria Arroche vom Instituto de Filosofía der Universität Buenos Aires und Herrn Dr. Guillermo David danken wir herzlich für die Genehmigung, den Text von Carlos Astrada zu publizieren. Der Verlag Fondo de Cultura Económica hat über Herrn Heri­ berto Sánchez die Veröffentlichung der Übersetzung des Textes von Eduardo Nicol genehmigt. Ebenfalls danken wir Herrn José María Castro und Frau Olga Ramos vom Verlag Siglo XXI für die Erlaubnis, die Übersetzung der Texte von Leopoldo Zea und Joaquín Xirau zu

12 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Danksagungen

veröffentlichen. Dasselbe gilt für Herrn Agustín Caso Aguilar, Herrn Pablo Caso und die Familie Caso, die die ausgewählten Texte Antonio Casos zur Veröffentlichung freigegeben haben. Wir danken auch Herrn Dr. Miguel Gama für die wichtige bibliographische Beratung während eines Forschungsaufenthaltes am Instituto de Investigacio­ nes Filosóficas der UNAM. Mit unserem interkulturellen Projekt verbunden war eine Viel­ zahl namhafter internationaler Wissenschaftlerinnen und Wissen­ schaftler, denen wir für die ertragreiche Kooperation danken. Ein besonderer Dank gilt: Herrn Prof. Dr. Antolín Sánchez Cuervo und Herrn Prof. Dr. Jesús Díaz Álvarez, Koordinatoren des vom spani­ schen Ministerio de Ciencia, Innovación y Universidades geförderten Projektes »El legado filosófico del exilio español de 1939: razón crítica, identidad y memoria«; Herrn Prof. Dr. Francisco Mejía, Direktor, und Frau Dr. Laura Moreno, Koordinatorin des Projektes »América Latina y España: exilio y política en la órbita de la Guerra Fría« (PAPIIT IN303021) des Centro de Investigaciones sobre América Latina der Nationalen Autonomen Universität von México (CIALC-UNAM); Herrn Prof. Dr. Manuel Aznar und Herrn Prof. Dr. José Ramón López García von der Grupo de Estudios del Exilio Literario (GEXEL); Frau Prof. Dr. Aurelia Valero und Frau Prof. Dr. Andrea Luquín des Red Internacional de Estudios Filosóficos sobre el Exilio Español (RIEFE); Frau Prof. Dr. Yasmín Temelli, Herausgeberin der Zeitschrift iMex. Interdisciplinary Mexico; Frau Prof. Dr. Helena Houvenaghel, Leiterin des Network for Research on Female Refugees an der Universität Utrecht; Frau Prof. Dr. Claudia Mársico und Herrn Dr. Hernán Inverso von der deutsch-argentinischen DFG-Forschungsgruppe »Eine Glo­ balgeschichte der Philosophie. Eine Fallstudie: Lateinamerika und Europa im 20. Jahrhundert«, deren Mitkoordinator Herr Prof. Dr. Gerald Hartung ist; Herrn Prof. Dr. Arturo Aguirre, Leiter des Projek­ tes »Filosofía contemporánea sobre la violencia« von der Benemérita Universidad Autónoma de México (BUAP), sowie dem Dekan der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der genannten Hochschule, Herrn Prof. Dr. Ángel Xolocotzi. Dasselbe gilt für die renommierten internationalen phänome­ nologischen Forschungsgruppen, die unser Projekt begleitet haben. Unser Dank geht an Frau Prof. Dr. Julia Jansen und Herrn Dr. Emanuele Caminada vom Projekt »Functionaries of Humanity: Hus­ serlian Phenomenology, the UNESCO, and the Problem of Univer­ salism in Science and Culture« (Husserl-Archiv der KU Leuven,

13 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Danksagungen

FWO-3H200726); Herrn Prof. Dr. Julio César Vargas, Leiter der Forschungsgruppe Hermes der Universität del Valle in Kolumbien, der uns freundlicherweise ein akademisches Forum bot, um über die Rezeption der Phänomenologie in Spanien und Lateinamerika zu diskutieren. Ein besonderer Dank geht an Frau Dr. Cathrin Nielsen, die das deutsche Manuskript korrigiert und wichtige Vorschläge zur Verbes­ serung des Textes und der Terminologie gemacht hat. Abschließend möchten wir Herrn Dr. Martin Hähnel und Herrn Fabian Wahl vom Karl Alber/Nomos Verlag für die Unterstützung unseres Publikati­ onsvorhabens danken.

14 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Inhaltsverzeichnis

Editorische Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . .

5

Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Einleitung: Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien und Hispanoamerika . . . . . . . . . . . . . . .

21

Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien .

25

1.

Der historische Zusammenhang der Aufnahme der Phänomenologie in Spanien . . . . . . . . . . . . . .

25

2.

Cervantes und die spanische Philosophie. Der Briefwechsel von Unamuno und Ortega y Gasset . . . .

31

3.

Ortega y Gasset: Der Beitrag der Meditationen über »Don Quijote« zur Phänomenologie . . . . . . . . . . . . .

35

4.

Ortegas kritische Aufnahme der Phänomenologie

. . .

39

5.

Reflexion, Erinnerung und Bewusstsein: »Sobre la fenomenología« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

6.

Realität und Irrealität am Beispiel der Idee des Theaters

45

7.

Die Krise der theoretischen und praktischen Vernunft. Ortegas letzte Auseinandersetzung mit der Husserl`schen Phänomenologie . . . . . . . . . . . .

51

Manuel García Morente: Die phänomenologische Überwindung des Idealismus und die Metaphysik des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

56

8.

15 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Inhaltsverzeichnis

9.

Xavier Zubiri: Vom phänomenologischen Objektivismus zu einer phänomenologisch angelegten Philosophie der Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

64

10. Der phänomenologische Objektivismus und die Neubegründung der Mathematik und der Wissenschaft

66

11. Der phänomenologische Umbruch der traditionellen Intentionalitätslehre. Zubiris »Rezension« der Psicología desde un punto de vista empírico Franz Brentanos . . .

72

12. Die Wende von Sobre la esencia. Die Frage nach den realen Wesenheiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

13. Zubiris Noologie und Philosophie der Realität . . . . .

81

14. Neue phänomenologische Ansätze bei zwei spanischen Philosophinnen und Exilautorinnen: Rosa Chacel und María Zambrano: Die Debatte über die Geschlechterdifferenz . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

15. María Zambrano: Dichterische Vernunft, die Metapher des Herzens, das Wissen über die Seele und das Phänomen des Traumes . . . . . . . . . . . . . . . .

91

16. Phänomenologische Reduktion und Traum . . . . . . .

96

17. Die Rezeption der Phänomenologie in der Schule aus Barcelona . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Argentinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

18. Alejandro Korns Begriff der schöpferischen Freiheit

. .

103

19. Carlos Astrada: Die existenziale Interpretation der Kantischen Ethik und der phänomenologischen Werttheorie Max Schelers . . . . . . . . . . . . . . .

106

20. Der »Primer Congreso Nacional de Filosofía« von 1949 und die Wende zu neuen philosophischen Strömungen

110

21. Francisco Romero: Intentionalität und Transzendenz des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

111

16 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Inhaltsverzeichnis

Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Mexiko . .

117

22. Das »Ateneo de la juventud« und die Überwindung des Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117

23. Antonio Caso: Existenzphilosophie, Phänomenologie und Positivismus der Wesenheiten . . . . . . . . . . .

120

24. Die Kontroverse mit Samuel Ramos: Ein Wendepunkt in der Geschichte der mexikanischen Philosophie . . . . .

122

25. Antonio Casos’ Aufnahme der Phänomenologie . . . .

125

Die Rezeption der Phänomenologie bei den Exilautoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

26. Joaquín Xirau: Die organische Vernunft und die Wiederentdeckung der Tiefendimension der Wirklichkeit

129

27. Die Krise der Menschheit im 20. Jahrhundert und die Wiedervereinigung der Welt . . . . . . . . . . . . . .

132

28. Juan David García Bacca. Der philosophische Weg García Baccas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

135

29. Das phänomenologische Modell des Philosophierens . .

137

30. Die metaphorische Sprache der Dichtung und die Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

140

31. Eduardo Nicol: Die phänomenologische Methode und die intersubjektive Metaphysik des Ausdrucks . . . . . . .

143

32. Die phänomenologische Methode und die intersubjektive Metaphysik des Ausdrucks . . . . . . . . . . . . . . .

146

33. José Gaos: Philosophie der Philosophie und Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

148

34. José Gaos’ frühe Schriften zur Phänomenologie: Husserls Kritik des Psychologismus als heuristischer Moment der Philosophiegeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . .

150

35. Die Introducción a la fenomenología: die Geschichtlichkeit des Weltbegriffes . . . . . . . . . . .

152

36. Gaos’ Darstellung der phänomenologischen Methode

.

156

37. Gaos’ Philosophie der Philosophie . . . . . . . . . . .

158

38. Philosophie der Philosophie und Phänomenologie . . .

161

17 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Inhaltsverzeichnis

39. Der Streit Gaos’ mit seinen Schülern um die Phänomenologie Husserls . . . . . . . . . . . . . . .

168

Die Phänomenologie und das Vorhaben einer lateinamerikanischen Philosophie . . . . . . . . . . . .

179

40. El Hiperión: Das Projekt einer Philosophie des Mexikanischen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179

41. Ernesto Mayz Vallenilla: Das kulturelle Bewusstsein Lateinamerikas und die Erwartung einer Neuen Welt . .

187

42. Leopoldo Zea: Die europäische Philosophie und das amerikanische Bewusstsein . . . . . . . . . . . . . . .

191

Textauswahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

197

Miguel de Unamuno (1864–1936): Text 1 Auszüge aus dem Briefwechsel mit José Ortega y Gasset . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

199

José Ortega y Gasset (1883–1955): Text 2 Über die Phänomenologie (1929) . . . . . . . . .

213

Text 3 Die Idee des Theaters (1946) . . . . . . . . . . . .

227

Text 4 Das Erdbeben der Vernunft (1944) . . . . . . . .

243

Manuel García Morente (1886–1942): Text 5 Über die Metaphysik des Lebens (1934) . . . . .

253

Xavier Zubiri (1898–1983): Text 6 Rezension zu Brentano (1926) . . . . . . . . . . .

267

Text 7 Phänomenologie, empfindende Intelligenz und Metaphysik der Realität (1944–1980) . . . . . . . . . .

275

Text 8 Auszüge aus dem Kurs Über die Realität (1966)

281

18 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Inhaltsverzeichnis

Rosa Chacel: Text 9 Ein Entwurf der praktischen und gegenwärtigen Probleme der Liebe (1931) . . . . . . . . . . . . . . . .

291

Maria Zambrano: Text 10 Träume und Zeit (1957) . . . . . . . . . . . . . .

303

Carlos Astrada (1894–1970): Text 11 Eine Soziologie des Krieges und Philosophie des Friedens (1948) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

315

Francisco Romero (1891–1962): Text 12 Intentionalität und Geist (1952) . . . . . . . . .

323

Antonio Caso (1883–1946): Text 13 Was ist Bewusstsein? (Brentanos Entdeckung) (1938) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

333

Text 14 Intuitionismus (1943) . . . . . . . . . . . . . . .

339

Text 15 Existenz als Ökonomie, Uninteressiertheit und Barmherzigkeit (1943) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

349

Joaquín Xirau (1895–1946): Text 16 Der Höhepunkt einer Krise (1945) . . . . . . . .

357

Juan David García Bacca (1901–1992): Text 17 Der phänomenologische Sinn der neuzeitlichen Philosophie (1964) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

367

Eduardo Nicol (1907–1990): Text 18 Das Sein des Ausdrucks (1957) . . . . . . . . . .

379

José Gaos (1900–1969): Text 19 Bekenntnisse aus dem Berufsleben I & II (1958)

387

Text 20 Notizen zu Husserl (1961) . . . . . . . . . . . .

405

Text 21 Husserls Lebenswelt (1963) . . . . . . . . . . . .

415

19 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Inhaltsverzeichnis

Luis Villoro (1922–2014): Text 22 Der Indigene als der Andere, durch den ich mich selbst erkenne (1950) . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

423

Ernesto Mayz Vallenilla (1925–2015): Text 23 Die Prüfung unseres kulturellen Bewusstseins (1959) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

429

Text 24 Das Problem Amerikas (1959) . . . . . . . . . .

435

Leopoldo Zea (1912–2004): Text 25 Europäische Philosophie und die Entwicklung des amerikanischen Bewusstseins (1969) . . . . . . . .

449

Originalveröffentlichungen . . . . . . . . . . . . . . . .

461

Zusammenstellung der Einzeltitel . . . . . . . . . . . . . .

461

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

469

20 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Einleitung: Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien und Hispanoamerika7

7 In Spanien und spanischsprachigen Ländern werden die Wörter „Latinoamérica“ und „Hispanoamérica“, „latinoamericano/a“ und „hispanoamericano/a“ oft als gleich­ bedeutend verwendet. Streng genommen handelt es sich jedoch um unterschiedliche Begriffe, denn Lateinamerika umfasst auch das portugiesischsprachige Amerika bzw. das heutige Brasilien, wo es ebenfalls eine bedeutende Aufnahme der Phänomenologie gab. Ich habe es in der Einleitung vorgezogen, „Hispanoamerika“ und „hispanoameri­ kanisch“ zu verwenden, wenn es sich eindeutig um die spanischsprachige Philosophie und Kultur handelt. Dabei habe ich darauf geachtet, „Lateinamerika“ und „lateinameri­ kanisch“ dann zu gebrauchen, wenn es sich um ein philosophisches Programm handelt, das den gesamten Kontinent umfassen wollte, wie es zum Beispiel bei Ernesto Mayz Vallenilla und Leopoldo Zea der Fall ist. Bei den Übersetzungen habe ich das von den Autoren verwendete Substantiv oder Adjektiv (des Öfteren „Lateinamerika“ und „lateinamerikanisch“) stehen lassen. Dies ist keineswegs falsch – manchmal, je nach Kontext, ist es jedoch nützlich, genau zu sein.

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Zum Gedenken an meine Mutter María Ortega Torres

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

1. Der historische Zusammenhang der Aufnahme der Phänomenologie in Spanien José Ortega y Gasset (1883–1955) und seine Schüler an der Univer­ sidad Central von Madrid begrüßten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Phänomenologie Husserls als eine objektive Philosophie und deskriptive Methodologie, die dem Aufbau eines eigenen Denkens Vorschub leistete. Daher war ihre Haltung Husserl gegenüber im Wesentlichen rezeptiv, wobei sie auch kritische Vorbehalte äußerten (vor allem gegen die »idealistische Wende« von Hussels Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie). In einem Brief an den argentinischen Philosophen Francisco Romero (1891–1962) schildert José Gaos (1900–1969) die Atmo­ sphäre dieser »Escuela de Madrid« (Schule aus Madrid) wie folgt: In Spanien hatten wir das Gefühl, dass wir die unumgängliche Phase der Übersetzungen und Monographien hinter uns lassen sollten. Wir hatten den Eindruck, dass uns keine wesentliche Erkenntnis fehlte und wir daher durchaus unsere eigene Meinung äußern durften. Es war nötig gewesen, sich die Gewohnheiten der internationalen philo­ sophischen Gemeinschaft anzueignen, der Spanien beigetreten war. Erst wenn man sie annimmt, kann man gegen sie verstoßen. Dies hat dann nichts mit Unkenntnis oder Unbildung zu tun, sondern allein damit, dass uns diese Gewohnheiten nicht mehr überzeugen oder nichts mehr nützen. Damit wollen wir aber keineswegs behaupten, das wir besser sind.8

José Gaos (1999b): Obras completas XIX – Epistolario y papeles privados. Hg. von Antonio Zirión Quijano. Mit einem Vorwort von Alfonso Rangel Guerra. Mexiko: UNAM, S. 170–171. Sofern nicht anders angegeben, stammen die Übersetzungen aus dem Spanischen ins Deutsche von Guillermo Ferrer.

8

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

Die Wiedergeburt der spanischen Philosophie, die seit Francisco Suárez (1548–1617) keinen großen Namen mehr aufzuweisen hatte,9 nahm jedoch nicht mit Ortega y Gasset ihren Anfang, sondern mit Miguel de Unamuno (1864–1936). In einem Manuskript aus dem Jahre 1904, das den Titel Mi confesión (»Mein Bekenntnis«) trägt,10 entwirft er eine Philosophie des »tragischen Lebensgefühls«, die er als Projekt einer Wiederbelebung der hispanoamerikanischen Kultur konzipiert.11 Er wendet sich an die »Jugend aller spanischsprachigen Völker«12 – nicht jedoch mithilfe der abstrakten Ideen der Neuscho­ lastik oder der Wissenschaftsgläubigkeit des Positivismus, sondern damit, dass er eine lebendige Resonanz in seinen Lesern hervorrufen und ihr Verlangen nach Transzendenz und einem Ort in der Weltge­ schichte wecken will.13 9 Eine solche Behauptung entspricht dem Gefühl der Generation von 1898 sowie der spanischen Philosophen Anfang des 20. Jahrhunderts. Eine nuancierte Interpretation der Philosophiegeschichte Spaniens vom Mittelalter bis heute zeigt jedoch, dass sie durchaus gehaltreicher ist, als Unamuno und Ortega zunächst dachten. In diesem Sinne ist die Bemühung von José Luis Abellán, die Geschichte der spanischen Philosophie zu systematisieren, in jeder Hinsicht zu begrüßen. José Luis Abellán (1979): Historia crítica del pensamiento español (5 Bde.). Madrid: Espasa-Calpe. 10 Miguel de Unamuno (2015): Mi confesión. Hg. von Alicia Villar Ezcurra: Sala­ manca/Madrid: Ediciones Sígueme/Universidad Pontificia Comillas. 11 Das Jahr 1898 war ein Wendepunkt der spanischen Geschichte. Der Verlust der letzten Kolonien im Krieg gegen die Vereinigten Staaten warf viele Fragen bezüglich der nationalen Identität Spaniens und dessen Rolle in der Weltgeschichte auf. In diesem Kontext diagnostizierte der Politiker und Historiker Joaquín Costa (1846– 1911) einen Rückstand Spaniens in etlichen Bereichen, so auch in der Kultur. Er plädierte für eine »Europäisierung«, also eine Erneuerung nach dem Vorbild der »zivi­ lisiertesten Nationen Europas«. Joaquín Costa (1981): Reconstitución y europeización de España y otros escritos. Hg. von Sebastián Martín-Retortillo y Bauer. Madrid: Instituto de Estudios de Administración Local. Das Programm Costas beeinflusste die literarische »Generation von 1898«, welche die Frage nach der spanischen Identität in den Vordergrund stellte, entscheidend. Miguel de Unamuno galt damals als einer der prominentesten Vertreter dieser Generation. 12 »Dank seiner Schriften, die man leidenschaftlicher in Lateinamerika las als in sei­ nem Heimatland, wurde Unamuno als Schriftsteller zu einer der geistigen Kräfte (fuerzas espirituales), die uns aus dem mittelalterlichen Schlummer erweckten, in den das kaiserliche Spanien uns eingetaucht hatte«. Danilo Cruz Vélez (2014): Obras completas IV-Tabula rasa. Hg. von Rubén Sierra Mejía. Bogotá: Universidad de los Andes/Universidad Nacional de Colombia, S. 65. 13 Unamuno (2015): S. 13. Die Philosophie des tragischen Lebensgefühls wendet sich strenggenommen an den »Menschen aus Fleisch und Blut«, also an jeden Einzelnen, indem sie den Widerstand des Individuums gegen den Tod und sein Streben nach Unsterblichkeit ins Zentrum rückt. Trotzdem wollte Unamuno immer aus der Per­

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1. Zusammenhang der Aufnahme der Phänomenologie in Spanien

Dieses Vorhaben markiert die Originalität der Philosophie Una­ munos. In seinem ersten großen Werk Vida de Don Quijote y Sancho Panza (1905) stehen der fahrende Ritter und dessen Heldentaten symbolisch für das menschliche Streben nach Unsterblichkeit.14 Zum Ausdruck gebracht hatte Unamuno diesen Gedanken erstmals in seinem frühen Aufsatz »El Caballero de la triste figura. Ensayo iconológico« (1896),15 in dem Don Quijote als ein konkretes Symbol für den Menschen und die Tatsache seines Lebensdrangs auftritt. Durch seine Heldentaten hofft der Ritter, im Gedächtnis seiner Mit­ menschen weiterzuleben. In seinem Traum von einem ewigen Leben wird er zum Schöpfer der Phantasien seines Heldentums und glaubt mit Leib und Seele an ihre Wirklichkeit. Für Unamuno verkörpert Don Quijote den inneren Widerspruch des Lebens. Er weigert sich zu sterben und strebt stattdessen nach ewigem Ruhm. Alle, die bei Verstand sind, erkennen die Absurdität seines Vorhabens und spotten über ihn. Doch übersehen die »Ver­ nünftigen« dabei die Tatsache, dass jeder Mensch und jedes Volk früher oder später diesen Konflikt zwischen der Vernunft und Streben nach Weiterleben austragen muss. Das »tragische Lebensgefühl« entsteht dann, wenn die Vernunft kein endgültiges Argument mehr für die Verwirklichung des Lebensdrangs bzw. für die Unsterblichkeit anzuführen vermag. Nach Unamuno spiegelte sich die philosophische Armut Spani­ ens nicht zuletzt in dem niedrigen Niveau wider, auf dem der Roman von Miguel de Cervantes rezipiert wurde. Die Deutungen fokussier­ ten primär auf den literarischen Werdegang Cervantes’, waren jedoch blind für die dichterische Existenz Don Quijotes. Unamuno maß dagegen der Autorschaft von Cervantes keinerlei philosophischen spektive seiner Existenz als Spanier sprechen. Er hielt seine Philosophie des tragischen Lebensgefühls für eine Erläuterung dessen, was die kollektive Seele Spaniens in der Kunst, der Literatur und der Mystik zum Ausdruck gebracht hatte. 14 Siehe Miguel de Unamuno (2009): Obras completas X. Vida de Don Quijote y Sancho. Del sentimiento trágico de la vida. La agonía del cristianismo. Prólogo. Aforis­ mos y definiciones. Hg. von Ricardo Senabre, Madrid: Fundación José Antonio de Cas­ tro, S. 1–272 (dt. Fassungen: Miguel de Unamuno: (1926): Das Leben Don Quijotes und Sanchos nach Miguel de Cervantes-Saavedra erklärt und erläutert. Übersetzt von Otto Bueck. München: Meyer & Jessen Verlag; Miguel de Unamuno (1925): Das tra­ gische Lebensgefühl. Einleitung von Ernst Robert Curtius. Übersetzt von Robert Friese. München: Meyer & Jensen Verlag. 15 Miguel de Unamuno (2007): Obras completas VIII. Ensayos. Hg. von Ricardo Sen­ abre. Madrid: Fundación José Antonio de Castro, S. 257–277.

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

Wert bei. Er stellte sogar die provokante These auf, der Autor dieses Klassikers sei als Fürsprecher der Vernunft und des neuzeitlichen Rationalismus Don Quijote letztlich nicht gewachsen gewesen. Im zweiten Teil des Romans lasse Cervantes seinen Helden durch den Ritter des Weißen Mondes (den rachsüchtigen Bakkalaureus Sansón Carrasco) besiegen und dann vor Kummer sterben – und werde somit dem Streben nach Unsterblichkeit, das die spanische Seele auszeichne, nicht gerecht. Auf die gleiche Weise habe die neuzeitliche Philosophie übersehen, dass jedem philosophischen System das Gefühl als Organ für das faktische Leben und dessen Streben nach Fortleben zugrunde liege und es stillschweigend antreibe. Unamuno formulierte nun seinerseits die Frage, wie Don Quijote aus der kollektiven Seele Spaniens entstanden sei und als ein wirkmächtiges Symbol für das Streben nach Unsterblichkeit in ihr weiterlebe. Unamunos Don Quijote-Buch lässt sich als die Wiederaufnahme eines Vorhabens verstehen, das er erstmals in seinem Aufsatz »Sobre la filosofía española« (1904) zu Wort bringt. Er führt dort ein fiktives Gespräch mit einem Freund, der die Genese einer spanischen Philoso­ phie herbeisehnt. Ihm entgegnet Unamuno: Du meinst, dass man all das, was du als Bauschutt bezeichnest, zu uns [nach Spanien] bringen sollte und ihn dann so verteilen, dass daraus eine Baugrube wird. Noch viel wichtiger aber scheint mir, zunächst unseren eigenen Boden solange umzugraben, bis wir im Gestein auf Granit stoßen, um damit die von außerhalb kommenden Fundamente zu legen. Auf ihnen werden wir unser spirituelles Gebäude errichten.16

Unamuno nennt hier als das Auszugrabende eine verborgene spani­ sche Philosophie, die zwar nicht systematisiert worden sei, jedoch in verschiedenen Symbolen, Liedern, Sprichwörtern und Werken wie Don Quijote, La vida es sueño von Pedro Calderón de la Barca oder Las Moradas von Santa Teresa de Ávila vorliege. Diese spani­ sche Philosophie unterscheide sich wesentlich vom Positivismus des 19. Jahrhunderts, der das Qualitative auf das Quantitative und die Wirklichkeit auf empirische Verhältnisse reduziere. Sie hebe sich ferner von der Scholastik ab, die nach Unamuno im Grunde nichts mehr als eine »bloße Anwaltschaft« gewesen sei, insofern sie sich darauf beschränkt habe, im Voraus festgelegte Thesen und Dogmen zu verteidigen. Im Gegensatz dazu halte sich die spanische Philosophie 16

Ebd., S. 644. Übers. von Guillermo Ferrer und Niklas Schmich.

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1. Zusammenhang der Aufnahme der Phänomenologie in Spanien

an das Gegebene und an das, was aus diesem induktiv gefolgert werden könne.17 Diese genuin spanische Philosophie steht nicht im Dienste spe­ kulativer Voraussetzungen; sie bleibt in den gegebenen Tatsachen verankert. Unamuno bezeichnet das Leben und das ihm zugehörige Streben nach Fortleben als absolute Urtatsache. Er skizziert damit eine Phänomenologie des Lebens,18 in der sich sein Denken in vielerlei Hinsicht von der Philosophie Edmund Husserls entfernt. Unamuno zufolge hat die ›verborgene‹ spanische Philosophie niemals versucht, ausschließlich durch theoretische oder anschauliche Erkenntnis zur Wahrheit zu gelangen. Ganz im Gegenteil beruhe sie auf einer voluntaristischen These: »[…] Der Glaube ist eine Willensleistung und bringt seinen Gegenstand hervor […]«.19 Unamuno bezeichnet diese vitale Haltung als »Quijotismus« – es handelt sich dabei um ein Konzept, das seiner Lebens- und Existenzphilosophie einen spezi­ fischen Ausdruck verleiht. Dabei nahm sich Unamuno auch vor, ein universelleres philoso­ phisches Problem aufzuwerfen, als es das Schicksal Spaniens war. Er fand es im Herzen des Rationalismus. Kein Geringerer als Baruch de Spinoza habe auf unnachahmliche Weise das Streben des Menschen nach Unsterblichkeit zum Ausdruck gebracht. In Mi confesión (und später in Del sentimiento trágico de la vida) beruft sich Unamuno auf den Lehrsatz VI des dritten Teils der Ethik: »Jedes Ding strebt, so viel an ihm liegt, in seinem Sein zu beharren« (Unaquaeque res, quantum [quatenus] in se est, in suo esse perseverare conatur).20 Für Spinoza »Das Wissenschaftliche und Philosophische besteht darin, sich an das Gegebene zu halten, es zu erforschen und aus ihm Schlussfolgerungen zu ziehen […]«. Ebd., S. 645. 18 »Unamuno wollte, genauso wie die Phänomenologen, der echte Positivist sein, der von der atomisierten Oberfläche der Analyse […] in die unmittelbare Anschauung der lebendigen Tatsachen hinabsteigen konnte«. Miguel García-Baró (2012): S. 61. 19 Unamuno (2007): S. 646. 20 Spinoza (1989): Opera – Werke. Lateinisch und deutsch. Zweiter Band. Tractatus de intellectus emendatione. Ethica. Abhandlung über die Berichtigung des Verstandes. Ethik. Hg. von Konrad Blumenstock. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesell­ schaft, S. 272–273. Unamunos Interpretation dieser Stellen ist nicht präzise. Er tran­ skribiert »quatenus« statt das originale »quantum«. Hierzu schreibt der kolumbiani­ sche Philosoph Danilo Cruz Vélez: »Das lateinische Wort quatenus […] kann die kausale Bedeutung haben, die Unamuno ihm verleiht. Er lässt Spinoza sagen, dass jedes Ding aufgrund seines Wesens danach strebt, in seinem Sein zu beharren« (S. 85). Dennoch, so Cruz weiter, »[beziehen sich] die Worte Spinozas nicht auf das 17

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

ist dieses Streben kein bloßes Faktum, sondern eine Wesensbestim­ mung des Seienden. Unamuno zitiert hierzu erneut die Ethik: »Das Bestreben, wonach jedes Ding in seinem Sein zu beharren strebt, ist nichts als die wirkliche Wesenheit des Dinges selbst« (Conatus, quo unaquaeque res in suo esse perseverare conatur, nihil ist praeter ipsius rei actualem essentiam).21 Vor allem der nächste Lehrsatz (VIII) weckte sein Interesse: Das Bestreben, wonach jedes Ding in seinem Sein zu beharren strebt, schließt keine bestimmte, sondern eine unbestimmte Zeit in sich (Conatus, quo unaquaeque res in suo esse perseverare conatur, nullus tempus finitum; sed indefinitum involvit).22

Der Satz lässt sich nach Unamuno wie folgt umformulieren: Der Mensch strebt danach, dass sein Bewusstsein unendlich fortlebe. Nach Spinoza mache jedoch der Tod des Körpers jegliche Form von Bewusstsein unmöglich. Immanuel Kant habe später überzeugend gezeigt, dass man das unendliche Fortleben des Ich aus der Apper­ zeption seiner Tätigkeit in der Zeit nur durch einen Paralogismus schließen könne. Der Wissenschaft dagegen fehle jedes Argument dafür, die Kontinuität des individuellen Bewusstseins experimentell zu bestätigen. Vielmehr deute die Tatsache des körperlichen Todes auf das Ende auch jeglicher Form von Bewusstsein hin. Die Vernunft widerspreche auf diese Weise dem Willen bzw. könne ihm nicht weiterhelfen. In dieser Hinsicht seien das Streben nach Unsterblich­ keit und der Glaube an sie wesentlich will-kürlich, d. h. eine Sache allein des Wollens. Der Wille hält trotz des Widerspruches durch die Vernunft am Gegenstand seines Wunsches fest, indem er an ihn glaubt. 1904 bestand das Projekt Unamunos darin, die spanische Phi­ losophie auf einer Auflösung des Widerstreits zwischen Wille und Vernunft zu begründen. Seiner Auffassung nach wurde dieser Konflikt in der Philosophiegeschichte zwar immer wieder festgestellt, man habe jedoch weder seinen Sinn geklärt noch ein neues Denken auf ihm Problem der Unsterblichkeit. Im Gegenteil schließen sie ein universales Prinzip zur Möglichkeit der Zerstörung und Vernichtung all dessen ein, was existiert, sogar […] der Seele. Aber Unamuno interessierte sich nicht dafür, was Spinoza genau meinte. Er suchte eine Rechtfertigung seiner Lehre des persönlichen Fortlebens in der neu­ zeitlichen Philosophie«. Cruz (2014): S. 84. 21 Spinoza (1989): S. 272–273. 22 Ebd., S. 274–275.

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2. Cervantes und die spanische Philosophie

begründet. Daher suchte Unamuno »willkürlich und leidenschaftlich« nach einer Antwort auf die Frage nach diesem Sinn und fand sie weniger in der Geschichte der Philosophie als in der spanischen Literatur und dem religiösen Gefühl, das die spanischen Mystiker zum Ausdruck brachten. Um seine Philosophie auf diesen Fundamenten zu errichten, arbeitete er nach der Veröffentlichung von Vida de Don Quijote und Sancho Panza (1905) an der Fortschreibung eines Tratado del amor de Dios (»Abhandlung über die Gottesliebe«), den er 1913 unter dem Titel Del sentimiento trágico de la vida publizierte.23 Unamunos Begriff von spanischer Philosophie stieß jedoch auf Widerstand. Der wichtigste und entschlossenste Gegenspieler Una­ munos heißt José Ortega y Gasset, dessen früher Briefwechsel mit Unamuno eines der ersten Zeugnisse für die Wiedergeburt der spani­ schen Philosophie ist. Text 1 ist ein Auszug aus den Briefen von Ortega und Unamuno, in deren Mittelpunkt die Bedeutung von Cervantes und Don Quijote für das Konzept einer spanischen Philosophie steht. Diese Diskussion führte den jungen, noch neukantianisch ausgerich­ teten Ortega y Gasset später dazu, aus dem Meisterwerk Cervantes’ eine phänomenologisch orientierte Philosophie der »Umstände« (cir­ cunstancias) Spaniens herauszulesen.

2. Cervantes und die spanische Philosophie. Der Briefwechsel von Unamuno und Ortega y Gasset Bei Unamuno ist die Gestalt Don Quijotes ein Symbol für die tragi­ sche Existenz, die sich gegen die Vernunft auflehnt, um ihr Streben nach Unsterblichkeit nicht aufgeben zu müssen. Don Quijote sym­ Miguel de Unamuno (2009): S. 273–533. Am Schluss von El sentimiento trágico de la vida formuliert Unamuno, was er unter spanischer Philosophie versteht: »Denn immer mehr befestigt sich in mir die Überzeugung, dass unsere spanische Philosophie in unserer Literatur, in unserem Leben und Wirken, vor allem in unserer Mystik lebt und in Erscheinung tritt und nicht in philosophischen Systemen; sie ist konkret. Ist nicht z. B. in Goethe ebenso viel Philosophie enthalten, oder noch mehr, wie in Hegel? Die Strophen des Jorge Manrique, der Romancero (vom Cid [Rodrigo Díaz de Vivar]) der Quijote, das ›Leben ein Traum‹, der ›Aufstieg auf den Berg Carmel‹ (der heiligen Therese) enthalten eine Weltanschauung und eine Gesinnung vom Leben. Diese unsere Philosophie konnte nicht leicht in ein System gebracht werden in der zweiten Hälfte des unphilosophischen, positivistischen, rein technischen Jahrhunderts, einer Epoche der bloßen Geschichts- und Naturwissenschaft, eines im Grunde materiellen pessimistischen Zeitalters«. Unamuno (1925): S. 385–386. 23

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

bolisiert die Urtatsache des Lebens, welches seinem Wesen gemäß nach ewigem Fortleben verlangt, auch wenn die Vernunfteinsichten ihm widersprechen. Unamuno geht es folglich um eine Philosophie, welche diese Lebenstatsache in den Vordergrund rückt und über sie Rechenschaft ablegt. Er stellt sich damit weder der Vernunft entgegen noch der Wissenschaft und Technik, sondern der Glaubwürdigkeit von Wissenschaft und dem Kult von Ideen, sofern sie auf Kosten des konkreten Menschen gehen. Die einzige wichtige Frage betrifft das Schicksal des Menschen nach dem Tode, so Unamuno weiter. Für ihn bedeuten Wissenschaft und Philosophie eine Schwelle zur Weisheit als meditatio mortis. Im Gegensatz dazu plädiert Ortega für die Selbstvergessenheit des Individuums – oder genauer: des Individuellen – zugunsten der Ideen. Er bezeichnet diese Haltung klassisch als Geist, der im Verlauf der Geschichte die objektive Idee der Menschheit verwirklicht. Für Ortega bedeutet das Denken Unamunos einen Individualismus, der lediglich einen persönlichen Ansatz zum Ausdruck bringt. Die neue spanische Philosophie solle jedoch die Errungenschaft einer Genera­ tion werden, die sich ausschließlich um objektive Ideen kümmert. Spanien könne nur dann als höhere Kultur überleben, wenn es fremde Lehren aufgreife und weiterentwickle, die ihm zur Hervorbringung einer eigenen Kultur verhelfen. Vor allem mithilfe der deutschen Phi­ losophie und Wissenschaft wollte Ortega Spanien »europäisieren«. Unamuno, der sich zunächst dem Projekt einer Erneuerung Spaniens durch die Einführung einer fremden Wissenschaft und Phi­ losophie angeschlossen hatte,24 empfand sich als »antieuropäisch«. Er schrieb hierzu: »Die Europäer erfinden Dinge? Na gut! Das elektrische Licht leuchtet hier genauso gut wie da, wo es erfunden wurde«. Man muss diesen Satz jedoch im Zusammenhang lesen. In »Sobre la tumba de Costa« heißt es: Deutschland […] hat uns Kant gegeben. Dafür geben wir Deutschland Cervantes. Wir machen schon viel, insofern wir uns darum bemühen, über die deutsche Kultur unterrichtet zu werden, und zulassen, dass unsere Literatur von der deutschen Metaphysik und Wissenschaft befruchtet wird. Ich hoffe nur, dass unsere Literatur von der deutschen Wissenschaft und Metaphysik befruchtet werden kann. Das war der Sinn meines eher paradoxen Satzes: Sollen sie doch erfinden!25 24 25

Siehe En torno al casticisimo. Cinco ensayos, in: Unamuno (2007): S. 59–150. Ebd., S. 1027.

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2. Cervantes und die spanische Philosophie

Unamuno suchte die Quellen der spanischen Philosophie vielmehr in einer Tradition, die er als »afrikanisch« bezeichnete, weil sie auf die Namen Tertullian und Augustinus (wie auf die Religiosität der spani­ schen Seele) zurückgeht.26 Ortega fürchtete, dass die antieuropäische Haltung Unamunos die Mitwirkung Spaniens an der universellen Kultur verhindere. An diesem Punkt der Diskussion taucht erneut der Name Cervantes auf. Während Unamuno ihn für nichts weiter als für einen »synoptischen Evangelisten« Don Quijotes hielt, betrach­ tete Ortega den Autor des Quijote als »den einzigen unsterblichen Spanier«, der ein »Freund der Ideen« gewesen sei.27

26 Nach Joaquín Costa hatte der wirtschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Rückstand Spaniens Ende des 19. Jahrhunderts zur Folge, dass Spanien sich an der »zivilisatorischen« Aufgabe Europas in Afrika beteiligen konnte. Costa setzte dem frühen Kolonialismus Spaniens in Hispanoamerika, der durch Völkermord und Aus­ beutung charakterisiert war, einen »neuen und zivilisatorischen Kolonialismus« ent­ gegen, der in der »Europäisierung« Afrikas gemäß der westlichen Religion, Kultur und Wissenschaft bestehen sollte. Unamuno, der zunächst der Idee einer Europäisierung Spaniens zugestimmt hatte, reagierte in zweierlei Hinsicht auf das Vorhaben Costas: In seinem Essay »Sobre la Tumba de Costa. A la más clara memoria de un espíritu sincero« (»Auf dem Grab Costas. Zum Gedenken eines ehrlichen Geistes«) bemerkt er, Costa sei kein »Europäisierender« wie jene Angeber gewesen, denen ständig »der kategorische Imperativ Kants oder das Binom Newtons auf der Zunge liegt«. Una­ muno (2007): S. 1023. Dem Eurozentrismus und seiner rationalistischen Kultur setzte Unamuno eine afrikanische Tradition entgegen, die in die Zeit von Augustinus zurückreicht: »Der große alte Afrikaner! Man kann diesen Ausdruck ›der alte Afrika­ ner‹ jenem des ›modernen Europäers‹ gegenüberstellen. Er ist am allerwenigstens diesem letzteren Ausdruck ebenbürtig. Augustinus ist ein antiker und afrikanischer Mensch, genauso wie Tertullian. Warum dürften wir nicht sagen, ›man solle sich alt­ modisch afrikanisieren‹ oder ›man solle gemäß dem afrikanischen Geist antik wer­ den‹?« Ebd., S. 1000. Wenn Ortega Unamuno schreibt, »wir sind Afrikaner, Don Miguel«, deutet er die Stagnation Spaniens hinsichtlich einer kulturellen Tradition an, die andere europäische Nationen aus seiner Sicht längst hinter sich gelassen hatten. 27 Für Unamuno verfügt Don Quijote insofern über ontologische Konsistenz, als er sowohl die kollektive Seele eines Volkes als auch den Willen zur unendlichen Existenz im einzelnen Menschen (»aus Fleisch und Blut«) repräsentiert. Ortega y Gasset sei­ nerseits schreibt den fiktiven Objekten nicht mehr Konsistenz zu, als auch die phä­ nomenologische Intentionalitätslehre ihnen einräumt: »In der Fiktion setze ich das Fingierte nicht als seiend, […] d. h., was am Fingierten Wirklichkeit ist, das ist der es fingierende Akt. Dieser mein Akt fängt in einem Moment an und hört in einem ande­ ren auf und damit sein fingiertes Geschöpf«. Ortega (1998): S. 203. In der Auseinandersetzung mit Cervantes’ Meisterwerk bemüht sich Ortega, das intentionale und irreale Objekt Don Quijote im Rahmen von Cervantes’ eigenen Ideen zum Problem der Wirklichkeit zu verstehen. Für Ortega ist Kunst letztlich eine Form der Ent-wirklichung, deren anthropologische Bedeutung – die Entlastung von der

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Indem Ortega den Akzent von der Gestalt Don Quijotes auf das Denken von Cervantes verschob, distanzierte er sich von dem Volun­ tarismus Unamunos in der Vida de Don Quijote y Sancho Panza. Der Brief an Unamuno vom 10. Februar 1907, den Ortega nie abschicken sollte, enthält einen Entwurf der frühen Philosophie Ortegas, die er in den Meditationen über »Don Quijote« darstellt.28 Ortega betont hier die »Sympathie« Cervantes’ für jedes Ding und sein Interesse an »jeder Lebensform«. Nach ihm ist Cervantes genau deshalb in der Lage, alles zu ironisieren, weil er die Sachen bis ins kleinste Detail beschreibt. Cervantes fühle sich ferner in jede Gestalt seiner Erzäh­ lungen und des Quijote ein, indem er für alle Perspektiven Sympathie empfinde. Unamuno ließ sich nicht von den Argumenten seines Briefpart­ ners überzeugen und bestand darauf, ein einziges Anliegen zu haben – die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele »im mittelalterlichen Sinne des Wortes«. Er pointiert den Gedanken, dass es in einem Uni­ versum ohne Menschen weder Wissenschaft noch Philosophie noch Theologie geben würde.29 Derweil absolvierte Ortega Forschungsauf­ enthalte in Marburg und Leipzig, wo er sich für den Neukantianismus begeisterte. Die spätere Lektüre von Dilthey, Brentano und Husserl Schwere des Realen – er in vielen seiner Schriften, so auch in Text 3 »Die Idee des Theaters«, verdeutlicht. 28 José Ortega y Gasset (2017a): Obras completas. Tomo I – 1902/1915, Madrid: Editorial Taurus, S. 745–825 (deutsche Fassung von Ulrich Weber: José Ortega y Gas­ set (1959): Meditationen über »Don Quijote«. Übersetzt von Ulrich Weber. Mit einer Einleitung von Julián Marías. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt). 29 Erst später widmeten Schüler Ortegas (z. B. María Zambrano und Julián Marías) sowie andere spanische und hispanoamerikanische Philosophen (Juan David García Bacca, José Ferrater Mora und Danilo Cruz Vélez) dem Denken Unamunos als Vor­ läufer des Existenzialismus Aufmerksamkeit. Ferner bewerteten sie den Gedanken Unamunos neu, dass die Philosophie durch literarische Werke angereichert bzw. ergänzt werden solle. Auch wenn Unamunos Werk nie ganz ohne Resonanz blieb, war es doch Ortega y Gasset, der in Spanien und Lateinamerika eine neue Denkrichtung einläutete. So stellte Danilo Cruz in den 1960er Jahren fest, dass »dank des histori­ schen Abstands es immer deutlicher wird, dass Spanien und Lateinamerika nicht den Weg Unamunos, sondern den Ortega y Gassets, nämlich den Weg der Verwestlichung, der modernen Philosophie und Wissenschaft gegangen sind […].« Cruz (2014), S. 73. Zugleich bemerkt Cruz Vélez, dass Ortegas Vormachtstellung zu einer intensiven Rezeption der Phänomenologie geführt habe: »Die Phänomenologie war die philo­ sophische Strömung, die während Ortegas intellektueller Führung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in Spanien und Lateinamerika vorherrschte und die bei uns die ersten Versuche eines rigorosen Philosophierens anregte«. Ebd., S. 53.

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3. Der Beitrag der Meditationen über »„Don Quijote«“ zur Phänomenologie

wird dann die Initialzündung zum Aufbau seines philosophischen Systems der vitalen und historischen Vernunft sein sowie der Bildung des Begriffes von der primären Realität »Ich und meine ›Umstände‹“.30

3. Ortega y Gasset: Der Beitrag der Meditationen über »Don Quijote« zur Phänomenologie Im Jahre 1914 veröffentlichte Ortega als sein erstes und bahnbrechen­ des Buch die Meditationen über »Don Quijote«, die bereits phänome­ nologische Deskriptionen enthalten. Er definiert hier die Philosophie als amor intellectualis, wobei es sich nicht um eine lediglich etymologi­ sche Darstellung des Wortes handle. Amor intellectualis oder »geisti­ ger Eros« bezeichne vielmehr ein Streben nach dem Verständnis jedes einzelnen Dinges, wodurch der Philosoph diesem dazu verhelfe, seine Bedeutung bzw. seinen Sinn zum Ausdruck zu bringen.31 Der amor intellectualis bringe ferner jedes einzelne Ding in Verbindung zu allen anderen Dingen, wodurch sie ein Gefüge bildeten. Kurz: Er ist es, der alles in der Welt erscheinen lässt. Das Konzept des amor intellectualis erinnert an die frühen Über­ legungen Ortegas zur Sympathie bei Cervantes im Briefwechsel mit Unamuno.32 Ortega ergänzt sie, indem er nun davon spricht, die Dinge dadurch, dass sie philosophisch verstanden würden, zu »ret­ ten«: Versucht wird in ihnen [den Akten der Rettung], ein gegebenes Fak­ tum, einen Menschen, ein Buch, ein Bild, einen Landschaftseindruck, Trotz der radikalen Unterschiede zwischen ihm und Unamuno kann man sagen, dass Ortega sein Denken durch eine Neubetrachtung der Themen von Unamunos Philosophie gebildet hat. So schreibt Stascha Rohmer: »Ortegas Lebensphilosophie und sein Zirkunstanzialismus stehen nun in der Tat in einem diametralen Gegensatz zum Tragizismus Unamunos, der zugleich das ganze Ausmaß des Einflusses von Unamuno auf Ortega erkennen lässt«. José Ortega y Gasset (2008): Der Mensch ist ein Fremder. Schriften zur Metaphysik und Lebensphilosophie. Hg., übers. und mit einer Einführung versehen von Stascha Rohmer. Freiburg/München: Karl Alber Verlag, S. 19. 31 »Unter den verschiedenen Betätigungen des amor intellectualis gibt es nur eine, mit der ich die anderen durch mich angesteckt wissen möchte: das Streben nach Ver­ ständnis«. Ortega (1959): S. 38. 32 »In der Liebe tritt also eine Erweiterung der Individualität ein, sie nimmt andere Dinge in sich auf, lässt sie mit uns eins werden«. Ebd., S. 36. 30

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einen Irrtum, einen Schmerz auf kürzestem Weg zum vollen Entfalten seiner Bedeutung zu bringen, die Dinge aller Art, welche das unaufhör­ lich anbrandende Leben uns wie die ausgespienen Überbleibsel eines Schiffbruches vor die Füße wirft, in eine solche Lage zu versetzen, dass die Sonne aus ihnen unzählige Lichtreflexe hervorzulocken vermag.33

Es handle sich dabei ferner um ein philosophisches Vorhaben, das den Aufbau eines Systems verlange. Die genuine Philosophie ziele nicht darauf ab, sich die metaphysische Erkenntnis irgendeines Absoluten anzumaßen. Ihr systematischer Charakter liege vielmehr in der Ent­ scheidung, die Sachen im Panorama der realen Welt zu betrachten.34 Der Philosoph muss sich zunächst um die Dinge in seiner Nähe bemühen, um sich seine eigenen Lebensumstände zu Bewusstsein zu bringen. Daher lässt sich die Philosophie Ortega y Gassets als eine Philosophie des unmittelbar gegebenen »Um-stands« (circumstantia) bezeichnen: »Umstand! Circum-stantia! Die stummen Dinge in unse­ rem nächsten Umkreise«.35 Das Wort circum-stantia36 hat bei Ortega eine dynamische Bedeutung: Das unmittelbar Gegebene oder Naheliegende wird inso­ fern zum vollen Verständnis gebracht, als dessen Betrachtung über Ebd., S. 34. Ortega konkretisiert sein philosophisches Konzept der »Rettung« (salvación) durch Verstehen mit dem Satz »Ich bin ich und mein Umstand, und wenn ich ihn nicht rette, so rette ich auch mich selber nicht«. Ebd., S. 53. Dieses Konzept hat in der spanischen und hispanoamerikanischen Philosophie Geschichte geschrieben. Man kann ihm z. B. in dem Begriff der »dichterischen Vernunft« bzw. einer reinte­ grierenden Vernunft bei María Zambrano, der »Philosophie der Philosophie« von José Gaos sowie in dem Vorhaben Samuel Ramos’ und Leopoldo Zeas, die mexikanischen und weiterhin die lateinamerikanischen Umstände philosophisch zu verstehen und aufzugreifen, nachspüren. 34 »Letztes Ziel der Philosophie müsste sein, zu einem einzigen Satze zu gelangen, darin die ganze Wahrheit enthalten wäre«. Ebd., S. 44. Das echte philosophische Sys­ tem besteht weniger in der Ableitung der Wirklichkeit aus einem Prinzip als in der maximalen Erhellung bzw. dem Verstehen dessen, was vorgegeben ist. Die Phäno­ menologie spielte eine Rolle in der Auffassung Ortegas dessen, was ein philosophi­ sches System ausmacht, und zwar als methodische Entfaltung des Sinnes der gege­ benen Gegenstände. Ortega legte jedoch Nachdruck darauf, dass die Phänomenologie wesensgemäß keine systematische Form annehme. 35 Ebd., S. 47. 36 »Umstände/Umstand« ist zwar die angemessene Übersetzung von »circunstan­ cias« und »circunstancia«, jedoch im Deutschen nicht ohne eine gewisse Härte. Um den terminologischen Charakter des Wortes anzuzeigen, setze ich im Folgenden »Umstand« und »Umstände« in Anführungszeichen. Im nächsten Abschnitt (»Der Beitrag der Meditationen über ›Don Quijote‹ zur Phänomenologie«) erläutere ich diesen Begriff in seinem historischen und systematischen Kontext. 33

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3. Der Beitrag der Meditationen über »„Don Quijote«“ zur Phänomenologie

es hinausreicht. In dieser Hinsicht ist Ortegas Beschreibung des (das Kloster El Escorial umgebenden) Waldes aufschlussreich.37 Dieser Wald ergebe sich nicht aus der Summe der Bäume;38 nicht deren Anzahl konstituiere die Dimension der Tiefe, die zum Wesen des Waldes gehört. Die Perspektive auf ihn eröffne sich vielmehr mit der Wahrnehmung »von etwa zwei Dutzend gravitätischer Eichen und lie­ benswürdiger Eschen«39. Sie sind nicht der Wald, sondern »lediglich ein paar Bäume von ihm«40. Den Wald gibt es, so Ortega, weil er zugleich aus den Bäumen besteht, die man nicht sieht, und daher eine Dimension der Tiefe besitzt. Diese erscheint dem wahrnehmenden Ich, indem sie sich ständig in koexistierende oder aufeinanderfolgende Oberflächen – nämlich weitere sichtbar gewordene Bäume – ver­ wandelt. Das Wort Oberfläche bedeutet nicht nur die Materialität der erscheinenden Bäume, sondern auch ihr virtuelles Dasein,41 je Ebd., S. 66–78. In seinem Kommentar zu den Meditaciones del Quijote betonte Julián Marías, dass es sich um den Wald als ein Phänomen der primären Realität der Ich-Umstände handle. »Ich habe mich vor einigen Jahren mit dieser vitalen Deskription, die der Ent­ deckung eines Gegenstandes entspricht, den wir den,erlebten Wald‘ nennen könnten, beschäftigt. Es handelt sich hierbei um den Wald nicht als Ding, sondern als eine konkrete, in meinem Leben angesiedelte Wirklichkeit«. José Ortega y Gasset (2019): Meditaciones del Quijote. Hg. und mit einem Vorwort versehen von Julián Marías. Madrid: Ediciones Cátedra, S. 99. Phänomenologisch gesehen ist der Wald, wie der spanische Philosoph und Ortega-Forscher Javier San Martín bemerkt, ein Beispiel für die Welt. Siehe hierzu sein Vorwort zu Ortega y Gasset (1998): S. 19. 39 Ortega (1959): S. 66. 40 Ebd. 41 San Martín pointiert die Bedeutung des Virtuellen bei Ortega: »Nach den Medi­ tationen ist die Tiefe eine virtuelle Qualität, die sich im Schoß der ›unmittelbaren Anwesenheiten vor dem Bewusstsein‹ bekundet«. José Ortega y Gasset (1998), S. 20. Die Theorie der Kultur bei Ortega beruht auf dem Gedanken, dass das menschliche Leben das unmittelbar Anwesende mit einem virtuellen Charakter überziehe. Die phänomenologischen Begriffe des Sinnes und des Noemas, wie Husserl sie in Ideen darstellt, hätten zur Begriffsbildung des Virtuellen bei Ortega einen wesentlichen Beitrag geleistet (siehe ebd., S. 22). 1913 hatte Ortega, in seiner Rezension zu dem Buch von Heinrich Hoffmann Untersuchungen über den Empfindungsbegriff (in: Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. XXVI, 1. und 2. Heft, 1913), den Begriff des Phänomens mit dem Virtuellen verbunden und vor diesem Hintergrund die Phänomenologie so definiert: »Hier bedeutet Phänomen nicht dasselbe wie bei Kant, etwas, das auf ein ihm zugrundeliegendes anderes Etwas verweist. Phänomen bezeichnet hier den vir­ tuellen Charakter, den alles erwirbt, sobald es nach dem Aufgeben seines natürlichen Vollzugscharakters in einer beschauenden, beschreibenden Einstellung betrachtet wird, ohne dass ihm endgültiger Charakter zugesprochen wird. […] Diese reine Beschreibung ist die Phänomenologie«. Ebd., S. 62. 37

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

nachdem, ob sie noch nicht oder nicht mehr gesehen werden. Dank dieses virtuellen Daseins des Waldes und der Vermöglichkeiten des wahrnehmenden Subjekts erweitern sich die Oberflächen ständig nach der Tiefe hin.42 Dadurch biete sich der Wald dem Subjekt als eine reale Möglichkeit dar: Von jedem in ihm gelegenen Punkte aus betrachtet, ist der Wald strenggenommen nur Möglichkeit. […] Der Wald ist eine Summe möglicher Handlungen, die ihren rechten Wert verlören, wenn wir sie verwirklichten. Was wir vom Wald unmittelbar vor uns haben, ist nur der Vorwand für die Ferne und die Verborgenheit alles übrigen.43

Das Beispiel des Waldes erläutert den Perspektivismus der Medita­ tionen über »Don Quijote«. Ortega definiert die Perspektive als ein »Organ der visuellen Tiefenwirkung«44. Es handelt sich hierbei um einen »Grenzfall […], bei dem sich das bloße Sehen mit einem rein intellektuellen Akt verbindet«45. Die Perspektive sei gleichursprüng­ lich die Wahrnehmung der einzelnen Bäume und die Auffassung des Waldes als einer Totalität, welche über den Horizont des Wahr­ genommenen hinausreiche. Er besitze eine ideale Existenz, weil wir ihm niemals dort begegnen, wohin unser Blick fällt. Seine Existenz erschließe sich uns erst dann, »wenn wir uns darum bemühen«46, ihn auf den Begriff zu bringen, was eine Kulturleistung darstelle. Ortega beschreibt folglich die Kultur als ein »Sicherheits- und Klarheitsmo­ ment innerhalb des Lebens«, das bei der Erweiterung der Perspektive bis zur Tiefendimension und zum Sinn der Dinge statthabe. Die Meditationen kreisen so weniger um die tragische Gestalt Don Quijotes – wie es bei den Überlegungen Unamunos der Fall

42 Julián Marías zufolge erlaubt uns erst die Philosophie der vitalen Vernunft zu ver­ stehen, dass die Realität des Waldes gerade in seiner Möglichkeit besteht. Das heißt, die Realität des Waldes besteht weniger darin, eine aktuale Menge von Bäumen als vielmehr ein virtuelles Korrelat von Potenzialitäten des Ich zu sein, welches sich in ihm befindet und wandert. Julián Marías (2019): »Die vitale Wirklichkeit Wald, d. h. der Wald als Wald und nicht als,Gesamtheit von Bäumen‘ oder Landstück oder Holz­ summe (suma de madera) besteht in der Möglichkeit. […] Damit führt Ortega ein ontologisches Thema der größten Bedeutung ein […], nämlich das der Wirklichkeiten, die darin bestehen, Möglichkeiten zu sein«, S. 102. 43 Ortega (1959): S. 68. 44 Ebd., S. 78. 45 Ebd. 46 Ebd., S. 98.

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4. Ortegas kritische Aufnahme der Phänomenologie

war47 – als um das Werk von Cervantes und seine Bedeutung für eine Kulturphilosophie. Es stelle »das Beispiel« für eine Erzählung über die vorgegebenen Dinge und Umstände dar, die ihrem Sinn Ausdruck verleihe. Aus diesen Gründen findet Ortega im Meisterwerk von Cer­ vantes den literarischen Entwurf seines eigenen philosophischen Kon­ zeptes einer vitalen und historischen Vernunft. Der Beitrag der Medi­ tationen über »Don Quijote« – die teilweise unter dem Einfluss neukantianischer Ideen standen – zu diesem Konzept besteht vor allem darin, die phänomenologische Grundlage für einen neuartigen, im vitalen Perspektivismus fundierten Kulturbegriff zu schaffen.

4. Ortegas kritische Aufnahme der Phänomenologie Der Autor der Meditationen über »Don Quijote« gilt zu Recht als derjenige, der die Phänomenologie in Spanien eingeführt hat. Dabei geht es nicht nur darum, dass dieses für die spanische und die his­ panoamerikanische Philosophie des 20. Jahrhunderts wegweisende Buch phänomenologische Deskriptionen und Gedanken enthält. Es kann ohne Abstriche als ein originärer Beitrag Ortegas zur Phäno­ menologie bezeichnet werden, der die Erweiterung der individuellen Perspektive bis zur Tiefendimension der Welt als eine ursprüngliche

Ortega fasst den Schwerpunkt seiner Kritik am Verfasser der Vida de Don Quijote y Sancho Panza wie folgt zusammen: »Es wäre indessen unbegreiflich, wenn es den großen Gesten Don Quijotes nicht gelänge, uns hier einen Weg zu weisen. Wo bringen wir Don Quijote unter […]. Es wäre verkehrt, sich für den einen oder den anderen Kontinent [den der Wirklichkeit oder den des bloß Phantastischen; Anmerkung G. F.] zu entscheiden. Don Quijote ist die Grenze, an der die beiden Welten zusammensto­ ßen, an der sie eine Kante bilden […]. Wenn man uns sagt, dass Don Quijote ganz der Wirklichkeit angehört, so sind wir darum keineswegs böse. Nur möchten wir dazu bemerken, dass dann zusammen mit Don Quijote auch sein unbändiger Wille einen Teil des Wirklichen darstellen würde. Dieser Wille aber ist ganz erfüllt von der Ent­ schlossenheit zum Abenteuer. Don Quijote der Wirkliche will wirklich die Abenteuer […]. Deshalb ist es ihm auch so erstaunlich leicht, vom Zuschauerraum nach dem Bühneninnern der Lügengeschichte hinüberzuwechseln«. Ebd., S. 154. Anders aus­ gedrückt: Der Voluntarismus von Unamuno solle einer Philosophie der Vernunft und der Realität weichen. Sonst riskiere er, sich zu verirren. Dem Idealismus des fahrenden Ritters stellt Ortega den »Realismus« von Cervantes gegenüber, wobei Realität hier die Korrelation zwischen einem individuellen Subjekt und seinen »Umständen« bedeutet. 47

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

Kulturleistung beschreibt.48 In seinen frühen Vorlesungen an der Universidad Central von Madrid betonte Ortega ferner den bahnbre­ chenden Charakter des Intentionalitätsbegriffes: Sowohl Brentano als auch Husserl bereiteten der Verwechslung des psychischen Phä­ nomens mit einem subjektiven »Inneren« ein Ende und schafften es gleichermaßen, auf der Intentionalität des Bewusstseins eine Wesens­ erkenntnis der Erscheinungen zu gründen.49 Trotz alledem hielt sich Ortega nie für einen Phänomenologen im strengen Sinne des Wortes. In seinen Meditationen über »Don Quijote« zielte er auf ein philosophisches System über die Korrelation zwischen dem Ich und seinen »Umständen«, die er später als »radi­ kale« oder »primäre Realität« bzw. als »ursprüngliches Geschehen« bezeichnen sollte. Er nahm zwar eine deskriptiv-phänomenologische Methode in Anspruch, legte jedoch Nachdruck darauf, dass ein System sich auf keine methodologische Herangehensweise beschränke. Im »Vorwort für Deutsche« (bzw. zur deutschen Übersetzung von El tema de nuestro tiempo) schreibt er: Die Phänomenologie ist ihrer eigenen Beschaffenheit nach nicht zu einer systematischen Form oder Gestalt fähig. Ihr unschätzbarer Wert liegt in der ›feinen Struktur‹ fleischlichen Gewebes, die sie einem Systemgerüst zur Verfügung zu stellen vermag.50

Des Weiteren gehörte Ortega einer philosophischen Generation an, die sich vom Idealismus des 19. Jahrhunderts abgrenzte. Er miss­ traute daher der transzendental-idealistischen Wende Husserls in den Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie.51 Seine Äußerungen zur Phänomenologie im »Vorwort 48 Siehe hierzu San Martín (2012): S. 86–107. Der Schwerpunkt der Überlegungen San Martíns liegt auf der Originalität der Meditationen über »Don Quijote« und ihrer nicht ausreichend erforschten Bedeutung für die Phänomenologie: »[…] Die Scharf­ sinnigkeit Ortegas und sein Beitrag zur Phänomenologie bestehen darin, die Phäno­ menologie der Wahrnehmung in eine Phänomenologie der Kultur einzubinden«. Ebd., S. 91. 49 Siehe z. B. Ortega (1998): S. 106–123. 50 Ebd., S. 264. Ortega verfasste das Vorwort für eine neue deutsche Auflage seines Buches Die Aufgabe unserer Zeit. Die vollständige Version blieb jedoch unveröffent­ licht. José Ortega y Gasset (1934): Die Aufgabe unserer Zeit. Übersetzt von Helene Weyl. Mit einer Einleitung von Ernst Robert Curtius. Berlin: Deutsche VerlagsAnstalt. Zur Geschichte des »Vorworts« siehe Ortega (1998): S. 29. 51 So sahen es einige von Ortegas bedeutendsten Schülern. Antonio Rodríguez Huéscar schreibt etwa: »Für Ortega, genauso wie für viele andere, darunter auch

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4. Ortegas kritische Aufnahme der Phänomenologie

für Deutsche« lassen sich in diesem Kontext besser verstehen. Ortega ordnet dort die deskriptiv-phänomenologische Methode dem Aufbau eines Systems der vitalen und historischen Vernunft unter, welches der primären und korrelativen Realität des Ich und der Welt Rech­ nung trägt. Gleichwohl dachte er, die Husserl’sche Phänomenologie werde in ihrem idealistischen Irrtum steckenbleiben. Er warf ihr vor, trotz der präzisen Bestimmung der Seinsweise des Bewusstseins – nämlich im Sinne der Intentionalität – auf einer »mikroskopischen Ebene« denselben Fehler zu begehen wie der Idealismus. Dieser habe das Ich und das Bewusstsein verabsolutiert, indem er es ver­ säumt habe, die Bewusstseinsakte von der subjektiven Immanenz zu unterscheiden. Dank des Intentionalitätsbegriffes habe die Phä­ nomenologie sie erstmals deutlich voneinander differenziert. Den­ noch überinterpretiere und hypostasiere sie die dem reflektierenden Bewusstsein erscheinenden Akte und ihre intentionalen Korrelate als reines Bewusstsein.52 Hiergegen wendet Ortega ein, nicht ein als bloßer Zuschauer des Weltphänomens begriffenes reines Ich sei das primär Reale, sondern der reale, reflektierende Mensch und die reale Welt. Damit erteilte er seiner positiven Auffassung von der deskriptiven Herangehensweise der Phänomenologie keine Absage, sondern wandte sie auf sein eigenes Konzept der primären Realität Phänomenologen, steht außer Zweifel, dass die transzendentale Phänomenologie die endgültige, reinste Gestalt des Idealismus und die letzte subtilere Folgerung des Cartesianismus, ja dessen ›Abgesang‹ war«. Antonio Rodríguez Huéscar (2002): La innovación metafísica de Ortega. Crítica y superación del idealismo. Madrid: Editorial Biblioteca Nueva. 52 »Der unvergleichliche Vorteil der Phänomenologie ist, zu solcher Präzision gefun­ den zu haben, dass sie es uns möglich machte, den Idealismus exakt in dem Augenblick zu ertappen, in dem er sein Delikt begeht und die Wirklichkeit wegstibitzt, sobald er sie zu Bewusstsein erklärt. Ihr Ausgangspunkt ist ein ›primärer und naiver Bewusst­ seinsakt‹. Aber dieses Bewusstsein ist durch sich selbst nicht Bewusstsein, sondern ist die Wirklichkeit, die Zahnschmerzen, sofern sie schmerzen, der reale Mensch in der realen Welt«. Ortega (1998): S. 274–275. Man könnte heute mit Blick auf den Nachlass Husserls sagen, dass die transzendental-idealistische Wende der Ideen zu einer reinen Phänomenologie mit einem phänomenologischen Realismus zusammen­ gehört, welcher der spontanen Sinnbildung der Wirklichkeitserfahrung Rechnung trägt. Husserl selbst hatte eingeräumt, dass der Ausdruck »transzendentaler Idealis­ mus« eher unglücklich war und der methodologischen Betrachtung der Realität in phänomenologischer Einstellung nicht gerecht wurde. Vor allem in seinem späten Werk schnitt Husserl neue Problemkonstellationen an, die dann seine Kritiker aus­ formulierten. Hierzu könnte man die Frage Ortegas nach dem einzelnen, empirischen »Wer« oder Subjekt eines reinen Bewusstseins zählen, welches jenes nicht überfliegt, sondern mit ihm eine reale Einheit bildet.

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

an. Innerhalb dieser Korrelation ist das reflektierende Bewusstsein kein Absolutes, sondern die Begegnungen des realen Ich mit neuen Gegenständlichkeiten – seine vollzogenen Bewusstseinsakte und ihre Objekte – stehen im Zentrum. Die in der Revista de estudios orteguianos veröffentlichten »Arbeitsnotizen zu Husserl« stellen Ortegas Interpretation der Phä­ nomenologie in ein neues Licht.53 Er preist Husserl hier als den Denker, »[…] der uns zu sehen beibrachte […], und, noch wichtiger, uns zu sehen beigebracht hat, als wir eigentlich nichts sahen«54. Er fügt jedoch hinzu, dass er das Wort »Phänomenologie« anders als Husserl gebrauche. Dieser schalte die Wirklichkeit aus, um das Phänomen als Phänomen des Bewusstseins erscheinen zu lassen. Er selbst wiederum hebe das Moment des »[reinen] Bewusstseins von« auf, um das Phänomen als Phänomen der Realität hervorzuhe­ ben.55 Dieser Punkt ist erklärungsbedürftig: Sowohl im »Vorwort für Deutsche« als auch in den »Arbeitsnotizen zu Husserl« besteht Ortega darauf, dass kein der Reflexion erscheinender Akt durch eine phänomenologische epoché ausgeschaltet bzw. entwirklicht werden könne. Denn es handle sich bei der Reflexion um die nachträgliche Erscheinung vollzogener Akte, die vergangen, also irreal geworden sein müssen, um reflektierend betrachtet zu werden. Mit der Irrealität der dem reflektierenden Bewusstsein gegebe­ nen Akte gehöre die Unmöglichkeit ihrer epoché bzw. Ausschaltung zusammen (wie sollte man ein Vergangenes, irreal Gewordenes außer Funktion setzen können?).56 Deswegen sei das reflektierende Bewusstsein kein Zuschauer eines reinen Bewusstseins und dessen 53 José Ortega y Gasset (2002): »Notas de trabajo sobre Husserl«, in: Revista de estudios orteguianos, Nr. 4 (2002), S. 7–28. 54 Ebd., S. 11. 55 Ebd., S. 13. 56 Im »Vorwort für Deutsche« betont Ortega die wesentliche Verbindung von Bewusstsein und Erinnerung: »Damit es Bewusstsein gibt, ist es notwendig, dass ich mein aktuelles Primärerlebnis unterbreche und durch Umwendung der Aufmerksam­ keit in der Erinnerung behalte, was ich unmittelbar vorher erlebt [habe]. Diese Erin­ nerung ist nichts anderes als die Bewahrung dessen, was es vorher gab, einen realen Menschen, dem es real zukam, von gewissen Realdingen umgeben zu sein«. Ortega (1998): S. 273. Das reflektierende Bewusstsein erweist sich als ein Geschehen: »[…] Es gibt jetzt in der Welt ›Bewusstsein‹“; »Ich bin jetzt immer noch ein realer Mensch, der vor sich, das heißt in der Welt, die Wirklichkeit ›Bewusstsein‹ vorfindet«. Ebd. Dieses Geschehen ist ursprünglich eine Begegnung mit den früheren Icherlebnissen und den in ihnen gegebenen Gegenständen. Dabei eröffnet sich zwar ein weites Feld phänomenologischer Beschreibung – die Tatsache, dass man durch keine epoché das

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5. Reflexion, Erinnerung und Bewusstsein: »Sobre la fenomenología«

reiner Phänomene. Es sei vielmehr reales, »primäres« Bewusstsein, indem es seinen Reflexionsakt ausführe. Darin besteht, so Ortega, sein unaufhebbarer Wirklichkeitscharakter. Was sich ihm gibt – die vollzogenen Akte – sind keine reinen Bewusstseinsphänomene, son­ dern Phänomene jener Wirklichkeit, die das reflektierende Bewusst­ sein ursprünglich ist. Aus diesem Grund insistiert Ortega darauf, dass sein Gebrauch des Terminus »Phänomen« in einer Gegenrichtung zu dem Gebrauch verlaufe, den Husserl von ihm mache. Ortega strebte eine Phänomenologie des realen, reflektierenden Bewusstseinsakts und des primären Bewusstseins an. Nach ihm ist dieses Bewusstsein noch immer ein »Sehen« im phänomenologischen Sinne, wobei dieses Sehen ein Geschehen ist, es geschieht. Durch die Reflexion begegnet das reale Ich seinen vergangenen Akten und ihren korrelativen Gegenständen, sofern sie sich in einem neuen, virtuellen Zustand befinden. Noch anders ausgedrückt: Sie sind ein virtueller Bestandteil des »Umstandes« des realen Subjekts. Ihr vergangener, irrealer Charakter ermöglicht es dem reflektierenden Ich, wiederholt auf sie zurückkommen, ihre individuelle Identität feststellen und darauf eine deskriptive Wesenserkenntnis der Bewusstseinserschei­ nungen aufbauen zu können.

5. Reflexion, Erinnerung und Bewusstsein: »Sobre la fenomenología« Das oben genannte Thema steht im Mittelpunkt von Text 2 »Sobre la fenomenología« (»Über die Phänomenologie«). Der Schwerpunkt dieses im Jahre 1929 verfassten Aufsatzes liegt nicht auf der Kri­ tik einer möglichen Missdeutung der Phänomenologie. Ortega kon­ zentriert sich vielmehr auf die Deskription des Ursprungs der rei­ nen Bewusstseinsphänomene und der Wesensanschauung in der

reflektiert-erinnerte Bewusstsein ausschalten kann, steht jedoch fest: »Mit diesem [Bewusstsein] sozusagen in Händen bin ich frei, allerlei damit zu tun: Ich kann es betrachten, analysieren, seine Bestandteile beschreiben. Aber eines vermag ich nicht: Das Bewusstsein enthält die Wirklichkeit von vorhin, jetzt aber kann ich in diese gewesene Wirklichkeit nicht eingreifen, sie weder korrigieren noch ›außer Kraft set­ zen‹. Jene Wirklichkeit ist als solche unwiderruflich dahin«. Ebd., S. 273–274.

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

Lebensgeschichte des realen, reflektierenden Ich.57 Er nutzt zwar die Gelegenheit, um phänomenologische Grundbegriffe wie »Bewusst­ seinsakt«, »Bewusstseinsinhalt« und »Bewusstseinsgegenstand« zu präzisieren – die Substanz seines Aufsatzes liegt jedoch woanders. Sein Augenmerk richtet sich vor allem auf den Prozess, durch den das reale Wahrnehmungsobjekt als ein identischer Gegenstand aufgefasst wird. Während das Ich den Wahrnehmungsakt ausführt, sieht es unmittelbar ein reales Ding, beispielsweise einen schwarzen Tisch. Sobald es seinen Aktvollzug unterbricht, um auf ihn zu reflektieren, vermag es das im Bewusstsein erscheinende Ding als diesen iden­ tischen schwarzen Tisch da aufzufassen. Dieser wird dadurch zu einem reinen Phänomen. Ein solcher Prozess lässt sich nun in der Reflexion beliebig wiederholen. Nach Ortega hat die phänomenolo­ gische Deskription dieser einfachen Tatsache eine überwältigende philosophische Bedeutung, denn sie überwindet den rationalisti­ schen Gedanken einer Unvermittelbarkeit zwischen Individualität und Identität bzw. Kontingenz und Notwendigkeit. Sobald das reine Phänomen des wahrgenommenen schwarzen Tisches der Reflexion erscheint, vermag das Subjekt wiederholt darauf zuzugreifen. In dieser Hinsicht ist das reine Phänomen unzerstörbar. Ortega betont, dass bei jeder iterierenden Reflexion erneut das Phänomen des individuellen Gegenstandes auftrete. Daher bringe es sowohl ein Moment der Kontingenz (der Faktizität und der »Irrationalität«) als auch ein rationales Moment der Identität mit sich mit. Der schwarze Tisch hätte wesensgemäß auch anders sein können. Er ist ein zufälliger Gegenstand, den ein reales Subjekt oder reale Subjekte wahrgenommen haben. Dessen ungeachtet weist er sich im reinen Phänomen als dieser identische schwarze Tisch auf. Die Gewinnung des reinen Phänomens kommt jedoch noch keiner Wesensanschauung gleich. Um zum Wesen des »Tisches« zu gelangen, muss man weitere Schritte gehen, nämlich die, einen Vergleich der reinen Phänomene von verschiedenen Tischen (grün, weiß, blau usf.) vorzunehmen, die Abstraktion von ihren zufälligen Qualitäten und die Extraktion eines gemeinsamen Eidos. Gleichwohl bleiben die Wesensanschauung der einzelnen Gegenstände und die 57 Das Eigenschaftswort »rein« bezeichnet hier nicht mehr das Bewusstseinsfeld bzw. das phänomenologische Residuum nach der transzendentalen Reduktion, wie es bei Husserl der Fall war, sondern eine Entbindung von der zufälligen Realität, die erst dank des irrealen Charakters der vergangenen Akte und ihren objektiven Korrelaten zustande kommt.

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6. Realität und Irrealität am Beispiel der Idee des Theaters

Möglichkeit, Vernunftzusammenhänge darin zu entdecken, fest im Boden der realen Welt und der individuellen Lebensgeschichte des reflektierenden Ich verankert.

6. Realität und Irrealität am Beispiel der Idee des Theaters Der Aufsatz »Sobre la fenomenología« zeigt, dass Ortega das Schar­ nier zwischen den höheren Leistungen der Vernunft (Identifizierung und Wesensanschauung) und dem individuellen menschlichen Leben in den Vordergrund rückt. Er lässt auch die Bedeutung des Irreali­ tätsbegriffes für die Philosophie Ortegas erahnen: Der Vergangen­ heits- und Unwirklichkeitscharakter der Bewusstseinserscheinungen erweist sich als die Bedingung für ihre Phänomenalisierung in der Reflexion. Diese ist wesensgemäß die Begegnung eines realen Men­ schen mit sich selbst, sobald seine Bewusstseinsakte vergangen sind oder sogleich vergangen sein werden. Es handelt sich um eine Begeg­ nung mit der Irrealität im positiven Sinne der eigenen Vergangenheit, also der eigenen Lebensgeschichte und Historizität. Ortega hat seine Aufmerksamkeit auch anderen Dimensionen der Irrealität gewidmet. Die Betrachtung ihrer unterschiedlichen Formen hat sogar eine alte Tradition in der spanischen Literatur. Das erste Gründungsereignis einer solchen Reflexion über das Irreale in Spanien ist gerade der Don Quijote. Der Roman wurde von seinen ersten Leserinnen und Lesern zunächst für eine amüsante Parodie von Ritterbüchern gehalten. Die Tatsache, dass ein Zeitgenosse von Cervantes – kein Geringerer als René Descartes (1596–1650) – im Don Quijote sowie in einigen Erzählungen von Cervantes (so z. B. in El licenciado Vidriera) vermutlich den literarischen Ausdruck einiger seiner philosophischen Grundgedanken wiederentdeckte, hat kaum Beachtung gefunden (es ist bis heute in der Forschung umstritten, ob Descartes Cervantes tatsächlich gelesen hat).58 Erst die Vertreter der deutschen Romantik, vor allem Schelling, wiesen auf die philosophi­ sche Bedeutung des Quijote hin. Es war Cervantes, der aus der Sicht der Romantiker dem Triumph des Ideals über das Reale Ausdruck verliehen hat. Die Großzügigkeit der Romanfigur Don Quijote steht Siehe z. B. Anthony J. Cascardi (1984): »Cervantes and Descartes on the Dream Argument«, in: Cervantes: Bulletin of the Cervantes Society of America, Nr. 4 (1984), S. 109–122. 58

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

Schelling zufolge über den materiellen oder aber von seinen Mitmen­ schen intrigierten Enttäuschungen seiner Abenteuerlust.59 Erst Unamuno stellt die Figur des Don Quijote in den Mittel­ punkt einer neuen Lebens- und Existenzphilosophie. Sein früher Aufsatz »El Caballero de la triste figura. Un ensayo iconológico« ist kein Kommentar zur Präsenz Don Quijotes in den Darstellungen einiger Gemälde oder Stiche, wie man anhand der Betrachtung des Titels vermuten könnte. Es handelt sich vielmehr um eine Entfaltung der imaginativen und kollektiven Erfahrung Don Quijotes als eines lebendigen Symbols für die spanische Seele. Laut Unamuno ist der Verlauf dieser Geschichte als »Lebenstraum« (sueño de la vida) zu bezeichnen. Er entnimmt diesen Ausdruck einem Theaterstück von Calderón de la Barca und verleiht ihm eine neue Bedeutung: Danach ist Wahrheit das Faktum des Rätsels des Lebens, dem weder eine wissenschaftliche noch eine philosophische Analyse gerecht werden können. Derartige Analysen kommen vielmehr, so Unamuno, einer Reduktion des Lebensfaktums auf bloße Tatsachen oder eine abstrakte Idee gleich. Demgegenüber erweist sich die Einbildungskraft als ein Organ zur Hervorbringung konkreter Symbole des Lebens. Man muss nicht befürchten, dass sie zu irrealen Fiktionen entarten – sofern sie auf die Individuen und ferner auf die Seele eines Volkes wirken, sind sie in diesem Sinne »wirklich«. Don Quijote existiert, weil er durch seine Heldentaten ein Ideal zu realisieren vermochte. Das zweite philosophische Gründungsereignis der Betrachtung des Irrealen fand in der spanischen Neuscholastik des 16. Jahrhunderts statt. Der jesuitische Theologe Francisco Suárez, ein weiterer Zeitge­ nosse von Cervantes, widmete eine seiner Disputationes metaphysi­ cae dem ens rationis bzw. dem bloßen »Gedankending« (Disputatio

59 »Das Thema im Ganzen ist das Reale im Kampf mit dem Idealen. In der ersten Hälfte des Werks wird das Ideale nur natürlich = realistisch behandelt, d. h. das Ideale des Helden stößt sich nur an der gewöhnlichen Welt und den gewöhnlichen Bewe­ gungen derselben, im anderen Theil wird es mystifiziert, d. h. die Welt, mit der es in Konflikt kommt, ist selbst eine ideale, nicht die gewöhnliche […]. Die Mystifikation geht bis zum Schmerzenden, ja bis zum Plumpen, und so dass das Ideale in der Person des Helden, weil es da verrückt geworden war, ermattend unterliegt; dagegen zeigt es sich im Ganzen der Komposition durchaus triumphierend, und auch in diesem Theil schon durch die ausgesuchte Gemeinheit des Entgegensetzten.« F. W. J. Schelling (1985): Ausgewählte Schriften. Band 2 (1801–1803). Herausgegeben von Manfred Frank. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, S. 507–508.

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6. Realität und Irrealität am Beispiel der Idee des Theaters

LIV).60 Sein Ansatz war in vielerlei Hinsicht ein kühnes Unterfangen, denn kein Geringerer als Aristoteles hatte das »Gedankending« aus der Metaphysik bzw. Ersten Philosophie ausdrücklich verbannt. Die Neubetrachtung des ens rationis bzw. des Seienden, dessen Sein in seinem Dasein oder durch seine Gegebenheit im Verstand besteht und ebendarum keinen Anspruch auf Wirklichkeit erheben kann, bedeutete einen Wendepunkt in der Philosophie. Suárez war sich der Schwierigkeit seines Vorhabens von Anfang an bewusst: Die entia rationis sind ihm zufolge keine realen Seienden, sondern so etwas wie ihre Schatten (non sint vera entia, sed quasi umbrae entium), die nur durch einen Vergleich und eine Verbindung mit dem realen Seienden verständlich werden (non sunt per se intelligibilia, sed per aliquam analogiam et coniunctionem ad vera entia).61 Die neuartige metaphysische Fragestellung von Suárez lautete: Wie können die entia rationi, die für sich strenggenommen nicht erkennbar sind, zum Gegenstand einer eigenen Wissenschaft werden? Seine Antwort auf diese Frage ist aufschlussreich: Es besteht keine spezielle oder selbstständige Wissenschaft der entia rationis, sie ist vielmehr an die Anforderungen der Wissenschaft des realen Seienden geknüpft. Denn könnte man nicht in irgendeiner Weise auf das irreale ens rationis zurückgreifen, wären die logische und die metaphysische Sprache unmöglich. Aus den Ausführungen von Suárez folgt eine wichtige philosophische Konsequenz: Das Irreale liegt der Erkenntnis des realen Seienden zugrunde. Oder anders bzw. phänomenologisch ausgedrückt: Erst durch eine gewisse Vermittlung der irrealen entia rationis können wir uns intentional auf reale Gegenstände beziehen. Damit entwirft Suárez erstmals in der Philosophiegeschichte einen Teil der Metaphysik, der sowohl die gemeinsamen Gründe (de com­ muni ratione) als auch die Merkmale des ens rationis ergründen soll. Es handelt sich hierbei um eine Wissenschaft der rationes quasi transcendentales der irrealen Gedankendinge. Die Lehre vom ens rationis führte unausweichlich zu der Frage nach einem Vermögen des Verstandes, Objekte hervorzubringen, die für ein Subjekt bestehen oder ihm schlechthin erscheinen bzw. gege­ ben sind. Diese Lehre bahnte zwei Wege in der Philosophiegeschichte (ohne dass Suárez bis dato für das Eröffnen dieser Wege ausreichend gewürdigt worden wäre): Francisco Suárez (1960): Disputaciones metafísicas [Bd. VI]. Gredos: Madrid, S. 389–453. 61 Ebd., S. 389.

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1) Der deutsche Idealismus legt die Betonung auf die Tätigkeit eines die Welt und jegliches (real oder irreal) Seiende setzenden Ich (eine wesentliche Rolle in diesem Prozess spielt die Einbildungskraft. 2) Die deskriptive Psychologie Brentanos und die Phänomeno­ logie Husserls haben mutatis mutandis die Grundeigenschaften des irrealen ens rationis im intentionalen Objekt wiederentdeckt. Dessen Seinsweise besteht darin, einen Bezugspunkt des Bewusstseins aus­ zumachen, der prinzipiell von ihm verschieden ist. Das intentionale Objekt ist dem Bewusstsein vor jeder subjektiven Setzung des Seins oder Nichtseins gegeben. Die Andersheit des intentionalen Objekts bedeutet aber nicht, dass es real ist. Gemeint ist, dass es keinen reellen Bestandteil des Bewusstseins ausmacht. Nichtsdestoweniger begründet die eigentümliche »Irrealität« des intentionalen Objekts das Verhältnis des Bewusstseins zu der realen Welt, indem das intentionale Objekt »virtuell« ist bzw. verschiedene mögliche Bestim­ mungen oder Modalitäten (real, irreal im Sinne des Fiktiven, ideal usw.) zulässt. Ortega hat sich seinerseits in zweierlei Hinsicht mit den beiden Gründungsereignissen auseinandergesetzt. Zum einen erblickte er in der Suárez’schen Lehre vom ens rationis oder idealen Gegenstand ein Vorbild der philosophischen Besinnung auf die verschiedenen Existenz- oder Seinsweisen des Irrealen.62 Ferner teilte er den Gedan­ ken Unamunos, dass fiktiv-irreale Gegenstände wie Don Quijote irgendeine Art von Konsistenz besitzen. Im Unterschied zu Unamuno beschrieb er sie jedoch nicht als die außertextuelle Wirksamkeit literarischer Symbole. Don Quijote ist genauso unwirklich wie ein Zentaur oder eine Nymphe; sie alle gehören zu einem irrealen Bereich, der sich von der aktualen und wirksamen Realität deutlich abhebt. Der Punkt ist, dass der Mensch auf irgendeine Weise an diesem Bereich teilhat. Es kommt daher alles darauf an, wie man das Verhältnis dieser beiden Bereiche versteht. In dieser Hinsicht ist Text 3 »Die Idee des Theaters« aufschluss­ reich. Das Besondere am Beispiel des Theaters liegt darin, dass hier das Fiktive weder durch ein Gemälde noch durch literarische Figuren vermittelt wird; es wird tatsächlich wahrgenommen. Aus diesem Grund bezeichnet Ortega das Theater auch als eine »sichtbare »Suárez hatte eine originelle Lehre des ens rationis […]«. José Ortega y Gasset (2017i): Obras completas. Tomo IX – 1933/1948. Obra póstuma. Madrid: Editorial Taurus, S. 641.

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6. Realität und Irrealität am Beispiel der Idee des Theaters

Metapher«. Der philosophischen Frage nach der Metapher kommt eine zentrale Bedeutung in der Philosophie Ortega y Gassets zu. Er definiert sie als ein geistiges Werkzeug, das die Phänomene auf zweierlei Weise zu Wort bringe: 1) Die Metapher kann als üblicher Ausdruck fungieren, den man zur Bezeichnung einer neuen Erscheinung gebraucht, sofern er ihr ähnlich ist. Sie ist dann eine Namensübertragung, durch welche die neue Erscheinung kommuniziert werden kann – in dem Bewusstsein, dass der Name die Erscheinung letztlich unpassend bezeichnet. 2) Die Metapher ist ein Werkzeug für die Erkenntnis von schwie­ rigen Objekten und Sachverhalten. Die Wissenschaft hält sich strikt an die Grenzen der Erfahrung und der experimentellen Methode. Aber nichts hindert sie daran, abstrakte, jedoch ähnliche Merkmale von unterschiedlichen Phänomenen miteinander zu vergleichen, um komplexe Gegenstände und Sachverhalte zu beschreiben und zu erklären. Der Astrophysiker vergleicht beispielsweise die Zahlenrei­ hen mit dem Verhalten der Himmelskörper. Er weiß, dass die Zah­ lenreihe und die Himmelserscheinungen nicht identisch sind. Der springende Punkt ist, dass er zunächst eine Gleichheit behauptet und sie dann leugnet, um einen nachweisbaren Rest zurückzubehalten. Die dichterische Metapher dagegen vergleicht zwei Gegenstände miteinander, als ob sie identisch wären, und hält an dieser Operation fest. Wenn ein Dichter oder ein Romanautor metaphorisch sprechen, heben sie die Identität der sonst verschiedenen oder gar widersprüch­ lichen Bestandteile ihrer Metapher wissentlich nicht auf. Auf diese Weise lässt sich die Beschreibung des Theaters als sichtbare und »universelle, verkörperte Metapher« jetzt besser ver­ stehen.63 Die Kunst des Schauspielers besteht darin, seine Identität 63 Ortegas Interesse an Kunst und Ästhetik ist umfassend dokumentiert. In seinen Schriften behandelt er unter anderen Cervantes, Góngora, Goethe, Zorrilla, Barrés, Stendhal, Flaubert, France, Pío Baroja, Azorín, Tizian, Poussin, Velázquez, Goya und Zuloaga. Seine Schriften zur Musik sind zwar weniger zahlreich, aber dennoch bemer­ kenswert. Siehe hierzu die Essays »Musicalia« und »Apatía artística« in José Ortega y Gasset (2017b): Obras Completas. Band II – 1916. Madrid: Editorial Taurus, S. 365– 374 und 455–460. Mehr als die Arbeit eines Spezialisten stellen Ortegas ästhetische Schriften Versuche dar, Kunst im Rahmen einer Philosophie der »Umstände« und des Systems der vital-historischen Vernunft zu denken. In diesem Sinne habe ich mich oben mit seinen philosophischen Überlegungen zu Cervantes’ Meisterwerk befasst. Eine phänomenologische Untersuchung der ästhetischen Texte Ortegas bildet dage­ gen ein Desiderat der Forschung. Siehe hierzu Fernando Rampérez (1992): »Sobre la reflexión estética de Ortega y Gassset desde la fenomenología a una teoría de la van­

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

mit der Figur aufrechtzuerhalten. Die Zuschauer verinnerlichen keine Phantasiebilder, sondern sehen sich Landschaften, Paläste und Figu­ ren an. Sie bewahren – wahrnehmungsmäßig – die metaphorische Identität des zwar Gesehenen, aber Irrealen, mit den realen Requisiten (den gefärbten Leintüchern, Kartons, Farbskizzen) und weiterhin mit den Gestalten des Theaterstücks. Das Problem ist aber komplizierter. Die unwirkliche, jedoch konsistente und ins Auge springende Welt der Theatervorstellung gibt ein philosophisches Rätsel auf, weil die Zuschauer sie wahrnehmen, indem sie ihr gerade keine Wirklichkeit zuschreiben. Ganz im Gegenteil entziehen sie sich der Realität, um mit dem unwirklichen Sein oder der Irrealität zu tun haben. Der leibhaft-metaphorische Charakter des Theaters lässt sich mithin so beschreiben: Die Zuschauer heben das Wirklichkeitsmoment ihrer Wahrnehmung auf und rücken ihr historisches Gedächtnis in den Hintergrund, um das Schauspiel mit der gegenüberstehenden irrealen Welt besser vergleichen und identifizieren zu können. Solange sich die Zuschauer nicht vom Schauspiel ablenken lassen, ist der Schauspieler nicht Herr X, sondern Hamlet. Und dieser ist nicht mehr der wirkliche Mensch, welcher einst Prinz von Dänemark war, sondern Hamlet auf der Bühne. Der Schwerpunkt dieser kleinen Schrift von Ortega liegt auf der Bedeutung der Fiktion für das menschliche Leben. Der Mensch vertieft sich in eine irreale Welt, um sich der Aufdringlichkeit der realen Umstände zu entziehen. Er hat im Verlauf der Geschichte einen Sinn für das Fiktiv-Irreale entwickelt, um sich vom Ernst des Lebens in der realen Welt, und sei es nur für kurze Zeit, zu entlas­ ten. Während die Meditationen über »Don Quijote« einen Beitrag zur Phänomenologie der Kultur leisten, lässt sich der Text »Idea del teatro« als ein origineller Beitrag zu einer Phänomenologie der Irrealität interpretieren,64 die Ortega in seine Philosophie der vitalen Vernunft integriert. guardia histórica«, in: Javier San Martín (Hg.) (1992): Ortega y la fenomenología. Madrid-UNED, S. 137–144; Noé Expósito (2021): »La estética fenomenológica de Ortega y Gasset«, in: Leopoldo La Rubia de Prado et al (Hg.) (2021): Teorías contem­ poráneas del arte y la literatura. Madrid: Editorial Tecnos, S. 171–201. In der editori­ schen Vorbemerkung zum vorliegenden Band wird erläutert, warum wir »Idea del teatro« bevorzugt übersetzt haben, um das Thema der Unwirklichkeit in Ortegas Phi­ losophie zu veranschaulichen. 64 Husserl hatte eine Phänomenologie der Irrealität im dritten Hauptstück der Vor­ lesungen »Hauptstücke aus der Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis« von

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7. Ortegas letzte Auseinandersetzung mit der Husserl`schen Phänomenologie

7. Die Krise der theoretischen und praktischen Vernunft. Ortegas letzte Auseinandersetzung mit der Husserl`schen Phänomenologie 1948 veröffentlicht Ortega La idea del principio en Leibniz y la evolución de la teoría deductiva (Der Prinzipienbegriff bei Leibniz und die Entwicklung der Deduktionstheorie).65 Das Werk lässt sich als eine letzte Anstrengung Ortegas verstehen, den systematischen Charakter der Philosophie der vital-historischen Vernunft aus einer philosophiegeschichtlichen Perspektive darzustellen. Ausgangspunkt seiner Überlegung ist die Definition der Wissenschaft als einer For­ malisierung von Erkenntnis mithilfe eines Prinzip, das die Gegeben­ heiten eines Problems erklärt. Die Philosophie wiederum bemüht sich nicht nur darum, »die Dinge von ihren Prinzipien her zu ›erklären‹“, sondern verlangt auch von ihnen, dass sie »letzte Urgründe seien«66. Von diesem Standpunkt aus hatte Ortega die Phänomenologie (wie jede andere Philosophie auch) stets interpretiert und zur Diskussion gestellt. In seiner eigenen Philosophie der vital-historischen Vernunft gilt es nun, den Urgrund des Phänomens »menschliches Leben« freizulegen. Daher stellt er an die Phänomenologie die Frage, ob das reine Bewusstsein bzw. das intentionale »Bewusstsein von« der Urgrund des menschlichen Lebens und seiner Geschictlichkeit sei oder sein könne. 1904/1905 entworfen. Im Text Nr. 18 von Bd. XIII der Husserliana-Reihe, der von 1918 datiert, wird das Theater als das Hineinleben in eine fiktive Welt beschrieben, die Korrelat einer perzeptiven Phantasie ist. »Wo aber ein Schauspiel dargestellt wird, da braucht gar kein Abbildungsbewusstsein erregt [zu] werden, und was da erscheint, ist ein reines perzeptives Fiktum«. Edmund Husserl (1980): Phantasie, Bildbewusst­ sein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Hus­ serliana Bd. XXIII. Hg. von Eduard Marbach. Den Haag: Martinus Nijhoff, S. 515. In »Idee des Theaters« entfaltete Ortega einen ähnlichen Begriff zu jenem der »perzep­ tiven Phantasie«. Er legte Nachdruck darauf, dass der Zuschauer das Schauspiel wahr­ nimmt. Obgleich die Figuren irreal sind, schweben sie nicht der inneren Phantasie vor, sondern werden perzipiert. Im 21. Jahrhundert hat der belgische Phänomenologe Marc Richir die Husserl’sche Lehre von der perzeptiven Phantasie auf originelle Weise auf­ gegriffen und weiterentwickelt, um auf ihr eine phänomenologische Anthropologie zu begründen. Siehe Marc Richir (2004): Phantasia, Imagination, Affektivité. Phéno­ ménologie et anthropologie phénoménologique. Grenoble: Jérôme Millon, S. 497–527. 65 Ortega (2017i): S. 927–1174. Deutsche Fassung: José Ortega y Gasset (1966c): Der Prinzipienbegriff bei Leibniz und die Entwicklung der Deduktionstheorie. Übersetzt von Ewald Kirschner. München: Gotthold Müller Verlag. 66 Ortega (1966c): S. 307.

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

In La idea del principio en Leibniz blickt Ortega auf seine frühe Auseinandersetzung mit dem Husserl’schen Denken zurück. Er hält sich noch immer an den Gedanken, dass das ursprünglich Gegebene (bzw. die primäre Realität) nicht das Phänomen »Bewusstsein von« sei, sondern das Phänomen »wirkliches Menschenleben« bzw. die Koexistenz des Ich mit den es umgebenden Dingen und der Umge­ bung insgesamt. Gleichwohl musste Ortega seine kritische Inter­ pretation der Husserl’schen Phänomenologie vor 1948 in vielerlei Hinsicht nuancieren.67 Ein Schwerpunkt seiner Kritik richtete sich beispielsweise gegen die Geschichtslosigkeit der Phänomenologie. Husserl hatte jedoch schon 1929 in Formale und transzendentale Logik eine historische Krise der Vernunft diagnostiziert und sie in den Vordergrund seiner philosophischen Reflexion gestellt: Der moderne Mensch von heute sieht nicht wie der »moderne« der Aufklärungsepoche in der Wissenschaft und der durch sie geformten neuen Kultur die Selbstobjektivierung der menschlichen Vernunft oder die universale Funktion, die die Menschheit sich geschaffen hat, um sich ein wahrhaft befriedigendes Leben, ein individuelles und soziales Leben aus praktischer Vernunft zu ermöglichen.68

Das Thema der historischen Krisen der Vernunft besitzt einen beson­ deren Stellenwert in der Philosophie Ortegas. 1933 hielt er einen Kurs an der Universidad Central von Madrid mit dem Ziel, die Geschichte der neuzeitlichen Philosophie zurückzuverfolgen. Diese Untersuchung erforderte eine Analyse der vitalen Situation der Gene­ rationen von 1550 bis 1650 sowie der Krise des antiken und des mittelalterlichen Weltbegriffes. Die Ergebnisse seiner Forschung legte Ortega in seinem Werk En torno a Galileo (1941) vor.69 Es handelt sich dabei um eine Thematik, die Ortega jahrelang als der Husserl’schen Phänomenologie fremd angesehen hatte. 1940 wurde ihm jedoch bekannt, dass Husserl im Jahr 1935 in Prag eine Reihe von Vorträgen zur »Krise der europäischen Wissenschaften« gehalten hatte – deren Siehe hierzu San Martín (2012): S. 171–175. Edmund Husserl (1974): Formale und transzendentale Logik. Husserliana Bd. XVII. Hg. von Paul Janssen. Den Haag: Martinus Nijhoff, S. 5. 69 José Ortega y Gasset (2017f): Obras completas. Tomo VI – 1941/1955. Madrid: Editorial Taurus, S. 367–506. Deutsche Fassung »Im Geiste Galileis«, in: José Ortega y Gasset (1996): Gesammelte Werke. Bd. III. Übersetzt von Else Görner, Karl August Horst, Gustav Kilpper, Gerhard Lepiorz, Curt Meyer-Clason, Ulrich Weber, Helene Weyl. Stuttgart: Bechtermünz Verlag, S. 386–567. 67

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7. Ortegas letzte Auseinandersetzung mit der Husserl`schen Phänomenologie

erster Teil 1936 in der Zeitschrift Philosophia in Belgrad veröffentlicht worden war. Dieses Interesse Husserls an der Geschichtlichkeit der Vernunft kam für Ortega überraschend. Er musste zugestehen, dass sich die transzendentale Phänomenologie doch auf eine »historische Vernunft« berief.70 In Apuntes sobre el pensamiento, su teurgía y su demiurgía (1941) räumt Ortega ein, dass Husserl eine »genetische Phänomenologie« entwickelt habe, die sich mit der »Wirklichkeit vor aller Theorie, das heißt mit dem ›Leben‹“ befassen wolle.71 Er hielt allerdings seine frühere Kritik an der Phänomenologie aufrecht: »Die Merkwürdigerweise ließ Ortega jedoch, in »Apuntes sobre el pensamiento, su teurgía y su demiurgía« (1941), einen kritischen Verdacht bezüglich der Autorschaft der letzten Version der Krisis-Schriften aufkommen: »Ich bezweifle nicht, dass der in der Zeitschrift Philosophia veröffentlichte Text in Gesprächen mit Husserl vereinbart worden ist und dass Ideen aus seinen Manuskripten Verwendung gefunden haben, aber es ist sonnenklar, dass dieses Werk das letzte, das zu Husserls Lebenszeiten erschien, nicht von ihm selbst, sondern von Dr. [Eugen] Fink, dessen Stil – nicht nur was die Wortwahl, sondern auch was die Thematik betrifft – im gesamten Text her­ vorsticht. Nicht nur ist dieser Stil vom Stil Husserls grundsätzlich verschieden, son­ dern die Phänomenologie tut hier einen Sprung nach etwas, das sie von sich aus im Sprung nie hätte erreichen können«. Deutsche Fassung »Über das Denken, seine Theurgie und seine Demiurgie«, in: José Ortega y Gasset (1996b): Gesammelte Werke. Bd. IV. Übersetzt von Else Görner, Karl August Horst, Gustav Kilpper, Gerhard Lepiorz, Curt Meyer-Clason, Ulrich Weber, Helene Weyl. Stuttgart: Bechtermünz Verlag, S. 237; Ortega (2017f): S. 29. Diese kühne Behauptung Ortegas hat sich als unbegründet erwiesen. Siehe hierzu die Bemerkungen von San Martín (2012): S. 172. Zum Vorwurf der Geschichtslosigkeit der Husserl’schen Phänomenologie bei Ortega siehe u. a. das aufschlussreiche Kapitel 1 des Buches von Jesús Díaz Álvarez (2003): Husserl y la historia. Hacia la función prática de la fenomenología. Madrid: UNEDEdiciones, S. 41–53. 71 Ortega (1996b): S. 234. Trotzdem äußerte Ortega Vorbehalte gegen die Auffas­ sung, der Husserl-Nachlass könne etwas Neues zum Thema der historischen Genesis der Vernunft beitragen: »Ich bin jedoch der Auffassung, dass sich trotz ihrer Nicht­ veröffentlichung [der Manuskripte Husserls; Anmerkung G. F.] ohne Schwierigkeit eine Untersuchung anstellen lässt, die haargenau bestimmt, bis zu welchem Punkt die genetische Phänomenologie angesichts des großen Problems der ›Genesis der Ver­ nunft‹ gelangen kann und welches ihre wesenseigenen Beschränkungen sind.« Ebd. Schüler Ortegas wie Julián Marías, der in anderen Bereichen der Philosophiege­ schichte so genau war, wiederholten diese Kritik, ohne sie wirklich zu vertiefen. »Bekanntlich geht Husserl, ungeachtet der Bestrebungen zu einer ›genetischen Phä­ nomenologie‹ zu gelangen, nicht über seine Grundvoraussetzung hinaus, dass die Wirklichkeit sich im Bewusstsein konstituiert. Er hält das Bewusstsein für die absolute Wirklichkeit und kann infolgedessen dem Idealismus nicht entrinnen und auch keine wirkliche Ursprungslehre der Vernunft entwickeln«. Julián Marías (1952): José Ortega y Gasset und die Idee der lebendigen Vernunft. Eine Einführung in seine Philosophie, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, S. 79. 70

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

Phänomenologie, die den Maximalausdruck der Vernunft anstrebt, ist grundsätzlich nicht Funktion des Lebens, sondern unabhängige Tätigkeit: Erkennen um des Erkennens willen.«72 Im Jahre 1944 hielt Ortega an der Universität von Lissabon den Vortrag »Das Erdbeben der Vernunft« (Text 4). Er bezog sich erneut auf die Stelle aus Husserls Formaler und transzendentaler Logik, um die Krise der europäischen Wissenschaften im Sinne eines Risses in den Grundmauern der theoretischen und praktischen Vernunft zu beschreiben. Das Bild eines »Erdbebens der Vernunft« bedeute eine Erschütterung der paradigmatischen Wissenschaften (Logik, Mathe­ matik und Physik) sowie der Moral und des Rechtes. Diese Wortwahl spricht von der Absicht Ortega y Gassets, eine noch fundamentalere Reflexion über die Krise der europäischen Wissenschaften anzustel­ len, als Husserl es getan hatte. Husserl, der 1938 an der Schwelle zum Zweiten Weltkrieg starb, hatte die Krise der Wissenschaften als den Verlust ihres Selbstvertrauens beschrieben. Ortega fügt hinzu, ein solcher Verlust sei einem »Misstrauen« gleichbedeutend. Die Wis­ senschaften misstrauten nicht nur einem Begriff oder einer konkreten Theorie, sondern zugleich ihrer Methodologie und grundsätzlichen Daseinsberechtigung. Paradoxerweise habe sich dieses Misstrauen gegen sich selbst ausgerechnet zu einem Zeitpunkt eingestellt, als die Wissenschaften ihre Methodologie auf höchste Weise verfeinert und ihre Ergebnisse einen Höhepunkt erreicht hatten. Im Unterschied zur Krise der antiken und mittelalterlichen Welt­ anschauung in der Renaissance und der Neuzeit handelte es sich somit um keine Reaktion auf eine Stagnation im Fortschritt der Erkenntnis, sondern um etwas anderes. Ortega denkt hier beispielsweise an die Begriffe der Materie und der Kausalität in der Physik des 20. Jahrhun­ derts. Die Realität der Materie sei »dem Physiker plötzlich aus der Hand geglitten«. Früher galten die Kausalgesetze als allgemeingültig, nun wurden sie durch statistische Gesetze bzw. Wahrscheinlichkei­ ten ersetzt. Die Krisis der Logik sei demnach gravierender: Seit Aristoteles hatte sie als das Wesen der Vernunft gegolten. Sie stellte 72 Ortega (1996b): S. 234. Noch radikaler ist eine Stelle, in der Ortega erneut Ein­ wände aus dem »Vorwort für Deutsche« wieder aufgreift und zusammenfasst: »Der Bereich absoluter Realität, der nach Husserls Bezeichnung die ›reinen Erlebnisse‹ sind, hat trotz seines vielversprechenden Namens mit dem Leben nichts zu tun; er ist, genaugenommen, das Gegenteil von Leben. Die phänomenologische Haltung ist das strikte Gegenteil dessen, was ich ›razón vital‹ nenne.« Ebd., S. 235.

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7. Ortegas letzte Auseinandersetzung mit der Husserl`schen Phänomenologie

nicht nur das Organon des richtigen Denkens dar, sondern auch die Instanz, die über Sein und Schein entschied. Nun hatte sich jedoch die Möglichkeit gezeigt, dass sich der Satz vom ausgeschlossenen Dritten als falsch herausstellen könnte. Damit wurden die Grundlagen der theoretischen Vernunft auf dramatische Weise infrage gestellt. Sie erwies sich nun als ein Problem für sich selbst.73 Damit meint Ortega aber nicht, dass eine andere Instanz als die Vernunft diese Problematik lösen könne und sollte. Die theoretischen Wissenschaften sind dann in der Lage, die Krise ihrer Grundbegriffe zu überwinden, wenn sie sich erneuern. Da die theoretische Vernunft – ihre Grundkategorien und die Logik als Wesen der Vernunft – von einer derartigen Krise heimgesucht wurde, galt es, erneut die philosophische Frage nach ihrem Wesen aufzuwerfen. Eine solche Problemstellung hängt jedoch mit einer weiteren Frage zusammen: Wozu dient die theoretische Vernunft eigentlich über die immer mögliche Erneuerung historischer Paradigmen der Wissenschaften hinaus? Nach Ortega kann man auf diese Frage erst dann antworten, wenn man die Funktion aller Gestaltungen der theoretischen Vernunft für das menschliche Leben herausgestellt hat. Ortega hielt die Krise der praktischen Vernunft für genauso radikal wie die Krise der theoretischen Vernunft. Für ihn bestand das Erdbeben der praktischen Vernunft weniger in einer Erschütterung der Moral als in der Unterminierung des Rechts. Ähnlich wie die Logik bildete das Recht in seinen Augen eine letzte Instanz, die über das Rechte und das Unrechte entschied. Es hatte jahrhundertelang das menschliche Zusammenleben normiert, indem veraltete Rechte durch neue bzw. andere Rechte ersetzt wurden. Immer gab es die Möglichkeit, bestehende Lücken mittels eines neuen Rechtes zu schließen. Die Krise der praktischen Vernunft bestand nun darin, dass es eine solche Möglichkeit nicht länger gab. Das Neutralitätsrecht bedeutete den letzten Rekurs der zivilisierten Völker gegenüber den Kriegsgräueln. Wenn kriegführende Länder jedoch ein solches Recht verletzen, lässt sich es durch kein anderes Recht ersetzen – es regiert dann das Gesetz des Stärkeren. 73 Ortega y Gasset hatte dabei natürlich die physikalisch-mathematische Wissen­ schaft und Logik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Blick. Die philosophischen Implikationen von Ortegas Wissenschaftsbegriff stellt eindrücklich der spanische Phi­ losoph Gustavo Bueno (1924–2016) heraus. Gustavo Bueno (2001): »La idea de cien­ cia en Ortega«, El Basilisco, Nr. 31 (2001), S. 15–30.

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

Diese letzte Konfrontation Ortegas mit der Husserl’schen Phä­ nomenologie der Krise der Vernunft und der Lebenswelt lässt zwei­ erlei erkennen: erstens eine starke Abneigung gegen die Vorstellung, dass Husserls transzendentaler Idealismus überhaupt mit den Kon­ zepten der Geschichtlichkeit und der historischen Vernunft vereinbar sei; zweitens den Versuch, die Krise der europäischen Vernunft noch radikaler als Husserl zu denken. Was Ortega »das Erdbeben der theo­ retischen Vernunft« nennt, zeigt sein Interesse an einer Verbindung zwischen seiner Philosophie der vital-historischen Vernunft und den Wissenschaften. Allerdings war bereits sein Begriff eines »Erdbebens der praktischen Vernunft« in vielerlei Hinsicht fragwürdig. Am Vor­ abend des Endes des Zweiten Weltkriegs schien Ortega die Aufmerk­ samkeit von der moralischen Vernunft, die die Gräuel verurteilt, auf eine Rechtfertigung des Neutralitätsrechts zu lenken.74 Dennoch zeigt der Text »Das Erdbeben der Vernunft«, dass auf der Basis einer Refle­ xion über die Geschichtlichkeit der Vernunft mögliche Konvergenz­ linien zwischen der Philosophie Ortegas und der Husserl’schen Phä­ nomenologie der Lebenswelt zu ziehen sind.

8. Manuel García Morente: Die phänomenologische Überwindung des Idealismus und die Metaphysik des Lebens Obwohl Ortega als Begründer einer neuen philosophischen Genera­ tion nach Unamuno gilt, darf man nicht die Gestalt seines Freundes und Kollegen Manuel García Morente (1886–1942) vergessen. García Morente besuchte ein Lyzeum in Bayonne – im französischen Bas­ kenland –, wo der eklektische Spiritualismus Victor Cousins und der Positivismus den Kern des Philosophie-Curriculums bildeten. 74 Dies war eine Anspielung auf die neutrale Stellung der Regierung Francos während des Zweiten Weltkriegs. Zur zweideutigen Haltung Ortegas gegenüber der Diktatur Francos und den Exilautoren siehe das Dossier »El legado de Ortega y Gasset en el exilio republicano del 39. Continuidades y rupturas«, in: Daimon. Revista internacional de filosofía, Beilage Nr. 8 (2020). Hg. von Antolín Sánchez Cuervo; siehe auch Anne Bardet (2022): »Ortega y Gasset: el exilio en Argentina o la esperanza perdida«, sowie Jesús Díaz (2022): »Javier Muguerza, el exilio filosófico del 39 y el legado de Ortega«, in: Matei Chihaia, Guillermo Ferrer, Sergio Pérez-Gatica und Niklas Schmich (Hg.) (2022): Caminos cruzados: filosofía y literatura del exilio español en América Latina. Frankfurt am Main: Editorial Iberoamericana/Vervuert (im Erscheinen)

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Im Unterschied zu Ortega hatte sich García Morente nicht zunächst nach Geist und Buchstaben des Neukantianismus ausgebildet. Die Pflichtlektüre von einigen Texten Kants im Lyzeum schärfte aber dennoch den Gedanken in ihm, dass die philosophische Spekulation keine selbstständigen Themen aufstelle, sondern letzte Probleme der Wissenschaft betrachte. Als er später seinen Philosophie-Bache­ lor (1903–1905) an der Sorbonne erwarb, hatte er zusätzlich die Gelegenheit, im Collège de France Lehrveranstaltungen von Henri Bergson zu besuchen. Die Begegnung mit dem französischen Philo­ sophen hinterließ tiefe Spuren im Denken García Morentes. Auf diese Weise wurde er mit einer Lebensphilosophie vertraut, die sich durch die Daten der Wissenschaft, durch die Erfahrung und durch die Intuition grundsätzlich überprüfen lässt.75 Nach der Anerkennung seines Studiums in Frankreich absolvierte er Forschungsaufenthalte in München, Berlin und Marburg – jener neukantianischen »Festung«, die Ortega y Gasset in seinem »Vorwort für Deutsche« so lebendig schildert.76 Währenddessen schrieb García Morente eine Doktorar­ Das Büchlein von García Morente (1917): La filosofía de Bergson; con el discurso pronunciado por M. Bergson en la Residencia de Estudiantes … en 1916. Madrid: Publi­ caciones de la Residencia de Estudiantes (ders.: [1996a]: Obras completas (1906– 1936) I-1. Hg. von Juan Miguel Palacios und Rogelio Rovira. Barcelona/Madrid: Anthropos/Fundación Caja de Madrid, S. 46–122) hatte großen Einfluss auf die zweite Generation der Schule aus Madrid. Darüber hinaus fand La filosofía de Bergson eine tiefe Resonanz bei jenen hispanoamerikanischen Denkern, die sich Anfang des 20. Jahrhunderts um eine Überwindung des Positivismus bemühten und daher großen Wert auf das Werk Bergsons legten. 76 »Marburg war die Burg des Neukantianismus. Man lebte in der neukantianischen Philosophie wie in einer belagerten Festung, im unentwegten ›Wer da‹! Alles ringsum galt als Todfeind: die Positivisten und die Psychologisten, Fichte, Schelling, Hegel. Man hielt sie für so feindlich, dass man sie erst gar nicht las. In Marburg las man allein Kant und in – Kantianischer Übersetzung – Platon, Descartes und Leibniz […]. Herr der Festung war Cohen, ein gewaltiger Kopf. Die Philosophie Deutschlands und der ganzen Welt steht in seiner Schuld. Denn er war es, der mit einem vielleicht etwas unsanften Ruck die Philosophie auf ein höheres Niveau hob. Dies war entscheidend, mehr als alles andere ist die Philosophie nämlich Niveau. Cohen erzwang wieder enge Tuchfühlung mit der schwierigen Philosophie und erneuerte ganz besonders den Sys­ temwillen, der das Eigenste der philosophischen Inspiration ist«. Ortega (1998): S. 245. Nach seinen neukantianischen Jahren betrachtete Ortega vielmehr die Phä­ nomenologie als eine deskriptive Methode, die ihm zum Aufbau eines Systems der vital-historischen Vernunft verhelfen konnte. García Morente sah seinerseits die Phä­ nomenologie als eine Arbeitsphilosophie an, die anhand einer sachgerechten Deskrip­ tion des Bewusstseinsfeldes die jahrhundertealte Antinomie von Realismus und Idea­ lismus überwand. Bemerkenswerterweise war die phänomenologische Wende von 75

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beit zu Kant (La Estética de Kant)77. Im Jahre 1912 erhielt er den Lehrstuhl für Ethik an der Universidad Central von Madrid. Ortega hatte zwei Jahre zuvor den Lehrstuhl für Metaphysik erhalten. Es handelt sich hierbei um die zwei Gründungsereignisse der philosophi­ schen Schule aus Madrid. Obwohl García Morente, ganz wie Ortega, keine Monographie zur Phänomenologie verfasste, bezog er sich doch in mehreren Aufsätzen und Vorträgen auf phänomenologische Grundbegriffe und Fragestellungen. Die Sammlung dieser Referenzen ist jedoch weniger interessant als die Betrachtung des Gedankenganges, der García Morente vom Neukantianismus zur Phänomenologie führte. In seinem Vorwort zur spanischen Übersetzung des Buches von Paul Natorp Sozialpädagogik: Theorie der Willenserziehung auf der Grund­ lage der Gemeinschaft (Stuttgart: Fr. Frommanns Verlag)78, greift er den Gedanken auf, das Eigentümliche des Menschen bestehe darin, Gegenstände zu konstruieren und auf diese Weise über sich selbst hinauszugehen. Der Sophistik des Positivismus, der sich weigere, die Wissenschaft auf der Logik zu gründen, setzt García Morente den neukantianischen Begriff einer objektivistischen Philosophie entge­ gen. Es handelt sich hierbei um die Idee eines »wissenschaftlichen Idealismus«, welcher nach den logisch-objektiven Grundlagen für die auf Erfahrung basierende Erkenntnis sucht. Nach der Lektüre von Brentano und Husserl verzichtete García Morente keineswegs auf das neukantianische Leitmotiv einer objektivistischen Philosophie. Diese Lektüre ließ ihn vielmehr die Möglichkeit eines neuen Objek­ tivismus begreifen, welcher es erlaubte, die traditionelle Antinomie von Idealismus und Realismus, über die der Neukantianismus nicht hinwegkam, zu überwinden. Die Reflexion über die philosophische Ortega und García Morente von neukantianischen Ideen inspiriert. Ortega verdankte Hermann Cohen seinen Systemwillen; García Morente verdankte Paul Natorp die Idee einer objektiven Philosophie bzw. eines Objektivismus, den er dem Positivismus und dem Psychologismus gegenüberstellte. 77 Siehe García Morente (1996a): S. 3–45. García Morente ist auch einer der bedeu­ tendsten Verbreiter der Philosophie Kants in Spanien gewesen. Sein Buch Manuel García Morente (1917): La filosofía de Kant. Una introducción a la Filosofía. Madrid: Imprenta Hijos de Tello (1975, Madrid: Espasa-Calpe) zeichnet sich durch seine Klar­ heit aus und gilt in den spanischsprachigen Ländern noch heute als ein Standardwerk. 78 »Introducción a la edición española de Pedagogía social de Pablo Natorp«, in: Manuel García Morente (1996b): Obras completas (1906–1936) I-2. Hg. von Juan Miguel Palacios und Rogelio Rovira. Barcelona/Madrid: Anthropos/Fundación Caja de Madrid, S. 603–610.

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Bedeutung der Auflösung dieser Antinomie stand seitdem im Mittel­ punkt seines Denkens.79 Text 5 »Sobre la metafísica de la vida« (»Über die Metaphysik des Lebens«) erläutert die Bedeutung der Psychologie Brentanos und der Phänomenologie Husserls für die Besinnung García Morentes auf den scheinbar endlosen Konflikt zwischen Realisten und Idealisten. In seinem Text verbindet er ferner auf originelle Weise die phäno­ menologische Lösung der Antinomie Realismus-Idealismus mit der Philosophie Ortega y Gassets. García Morentes Darstellung setzt mit dem Hinweis auf eine bemerkenswerte Tatsache ein: Husserl und Brentano brauchten weiter nichts als eine deskriptive Arbeit am Einzelproblem der Innenstruktur des intentionalen Erlebnisses, um den Engpass der Alternative Realismus oder Idealismus zu umgehen. Seitdem muss man kein philosophisches System mehr wählen, um das Verhältnis zwischen Subjekt und Weltwirklichkeit zu verstehen. Denn die deskriptive Analyse der Bewusstseinserlebnisse weist Rea­ lismus und Idealismus als ebenbürtige Bewusstseinstatsachen auf. Brentano hatte durch eine deskriptive Herangehensweise gezeigt, dass die psychischen Phänomene etwas enthalten bzw. sich auf etwas beziehen, was sie nicht sind. Das Spezifikum der physischen Phänomene besteht im Gegenteil darin, dass sie durch eine bloße Aufzählung ihrer aktualen Bestandteile beschrieben werden können. Aus der deskriptiven Duplizität der psychischen Phänomene zog García Morente gleich mehrere philosophische Konsequenzen. Zunächst hob er die Bewusstseinstatsache hervor, dass innerhalb der subjektiven Vorstellung selbst etwas vorliegt, was keine Vorstellung ist. Brentano hatte dieses Etwas als das intentionale Objekt des Bewusstseins bezeichnet. Ohne dass die deskriptive Psychologie auf den Standpunkt des Bewusstseins verzichtete, widerlegte sie die idea­ listische Verwechslung des Objektes mit einem Bewusstseinsinhalt. Husserl ging noch einen Schritt weiter als Brentano. Er unterschied drei Bestandteile eines Bewusstseinsaktes, das Ich, das Erlebnis und den Gegenstand. Damit konnte er die Frage, wessen sich das Bewusst­ sein ursprünglich bewusst ist, präziser beantworten. Der Idealismus ging davon aus, dass das Bewusstsein zuallererst Bewusstsein des Ich sei. Die Zuspitzung dieses Ansatzes hatte zur 79 »Die Antinomie zwischen Realismus und Idealismus schien ihm die Grundlage jeder tiefgründigen Philosophie zu sein«. Alain Guy (1966): Los filósofos españoles de ayer y hoy. Épocas y autores. Buenos Aires: Editorial Losada, S. 153.

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Folge, dass die Abwesenheit eines Subjekts in der realen Welt undenk­ bar wurde – er hatte also die Realität mit subjektiven Empfindungen, Anschauungsformen und Begriffen bevölkert. Vom idealistischen Standpunkt aus ließ sich kein Reales denken, dem das Subjekt nichts Eigenes hinzufügt. Die Problematik des Idealismus lag so in der paradoxen Aufgabe, von der Objektivität der Dinge und der Welt Rechenschaft abzulegen, sofern ein Subjekt sie konstruiert und ihr subjektive Kategorien hinzufügt. Gleichwohl bewies Husserl durch seine deskriptive Arbeit am Bewusstseinsphänomen, dass es das Ich erst dann gibt, wenn sich das Bewusstsein durch Reflexion spaltet und selbst zum Gegenstand wird. Aus demselben deskriptiven Grund gibt es ursprünglich kein Bewusstsein von einem Erlebnis. Erst wenn das Bewusstsein seiner Erlebnisse gewahr wird, werden diese zu Gegen­ ständen. Die Deskription dieser Bewusstseinstatsachen, so García Morente, trat einen Beweis für den Realismus an. Denn solange es das Bewusstsein vom Gegenstand gebe, stehe dieses dem Ich gegen­ über. Sobald jedoch das Bewusstsein dem Gegenstandserlebnis oder aber dem Ich Aufmerksamkeit schenke, »verschwinde« der Gegen­ stand und die Icherlebnisse oder das Ich treten in den Vordergrund. Die Beschreibung dieses Sachverhaltes schien jetzt den Idealismus zu belegen. Für García Morente lag die Neuheit der Phänomenologie darin, dass sie dank ihrer deskriptiven Herangehensweise die Grundfehler sowohl des Idealismus als auch des Realismus korrigieren konnte. Der idealistische Philosoph legt Nachdruck auf eine vermutete Unmittel­ barkeit des Denkens und bemüht sich darum, alles andere aus ihr herauszuziehen. Die sachgerechte phänomenologische Deskription des intentionalen Bewusstseins dagegen stellt sein unmittelbares Ver­ hältnis zum Gegenstand unter Beweis. Solange es dieses Verhältnis gibt, wird das Ich dabei abwesend sein. Das Ich-Erlebnis ist hier keine ursprüngliche Gegebenheit, sondern die Bewusstseinstatsache, dass der Gegenstand dasteht. Sobald das reflektierende Bewusstsein des Erlebnisses und des Ich gewahr wird, werden zwar diese beiden gegeben, jedoch ohne dass die Dinge, geschweige denn die Welt in ihnen, im Sinne eines Enthaltenseins anwesend sind. Dies bedeutete zugleich eine Überwindung des Realismus. Weder die Dinge noch die Welt sind reelle Bestandteile des Bewusstseins. Umgekehrt gilt, dass das Ich weder ein Ding noch ein Teil der Welt ist.

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Die Phänomenologie als »Arbeitsphilosophie« zeigte García Morente somit die Unwahrheit des Dilemmas »entweder bin ich ein bloßes Stück der Welt oder die Welt liegt in mir vor« auf. Dieses Dilemma hatte sich daraus ergeben, dass sowohl der Realismus als auch der Idealismus ein ursprünglicheres Verhältnis zwischen dem Subjekt und der Welt übersahen. García Morente rechnete es Ortega y Gasset als Verdienst an, durch sein Konzept der vitalen Vernunft ein koexistierendes Verhältnis von Ich und realer Umwelt ins Zentrum gerückt zu haben. Ortega y Gasset hatte betont, dass in seiner Philosophie alles darauf ankomme, das Wort Erlebnis von jeglicher idealistischen Bedeutung zu befreien.80 Dies sei nur dadurch möglich, dass das Verhältnis Subjekt-Objekt auf das reine Geschehen der Koexistenz von »Ich und meinen Umständen« reduziert werde. García Morente charakterisiert seinerseits die realistische wie die idealistische Doktrin als eine Abstraktion und willkürliche Beschnei­ dung des wirklichen Bewusstseinserlebnisses. Für ihn und Ortega bedeutet das »Bewusstseinserlebnis« ursprünglich, dass das Ich und die Dinge auf einer tieferen Ebene des Lebens koexistieren. Das Thema einer Antinomie von Realismus und Idealismus steht auch im Mittelpunkt des in Spanien und Hispanoamerika bekanntesten Werkes von García Morente, und zwar den Lecciones preliminares de filosofía (Vorlesungen zur Einleitung in die Philosophie), die er 1937 an der Universidad Nacional von Tucumán in Argentinien hielt.81 Sie fanden großen Nachhall bei den argentinischen Studenten »Ausgemerzt werden müssen von der Vokabel Erleben alle Bedeutungsüberbleib­ sel ›intellektualistischer, idealistischer‹ oder bewusstseinsimmanenter Natur, bis ihre schreckliche Ursprungsbedeutung freiliegt, dass dem Menschen absolut etwas pas­ siert, und zwar zu sein – zu sein und nicht bloß zu denken, dass er ist –, außerhalb des Denkens zu existieren, in metaphysischer Selbstverbannung und dem wesenhaft Fremden, das das Universum ist, ausgeliefert. Der Mensch ist keine res cogitans, son­ dern res dramatica«. Ortega (1998): S. 277. Aus diesen Zeilen geht ein Gedanke her­ vor, der die Überlegungen von García Morente ergänzt. Die Phänomenologie zeigt, dass solange der Mensch sich auf die Gegenstände richtet, das Ich und das Denken dabei abwesend sind. Diese Abwesenheit bedeutet keine bloße Negativität, sondern ein positives Erlebnis von Realität, das sich nicht im Sinne eines idealistischen oder bewusstseinsimmanenten Verhältnisses zu ihr auffassen lässt. Ortega begriff es als ein Ausgeliefertsein des Menschen an die Realität. Dieser muss sein Leben und die sich ihm aufzwingenden »Umstände« verantworten. Die Definition des Menschen als res dramatica gehörte mit einer Konzeption der Koexistenz von Ich-»Umstände« als ein Geschehen bzw. als Existenz außerhalb des Denkens zusammen. 81 Manuel García Morente (1996c): Obras completas (1937–1942) II-1. Hg. von Juan Miguel Palacios und Rogelio Rovira. Barcelona/Madrid: Anthropos/Fundación Caja 80

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und Kollegen von García Morente. Die argentinischen Philosophen Eugenio Pucciarelli (1907–1995) und Risieri Frondizi (1910–1983) verfassten ein Vorwort zu der ersten Auflage der Lecciones, in dem sie die Auflösung der Antinomie von Realismus und Idealismus durch die von Ortega y Gasset, Scheler und Heidegger inspirierte Lebensontologie betonten.82 So trug die Vorlesung XXV beispiels­ weise den Titel »Ontología de la vida«.83 García Morente nimmt sich hier vor, dem Sein der realen und idealen Gegenstände sowie dem Nichtsein der Werte84 auf deskriptive Weise Rechnung zu tragen. de Madrid, S. 1–313. Die Lecciones preliminares de filosofía wurden mehrmals in Argentinien und Mexiko herausgegeben (Editorial Losada Buenos Aires 1943; Edito­ rial Época, Mexiko 1979; Editorial Porrúa, Mexiko 1980). Dank der herausragenden Fähigkeiten García Morentes als Philosophieprofessor und Vortragender sind diese Lecciones in die hispanoamerikanische Philosophiegeschichte eingegangen. Durch ihre Lektüre – sowie die der Cinco lecciones de filosofía Xavier Zubiris, dem Diccionario de filosofía José Ferrater Moras’ und der Historia de la filosofía Julián Marías’ – haben zahlreiche hispanoamerikanische Studierende und ein breites Publikum einen ersten Kontakt zur Philosophie bekommen. 82 Das 1938 datierte Vorwort von Pucciarelli und Frondizi wurde aufgenommen in García Morente (1996c): S. 5–7. 83 Ebd., S. 301–314. 84 Nachdem García Morente im Anschluss an die phänomenologische Axiologie das psychologistische Konzept der Werte gründlich kritisiert hat, weist er auf das ontolo­ gische Dilemma hin, vor dem diese Axiologie stehe und das erst durch eine Lebens­ ontologie gelöst werden könne: »Wir befinden uns anscheinend in einem unange­ nehmen Dilemma, das uns dazu zwingt, die Wahl zwischen Dingen oder subjektiven Eindrücken zu haben. Die Werte sind anscheinend entweder Dinge oder subjektive Eindrücke […]. Das Dilemma ist jedoch falsch. Man kann uns nicht dazu zwingen, uns entweder für das Ding-Sein oder für das subjektive Eindruck-Sein zu entscheiden. Denn es gibt einen Ausweg, eine Ausflucht, nämlich die wahre Wirklichkeitsform der Werte: Sie sind weder Dinge noch subjektive Eindrücke, weil sie gar nicht sind. Sie gehören nicht zur Kategorie der realen Gegenstände und der idealen Gegenstände, und zwar zur Kategorie des Seins«. Ebd., S. 292. Im 19. Jahrhundert (z. B. bei Hermann Lotze) hatte man versucht, die Frage nach der ontologischen Struktur der Werte zu lösen, indem man behauptete, die Werte seien nicht, sondern würden stattdessen gelten. García Morente wollte seinerseits zeigen, dass man das Problem des Nichtseins der Werte erst dann lösen könne, wenn man eine tiefere ontologische Schicht als die des Seins der wirklichen und idealen Gegenstände sowie der unwirklichen Gültigkeit der Werte freilege. Es handelt sich hierbei um die Gesamtheit der Existenz bzw. des Lebens, welche die realen, die idealen Gegenstände und die nichtseienden Werte ein­ schließt. Die Relevanz der Scheler’schen Axiologie für García Morentes Denken ist nicht nur in den Lecciones preliminares de filosofía (1937) ersichtlich. Bemerkenswert sind auch seine Ensayos sobre el progreso (1932), in denen er den Begriff des Fortschritts mit den Prämissen der Werttheorie Schelers verbindet. »Der Fortschritt besteht nicht darin,

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8. Phänomenologische Überwindung des Idealismus, Metaphysik des Lebens

Bemerkenswerterweise endet diese Vorlesung mit einer Meditation García Morentes über das Problem Gottes und das des Todes. Er beschränkt sich hier darauf, den neuen Sinn dieser metaphysischen Fragen in der Lebensphilosophie lediglich zu umreißen: Aber jetzt wollen wir eine Metaphysik, die nicht auf den Bruchstücken eines Gebäudes ruht, sondern auf der Fülle seines Fundaments: auf dem Leben selbst. Deshalb sage ich, dass jetzt die dritte Navigation der Philosophie beginnt. Wir werden wahrscheinlich nicht erleben, dass sie jetzt unmittelbar erfüllt wird, sondern nur, dass sie ihren Lauf nimmt und jeden Tag weiter wegdriftet. Aber der Bug der Schiffe segelt, wie Ortega y Gasset sagt, auf einen Kontinent zu, an dessen Horizont sich das hohe Vorgebirge der Gottheit abzeichnet.85

Diese Zeilen spielen eine auf der Lebensmetaphysik fundierte reli­ giöse Philosophie an, die García Morente nach seiner Bekehrung zum Katholizismus und der Priesterweihe im Jahre 1941 verfolgte. Er berichtet von den Umständen seiner Bekehrung in dem kurzen autobiographischen Werk El hecho extraordinario.86 Nach der Ansicht von Julián Marías spielte die Phänomenologie eine wichtige Rolle in García Morentes Entwicklung, da sie ihm die Möglichkeit einer genuinen Ontologie und Metaphysik eröffnete. Es ging um eine Möglichkeit, die García Morente auf seinem philosophischen Weg vom Neukantianismus zur Phänomenologie vor allem in den Werken Ortegas und Heideggers zu finden glaubte.87 mehr zu sein, sondern darin, wertvoller zu sein, besser zu sein«, schreibt García Morente (1996): S. 317. García Morente stellt also der rein quantitativen (materialis­ tischen oder utilitaristischen) Auffassung des Fortschritts einen axiologischen Begriff gegenüber. 85 Ebd., 314. 86 Siehe Manuel García Morente (1996d): Obras completas (1937–1942) II-2. Hg. von Juan Miguel Palacios und Rogelio Rovira. Barcelona/Madrid: Anthropos/ Fundación Caja de Madrid, S. 415–441. 87 »[García] Morente wird nur dann zu einer Philosophie gelangen, an die er sich halten kann, wenn die phänomenologische Methode für den Aufbau einer wirksamen und strengen Ontologie verwendet wird. Dies geschieht in Spanien und Deutschland vor allem durch die Arbeit von zwei Philosophen: Ortega und Heidegger«. Julián Marías (1948): Filosofía española actual. Unamuno, Ortega, Morente, Zubiri. Madrid: Espasa-Calpe, S. 128. In Wirklichkeit hat Ortega y Gasset nie akzeptiert, dass seine Philosophie der vitalen Vernunft die Grundlage für eine religiöse Metaphysik oder eine christliche Philosophie bildet. Daher zeugt der Briefwechsel zwischen Ortega und García Morente von Ortegas Vorbehalten gegenüber der Bekehrung seines Kollegen und Freundes. Siehe Óscar Valado Domínguez (2020): Manuel García Morente. Una

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

9. Xavier Zubiri: Vom phänomenologischen Objektivismus zu einer phänomenologisch angelegten Philosophie der Realität Xavier Zubiri ist einer der bedeutendsten spanischen Denker des 20. Jahrhunderts. Er wurde 1898 in Donostia-San Sebastián im Baskenland geboren, studierte Philosophie, Theologie und Naturwis­ senschaften in Madrid, Rom und Löwen und übernahm 1926 den Lehrstuhl für Philosophiegeschichte an der Universidad Central von Madrid. Nach dem Spanischen Bürgerkrieg hatte er den Lehrstuhl für Philosophiegeschichte an der Universität von Barcelona inne, bevor er sich ab 1942 als Privatlehrer in Madrid niederließ. Er unterrichtete dort eine treue Gruppe von Schülern bis zu seinem Tod im Jahre 1983 in Madrid. Mit Xavier Zubiris philosophischem Werk erreichte die Schule aus Madrid einen ihrer Höhepunkte. Er war keiner ihrer Vertreter in dem Sinne, wie es auch andere Schüler Ortegas waren, wie María Zambrano, Manuel Granell, Antonio Rodríguez Huéscar, Julián Marías und José Gaos. Diese verdankten Ortega ihre ersten philoso­ phischen Schritte und übernahmen es darüber hinaus, die Philosophie der vitalen und historischen Vernunft auf originelle Weise weiterzu­ entwickeln. Zubiri rechnete es seinerseits Ortega als Verdienst an, »[…] in Spanien ein eigenes Feld für die Philosophie entwickelt und einen Lebensraum geschaffen« zu haben.88 Er berichtet zudem, dass er und andere »[…] durch Ortega eine erste Begeisterung für die Phi­ losophie« entwickelten.89 Dennoch besuchte Zubiri die Vorlesungen Ortega y Gassets an der Universidad Central von Madrid mit eigenen philosophischen Fragen im Hinterkopf. Während seines Philosophie- und Theologiestudiums am Pries­ terseminar Madrids hatte sich Zubiri mit der mittelalterlichen Phi­ losophie, vor allem mit dem Denken von Thomas von Aquin und Francisco Suárez, auseinandergesetzt. Er besuchte dort die Lehrver­ anstaltungen des spanischen Philosophen und Theologen Juan Zara­ vida a la luz de la correspondencia inédita con José Ortega y Gasset. Salamanca: Edito­ rial San Esteban. 88 Xavier Zubiri (2002): Sobre el problema de la filosofía y otros escritos (1932–1944). Hg. von Germán Marquínez. Madrid: Alianza Editorial/Fundación Xavier Zubiri, S. 266. 89 Ebd., S. 265.

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9. Zu einer phänomenologisch angelegten Philosophie der Realität

güeta (1883–1974), der an der Katholischen Universität von Löwen bei Kardinal Joseph Mercier (1851–1926) studiert hatte. Zaragüeta galt zu jener Zeit als der wichtigste neuscholastische Philosoph in Spanien.90 Zu der Zeit seines Bachelorstudiums (1920–1922) in Philoso­ phie in Löwen machte sich Zubiri mit einem erkenntnistheoretisch orientierten Neuthomismus vertraut. Dieser stützte sich insbeson­ dere auf ein eigenes Konzept des »kritischen Realismus«, der im Dia­ log mit der neuzeitlichen Philosophie und den Naturwissenschaften stand. Zubiri war allerdings kein Anhänger des kritischen Realismus. Dennoch spielte der frühe Kontakt mit dem Neuthomismus von Löwen – insbesondere mit der Lehre und den Schriften von Léon Noël (1878–1953) – eine wichtige Rolle im Entwurf seiner Philosophie der Realität.91

Juan Zaragüeta verfasste 1946 die Schrift Una introducción moderna a la filosofía escolástica ([»Eine moderne Einführung in die scholastische Philosophie«]. Granada: Universidad de Granada), die seine Forschungen zur neuzeitlichen Philosophie und Scholastik seit 1914 vollendete. 91 Bekanntlich löste das Konzept des kritischen Realismus – vor allem in den 1930er Jahren – heftige Kontroversen zwischen den bedeutendsten neuthomistischen Philo­ sophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus. Der Ausgangspunkt des kritischen Realismus war eine Reflexion über die immanenten Bedingungen des Denkens, um von ihnen aus zu einer außermentalen Realität zu gelangen. Auch wenn Léon Noël in den 1930er Jahren in die Polemik mit den Gegnern des kritischen Realismus (Étienne Gilson und Jacques Maritain) involviert war, distanzierte er sich vom Kantianischen Ansatzpunkt des kritischen Realismus, indem er sich auf die Phänomenologie Hus­ serls berief. Noëls Konzeption des Realismus beeinflusste die philosophische Ausbil­ dung des jungen Zubiri. »[…] Bei seiner Kritik an der neuscholastischen Erkenntnis­ theorie hatte Zubiri einen Mentor, und zwar Léon Noël. Noël versuchte die Phänomenologie in die Neuscholastik aufzunehmen, womit er den sogenannten ›unmittelbaren Realismus‹ stiftete, den er dem ›kritischen Realismus entgegensetzte«. Diego Gracia (2008): Voluntad de verdad. Para leer a Zubiri. Madrid: Editorial Tria­ castela, S. 75. In seiner Bachelorarbeit zitiert Zubiri das Werk von Léon Noël (1913): Note sur le »problème« de la connaissance. Löwen: Annales de l’Institut Supérieur de Philosophie, t. III. Zubiri kannte sich wahrscheinlich auch mit dem Artikel von Léon Nöel (1910): »Les frontières de la logique«, in: Revue philosophique de Louvain, 66 (1910), S. 211–233 aus. Ein Jahr später erschien der berühmte Artikel von Victor Del­ bos (1911): »Husserl: Sa critique du psychologisme et sa conception d’une logique pure«, in: Revue de Métaphysique et de Morale, Bd. 19, Nr. 5 (1911), S. 685–698. Es waren die ersten Texte in französischer Sprache, die die Phänomenologie Husserls darlegten. Zur Stellungnahme Zubiris zum kritischen Realismus aus Löwen siehe Antonio Pintor-Ramos (1996): Génesis y formación de la filosofía de Zubiri. Salamanca: Universidad Pontificia de Salamanca, S. 60–61. 90

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

10. Der phänomenologische Objektivismus und die Neubegründung der Mathematik und der Wissenschaft Vor diesem Hintergrund muss man nicht nur den frühen Kontakt Zubiris mit der Schule aus Madrid verstehen, sondern auch seine Aufnahme der deskriptiven Psychologie Franz Brentanos und der Phänomenologie Edmund Husserls. In seinem ersten Aufsatz »La crisis de la conciencia moderna« (»Die Krisis des modernen Bewusst­ seins«)92 schildert Zubiri die philosophische Bewegung in Löwen, die nach der Vorherrschaft des Positivismus im 19. Jahrhundert die Neuscholastik wiederbeleben wollte. Er evoziert zunächst den Namen des Kardinals Joseph Mercier. Dieser hatte den Weg für die Wiedergeburt der neuscholastischen Philosophie geebnet, indem er das Missverständnis beseitigte, die philosophische Reflexion über die Wissenschaft müsse zwingend in den Positivismus münden. Zubiri verband diesen Ansatz mit dem historischen Umstand, dass sowohl Brentano als auch Husserl auf anderem Wege aristotelische und neuscholastische Grundbegriffe erneuerten.93 Dank ihres originellen Verständnisses des ursprünglich von der Scholastik eingeführten Intentionalitätsbegriffes eröffneten sie die Möglichkeit einer Neube­ gründung der Psychologie, der Logik, der Mathematik und der Natur­ wissenschaften. Die Lektüre der Schriften Husserls und Brentanos ließ Zubiri die Unzulänglichkeiten des kritischen Realismus sehen. Dieser setze die Immanenz des Bewusstseinsobjektes voraus und stelle dann die Frage, wie man eine Brücke zwischen ihm und der Realität schlagen könne. Das Problem des Verhältnisses des Subjekts zur Realität liege jedoch tiefer, wie es die phänomenologische Theorie der Objektivität zeige. Zubiri hatte dieses Thema bereits in seiner Bachelorarbeit El problema de la objetividad pura según Husserl und in seiner Disserta­ 92 Xavier Zubiri (1999): Primeros escritos (1921–1926). Hg. von Antonio PintorRamos. Madrid: Alianza Editorial/Fundación Xavier Zubiri, S. 335–358. 93 In einem Brief von 22. März 1963 an Luis Achaerandio berichtet Ignacio Ellacuria von einem Gespräch mit Xavier Zubiri, in dem er ein Leitmotiv seines philosophischen Werdegangs preisgab. Im Rückblick auf sein Werk gefalle Zubiri, »wenn ihm seine Neuheit gegenüber dem Aristotelismus und der Scholastik zuerkannt wird«. Damit wolle er nicht sagen, dass er »neue Themen beleuchte«, sondern dass er »innerhalb des thematischen Feldes des Aristotelismus und der Scholastik innovativ« gewesen sei. Ignacio Ellacuria (1999): Escritos filosóficos II. Herausgegeben von Carlos Molina Velásquez. San Salvador: UCA Editores, S. 34.

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10. Der phänomenologische Objektivismus

tion Ensayo de una teoría fenomenológica del juicio angeschnitten.94 Dieser im Jahre 1923 veröffentlichte Text ist in vielerlei Hinsicht interessant. Die Dissertation ist eine der ersten Monographien zur Phänomenologie Husserls in einer Fremdsprache überhaupt und ihre erste systematische Darstellung durch einen der Schüler Ortega y Gassets. Die frühe Auseinandersetzung mit dem phänomenologischen »Objektivismus« war der erste Schritt Zubiris hin zu einer eigenen Philosophie der Realität. Man darf darüber hinaus nicht vergessen, dass Zubiri das Problem der reinen Objektivität in einem präzisen phi­ losophiegeschichtlichen Kontext angeht. In seiner Dissertation ver­ gleicht er verschiedene Urteilstheorien mit der phänomenologischen Urteilstheorie, um sie an dem neuesten Stand der Mathematik und der Wissenschaft zu messen.95 Die vor- oder nichtphänomenologischen Zubiri legte die Bachelorarbeit 1921 dem Institut Supérieur de Philosophie der Katholischen Universität von Löwen vor (der ursprüngliche französische Titel lautete Le problème de l’objectivité d’après Ed. Husserl). Die Dissertation wurde von Ortega y Gasset betreut und von Zubiri 1921 an der Universidad Central von Madrid verteidigt. Im Vorwort zur Dissertation schreibt Zubiri: »Mein herzlicher Dank gilt meinem berühmten Meister Don José Ortega y Gasset, der die Phänomenologie Husserls in Spanien eingeführt hat und freundlicherweise diese Arbeit an der Zentraluniversität vorstellte. Meine ersten Schritte in dieser Art von philosophischer Forschung sind seiner Lehrtätigkeit zu verdanken.« Beide Texte (die Dissertation sowie die spanische und französische Fassung der Bachelorarbeit) wurden in Zubiri (1999) aufgenommen. 95 Im Rahmen der gegenwärtigen spanischsprachigen Phänomenologie hat man die »essentialistische« Interpretation der Phänomenologie Husserls bei Zubiri vehement zur Diskussion gestellt. Man wirft ihm vor, das Denken Husserls mit einem »Essen­ tialismus« gleichgestellt zu haben, indem er die reinen Phänomene in eine Art von himmlischen Wesentlichkeiten umdeutete. Dabei übersieht man jedoch, dass Zubiri den phänomenologischen Objektivismus zunächst im Rahmen einer Neubegründung der Mathematik sowie der Naturwissenschaften in Betracht zog und positiv bewertete. Siehe z. B. García-Baró (2012): S. 155-199. García Baró konstatiert einen negativen Einfluss Ortegas auf Zubiris Lektüre der Phänomenologie, insofern beide Husserl vorwarfen, »[…] mit dem selbständigen Charakter der Intentionalität zu weit gegan­ gen zu sein, wobei dieser in eine Art von Idealismus mündete.« (Ebd., S. 174; siehe Fußnote unten) Agustín Serrano de Haro hat diese Problematik in seinem Buch Paseo filosófico en Madrid. Introducción a Husserl zugespitzt. Er hält die »essentialistische« Interpretation des Werkes von Husserl bei Zubiri für einen Mangel, von dem die ganze Rezeption der Phänomenologie in Spanien und Lateinamerika jahrzehntelang belastet gewesen sei. Das habe dazu geführt, dass diese Rezeption dem genuinen Sinn der Phänomenologie Husserls nicht gewachsen sei: »Diese Interpretation, mag sie gut sein oder schlecht, versteht die Phänomene der Phänomenologie als eine Art unan­ greifbarer Gegenstände bzw. Entitäten und unbestreitbarer Wirklichkeiten. Die ›rei­ nen Phänomene‹, denen sich die philosophische Suche nach der Wahrheit widmen 94

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

Urteilstheorien setzten unterschiedliche Objektivitätsbegriffe voraus, die keine höhere philosophische Synthese erlaubten, geschweige denn als Bausteine für die erwünschte Neubegründung der Mathematik und der Wissenschaften gelten konnten. Solche Theorien bemühten sich vergebens um die Vereinbarkeit von zwei sich widersprechenden Postulaten: Bei der Suche nach objektiven Urteilen stellte der Idealis­ mus den Dingen eine allgemeine Idee bzw. ein Wesen voran. Der immanentistische Ausgangspunkt führte den Idealismus jedoch dazu, den Wesenheiten eine subjektive Existenz zuzuschreiben, wodurch die Objektivität der Dinge zerstört wurde. Die phänomenologische Theorie der reinen Objektivität durchbrach diesen Teufelskreis, indem sie dem Verhältnis zwischen den Wesen und den realen Dingen ohne

muss, wären steinharte Objektivitäten, die erst die phänomenologische Methode ent­ decken, ausgraben und prüfen könnte«. Serrano de Haro (2016): S. 11. Serrano führt zudem die essentialistische Interpretation von Husserls Werk in Spa­ nien auf eine Lektüre zurück, die allzu sehr von Max Schelers Lesart beeinflusst gewe­ sen sei. In Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik gibt es tatsächlich mehrere Passagen wie die folgende: »Also von jeder Setzung ist abzusehen. Sowohl von der Setzung: ›Wirklichkeit‹ wie ›nicht wirklich‹ usw. Auch wo wir uns z. B. täu­ schen in der Annahme, es sei etwas lebendig, da muß im Gehalte der Täuschung uns doch das Anschauliche Wesen des ›Lebens‹ gegeben sein. Nennen wir den Gehalt einer solchen ›Anschauung‹ ein ›Phänomen‹, so hat das ›Phänomen‹ also mit ›Erscheinung‹ (eines Realen) oder mit ›Schein‹, nicht das mindeste zu tun. Anschauung aber solcher Art ist ›Wesenschau‹ oder auch – wie wir sagen wollen – ›phänomenologische Anschauung‹ oder ›phänomenologische Erfahrung‹“. Max Scheler (2014): Der For­ malismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus. Hg. von Christian Bermes unter Mitarbeit von Annika Hand. Hamburg: Felix Meiner Verlag, S. 72–73. Fraglich ist aber dennoch, ob sich die frühe Interpretation sowie die spätere Kritik des phänomenologischen Objektivismus bei Zubiri ausdrücklich an Schelers Prämissen orientierte und nicht an den Motiven, die sich in den phänomenologischen Schriften des baskischen Philosophen selbst finden. Dem Ansatz Serranos ist jedoch anzurech­ nen, dass er die Phänomenologie Husserls von der veralteten bzw. klischeehaften Interpretation einiger Kreise der spanischsprachigen Philosophie befreit. Trotzdem lässt sich die Darstellung einer »essentialistischen« Interpretation der Phänomenolo­ gie weder mit der frühen Rezeption der Philosophie Husserls bei Zubiri noch mit seiner späteren Kritik an ihr gleichstellen. Denn sie übersieht nicht selten den phi­ losophiegeschichtlichen Zusammenhang der Aufnahme des »phänomenologischen Objektivismus« sowie der eigenen Fragen, die Zubiri an die Phänomenologie richtete. Dennoch ist eine genaue Darstellung dieses Kontextes nötig, um den Sinn der Kritik Zubiris an der Husserl’schen Phänomenologie verstehen zu können. Damit ist freilich nicht gesagt, dass diese Kritik ins Ziel trifft.

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10. Der phänomenologische Objektivismus

Widersprüche Rechnung zu tragen vermochte.96 Aber diese Theorie bedeutete weniger die logische Widerlegung eines Trugschlusses als die Möglichkeit einer philosophischen Fundierung der Wissenschaf­

96 Im ersten Kapitel seiner Bachelorarbeit schreibt Zubiri: »Mit dem Ausgangspunkt des Husserl’schen Denkens meine ich keinen chronologisch ersten Moment. Es würde sich dann um eine biographische Angelegenheit handeln. Ich spreche vielmehr über einen logischen Ausgangspunkt, d. h. über die philosophischen Ideen, die uns die phi­ losophische Entwicklung Husserls zum Objektivismus verstehen lassen […]. Man kann von drei Grundideen im Denken Husserls reden: erstens der modernen Reform der physikalischen und mathematischen Wissenschaften, zweitens der intentionalen Psychologie und drittens der Reform der Mathematik durch die Mathematik, insbe­ sondere in der Wissenschaftslehre von Bolzano.« Zubiri (1999): S. 12. Die Frage, inwiefern die objektivistische Interpretation der Phänomenologie bei Zubiri durch eine Überschätzung des Einflusses von Bolzano auf Husserl bedingt war, ist aus einer philosophiegeschichtlichen Perspektive sehr interessant. Bekanntlich hielt Brentano selbst die Kritik Husserls an jeglicher Fundierung der Logik durch die Psychologie für exzessiv und schob diesen Fehler auf einen negativen Einfluss Bolzanos auf den Begründer der Phänomenologie: »Was Sie ›Psychologismus‹ nennen, wäre im Wesentlichen das πάντων τῶν ὄντων μέτρον ἄνθρωπος des Protagoras. Dagegen spre­ che ich mit Ihnen mein Anathema aus. Aber das Reich der Gedankendinge, in welches leider auch ein so respektabler Denker wie Bolzano sich verstiegen hat, ist darum doch nicht zuzulassen. Es dürfte vielmehr ebenfalls als absurd erwiesen werden können […]. Immerhin wünsche ich Ihnen Glück zu dem geistigen Kontakt mit diesem edlen, ernststrebenden Denker. Von solchen, auch wo sie irren, kann man lernen, von man­ chem andern nicht ebenso, auch wenn sich in sein lockeres Gerede zufällig eine wahre Behauptung einmengte«. Franz Brentano (1974): Wahrheit und Evidenz. Erkenntnis­ theoretische Abhandlungen und Briefe ausgewählt. Erläutert und eingeleitet von Oskar Kraus; unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1930. Hamburg: Felix Meiner Ver­ lag, S. 157. Zubiri warf seinerseits Brentano und Husserl vor, die neuscholastische Intentionalitätslehre zum Äußersten getrieben zu haben: »Ich werde hier nicht den Anteil dieser Theorien [der scholastischen Theorie der intentio] an der Phänomeno­ logie Husserls darlegen. Brentano ließ sich vielleicht von dieser Theorie der Intention nicht inspirieren, als er in einen eigenartigen Psychologismus und einen naiven Rea­ lismus geriet. Husserl nähert sich dieser Theorie eher an, indem er sich auf die Wis­ senschaftslehre Bolzanos stützt. Dennoch übertreibt er den autonomen Charakter der Intentionalität, wobei seine Phänomenologie in einen eigenartigen Idealismus mün­ det«. Zubiri (1999): S. 27. Damit interpretierte Zubiri nicht die Phänomenologie als eine Art von Hyperessentialismus, sondern stellte die Frage nach dem ursprünglichen, realen (»physischen«) Boden des intentionalen Bewusstseins und seiner objektiven Korrelate. Zu jener Zeit hatte er keine Antwort auf diese Frage. Erst später, in seiner Trilogie zur Intelligenz (Inteligencia sentiente. Inteligencia y realidad, Inteligencia y logos und Inteligencia y razón) stellt er dem Moment der Bewusstseinsintentionalität das Moment einer sinnlich-intellektuellen »Impression der Realität« auf den mensch­ lichen Logos bzw. die »empfindende Intelligenz« (inteligencia sentiente) voran.

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

ten auf der eidetischen Anschauung der Objekte, die sie erklären.97 In Teoría fenomenológica del juicio schreibt Zubiri: Die Erklärung eines Objektes […] besteht darin, die Vorbedingungen seiner Erscheinung in der Welt der Wirklichkeiten zu entdecken. Die Erklärung etwa der weißen Farbe der Objekte in der physikali­ schen Welt besteht darin, die Vorbedingungen der Verwirklichung der weißen Farbe in der Welt, d. h. die elektromagnetischen Wellen Maxwells freizulegen. Jede Erklärung bezieht sich demnach auf ein anderes Objekt, das nicht in dem betreffenden Objekt gegeben ist. Jede Erklärung ist somit mittelbar und fehlbar. Aber bevor man die weiße Farbe erklärt, muss man sich darüber einig werden, was genau man erklären will. Um die Farbe zu erklären, muss man sich also zunächst einigen, was die Farbe ist. Dieses Sich-Einigen ist die Phänomenolo­ gie. Die Phänomenologie stellt einen neutralen und vorhergehenden Bereich dar, der von Streitigkeiten im Bereich der Erklärungen unab­ hängig ist.98

Der junge Zubiri stellt die Phänomenologie weniger als eine essen­ tialistische Doktrin denn als einen Objektivismus dar, der das »Was« bzw. Wesen der Gegenstände einsieht und dadurch ihrer wissenschaftlichen Erklärung ein Fundament verleiht. Damit bot der phänomenologische Objektivismus einen Ausweg aus der Krise der anschaulich-konstruktiven Mathematik und der mechanistischen Physik im 20. Jahrhundert. In der Neuzeit hatte man die Mathematik als eine auf die Wirklichkeit angewandte Wissenschaft begriffen. Jedoch entwickelte sie sich zu einer von der Anschauung und der Phy­ sik unabhängigen Disziplin weiter. Zubiri denkt beispielsweise an die Mengenlehre Georg Cantors, die der Mathematik einen apriorischen Charakter verlieh.99 Denn sie befasste sich nicht mehr mit der bloßen Siehe Zubiri (1999): S. 95–105. Ebd., S. 127–128. 99 Zubiri beabsichtigte, dem mathematischen Intuitionismus mithilfe der Phänome­ nologie seinen Rang zurückzuerstatten. Er warf die Frage nach dem anschaulich gege­ benen »Was« oder Wesen dessen auf, was die Mengenlehre feststellte. In einem Nach­ lassdokument von Zubiri liest man Folgendes: »Das Eigentümliche dieses Konzeptes [der Mengenlehre] besteht darin, dass es eine rein logische Definition ist. Man sieht davon ab, ob wir das infrage kommende Merkmal kennen oder nicht. Es reicht aus, dass das Merkmal derart ist, dass sich der Satz vom ausgeschlossenen Dritten fest­ stellen lässt. Damit werden sowohl die Definition als auch die Existenz der Menge festgestellt. Wie man die Menge konstruiert, ist eine interessante, aber sekundäre Frage. Dadurch wird die Mathematik als ein System von Ideen definiert […]. [Luitzen Egbertus Jan] Brouwer und [Hermann] Weyl, die zweifellos von [Henri] Poincaré 97

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10. Der phänomenologische Objektivismus

Quantität, sondern mit der reinen Mannigfaltigkeit. Die Zahl ließ sich als eine ideale Spezies definieren. Auch die Geometrie wurde von jeglicher anschaulichen Konstruktion unabhängig, wodurch sich die Mathematik von den Naturwissenschaften löste. Die Physik stützte sich ihrerseits nicht nur auf mathematische Formeln. Die Thermodynamik hatte den Mechanismus ersetzt, wobei die kosmologische Kausalität mit keiner einzigen mathematischen Gleichung ausgedrückt werden konnte. Der universale Dynamismus erwies sich dadurch als eine vielfältige Energiewechselwirkung. Man konnte nicht länger mathematische Gleichungen aufstellen, um die verschiedenen Energien auf eine Einheit zu reduzieren. Sie brachten vielmehr die Vorbedingungen ihrer vielschichtigen Wechselwirkung zum Ausdruck. Der Akzent hatte sich verschoben: Es galt nicht mehr, die Eigenschaften der realen physikalischen Gegenstände und Sachverhalte auf quantitativ-mathematische Formeln zu reduzieren. Sie wiesen vielmehr einen objektiven Charakter auf. Die Relativitäts­ theorie reduziert beispielsweise nicht Qualität auf Quantität, sondern beschreibt das Wesen der Zeit und des Raumes aufgrund ihrer quali­ tativen Merkmale. Die Entwicklung der Physik führte also zu einer Inanspruch­ nahme der Anschauung von zwar nicht quantifizierbaren, jedoch objektiven Eigenschaften. Man war nun imstande, die Frage nach der Objektivität der Mathematik und der Physik anders zu stellen und zu beantworten, als es Mechanismus und Positivismus getan hatten. Die Phänomenologie Husserls bot Zubiri eine erste und plau­ sible Antwort, da sie die Wesensanschauung thematisierte und eine eidetische Methode einführte, die in das »Was« sowohl der idealen (logischen und mathematischen) Gegenstände als auch der physika­ lischen Objekte sowie ihrer raumzeitlichen Verhältnisse Einsicht zu gewinnen vermochte. Es handelte sich hierbei, so Zubiri, um die erwünschte phänomenologische Neubegründung von Mathematik und Wissenschaft. inspiriert wurden, haben voller Zorn gegen ein solches Konzept revoltiert. Denn die unendlichen Mengen können nur durch ein Gesetz gegeben werden, das ihr Grund­ merkmal bestimmt. Es ist unmöglich, eine vollständige Induktion durchzuführen, die am Ende sehen lässt, ob jeder Gegenstand zur Menge gehört oder nicht […]«. Fund­ ación Xavier Zubiri – Archiv. Kasten 03. Inhalt: Xavier Zubiri: Los problemas de la lógica contemporánea, S. 29. Siehe hierzu die aufschlussreichen Überlegungen von Jesús Ramírez Voss (2016): La generación decisiva. La idea de filosofía en la Escuela de Madrid. Madrid: Ediciones Xorki, S. 118–122.

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11. Der phänomenologische Umbruch der traditionellen Intentionalitätslehre. Zubiris »Rezension« der Psicología desde un punto de vista empírico Franz Brentanos Zubiris Augenmerk richtete sich auch auf die Bedeutung der deskrip­ tiven Psychologie Brentanos und der Phänomenologie bei Husserl für eine Neubetrachtung der menschlichen Auffassung der Realität als solcher. Die Bachelor- wie auch die Doktorarbeit betonten die Taug­ lichkeit des phänomenologischen Objektivismus für eine Neubegrün­ dung der mathematisch angelegten Naturwissenschaften. Die Kehr­ seite des phänomenologischen Objektivismus ist die Frage danach, »wie« die Realität im Bewusstsein gegeben wird. Text 6 »Recensión de Brentano« (»Rezension zu Brentano«) hebt diesen Aspekt des phänomenologischen Objektivismus hervor. 1925 rezensierte Zubiri die spanische Übersetzung der Psychologie vom empirischen Stand­ punkt von José Gaos im Verlag Revista de Occidente und nutzte die Gelegenheit, um die metaphysische Bedeutung der Kritik Brentanos an der positivistischen Psychologie in den Vordergrund zu stellen.100 Der Positivismus, so Zubiri, hatte sich jahrzehntelang gegenüber der Frage nach dem Wesen des Bewusstseins sowie der ihm gegebenen Gegenstände gleichgültig verhalten. Er beschränkte sich darauf, die raumzeitlichen Kausalverhältnisse der Erscheinungen festzustellen und konzipierte folglich das Bewusstsein als den Mechanismus einer solchen Feststellung. Brentano hingegen begründete eine deskriptive Psychologie, die sich an das im Bewusstsein gegebene Wesen hielt. Damit erhob er keinen Anspruch darauf, zum realen An-sich der Dinge vorzustoßen. Dennoch hatte er den Psychologismus umgestürzt, der die Welt auf einen Bewusstseinsinhalt und das Bewusstsein auf einen Mechanis­ mus reduzierte. Trotz alledem offenbart der Text Zubiris bereits die Gründe, aus denen er sich später von der deskriptiven Psychologie 100 Franz Brentano (1926): Psicología. Übersetzt von José Gaos. Madrid: Revista de Occidente. Diese Übersetzung war unvollständig. Zubiri selbst übersetzte später einen Text von Brentano für den Verlag Revista de Occidente: Franz Brentano (1936): „¡Abajo los prejuicios!« en El porvenir de la filosofía. Übersetzt von Xavier Zubiri. Madrid: Revista de Occidente. Es handelt sich um die spanische Version des Kapitels »Nieder mit den Vorurteilen!«, in: Franz Brentano (1925): Versuch über die Erkenntnis. Aus seinem Nachlass herausgegeben von Alfred Kastil. Hamburg: Felix Meiner Verlag.

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11. Der phänomenologische Umbruch der traditionellen Intentionalitätslehre

Brentanos und der Phänomenologie Husserls distanzieren wird. Er bemerkt zunächst, dass beide die Objektivität der Erscheinungen nach dem Muster ihrer Gegebenheitsweise im intentionalen Bewusstsein begreifen würden. Für beide seien die intentionalen Gegenstände keine realen Dinge im Bewusstsein – sie hätten dort vielmehr eine virtuelle Existenz. Diese bestehe im Grunde in der potenziellen Auf­ weisung bzw. Entfaltung des Eidos eines vorgestellten Gegenstandes. Ein solcher Ansatz reiche zwar aus, um den Grundfehler des Subjektivismus zu korrigieren. Dieser beschreibe das Bewusstsein als eine Art Behälter der Welt, weil er sowohl die Unwirklichkeit bzw. den virtuellen Charakter des intentionalen Gegenstandes als auch die »minimale Wirklichkeit« seiner Affektion auf das Subjekt übersehe. Dank ihres Begriffes der virtuellen Existenz intentionaler Gegenstände hätten Brentano und Husserl jedoch das trügerische Bild vom Bewusstsein als einer Art Container endlich beseitigt. Gleichwohl gab Zubiri die Anwesenheit des Realen im inten­ tionalen und daher »irrealen« Bewusstsein ein Rätsel auf. Durch Brentano und Husserl wusste er, dass die Lösung nur in einer anderen Richtung als der des radikalen Subjektivismus erfolgen konnte. Aus diesem Grund warf er nochmals die aristotelische Frage nach der Anwesenheit des Realen in der menschlichen Erkenntnis auf. In seinem Aufsatz »La crisis de la conciencia moderna« bezog er die Entdeckung der Bewusstseinsintentionalität auf eine berühmte Stelle von Aristoteles’ De anima zurück, welche sich die mittelalterliche Philosophie zu eigen gemacht hatte: Durch die Erkenntnis sei die Seele in gewisser Weise alle Dinge.101 Zubiri war nun imstande, die Grundfrage seiner eigenen Philosophie zu formulieren: Wie aktuali­ siert sich die Realität in einer menschlichen empfindenden Intelligenz (inteligencia sentiente)?

»Und so werden die klassischen Theorien der traditionellen Psychologie, nach so vielen Schicksalsschlägen, mit neuem Leben und unter einem neuen Gesichtspunkt wiedergeboren: Die Gegenstände des Bewusstseins haben nur ein intentionales, vir­ tuelles Dasein. Das Bewusstsein ist also und ohne im Geringsten seine Individualität zu verlieren, in gewissem Sinne alles andere«. Zubiri (1999): S. 347. 101

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12. Die Wende von Sobre la esencia. Die Frage nach den realen Wesenheiten In den Jahren 1928 bis 1931 unternahm Zubiri mehrere Forschungs­ reisen nach Deutschland. Er besuchte die Lehrveranstaltungen von Husserl und Heidegger in Freiburg und hatte in München die Gele­ genheit, seine Kenntnisse der Naturwissenschaften bei Arnold Som­ merfeld zu vertiefen. Er lernte Max Planck, Albert Einstein und Erwin Schrödinger in Berlin kennen. Die Auseinandersetzung mit dem neu­ esten wissenschaftlichen Weltbegriff führte ihn dazu, nach einer tie­ feren Schicht der Wirklichkeitserkenntnis als jener des intentionalen Bewusstseins bei Husserl und dem Seinsverständnis bei Heidegger zu suchen.102 Er rechnete es noch immer der Phänomenologie als Ver­ dienst an, die aporetische Erkenntnistheorie durch eine Philosophie der,Sachen selbst‘ ersetzt zu haben. Gleichwohl meinte er, dass die Phänomenologie im Moment der Auffassung der Dinge als objektive und ideale Korrelate des intentionalen Bewusstseins stehenbleibe. Zubiri seinerseits wollte den Moment herausstellen, in dem die eigene Wesensstruktur der realen Dinge empfunden und aufgefasst wird. Dadurch warf er ein anderes Problem auf, als Heidegger es mit seiner ontologischen Frage getan hatte.103 Zubiri zielte weder auf eine In den Jahren 1945 und 1946 hielt Zubiri unter dem Titel »Ciencia y realidad« (»Wissenschaft und Wirklichkeit«) eine Reihe von öffentlichen Vorlesungen. Sie fassten seine philosophischen Überlegungen zu den Wissenschaften zusammen, die sich bereits in seinen frühen Schriften abgezeichnet und während seiner Aufenthalte in Deutschland intensiviert hatten. Siehe Xavier Zubiri (2020): Ciencia y realidad (1945–1946). Hg. von Esteban Vargas Abarzúa. Madrid: Alianza Editorial/Fundación Xavier Zubiri. 103 Bekanntlich übte die Philosophie Heideggers einen großen Einfluss auf die erste Generation der Schule von Madrid aus (Ortega y Gasset konnte sogar seine Medita­ tionen über »Don Quijote« als Vorgängerinnen verschiedener Ideen auffassen, die Heidegger in Sein und Zeit zum Ausdruck brachte). Zubiri bildete hier keine Aus­ nahme. Er war von den Lehrveranstaltungen von Heidegger in Freiburg begeistert und übersetzte 1933 Was ist Metaphysik? ins Spanische. Die Übersetzung erschien ursprünglich in der spanischen Zeitschrift Cruz y Raya. Revista de afirmación (1933); 1941 wurde sie im mexikanischen Verlag Séneca veröffentlicht. Im Zusammenhang seiner Frage nach der Realität distanzierte sich Zubiri jedoch zunehmend von der Heidegger’schen Metaphysik: »Heidegger ersetzt die Bewusstseinstatsache bei Hus­ serl durch das Seinsverständnis. Seine Philosophie bewegt sich immer noch auf dem Boden der Phänomenologie […]«. Zitiert in: Jordi Corominas et Joan Albert Vicens (2006): Xavier Zubiri. La soledad sonora. Madrid: Santillana, S. 614–615. Darüber hinaus lehnte er, wie Ignacio Ellacuria bezeugt, den pessimistischen Ton der 102

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12. Die Wende von Sobre la esencia. Die Frage nach den realen Wesenheiten

Philosophie der Objektivität ab noch auf eine des Seins, sondern auf eine Philosophie der Realität (Text 7 »Phänomenologie, empfindende Intelligenz und Metaphysik der Realität« zeigt die verschiedenen Phasen der philosophischen Entwicklung Zubiris und seiner Stellung­ nahme zur Phänomenologie auf). Das Wort »Moment« ist hier wichtig. Es bedeutet zunächst, dass Zubiri eine genetische Analyse der Verbindung zwischen Bewusstseinsintentionalität, Seinsverständnis und Realität im Auge hatte. Keiner dieser Momente lässt sich verab­ solutieren oder gesondert betrachten, wobei die Realität die Grund­ schicht bildet, über welche sich die anderen beiden hinüberlegen. Ortega y Gasset hatte Husserl vorgeworfen, das reflexive Gewahrwerden von dem es vollziehenden primären, nicht reflektie­ renden Bewusstsein getrennt zu haben, indem er es zum reinen Bewusstsein hypostasierte. Zubiri wiederum hielt der Husserl’schen Phänomenologie vor, sich einer idealistischen Tradition verpflich­ tet zu haben, die den »Moment der Reflexivität« verabsolutiere. 1931/1932 hielt Zubiri einen Kurs zur Einführung in die Phänome­ nologie an der Universidad Central von Madrid. Der dritte Teil des Kurses trug den Titel »El ser como pensado: de Descartes a Husserl« (»Das Sein als Gedachtes: von Descartes zu Husserl«).104 Das zentrale Thema dieses Kursabschnittes war ein sich aus dem Moment der Reflexivität ergebendes metaphysisches Problem: Insofern der Idea­ lismus die Reflexivität des Ich bzw. des Bewusstseins bevorzugte, sah er a fortiori von der Frage nach der realen Anwesenheit des transzen­ denten Gegenstands in der subjektiven Immanenz ab. Dies galt nicht nur einer Problematik des transzendentalen Idealismus Kants und des klassischen Idealismus, sondern betraf auch die phänomenologische Reduktion. Nach der Durchführung der Reduktion wird sich das reine, reflektierende Ich der Gegebenheit einer realen Welt und realer Dinge als Phänomenen bzw. Korrelaten von setzenden Akten wie Heidegger’schen Philosophie ab, dem er den aristotelischen Geist gegenüberstellte: »Er [Zubiri] sagte uns, er sei niemals mit Heidegger völlig einverstanden gewesen, nicht einmal, als er mit ihm studiert und zusammengearbeitet hatte. Jedes Mal dis­ tanzierte er sich vielmehr stärker von Heidegger. Es schien ihm, dass die Atmosphäre und Situation der Angst nicht die geeignetste war für einen Zustand philosophischer Reife. In dieser Hinsicht fühlte er sich eher zum aristotelischen Stil hingezogen, der ihm philosophisch inhaltreicher und vollständiger zu sein schien.« Ellacuria (1999): S. 22. 104 Xavier Zubiri (2007): Cursos universitarios. Volumen I. Hg. von Manuel Mazón. Madrid: Alianza Editorial/ Fundación Xavier Zubiri, S. 451–602.

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

der Wahrnehmung und der Erinnerung bewusst. Die Betrachtung des phänomenologischen Reflexivitätsmomentes hatte jedoch ihre ursprüngliche Auffassung als reale Welt und reale Dinge »von sich aus« (de suyo) außer Acht gelassen.105 Zubiri legt Nachdruck darauf, dass die phänomenologische Reduktion auf das reine Bewusstsein deshalb vollzogen werde, weil man von der Welt und den Dingen verlange, dass sie in absoluter Evidenz erscheinen. Damit sind sie einer radikalen Veränderung unterworfen: Zwar werden sie weder zum Gegensatz der Wirklichkeit noch zu rein immanenten Bewusstseinsinhalten – es handelt sich dabei jedoch nicht mehr um die reale Welt und die realen Dinge. Nach Zubiri büßt die phänomenologisch reduzierte Welt ihre Wirklichkeit ein, da sie keine Wirkung mehr auf das Leben habe. Wir halten nämlich einen Gegenstand insofern für wirklich, als er wirksam ist. Nach der phänomenologischen Reduktion wird der Gegenstand jedoch unwirksam. In der natürlichen Einstellung ist der Mensch auf den einzelnen, konkreten Gegenstand gerichtet. Er nimmt ihn In seiner Diskussion mit Eugenio D’Ors (Text 2) legt Ortega y Gasset Nachdruck auf den nach wie vor individuellen und transzendenten Charakter des intentionalen Gegenstandes, der sich der natürlichen Reflexion auf einen vollzogenen Akt darbietet. Die Möglichkeit einer wiederholten Reflexion begründe die Auffassung eines einzel­ nen Gegenstandes als mit sich selbst identisch. Die Identifizierung eines individuellen Gegenstandes als ein und derselbe ermögliche den Vergleich mehrerer ähnlicher Gegenstände miteinander, um ihr Gemeinsames, ihr Eidos zu gewinnen. Darum bleibe die phänomenologisch-eidetische Deskription auf dem Boden der vom Men­ schen in der Welt ausgeführten Akte – und lasse sich immer auf einen ursprünglichen, realen Wahrnehmungsakt zurückführen. Das »reine Bewusstsein« nach der phäno­ menologischen Reduktion erweise sich dagegen als eine Hypostasierung des reflek­ tierten Bewusstseins und dessen vollzogener Akte. Soweit Ortega. Zubiri wiederum dringt in die Verbindung der phänomenologischen Reflexion mit der Forderung nach einer absoluten Evidenz des Gegebenen ein. Diese führe letztlich zu einer »Entvitali­ sierung« des Bewusstseins. »Der Charakter des reinen Erscheinens und der Transpa­ renz des Gegenstandes in der phänomenologischen Reflexion ist etwas, was sich nicht im Ich des Lebens, sondern in einem reinen Bewusstsein konstituiert«. Ebd., S. 543. Zubiri war nicht unbekannt, dass in dem phänomenologischen reinen Bewusstsein (dem »Ort der Wesen«) »allerlei konkrete und materiale Ideen« erscheinen. »Die Idee der Farbe ist zwar das Apriori der Farben, jedoch hat sie einen sinnlichen Inhalt«. Ebd., S., 601. Hierzu bemerkt er jedoch, dass das materiale Apriori sich nicht auf die reale Subjektivität zurückbeziehe, sondern eine eigene Seinsdimension ausmache. Ebd. Es handle sich hierbei um die »Sachen selbst« der Phänomenologie, sofern sie der objek­ tive Bezugspunkt einer intentionalen Korrelation seien, in welche das »reine Bewusst­ sein« als das subjektive Korrelat einbezogen werde. Es gehe allerdings noch nicht um die realen Sachen selbst, sondern lediglich um die gesehenen, so Zubiri weiter. 105

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12. Die Wende von Sobre la esencia. Die Frage nach den realen Wesenheiten

unmittelbar wahr, hantiert möglicherweise mit ihm usw.106 Erst durch die Reflexion wird er sich des Momentes bewusst, in welchem die »Washeit« (talidad)107 eines Gegenstandes erscheint: »Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf mein Erlebnis richte, dann erscheint mir das, was die Kreide ist. Sie hat Wirklichkeit eingebüßt, um Wahrheit zu gewinnen […]«108. Der Schwerpunkt der kritischen Auseinandersetzung Zubiris mit der Phänomenologie in den Jahren 1931 bis 1932 liegt nicht auf einer Infragestellung des Wahrheitswertes der Wesensanschauung – ja nicht einmal auf der dazu führenden phänomenologischen Reduktion. Zubiri nahm sich vielmehr vor, die Phänomenologie der wahren Sachen bzw. der Wesen durch eine Philosophie der realen Sachen zu ergänzen bzw. voranzutreiben. Zu diesem Grund bemühte er sich darum, dem klassischen Begriff des Wesens jene Aktualität (im Sinne des Wirklich- und Wirksamseins) zurückzuerstatten, die im reinen Bewusstsein und der Wesensanschauung verloren gehe. Dreißig Jahre später veröffentlichte Zubiri sein monumentales Werk Sobre la esencia (Vom Wesen)109, dessen drittes Kapitel (»La esencia como sentido«) dem phänomenologischen Wesensbegriff110 gewidmet ist. Zubiri vergleicht ihn hier mit der realen Einheit der Dinge, sofern sie eine intrinsische und nötigende (necesitante) ist.111 Es handelt sich hierbei um das dem realen Ding inhärente und sich in seinen realen »[…] la mente va disparada a la cosa«. Ebd., 537. Der spanische Neologismus »talidad« tritt als ein terminus technicus bei Zubiri auf. Er substantiviert das Modaladverb »tal« (das sich mit »so«, »Sosein« übersetzen lässt), um die »Sobeschaffenheit«, das Wesen der Dinge und die Eigenschaften zu bezeichnen, deren systematisches Gefüge eine bestimmte Realität ausmacht. Vgl. Thomas Fornet-Ponse (2010): Xavier Zubiri interkulturell gelesen. Nordhausen: Trau­ gott Bautz, S. 46–47. Wie Fornet-Ponse bemerkt, wollte Zubiri die Perspektive der Talität bzw. der Ordnung des Sobeschaffenseins um die Perspektive der Transzenden­ talität bzw. des »Darüberseins über jegliche Talität« ergänzen. Zubiri verschiebt somit den Akzent von der Wesensanschauung zu einer den Dingen selbst eigenen trans­ zendentalen Funktion, wodurch sie sich als reale Wesenheiten bzw. Systeme von kon­ stitutiven Eigenschaften konstituieren. 108 Zubiri (2007): S. 537. 109 Xavier Zubiri (2016): Sobre la esencia (2016). Hg. von Antonio González und Diego Gracia. Madrid: Alianza Editorial/Fundación Xavier Zubiri (dt. Fassung: Xavier Zubiri (1968): Vom Wesen. Übersetzt von Hans Gerd Rötzer. München: Max Hue­ ber Verlag). 110 Zubiri (2016). S. 23–32 (in der deutschen Fassung: S. 22–29). 111 »Wir fragen uns […]: Worin besteht die primäre, notwendig bedingende Einheit des realen Dinges?« Zubiri (1966): S. 22. 106

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

Merkmalen entfaltende wirksame Wesen. Mit dem Konzept einer notwendigen Wesensstruktur der realen Dinge versuchte Zubiri, einen Schritt weiter zu gehen als Husserl, der den realen Dingen eine faktische Notwendigkeit zuschrieb. Dieser halte nämlich die Naturgesetze für zufällige,112 wobei er die Notwendigkeit stricto sensu in dem einheitlichen Sinn eines intentionalen Gegenstandes bzw. Noemas verorte. Laut Zubiri hatte sich ein solches Weglassen des notwendigen bzw. innerlich nötigenden Wesens der realen Dinge daraus ergeben, dass Husserl die Wesenserkenntnis erst im Wechsel von der natür­ lichen Einstellung in die phänomenologische Einstellung verortete. Nach der phänomenologischen Reduktion hat man es nicht mehr mit den wirklichen und wirksamen Aktvollzügen zu tun, sondern nur mehr mit dem Bewusst- bzw. Gewahrwerden des intentiona­ len Gegenstandes. Er tritt als ein rein Erfasstes bzw. das intentum des (»von« dem) reinen Bewusstseins auf. Das »von« bezeichnet jetzt die Richtung des Bewusstseins auf das Eidos des gesehenen Gegenstandes, jedoch nicht mehr den ursprünglicheren Moment der intellektualen Auffassung eines realen Wesens im realen Aktvollzug. Deswegen bedeutet die phänomenologische Wesenserkenntnis in Zubiris Augen weiter nichts als die durch die Suche nach Wahrheit und Evidenz motivierte Auslegung einer Sinneinheit bzw. »Washeit« des intentionalen Gegenstandes, der in einem Bewusstseinsmodus gegeben wird113: 112 »Für Husserl ist Realität Individualität, also kontingenter Natur. Sie ist ein Faktum. Deshalb sind die Naturgesetze bloße Tatsachengesetze, faktische Regeln des Faktischen«. Ebd. Die Frage, ob Zubiri sein Konzept der notwendigen, realen Wesen mit Blick auf die Naturwissenschaften entwickelte und sich vom phänomeno­ logischen Konzept einer faktischen Notwendigkeit der Dinge distanzierte, verdient Aufmerksamkeit. Man hat Husserl vorgeworfen, eine instrumentalistische Theorie der Naturwissenschaften entwickelt zu haben, indem er sie weniger als eine tiefge­ hende Realitätserkenntnis denn als die wohlbegründete Vorhersage von Tatsachen begriff. Es ist ein Verdienst von Lee Hardy, diese Problematik der Husserl’schen Phä­ nomenologie angesprochen zu haben, um andere Aspekte ihres Verständnisses von Physik hervorzuheben. Lee Hardy (2013): Nature’s Suit. Husserl’s Phenomenological Philosophy of the Physical Sciences. Ohio/Athens: Ohio University Press. 113 Man hat Zubiri vorgeworfen, die eidetische Reduktion und die transzendentale Reduktion verwechselt zu haben, indem er das reine Phänomen mit einem erschei­ nenden Wesen bzw. Eidos gleichstellte. Dieser Vorwurf ist zum Teil gerechtfertigt. Gleichwohl kritisiert Zubiri selbst eine solche Verwechslung in seinem Kurs der Jahre 1931/1932: »Der Bewusstseinszustand, den die Phänomenologie in Betracht zieht, ist keine Wirklichkeit. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass die Phänomenologie nichts

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Husserl hat das Problem des Wesens auf die Bahn des Wissens umgeleitet, d. h. auf die Bahn des Bewusstseinsaktes, durch welchen das Ich das Wesen erfasse. Auf diese Weise ist das Wesen jedoch von vornherein unrettbar verloren und kann niemals wiedergewonnen werden. Husserls Phänomenologie gibt grundsätzlich nicht Aufschluss darüber, was etwas ist, sondern immer nur, welcher Art der modus des Bewusstseins ist, in dem es sich gibt. Mit seinen berühmten ›reinen Wesenswahrheiten‹ sagt er uns nie, was das Wesen ist, sondern nur, was das ist, das sich uns im absoluten Modus des Bewusstseins gibt. Dieses ›Was‹ nennt er ohne Bedenken Wesen […]. Husserl hat schon im ersten Ansatz seiner Fragestellung das Wesentliche der Realität verloren, weil er sich von den Dingen selbst ab- und – zugunsten des absoluten Wissens – dem Bewusstsein zuwandte. Er kann höchstens noch zu einer Art ›wesentlichem Denken‹ – oder wie er sagt: ›Wesens­ schau‹ – vorstoßen, aber niemals zum Wesen der Dinge.114

Es ist fraglich, ob diese kritische Lektüre der eidetischen Phänome­ nologie Husserls ins Ziel trifft. Sie offenbart jedoch immerhin ein interessantes Leitmotiv von Zubiris späterer Philosophie der Realität. Er verschob den Akzent auf eine Erkenntnis der realen Wesenhei­ über die Bewusstseinszustände sagen darf. […] Bei der phänomenologischen Reduk­ tion hat die Gesamtheit des realen Lebens nicht nur keine Wirklichkeit, sondern sie wird nicht als eine Tatsache angesehen. Man hat üblicherweise die phänomenologi­ sche Reduktion mit der eidetischen Reduktion verwechselt. Zwar zielt jede Phäno­ menologie darauf ab, etwas Wesentliches über die Sachen zu sagen, jedoch sucht sie ein solches Sagen innerhalb der phänomenologischen Reduktion.« Zubiri (2007): S. 542. Das Missverständnis Zubiris bezüglich der eidetischen Phänomenologie liegt weniger darin, dass er sich die phänomenologischen Wesenheiten als diamantene Essenzen vorstellt oder hartnäckig die phänomenologische Reduktion mit der eideti­ schen Reduktion identifiziert, als dass er die feste Verankerung der Wesensanschau­ ung (sowie des »reinen Bewusstseins«) in der Wirklichkeitserfahrung und der von einem realen Subjekt wiederholt ausgeführten – und immer weiter auszuführenden – variierenden Imagination übersieht. Denn es handelt sich bei der eidetischen Phä­ nomenologie nicht darum, die Frage nach dem Wesen der Gegenstände gewisserma­ ßen ohne jede Haltstelle auf die Bahn des Wissens umzuleiten. Die phänomenologi­ sche Reduktion, in welcher, wie Zubiri zugibt, die Wesenserkenntnis gesucht wird, schottet den wahrgenommenen Gegenstand keineswegs zugunsten einer Intensivie­ rung der Evidenz von der Wirklichkeit ab. Stattdessen eröffnet sie den Horizont seiner passiven Konstitution in der vorprädikativen Erfahrung – was die natürliche Einstel­ lung aufgrund ihrer unmittelbaren Richtung auf die Gegenstände nicht thematisiert. Zubiri hat diesen Ansatz einer genetischen Phänomenologie Husserls paradoxerweise vernachlässigt, obwohl er für die Weiterentwicklung seines Konzeptes der Aktuali­ sierung der Realität in einer empfindenden Intelligenz relevant gewesen wäre. 114 Zubiri (1966): S. 25.

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ten der Dinge, die der Wesenserkenntnis bzw. der Betrachtung der intentionalen Gegenstände als Sinneinheiten vorangeht und ihr Fun­ dament bildet.115 In seinen Cinco lecciones de filosofía, die er kurz nach dem Erscheinen von Sobre la esencia veröffentlichte, fasst Zubiri seine Interpretation der Phänomenologie Husserls zusammen.116 Nach ihm hat Husserl einen ähnlichen Ausgangspunkt wie Descartes: Beide Denker bezweifeln alles, was nicht evident gegeben ist. Daher nimmt ihre Philosophie mit einer Reflexion auf die evidente Selbstgegeben­ heit des Ego ihren Anfang. Husserl geht noch einen Schritt weiter als Descartes, indem er das cogitatum bzw. das intentionale Objekt als solches mit in Betracht zieht. Wie Ortega y Gasset betont auch Zubiri, dass die Philosophie Husserls nicht nur das ego cogito cogitatum zum Thema habe, sondern auch das ego cogito cogitatum qua cogitatum. Damit rechnet Zubiri es 115 Die ersten Leser von Sobre la esencia interpretierten dies als einen Überrest scho­ lastischer Metaphysik im Denken Zubiris. Die Autoren der monumentalen Biographie Zubiris La soledad sonora schildern die Atmosphäre der frühen Rezeption von Sobre la esencia wie folgt: »Prominente der spanischen Philosophie wie María Zambrano, Julián Marías, Gaos und García Bacca, die das Stereotyp eines Heideggerianischen Zubiri vor Augen hatten und mit ihm während der Zeit der spanischen Republik umgingen, fühlten sich enttäuscht. Die Philosophie Zubiris erschien ihnen als eine abstruse und altmodische realistische Metaphysik, die einen naiven, vorkritischen Charakter hatte. Nach ihnen hatte diese Metaphysik kein praktisches Interesse und ließ sich kaum mit den Problemen des realen Lebens verbinden […]. Die Rezeption in Lateinamerika war im Gegenteil positiv. Das Werk gewann eine neue Generation von Philosophen für sich, die eine andere Metaphysik als die neuzeitliche Metaphysik in ihm entdecken konnten. Sie hielten die neuartige Metaphysik Zubiris für das Ver­ ständnis der lateinamerikanischen Realität für tauglicher«. Corominas et Vicens (2006): S. 619. Zubiris Philosophie der Realität wirkte sich auf die Theologie der Befreiung von Ignacio Ellacuria wie auch auf die Philosophie der Befreiung Enrique Dussels aus. Größtenteils dank des Denkens Zubiris entwickelten beide Denker ein neues Konzept von historischer Realität, wodurch sie die sozialen Umstände Latein­ amerikas verstehen und verändern wollten. Zur Rezeption der Metaphysik der Rea­ lität Zubiris in Lateinamerika siehe Antonio González (2009): »La prolongación de Xavier Zubiri en Latinoamérica«, in: Cuadernos salmantinos de filosofía, Nr. 36 (2009), S. 419–426. 116 Xavier Zubiri (2009): Cinco lecciones de filosofía. Con un nuevo curso inédito. Hg. von Antonio Pintor-Ramos. Madrid: Alianza Editorial/Fundación Xavier Zubiri. Die Cinco lecciones de filosofía von Xavier Zubiri sind das populärste Werk von Zubiri in Spanien und Lateinamerika. Zubiri hatte zunächst Vorbehalte gegen die Veröffentli­ chung dieser Vorlesungen, da er sie für eine bloße Darstellung philosophischer Lehren hielt. Sie enthalten jedoch aufschlussreiche Hinweise auf sein Konzept der Philosophie und der Philosophiegeschichte.

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13. Zubiris Noologie und Philosophie der Realität

Husserl als Verdienst an, den gedachten Gegenstand als solchen in den Vordergrund gestellt zu haben. Die Schwierigkeit liegt, wie Zubiri in Sobre la esencia bemerkt, darin, dass Husserl sich auf das Gedacht- oder Gegebensein des Wesens der Dinge beschränkte. Andererseits begriff Husserl das transzendentale Ich nach dem Mus­ ter seiner Korrelation zum Bewusstseinsmodus der intentionalen Gegenstände. Dieses transzendentale Ich ist kein reales Ich mehr, sondern ein idealer Pol der intentionalen Korrelation. Nach Zubiri erschöpft sich seine Existenz oder Seinsweise in der Richtung auf das reine Phänomen. Das intentionale »Bewusstsein von« werde durch die phänomenologische Beschaffenheit dessen, was in Klammern gesetzt und reduziert worden sei, nämlich durch das reine Weltphä­ nomen, durchbestimmt. Diese kritische Interpretation des Denkens Husserls bekräftigte Zubiri in seiner Überzeugung, dass eine gründliche Philosophie der Sache weder Phänomenologie der intentionalen Korrelation Bewusst­ sein-Welt noch Ontologie des Seinsverständnisses sein konnte wie bei Heidegger. Denn sowohl die phänomenologische Anschauung als auch jegliches Verständnis, selbst das des Seins, setzten eine ursprünglichere, »physische« Realitätserfahrung voraus (das Wort »physisch« betont hier den Vorrang des Realen in der menschlichen Intelligenz vor dem intentionalen Bewusstsein und dem Seinsver­ ständnis; es meint zudem die reale Anwesenheit und Aktualisierung des Realen in der empfindenden Intelligenz).

13. Zubiris Noologie und Philosophie der Realität Text 8 »Auszüge des Kurses Sobre la realidad (Über die Realität)« stellt die Leitlinien der »Noologie« – die Untersuchung der menschlichen empfindenden Intelligenz –117 als Grundlage für Zubiris Philosophie 117 »Das Ursprüngliche der Erkenntnis besteht darin, ein Modus der Intellektion zu sein. Deshalb setzt jede Erkenntnistheorie eine Untersuchung dessen voraus, was die Intelligenz, der Nous, strukturell und formal ist. Es handelt sich hierbei um eine Noo­ logie«. Xavier Zubiri (2011): Inteligencia sentiente. Bd. 1. Inteligencia y realidad. Madrid: Alianza Editorial/Fundación Xavier Zubiri, S. 11. Zum Begriff der Noologie Zubiris aus einer Husserl’schen Perspektive siehe Miguel García-Baró (2012): S. 155– 184 sowie Roberto Walton (1993): Husserl, mundo, conciencia y temporalidad. Buenos Aires: Editorial Almagesto, S. 47–54. Das Verhältnis der Noologie zur Husserl’schen Phänomenologie hat das Interesse der Zubiri-Forschung hervorrufen. Siehe hierzu:

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

der Realität dar. Der Kurs wurde als eine erste Antwort auf die kriti­ sche Rezeption von Sobre la esencia konzipiert.118 Zubiri wollte zeigen, dass sein Begriff des Wesens kein Postulat der scholastischen Essenz war, sondern auf der Analyse einer ursprünglichen Verflechtung der menschlichen Sinnlichkeit und Intelligenz bei der Wirklichkeitser­ kenntnis beruhte. Das Wort »empfindende Intelligenz« lässt sehen, dass Zubiri den traditionellen Dualismus Sinnlichkeit-Vernunft über­ winden wollte.119 Dies war nur möglich, wenn er der Anwesenheit des Realen in der menschlichen Sinnlichkeit Rechnung trug. Victor Manuel Tirado (2002): Intencionalidad, actualidad y esencia: Husserl y Zubiri. Salamanca: Publicaciones Universidad Pontificia de Salamanca, S. 159–302; Gracia (2008): S. 109–111; José Alfonso Villa (2014): La actualidad de lo real en Zubiri: crítica a Husserl y Heidegger. Mexiko: Plaza y Valdéz, S. 46–111. 118 Xavier Zubiri (2001): Sobre la realidad. Hg. von José A. Martínez. Madrid: Alianza Editorial/Fundación Xavier Zubiri. In seinem Kurs von 1968 Estructura dinámica de la realidad (Die dynamische Struktur der Realität), der sich nicht unabhängig von Sobre la realidad lesen lässt, antwortet Zubiri auf den Einwand, Sobre la esencia vertrete eine statische Konzeption von Realität. In Estructura dinámica de la realidad nimmt er sich vor, zu zeigen, dass seine Philosophie der Realität mit einem Konzept des realen Weltwerdens zusammengehöre. Dieses metaphysische Vorhaben lässt sich jedoch nicht von der Noologie trennen, sondern ergänzt und vertieft sie. Siehe Xavier Zubiri (2006): Estructura dinámica de la realidad. Mit einem Vorwort von Diego Gracia. Madrid: Alianza Editorial/Fundación Xavier Zubiri; Guillermo Ferrer (2021): »Die Unwiderruflichkeit des Weltwerdens. Zu einer Phänomenologie der Anzestralität«, in: Guillermo Ferrer, Sylvaine Gourdain, Nicolás Garrera-Tolbert und Alexander Schnell (Hg.) (2021): Phänomenologie und spekulativer Realismus. Phenomenology and Speculative Realism. Phénoménologie et réalisme speculative. Orbis Phänomeno­ logicus. Perspektiven. Neue Folge 33. Würzburg: Königshausen & Neumann, S. 81– 82. 119 Das Verb sentir kann sich im Spanischen auf die Funktion der Sinnesorgane oder auf das Fühlen beziehen. Die Übersetzung »empfindende Intelligenz« unterstreicht den ursprünglichen Akt der inteligencia sentiente als Auffassung der Realität in den Sinneseindrücken und den Empfindungsdaten. Für Zubiri wendet sich die Intelligenz in erster Linie den sensorischen Reizen und den sinnlichen Qualitäten der Gegen­ stände zu, die sie als real, »de suyo« (»von sich aus«) auffasst oder erkennt. Dieses ursprüngliche sinnlich-intellektuelle Erfassen der Realität liegt dem eigentlichen Füh­ len zugrunde. Zubiri begreift die Gefühlssphäre als eine von der Realität »getönte« (tonificada) Seinsweise. Sobald der Mensch die Wirklichkeit empfindend auffasst, fühlt er sich von ihr emotional affiziert. In diesem Punkt steht Zubiri Brentano und Husserl nahe, die das Gefühls- und Affektleben auf dem Vorstellen gründen lassen. Zubiris Schwerpunkt liegt wiederum auf der Beschreibung des Affektiven als einer Sphäre, die von der Realität selbst hervorgebracht und gefärbt wird. Siehe hierzu Xavier Zubiri (2015): Sobre el sentimiento y la volición. Hg. und mit einem Vorwort versehen von Diego Gracia. Madrid: Alianza Editorial/Fundación Xavier Zubiri, S. 328–343].

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13. Zubiris Noologie und Philosophie der Realität

Zubiri setzt sich hier erneut mit der Husserl’schen Phänomenolo­ gie auseinander. Der phänomenologische Sinnlichkeitsbegriff basiert auf einer Deskription der Auffassung sinnlicher Daten durch inten­ tionale Akte. Erst dank dieser Auffassung bezieht sich das Bewusst­ sein intentional auf Gegenstände. Für Zubiri lag die Problematik dieser Konzeption im Begriff der sinnlichen Materie oder Hyle, die übrigbleibt, wenn man von der intentionalen Auffassung absieht. Husserl bezeichnete sie als ein »phänomenologisches Residuum« des intentionalen Wahrnehmungsaktes.120 Zubiri stellt diesen Ausdruck infrage, weil er das Eigentümliche des sinnlichen Datums nicht in seinem residualen Charakter sieht, sondern in der Anwesenheit des Realen durch Impression. »[…] Sinnlichkeit in einem engeren Sinne bezeichnet das phänomenologische Residuum des in der normalen äußeren Wahrnehmung durch die ›Sinne‹ Vermittel­ ten«. Edmund Husserl (1976): Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomeno­ logischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenolo­ gie. Husserliana Bd. III/1. Hg. von Karl Schuhmann. Den Haag: Martinus Nijhoff, S. 193. Zubiri erwähnt in dem Text nicht, dass für Husserl die Materie oder Hyle eine Urimpression des Bewusstseins ist und die Sinnlichkeit auch Gefühle und Triebe umfasst. Der Schwerpunkt der Kritik Zubiris lag jedoch woanders: Husserl ordne die Hyle bzw. den sinnlichen Stoff den Funktionen des intentionalen Bewusstseins unter, wobei er die Anwesenheit des Realen in der Sinnlichkeit im Dunkeln lasse. Unveröf­ fentlichte Materialien des Zubiri-Nachlasses zeigen, dass er den phänomenologischen Grundbegriff der Urimpression als einen subjektiven Stoff der intentionalen Erleb­ nisse interpretierte. Er schreibt z. B.: »[Die Urimpressionen] sind strenggenommen Bestandteile meines noetischen Erlebnisses, sofern es mein Erlebnis ist; in dieser Hinsicht sind die Urimpressionen subjektiv.« Zubiri hat die Vorlesungen zur Phäno­ menologie des inneren Zeitbewusstseins gelesen, dennoch übersah er, dass Husserl zumindest hier die entscheidende Frage nach dem bewusstseinsfremden Charakter der Urimpression aufwirft. »[…] Bewusstsein ist nichts ohne Impression […]; dagegen […] ist [die unmodifizierte Urimpression] nichts Bewusstseins-Erzeugtes, es ist das Urgezeugte, das ›Neue‹, das bewusstseinsfremd Gewordene, Empfangene, gegenüber dem durch eigene Bewusstseinsspontaneität Erzeugten«. Edmund Husserl (1966): Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917). Husserliana Bd. X. Hg. von Rudolf Boehm. Martinus Nijhoff: Den Haag, S. 109. Diese phänomenologische Deskription eines Fremdheitsmoments der Urimpression lässt sehen, inwiefern die Frage nach einer Impression der Realität im Ursprung des intentionalen Bewusstseins der Husserl’schen Phänomenologie durchaus nicht fremd war. Zur Interpretation die­ ser Stelle der Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins siehe László Tengelyi (2006): L’expérience retrouvée. Essais philosophiques I. Paris: L’Har­ mattan, S. 33–49; siehe hierzu auch Guillermo Ferrer (2015): Protentionalität und Urmpression. Elemente einer Phänomenologie der Erwartungsintentionen in Husserls Analyse des Zeitbewusstseins. Orbis Phänomenologicus Studien 36. Würzburg: Königshausen & Neumann. 120

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Zubiri war nicht unbekannt, dass Husserl von einer »leibhafti­ gen« Präsenz des Gegenstandes in der Wahrnehmung spricht. Er stimmte zu, dass dieses phänomenologische Konzept einen großen Fortschritt implizierte. Die Frage war, ob Husserl diese Entdeckung weiter erläutere. Nach Zubiri hat er die sinnliche Anschauung der Bewusstseinsintentionalität untergeordnet, wobei er das Moment der anschaulichen Darstellung spezifischer Inhalte, jedoch nicht dasjenige der empfindend-intellektualen Auffassung des Realen durch Impres­ sion beschrieb. Gleichwohl sollte sich Letzteres unabhängig von den kognitiven oder intentionalen Funktionen analysieren lassen, die ein erkennendes Subjekt oder ein sinngebendes Bewusstsein dem sinnli­ chen Stoff nachträglich verleiht. Hierfür war eine Neubetrachtung des Impressionsbegriffes entscheidend. Zubiri argumentiert, dass sich die Darstellung von sinnlichen Inhalten in der Anschauung nicht mit einer Anwesenheit des realen Gegenstandes als solcher gleichstellen ließe. Diese ereigne sich viel­ mehr im Moment der Auffassung spezifischer sinnlicher Inhalte als Eigenschaften »von sich aus« (de suyo) der realen, die menschliche Sinnlichkeit affizierenden Dinge. Dadurch revolutionierte Zubiri den neuzeitlichen Impressionsbegriff. Während er zuvor lediglich »sub­ jektive Affektion« bedeutete, entsubjektivierte Zubiri ihn, um ein Alteritätsmoment der Affektion hervorzuheben. Es gilt dem Moment der ursprünglichen Anwesenheit der affizierenden realen Dinge in der Sinnlichkeit, welcher das ganze Wesen der Impression ausmacht und mit einer intellektualen Auffassung des »de suyo« (»von sich aus«) der realen Dinge zusammengehört. Dieses »von sich aus« ist die Form der Realität (formalidad de realidad),121 welche die empfindende Intelli­ genz ursprünglich – auf eine impressional-sinnliche und intellektuale Weise – auffasst. Erkenntnisvermögen und Sinnlichkeit sind bei der Impression der Realität eng miteinander verbunden. Der Mensch empfindet impressional nicht nur einen sinnlichen Inhalt, sondern er fasst ihn als eine so oder so bestimmte reale Eigenschaft eines realen Dinges auf. Anders ausgedrückt: Der Mensch schaut einen spezifischen Inhalt 121 In den wenigen deutschen Übersetzungen von Zubiris Werken und Monographien über seine Philosophie wird der wichtige terminus technicus »formalidad de realidad« mit »Formalität der Realität« oder »Formalität-Realität‘“ übersetzt. Um das missver­ ständliche »Formalität« im Deutschen zu vermeiden, ziehe ich den Ausdruck »Form der Realität« vor. Für Zubiri handelt es sich um die Form, in der die Realität in der Intelligenz aufgefasst wird und dort verbleibt, während sie zugleich empfunden wird.

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13. Zubiris Noologie und Philosophie der Realität

an und fasst zugleich das Alteritätsmoment der Impressionen bzw. das den Dingen zugehörige »von sich aus« als ihre Form der Realität (formalidad de realidad) auf. Inhalt und Realität bilden die zwei Momente der sinnlichen Impression; aus diesem Grund bezeichnet Zubiri sie als »Realitätsimpression« (impresión de realidad), die der menschlichen Sinnlichkeit eigen sei. Diese noologische Analyse der Realitätsimpression stellt die Basis für eine philosophische Anthropo­ logie und eine Philosophie der Realität dar. Denn der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich kraft seiner empfindenden Intelligenz in der Realität als solcher befindet. Zubiris Analysen zur tierischen Sinnlichkeit im Vergleich zur menschlichen erscheinen heute, betrachtet man sie vom Standpunkt der neuesten Biologie und Forschung zum kognitiven Verhalten der höheren Tiere, begrenzt. Sie lassen jedoch die Originalität seiner Noologie erkennen. Indem der Mensch einen sinnlichen Reiz als Reiz einer Realität auffasst, hat er es auf ursprüngliche Weise mit seiner Umwelt als einer realen zu tun.122 Der Mensch reagiert nicht auf sinnliche Reize, sondern auf Reize von realen Dingen, sofern er ihren formalen Realitätscharakter auffasst. Diesen letzten Punkt muss man richtig einordnen: Form der Realität (formalidad de realidad) bedeu­ tet keine subjektive Struktur (wie eine Vernunftkategorie), die der Mensch auf die Realität anwendet oder ihr hinzufügt. Die Auffassung der Form der Realität (formalidad de realidad) der sinnlichen Inhalte, d. h. des Charakters »von sich aus«, der jedem realen Ding eignet, gehört mit der sinnlichen Impression unmittelbar zusammen. Sie ist die Spur, die die Affektion der realen Dinge in der menschlichen Intelligenz hinterlässt. Zubiri begreift die empfindende Intelligenz als einen psycho­ physischen Akt, der durch die Realität ausgelöst wird. Sie besteht in keiner synthetisch-konstruktiven Funktion, nicht einmal in der Intentionalität. Dem intentionalen Moment des Bewusstseins bzw. des Gewahrwerdens liegt die Impression der Realität zugrunde.123 Ortegas Gedanke der Korrelation Ich-»Umstände« findet hier einen Nachhall. Zubiri hat die genetische Phänomenologie der passiven Synthesis und des posthu­ men Werkes Erfahrung und Urteil von Husserl nicht berücksichtig oder gekannt. Man sieht, dass der Schwerpunkt einer kritischen Auseinandersetzung der Phänomenolo­ gie Husserl’scher Provenienz mit der Philosophie Zubiris weniger in der Widerlegung seiner »essentialistischen« Interpretation als in der Klärung phänomenologischer Grundbegriffe wie Urimpression, Affektion, passive Synthesis und Intentionalität in Bezug auf die Wirklichkeitserfahrung liegen sollte. 122

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

Die empfindende Intelligenz besteht weniger in einer deutenden Auffassung der sinnlichen Daten als im Geschehen einer Zuwen­ dung des Menschen zur Realität. Diese bricht impressionell in die menschliche Sinnlichkeit ein und aktualisiert sich als Form in der empfindenden Intelligenz. Durch sie wird der Mensch »physisch« und nicht ursprünglich »intentional« auf die Realität – Zubiri präzisiert: auf die »Transzendentalität der Dinge«, d. h. die Transzendenz ihres »Von sich aus«-Charakters – verwiesen.124 Die lange Auseinandersetzung Zubiris mit der Phänomenologie endete in dem Konzept einer empfindenden Intelligenz als progres­ siver Übernahme der Realität durch den Menschen. Zubiri nahm die phänomenologische Intentionalitätslehre in seine Noologie auf, wobei er sie einer Deskription der Intellektion unterordnete, welche die Grundlage für eine Philosophie der Realität darstellt. Gemeint ist keine gesonderte, dastehende Realität.125 Zubiri hielt sich an eine Analyse der Korrelation zwischen der Intelligenz und der sich in ihr aktualisierenden Realität, wie sie ursprünglich gegeben oder durch die Naturwissenschaften erklärt wird. Man darf in gewisser Hinsicht sagen, dass die Philosophie Zubiris eine »häretische Phänomenolo­ gie« ist, um einen Ausdruck von Paul Ricœur zu gebrauchen. Eine

124 Zubiri hat den Begriff der,empfindenden Intelligenz‘ vor dem Hintergrund der Evolutionsbiologie geprägt. Der Mensch hat sich im Verlauf der Naturgeschichte zu einem »hyperformalisierten Tier« entwickelt, da das Überleben eines Hominiden durch instinktive Reaktionen auf Reize nicht mehr sicher war. Der Mensch musste aus Not die Realität als solche übernehmen. Die ursprüngliche Verweisung des Menschen auf Realität lässt sich demnach metaphysisch betrachten. Der Mensch wird nicht nur auf die Realität verwiesen, sondern auch auf ihren Grund. Es handelt sich hierbei ferner um das Konzept der »religación« (vom lateinischen religatio), die im Mittelpunkt der Philosophie der Religion von Zubiri steht. Siehe hierzu Gracia (2008): S. 211–326. 125 Ist damit gemeint, dass man, um die Realität als solche zu begreifen, über die anschauliche Deskription hinausgehen und einen Raum für die theoretische und wis­ senschaftliche Erklärung schaffen muss, besteht zweifellos ein Konsens zwischen der Husserl’schen Phänomenologie (die so sehr auf den Begriff des Horizonts angewiesen ist) und Zubiris Philosophie der Realität. Abgesehen von dem Unterschied zwischen den beiden gibt es jedoch einen Aspekt, unter dem Zubiri immer Phänomenologe bleibt: Sein Realismus trennt sich keineswegs von dem noologischen Ausgangspunkt, den die Realität selbst hervorbringt. Er kehrt immer wieder zu diesem Ausgangspunkt zurück, um ihn durch Theorie und Erklärung zu bereichern. Der phänomenologische Realismus Zubiris überzieht so niemals das Reale mit einer Begrifflichkeit und Terminologie, die, ohne sich dazu zu bekennen, ihren Ursprung im Subjekt hat und sich dennoch rühmt, es ausschließlich mit der Realität selbst zu tun zu haben.

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14. Neue phänomenologische Ansätze bei zwei spanischen Philosophinnen und Exilautorinnen: Rosa Chacel und María Zambrano: Die Debatte über die Geschlech­ terdifferenz

solche Bezeichnung schmälert keineswegs ihre Originalität.126 Ein Dialog zwischen der gegenwärtigen Phänomenologie, welche die Frage nach der Realitätserfahrung in den Mittelpunkt ihrer Forschun­ gen stellt, und der Philosophie Zubiris ist daher ausgesprochen viel­ versprechend.127

14. Neue phänomenologische Ansätze bei zwei spanischen Philosophinnen und Exilautorinnen: Rosa Chacel und María Zambrano: Die Debatte über die Geschlechterdifferenz Alle Schüler Ortega y Gassets entwickelten seinen Begriff der vitalhistorischen Vernunft weiter und wandten diesen auf verschiedene philosophische Problembereiche an.128 So bildete beispielsweise die »Wenn wir als Phänomenologie nur das bezeichnen, was Husserl begründet hat, oder zumindest die Art und Weise, wie er es begründet hat, dann ist die Phänome­ nologie Husserl. Es sollte keine Diskussion darüber geben, dass Scheler, Heidegger und Husserl deutlich voneinander abweichen. Aber von einem anderen Standpunkt aus darf man die Frage stellen, ob man im Husserl’schen Werk zwischen einer phä­ nomenologischen Philosophie und der Art und Weise, wie Husserl sie verkörperte, unterscheiden darf«. Xavier Zubiri (2002): Sobre el problema de la filosofía y otros escritos (1932–1944). Hg. von Germán Marquínez. Madrid: Alianza Editorial/Fund­ ación Xavier Zubiri, S. 186. 127 Wie László Tengelyi bemerkt hat, gibt es in der heutigen Phänomenologie, vor allem in der französischen Phänomenologie von Emmanuel Levinas bis Marc Richir, eine ausgeprägte Tendenz zur Beschreibung und Analyse von spontanen Prozessen der Sinnbildung. Erfahrung wird demnach als das Entstehen eines neuen Sinnes begriffen. Siehe Tengelyi (2006): S. 13–14. Folglich gilt die Erfahrung nicht mehr ausschließlich als Domäne eines reinen Bewusstseins und seiner intentionalen Erleb­ nisse. Erfahrung ist nun vielmehr eine Instanz, in der das Subjekt immer wieder von der Wirklichkeit auf die Probe gestellt wird. Die Realitätsfrage erfährt in der gegen­ wärtigen Phänomenologie in Auseinandersetzung mit dem spekulativen Realismus noch eine Zuspitzung. Siehe auch Alexander Schnell (2019): Was ist Phänomenologie? Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann, S. 135–182; Ferrer, Garrera-Tolbert, Gour­ dain und Schnell (2022). 128 Nach einigen Historikern der spanischen Philosophie bildet Zubiri hier eine Aus­ nahme. Im Unterschied zu Gaos, Rodríguez Huéscar, Zambrano und Granell sagt er an keiner Stelle ausdrücklich, dass er den Perspektivismus, den Historismus oder den Vernunftbegriff Ortegas weiterentwickeln wolle. Man kann m. E. dennoch zeigen, dass Ortegas Deskription der primären Realität als die Korrelation oder das Geschehen Ich»Umstände« eine tiefe Resonanz in der Noologie und dem Realitätsbegriff Zubiris fand. Zum Einfluss von Ortega auf Zubiri siehe Gracia (2008): S. 51–66. 126

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

Zeitschrift Revista de Occidente in den 1920er Jahren den Schauplatz für eine Debatte über die Geschlechterdifferenz und die Rolle der Frau in der Kulturgeschichte. 1923 und 1925 erschienen Übersetzungen zweier Aufsätze von Georg Simmel, »Lo masculino y lo femenino. Para una psicología de los sexos« und »Cultura femenina«.129 Zu dieser Zeit begann Ortega y Gasset, eine Reihe von Essays zum Phänomen und zur Geschichte der Liebe zu schreiben, in denen er das Wesen der Frau und ihre Rolle bedenkt.130 Gleichwohl vertritt er eine Konzeption der Frau, die heute obsolet erscheint. Seine Beschrei­ bung des Weiblichen als Ideal oder Illusion des Mannes, welcher strenggenommen das alleinige Subjekt der Kultur darstellt, zählt zu dem, was Elena Laurenzi treffend als eine dualistische Metaphysik der Geschlechter bezeichnet.131 Es handelt sich hierbei um eine mit jahrhundertealten Vorurteilen belastete Ideologie, die durch essentia­ Siehe Georg Simmel (1919): Philosophische Kultur. Gesammelte Essais von Georg Simmel. Zweite, um einige Zusätze vermehrte Auflage. Leipzig: Alfred Kröner Verlag. Rosa Chacel bezog sich auf folgende ins Spanische übertragene Aufsätze: Jorge Simmel (1923): »Lo masculino y lo femenino. Para una psicología de los sexos« (ohne Angabe des Übersetzers im Original), in: Revista de Occidente, Band V (1923), S. 218–236; Jorge Simmel (1925): »Cultura femenina« (ohne Angabe des Übersetzers im Original), in: Revista de Occidente, Bd. VII (1925), S. 273–301 und Bd. VIII (1925), S. 171–199. Für die Rezeption Georg Simmels in Spanien siehe Niklas Schmich (2021): »Spanien«, in: Simmel-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. von Jörn Bohr, Gerald Hartung, Heike Koenig und Tim-Florian Steinbach. Stuttgart/Weimar: Metzler, S. 521–522. Zur Auseinandersetzung Ortegas mit dem Werk Simmels siehe Schmich (2021): »José Ortega y Gasset«, in: ebd.; S. 457–458. 130 Ortega stimmte anscheinend Simmels Ideen bezüglich der Unterschiede zwischen den Geschlechtern voll und ganz zu. In seiner Anmerkung zur Übersetzung »Lo mas­ culino y lo femenino« schreibt er: »Ich glaube nicht, dass es bisher eine schärfere und eindringlichere Analyse der Unterschiede zwischen der Psychologie des Mannes und der der Frau gibt als der vorliegende Aufsatz des Philosophen Georg Simmel. Ich empfehle den Lesern der Revista de Occidente eine aufmerksame Lektüre dieser außer­ gewöhnlichen Seiten, die so viel Licht auf den andauernden Konflikt zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen werfen«. José Ortega y Gasset (2017c): Obras com­ pletas III – 1917/1925. Madrid: Taurus, S. 556. 1926 erschienen »Para la historia del amor«. 131 Elena Laurenzi (2012): »Desenmascarar la complementariedad de los sexos. María Zambrano y Rosa Chacel frente al debate en la ›Revista de Occidente‹, in: Aurora, Nr. 13 (2012), S. 19. Zum Beitrag von Chacel und Zambrano zu den feministischen Theorien (und seinen historischen Grenzen) siehe auch Elena Laurenzi (2015): »Love Lessons: María Zambrano and Rosa Chacel in the footsteps of Diotima«, in: Journal of Spanish Cultural Studies (2015); http://dx.doi.org/10.1080/14636204.2015.111 6735; Natalia Andrea Salinas-Arango (2019): »Mujer, filosofía y política. Acercami­ ento al pensamiento de María Zambrano«, in: Eidos, Nr. 31 (2019), S. 174–195; María 129

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14. Neue phänomenologische Ansätze bei zwei spanischen Philosophinnen und Exilautorinnen: Rosa Chacel und María Zambrano: Die Debatte über die Geschlech­ terdifferenz

listische Definitionen die Rollen der Frau und des Mannes in der Kulturgeschichte versteinert hatte. Rosa Chacel (1898–1994) und María Zambrano (1904–1991), Schülerinnen von Ortega und regelmäßige Mitwirkende an der Revista de Occidente, setzten sich entschlossen mit der Metaphysik der Geschlechter auseinander. Bereits 1928 plädierte Zambrano für einen »integrativen Feminismus«, durch den die Frau ihre Welt einbringen könnte. In ihrem Aufsatz »Eloísa o la existencia de la mujer« (1945) stellt sie die philosophische Konzeption der Frau im Abendland infrage.132 Sie betrachtet das Problem hier aus einer geschichtlichen Perspektive: Bereits im Jahre 431 habe das Konzil von Ephesos – durch Stimmenmehrheit – festgestellt, dass Mann und Frau gleichermaßen eine Seele besäßen. Diese metaphysische Gleichheit aber habe sich historisch niemals durchgesetzt, so Zambrano. Denn man gestattete der Frau zwar, sich mit ihrer Seele zu identifizieren, sprach ihr jedoch zugleich den schöpferischen und »männlichen« Geist ab. Gleichwohl sei die Seele ein Vermögen, welches all das, was der Verstand aus­ schließe oder geringschätze, in sich aufnehme. Als Protagonistinnen der »Geschichte der Seele in der Welt« führten die Frauen somit seit jeher eine poetische Existenz. Zambrano versteht darunter eine Existenz, die sich nach einer dichterischen Vernunft ausrichtet, die keineswegs weniger Vernunft ist als der theoretische Logos. Der Ausschluss der Frau bedeutete im Grunde ihre Verbannung aus einem logozentrischen Begriff des Menschen. Ihm setzte María Zambrano das Konzept einer poetischen, reintegrierenden Vernunft entgegen, welche den Dualismus der Metaphysik der Geschlechter überwin­ det.133 Fogler (2016): »Las diferentes perspectivas de lo femenino en la obra de María Zam­ brano«, in: Aurora, Nr. 17 (2016), S. 44–52. 132 Der Aufsatz wurde ursprünglich in der argentinischen Zeitschrift Sur veröffent­ licht: María Zambrano (1945): »Eloísa o la existencia de la mujer«, in: Sur (1945), S. 35–58. Weitere Neuauflagen des Textes erschienen in: María Zambrano (1994): La razón en la sombra. Antología crítica. Hg. von Jesús Moreno Sanz. Madrid: Ediciones Siruela, S. 451–461 (Auszug) sowie María Zambrano (1995): Nacer por sí misma. Hg. von Elena Laurenzi. Madrid: Horas y horas, S. 90–113. 133 »Man könnte sagen, dass die Frau zwar wusste, dass sie die Besitzerin ihrer Seele war und sich mit ihr identifizierte. Dennoch wusste sie nicht, dass sie ein Geist, eine Schöpferin war […]. Aber die Seele ist nie allein. Schon Aristoteles sagte, dass die Seele in gewissem Sinne alles und wie eine Hand sei: ein Raum mit unbekannten Grenzen, in den allerlei Wesen, die verschiedenen Gattungen der Wirklichkeit, alle Dinge erneut aufgenommen werden können […]«. Zambrano (1994): S. 453–454.

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»Ein Entwurf der praktischen und gegenwärtigen Probleme der Liebe« (1931) – Text 9 – bietet eine Reflexion Rosa Chacels über die kritische Situation der Liebe, die sie als Anzeichen für die Krise des Menschen umdeutet. Für Chacel war die Frage nach der Geschlech­ terdifferenz keineswegs nebensächlich, da Phänomene wie der histo­ rische Ausschluss der Frau und die Homophobie die mangelnde Fähig­ keit des männlichen Bewusstseins widerspiegeln, einen Anderen als gleichberechtigt zu behandeln – was eine wesentliche Bedingung für die Liebe sei. Der Mann habe traditionell die Hervorbringung der Kultur für sich in Anspruch genommen und die Frau aus der Kulturgeschichte verbannt, indem er ihr zwar Qualitäten aus der Sphäre der Seele (z. B. »psychische Schönheit« oder den Wert eines »Ideals« bzw. einer normativen »Illusion«) zusprach, jedoch keine des Geistes. Chacel dekonstruiert diese dualistischen Theorien entschieden, indem sie zunächst zeigt, dass sie sich nicht auf Schelers Unterscheidung zwi­ schen Seele und Geist berufen dürften. Für Chacel besaß und besitzt die Frau ein präzises Gespür für die Kultur, weil sie wesentlich am Geist teilhat. Zwar hemmte man ihren Geist durch religiöse und soziale Vorurteile, aufheben konnte man ihn jedoch dadurch nicht. Daher erlaube eine Neubetrachtung der Geschichte, zu zeigen, inwie­ fern die Frau sei jeher eine Protagonistin der Kultur gewesen sei.134

Chacels Konzeption der Frau spiegelte sich in ihrer literarischen Produktion in Spanien und ihrem Exil in Lateinamerika und den USA wider. Drei Romane von ihr sind bis dato ins Deutsche übertragen worden: Rosa Chacel (1996): Teresa. Hg. von Peter Kultzen. Aus dem Spanischen von Michael von Killisch-Horn. München: Kirchheim Verlag; dies. (1991): Memoiren einer Elfjährigen. Leticia Valle. Roman. Hg. von Peter Kultzen. Aus dem Spanischen von Maralde Meyer-Minnemann. München: Kirchheim Verlag; dies. (1994): In der Oase. Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. München: Kirchheim Verlag. Zur Thematisierung der Frau im literarischen Werk Rosa Chacels siehe Cora Requena Hidalgo (2002): »La mujer en los textos de Rosa Chacel (1898–1994)«, in: Espéculo. Revista de Estudios Literarios; http://webs.ucm.es/info/ especulo/numero21/rchacel.html. 134

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15. María Zambrano: Dichterische Vernunft, die Metapher des Herzens, das Wissen über die Seele und das Phänomen des Traumes

15. María Zambrano: Dichterische Vernunft, die Metapher des Herzens, das Wissen über die Seele und das Phänomen des Traumes María Zambrano hat eher wenig über die Phänomenologie Edmund Husserls geschrieben. Man kann zwar einen Einfluss von Scheler und Heidegger auf ihre Philosophie der dichterischen Vernunft feststellen und Spuren ihrer Lektüre der Schriften Husserls nachverfolgen.135 Dennoch hat die Phänomenologie im Aufbau ihrer Philosophie der poetischen Vernunft keine ähnliche Rolle gespielt wie in der Gestal­ tung des Systems der historischen Vernunft Ortegas, der Philosophie der Philosophie Gaos’ oder der Noologie Zubiris. Die Überlegungen Zambranos zur Phänomenologie Husserls reichen bis zum Ende des Spanischen Bürgerkrieges und den Anfang ihres Exils in Mexiko zurück. Im Jahre 1939 veröffentlichte sie eine Rezension zu dem Aufsatz »Descartes y Husserl«136 von Fran­ cisco Romero. Sie bezeichnet dort den Begründer der Phänomeno­ logie als einen »unermüdlichen Arbeiter« und »Entdecker neuer Kontinente«.137 Denn wie Descartes musste sich Husserl darum Siehe die editorischen Anmerkungen von Fernando Muñoz Victoria in: María Zambrano (2016): Obras Completas II. Libros (1940–1950). Isla de Puerto Rico. Nost­ algia y esperanza de un mundo mejor. La confesión: género literario y método. El pen­ samiento vivo de Séneca. La Agonía de Europa. Hacia un saber sobre el alma. Hg. von Jesús Moreno Sanz in Zusammenarbeit mit Pedro Chacón Fuertes, Karolina Enquist Källgren, Sebastian Fenoy, María Luisa Maillard, Fernando Muñoz Victoria und Ricardo Tejada Mínguez. Barcelona: Galaxia-Gutenberg. S. 851. Karolina Enquist Källgren hat sich unlängst mit den philosophisch-geschichtlichen Quellen des Sub­ jektivitätsbegriffs bei María Zambrano befasst und zu ihrer Verbindung mit der Phä­ nomenologie Edmund Husserls geschrieben: »It is unknown exactly how much of Husserl’s work Zambrano knew first-hand, but she certainly references him, and should have had a good understanding of his philosophy from Ortega’s classes«. Karo­ lina Enquist Källgren (2019): María Zambrano’s Ontology of Exile. Expressive Subjec­ tivity. London: Palgrave Macmillan, S. 59. 136 María Zambrano (2016): S. 574–578. Der rezensierte Aufsatz Francisco Romero (1939): »Descartes y Husserl« erschien ursprünglich in: Escritos en honor de Descartes en ocasión del tercer centenario del Discurso del método. La Plata: Universidad Nacional de La Plata, S. 241–262. Sammelband Escritos en honor de Descartes, La Plata, 1938. Die Rezension erschien in der mexikanischen Zeitschrift Taller Nr. 6 (1939), S. 59–62 und später in der puerto-ricanischen Zeitschrift Nosotros, Nr. 48–49 (1940), S. 303– 304. Sie wurde später in María Zambrano (1940): Hacia un saber del alma. Buenos Aires: Losada, aufgenommen. 137 Ebd. 135

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bemühen, die Gefahr des Solipsismus abzuwenden, um die Objekti­ vität der Erkenntnis begründen zu können. Für Zambrano zeichnete sich die Phänomenologie Husserls dadurch aus, dass sie sich eines jeden metaphysischen Bezuges auf irgendein An-sich enthalte. Sie betrachtete diese Haltung als ein »philosophischen Misstrauen« und »Armutsgelübde«, dessen Fruchtbarkeit sich darin zeige, dass es nach einer Methode verlangte. In dieser Hinsicht ließe sich die Phänome­ nologie Edmund Husserls als eine »Docta ignorantia« bezeichnen. Sie stütze sich nämlich auf einen »geistigen Verzicht« (renuncia mental), um sich kritisch mit einer Zeit des intellektuellen »Betruges« und der »sophistischen Zerstreuung«138 auseinanderzusetzen. Gleichwohl äußerte Zambrano Vorbehalte gegenüber der Phä­ nomenologie Husserls. In einer Rezension zu dem Buch Descartes von Abraham Hoffmann139 charakterisiert sie den französischen Denker als Begründer einer Philosophie, die strikt dem Imperativ der Klarheit folge. Danach habe es sich der neuzeitliche Philosoph vorgenommen, das Leben zu durchschauen, indem er es auf das Bewusstsein reduzierte. Auf diese Weise wollte Descartes das Leben – begriffen als Bewusstseinsgegebenheit – durch die theoretische Ver­ nunft durchbestimmen. Dazu brauchte er nichts weiter als sich selbst, insofern seine Existenz dem reflektierenden Bewusstsein unmittelbar erschien. Seitdem hatte die philosophische Tradition – von Descartes bis Husserl – das Bewusstsein als das Wesen des Ich bezeichnet. Mit den Worten María Zambranos: Die neuzeitliche Philosophie hatte diese Gleichsetzung zu einem »unanfechtbaren Kanon der ganzen Existenz« erklärt.140 Siehe ebd., 578. Zambrano (2016): S. 558–561. Es handelte sich um die Rezension einer Über­ setzung, die im Verlag Revista de Occidente veröffentlicht wurde: Abraham Hoffmann (1932): Descartes. Übersetzt von Eugenio Imaz. Madrid: Revista de Occidente. 140 Zambrano verstand das Denken nicht als ein Absolutes, sondern als eine Funktion des Lebens, die den konkreten historischen Umständen der Menschen gemäß beschrieben werden müsse. In dieser Hinsicht ist eine Stelle des Aufsatzes »Die Erneuerung des spanischen Denkens«, den María Zambrano während des spanischen Bürgerkrieges verfasste, aufschlussreich: »Er [der Mensch], will sehen, womit er es zu tun hat, weil wir das Leben, das uns nicht fix und fertig geschenkt wird, erst machen müssen, und weil die geheimnisvolle Einsamkeit des Einzelnen von Dingen und Begebenheiten erfüllt ist, die er nicht kennt, und weil es Zerstörung, Tod und Unver­ nunft gibt. Deshalb ist das Denken heute notwendiger denn je«. María Zambrano (2015): Europa und die Stadt. Gesammelte Aufsätze. Übersetzt von Taller de Traducción Literaria der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Kiel: Verlag Ludwig, S. 41. 138

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Das philosophische Vorhaben María Zambranos bestand darin, durch ihr Konzept der »poetischen Vernunft« (razón poética) das »Herz« und die »Seele« des Menschen wieder in die Philosophie auf­ zunehmen.141 Bereits Scheler hatte von einer ordo amoris gesprochen, die den Gründen des Herzens gerecht werden will, auch wenn diese für das Bewusstsein nicht transparent sind.142 María Zambrano ihrerseits stellt der Metapher des Schauens und des geistigen Lichtes, nach 141 Der große Historiker des spanischen Denkens José Luis Abellán beschreibt den zwiefachen Beitrag María Zambranos zur Philosophie wie folgt: »[…] María Zam­ brano vollbringt eine doppelte Leistung. Die,poetische Vernunft‘ übernimmt einer­ seits die Bedeutung der gesamten abendländischen Tradition, indem sie sowohl die,reine Vernunft‘ als auch die,vitale Vernunft‘ einbezieht, ohne dabei andere mögli­ che Formen der Vernunft zu vergessen, die, kurz gesagt, Versionen des Logos gegen­ über dem Mythos sind. Andererseits eröffnet uns diese Art von ›Vernunft‹ die Erkenntnis der Seele […], die der philosophischen Reflexion traditionell verwehrt war und durch die sie eine ungeahnte Erweiterung und Bereicherung erfährt«. José Luis Abellán (2006): María Zambrano. Una pensadora de nuestro tiempo. Barcelona: Anthropos, S. 93. 142 1934 veröffentlichte Xavier Zubiri die Übersetzung zweier Schriften von Max Scheler: Max Scheler (1934): Muerte y supervivencia. Ordo amoris. Madrid: Revista de Occidente. María Zambrano, die auch bei Zubiri an der zentralen Universität von Madrid studierte, war mit diesen Übersetzungen vertraut. Zudem kannte sie die frü­ heren Übersetzungen von Schelers Schriften ins Spanische: Max Scheler (1926): El saber y la cultura. Übersetzt von José Gómez de la Serna y Favre; ders. (1927): El resentimiento en la moral. Übersetzt von José Gaos. Madrid: Revista de Occidente; ders. (1936): »La experiencia fenomenológica«, in: Revista de Occidente, Bd. LI (1936), S. 187–208; Madrid: Revista de Occidente; ders. (1938): El puesto del hombre en el cosmos. Übersetzt von José Gaos. Buenos Aires: Editorial Losada; ders. (1941–1942): Ética. Nuevo ensayo de fundamentación. 2 Bde. Übersetzt von Hilario Rodríguez Sanz. Buenos Aires: Revista de Occidente Argentina. Forscherinnen wie Carmen Revilla, Anna Bundgaard, Sara del Bello, Karolina Enquist Källgren und Íngrid Vendrell Ferran haben den Einfluss Schelers auf die Philosophie von María Zambrano ausführlich dokumentiert. Sie befassen sich zudem mit ver­ schiedenen phänomenologischen Begriffen Schelers (emotionale Intentionalität, Pas­ sivität, Gefühl und Liebe), die Zambrano aufgreift und weiterentwickelt. Enquist Käll­ gren und Vendrell Ferran untersuchen vor allem, wie die Metapher des Herzens und Schelers Phänomenologie der Affektivität die philosophische Genese des Begriffs der dichterischen Vernunft insgesamt beeinflusst haben. Siehe Carmen Revilla (2007): »Correspondencias o sincronizaciones entre Max Scheler y María Zambrano«, in: Aurora, Nr. 8 (2007), S. 63–73; dies. (2008): »La raíz fecundante de la vida. Impulso affectivo y sentir originario en la antropología de Max Scheler y María Zambrano«, Aurora, Nr. 9 (2008), S. 28–33; Anna Bundgaard (2002): Más allá de la filosofía. Sobre el pensamiento filosófico-místico de María Zambrano. Madrid: Editorial Trotta; Sara del Bello (2015): »María Zambrano e l’idea di persona«, in: Aurora, Nr. 16 (2015), S. 8–17; Karolina Enquist Källgren und Íngrid Vendrell Ferran (2022): »Scheler and

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der sich die europäische Philosophie bisher stillschweigend gerichtet hatte, die Metapher des Herzens gegenüber. Aber das Licht und das Schauen spielen dabei noch immer eine Rolle, wobei Zambrano sie auf ein anderes Organ als das bloße Denken bezieht, nämlich auf das Herz.143 Folglich spricht sie von einem »Schauen des Herzens«, welches gleichwohl nicht jene unmittelbare Manifestation der Sache bedeute, welche die theoretische Vernunft ihrem Wesen nach hervor­ bringe. Das Herz sei das Bild der Innerlichkeit des Lebens bzw. »eines dunklen Innen, geheim und geheimnisvoll, das sich gelegentlich öff­ net«.144 Zambrano nahm sich ferner vor, die Erkenntnis der Seele in eine gründlichere Erkenntnis einzubinden. Dazu brauchte sie einen neuen Vernunftbegriff, der sich keineswegs in dem bloß theoretischen Verstand erschöpfte. Sie verschob den Akzent vom reflektierenden Selbstbewusstsein, das die Vernunft als rein gedankliches Vermögen auffasst, zu einer Offenbarung (revelación) in der individuellen und geschichtlichen Lebenserfahrung dessen, was die Vernunft ist und sein soll. Ortegas normativer Begriff des amor intellectualis fand dadurch eine tiefe Resonanz bei Zambrano, wobei sie ihm eine neue Bedeutung verlieh. Sie verstand die dichterische Vernunft als eine reintegrierende Liebe, die in sich all das wiederaufnimmt, was die theoretische Vernunft aus der Lebenserfahrung ausgeschlossen oder zu einer Nebensache erklärt hatte.145 Die Reihe von Aufsätzen, die María Zambrano unter dem Titel Hacia un saber del alma (1940) zusammenfasst, stellt eine philo­ sophiegeschichtliche Rekonstruktion des Begriffs der dichterischen Vernunft (razón poética) dar.146 Zambrano behandelt dort klassische Quellen (vor allem Spinoza und Plotin) und den Einfluss Ortegas und Zubiris auf ihr Denken. Sie bemerkt zudem, dass sie den Begriff der dichterischen Vernunft konzipiert habe, um die Offenbarung Zambrano: on a transformation of the heart in Spanish philosophy«, in: History of European Ideas, Bd. 48, Nr. 5 (2022), S. 634–649. 143 Siehe María Zambrano (2006): Philosophie und Dichtung … und andere Schrif­ ten. Herausgegeben und übersetzt von Charlotte Frei. Wien: Verlag Turia + Kant, S. 171. 144 Ebd., S. 175. 145 Charlotte Frei hat das Leitmotiv der Philosophie Zambranos treffend charakteri­ siert: »Im Geist der Reform stehen viele ihrer Grundgedanken. Als ein gemeinsamer Nenner ihrer Schriften ist ihre Bemühung um die Reform der europäischen Vernunft zu betrachten«. Charlotte Frei: »Einleitung«, in: Zambrano (2006): S. 8. 146 Siehe Zambrano (2006): S. 421-578.

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(revelación) der historischen Wahrheit ihrer Zeit – des menschlichen Lebens – besser zu verstehen; sie versuche, in das Konzept der dich­ terischen Vernunft ein »Wissen der Seele«, ein Wissen um die innere Ordnung des Menschseins zu integrieren. In diesem Zusammenhang war der Einfluss Schelers entscheidend. Aus phänomenologischer Sicht ist es bemerkenswert, dass María Zambrano die Seele nicht auf einen Gegenstand der empirischen oder experimentellen Psychologie reduziert. Sie erforscht vielmehr deren Wesensmerkmale. In Anlehnung an Scheler versteht sie das Herz als ein Organon des Sehens, das über den gleichen Rang und die gleiche Würde verfüge wie die theoretische Erkenntnis. Es weise eine eigene Ordnung und Logik auf. Der ordo amoris verkörpert für Zambrano die Art und Weise, wie der Mensch Zugang zur Welt findet. Für gewöhnlich wird Liebe als ein Gefühl, als eine individuelle Vorliebe für Personen oder für all das beschrieben, was zur Steigerung des Selbstgefühls beiträgt. Zambrano zeigt, dass Liebe mehr ist als das. Sie beschreibt Liebe zugleich als das Bestreben, die unterschiedlichen Phänomene und die Heterogenität des Seins in ein tieferes, einfühl­ sameres Verständnis einzubinden, als es die reine Theorie vermag. Es ist ein Versuch, den Dingen durch die Ausübung einer ganzheit­ lichen Vernunft ihre Intimität zurückzuerstatten. María Zambrano geht sogar so weit, die dichterische Vernunft als eine barmherzige Vernunft (razón misericordiosa) zu bezeichnen. Barmherzigkeit ist eine wesentliche Facette der Liebe im Sinne Zambranos. Die Überlegungen zur dichterischen Vernunft und Liebe errei­ chen einen Höhepunkt in Zambranos Nachdenken über die Bedin­ gungen der Möglichkeit für das Ende eines jeden Krieges.147 Zam­ brano nimmt damit auf bemerkenswerte Art und Weise Gedanken vorweg, die später Emmanuel Levinas aus einer anderen theoreti­ schen Perspektive heraus entwickeln wird. Die Philosophie der dich­ terischen, durch Liebe reintegrierenden Vernunft ist im Wesentlichen eine Philosophie der Gestalten von Alterität und der menschlichen Andersheit im Allgemeinen.

147 Meines Erachtens handelt es sich dabei um den Schwerpunkt ihres großen Exilwerks La tumba de Antígona. Siehe María Zambrano (2011): Obras Completas. III (Libros 1955–1973). El hombre y lo divino, Persona y democracia, La España de Galdós, España, sueño y verdad, Los sueños y el tiempo, El sueño creador y La tumba de Antígona. Hg. von Jesús Moreno et al. Barcelona: Galaxia Gutenberg.

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16. Phänomenologische Reduktion und Traum Eben dies begründet auch María Zambranos Interesse am Phänomen des Traums. Text 10 »Träume und Zeit« muss im umfassenden Kon­ text von Zambranos Philosophie der dichterischen Vernunft gelesen werden. Er enthält sowohl eine Auseinandersetzung mit Edmund Husserls Begriff der phänomenologischen Reduktion als auch die Metapher des »privilegierten Erwachens« (despertar privilegiado). Gemeint ist ein »Erwachen ohne Bilder« (d. h. ohne vorgefertigte Vorstellungen von der Wirklichkeit), das dadurch ausgezeichnet ist, in der Konfrontation mit der Realität die Quellen des Lebens und die Präexistenz der Liebe (preexistencia del amor) zu erfahren.148 Der Rationalismus hatte dieses Phänomen unter der Voraussetzung aus dem Bereich der Erkenntnis verbannt, dass es keinen Stoff für eine präzise Begriffsbildung biete. Es war Sigmund Freuds Entdeckung, dass die Träume sehr wohl etwas von der Wirklichkeit offenbaren. In Hacia un saber sobre el Alma hatte María Zambrano dem Freudia­ nismus bereits einen Aufsatz gewidmet.149 Im Jahre 1954 schrieb sie dann »El sueño creador«,150 wo sie das Verhältnis zwischen den Träumen und der realen Zeit untersucht. Sie beabsichtigte, ihre früheren Schriften sowie den Begriff der dichterischen Vernunft durch eine Reflexion über dieses Verhältnis weiter zu erläutern. Dazu stellt sie die These auf, dass die Träume die »ursprüngliche Äußerung des menschlichen Lebens« bildeten, und beschreibt sie weiterhin als eine »Vorgeschichte des Wachzustands«. Text 10 »Träume und Zeit« ist gleichzeitig ein Versuch, das Phänomen des Träumens zu beschreiben, wie ein kritischer Dialog mit der Husserl’schen Phänomenologie über die Grenzen der Reduktion. Zambrano greift damit aus ihrer philosophischen Perspektive ein Thema auf, das bereits Ortega und Zubiri beschäftigt hatte. Beim Träumen ist das Subjekt dem, was die Geburt ihm noch vor jeder Entstehung des Bewusstseins mitgegeben hat, entzogen. Der Träumende befindet sich in einer Lage zwischen dem Nichtsein bzw. Noch-nicht-geboren-Sein und dem Bewusstseinsleben. Da es sich der realen Weltzeit entzieht, macht das Träumen den reinsten Siehe Zambrano (1994): S. 600–605. »El freudismo, testimonio del hombre actual«, in: Zambrano (2016): S. 508–527. 150 María Zambrano (1971): Obras reunidas. Madrid: Aguilar. Die Schriften zum Traum wurden in María Zambrano (1998): Los sueños y el tiempo. Madrid: Ediciones Siruela gesammelt.

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Immanenzzustand des Menschen aus; weil der Mensch jedoch noch immer von Wirklichkeit umgeben ist, erleidet er diese in reinster Passivität. Aus diesem Gedanken zieht Zambrano eine wichtige Konsequenz: Die idealistische Philosophie hat die Immanenz des Subjekts verabsolutiert, weil sie die Bedeutung der Passivität des Träumens übersehen hat. Der Mensch müsse erwachen und in die reale Zeit zurückkehren, da er sonst weder die ihn noch affizierende Realität noch sich selbst einholen könne. Aus diesem Grund erfährt der Träumende seine eigene Transzendenz. Dass das Leben ein Traum ist, wie Calderón de la Barca meinte, gehört mit dem Bedürfnis zusammen, zu erwachen. Würde der idea­ listische Immanenzbegriff zutreffen, hätte die Wirklichkeit stets die flüchtige Gestalt der Träume. Aber es gibt doch immer einen Weg vom Träumen zur Wirklichkeit. Die erlittene Transzendenz des Menschen erweist sich als ein ursprüngliches Phänomen, das sich der phänome­ nologischen Reduktion entzieht. Um es zu beschreiben, braucht man keine epoché durchzuführen bzw. den Glauben an die Wirklichkeit auszuschalten. Man muss sich vielmehr der epoché enthalten, um die Wirklichkeit des Traumes als die der Schattenseite des Lebens herauszustellen. Wirklichkeit bedeutet keine volle Sichtbarkeit des Realen, denn sie erscheint dem Menschen auf eine fragmentierte und veränderliche Weise. Der Mensch muss in die Wirklichkeit hineingehen und sich nach und nach ihre Schichten aneignen. In dieser Hinsicht ist der Traum eine Offenbarung der ursprünglichen conditio humana. Abschließend möchte ich den Gedanken eines höheren Erwa­ chens noch einmal aufgreifen. Zambranos Text beschränkt sich nicht darauf, die phänomenologische Reduktion zu diskutieren oder ein Argument gegen den absoluten Immanentismus vorzubringen. María Zambrano beschreibt die dichterische Vernunft als ein Erwachen aus der Träumerei der reinen theoretischen Vernunft und ihrem Hang zum Idealismus. Der Traum gleicht der höchsten Form von Imma­ nenz, die jedoch zugleich immer mit der Realität verbunden bleibt. Ebenso wenig gibt es eine reine Subjektivität oder ein reines Bewusst­ sein, die ohne Affektion durch die Realität metaphysisch postuliert oder durch phänomenologische epoché gewonnen werden könnten. Das Erwachen besteht vielmehr darin, durch eine ganzeinheitliche Vernunft die Schichten des Lebens freizulegen: von der ursprüngli­ chen passiven Affektion der Wirklichkeit an bis zu den höheren

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

Formen der Kultur und der intersubjektiven Gemeinschaft, die von Liebe, Barmherzigkeit und höheren Werten bestimmt werden.151

17. Die Rezeption der Phänomenologie in der Schule aus Barcelona Die Universidad Central von Madrid war nicht der einzige Ort einer originellen Rezeption der Phänomenologie vor dem Spanischen Bür­ gerkrieg. An der Universidad von Barcelona sammelte sich eine Gruppe junger Intellektueller um die katalanischen Philosophen Eugenio D’Ors (1881–1954) und Jaume Serra Hunter (1878–1943). Man bezeichnete sie als die »Escuela de Barcelona« (Schule aus Barcelona), um sie von der Schule aus Madrid zu unterscheiden, wobei das Wort »Schule« in beiden Fällen nicht dasselbe bedeutete. Wäh­ rend die meisten Schüler von Ortega es unternahmen, seine Ideen weiterzuentwickeln, stützte sich die Schule aus Barcelona weniger auf das Werk eines Vorreiters als auf ein gemeinsames Konzept dessen, was die kulturelle Erneuerung Kataloniens und Spaniens bedeuten sollte. Sie pflegte ferner eine besondere Art von philosophischem Eklektizismus. Aber das Interesse an zahlreichen philosophischen Strömungen – z. B. an der katalanischen Scholastik und Literatur,152 der schottischen Common Sense Philosophy, dem Positivismus, dem französischen Vitalismus, dem Bergsonismus, dem Neukantianismus und der Phänomenologie – war weder Zerstreuung noch das Zeichen Husserls Nachlass zeigt, dass der Begründer der Phänomenologie Themen wie der passiven Intentionalität oder der ursprünglichen Affektion durch das Reale auch im Zustand des Schlafes oder unbewussten Zuständen große Bedeutung beimaß. Bekanntlich ist das Hauptthema der genetischen Phänomenologie die Konstitution der Welterfahrung auf der Grundlage primärer passiver Synthesen. Zambrano hatte aller Wahrscheinlichkeit nach keinen Zugriff auf Husserls Nachlass. Umso inter­ essanter sind ihre Ausführungen zu Schlaf und Erwachen für eine von Husserl inspirierte Phänomenologie. 152 Siehe das Nachwort von Charlotte Frei zu Joaquín Xirau (2007): Liebe und Welt. Freiburg/München: Karl Alber, S. 216: »Sie [die Schule aus Barcelona] beruft sich auf einen katalanischen Geist mit alten historischen Wurzeln, der vom Libre de Saviesa (13. Jahrhundert) über Ramón Lulls Libre de Blanquerna, die Dichtung Ausiàs Marchs bis zu Jaume Serra Hunter reicht«. Zur Bezeichnung »Escuela de Barcelona« sowie ihrer philosophischen und kulturellen Wesenszüge siehe Eduardo Nicol (1998): El problema de la filosofía hispánica. Mit einem Vorwort von Alberto Constante und Ricardo Horneffer. Mexiko: Fondo de Cultura Económica, S. 169–207. 151

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einer wenig eigenständigen Arbeitsweise. Es brachte vielmehr die Intensität des Strebens nach einer wohlbegründeten Übereinstim­ mung und, trotz der Diskrepanzen in einzelnen Punkten, einer objek­ tiven, allgemeingültigen Philosophie zum Ausdruck.153 Vor dem Bürgerkrieg und dem Exil beschäftigten sich die Ver­ treterinnen und Vertreter der Schule von Barcelona, mit Ausnahme von Joaquín Xirau (geboren 1885 in Figueres, in der katalanischen Provinz Girona), nicht so intensiv mit der Phänomenologie wie die der Madrider Schule.154 Ortega y Gasset ermutigte schon früh seine Schüler Xavier Zubiri und José Gaos, Dissertationsschriften zur Phänomenologie Edmund Husserls zu verfassen. Anfang des 20. Jahrhunderts veröffentlichte er selbst die Meditationen über »Don Quijote« sowie eine Vielzahl von Essays, die von der Phänomenologie inspiriert sind. In seinen Vorlesungen an der Universidad Central de Madrid bezog er sich wiederholt auf Brentanos deskriptive Psy­ chologie und die Husserl’sche Phänomenologie. Ortega hatte sich vorgenommen, die spanische Kultur durch die kreative Rezeption der deutschen Philosophie (eines revidierten Neukantianismus, der Lebensphilosophie Diltheys und vor allem der Phänomenologie) zu erneuern. All dies schmälert keineswegs die Bedeutung der katalanischen Denker für die Wiedergeburt der Philosophie in Spanien. Die Schule von Barcelona stand diesen Strömungen offen gegenüber. Dennoch entfaltete sich die Rezeption der Phänomenologie eher schrittweise, und zwar im Rahmen einer Tradition, die auf die spiritualistische Philosophie von Francisco Xavier Llórens y Barba (1820–1872) zurückgeht. Das Denken Llórens ließ sich von der schottischen Phi­ losophie des »Common Sense« sowie einer eklektischen Haltung zur Philosophiegeschichte inspirieren. Llórens y Barba stellte seine spiritualistische Philosophie dem Positivismus und dem Materialis­ mus gegenüber. Sein Hauptanliegen bestand jedoch darin, den Spiri­ tualismus mit der modernen Wissenschaft in Einklang zu bringen. Die neuen Köpfe der katalanischen Philosophie, Jaume Serra Hunter »Obwohl unsere Ansichten voneinander abwichen […], gab es einen Bestand von Übereinstimmungen, die keine Beziehung zu den Ideen selbst hatten. Er garantierte ein gemeinsames Ziel der Ideen«. Nicol (1998): S. 206. 154 In diesem Zusammenhang ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass Joaquín Xirau in Madrid, im Umkreis von Ortega y Gasset, García Morente, Zubiri und Gaos promovierte. Dieser Umstand hat zweifelsohne sein Interesse an der Phänomenolo­ gie gefördert. 153

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und Eugenio D’Ors, verfolgten diesbezüglich sowohl gemeinsame als auch unterschiedliche Interessen. Serra Hunter interessierte sich vor allem für die Geschichte der katalanischen Philosophie, die er im Lichte einer spiritualistischen Philosophie interpretierte und somit die Ideen seines Meisters Llórens y Barba weiterführte. Eugenio D’Ors – dessen Lesart der Phänomenologie Ortega vehement ablehnte – interessierte sich für die kulturelle Erneuerung Kataloniens und Spaniens und, wie Serra Hunter, für die Geschichte des katalanischen Denkens. Sein philosophisches Projekt bestand darin, eine »Ciencia de la cultura« (Kulturwissenschaft) zu begründen, die in der Lage sein sollte, die Kurzsichtigkeit des Positivismus und Rationalismus zu überwinden.155 Die Inspiration für sein Projekt stammte dabei weniger aus der Phänomenologie als aus originellen Überlegungen zur Wissenschafts- und Philosophiegeschichte wie zu literarischen Formen philosophischen Denkens. Die nachfolgenden Generationen katalanischer Philosophinnen und Philosophen bekundeten ein größeres Interesse an der Phäno­ menologie. An erster Stelle ist erneut die philosophiegeschichtliche Produktion von Joaquín Xirau hervorzuheben, der neben der im Jahre 1921 vollendeten Dissertation mit dem Titel Leibniz. Las condiciones de la verdad eterna und der 1927 veröffentlichten Monografie Descar­ tes y el subjetivismo idealista156 in diesen Jahren auch seine ersten Aufsätze zur Husserl’schen Phänomenologie schreibt.157 Zwischen 1928 und 1938 verfasst er auf Katalanisch und Spanisch zudem eine Reihe von Artikeln und Essays, die den Einfluss von Max Schelers Werttheorie bezeugen.158 In seinem Buch El sentido de la verdad (1927) versucht Xirau, traditionelle philosophische Fragen im Lichte einer Neubetrachtung der Philosophiegeschichte zu überdenken. Das Werk enthält auch 155 Siehe José Luis Abellán (1989): Historia crítica del pensamiento español. Band VII (II). La crisis contemporánea. II. B. Fin del siglo. Modernismo. Generación del 98 (1898– 1913), S. 115–131. 156 Xirau (2000a): Obras completas III-1. Escritos sobre historia de la filosofía. Libros. Hg. von Ramón Xirau. Mit einem Vorwort von Gabriela Hernández, S. 3–34 und S. 73–158. 157 Siehe Xirau (2000b): Obras completas – III-2 Escritos sobre historia de la filo­ sofía. Artículos y ensayos. Hg. von Ramón Xirau. Mit einem Vorwort von Antoni Mora. Barcelona/Madrid: Anthropos/Fundación Caja Madrid, S. 3–28. 158 Xirau (1998): Obras completas I. Escritos fundamentales. Hg. von und mit einem Vorwort von Ramón Xirau. Barcelona/Madrid: Anthropos/Fundación Caja Madrid, S. 309–353.

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zwei Kapitel zur Husserl’schen Phänomenologie.159 Im Jahr 1936, dem Jahr des Ausbruchs des Bürgerkriegs, veröffentlichte Xirau auf Kata­ lanisch das bedeutende Werk L’amor i la percepció dels valors. Beson­ ders interessant ist sein Bemühen um eine philosophiegeschichtliche Synthese (von Augustinus über Pascal bis zu Husserl und Scheler), die sich auf Erkenntnisse der Psychologie und Biologie seiner Zeit stützt.160 In dieser Schrift entwirft Xirau auch eines der Hauptthemen seiner Philosophie: eine Phänomenologie des Liebesbewusstseins, die auf seiner Konzeption einer organischen Vernunft beruht. Erst während der Exiljahre in Mexiko entsteht seine Monografie über den Begründer der Phänomenologie mit dem Titel Husserl. Una introducción a la fenomenología (1941).161 Auch Eduardo Nicol (geboren 1907 in Barcelona) zeigte Interesse an der Phänomenologie von Husserl, Scheler und Heidegger. Er konnte seine Dissertation jedoch erst im mexikanischen Exil verteidi­ gen.162 Aus diesen historiografischen Gründen werde ich die Rezep­ tion der Phänomenologie bei Xirau und Nicol im Abschnitt über die Exilautoren erneut aufgreifen und auch auf die Rezeption der Phäno­ menologie bei Juan David García Bacca eingehen, der zwar in Navarra geboren ist, aber in Barcelona sein Philosophiestudium absolvierte. Seine wichtigsten Schriften zur Phänomenologie verfasste García Bacca im Exil in Mexiko und Venezuela. Dies bedeutet nicht, dass die Schule aus Barcelona im Zuge des Exils nach Mexiko und andere Ländern aufgelöst wurde. Im Gegenteil, die großzügige Aufnahme der spanischen Exilanten durch die mexikanische Regierung und das mexikanische Volk bot diesen die Möglichkeit, die philosophischen Traditionen aus Madrid und Barcelona trotz der Diktatur Francisco Francos fortzusetzen.163 Xirau (1998): S. 43–75. Xirau (1998): S. 77–132. 161 Siehe Xirau (2000a): S. 159–327. 162 Der jüngere José Ferrater Mora (1912–1991) befasste sich mit der neueren spanischen Philosophie und entwickelte eigene Gedanken zu existenzialistischen Themen. In den 1960er und 1970er Jahren, als er in den USA im Exil lebte, war er darum bemüht, sein Denken weiterzuentwickeln, diesmal jedoch im Rahmen der mathematischen Logik und analytischen Philosophie. 163 Philosophiegeschichtlich lohnend wäre eine Untersuchung zu den Auswirkungen der Kriegs- und Exilerfahrung auf Autorinnen und Autoren wie Zambrano, Xirau, García Bacca, Nicol und Gaos. Dieses Desiderat zu bedienen, würde jedoch den Rahmen der vorliegenden Einführung sprengen. Für eine skizzenhafte Darstellung dieses Themas verweise ich auf Guillermo Ferrer (2022): »El exilio y sus símbolos 159

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Spanien

literarios en María Zambrano, José Gaos y Juan David García Bacca«, in: Francisco Mejía et Laura Moreno (Hg.) (2022): Redes políticas desde el exilio iberoamericano. Mexiko: CIALC-UNAM (im Erscheinen).

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Argentinien

18. Alejandro Korns Begriff der schöpferischen Freiheit Man bezieht den Anfang der frühen Rezeption der Phänomenologie in Argentinien häufig auf den Besuch zurück, den Ortega y Gasset im Jahre 1916 der Universität von Buenos Aires abstattete.164 Dennoch war die Phänomenologie bereits im Vorlesungsverzeichnis der phi­ losophischen Fakultät zu finden. Genauer wäre es daher, zu sagen, dass der Besuch Ortega y Gassets entscheidend dazu beitrug, eine Begeisterung über die Phänomenologie zu entfachen und dadurch eine der letzten Bastionen des Positivismus in Hispanoamerika ins Wanken zu bringen.165 In seinen Buenos Aires-Vorlesungen Intro­ 164 Siehe hierzu Ortega (1998): S. 25. Zum ersten Besuch Ortega y Gassets in Argen­ tinien und zu der Rolle Alberinis in der frühen Rezeption der Phänomenologie siehe Clara Ruvituso (2015): Diálogos existenciales. La filosofía alemana en la Argentina peronista (1946–1955). Madrid/Frankfurt am Main: Iberoamericana/Vervuert, S. 57– 63 und 74–83. 165 Der argentinische Philosoph Coroliano Alberini (1886–1960) schildert die Aus­ wirkung dieses Besuchs auf die argentinische Universität: »Was haben wir diesem hervorragenden spanischen Denker zu verdanken? Die Antwort ist einfach: Ein großes und erzieherisches Interesse an den lebendigsten Strömungen der neuesten deutschen Philosophie […]. Der geringe Nachwuchs, der sich damals mit philosophischen Din­ gen befasste, wusste so gut wie nichts über die aktuelle deutsche Philosophie, insbe­ sondere über die phänomenologische ›Bewegung‹“. Coroliano Alberini (1966): Pro­ blemas de la historia de las ideas filosóficas en la Argentina. La Plata: Colección Pensamiento Argentino, S. 71–72. »Obwohl Ortega sich in der Marburger Schule ausbilden ließ, spürte er schon bald die Schwäche des Idealismus. Er bewundert zwar Bergson, entbehrt jedoch jeglicher Misologie. Daher war er der Erste, der die Phäno­ menologie in den lateinamerikanischen Ländern hochpries. Des Weiteren hatten bereits 1916 einige Grundbegriffe der Phänomenologie in die Kurse an der Philoso­ phischen Fakultät der Universidad de Buenos Aires Eingang gefunden«. Coriolano Alberini (1973): Escritos de filosofia de la educación y pedagogía. Mendoza: Universidad Nacional de Cuyo, Facultad de Filosofía y Letra, S. 255. Alberinis Aussage ist etwas ambivalent. Das Adverb »bereits« (ya) deutet jedoch darauf hin, dass zentrale Begriffe der Phänomenologie bereits vor Ortegas Besuch an der Fakultät behandelt wurden.

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Argentinien

ducción a los problemas actuales de la filosofía (Einführung in die gegenwärtigen Probleme der Philosophie) stellte Ortega die deskriptive Psychologie Brentanos und die Phänomenologie Husserls nämlich als einen neuartigen Ansatz dar, der es erlaube, dank des Intentiona­ litätsbegriffes den Bereich der psychischen Phänomene entschieden vom Inneren bzw. Subjektiven abzugrenzen, womit der Idealismus und die positivistische Psychologie auf einen Schlag überwunden werden könnten.166 Der Besuch Ortegas war auch in einer anderen Hinsicht von Bedeutung. Alejandro Korn (1860–1936), eine Pionierfigur der argentinischen Philosophie des 20. Jahrhunderts, schreibt dazu: Die Anwesenheit Ortega y Gassets im Jahre 1916 war ein Ereignis für unsere philosophische Kultur. Autodidakten und Dilettanten hatten die Gelegenheit, der Stimme eines Meisters zu lauschen. Manche erwachten aus dem dogmatischen Schlummer und viele bemerkten zum ersten Mal die Existenz einer Philosophie, die alles andere als gewöhnlich war.167 Alberini bezieht sich höchstwahrscheinlich auf den Begriff von Phänomenologie, den man dort seit den Lehrveranstaltungen deutscher und argentinischer Professoren in den 1900er und 1910er Jahren vertrat. Mit ihm reagierten die Dozenten auf die posi­ tivistische Ausrichtung, die in der argentinischen Philosophie Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts vorherrschte. Zwischen 1906 und 1909 hatte Felix Krüger dort unterrichtet und die wichtigsten Strömungen der damals zeitgenössischen deutschen Philosophie vorgestellt. Rodolfo Rivarola (1857–1942) wagte eine erste Auseinandersetzung mit dem Positivismus im Zeichen der Philosophie Kants. Ale­ jandro Korn lehnte den Positivismus offen ab, indem er sich in seinen Seminaren aus­ drücklich der antipositivistischen Reaktion von Henri Bergson, Benedetto Croce und anderen anschloss. Ortegas Besuch im Jahr 1916 kann jedenfalls als Auslöser für eine allgemeine Begeisterung für die Phänomenologie interpretiert werden. Siehe Ruvi­ tuso (2015): S. 57; Pablo Buchbinder (1997): Historia de la Facultad de Filosofía y Letras – Universidad de Buenos Aires. Buenos Aires: Eudeba, S. 59–61; und vor allem Clara Alicia Jalif de Bertranou (1996): »Recepción y elaboración de la fenomenología en la Argentina«, in: CUYO, Anuario de Filosofía Argentina y Americana, Nr. 13 (1996), S. 45–48. 166 »Ich bin mir sicher, dass der Begriff des Bewusstseins als intentionaler Akt bzw. ein Akt des Bezuges auf Gegenstände, wie Brentano ihn definierte und Husserl später in der neuesten Wissenschaft durchsetzte, dazu berufen ist, die ganze Psychologie und somit die ganze gegenwärtige Philosophie umzustürzen«. José Ortega y Gasset (2017g): Obras completas. Tomo VII – 1902/1925 (obra póstuma), Madrid: Editorial Taurus, S. 646. 167 Alejandro Korn (1948): Apuntes filosóficos. Seguido de Filosofía argentina y nuevas bases. Mit einem Vorwort von Raimundo Lida. Buenos Aires: Editorial Claridad, S. 124. Korn unterrichtete Philosophiegeschichte und Gnoseologie u. a. von 1906

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18. Alejandro Korns Begriff der schöpferischen Freiheit

Gleichwohl fügt Korn hinzu, dass Ortega am Ende kein System errichtet, sondern einen Weg entwickelt habe, philosophische Fragen auf einer höheren Ebene zu stellen. Deshalb verhehlte er nicht eine gewisse Enttäuschung bezüglich des Perspektivismus des Verfassers der Meditationen über »Don Quijote«. Ortega biete keine Synthese philosophischer Gedanken, sondern vielmehr subtile Analysen von Problemen, wodurch diese freilich nicht gelöst würden, so Korn weiter.168 Er selbst strebte eine systematische Philosophie an, die der Freiheit und schöpferischen Persönlichkeit des Menschen Rechnung tragen sollte.169 Aus diesem Grund stützte sich Korn lieber auf das Werk Henri Bergsons, das ferner die Verwandtschaft der französi­ schen und spanischen Sprache sowie »unsere intellektuelle Sympathie […] begünstigt«170. Korns Konzept der schöpferischen Freiheit, bei dem Gedanken Bergsons ein Echo fanden, gehört mit einer Infragestellung des naiven Realismus zusammen, insofern es dieser nicht vermöge, die Welt als Bewusstseinsphänomen zu begreifen. Der Realist vertreibt hart­ näckig alles aus dem Bewusstsein (den Raum, die Zeit, die Dinge und die Welt) und lässt nur das Ich und dessen Zustände übrig. Korn weist auch den Idealismus zurück, der das Ich irrtümlich mit dem Bewusstsein identifiziere und die Welt für die Schöpfung eines absoluten Subjekts halte. Der Idealist verstehe nicht, dass die Welt bis 1930 an der Universität von Buenos Aires. Im Jahre 1930 veröffentlichte er seine wichtigsten Aufsätze in einem mit La libertad creadora betitelten Band. Die Lektüre des Werkes lässt erkennen, inwiefern Korn seine Auseinandersetzung mit dem Posi­ tivismus und dem Mechanizismus des 19. Jahrhunderts nach anthropologischen und ethischen Fragen ausrichtete: »Indem die mechanistische Auffassung den physischen Determinismus auf das Subjekt überträgt, nimmt sie ihm die Sonderrechte der Per­ sönlichkeit. Sie ersetzt Autonomie durch Automatismus. Keine dialektische Prahlerei könnte eine Ethik auf einem solchen Fundament errichten.« Alejandro Korn (1944): La libertad creadora. Buenos Aires: Editorial Losada, S. 38. 168 Alejandro Korn (1948): S. 125. 169 Siehe Heinz Krumpel (2011): Philosophie in Lateinamerika. Grundzüge ihrer Ent­ wicklung. Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 228–229. 170 Korn (1948): S. 129. »Bergson hatte m. E. den Nachteil, dass er uns lediglich den theoretischen Teil seiner Philosophie und keine Ethik hinterließ. Diese wäre das Ket­ tenglied gewesen, das seine Philosophie mit den für uns relevanten praktischen Pro­ blemen hätte verbinden können«. Ebd., S. 129–130. Korn verstand sein eigenes phi­ losophisches Vorhaben immer als ein Projekt der kulturellen Erneuerung Argentiniens. Seinem Konzept der schöpferischen Persönlichkeit ging es keineswegs um einen Individualismus, sondern um eine Besinnung auf die Freiheit als kollektive Kulturleistung.

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zwar nicht außerhalb des Bewusstseins, jedoch durchaus außerhalb des Ich vorliege. Auch der Realist übersehe das und ordne das Subjekt einer nicht erscheinenden, noumenalen Welt unter. Da beide Rich­ tungen die ursprüngliche Phänomenalität des Ich und des Nicht-Ich im Bewusstsein übergingen, verfehlten sie es, der freien Tätigkeit des Subjektes Rechnung zu tragen. Für Korn ist das Subjekt kein Schöpfer der Welt. Es müsse jedoch auch nicht aus seinem Bewusstsein heraustreten, um nach der Realität zu suchen. Im Bewusstsein seien weder substanzielle noch noume­ nale Entitäten gegeben. Korn begreift es als einen Fluss von Akten, wodurch Subjekt und Objekt, Ich und Fremdes ständig miteinander zu tun hätten. Nach ihm besteht die schöpferische Freiheit darin, dass sich das Subjekt über das, was ihm widersteht, hinwegsetzt. In dieser Hinsicht erweise sich die Kultur als die höhere Leistung dieser subjektiven Bemühung.171

19. Carlos Astrada: Die existenziale Interpretation der Kantischen Ethik und der phänomenologischen Werttheorie Max Schelers Im Unterschied zu seinen Schülern in Buenos Aires war Alejandro Korn von der Phänomenologie keineswegs begeistert. Er schildert seinen Eindruck von den Logischen Untersuchungen Husserls mit folgenden Worten: Dem […] Leser kann ich im Voraus nur sagen, dass ich sie schon gele­ sen habe. Ich gebe es zu und bereue es zugleich. Das Missverständnis liegt sicherlich an mir. Bei Husserl ist vor allem eine gewisse Verwandt­ schaft zwischen seinen Theorien und den ästhetischen Strömungen des Expressionismus interessant.172 171 Wie Heinz Krumpel treffend bemerkt, gibt es »für Korn keine absolute Freiheit, denn der Gesichtspunkt des Absoluten kann nur im Sinne eines idealen Ziels ange­ sehen werden. Der Mensch verfügt nur über relative Freiheit, die sich in seinem Bemühen ausdrückt, Herrschaft über die äußere Notwendigkeit zu erreichen. Aller­ dings ist dieses Bemühen immer auf das ideale Ziel des Absoluten ausgerichtet. Aus den dadurch freiwerdenden geistigen Triebkräften ergeben sich für Korn auch die Werke der menschlichen Kultur«. Heinz Krumpel (2011): Philosophie in Lateiname­ rika. Grundzüge ihrer Entwicklung. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag, S. 228–229. 172 Korn (1948): S. 133.

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19. Interpretation der Kantischen Ethik und der phänomenologischen Werttheorie

Im Grunde betrachtete Korn die philosophische Bewegung von Bol­ zano über Brentano zu Husserl und Scheler als einen Realismus der Wesenheiten und weiterhin als die Reaktion einer neuen Scholastik bzw. eines neuen Akademismus gegen die deutsche protestantische Kultur.173 Dagegen schätzte er Kant, Goethe und Nietzsche höher. Letzterem rechnete er es zum Beispiel an, die Philosophie in eine axiologische Richtung gedrängt zu haben, welche er mit seinem eigenen Konzept der schöpferischen Freiheit verband.174 Diese phi­ losophiegeschichtliche Perspektive der Werttheorie spiegelt sich im Werk von Carlos Astrada (1894–1970) wider. Wie Luis Juan Guerrero (1899–1957) gehörte auch Astrada zu der Generation von jungen argentinischen Philosophen, die in den 1920er Jahren ihr Studium in Deutschland weiter vertieften. Im Unterschied zu Korn brachten sie der Phänomenologie Husserls, Schelers und Heideggers eine hohe Wertschätzung entgegen und bemühten sich darum, sie in ihre philosophische Reflexion aufzunehmen.175 Der Schwerpunkt des Forschungsinteresses von Astrada lag zunächst in der Axiologie, bis 1927 Sein und Zeit erschien.176 Unter dem Einfluss der Philosophie Heideggers verfasste er El juego exis­ tencial (1933) und Idealismo fenomenológico y metafísica existencial

Ebd. Ebd., S. 134. 175 Astrada nahm zunächst einen Forschungsaufenthalt in Köln bei Scheler wahr. Nach dem Tod Schelers (1928) zog er nach Freiburg um, wo er Husserl und Heidegger kennenlernte. Guerrero studierte in Marburg und Zürich. Nach seiner Rückkehr befasste er sich vor allem mit Problemen der Ästhetik aus einer phänomenologischexistenzialen Perspektive. 1956, zwei Jahre vor seinem Tod, veröffentlichte er den Band Estética operatoria en sus tres direcciones, der noch immer als Standardwerk für phänomenologische Ästhetik in Lateinamerika gilt. Luis Juan Guerrero (2008): Estética operatoria en sus tres direcciones: revelación y acogimiento de la obra de arte. Estética de las manifestaciones artísticas. Hg. von Ricardo Ibarlucía. Buenos Aires: Las cuarenta. 176 In einem Brief an Astrada schreibt Guerrero: »Ein Professor aus Berlin sagte mir vor kurzem, dass [Sein und Zeit] das wichtigste philosophische Werk seit der Logik Hegels sei […]. Husserls Meinung ist vergleichsweise moderat: Es sei das wichtigste Werk der gegenwärtigen Philosophie. Aber nach einem anderen Quasi-Professor, mit dem ich vor einigen Tagen sprach, ist der ›arme alte Husserl‹ nicht mehr imstande, die neuen Grundbegriffe der Phänomenologie Heideggers zu verstehen […]«. Zitiert in: Guillermo David (2004): Carlos Astrada. La filosofía argentina. Buenos Aires: Edi­ ciones el Cielo por asalto, S. 49. 173

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Argentinien

(1936).177 Im Jahre 1938 erschien La ética formal y los valores. Ensayo de una revaloración existencial de la moral kantiana. Dieses Werk ist in vielerlei Hinsicht interessant. Es stellt den Versuch dar, die Ethik Kants und die Axiologie Schelers aus existenzialen Kategorien wie Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit neu zu denken. In der Kritik der praktischen Vernunft hatte Kant darauf bestanden, dass der gute Wille durch keinerlei empirische Tendenzen, Neigungen oder Beweggründe bestimmt werde, wie großzügig diese auch immer seien. Was ihn wirklich bestimme, sei die Form und nicht die Materie des Sittenge­ setzes. Daher begreift Kant die Freiheit als eine Bestimmung der Tat ausschließlich aus dem moralischen Gesetz. Astrada legt seinerseits Nachdruck darauf, dass die Form des Moralgesetzes nichts Leeres sei, sondern im Gegenteil das funda­ mentale Faktum und das eigene Wesen der praktischen Vernunft – Faktizität und Wesen sind in dieser Interpretation miteinander verwoben. Er übersieht nicht, dass es in der Kantischen Ethik einen gewissen rationalistischen Akzent gibt, den Scheler teils zu Recht kritisiert hatte. Denn Kant betont immer wieder die ratio cognoscendi des Sittengesetzes, d. h. die Tatsache, ihm unterworfen zu sein, sofern man seine Rationalität als verbindlich anerkennt. Gleichwohl lief dieser Standpunkt Gefahr, den tatsächlichen und wesentlichen Cha­ rakter, die ratio essendi, des Sittengesetzes aus den Augen zu verlieren. Für Astrada ist sie nichts anderes als die sich im Laufe der Geschichte entfaltende Freiheit. Dies hinderte Astrada nicht daran, die materielle Axiologie Schelers einer Kritik zu unterziehen. Ihr Irrtum bestehe darin, eine absolute Objektivität der Werte zu suchen, die es weder gebe noch geben könne – sonst würde sie zu etwas Abstraktem, das historische Werden Überfliegendem, das sich dem Menschen als etwas Hete­ ronomes aufzwingen würde. Dem Essentialismus der Werte stellt In seinem bedeutenden Werk zur Philosophiegeschichte Lateinamerikas mit dem Titel La filosofía iberoamericana, hält Francisco Larroyo fest: »Carlos Astrada war der erste Philosoph in Südamerika, der gut informiert und mit kritischem Bewusstsein den Existenzialismus vertrat […]. Er war vielleicht auch der Erste, der die Phänome­ nologie Husserls treffend charakterisierte und neu bewertete. Nicht umsonst hatte er sich in den Kantianismus, den Neukantianismus, den Hegelianismus und den Neu­ hegelianismus vertieft«. Francisco Larroyo (1969): La filosofía latinoamericana. His­ toria. Formas. Temas. Polémica. Realizaciones. Mexiko: Editorial Porrúa, S. 194. In der Tat war die Grundausbildung von Astrada phänomenologisch-existenzialistisch ori­ entiert. Aus dieser Perspektive deutete er später die Philosophien von Kant, Hegel und Marx entsprechend um. 177

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19. Interpretation der Kantischen Ethik und der phänomenologischen Werttheorie

Astrada den Gedanken gegenüber, dass ihre Objektivität in keinem geschichtslosen An-sich bestehe, sondern sich in der Zeit entfalte und so die Bedingung der Möglichkeit für eine ethische Existenz bilde. Für Astrada ist der höchste Wert der Frieden, den er als Imperativ einer unaufhebbaren intersubjektiven Koexistenz beschreibt. Bereits Kant hatte bemerkt, dass der wahre Frieden in keinem bloßen Auf­ schub von Feindseligkeiten bestehe, sondern diese zu einem Ende bringe. Astrada greift diesen Gedanken auf und entwickelt ihn durch eine Auseinandersetzung mit Scheler weiter. Sein Ziel ist es, der historischen Genesis des Wertes »Frieden« Rechnung zu tragen. Dabei geht es um die Frage, wie das Gebot des Zusammenlebens zwischen den Menschen und den Nationen im Laufe der Geschichte seine Bedeutung erhält. Eine solche Frage lässt sich nicht beantworten, wenn man lediglich Gemeinsamkeiten von historischen Ereignissen feststellt, die zu einer vorübergehenden Unterbrechung der Kriege führten. Kant hatte diese Verwechslung des Begriffes von Frieden mit der Idee einer Minderung oder vorübergehenden Aussetzung von Gewalt massiv infrage gestellt. Postkantianische Philosophien hielten jedoch das Ideal eines ewigen Friedens für unrealisierbar. Sie argumentierten sogar – mit verschiedenen, letztlich empirischen oder aber spekulativen Begründungen – dafür, dass es ohne die historische Dialektik des Krieges überhaupt keine Kultur geben könne. Nach der Erfahrung der Katastrophen des 20. Jahrhunderts konnte man jedoch, so Astrada weiter, den Krieg nicht länger vernünf­ tig als dialektische Vorstufe der höchsten kulturellen Werte ansehen. Die brisante Frage blieb aber, ob der Zerstörungstrieb bzw. der Wille zum Krieg nicht im historischen Wesen des Menschen liege. Wäre dies der Fall, bliebe die Möglichkeit eines ewigen Friedens für den Menschen wesensgemäß unmöglich. In Text 11 »Eine Soziologie des Krieges und Philosophie des Friedens« (1948) versucht Astrada, zwei Grundthesen miteinander zu verbinden: 1. über die reale Möglichkeit des Friedens könne man nicht anhand einer Betrachtung historischkontingenter Ereignisse entscheiden; 2. eine solche Möglichkeit lasse sich erst aus einer Analyse des menschlichen Wesens gewinnen, sofern sich dieses im historischen Werden konkretisiere. In Anlehnung an Nietzsche geht Astrada davon aus, dass die Tendenz zu Macht und Kampf nicht aus dem Wesen des Menschen getilgt werden könne. Die reale Möglichkeit eines ewigen Friedens liege jedoch weniger in der Aufhebung dieser Tendenz als in ihrer Kanalisierung zu anderen Ausdrucksformen als der des Krieges. Alles

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Argentinien

komme letztlich darauf an, zu einer Vergeistigung der Machttenden­ zen und einem Übergang vom »Recht der Gewalt« zur »Gewalt des Rechtes« zu gelangen, die unter den Nationen herrschen müsse. Nach Astrada erweist sich diese Gewalt des Rechtes als das Gegenteil zum Krieg und die Vorstufe eines ewigen Friedens.178

20. Der »Primer Congreso Nacional de Filosofía« von 1949 und die Wende zu neuen philosophischen Strömungen 1949 war ein wichtiges Übergangsjahr für die argentinische Philoso­ phie. Mit Unterstützung der Regierung von Juan Perón veranstaltete die Universidad Nacional von Cuyo den »Primer Congreso Nacional de Filosofía« (»Erster Nationaler Philosophiekongress«), in welchem die argentinischen Denker die Gelegenheit nutzten, um über ihre Rezeption der deutschen Philosophie zu diskutieren – natürlich über die Phänomenologie, aber vor allem über die Philosophie Heideggers und den Existenzialismus. Der Kongress bedeutete in gewisser Weise zugleich eine Stellungnahme gegen den Thomismus und den Existen­ tialismus, die in Argentinien vorherrschend gewesen waren, sowie eine Forderung nach Offenheit gegenüber neuen Strömungen wie der Wissenschaftsphilosophie, dem logischen Positivismus, dem Prag­ matismus sowie dem Marxismus. Die Liste der internationalen Gäste war beeindruckend. Der Phänomenologie nahestehende Personen waren Eugen Fink, Ludwig Landgrebe, Wilhelm Szilasi, Gaston Ber­ ger (auch ein Schüler von Maurice Blondel) und Antonio Millán Puelles. Ebenfalls anwesend waren Hans-Georg Gadamer, Otto Fried­ rich Bollnow, Karl Löwith, Ernesto Grassi und Nicola Abbagnano. Aufgrund der politischen Umstände in Argentinien hatten einige bekannte Gäste ihre Teilnahme abgesagt und stattdessen schriftliche Stellungnahmen geschickt. Zur Problematik und zu den politischen Umständen dieses Aufsatzes von Astrada während der Regierung Juan Peróns siehe Nora Andrea Bustos (2011): »Carlos Astrada: Sociología de la guerra y filosofía de la paz«, in: Cuadernos de Marte, Nr. 1 (2011). https://publicaciones.sociales.uba.ar/index.php/cuadernosdemarte/article /view/656/589. Bustos legt die Betonung auf die allmähliche Entpolitisierung der Ideen Astradas zu Krieg und Frieden und zum Begriff des instrumentalen Militarismus bei Scheler. Sie weist zugleich auf Astradas Distanzierung vom Peronismus und seine Annäherung an das Denken von José de San Martín u. a. hin. 178

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21. Francisco Romero: Intentionalität und Transzendenz des Geistes

Auf dem Kongress waren auch hispanoamerikanische Gäste wie der mexikanische Philosoph José Vasconcelos (1882–1959) und der peruanische Philosoph Alberto Wagner de Reyna (1915–2006) ver­ treten. Die Gastgeber waren bis auf einige wichtige Namen anwesend. Risieri Frondizi (1910–1983) und Francisco Romero lehnten ihre Teil­ nahme aus politischen und institutionellen Gründen ab.179 Über diese Umstände hinaus konnte man die Linie erkennen, die die wichtigsten argentinischen Philosophen von diesem Zeitpunkt an verfolgen wür­ den. Carlos Astrada blieb dem Existenzialismus treu, strebte jedoch mehr und mehr danach, ihn mit dem Marxismus zu einer Synthese zu bringen. Risieri Frondizi und Francisco Romero bemühten sich darum, eine Theorie der Wirklichkeit auf der Grundlage des phäno­ menologischen Empirismus aufzubauen.180 Diese Theorie sollte einerseits einen Begriff von der Welt und andererseits eine philoso­ phische Anthropologie liefern, die in einer Philosophie der Kultur gipfeln sollte. Es lohnt sich daher, auf die Figur Francisco Romero und sein philosophisches Projekt etwas näher einzugehen.

21. Francisco Romero: Intentionalität und Transzendenz des Geistes Francisco Romero (1891–1962), ein Schüler von Alejandro Korn und einer der bedeutendsten hispanoamerikanischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, stützte sich auf die Phänomenologie, um Grund­ ideen seines Meisters über die Freiheit und Transzendenz des Men­ schen eigenständig weiterzuentwickeln. 1930 veröffentlichte er einen 179 Clara Ruvituso befasst sich eingehend mit den politischen Hintergründen des Ersten Nationalkongresses. Sie gibt auch eine Einschätzung seiner Bedeutung für die argentinische und hispanoamerikanische Philosophie. Siehe Ruvituso (2015): S. 153– 278. Siehe auch Manuel López Forjas und Niklas Schmich (2018): »Solidaridad desde México. Dos cartas entre Eduardo Nicol y Francisco Romero en torno a las políticas universitarias«, in: Monograma. Revista Iberoamericana de Cultura y Pensamiento, Nr. 3 (2018), S. 83–100. 180 Risieri Frondizi spricht etwa von einem »totalen Empirismus«, der sich sowohl von der Husserl’schen Phänomenologie als auch von der Prozessphilosophie Alfred Whiteheads inspirieren ließe. Eine übersichtliche Darstellung von Frondizis Gedan­ ken findet man bei Gonzalo Scivoletto (2004–2005): »La filosofía de Risieri Frondizi en El punto de partida del filosofar«, in: Cuyo. Anuario de Filosofía Argentina y Ameri­ cana, Nr. 21/22 (2004–2005), S. 255–283.

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kurzen Aufsatz (»Literatura fenomenológica«) in der argentinischen Zeitschrift Verbum. Er ruft den Lesern hier den ersten (1916) und den zweiten (1928) Besuch Ortegas in Buenos Aires ins Gedächtnis und schildert anschließend die Atmosphäre der frühen Rezeption der Phä­ nomenologie in Argentinien: Auf eine anfängliche Skepsis gegenüber der Philosophie Husserls folgte eine Phase der sorgfältigen Lektüre seiner Schriften und vor allem des Versuches, sich die Methoden der Phänomenologie zu eigen zu machen.181 In seinem Aufsatz »Programa de una filosofía« (1940) skizziert Romero die Grundlinien eines Systems, welches sich auf einen phäno­ menologischen Empirismus als Methode stützt und die Intentionali­ tätslehre in eine Theorie der Wirklichkeit einfügt. Der Ausgangspunkt des philosophischen Programms war dabei die Feststellung, dass die realen Gegenstände und Gegenstandsbereiche als synthetische Ganzheiten bzw. Strukturen beschrieben werden können, die immer Neues darstellen. Der neuzeitliche Mechanizismus fasst das Seiende als Zusammensetzung von präexistenten Teilen auf. Damit übersieht er, dass ihr struktureller Charakter den Teilen von sich aus etwas Neues hinzufügt, was zwar auf ihnen gründet, sie jedoch transzen­ diert. Mehr noch: Die Teile jedes realen Seienden transzendieren sich selbst in der Gestaltung oder Entstehung seiner Struktur im Weltwerden. Nach Romero lässt sich diese Transzendenz auf jeder ontologischen Stufe der Wirklichkeit und der Entwicklung erkennen, was zu der Gleichung Sein = Transzendenz führe. »Die Erkenntnis der Strukturen gehört mit der Annahme der Transzendenzfähigkeit ihrer Bestandteile zusammen.«182 In dieser Hinsicht beschreibt Romero konkret die Reihe physi­ kalischer Körper-Lebewesen-Psyche-Geist als einen »Elan« (ímpetu) hin zur absoluten Transzendenz. Dieser Ausdruck hat bei ihm weder einen metaphysischen noch einen religiösen Sinn. Aufgrund seines Romero (1930): S. 771–775. Offensichtlich teilte Romero die Skepsis Korns gegenüber der Phänomenologie nicht. Zur Beziehung Romeros zur Husserl’schen Phänomenologie siehe Roberto Walton (2017): »La tradición fenomenológica en la Facultad de Filosofía y Letras de la Universidad de Buenos Aires«, Ideas, Nr. 5 (2017), S. 12-40; siehe auch Hernán Inverso (2022): »Contra las voces agoreras que predican la disolución del hombre«, in Chihaia, Ferrer, Pérez-Gatica und Schmich (2022). 182 Francisco Romero (1940): »Programa de una filosofía«, in: Sur, 73 (1940), S. 1– 24. Ich referiere den Text nach der Anthologie von José Gaos (1993): El pensamiento hispanoamericano. Antología del pensamienteo de la lengua española en la edad con­ temporánea. Hg. von Fernando Salmerón. Mit einem Vorwort von Elsa Cecilia Frost. Mexiko: UNAM, S. 1125. 181

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phänomenologischen Empirismus beschreibt Romero die Realität und das Weltwerden vielmehr als ständige Transzendenz jeder Struk­ tur oder ontologischen Stufe der Reihe gegenüber ihren Bestandtei­ len. Aus der Perspektive der Entwicklung kann man umgekehrt sagen, dass die Bestandteile jedes Seienden sich selbst transzendieren, wenn sie in eine neue Struktur einfließen. Die Transzendenz der physikalischen Körper ist kaum merklich, weswegen man in die Falle getappt sei, sie zu »immanentisieren« und von einem atomistischen und mechanistischen Standpunkt aus zu analysieren. Im Kontrast dazu erweise sich das Leben unzweideutig als innere Bewegung zur Transzendenz. In Anlehnung an Bergson beschreibt Romero es als Dauer (durée) bzw. schöpferische Entwick­ lung. Die ontologische Stufe der Psyche fügt der Struktur des Lebewe­ sens etwas Neues hinzu: Sie zeichnet sich durch Intentionalität aus, die auf der vorintentionalen Ebene des Organismus fundiert ist. Romero berief sich nun auf die deskriptive Psychologie Bren­ tanos und die Phänomenologie Husserls. Er fasste sie im Grunde als einen neuen »Transzendentismus« (trascendentismo) auf, der auf dem Intentionalitätsbegriff beruhe. Der damit verbundene phänome­ nologische Transzendenzbegriff sei noch grundsätzlicher als in der Lebensphilosophie, »weil er die immanente Grundlage untergräbt. Er scheint sie sogar zu zerstören, indem er die Intentionalität, das Bewusstsein-von als dessen Wesen darstellt«183. Der Schwerpunkt seines eigenen Intentionalitätsbegriffes lag bei Romero auf folgen­ dem Gedanken: Die intentional-psychische Transzendenz sei noch nicht völlig radikal; sie verbleibe auf einer funktionellen Ebene, da die Gegenstände der intentionalen Korrelation immer noch auf ein immanent-individuelles Zentrum zurückbezogen würden. Durch die psychische Intentionalität unterwerfe das Subjekt nämlich die Gegenstände seinen Interessen. Das philosophische Programm von Romero gipfelt in der Deskription einer geistigen Intentionalität, die sich als reine Trans­ zendenz, d. h. ohne jeden Rest von Immanenz, verstehen lässt. Die Transzendenz des Geistes zeichnet sich dadurch aus, dass sie das individuelle Interesse umkehrt: Indem das Ich die geistige bzw. per­ sönliche Einstellung einnimmt, wird es entindividualisiert. Es hält sich an das Seiende und das Wertvolle als solches, ohne beides auf sich als subjektiven Pol zurückzubeziehen. 183

Ebd., S. 1128.

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Romero bezeichnete sein philosophisches Programm als einen Monismus der Transzendenz, der einen ontologischen Pluralismus ermögliche. Denn der Elan zur Transzendenz entdecke und durch­ ströme immer neue Bereiche – die raumzeitlich-physikalische Welt, die Dauer der Lebewesen, die psychische Intentionalität – und münde in die geistige Intentionalität. Romero fasst ihn als eine »Geometrie der Transzendenz«, die immer neue Dimensionen aufschließe und in der Dimension bzw. Struktur der vom Geist erfassten Wesen und Werte seinen Höhepunkt erreiche.184 Die Dimension des Geistes sei keine Immanenz mehr, sondern reine Transzendenz. Auf dieser Ebene des Geistes erweise sich das persönliche Zentrum bzw. die Person als Bewusstsein von und Wille zur Transzendenz. Romeros Gleichstellung von Sein und Transzendenz bedeutete in keiner Hinsicht eine Rückeroberung der traditionellen Metaphysik. Durch die Erneuerung des phänomenologischen Intentionalitätsbe­ griffes setzte er den Immanenzphilosophien vielmehr einen »empiri­ schen Transzendentismus« entgegen. Er entwarf sowohl eine Ontolo­ gie des Weltwerdens als auch eine Theorie der Philosophiegeschichte, indem sein empirischer Transzendentismus das universelle Streben nach Transzendenz aufzeigte und dem Dynamismus des Geistes in den verschiedenen philosophischen Systemen nachging. In seiner Teoría del hombre (1952) setzt Romero das Programm eines empirischen Transzendentismus in eine philosophische Anthro­ pologie um, in die er den Intentionalitätsbegriff wieder aufnimmt und neu interpretiert.185 Er thematisiert zunächst einen »vorintentionalen Psychismus« als Fluss psychischer Zustände eines Individuums, der 184 Heinz Krumpel hat eine Stelle aus Romeros Werk Papeles para una filosofía über­ setzt, die sich auf diese »Geometrie der Transzendenz« bezieht: »Die Transzendenz kolonialisiert erfolgreich jeden Bereich, auf den sie sich ausdehnen kann, und entdeckt dann neue Bereiche: den des Zeitlich-Räumlichen, der Dauer, der psychischen Inten­ tionalität, der geistigen Intentionalität. Die Geometrie der Transzendenz findet neue Dimensionen, mit einer höchsten und letzten Dimension: die Dimension, die sich auf Wesentlichkeit und Wert richtet«. Krumpel (2011): S. 231–232. Dieses Zitat stammt aus Francisco Romero (1945): Papeles para una filosofía. Buenos Aires: Editorial Los­ ada, S. 9. 185 Francisco Romero (2008): Teoría del hombre. Buenos Aires: Editorial Losada (erste Auflage 1952). 1956 schrieb José Gaos eine Rezension der zweiten Auflage der Teoría del hombre für die Zeitschrift Dianoia. Gaos erläutert hier ausführlich den Inhalt von Romeros Werk und vergleicht es mit den philosophischen Anthropologien von Scheler und Heidegger. José Gaos (1992): Obras completas IX – Sobre Ortega y Gasset y otros trabajos de historia de las ideas en España y la América española. Páginas adi­

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die vorobjektive Grundlage für die höheren Akte des Geistes bilde. Gemeint ist eine psychische Sphäre, in welcher das Individuum seine Zustände auf verworrene Weise erlebt, ohne sie auf sich selbst zurückzubeziehen. Der intentionale Psychismus ist dagegen als Ver­ hältnis eines subjektiven Pols zu den Gegenständen strukturiert. Die intentional-psychischen Akte des Gefühls, des Willens und der Erkenntnis,stürzen‘ sich auf die Gegenstände, wobei es immer einen Rückweg zum Subjekt gibt, da sie im Dienst der theoretischen, praktischen und ästhetischen Interessen des Subjektes stehen. Das Eigentümliche der geistigen Akte besteht im Gegensatz dazu darin, dass sie sich auf die Gegenstände werfen und dort verbleiben. Dies ist das Thema von Text 12 »Intentionalität und Geist«. In der geistigen Haltung setzt der Mensch die Gegenstände nicht um seinetwillen, sondern er setzt sich für sie. Die Deskription dieser vergeistigten Intentionalität steht im Mittelpunkt von Teoría del hombre. Eine zentrale These des Buches lautet, dass die psychische Sphäre keineswegs die höchste Stufe der Intentionalität bilde. Romero bezeichnet sie als »reine« bzw. »bloße Intentionalität«, um sie von der vergeistigten Intentionalität abzuheben. Diese stellt nur scheinbar eine einfache Struktur dar. Denn obwohl es in ihr keinen Rückweg mehr zum subjektiven Zentrum gibt, leistet sie eine »Reinigung« des intentionalen Aktes. Er wird insofern erweitert und verallgemeinert, als der egoistische Rückbezug aufgehoben wird. Auf der Ebene der Intentionalität des Geistes wendet sich der Akt einzig und allein dem Wesen der Gegenstände und den Werten zu. Der geistige Akt unterscheidet sich nicht strukturell von dem bloß intentionalen Akt, insofern er intentional gerichtet ist. Dennoch übertrifft er jede rein subjektive Einstellung. In dieser Hinsicht geht die Deskription der Intentionalität des Geistes einen entscheidenden Schritt hin zum radikalen Objektivismus als geistiger Haltung oder Seinsweise. Das Wort Objektivismus hat hier eine andere Bedeutung als bei Ortega und Zubiri. Die reine, bewusstseinsmäßige Intentiona­ lität bedeutet zwar soviel wie,objektive Richtung‘, jedoch erschöpft sie keineswegs den Sinn der Objektivität, da sie noch immer mit individuellen Interessen befrachtet ist. Denn sobald sich der Elan des Subjekts zu etwas anderem als sich selbst abschwächt, kehrt er zum Subjekt zurück. Der rein intentionale Akt bietet dem Subjekt cionales, Hg. von Fernando Salmerón. Mit einem Vorwort von Octavio Castro. Mexiko: UNAM, S. 387–410.

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nützliche Überreste der Gegenstände an; daher gelingt es ihm noch nicht, die Ebene eines radikalen Objektivismus als Transzendenz des Geistes zu erreichen. Der geistige Akt ist im Gegensatz dazu offene, rein objektive Richtung, die Projektion des Subjektes auf etwas, sofern es eben dieses »etwas« ist. Gemeint ist damit konkret z. B. die Ebene der höheren Intentionalität der Einfühlungsakte bzw. der Fremderfahrung. Romeros Absicht ging dahin, auf der empirisch-phänomenolo­ gischen Deskription der Dualität intentionale Funktionalität-Geis­ tigkeit eine philosophische Anthropologie und Kulturphilosophie aufzubauen. Eine solche Dualität liege im Wesen des Menschen und jeder seiner Kulturleistungen zugrunde. Kurz: Sie sei die Grundtat­ sache des Menschen und der Kultur. Aber »die Kultur steht nicht gänzlich im Zeichen des Geistigen«186. Die höheren und nachhaltigen Kulturleistungen des Menschen seien jene, die der Geist – auf der Grundlage seines Psychismus, aber zugleich durch einen transzendie­ renden Sprung in das Überindividuelle – im Verlauf der Geschichte hervorgebracht habe.

186

Romero (2008): S. 264.

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22. Das »Ateneo de la juventud« und die Überwindung des Positivismus In Mexiko wurde die Phänomenologie später als in Spanien und Argentinien aufgenommen, nämlich erst, als Adalberto García de Mendoza (1900–1965) und Antonio Caso (1883–1946) in den 1930er Jahren Monographien zur Philosophie Husserls und der phä­ nomenologischen Philosophie vorlegten.187 Dabei darf man nicht den philosophischen Zusammenhang dieser Rezeption aus den Augen verlieren. Der Beginn des 20. Jahrhunderts war eine Zeit der Wie­ dergeburt der Philosophie in Mexiko. Wenige Jahre vor dem Aus­

187 Obwohl Adalberto García de Mendoza ein Schüler von Antonio Caso war, veröf­ fentlichte er vor ihm die ersten Monographien zur Phänomenologie in Mexiko. Auf­ grund angeblich zahlreicher Ungenauigkeiten in der Interpretation von Husserls Schlüsseltexten bezeichnet Antonio Zirión García de Mendozas Bemühungen jedoch als einen »Anfang, der nichts beginnt«, und schließt: »García de Mendozas Versuch, mit Hilfe der Phänomenologie das Logik- und Philosophiestudium in Mexiko zu revolutionieren, ließ weder Ehrgeiz noch Eile vermissen, jedoch fehlten ihm Reife, Geduld und viel Assimilationsarbeit«. Zirión (2009): S. 29. Dennoch zeigen García de Mendozas Arbeiten, dass er den »metaphysischen Idealismus«, welcher der Hus­ serl’schen Phänomenologie eigen ist, eher schätzte, indem er dessen Fundament auf einer transzendentalen Erfahrung des Apriorischen erkannte. Zugleich betrachtete er diese Erfahrung als Grundlage für die Begründung einer philosophischen Anthropo­ logie und Kulturphilosophie. García de Mendoza beschrieb ferner das reine Bewusst­ sein als den Ort der Bedeutungen oder Möglichkeiten der logischen Ideen, deren Ver­ wirklichung die Mathematik und damit die Physik begründe. Auf diese Weise fundiere die Phänomenologie die Wissenschaftstheorie. Diese Idee wurde von Antonio Caso systematisch weiterentwickelt. Mehrere Werke von Adalberto de García de Mendoza sind heute in elektronischer Form verfügbar, so Adalberto García de Mendoza (1932): Lógica. Obra de texto en la Escuela Nacional Preparatoria de México. Kindle Version; ders. (1933): Fenomenología. Filosofía moderna. Husserl, Scheler, Heidegger. Conferen­ cias. Kindle Version; ders. (1936): La filosofía y la teoría de la relatividad de Einstein. Kindle Version.

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bruch der mexikanischen Revolution (1910–1920) setzten sich junge Intellektuelle mit dem jahrzehntelang vorherrschenden offiziellen Positivismus der mexikanischen Akademie auseinander. Sie gaben sich mit dem programmatischen Studium der Werke Auguste Comtes und John Stuart Mills nicht länger zufrieden und lasen begeistert Platon, Arthur Schopenhauer, Immanuel Kant, Henri Poincaré, Émile Boutroux, Rudolf Eucken, William James, Benedetto Croce und Henri Bergson.188 Zunächst trafen sie sich in kleinen Arbeits- und Lesekrei­ sen. Im Jahre 1909 begründeten sie den Ateneo de la juventud, ein Kulturzentrum, in dem sie Vorträge hielten und philosophische The­ men zur Debatte stellten. Ihr Ziel war es, dem neuen mexikanischen Denken eine gesellschaftliche Form zu geben. Die markantesten philosophischen Persönlichkeiten des Ateneo waren Antonio Caso und José Vasconcelos. Ihre Vorträge aus Anlass der Jahrhundertfeier der Unabhängigkeit Mexikos (1910) gaben die Leitmotive ihrer jeweiligen Philosophie zu erkennen. Caso bestimmte das menschliche Leben nicht nur durch die Vernunft, sondern auch durch das, »was die Geschichte der Menschheit in den symbolischen Formen des Heldentums und der Liebe darstellt«189. Er definierte ferner den Willen als ein Vermögen, das »[…] entweder besiegt oder aber besiegt wird, jedoch äußerst aktiv ist und die Entwick­ lung der Gemeinschaft sowie der Individuen in Gang setzt«190. Im Einklang mit der Philosophie Henri Bergsons beschrieb Caso die metaphysische Freiheit als eine unmittelbare Bewusstseinstatsache, die sich dem Determinismus der Naturgesetze entziehe. Während diese den Gegenstand des mathematisch-analytischen Verstandes bildeten, werde die Freiheit durch Intuition erfasst. Auf diese Weise stellte sich Caso entschlossen dem positivistischen Aufbau einer Ethik auf der Basis der Naturwissenschaften entgegen, sofern in dieser das menschliche Tun als bloße Spiegelung von Naturvorgängen aufgefasst werde.

188 José Vasconcelos (1882–1959) beschwört diese Zeit als eine Zeit des wiederge­ borenen Interesses an Metaphysik, Erkenntnistheorie und Ästhetik. Siehe hierzu Juan Hernández Luna (1962): Conferencias del Ateneo de la juventud. México: Centro de Estudios Filosóficos-UNAM, S. 11. Eine unverzichtbare Lektüre, um die historische und philosophische Situation des Ateneo zu verstehen, ist Leopoldo Zea (1985): El positivismo y la circunstancia mexicana. Mexiko: Fondo de Cultura Económica. 189 Hernández Luna (1962): S. 38. 190 Ebd.

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22. Das »Ateneo de la juventud« und die Überwindung des Positivismus

Vasconcelos wiederum brachte den Geist des Ateneo so zum Ausdruck: Der Positivismus Comtes und Spencers konnte uns niemals von unserem Streben abhalten. Er hat heute keine Vitalität und keine Stütze in der Vernunft mehr, weil er sogar den Ergebnissen der Wissen­ schaft widerspricht. Wir befreien uns letztlich von einer Belastung des Bewusstseins und unser Leben erweitert sich.191

Schon bald verfolgten Vasconcelos und Caso unterschiedliche philo­ sophische Wege. Vasconcelos interessierte sich beispielsweise für das griechische Denken (Pitágoras, una teoría del ritmo, 1916 [Pythagoras. Eine Theorie des Ryhtmus]) und die indische Philosophie (Estudios indostánicos, 1920).192 Er war einer der ersten, der in La raza cósmica (1925) und Indología (1926) – nicht selten auf umstrittene Weise – die Geschichte und das kulturelle Schicksal des lateinamerikani­ schen Menschen zum Thema machte.193 In erster Linie beabsichtigte er jedoch den Aufbau eines philosophischen Systems, welches die höheren Gebilde der Erkenntnis und der religiösen Erfahrung aus einer ursprünglichen Intuition des Schönen bzw. einem ästhetischen Apriori erklären können sollte. Daher bezeichnete er dieses System als einen »ästhetischen Monismus«194. 191 Man muss den Sinn des Antipositivismus des Ateneo richtig verstehen: Weder Caso noch Vasconcelos beabsichtigten die Restauration einer vorkritischen oder wissenschaftlich unbegründeten Metaphysik. Sie warfen dem Positivismus vielmehr vor, unvollständig und wissenschaftlich inkonsequent zu sein. Erst vor diesem Hinter­ grund lässt sich der Einfluss von Henri Bergson auf beide Denker sowie die spätere enthusiastische Aufnahme der Husserl’schen Phänomenologie bei Caso verstehen. 192 José Vasconcelos (1921): Pitágoras, una teoría del ritmo. La Habana: Imprenta »El Siglo XXI«; ders (1920): Estudios indostánicos. Mexiko: Ediciones México Moderno. 193 José Vasconcelos (1925): La raza cósmica: misión de la raza iberoamericana. Barcelona: ohne Angabe zum Verlag; ders. (1926): Indología: una interpretación de la cultura iberoamericana. Paris: Agencia Mundial de Librería. 194 1935 schreibt Vasconcelos: »Mein System zielt darauf ab, eine auf der Wissen­ schaft basierte Philosophie zu entwickeln, welche aber dennoch eine überwissen­ schaftliche und spiritualistische Reichweite hat. Meiner Ansicht nach strebten Bergson und Meyerson ein ähnliches System an. Ich denke, dass ein moderner Philosoph nur so Philosophie betreiben kann. […] Plotin, der große Vorgänger des gegenwärtigen wissenschaftlichen Denkens, hatte bereits den Weg gewiesen: Man müsse vom Atom ausgehen, um ohne Kontinuitätsbruch den Gipfel der Gotteserkenntnis zu erreichen«. José Vasconcelos (1945): Estética. Mexiko: Ediciones Botas. Zum politischen und phi­ losophischen Kontext des Denkens von José Vasconcelos siehe die Monographien Guillermo Hurtados: (2016): La revolución creadora. Antonio Caso y José Vasconcelos en la Revolución mexicana. Mexiko: UNAM, und ders. (2020): El pensamiento del

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Seine spätere Rezeption der Husserl’schen Phänomenologie beschränkte sich auf wenige Stellen und war im Grunde negativ. Er brandmarkte sie als ein »Schachspiel von Formen und Abstraktionen, die für ›Gegenstände‹ und eidà bzw. Wesenheiten genommen wer­ den«. Seiner Ansicht nach ist die Phänomenologie »blind« für die Daten der Wissenschaft. Er verglich sie daher kritisch mit dem Empi­ rismus, »der uns wenigstens einen Aspekt der Erkenntnis genau und deutlich zeigt, nämlich das sinnliche Datum in seiner ganzen, relati­ ven Wahrheit«195.

23. Antonio Caso: Existenzphilosophie, Phänomenologie und Positivismus der Wesenheiten Antonio Casos weitaus einsichtsvollere Rezeption der Phänomenolo­ gie Husserls war dagegen von großer Bedeutung. Er begrüßte sie als eine umfassende Philosophie der Erfahrung und den echten, wahrhaf­ segundo Vasconcelos. Mexiko: UNAM. Zu einer kritischen Darstellung des philoso­ phischen Systems Vasconcelos siehe Fernando Salmerón (2000): Obras 3. Filosofía y educación. Mexiko: El Colegio Nacional, S. 179–195 sowie Gustavo Leyva (2018): La filosofía en México en el siglo XX. Un ensayo de reconstrucción histórico-sistemática. Mexiko: Fondo de Cultura Económica, S. 81–108. 195 Ebd. Zu der voreiligen und unfairen Kritik Vasconcelos an der Phänomenologie schreibt Antonio Zirión (2009): »[…] Sie war keine bloß theoretische Einwendung. Sie zeigte vielmehr alle Symptome einer physiologischen und zornigen Abneigung. Es stehen theoretische Gründe im Hintergrund; aber das Problem liegt darin, dass die theoretischen Motive oder Gründe sich nicht […] von den Flüssen und Rückflüssen der leichtfertigsten Aufregung unterscheiden lassen. Jedenfalls lassen sich die Vor­ würfe gegen die Phänomenologie kaum als kritische Vorbehalte oder Einwände for­ mulieren. Viele sind schlicht und einfach Vasconcelos’ Beschimpfungen«. Zirión (2009): S. 39. Trotzdem ließ sich aus der Kritik Vasconcelos’ eine legitime Ambition der philosophischen Generation des Ateneo ableiten: Sowohl Caso als auch Vascon­ celos hatten sich von Anfang an vorgenommen, ihr philosophisches Denken mit den neuesten Erkenntnissen der Naturwissenschaften zu verbinden. Vor diesem Hinter­ grund warf Vasconcelos Husserl beispielsweise vor, dass »nicht einmal seine ganze analytische Genialität ihn auf die Idee [brachte], die dem Wissenschaftler ein Ver­ suchsergebnis suggeriert: die Idee eines Raumes, in dem sich Quantenwellen bilden (espacio de configuración de la onda cuántica)«. Ebd., S. 173. Während Vasconcelos irrtümlich die Phänomenologie für inkompatibel mit der Naturwissenschaft erklärte, zeigten sich Caso und sein Schüler Adalberto García de Mendoza dagegen imstande, das Programm einer neuen philosophischen Pädagogik für Mexiko sowie einer phä­ nomenologisch angelegten Interpretation der Wissenschaftsgeschichte zu entwerfen.

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23. Existenzphilosophie, Phänomenologie und Positivismus der Wesenheiten

ten Positivismus. Die Gründe für diese Bewertung müssen zunächst in seiner frühen Philosophie gesucht werden, welche existenziale Themen avant la lettre verfolgte. In den Jahren 1914/1915 verfasste Caso drei Werke: La filosofía de la intuición, Problemas filosóficos und Filósofos y doctrinas morales, die seine Herangehensweise und seinen philosophischen Ansatz darstellten. 1916 veröffentlichte er ein Büchlein in dem damals neuen Verlag Porrúa, das den Titel La existencia como economía y caridad. Sobre la esencia del Cristianismo trägt.196 Diese Schriften markieren zwei Phasen seines Denkens, die einander in kurzer Zeit ablösten. In seinen ersten Büchern setzt sich Caso mit dem Positivismus auseinander und plädiert unter dem Einfluss Bergsons für die Intuition als Methode der Philosophie. In La existencia como economía y caridad dagegen umreißt er erstmals die Grundlinien einer eigenen Philosophie der Existenz.197 Auf den ersten Blick schien La existencia como economía y caridad nichts weiter als eine prägnante Darstellung des Lebens bzw. Denkens christlicher Persönlichkeiten zu sein (genannt werden Johannes der Täufer, Paulus von Tarsus, Augustinus von Hippo, Karl der Große, Gregor IV., Franz von Assisi, Martin Luther, Teresa von Ávila, Blaise Pascal und Leon Tolstoi). Tatsächlich handelte es sich dabei um eine Antwort Casos auf die Lebensphilosophien des 19. Jahrhunderts.198 Die Figuren stehen als Symbole für das menschliche Leben im Verlauf der Geschichte, sofern es sich nicht auf den ökonomisch-biologischen Aspekt des Egoismus des bloßen Überlebens reduziert. 1919 erschien eine neue, erweiterte Auflage, der Caso den Titel La existencia como economía, como desinterés y caridad gab.199 Er beschreibt hier die christliche Nächstenliebe als die höchste Ebene der Existenz, sofern sie die biologische Dimension des Lebens (maximaler Ertrag mit 196 Antonio Caso (1919): La existencia como economía y caridad. Sobre la esencia del Cristianismo. Mexiko: Editorial Porrúa. Der Verlag Porrúa, 1904 von spanischen Emigranten in Mexiko gegründet, ist eines der wichtigsten Verlagshäuser in der spanischsprachigen Welt. Es veröffentlicht bis dato zahlreiche Werke zu Literatur, Philosophie, Geschichte, Geistes- und Rechtswissenschaften, meistens im Taschen­ buchformat. 197 Die dritte und letzte, mit neun neuen Kapiteln versehene Auflage wurde 1943 veröffentlicht, nachdem Caso sich ein Jahrzehnt lang mit der Husserl’schen Phänome­ nologie sowie mit der Axiologie Schelers und der existenzialen Analytik Heideggers befasst hatte. 198 Siehe Hurtado (2016): S. 146. 199 Antonio Caso (1919): La existencia como economía, como desinterés y caridad. Mexiko: Ediciones México Moderno.

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Die frühe Rezeption der Phänomenologie in Mexiko

minimalem Aufwand) wie auch die desinteressiert-kontemplative ästhetische Betrachtung transzendiert. Die ausgewählten Auszüge aus dem Hauptwerk Casos (Text 13 »Existenz als Ökonomie, Uninter­ essiertheit und Barmherzigkeit«) enthalten den Entwurf einer neuen Lebensphilosophie, die sich auf naturwissenschaftliche Tatsachen sowie auf Grundintuitionen (intuiciones fundamentales) höherer Exis­ tenzebenen als der des urtümlichen Egoismus des Lebens beruft. Caso begriff die ästhetische und religiöse Erfahrung als einen »Lebensüberschuss« (demasía vital). Es handle sich dabei um Tätig­ keiten, die ebenso Bedingungen für das menschliche Leben seien wie das Stillen des Hungers und die Befriedigung des Geschlechtstriebes. Der Unterschied liege darin, dass sie anderen Zwecken als den rein biologischen dienten200 und eine schöpferische Energie entfalteten, die das ökonomische Prinzip nicht zu erklären vermöge. Damit postu­ liert Caso kein transzendentes Ziel des Lebens; er betrachtet vielmehr die Barmherzigkeit als eine sich der egoistischen Ordnung entzie­ hende Lebenstatsache, die erst durch die Praxis der Nächstenliebe zustande kommt. Für Caso bedeutete die religiöse Erfahrung weniger den Glauben an einen durch Vernunft beweisbaren oder durch eine Institution tradierten Gott als eine Handlung und eine höhere, ethi­ sche Form der Existenz. »Wenn es keine guten Taten gibt, dann gibt es auch keinen Gott«, so lautet eine heterodoxe Formel Casos.

24. Die Kontroverse mit Samuel Ramos: Ein Wendepunkt in der Geschichte der mexikanischen Philosophie 1927 veröffentlichte Samuel Ramos (1897–1959) den Aufsatz »Anto­ nio Caso. La campaña antipositivista« (»Antonio Caso. Die antipositi­ vistische Kampagne«) in der mexikanischen Zeitschrift Ulises, welche im selben Jahr als das kulturelle Organon einer neuen Generation die Bühne betreten hatte.201 Ramos setzt sich hier grundsätzlich mit der Philosophie Casos auseinander. Dieser genoss damals das Prestige des Philosophieprofessors und Kenners der bedeutendsten französi­ 200 Im Gegensatz zu den höheren Tieren dient das Spiel des Menschen anderen Zwe­ cken als der Raubübung oder dem Erwerb überlebenswichtiger körperlicher Fähigkei­ ten. 201 Samuel Ramos (2008): Obras 1. Filosofía y educación. Hg. von Rosa Campos de la Rosa. Mit einem Vorwort von Tania López Osuna. Mexiko: El Colegio Nacional, S. 75–89.

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24. Die Kontroverse mit Samuel Ramos

schen Philosophen (Maine de Biran, Émile Boutroux und vor allem Henri Bergson). Ramos, ein Schüler Casos, war wiederum ein junger Denker, der sich mit dem Werk Ortega y Gassets und der Verbreitung der deutschen Philosophie bei der Revista de Occidente auskannte. In seinem Aufsatz rechnet er es Caso als Verdienst an, durch eine erfolgreiche Kampagne gegen den Positivismus die Philosophie in Mexiko eingeführt zu haben.202 Er lobt ferner das Vorhaben Casos, die utilitaristische Moral durch eine Beschreibung »nutz- oder interesseloser Phänomene wie die Kunst, das Heldentum und die Barmherzigkeit« zu widerlegen.203 Dennoch war eine heftige Polemik zwischen beiden Denkern unvermeidlich. Im Grunde warf Ramos Caso vor, die positivistische »Wissenschaftsgläubigkeit« durch eine pragmatische und intuitionistische Verkleinerung der Vernunft zu bekämpfen. Die Philosophie Casos war aus seiner Sicht »neuroman­ tisch«,204 antiintellektualistisch und letztlich nicht imstande, eine philosophische Tradition in Mexiko zu etablieren.205 Ramos zufolge 202 »Weil man den damals über die Bildung herrschenden Positivismus nicht Philo­ sophie nennen kann«. Ramos (2008): S. 77. 203 Ebd. S. 81. In diesen Worten Ramos’ lag eine gewisse Ironie. Caso antwortete entschlossen: »Ich werde immer behaupten, dass die Interesselosigkeit und die Barm­ herzigkeit die ursprünglichsten Lebensakte sind, die einzigen, die sich nicht durch physikalische, biologische und psychologische Gesetze erklären lassen. Ich glaube, dass ich es in meinem Buch bewiesen und nicht deklamiert habe. Aber Herrn Ramos interessiert mein philosophisches Denken nicht. Ihm gilt es darum, mich vor dem Leser als einen geschickten Redner, einen Rhetoriker oder einen Schauspieler darzu­ stellen, der sich lediglich als Philosoph ausgibt.« Antonio Caso (1971): Obras comple­ tas I – Polémicas. Mit einem Vorwort von Juan Hernández Luna. Textauswahl von Rosa Krause de Kolteniuk. Mexiko: UNAM, S. 147. 204 Ramos wiederholte seine Kritik später in seinem Aufsatz »Antonio Caso, filósofo romántico« (1946): »Die Philosophie der Intuition, der Vitalismus und der Pragma­ tismus sind Ideen des romantischen Geistes. Der Vorrang der Intuition und des Gefühls über die Vernunft und der Triebe über ihre Grundsätze sind Bewertungen, die durch einen romantischen Geist bedingt sind«. Die Größe und zugleich Schwäche des romantischen Geistes liege, so Ramos weiter, darin, dass er »eine Kluft zwischen der idealen und der wirklichen Welt aufreißt«. Samuel Ramos (2011): Obras 3. Artículos, entrevistas y discursos. Hg. von Rosa Campos de la Rosa. Mit einem Vorwort von Tania López Osuna. Mexiko: El Colegio Nacional, S. 28. 205 »Man erkannte in seiner Lehrtätigkeit keine Absicht, eine philosophische Aka­ demie zu begründen. Wie Sokrates nahm sich Caso vor, die Jugend zu moralisieren und damit eine neue Generation von unbestechlichen Bürgern zu bilden. Er schärfte ihr einen Pragmatismus ein, der eine aktivistische Konzeption der Existenz voraus­ setzte. Für ihn liegt das Wesentliche der Existenz in keiner spekulativen Betrachtung, sondern im Handeln«. Ebd., S. 82.

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muss der Philosoph zuallererst ein Zuschauer seiner Geschichte werden – auf diese Weise schloss er sich Ortegas Gedanken einer primären Korrelation Ich-»Umstände« bzw. Leben-Welt an.206 Caso antwortete mit dem Aufsatz »Ramos y yo. Un ensayo de valoración personal« (1927), in dem er die Kritik seines Schü­ lers entschieden zurückwies.207 Im Rückblick kann man allerdings sagen, dass sich die Debatte mit Ramos positiv auf seine eigene Philosophie auswirkte. Der Polemik folgte eine intensive Auseinan­ dersetzung Casos mit der deutschen Philosophie. Die deskriptive Psychologie Brentanos und die Phänomenologie Husserls boten ihm eine Ergänzung zum Intuitionsbegriff Bergsons an (siehe jeweils die ausgewählten Texte 13 und 14, »Was ist Bewusstsein (Brentanos Entdeckung)« [1938] und »Intuitionismus« [1957]). Durch die Vor­ bereitung einer neuen Auflage von La existencia como economía, desinterés y caridad (die erst 1943 erschien)208 wollte Caso ferner seine Existenzphilosophie auf den neuesten Stand bringen sowie einen genuinen Positivismus durch eine phänomenologische Erkenntnisund Wissenschaftstheorie begründen.209 Ramos schrieb später in seinem Aufsatz »Ortega y Gasset y la América Española« (1938): »Die bedeutendste Lehre Ortegas für Lateinamerika ist der zutiefst spanische Charakter seines Denkens und Stils. Wir sehen darin eine beispielhafte Haltung, wel­ che uns die Basis für die legitime Ambition auf ein nationales Denken gibt«. Ramos (2011): S. 231. 207 Caso (1971): S. 152–157. 208 Die letzte Version bildet einen Band der Gesammelten Werke Casos: Antonio Caso (1972): La existencia como economía, como desinterés y como caridad. Hg. von Rosa Krauze de Kolteniuk. Mit einem Vorwort von José Gaos. Mexiko: UNAM. 209 Seitdem Samuel Ramos Caso als neuromantischen Philosophen charakterisiert hatte, ist es in der mexikanischen Philosophiegeschichtsschreibung zu einem Gemein­ platz geworden, dass sein Werk unwissenschaftlich sei. So schreibt z. B. Antonio Zirión: »Caso diskutierte niemals direkt das Bestreben Husserls, die Phänomenologie als eine streng wissenschaftliche philosophische Disziplin aufzubauen […]. [E]r hielt die Philosophie immer für eine Weisheit, die dazu bestimmt sei, sich durch Erziehung mehr oder weniger schnell auf das Leben auszuwirken. Als er sich mit einer Disziplin auseinandersetzte, die sich gezielt von der Auffassung der Philosophie als Wesens­ anschauung oder Weisheit distanzierte [nämlich der Phänomenologie], war er nicht imstande, sie als eine philosophische Forschungsrichtung (filosofía de investigación) anzuerkennen. Er zog es vor, in der Phänomenologie vermittelbare und lehrbare Ergebnisse im Sinne eines Lehrsystems zu finden. In dieser Hinsicht ist der wirklich verzweifelte Versuch Casos, den Husserl’schen Anschauungsbegriff mit dem Bergsons […] zu vereinbaren, von großer Bedeutung. Caso konnte zu keinem Zeitpunkt erken­ nen, dass gerade der Appell an die Anschauung bei Husserl der Phänomenologie […] ihren rationalen Charakter verleiht«. Zirión (2009) S. 33. Selbst wenn man zugeste­ 206

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25. Antonio Casos’ Aufnahme der Phänomenologie

25. Antonio Casos’ Aufnahme der Phänomenologie 1924 veröffentlichte Caso zwei Werke zur Husserl’schen Phänomeno­ logie: El acto ideatorio. (Las esencias y los valores) und La filosofía de Husserl.210 Erst 1946 fügte er beide Bücher zu einem Band zusammen, dem er Beilagen und auf Spanisch übertragene Auszüge aus den Car­ tesianischen Meditationen hinzufügte. Dessen Titel lautete jetzt El acto ideatorio y la filosofía de Husserl.211 Dazwischen hatte er eine Reihe von Vorlesungen zum Thema Positivismo, neopositivismo y fenomeno­ logía im Jahre 1941 an der philosophischen Fakultät der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko gehalten. Es handelte sich um das Programm einer phänomenologischen Neubetrachtung der posi­ tivistischen Philosophie, des Neupositivismus der Wiener Schule und der neuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte, das erstaunlicherweise hen würde, dass Casos Interesse vorrangig auf die existenziellen Fragen gerichtet war, die er in seinem Hauptwerk aufgeworfen hatte, könnte man nicht wirklich behaupten, dass sein Verständnis der Phänomenologie wenig oder gar keinen Bezug zu ihrer Charakterisierung als strenge Wissenschaft bei Husserl hatte. Obwohl Caso nicht ausdrücklich auf seine Philosophie als strenge Wissenschaft einging, war doch ein wesentlicher Aspekt seiner Philosophie die phänomenologische Grundlegung des Positivismus und der Wissenschaftsgeschichte. Es darf ferner nicht vergessen werden, dass Caso eine philosophische Synthese von Vernunft und Intuition oder, im weiteren Sinne, von Vernunft und Erfahrung anstrebte. Was den Anschauungsbegriff angeht, so lassen sich zwar Unterschiede zwischen Husserl und Bergson feststellen, jedoch geht es dabei nicht unbedingt um gegensätzliche Begriffe wie das Rationale und das Irrationale. Die Bergson’sche Intuitionstheorie (geschweige denn der Autor von L’évo­ lution créatrice, Durée et simultanéité und La pensée et le mouvant selbst) ist zudem in diesem vermeintlichen Gegensatz kaum zu erkennen. Vielmehr strebte sie einerseits methodische Präzision in Bezug auf ihren Gegenstand an, andererseits stützte sie sich strikt auf die Daten der Erfahrung und der Wissenschaften – auf deren Erforschung Bergson so großen Wert gelegt hatte. 210 Antonio Caso (1934a): El acto ideatorio y la filosofía de Husserl. (Las esencias y los valores). Mexiko: Editorial Porrúa; (1934b) La filosofía de Husserl. Mexiko: Imprenta Mundial. 211 Die drei Schriften Casos zur Phänomenologie wurden aufgenommen in Anto­ nio Caso (1972): Obras completas VII – El acto ideatorio y la filosofía de Husserl. Positivismo, neopositivismo y fenomenología. Mit einem Vorwort von Luis Villoro. Textauswahl von Rosa Krause de Kolteniuk. Mexiko: UNAM. In seinem aufschluss­ reichen Vorwort weist Villoro auf Probleme und Aporien der Interpretation der Phänomenologie bei Caso hin. Im Rückblick auf den ganzen Zusammenhang der Philosophie Casos lässt sich jedoch seine Behauptung durchaus bestreiten, dass »die Phänomenologie unvermeidlich mit der Richtung des Denkens Casos in Konflikt treten musste«. Ebd., S. XXIV.

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zu wenig oder gar keine Aufmerksamkeit in der Historiographie der Rezeption der Phänomenologie in Mexiko bekommen hat.212 In Positivismo, neopositivismo y fenomenología griff Caso – von einem phänomenologischen Standpunkt aus – erkenntnistheoretische und wissenschaftliche Fragen auf, die er bereits in seinen Vorträgen zu »[Émile] Meyerson y la física moderna« (1939) an La Casa de España (heute El Colegio de México) und mehreren Artikeln für die mexikani­ sche Zeitung El Universal aufgeworfen hatte.213 Die Vorlesungen zum Positivismus, Neupositivismus und der Phänomenologie entfalteten ein Programm für eine phänomenologische Revision des Positivismus (von Comte bis zur Wiener Schule) und der Wissenschaft (von der neuzeitlichen Physik bis zur Relativitätstheorie und der Quantenme­ chanik). Im Mittelpunkt der Schriften Casos zur Phänomenologie steht der Begriff des ideenbildenden Aktes (acto ideatorio) bzw. der Wesensanschauung. Caso zufolge bildet sie die Grundlage für einen echten, nicht länger selektiv vorgehenden Positivismus. Denn durch die Wesensanschauung würden die Ganzheitlichkeit der Erfahrung und die Tiefendimension der Wirklichkeit wiedererlangt.214 Instru­ mentelle Hilfsmittel boten ihm dazu die Philosophie Bergsons und die Phänomenologie Husserls. Die individuelle Intuition und die eidetische Anschauung zeichneten sich durch Präzision bezüglich ihres Gegenstandes aus. Die »ästhetische Anschauung« Bergsons erringe das Individuelle zurück, von dem die Wissenschaft aufgrund ihrer methodologischen Vorgaben abstrahieren müsse. Die Frage war allerdings, wie sich die Wesensstruktur der Realität auf Dauer wiedergewinnen lässt. Wie Gaos in Bezug auf die Vorlesungen von Caso zum Positivismus, Neupositivismus und der Phänomenologie bemerkte: »Wenn das Ideal die ›Wirklichkeit‹ hat, die der Positivismus 212 Dieses Versäumnis ist umso verwunderlicher, als José Gaos bereits 1941 auf die Bedeutung von Casos Vorlesungen für die Problemkonstellationen des Verhältnisses von Phänomenologie und Philosophie der Wissenschaft hingewiesen hatte. José Gaos (1990): Obras completas VI – Pensamiento de lengua española. Pensamiento español. Hg. von Fernando Salmerón. Mit einem Vorwort von José Luis Abellán. Mexiko: UNAM, S. 137–142. 213 Caso (1971): S. 363–396. 214 José Hernández Prado hat sehr lehrreiche Seiten über die philosophischen Impli­ kationen des Anschauungsbegriffes bei Caso geschrieben. Siehe José Hernández Prado (1994): La filosofía de la cultura de Antonio Caso. La concepción casiana del conocimi­ ento de la historia, la sociedad y la cultura. Mexiko: Universidad Autónoma Metropo­ litana, S. 149–171.

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25. Antonio Casos’ Aufnahme der Phänomenologie

ihm abspricht, dann liegt es in der Realität im strengsten Sinne des Wortes vor«215. Caso hielt es für ein Verdienst der Phänomenologie, die Möglichkeit einer deskriptiven Betrachtung der Gegenstände, der Welt und des Bewusstseins geschaffen zu haben, indem sie deren Wesensstruktur freilege. In dieser Hinsicht passen die Worte eidetisch-transzendentale »Erfahrung« und »Selbsterfahrung« zu der phänomenologischen Herangehensweise, wie Caso sie beschreibt. Er erahnte ferner, dass das transzendentale Subjekt, wie Husserl es in den Cartesianischen Meditationen fasst, zugleich ein Prinzip der Dynamik und Evolution, des Lebenswillens und des élan vital sein sollte. Es handelte sich dabei um Problemkonstellationen, die Husserl selbst in Angriff nahm, wie sein Nachlass belegt. Aus diesem Grund wäre heute eine neue phänomenologische Lektüre der Philosophie Casos angemessen.

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Gaos (1990): S. 141.

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26. Joaquín Xirau: Die organische Vernunft und die Wiederentdeckung der Tiefendimension der Wirklichkeit Der 1924 veröffentlichte Aufsatz »Notas sobre la fenomenología filosófica de Edmund Husserl« (»Anmerkungen zur phänomenologi­ schen Philosophie Edmund Husserls«) von Joaquín Xirau offenbart die Wesenszüge der Schule aus Barcelona.216 Xirau bezeichnet die Phänomenologie dort als eine neue philosophische Wissenschaft, in der die ganze Philosophiegeschichte widerhalle. Denn die Phäno­ menologie gehe zwar nach eigenen Methoden vor und stelle sich spezifische Aufgaben, aber wie jede große Philosophie zeichne sie sich zugleich durch die Suche nach einer Integration der früheren philoso­ phischen Lehren aus.217 Der Beitrag der Phänomenologie bestehe vor allem darin, dass sie eine deskriptive, sich an das Gegebene haltende Methode zur Lösung von traditionellen Problemen entwickle, so Xirau weiter. Diese philosophiegeschichtliche Perspektive zeigt sich erneut in späteren Schriften Xiraus zur Philosophie Husserls.218 Sie gründet 216 Drei Jahre zuvor hatte Xavier Zubiri seine Dissertation zu Husserl an der Univer­ sidad Central von Madrid verteidigt. Der Aufsatz von Joaquín Xirau ist zugleich eine der ersten spanischsprachigen Schriften, die sich der Darstellung der Husserl’schen Phänomenologie widmeten. 217 »Wie im Werk aller großen Philosophen schwingt in Husserls Werk die ganze Geschichte der Philosophie mit. Seine Originalität liegt auf einer umfangreichen, integrativen Geste«. Joaquín Xirau (2000b): S. 6. 218 Es handelt sich um folgende Aufsätze: Joaquín Xirau (1938): »Husserl«, in: Revista de Catalunya, Bd. XVIII, Nr. 93 (1938), S. 541–561; ders. (1940–1941): »La fenome­ nología«, in: Romance, Nr. 10, 14, 20 (1940–1941); ders. (1945): »Culminación de una crisis«, in: La Universidad de la Habana, Nr. 58–59–60 (1945), S. 45–64, und die Monographie Edmund Husserl. Una introducción a la fenomenología, die 1941 in dem argentinischen Verlag Losada veröffentlicht wurde. Xirau hatte 1927, noch vor dem

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auf seinem Konzept der von der Phänomenologie enthüllten Wahr­ heit. In Husserl. Una introducción a la fenomenología (1941) rechnet Xirau es Husserl an, dem philosophischen Wirklichkeitsbegriff die Tiefendimension wiedererstattet zu haben, die ihm der Empirismus, der Idealismus und der Positivismus genommen hatten.219 Denn die Wesensanschauung beschränke sich nicht darauf, das »Was« der Sachen aufzuweisen, um sie definieren zu können. Durch sie dringe die Phänomenologie vielmehr in ihre Innenstruktur ein und lasse die Entfaltung ihrer Wesensmerkmale im Bewusstsein erscheinen. Die phänomenologische Reduktion führe weiterhin zu keiner synthe­ tisch-konstruktiven Tätigkeit eines transzendentalen oder absoluten Ich zurück, sondern zum realen, zeitlichen und historischen Bewusst­ seinsleben, dessen Horizont die ihm erscheinende Realität sei. Der Schwerpunkt der Interpretation der Phänomenologie durch Xirau lag auf diesem in seiner egologischen und intersubjektiven Dimension betrachteten Bewusstseinsleben. Durch ihn entwickelte er seinen Begriff einer organischen Vernunft (razón orgánica) weiter. Bei Xirau bedeutete dieser Ausdruck zunächst eine nichtdualistische Konzeption von Erkenntnis. Da die Phänomenologie sowohl eine sinnliche als auch eine eidetische Anschauung annehme, sei sie imstande, die traditionellen Gegensätze Erscheinung vs. Wirklichkeit und Vernunftkategorien vs. Wirklichkeit zu überwinden. Die erschei­ nende Welt der Phänomenologie stehe nicht länger einer versteckten oder noumenalen Welt gegenüber; ihr Vernunftbegriff besage keine bloß synthetische, die Empfindungen unter Begriffe subsumierende Tätigkeit, sondern eine immanente Organisation des Bewusstseins, sofern diese in einer eidetisch-anschaulichen Entfaltung der Wirklich­ keitserkenntnis bestehe.220 Zahlreiche Äußerungen von Xirau gehen in diese Richtung: »Nur im Leben des Bewusstseins gewinnt etwas Klarheit und Unterscheidung. Nur im Bereich des Lebens erklingt Spanischen Bürgerkrieg und seinem Exil nach Mexiko, ein Kapitel seines ersten Buches, El sentido de la verdad (1927): Barcelona: Editorial Cervantes, der »phäno­ menologischen Forschung« gewidmet. Sie wurden posthum in die von Ramón Xirau (1924–2014), dem Sohn von Joaquín Xirau und ebenfalls Philosoph, herausgegebenen Obras completas aufgenommen. 219 »Die Welt erhält eine Struktur, einen Sinn und eine Tiefendimension wieder«. Xirau (2000b): S. 317. 220 Xirau unterschied die Phänomenologie deutlich von jeder deskriptiven Psycholo­ gie. Sein Begriff der organischen Vernunft bewegt sich demnach auf einer transzenden­ talen Ebene.

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26. Organische Vernunft und Wiederentdeckung der Tiefendimension der Wirklich­ keit

die Welt in der Fülle ihrer Formen.« Xirau beeilt sich klarzustellen, dass dieses Konzept des immanenten Bewusstseinslebens nichts mit dem idealistischen Bild eines Containers der Dinge zu tun habe: »[…] Das Bewusstsein ist […] unbegrenzte Ausstrahlung auf unendliche Horizonte […]. Es steht nicht seinen ›subjektiven Zuständen‹ oder Vorstellungen, sondern der unmittelbaren Anwesenheit des Seins gegenüber«221. Für Xirau bedeutete die Idee einer immanenten Orga­ nizität des Bewusstseins, dass es weniger eine Funktion der Synthese durch im Voraus festgelegte Begriffe als vielmehr eine Anpassung an das reale Weltwerden sei. Ausdrücke wie »organische Vernunft« oder »organisches Bewusstsein« spiegeln weiterhin den Versuch Xiraus wider, eine durchdachte Synthese der Phänomenologie und der Philosophie Bergsons vorzulegen. 1941 hielt er anlässlich eines Bergson-Kollo­ quiums an der Nationalen Universität von Mexiko einen Vortrag zum Thema »La plenitud orgánica« (»Die organische Fülle«).222 Der mathematisch-mechanistischen Vernunft stellt Xirau hier die Idee einer organischen Vernunft entgegen, welche mit dem Stereotyp einer homogenen Wirklichkeit breche. Er schätzt Bergson dafür, jenen Theorien eine Grenze gezogen zu haben, welche das Weltwerden als den höheren Entwicklungsstand von einfacheren Elementen aus erklären und das Bewusstsein auf ein Epiphänomen des Gehirns redu­ zieren. Eine solche Konzeption basiere auf dem Vorurteil, dass das Denken der Wirklichkeit vorangehe und ihr seine apriorischen Kate­ gorien vorschreibe. Demgegenüber habe Bergson erstmals eine Wirk­ lichkeitserkenntnis thematisiert, die jeder Denkleistung zugrunde liege. Gemeint ist die Intuition, die die Wirklichkeit nicht in Einzel­ teile auseinandersetze, sondern sich ihrem Dynamismus achtsam füge, ähnlich wie ein lebendiger Organismus sich an seine Umwelt anpasst.223 Intuition und Gegenstände erweisen sich dabei als wech­ selseitige organische Aspekte des Lebens- und Bewusstseinsvoll­ zugs.224

Joaquín Xirau (2000a), S. 317. Xirau (2000b): S. 57–74. 223 »Genauso wie der lebende Organismus sich von fremden Wirklichkeiten ernährt […], nimmt das Bewusstsein die Gesamtheit der Weltdinge in sich auf und verbindet sie organisch mit seiner individuellen und persönlichen Einheit.« Ebd., S. 67. 224 »Das Bewusstsein und das Leben sind insgesamt und in ihren Teilen organische und ungeteilte Einheit, persönliche Totalität«. Ebd. 221

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Die Rezeption der Phänomenologie bei den Exilautoren

27. Die Krise der Menschheit im 20. Jahrhundert und die Wiedervereinigung der Welt Text 16 »Der Höhepunkt einer Krise« ist einer der letzten der Phi­ losophie Bergsons und der Phänomenologie Husserls gewidmeten Schriften Xiraus. Er wurde 1945, am Ende des Zweiten Weltkrieges, in der Zeitschrift Universidad de la Habana veröffentlicht.225 1946 starb Xirau im Alter von 51 Jahren bei einem Straßenbahnunfall in Mexiko-Stadt. Zu dieser Zeit war er zutiefst davon überzeugt, dass es notwendig sei, die Philosophie- und Kulturgeschichte im Lichte der organischen Vernunft neu zu bewerten. Es waren die schmerzhaften Erfahrungen von Krieg und Exil, die ihn dazu geführt hatten, über die Erschütterungen seiner Zeit nachzudenken. In seinem Aufsatz wirft er die Frage auf, wie die soziale und politische Krise der Welt im Zweiten Weltkrieg möglich werden konnten. Bergson und Husserl, die beide an der Schwelle zu den kriegerischen Auseinandersetzungen verstor­ ben waren, hatten ihre Zeitgenossen vor der Krise der europäischen Wissenschaft und Kultur gewarnt. Auch wenn sie ihrer Sorge um das Schicksal der Menschheit Ausdruck verliehen, hätten sie doch niemals die Dimension der kommenden Katastrophe vorausahnen können. Erst der Rückblick auf die furchtbaren Ereignisse legte es nahe, in der Krise einen verborgenen metaphysischen Hintergrund zu vermuten. Xirau nahm sich vor, diesen Hintergrund freizulegen: Dem modernen Menschen fehle im Grunde eine Welt.226 Für die Antike sei die Welt ein Organismus gewesen, der aus Materie und Seele besteht; Descartes aber habe diese organische Konzeption der Welt zerstört, indem er die Materie (bzw. die Ausdehnung) und den Geist als getrennte Substanzen behandelte. Der neuzeitliche Materialismus und der Idealismus, die beide in den Positivismus mündeten, spiegel­ ten Xirau zufolge die Skepsis des Denkens gegenüber einer derartigen künstlichen Trennung wider, und Bergson und Husserl konnten diese Skepsis wiederum nur durch eine noch radikalere gegenüber dem Positivismus überwinden. Sie setzten sich mit ihm nicht auseinander, um ihn zu widerlegen, sondern um ihn durch eine organische Konzep­ tion der Realität zu erweitern. Beide haben nach Xirau gezeigt, dass die Anforderung des Positivismus, sich an das Gegebene zu halten, mit einem offenen Begriff des Bewusstseins zusammengehört. 225 226

Ebd., S. 239–251. Ebd., S. 240.

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27. Die Krise der Menschheit im 20. Jahrhundert

Husserl, so Xirau, konnte zeigen, dass sich das Gegebene nicht auf die Evidenz der Tatsachen beschränkt. Phänomenologisch erweise sich die Welt vielmehr als eine Verflechtung von Wesenheiten, kurz: Sie stelle eine organische Struktur dar. Dennoch reiche die phänomenologische Theorie der Objektivität nicht hin, um der Orga­ nizität der Wirklichkeit Rechnung zu tragen, wenn man sie vom Bewusstseinsleben trenne. Damit protestierte Xirau gegen eine objek­ tivistische Interpretation der Phänomenologie. Auch die Perspektive des Subjekts bezüglich der realen Wesenheiten sei Bestandteil der Konstitution der organischen Realität, da erst sie die Struktur und Artikulation der Dinge im Ganzen herausstelle.227 Darin spiele die Betrachtung der Zeitlichkeit des Bewusstseins eine entscheidende Rolle. Die phänomenologische Deskription der Wesensstrukturen des transzendentalen Ich und des Zeitbewusstseins, in dessen Zusam­ menhängen sich die Welt konstituiert, zeige, dass sich die Welt keineswegs in bloße Vergänglichkeit auflöst. Nachdem Xirau beispielsweise die Husserl’sche Theorie der abschattungsmäßigen Darstellung des Wahrnehmungsobjekts dargelegt hat [»Die Blume bleibt sich gleich. In der Blume findet sich eine niemals vollständig gegenwärtige Wirklichkeit, die sich in unendlichen Perspektiven darzustellen vermag«, Xirau (2007), S. 78], versucht er, die Transzendenz des identischen intentionalen Objekts bzw. Noemas im Hinblick auf seine eigene Konzeption der organischen Vernunft zu beschreiben. Er spricht dabei vom Wirklichkeitscharakter als einem dritten Wahrnehmungsmoment. Dabei handelt es sich nicht nur um die unmittelbar anwesenden Qualitäten der Gegenstände, son­ dern auch um nicht gegenwärtige Realitäten, auf die sich die Wahrnehmung bezieht. Erst durch das Zusammenspiel von Anwesenheit und Abwesenheit ist Xirau zufolge die Welt in der Erfahrung ursprünglich gegeben. Dort zeigten sich die Dinge mit dem Anspruch, das zu sein, was sie jenseits des Augenblicks sind, in dem sie erlebt werden. Die Dinge würden Anspruch so nicht nur auf ihr eigenes Sein, sondern auch auf ihren eigenen Wert erheben. Die Logik der Identität reiche daher nicht aus, um der Welt Rechnung zu tragen. Es bedürfe vielmehr einer organischen Vernunft, die man auch als axiologische Vernunft bezeichnen könne. Ortegas Begriff des amor intellectualis (im Sinne einer Konzentration auf die »Umstände« und die Gegenstände in ihrem ganzen Detailreichtum) klingt hier wieder an. Darüber hinaus hat Xirau dieses Kon­ zept um Gedanken von Max Scheler ergänzt. In dem Artikel »La fenomenología«, der erstmals 1941 in der mexikanischen Zeitschrift Romance veröffentlicht wurde, erörtert er nicht nur den Beitrag Husserls, sondern auch den Schelers und Heideggers zur phänomenologischen Philosophie [Xirau (2000b), S. 37–46]. Vor allem Scheler hat Xirau gelehrt, dass sich die Welt nicht als gleichgültige Realität offenbart, sondern an das ganze Leben appelliert, indem der Mensch die Realität fühlt und bewertet. Darüber hinaus kann gesagt werden, dass Xirau von Scheler her darlegt, dass die organische Vernunft eine fühlende Vernunft ist, die Werte als zum Wesen der wahrgenommenen Gegenstände gehörig begreift. 227

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Die Rezeption der Phänomenologie bei den Exilautoren

Die Kehrseite des neuzeitlichen Weltbegriffs sei der Nihilismus. Weder Husserl noch Bergson waren Xirau zufolge in der Lage, das »Nichts« zu denken, weil sie sich prinzipiell an das in der Erfahrung oder der Wesensanschauung positiv Gegebene hielten. Erst Martin Heidegger habe das Nichts in seiner,positiven‘ und wirkmächti­ gen,Anwesenheit‘ im menschlichen Dasein aufgewiesen. In Sein und Zeit hebe er den vorbewussten und irrationalen Untergrund der Exis­ tenz hervor und verbinde deren Geschichtlichkeit mit der Sterblich­ keit. Für ihn bestehe die eigentliche Existenz des Menschen darin, dem Tod entschlossen entgegenzutreten und sein Schicksal in die Hand zu nehmen. Dadurch habe Heidegger einer Richtung des Denkens Aus­ druck verliehen, die in die Leugnung jeglicher Form von Transzendenz münde. Xirau sah darin den Höhepunkt der Krise der modernen Menschheit und letztlich eine Geisteskrankheit (patología espiritual). Weit entfernt davon, sie zu dämonisieren, wirft er die Frage auf, wie man sie heilen könne. In seinem letzten Aufsatz »Volumen del tiempo (las dimensiones del tiempo)« (1946)228 greift Xirau einen Gedanken auf, der im Mittelpunkt seines Werkes Amor y mundo (1940)229 steht, das sich als eine Phänomenologie des Liebesbewusstseins lesen lässt: Nur durch die Liebe und den Geist könne der Mensch der Welt die verlorene organische Struktur zurückerstatten.230

Joaquín Xirau (1998): S. 359-377. Ebd., S. 133–262. Es gibt eine deutsche Fassung von Charlotte Frei: Joaquín Xirau (2007): Liebe und Welt. Freiburg/München: Verlag Karl Alber. 230 »Was mit den Personen geschieht, das kann in mehr oder minder großem Maße mit allen Dingen der Welt geschehen. Eine Landschaft, ein Sträßchen, eine Stadt muten dem gleichgültigen Auge unbedeutend an. Dem leidenschaftlichen Blick erschließen sie ihre Innerlichkeit und Persönlichkeit«. Joaquín Xirau (2007): S. 177. Für Xirau besteht das Liebesbewusstsein in einer Offenbarung der Dinge in ihrer axiologischen Fülle und dadurch in einer Wiederherstellung der organischen Struktur der Welt. Man könnte diesen Begriff des Liebesbewusstseins, das zugleich organische Vernunft ist, mit dem Konzept des amor intellectualis von Ortega und dem Konzept der poetischen Vernunft von María Zambrano vergleichen. José Luis Abellán erläutert den Ort des Liebesbewusstseins in der Philosophie von Joaquín Xirau mit bemer­ kenswerter Klarheit: José Luis Abellán (1998): El exilio filosófico en América. Los tran­ sterrados de 1939. Mexiko: Fondo de Cultura Económica, S. 45–64. 228

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28. Juan David García Bacca. Der philosophische Weg García Baccas

28. Juan David García Bacca. Der philosophische Weg García Baccas Juan David García Bacca wurde 1901 in Pamplona, in der Provinz Navarra, geboren und starb 1992 in Quito, Venezuela. Aus familiären Gründen trat er bereits in jungen Jahren in ein Priesterseminar – das jesuitische Kolleg von Alagón – ein. Er studierte Philosophie und Theologie an der alten Universität von Cervera, wo er sich in die aristotelisch-thomistische Neuscholastik einlas. 1925 wurde er zum Priester geweiht. Aufgrund seiner akademischen Exzellenz wurde er in den Jahren 1928 bis 1931 nach München und Löwen geschickt, um Physik und Mathematik zu studieren. In seiner Auto­ biographie beschreibt García Bacca seinen Aufenthalt in München als eine zweite philosophische Erschütterung seines neuscholastischen Rüstzeugs (als erste Erschütterung hatte García Bacca die Lektüre des für ihn in vielerlei Hinsicht modernen und revolutionären Werkes von Thomas Cajetan bezeichnet).231 Dadurch verspürte er erstmals die Unzulänglichkeit der aristotelisch-thomistischen Erkenntniskritik, dem Faktum der neuzeitlichen Naturwissenschaften Rechnung tragen zu können.232 Von 1933 bis 1937 war García Bacca Lehrbeauftragter für Logik und Philosophie der Wissenschaften an der Universidad Autónoma von Barcelona. Die lebensgefährlichen Umstände während des Bür­ gerkrieges, seine heimliche Sympathie für die Zweite Republik und eine religiöse Krise führten ihn dazu, aus dem Priestertum aus­ zutreten und ins hispanoamerikanische Exil zu gehen. Von 1939 bis 1942 unterrichtete er Philosophie an der Universidad e Instituto 231 »Dessen [Cajetans] weitgehende und geniale Kommentare zu dem kurzen und grundlegenden Traktat De ente et essentia von Thomas von Aquin waren für mich Erschütterungen der neuscholastischen Mittelmäßigkeit […]. Die Kühnheit des Tran­ szendenzbegriffes von Cajetan (Deus et supra unum et supra trinum …), seiner Typo­ logie und Abstufung der Identität, seiner Interpretation der Transsubstantiation, die er gegenüber der Einseitigkeit der Trans-formation und der Trans-materialisierung ontisch betrachtete, machten konsequenterweise den schulmäßigen Aristotelismus und Thomismus zunichte«. Juan David García Bacca (2000): Confesiones. Autobio­ grafía íntima y exterior. Barcelona: Anthropos Editorial, S. 121 (Hervorh. von García Bacca). Aus diesen Zeilen geht ein Leitmotiv der Philosophie García Baccas hervor: die Frage nach dem Sinn des Transzendenzbegriffes. Für García Bacca liegt die letzte Antwort in einer Anthropologie des Transfiniten, die er in García Bacca (1984): Infi­ nito. Transfinito. Finito. Barcelona: Anthropos Editorial, darstellt. 232 García Bacca (2000): S. 123.

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Die Rezeption der Phänomenologie bei den Exilautoren

Pedagógico von Quito. Er emigrierte später nach Mexiko, wo er von 1942 bis 1946 Philosophie an der Universidad Nacional Autónoma von Mexiko (UNAM) unterrichtete und Mitglied des renommierten El Colegio de México wurde. In dieser Zeit erfuhr er eine weitere philosophische Erschütterung, als er Kant und das Problem der Meta­ physik von Martin Heidegger las. Heidegger verstand die Metaphysik nicht mehr als Theorie, sondern als ein Geschehen: Der Mensch bricht in das Sein ein und zersplittert dessen monolithische Einheit in eine Vielfalt von Seienden und instrumentellen Zugriffen. Seit dieser Lektüre standen die Transzendenz des Menschen und die Mannigfaltigkeit des Seienden, dem er begegnet, im Mittelpunkt der Meditationen García Baccas. 1946 erhielt er eine Professur der Philosophie an der Universi­ dad Central von Venezuela. Dort trug er wesentlich zur Errichtung der neuen philosophischen Fakultät bei und übte bis 1971 eine ein­ flussreiche Lehrtätigkeit aus. Indessen trug die Lektüre des Werkes von Alfred North Whitehead zu einer weiteren Bereicherung seines Denkens bei. Process and Reality offenbarte ihm den schöpferischen Elan, die Neuheit und das Auftauchen immer neuer Zusammenhänge als Grundkategorien der Wirklichkeit. Die Mengenlehre Georg Can­ tors, die mathematische Logik und die Geometrie David Hilberts brachten ihn zu seiner Konzeption des Transfiniten als Wesenszug der Realität. Sie bedeutet kein univokes Sein, sondern eine offene, inhaltsreiche Pluralität.233 »Die Kardinal- und Ordinaltransfiniten entdefinieren (desdefinen) das Endliche und lösen die Vagheit des Unendlichen auf. Raum, kontinuierliche Zahl und Bewegung hören auf, endlich oder potenziell unendlich zu sein. Sie sind ebenso wenig aktual unendlich. Aber sie könnten Transfinite sein, die durch Funktionen und mathemati­ sche Gesetze definiert werden. Die Theorie der Kardinal- und Ordinaltransfiniten löst die Vagheit des hybriden Begriffspaars Endliches/Unendliches auf.« (Ebd. S. 127) »Wenn man die [euklidische] Geometrie, die jahrhunderte- und jahrtausendelang als die einzige mögliche Geometrie galt und die geometrische Wahrheit monopolisierte, von einem axiomatischen Standpunkt aus betrachtet, dann erweist sie sich als eine Geometrie mehr. Es gibt weder geometrische Einzigkeit noch so etwas wie eine einzige mögliche Arithmetik. All dies bedeutet […], dass Wahrheit ein Plural ist, genauso wie Blume zum Glück ein Plural ist: Blumen. Frucht ist nur als Plural, Früchte, schmackhaft. Es wirft sich die Frage auf, ob nicht Wahrheit, glücklicherweise und erlebbar (vivible­ mente), Wahrheiten bedeutet.« (Ebd., S. 129) Um García Baccas Interpretation der Phänomenologie wie auch anderer historischer Lehren richtig zu verstehen, muss man sehen, wie er Wissenschaftsphilosophie, Sprachphilosophie und Ontologie mitein­ ander verbindet. Diese Disziplinen liegen seiner Auffassung von Geschichtsschrei­ bung der Philosophie zugrunde. 233

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29. Das phänomenologische Modell des Philosophierens

Eine weitere philosophische Erschütterung ereignete sich mit der Infragestellung des logischen Satzes bzw. der Definition als einzig adäquatem Sprechen über die Wirklichkeit. Die neueste Wissenschaft sowie die Logik richteten sich nicht länger nach dem Verhältnis Sub­ jekt-Prädikat und dem Ausschluss durch Behauptung oder Negation aus. Dadurch ermöglichten sie eine entdefinierende Sprache, die dem transfiniten und pluralistischen Charakter der Wirklichkeit gerecht wird. Diese Entdeckung veranlasste García Bacca zu einer Neube­ trachtung des Verhältnisses von Philosophie und Literatur, wodurch er eine neue Art der Philosophiegeschichtsschreibung einführte.

29. Das phänomenologische Modell des Philosophierens García Bacca setzt sich mit der Husserl’schen Phänomenologie in seinen Werken Nueve grandes filósofos contemporáneos y sus temas (1947),234 Siete modelos de filosofar (1963)235 und Introducción litera­ ria a la filosofía (1964) auseinander.236 Das Kapitel zu Husserl in Siete modelos de filosofar ist aufschlussreich und stellt den ausgewählten Text 17 »Der phänomenologische Sinn der neuzeitlichen Philosophie« in ein neues Licht. García Bacca greift zunächst eine zentrale Idee der phänomenologischen Analyse der Wahrnehmung auf, und zwar die abschattungsmäßige Gegebenheit eines Dinges. Er vergleicht sie mit der Komplexität der mathematischen Gegenstände und Sachverhalte: Die Zahl 2 beispielsweise ist einfach, aber die Zahl -2 lässt sich schon schwerer definieren. Auch die Zahl 3 ist einfach, doch die Bruchzahl ⅓ ist es nicht, weil sich aus der Operation 1÷3 eine Zahl mit unendlich vielen Dezimalen ergibt. Die Operation 22 ist zwar einfach, jedoch ist 234 Juan David García Bacca (1990): Nueve grandes filósofos contemporáneos y sus temas. Bergson, Husserl, Unamuno, Heidegger, Scheler, Hartmann, W. James, Ortega y Gasset, Whitehead. Barcelona: Anthropos. 235 Siete modelos de filosofar geht den anderen Werken chronologisch voran. Juan David García Bacca (1950): Siete modelos de filosofar. Caracas: Universidad Central de Venezuela-Facultad de Filosofía y letras. Es handelt sich um eine Sammlung von Vorträgen, die García Bacca 1946 anlässlich der Gründung der philosophischen Fakultät der Universität von Caracas gehalten hatte. Die Fundación Juan David García Bacca hat eine Kopie dieser Schrift veröffentlicht: http://fundaciongarciabacca.com/ archivos/7-modelos-de-filosofar.pdf (ohne Seitenzählung). 236 Juan David García Bacca (2003): Introducción literaria a la filosofía. Barce­ lona: Anthropos/Universidad Nacional Autónoma de México/Universidad Pública de Navarra.

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Die Rezeption der Phänomenologie bei den Exilautoren

die Quadratwurzel von 2 komplex, da die resultierende Zahl unendlich bruchfähig und damit »irrational« ist. Genauso ist die Apperzeption der Rückseite eines Dinges unendlich komplexer als die unmittelbare Anschauung seiner Vorderseite. Die Konstitution des Dinges durch das Subjekt ist also ein unendlich vielschichtiger und offener Prozess, der sich jeglicher eindeutigen Definition entzieht. Dabei rechnete García Bacca es der intentionalen Analyse der Wahrnehmung an, ein vereinfachtes Konzept des Verhältnisses von Subjektivität und Wirklichkeit überwunden zu haben. Husserl habe seiner Komplexität Rechnung getragen, indem er es in Schichten (die natürliche, eidetische und transzendentale Einstellung zur Welt) aufteilte, die er wie folgt beschreibt: 1. 2. 3.

Im natürlichen Zustand stehen wir auf dem Boden der Dinge; sie tragen uns und wir halten ihre Existenz für fester als unsere eigene. Im phänomenologisch-eidetischen Zustand steht unsere Wirk­ lichkeit im Gleichgewicht mit der Wirklichkeit der Dinge. Weder sie tragen uns noch wir tragen sie. Im transzendental-phänomenologischen Zustand büßen die Dinge ihre Wirklichkeit ein; wir tragen sie eher, als dass wir sie konstituieren.

Diese Schichtung der Wirklichkeitserfahrung und -erkenntnis ent­ spricht der Komplexität der Bewusstseinsakte und der Definition der Gegenstände. Im natürlichen Zustand bevorzugen wir die originäre Anschauung bzw. die Wahrnehmung. Wir haben unmittelbar mit den Dingen zu tun und definieren sie eindeutig (genauso wie wir die aus zwei Einheiten bestehende Zahl als 2 eindeutig definieren). Aber sobald man hinzufügt, dass 2 wesensgemäß eine gerade Zahl ist, wird diese Definition komplex und zweideutig. Denn der Begriff »gerade Zahl« umfasst unendlich viele mögliche Zahlen. Dennoch bildet die Erkenntnis des Wesens, welches solche Mannigfaltigkeit und Mehrdeutigkeit umfasst, die Bedingung der Möglichkeit für die Allgemeinheit der Wissenschaft. Diese beruht nicht nur auf äquivoken, sondern auch auf impliziten Definitionen. Wenn jemand etwa fragt, welches der Mittelwert von 1 und 3 sei, so lautet die implizite Antwort »2« – wobei man es nicht mehr mit zwei Einheiten unmittelbar zu tun hat, sondern mit dem impliziten Wesen der Zahl 2. García Bacca bemerkt, dass sich die eidetische Phänomenologie ausgerechnet mit allgemeinen und impliziten Definitionen befasse.

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29. Das phänomenologische Modell des Philosophierens

Denn die eidetische Einstellung bevorzuge nicht mehr die unmittel­ bare Evidenz der Wahrnehmung, sondern den methodischen Zweifel, die implizite Bezugnahme und das imaginative Experiment. Dazu setzt die Phänomenologie die Tatsachen in Klammern und enthält sich jeglicher Behauptung oder Negation. In dieser Hinsicht stimmt sie mit der wissenschaftlichen Einstellung überein, so García Bacca weiter. Man habe jahrhundertelang die Aufgabe der Wissenschaft als Behauptung und Negation durch Urteile begriffen, aus denen man Schlussfolgerungen zog. So beschränkte man beispielsweise die Mathematik darauf, Verhältnisse zwischen mathematischen Sachver­ halten festzustellen und auszuschließen. Der Erfolg der modernen Geometrie liege dagegen darin, sich von eindeutig bejahenden oder verneinenden Lehrsätzen zu distanzieren.237 Da die scholastische Philosophie keine andere Tätigkeit der Vernunft kannte als die Behauptung der Wahrheit oder die Negation der Falschheit, ordnete sie die Wesensanschauung dem bejahenden und dem negativen Urteil unter. Die Phänomenologie habe hingegen gezeigt, dass die Wesensanschauung in einer Neutralitätsmodifika­ tion besteht, in der die Phantasie eine wesentliche Rolle spielt. Indem sie Gegenstände ohne Wirklichkeitssetzung darstelle, bilde sie die anschauliche Basis für eidetische Wissenschaften wie die Mathematik und die Geometrie – sowie für die phänomenologische Wesenser­ kenntnis des Bewusstseins und dessen intentionale Korrelate. Für García Bacca bestand die Wahrheit der transzendental-phä­ nomenologischen Einstellung darin, dass nur ein sinngebendes Bewusstsein die Komplexität des Realen zu entfalten vermag. Sie lässt sich ferner durch die transzendentale Freiheit eines Subjekts rechtfertigen, welches sich durch die eidetische Stellung der Behaup­

»Man kann eine kohärente, widerspruchlose Geometrie aufbauen, wenn man annimmt, zum Beispiel bei der Riemann’schen Geometrie, dass zwei Punkte keine Gerade bestimmen. Man dachte einst, die Sache voll und ganz verstanden zu haben, als man behauptete, dass‚ bei einer Ebene, einer Geraden und einem Punkt außerhalb der Geraden in derselben Ebene nur eine Parallele gezogen werden könne‘. Man dachte etwa, dass man die einzig wahre Geometrie betrieb, als man behauptete, dass nur eine Parallele in der Geometrie möglich sei. Wenn man meinte, dass nur eine Geometrie möglich sei, so lag es darin, dass man beim Sehen nicht wirklich sah und beim Hören nicht wirklich hörte. Als der Mathematiker aufhörte, diese Sachen zu behaupten, […] bemerkte er, dass eine Geometrie, in der es mehr als eine Parallele oder gar keine gibt, durchaus möglich ist.« http://fundaciongarciabacca.com/archivos/7-modelos-de-fi losofar.pdf. 237

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tung und Negation enthält, um neue Gegenständlichkeiten und Sach­ verhalte hervorzubringen: Wir beschränken uns nicht darauf, uns von den realen Gegenständen leiten oder bestimmen zu lassen, die wir nicht geschaffen haben, noch sie zu reinigen oder auf ihr Eidos zu reduzieren, um uns durch sie bestimmen zu können (natürliche und eidetische Intentionalität). Wir konstituieren und schaffen sie für uns. Denn wir sind eine Art Realität, die wir auch dann noch wären, wenn alles falsch wäre. Nichts kann uns eine Bejahung entreißen und zu einer Behauptung oder einer Negation zwingen. Wenn wir das tun wollen, dann liegt es in,unserer souveränen Freiheit‘, der Spontaneität und der Konstitution, die wir den Dingen geben.238

30. Die metaphorische Sprache der Dichtung und die Phänomenologie García Baccas Lektüre der Phänomenologie in Siete modelos de filoso­ far lässt den philosophischen Zusammenhang des Textes 17 besser verstehen. Wenn er die phänomenologische Reduktion als Entde­ ckung einer zweiten und fiktiven Welt charakterisiert, so setzt er nicht das Welt-Eidos oder das Welt-Phänomen zu einem Hirngespinst herab. Für ihn sind sowohl die eidetische, auf einer imaginativen Variation basierte Methode als auch die transzendentale Einstellung fundiert. Daher ist die Darstellung der Phänomenologie anhand des Gedichtes Herodiade von Stéphane Mallarmé (in Introducción literaria a la filosofía) weniger ein extremer Standpunkt zur Husserl’schen Phänomenologie239 als der Versuch, mithilfe einer metaphorischen http://fundaciongarciabacca.com/archivos/7-modelos-de-filosofar.pdf. Antonio Zirión bezeichnet García Baccas Text als eine »extreme Betrachtungs­ weise der Husserl’schen Phänomenologie« und kritisiert den »literarischen oder dra­ matischen Charakter« der Darstellung von phänomenologischen Themen in Nueve grandes filósofos contemporáneos y sus temas sowie in Introducción literaria a la filo­ sofía. Zirión (2009): S. 83–84. Dennoch zeigt das Kapitel zu Husserl in Siete modelos de filosofar zweierlei: 1) García Bacca interpretierte die Phänomenologie zunächst vom Standpunkt der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte auf eine positive Weise; 2) die philosophisch-literarische Lektüre der Phänomenologie im Text zu Husserl und Mallarmé setzte eine neue Problematik voraus, die erst in Siete modelos de filosofar angekündigt wird und dem Kapitel zur Phänomenologie in Introducción literaria a la filosofía einen philosophischen Kontext verleiht. 238

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30. Die metaphorische Sprache der Dichtung und die Phänomenologie

Sprache eine tiefere Schicht der Existenz als die der Wesensanschau­ ung oder gar der transzendentalen Freiheit hervorzuheben. Solange wir die eidetische Einstellung einnehmen, befinden wir uns auf der Ebene einer theoretischen Betrachtung.240 Sie ist zwar gerechtfertigt, jedoch gegenüber den realen Gegenständen neu­ tral. Nur in dieser Hinsicht stehen wir dann nicht mehr auf dem Boden der realen Welt. Durch die Wesensanschauung sind die rea­ len Gegenstände »schwerelos« geworden. Denn zum Zwecke ihrer theoretischen Betrachtung verlangt das Subjekt von ihnen, dass sie ohne Anspruch auf Wirklichkeit und Beständigkeit erscheinen. Der Phänomenologe, genauso wie der Wissenschaftler, muss die Dinge wie in einem Spiegel sehen, damit sie zu Gegenständen einer Theo­ rie werden. Die Metapher des Ich-Spiegels bedeutet die Neutralität, auf der die Mathematik, die geometrisch angelegte Naturwissenschaft und die phänomenologische Wesenserkenntnis aufgebaut werden. García Bacca geht es im ausgewählten Text nicht mehr darum, die eidetische Einstellung zu rechtfertigen – wie noch in Siete modelos de filosofar. Er zielt darauf ab, mithilfe der dichterischen Sprache die vitale Bedeutung der Weltwirklichkeit hervorzuheben und sich an das phänomenologische Subjekt zu wenden.241 Die Philosophien Unamu­ nos und Heideggers finden hier eine Resonanz. Denn auch bei García Bacca geht es darum, die theoretische Vernunft durch den Hinweis auf die Endlichkeit des real-konkreten Subjekts zu erschüttern. Die anderen Metaphern im Text lassen sich aus dieser Perspek­ tive interpretieren: Das phänomenologische Ich wird zu einer »Blume 240 García Bacca macht einen Unterschied zwischen der eidetischen und der transzen­ dentalen Reduktion. Dennoch interpretiert er die letzte nicht völlig treffend, insofern er darunter eine bloß theoretische oder kontemplative Haltung des Subjektes versteht – wobei er zugleich den Freiheitscharakter der Reduktion betont. 241 Für García Bacca spricht die Phänomenologie – und zwar in ausgezeichneter Weise – über einen Aspekt des Lebens. Sie befasst sich auf radikale Weise mit dem Ursprung der Erkenntnis in der Intuition und den transzendentalen Bewusstseinsak­ ten. Aber es gehe dabei nur um einen Sinn des Lebens. Das Ziel der Introducción literaria a la filosofía, aus der der ausgewählte Text 16 stammt, besteht gerade darin, die philosophischen Systeme durch den Rekurs auf literarische Metaphern in ein möglichst konkretes Verständnis der Wirklichkeit zu integrieren: »Dieses Werk ver­ sucht zu zeigen, dass jede philosophische Theorie, so abstrakt sie auch sein mag, im Grunde nichts anderes ist als eine Metapher, in der einige scheinbar neutrale Dinge – wie Sein, Substanz, Zufall, Ursache, Wirkung, Handlung, Ort, Zeit – von ganz anderen Dingen sprechen – nämlich vom Leben und dessen historischen Formen«. García Bacca (2003): S. 19.

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in der Wüste« und seine Akte werden zu »inneren Gärten«, die in der Einsamkeit bluten. Dem phänomenologischen Ich bleibt, ähnlich wie dem Wissenschaftler in rein theoretischer Einstellung, nichts weiter übrig als eine Welt, die zum Gegenstand geworden ist. Die metaphorische Sprache der Literatur und der Dichtung macht das phänomenologische Ich zum Adressaten: Sie erinnert den Zuschauer der Welt an seine Sterblichkeit. Zugleich erinnert sie ihn an seine Mitmenschen, auf welche die Phänomenologie jedoch eine weitere Reduktion anwendet. Die literarische Interpretation der Phänomenologie weist einen Moment der Existenz auf, in dem sich das Subjekt, jenseits der Evidenz des ego cogito und der anschaulichen Erkenntnis der Gegen­ stände, Fragen über das Schicksal seines individuellen Bewusstseins nach dem Tod stellt. Aus diesem Grund kontrastiert García Bacca in Nueve grandes filósofos contemporáneos y sus temas das intentio­ nale Bewusstsein bei Husserl mit dem »realen oder agonistischen Bewusstsein« bei Unamuno.242 Dabei ist zu beachten, dass es sich um keinen antagonistischen Gegensatz handelt. In Siete modelos de filoso­ far hatte García Bacca die eidetische Intuition und die transzendentale Reduktion als philosophische Erkenntnismethoden gewürdigt.243 Die Grenzen der Husserl’schen Phänomenologie sah er jedoch darin, dass »Man kann freilich Zusammenhänge zwischen den Themen herstellen, die ein bisschen mutwillig sind. Man kann z. B. einen Zusammenhang herstellen zwischen dem von Husserl behandelten Thema des reinen intentionalen bzw. phänomenologi­ schen Bewusstseins und dem von Unamuno angeschnittenen Thema des agonischen oder realen Bewusstseins.« García Bacca (1990): S. 10. 243 Es gibt jedoch eine kritische Nuance in Introducción literaria a la filosofía, die in Siete modelos de filosofar nicht zu finden ist: García Bacca zufolge zielt die Phänome­ nologie darauf ab, die Wissenschaften und allerlei andere Formen der Erkenntnis mit einem absoluten, apodiktischen Fundament zu versehen. Die Grundlagen bzw. Axiome der Geometrie und der Arithmetik seien jedoch freie Setzungen (posiciones libres). Ihre Notwendigkeit sei also nicht absolut, sondern hypothetisch, und genau darin liege ihre Fruchtbarkeit. Auch stelle die Physik kein Modell einer absolut not­ wendigen Wissenschaft dar. Denn die Gesetze der Physik seien nur faktisch gültig. Mathematik und Geometrie könnten ebenso in möglichen Welten gelten, die andere faktische Gesetze darstellen würden. Dementsprechend würde die phänomenologi­ sche Einstellung – sowohl eidetische als auch transzendentale – in einer Anmaßung bzw. in einem Wunsch bestehen, der in den anderen Wissenschaften keine Parallele habe. Siehe García Bacca (2003): S. 135–147. Diese Kritik an der Husserl’schen Phä­ nomenologie (aber vor allem an ihrem »transzendentalen Idealismus«) kann freilich diskutiert werden, aber es ist zunächst wichtig, die Ebene zu erkennen, auf der García Bacca das Problem ursprünglich stellte, nämlich die einer philosophischen Betrach­ 242

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31. Phänomenologische Methode und intersubjektive Metaphysik des Ausdrucks

sie letztlich eine Deskription des theoretischen und kontemplativen Bewusstseins vornehme, die noch tiefere Schichten der Existenz vor­ aussetze.244

31. Eduardo Nicol: Die phänomenologische Methode und die intersubjektive Metaphysik des Ausdrucks Eduardo Nicol (1907–1990) wurde in Barcelona geboren. Er studierte Philosophie an der Universidad von Barcelona, wo er vor dem Aus­ bruch des Spanischen Bürgerkrieges als Lehrbeauftragter Philosophie unterrichtete. Wie sein Meister Joaquín Xirau musste Nicol nach der Niederlage der Republik zunächst nach Frankreich fliehen. Er wohnte vorübergehend in Toulouse, bevor er sich in Mexiko niederließ und dort eine neue Heimat fand. Aufgrund der Kriegsumstände konnte er seine Doktorarbeit zum Thema Psicología de las situaciones vitales245 erst später an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko verteidigen. Antonio Caso und Samuel Ramos waren Mitglieder der Prüfungskommission. Nicol erhielt 1940 eine Professur für Philoso­ phie an derselben Institution und übte dort bis zu seiner Emeritierung eine einflussreiche Lehrtätigkeit aus. Er war Mitbegründer der phi­ losophischen Zeitschriften Filosofía y Letras und Dianoia sowie des Instituts für philosophische Forschungen. Im Unterschied zu seinen spanischen Kollegen an der Universität (Joaquín Xirau und José Gaos) verfasste Nicol keine Monographie zur Philosophie Edmund Husserls. Trotzdem spielt das Nachdenken tung der Wissenschaftlichkeit der Phänomenologie selbst. Erst danach ist seine phi­ losophisch-literarische Betrachtung von Relevanz. 244 Diese Lektüre der Husserl’schen Phänomenologie greift freilich zu kurz. Gerade einer der letzten Bände der Husserliana zeigt, dass der Begründer der Phänomenologie intensiv an der Lösung von Grenzproblemen wie dem Tod, dem Schicksal und dem Zufall gearbeitet hat. Edmund Husserl (2014): Grenzprobleme der Phänomenologie: Analysen des Unbewusstseins und der Instinkte. Metaphysik. Späte Ethik (Texte aus dem Nachlass 1908–1937). Husserliana Bd. XLII. Hg. von Rochus Sowa und Thomas Vongehr. Dordrecht/Heidelberg/New York/London: Springer Verlag. Husserl ist weiterhin auf das Problem der Intersubjektivität viel tiefer eingegangen, als die bloße Lektüre der Cartesianischen Meditationen damals vermuten ließ. Daher lassen die Grenzen von García Baccas Lektüre das philosophische Problem, das er stellt, für die gegenwärtige Phänomenologie noch interessanter werden. 245 Eduardo Nicol (1943): Psicología de las situaciones vitales. Mexiko: Fondo de Cultura Económica.

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Die Rezeption der Phänomenologie bei den Exilautoren

über die phänomenologische Methode und Einstellung eine Rolle in seinem Werk. Er gehörte zu einer Generation, die nicht nur Zeugin der Blüte der Phänomenologie (vor allem der von Sein und Zeit phänomenologisch inspirierten Philosophie) war, sondern sich auch intensiv in die Werke von französischen Phänomenologen wie Maurice Merleau-Ponty und Jean-Paul Sartre einarbeitete.246 1944 rezensierte Eduardo Nicol das Buch von Marvin Farber The Foundation of Phenomenology (Cambridge Mass: Harvard University Press) in Filosofía y Letras.247 Er betont dort den systematischen Charakter des Husserl’schen Werkes, womit er jegliche Deutung verwirft, welche die deskriptive Phänomenologie von der transzen­ dentalen Phänomenologie trennt. Dennoch nimmt Nicol eine kriti­ sche Stellung gegenüber der Phänomenologie Husserls ein, indem er ihr Streben nach dem Konkreten für misslungen erklärt. Husserl habe das Konkrete mit dem Wesen (la esencia) und dem im reinen, irrealen Bewusstseinsfeld Gegebenen gleichgestellt. Die Phänomeno­ logie gerate dadurch in eine paradoxe Situation, da sie »das höchste Abstrakte« mit dem Konkreten identifiziere. Dabei handle es sich um dasselbe Paradox wie das des transzendentalen Ich, welches die Phänomenologie in einem rein transzendentalen, irrealen Feld verorte.248 Die Bemühung der neuesten Philosophie bestehe jedoch In der zweiten Auflage der Psicología de las situaciones vitales (1963) stellt Nicol dem Existenzialismus die Ursprünglichkeit der intersubjektiven Kommunikation gegenüber. Die Frage, wie sie möglich sei, geht man von einem einsamen Subjekt oder Dasein aus, stellt nach Nicol ein Pseudoproblem dar. Siehe Eduardo Nicol (1963): Psicología de las situaciones vitales. Mexiko: Fondo de Cultura Económica, S. 17. 247 Eduardo Nicol (1944): »Sobre Marvin Faber, The Foundation of Phenomenology«, in: Filosofía y Letras, Bd. VIII, Nr. 15 (1944), S. 223–226. Es handelte sich um die Rezension zu Marvin Farber (1943): The Foundation of Phenomenology. Cambridge Mass: Harvard University Press. 248 Noch früher als in der Rezension des Buches von Farber, im Jahre 1941, hatte Nicol in dem Aufsatz »Meditaciones privadas« Vorbehalte gegen die Husserl’sche Phäno­ menologie geäußert: »Für Husserl ist das intentionale Bewusstsein eine Projektion des reinen Ich. Dessen ursprünglichere Funktion ist weiter nichts als die Aufmerk­ samkeit. Dadurch wählt es die Inhalte aus, die in ihr erhellt werden. Aber bei dieser Funktion geht das intentionale Bewusstsein keineswegs über sich selbst hinaus. Das reine Ich, welches als das aktive Zentrum der intentionalen Funktion betrachtet wird, geht nicht einmal über sich selbst hinaus.« Dieser Aufsatz erschien ursprünglich in der Zeitschrift Letras de México, Nr. 11, Bd. III (1941). Die hier zitierte und auf Deutsch übertragene Stelle stammt aus der von Arturo Aguirre herausgegebenen Textauswahl Eduardo Nicol (2007): Las ideas y los días. Hg. von Arturo Aguirre. Huixquilucan: Afínita Editorial, S. 49. Die Charakterisierung des intentionalen Bewusstseins durch 246

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31. Phänomenologische Methode und intersubjektive Metaphysik des Ausdrucks

darin, das Ich zu dem unreinen Realitätsfeld herunterzubringen, um seine psychologische und ontische Struktur zu untersuchen. Trotz seiner Kritik schreibt Nicol in einem späten Aufsatz: »Wir alle sind Phänomenologen«249. Dieser provokative Satz spiegelte einen eigenen Begriff von Phänomen wider, dessen ursprünglichen, etymologischen Sinn Nicol freilegen wollte und auf seine Philoso­ phie anwandte. Das griechische Wort phainomenon bezeichnet das Erscheinende. Nicol weist darauf hin, dass das Erscheinende die realen Dinge seien, genauer: Die Dinge sind Phänomene. Dies bedeute jedoch nicht, dass Dinge an sich sichtbar oder erkennbar sind. Die Sichtbarkeit der Dinge setze vielmehr ein Seiendes voraus, das die Dinge zu sehen vermag. Der Schwerpunkt der Überlegungen Nicols liegt in dem Gedan­ ken, dass »das bloße Sehen nicht ausreicht, weil es unübertragbar ist«250. Dieser Satz bringt ein Leitmotiv seines Denkens zum Aus­ druck. Nicol zielte auf eine Philosophie ab, in deren Mittelpunkt die Ursprünglichkeit der Vermittlung der realen Sachen oder Phänomene steht. Die Idee ihrer Sichtbarkeit musste durch eine systematische Untersuchung der Sprache ergänzt werden, in der wir ursprünglich über das Gesehene sprechen. In dieser Hinsicht sind wir alle Phäno­ menologen. Nach Nicol sollte die genuine, wissenschaftliche Philo­ sophie stets im Boden des kommunikativen Ausdrucks dessen, was den Menschen (im Plural) erscheint und gegenübersteht, verankert sein. Der kommunikative Ausdruck bilde so ein philosophisches Grundthema, da er in einer existenziellen Operation und einer vita­

die Aufmerksamkeit wird den Deskriptionen Husserls in vielerlei Hinsicht nicht gerecht. Sie übersieht die passive Konstitution eines intentionalen Hintergrundes der Wahrnehmung, aus dem das aufmerksame Subjekt zwar Teile hervorhebt, der jedoch einen Überschuss der Realität ausmacht. Husserl hat sich bemüht, ihn sowohl als Erfahrungsboden wie auch als Erfahrungshorizont zu beschreiben. Trotzdem ist die Problemstellung Nicols interessant, weil er den Zusammenhang zwischen der Phä­ nomenologisierung der Dinge und ihrer Vermittlung durch den kommunikativen Ausdruck betont. 249 »Discurso sobre el método«. Es ging um den Text eines Vortrags, den Nicol 1983 bei dem Segundo Congreso Nacional de Filosofia der Asociación Filosófica de México hielt. Antonio Zirión hat ihn in seiner Geschichte und Anthologie der Phänomeno­ logie in Mexiko veröffentlicht: Zirión (2009): S. 311–324. 250 Ebd., S. 311.

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Die Rezeption der Phänomenologie bei den Exilautoren

len Situation bestehe, wodurch das Subjekt des Sehens über sich selbst hinausgehe.251

32. Die phänomenologische Methode und die intersubjektive Metaphysik des Ausdrucks Der ausgewählte Text 18 »Das Sein des Ausdrucks« stammt aus Metafísica de la expresión. Es handelt sich um Auszüge aus dem Para­ graphen 16, der den Titel »El ser de la expresión. Caracteres del método fenomenológico« (»Das Sein des Ausdrucks. Das Spezifikum der phänomenologischen Methode«) trägt. Nicol stellt dort einen Grund­ gedanken seiner Philosophie heraus: Keine philosophische Methode führt uns zum Sein, weil wir dem Sein ursprünglich gegenüberstehen. In dieser Hinsicht könne es als ein Verdienst der Phänomenologie betrachtet werden, das Gegebene als solches beschreiben zu wollen. Sie geht von der Anwesenheit des Seins aus und besteht zu Recht darauf, dass seine ursprüngliche Evidenz von unserer Ungewissheit über sein Wesen oder »Wie« nicht betroffen wird. Nicol hält jedoch weder die eidetische Phänomenologie Husserls noch die existenziale Analytik Heideggers für ausreichende Metho­ den, um die Anwesenheit des Seins zu beschreiben. Ihm zufolge hat Husserl durch seinen Nachdruck auf der eidetischen Methode die reinen Wesenheiten von der ursprünglichen Phänomenalität der realen Dinge letztlich abgeschottet. Heidegger wiederum habe die Geschichtlichkeit des Seins und eine gewisse, zu enthüllende Verborgenheit des Seins betont. Damit sei er auf den falschen Weg des Platonismus und Cartesianismus geraten, deren beider Ausgangs­ punkt der Gedanke sei, dass wir solange nicht im Besitz des Seins sind, als wir es nicht methodisch erscheinen lassen. 251 Nicol entfaltet dieses Konzept der Philosophie vor allem auf zwei vielschichtigen Ebenen der menschlichen Kommunikation: der Wissenschaft oder reinen Erkenntnis auf der einen und der Paideia bzw. dem Ethos auf der anderen Seite. In dieser Hinsicht sind die Titel seiner frühen Werke sehr sprechend: Eduardo Nicol (1941): Psicología de las situaciones vitales. Mexiko: Fondo de Cultura Económica (Psychologie der vitalen Situationen); ders. (1953): La vocación humana. Mexiko: El Colegio de México (Die Berufung des Menschen); ders. (1957): Metafísica de la expresión Mexiko: Fondo de Cultura Económica (Metaphysik des Ausdrucks); ders. (1964): Los principios de la ciencia. Mexiko: Fondo de Cultura Económica (Die Grundsätze der Wissenschaft).

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32. Phänomenologische Methode und intersubjektive Metaphysik des Ausdrucks

Nicol distanziert sich von dieser traditionellen Metaphysik des Seins, um ein ursprünglich kommunizierbares oder kommuniziertes Seinsverständnis zu thematisieren. Er verschiebt den Akzent auf die ursprüngliche Vermittlung oder Vermittelbarkeit des Erscheinen­ den. Für Nicol ist das Seinsverständnis daher prinzipiell mehr als die Zustimmung der Evidenz oder die Enthüllung der Wahrheit des Seins. Es besteht in einem intersubjektiven Vollzugsakt, dessen ursprünglicher Bereich der Ausdruck ist. Dieser Ansatz hat bei Nicol eine anthropologische Bedeutung: Der Mensch ist das Seiende, des­ sen phänomenologische Anwesenheit (oder Selbstanwesenheit) sein eigenes Sein nicht verbirgt. Daraus lasse sich eine weitere Konsequenz ziehen: Der Mensch ist weniger ein Seiendes, das die Frage nach dem Sein aufwirft, als der unmittelbare Ausdruck seines Seins bzw. seiner Anwesenheit. Dieser Gedanke schloss sich an eine philosophische Theorie der Intersubjektivität an, die Nicol mit einer neuartigen Metaphysik des »Seins des Ausdrucks« verbindet: Jede menschliche Anwesenheit ist von Anfang an Offenbarung, Kommunikation des eigenen Seins, die keiner nachträglichen, methodologischen Enthül­ lung bedarf. Bereits durch seine Anwesenheit bekundet sich jeder Mensch und tritt in Kontakt zu anderen Menschen. Für Nicol stellte der transzendentale Solipsismus der Cartesianischen Meditationen Husserls folglich ein Pseudoproblem dar,252 da ein solcher Solipsis­ mus auf der falschen Prämisse des Erfordernisses einer »phänomeno­ logisch-enthüllenden« Methode basiere, die das Sein des Anderen zutage fördern soll. Für Nicol war die genuine phänomenologische Methode »hermeneutisch«, insofern sie die Deutung des ursprünglich gegebenen Ausdrucks menschlichen Seins vollziehe. Die phänome­ nologische Hermeneutik des menschlichen Ausdrucks sei dabei mit keiner Enthüllung eines Verborgenen zu verwechseln, so Nicol weiter. Sie bestehe vielmehr in der Entfaltung des ursprünglichen kommuni­ kativen Aktes des Seins des Menschen. Genau aus diesem Grund hat die phänomenologische Herme­ neutik bei Nicol auch eine ethische Bedeutung. Mit seiner Anwesen­ heit appelliert jeder Mensch an seine Mitmenschen; er ist für diese Antonio Zirión bemerkt jedoch zu Recht: »Man könnte vielleicht zeigen, dass der Kontrast zwischen dem Grundgedanken von Nicol, auf dem seine Metaphysik des Ausdrucks gründet (das Subjekt allein könne nicht die ursprüngliche Evidenz errei­ chen), und dem Husserl’schen ›Idealismus‹ nicht so dramatisch ist […]«. Zirión (2009): S. 93. 252

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Die Rezeption der Phänomenologie bei den Exilautoren

sowohl Adressat als auch Symbol. Die Begegnung mit ihnen ist bereits eine Interpretation des Sinnes ihres Daseins. Zwar lässt sich ein sol­ cher Ansatz mit dem Ansatz von Emmanuel Levinas nicht umstands­ los gleichstellen.253 Dennoch erahnte Nicol, dass in der Fremderfah­ rung eine tiefere ontologische Differenz aufklafft als es die Differenz zwischen Seiendem und Sein ist. Aus dieser Perspektive spricht Nicol von einer ontologischen Gemeinschaft, die mehr ist als bloße Koexis­ tenz. Diese bedeute die Seinsweise eines Dinges unter anderen Din­ gen. Die menschliche Gemeinschaft dagegen lasse sich als ein Kom­ plementaritätsverhältnis phänomenologisch beschreiben und interpretieren.

33. José Gaos: Philosophie der Philosophie und Phänomenologie Für die frühe Aufnahme der Phänomenologie in Spanien und His­ panoamerika war insbesondere José Gaos wichtig. Er ist einer der größten Namen in der spanischsprachigen Philosophie. Nachdem er infolge des Bürgerkrieges nach Mexiko auswandern musste, unter­ richtete er an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko. Als Übersetzer führte Gaos die Tradition der Revista de Occidente beispielhaft fort.254 Die hispanoamerikanischen Leser verdanken ihm die spanischen Fassungen mehrerer Grundlagenwerke der deutschen Philosophie, die in dem renommierten Verlag Fondo de Cultura Económica erschienen: Psicología desde un punto de vista empírico von Franz Brentano; Investigaciones lógicas (in Zusammenarbeit mit Dies gelingt schon deshalb nicht, weil die menschliche Gemeinschaft bei Nicol auf der wissenschaftlichen Erkenntnis gründet. José Luis Abellán hat diesen Aspekt der Metafísica de la expresión betont: »Bei Nicol treten die Philosophie und insbesondere die Metaphysik als Äußerung eines ethischen Impulses, des Strebens nach einer Fun­ dierung der menschlichen Gemeinschaft auf der Ebene der Wahrheit […] auf«. Abellán (1998): S. 95. 254 Für eine grundlegende Analyse dieses Kulturzeitschriftenprojektes siehe Carl Antonius Lemke Duque (2014): Europabild – Kulturwissenschaften – Staatsbegriff. Die ›Revista de Occidente‹ (1923–1936) und der deutsch-spanische Kulturtransfer der Zwi­ schenkriegszeit. Frankfurt am Main: Vervuert. Siehe auch Niklas Schmich (2020): »Perspektiven. Zur Krise Europas in der Revista de Occidente und im Merkur«, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Nr. 45 (2020), S. 188–208. 253

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33. José Gaos: Philosophie der Philosophie und Phänomenologie

Manuel García Morente), Meditaciones Cartesianas und Ideas relati­ vas a una fenomenologia pura y una filosofia fenomenológica. Libro primero von Edmund Husserl;255 Ontología. vols. I–V von Nicolai Hartmann; Ser y tiempo von Martin Heidegger und La filosofía desde el punto de vista de la existencia von Karl Jaspers. Die Art und Weise, wie José Gaos die Auseinandersetzung mit den Schriften seiner neuen Kollegen suchte, war bemerkenswert. Er rezensierte zahlreiche Bücher von mexikanischen und hispanoame­ rikanischen Philosophen und stand mit vielen von ihnen in Korre­ spondenz.256 Zudem motivierte er seine wichtigsten Schüler dazu, über die mexikanischen und hispanoamerikanischen »Umstände« nachzudenken. Daraus ergab sich ein gemeinsames Ziel, und zwar die Entwicklung einer hispanoamerikanischen Philosophie, die den ganzen Kontinent durch Besinnung auf das einen sollte, was ihn als hispanoamerikanischen Kontinent auszeichnet.257 Als Schüler von Ortega y Gasset und Xavier Zubiri an der Uni­ versidad Central von Madrid, war Gaos ein privilegierter Zeitzeuge 255 Antonio Zirión veröffentlichte 2013 eine Neufassung der Husserl’schen Ideen. Bereits 1995 hatte er erläutert, weshalb die jüngere Forschung über Husserl und sein Vokabular eine Neufassung notwendig mache. Siehe Edmund Husserl (2013): Ideas relativas a una fenomenología pura y una filosofía fenomenológica. Libro primero: intro­ ducción general a la fenomenología pura. Hg. und übersetzt von Antonio Zirión. Mexiko: FCE/UNAM; Antonio Zirión (2001): »Ideas I en español o de cómo armaba rompecabezas José Gaos«, in: Investigaciones fenomenológicas 3 (2001), S. 325–371. 256 Siehe José Gaos (1999b). Briefpartner von Gaos waren z. B. Ortega y Gasset, García Morente, Francisco Romero, Alfonso Reyes, Antonio Caso, José Vasconcelos, Samuel Ramos, María Zambrano, Leopoldo Zea, der mexikanische Philosoph des Rechtes Eduardo García Maynez (1908–1993), Antonio Rodríguez Huéscar, Juan David García Bacca, Octavio Paz und León Felipe. Dieser Briefwechsel ist zudem ein wichtiges Dokument des philosophischen Exils in Lateinamerika. 257 Die Bände VI, VIII und IX der Obras completas belegen dieses Interesse: José Gaos (1990): Obras completas VI – Pensamiento de lengua española. Pensamiento español. Hg. von Fernando Salmerón. Mit einem Vorwort von José Luis Abellán; José Gaos (1996): Obras completas VIII – Filosofía mexicana de nuestros días. En torno a la filosofía mexicana. Sobre la filosofía y la cultura en México. Hg. von Fernando Salmerón. Mit einem Vorwort von Leopoldo Zea. Mexiko: UNAM; José Gaos (1992): Obras completas IX - Sobre Ortega y Gasset y otros trabajos de historia de las ideas en España y la América española. Páginas adicionales. Hg. von Fernando Salmerón. Mit einem Vorwort von Octavio Castro. Mexiko: UNAM. Ebenso ist die von Gaos herausgege­ bene, umfangreiche Anthologie des hispanoamerikanischen Denkens erwähnenswert: José Gaos (1993): Obras completas V – El pensamiento hispanoamericano. Antología del pensamiento de la lengua española en la edad contemporánea. Hg. von Fernando Salmerón. Mit einem Vorwort von Elsa Cecilia Frost. Mexiko: UNAM.

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Die Rezeption der Phänomenologie bei den Exilautoren

der Renaissance der spanischen Philosophie gewesen. Nach dem Bürgerkrieg galt er in gewissem Sinne als Schlüsselfigur des philoso­ phischen Exils in Lateinamerika. Gleichwohl lässt sich die Tragweite seines Einflusses auf das hispanoamerikanische Denken heute schwer einschätzen. Denn einerseits regte er seine Schüler entscheidend zu einer Besinnung auf die Möglichkeit einer mexikanischen und hispa­ noamerikanischen Philosophie an. Andererseits löste sein eigener philosophischer Ansatz (die »Philosophie der Philosophie«) eine eher negative Reaktion bei einigen seiner Kollegen und Schüler aus und veranlasste sie zur Suche nach philosophischen Alternativen auch außerhalb der sogenannten »kontinentalen« Tradition der Philoso­ phie.

34. José Gaos’ frühe Schriften zur Phänomenologie: Husserls Kritik des Psychologismus als heuristischer Moment der Philosophiegeschichte Gaos’ Lektüre der Phänomenologie muss vor diesem philosophie­ geschichtlichen Hintergrund verstanden werden. Bereits im Jahre 1921 hatten Ortega, García Morente und Zubiri ihm vorgeschlagen, eine Dissertation über die Kritik des Psychologismus bei Husserl zu verfassen. Im Zusammenhang dieser frühen Auseinandersetzung Gaos’ mit den Logischen Untersuchungen und den Ideen Husserls sind insbesondere zwei Umstände zu beachten: Erstens hatte Gaos sie im Einklang mit der philosophischen Atmosphäre der 1920er Jahre in Spanien gelesen. Viele waren damals der Überzeugung, dass eine Synthesis zwischen der realistischen Phänomenologie Nicolai Hartmanns und der Axiologie Max Schelers eine legitime Alterna­ tive zum transzendentalen Idealismus Husserls bot. Diese Situation änderte sich erst 1927, als Martin Heidegger Sein und Zeit veröf­ fentlichte. Zweitens erzählte Gaos selbst, dass er keine besondere Neigung zur Phänomenologie Husserls hatte. Im Jahre 1928 stellten die Lektüre und Interpretation der Husserl’schen Phänomenologie vielmehr ein Forschungsdesiderat in Spanien dar, und aus diesem Grund hatte Gaos sie als Thema seiner Doktorarbeit gewählt. Er war damals weniger ein Phänomenologe als jemand, der unbeschadet vom Gebrauch einer phänomenologischen Methode in der Reflexion über die Philosophiegeschichte einen Ausgangspunkt für sein eigenes Denken suchte.

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34. José Gaos’ frühe Schriften zur Phänomenologie

Die Rücksicht auf diese beiden Umstände lässt uns den Grund verstehen, weswegen Gaos ein frühreifes Feingefühl für die histo­ rische Relativität oder Perspektivität der Philosophie entwickelte. Er war ein Zeuge der Aufeinanderfolge der wichtigsten philosophischen Strömungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts, was ihn dazu führte, die Geschichtlichkeit der philosophischen Wahrheit ernst zu nehmen. Dieser geschichtsphilosophische Ansatz war auch in seinen zwei Monographien zur Husserl’schen Phänomenologie zugegen: La crítica del psicologismo en Husserl, die er 1928 an der Universidad Central von Madrid verteidigte, und Introducción a la fenomenología, deren Manuskript aus dem Jahre 1929 datiert.258 La crítica del psicologismo war mehr als eine schulmäßige Dar­ stellung des ersten Bandes der Logischen Untersuchungen (»Prolego­ mena zur reinen Logik«). Im Schlussteil seiner Dissertation betont Gaos die historische Bedeutung der Phänomenologie um die Wende der positivistischen Philosophie des 19. Jahrhunderts. Die Kritik am Psychologismus, der nichts mehr als eine Zuspitzung des Positi­ vismus war, hatte den Reduktionismus der logischen Gesetze und Gegenständlichkeiten zu psychischen Tatsachen überzeugend wider­ legt. Gaos vertiefte seinerseits die philosophischen Implikationen zweier Formen des positivistischen Reduktionismus: Der Positivis­ mus beschränkte die Wirklichkeit auf das Gegebene und dieses auf die Ordnung der physischen und psychischen Erscheinungen. Der Husserl’schen Kritik des Psychologismus rechnete Gaos es an, die falsche Identifizierung der gegebenen Gesetze und Gegenstände der Logik mit psychischen Akten korrigiert zu haben. Damit ließ sie den Bereich der idealen Gegenstände wieder zu. Gaos interessierte sich für diese Kritik und deren Ergebnisse als ein Schlüsselmoment der Philosophiegeschichte. Nach ihm stellt sie in gleich zweierlei Hinsicht ein philosophisches Problem dar: Husserl konnte durch eine Reduktion des Psychologismus ad absurdum auf die Existenz eines idealen Bereiches hinweisen. Denn wenn die idealen Gegenständlichkeiten keine Substanz hätten, würden sich die logi­ schen Gesetze auflösen und das ganze Gebäude der Wissenschaft in sich implodieren lassen. Dieses Argument trage jedoch der Seinsweise der idealen Gegenstände keine Rechnung; die bloße phänomenologi­ Beide Schriften wurden erstmals 1960 in Mexiko veröffentlicht. Sie sind im ersten Band der Obras completas von José Gaos enthalten: José Gaos (2018a): Obras completas I-1 – Escritos españoles (1928–1938). Hg. von Antonio Zirión Quijano. Mit einem Vorwort von Agustín Serrano de Haro. Mexiko: UNAM. 258

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Die Rezeption der Phänomenologie bei den Exilautoren

sche Deskription des idealen Bereiches sei ferner keine Lösung für das Problem der Zufälligkeit oder Notwendigkeit des idealen Seins. Der transzendentale Idealismus der Ideen Husserls war, so Gaos, im Grunde eine Vorentscheidung für die Notwendigkeit des idealen Seins. Aber die Kritik des Psychologismus liefere, so Gaos weiter, […] keinen endgültigen Beweis für die Existenz des idealen Bereiches. Sie [begründet] auch nicht den objektiven Idealismus. Sie ist vielmehr ein relevanter heuristischer Moment in der Geschichte der gegenwärtigen Phänomenologie und Ontologie, wodurch sich die historische Dialektik der Philosophie fortgesetzt hat.259

Aus diesem Grund errichte die Widerlegung des Psychologismus bei Husserl keinen Stützpunkt für den transzendentalen Idealismus, son­ dern für eine Neubetrachtung dessen, was Gaos als das metaphysische Thema der gegenwärtigen Philosophie bezeichnet. Es ging hierbei um die Frage, ob das absolute Sein entweder dem idealen Bereich oder dem reinen Bewusstsein oder aber dem historischen Faktum des menschlichen Lebens zugeschrieben werden müsse – Ortega y Gassets Philosophie der vital-historischen Vernunft fand in dieser Problemstellung einen Nachhall.

35. Die Introducción a la fenomenología: die Geschichtlichkeit des Weltbegriffes In der Introducción a la fenomenología greift Gaos die Frage nach der Geschichtlichkeit bzw. dem Ort der Phänomenologie in der Philosophiegeschichte wieder auf. Er vergleicht die Art und Weise, wie der Alltagsmensch, der Wissenschaftler, der Positivist und der Idealist jeweils die Gegenstände auffassen, mit der Herangehensweise der Phänomenologie. Dabei interessiert sich Gaos weniger für einen kritischen Vergleich zwischen den Systemen als für den Entwurf einer phänomenologisch angelegten Historiographie unterschiedli­ cher Weltbegriffe.260 Dies soll im Folgenden etwas ausführlicher nachgezeichnet werden. Ebd., S. 226 (Hervorh. von José Gaos). Im Vorwort zu Introducción a la fenomenología legt Gaos Nachdruck auf seine philosophiegeschichtliche Perspektive: »Dieses Buch könnte in einem sehr genauen Sinne die erwünschte Einführung in die Phänomenologie werden – und meines Wis­ 259

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35. Die Introducción a la fenomenología: die Geschichtlichkeit des Weltbegriffes

Die Welt des naiven Menschen, so Gaos, besteht zunächst aus den physischen Gegenständen, die er durch die Sinne wahrnimmt, und den psychischen Gegenständen, deren er sich bewusst ist. Zwar wisse er auch von metaphysischen Gegenständen wie von seiner Seele oder den Seelen anderer Menschen, von Geistern oder von Gott. Strenggenommen habe er jedoch kein Bewusstsein von ihnen, sondern lege seiner Seele lediglich die psychischen Gegenstände bzw. seine psychischen Zustände zugrunde. Die neuzeitliche Physik dann habe die Welt des naiven Menschen grundsätzlich verändert. Sie reicherte sie zunächst mit Dingen an, die weder durch die Sinne noch durch das Bewusstsein erkannt werden können, sondern nur dank der mathematisch-experimentel­ len Methode. Zudem begriff der moderne Wissenschaftler erstmals physische Gegenstände als Objekte der äußeren Wahrnehmung. Darunter verstand er Wahrnehmungsobjekte, wie sie die Psychologie des 19. Jahrhunderts definierte, indem sie zeigte, dass es sich dabei um eine Zusammensetzung von Empfindungen und Nachbildern frühe­ rer Empfindungen handelte. Damit unterzog der Wissenschaftler den Weltbegriff des naiven Menschen einer Korrektur. Er übersetzte alle physischen Gegenstände in den Bereich des Psychischen und nannte sie »physische Phänomene«. Die wirklichen physischen Gegenstände dagegen seien die physikalischen Gegenstände des Naturwissen­ schaftlers. Der Psychologe, so Gaos, hatte seinerseits das System der psychischen Gegenstände mit neuen Entdeckungen angereichert. Er ging nun mit Gegenständen um, die der naive Mensch weder als physisch noch als psychisch zu bestimmen wüsste.261 Die physischen Gegenstände des naiven Menschen beschrieb der Psychologe als Empfindungen, behandelte sie also genauso wie die psychischen Zustände, die der naive Mensch als seine subjektiven Empfindungen bezeichnen würde.

sens gibt es noch keine ähnliche Arbeit. Es hat sowohl einen theoretischen als auch einen historischen Aspekt. Denn es geht vom Weltbegriff des ›naiven Menschen‹ aus und zieht danach jene Philosophien in Betracht, die vorherrschend waren, als Husserl seine eigene Philosophie zu entwickeln begann. Sie verfolgt schließlich die Entwick­ lung der phänomenologischen Philosophie Husserls von ihren Anfängen an bis zum vollständigen Ausdruck ihrer Besonderheit«. Ebd., S. 133. 261 Denn der naive Mensch lokalisiere seine subjektiven Empfindungen in seinem Körper, den er für einen – wenn auch besonderen – physischen Gegenstand halte.

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Die Rezeption der Phänomenologie bei den Exilautoren

Sodann bildete er einen neuen, wissenschaftlichen Begriff von Bewusstsein als innere Wahrnehmung. Dadurch will der Psychologe betonen, dass dem Bewusstsein psychische Gegenstände genauso erscheinen wie der äußeren Wahrnehmung physische. Das Wort »Erlebnis« passe zu jeder Erscheinung, da es ihre unmittelbare Gege­ benheit im Bewusstsein zum Ausdruck bringe. Auf diese Weise, so Gaos, reduzierte der Psychologe die ganze Welt des naiven Menschen auf Bewusstseinserlebnisse. Nach Gaos kam diese Korrektur im Grunde einer Ablösung des pluralistischen Weltbegriffs des naiven Menschen durch einen wissenschaftlichen und monistischen262 Welt­ begriff gleich. Nun aber habe der positivistische Philosoph die Bühne betre­ ten. Dieser richte sich ausschließlich nach dem Gegebenen, für dessen Inbegriff er die Empfindung halte. Daher versuche er, alle Erscheinungen auf Empfindungen zu reduzieren, stoße jedoch bei gedanklichen Phänomenen auf Schwierigkeiten. Es bedurfte also einer Methode, anhand derer sich auch ideale Gegenstände auf Emp­ findungen zurückführen ließen. Dazu stelle der Positivist nun eine merkwürdige Theorie der Abs­ traktion auf, durch die er glaube, die idealen Gegenstände auf Emp­ findungen reduzieren zu können: Betrachte man etwa das »Wesen« des Dreiecks, so sehe man im Grunde von Merkmalen sichtbarer Drei­ ecke ab. Ideale Gegenstände seien somit Erscheinungen der Wahr­ nehmungs- oder Einbildungskraft. Diese Art Erscheinungen gelte es nun auf Empfindungen zu reduzieren, womit der Positivist den inhaltsreichen Weltbegriff des naiven Menschen wie auch den dualis­ tischen Weltbegriff des Wissenschaftlers (Bewusstseinsinhalte/phy­ sikalische Gegenstände) in einen Monismus der Empfindung auflöse. Dem wiederum tritt nun nach Gaos der idealistische Philosoph entgegen, dessen Analyse der Erfahrung bzw. der Erkenntnis der Bewusstseinserscheinungen Folgendes zutage bringe: Wir nehmen weder die psychischen noch die physischen Erscheinungen als Emp­ findungskomplexe wahr, sondern als einheitliche Gegenstände. Diese werden durch Kategorien definiert, die sich in keiner Weise auf Empfindungen reduzieren lassen, wie Einheit, Wirklichkeit und Ding­ lichkeit. Die Notwendigkeit der Kategorien bestehe in ihrer Apriorität,

262 Oder aber eines dualistischen Weltbegriffs, wenn man die Existenz physikalischer Objekte als Ursache der psychischen Erscheinungen annimmt.

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35. Die Introducción a la fenomenología: die Geschichtlichkeit des Weltbegriffes

also darin, dass sie die Bedingungen der Möglichkeit für die Gegeben­ heit der Erscheinungen bildeten. Der Weltbegriff des idealistischen Philosophen fuße folglich auf einem System der Kategorien, das sich als Monismus bezeichnen lasse. Das Subjekt wende die Kategorien auf die Gesamtheit der Gegenstände an; sie könnten daher als Funktionen der Denktätigkeit des Subjekts verstanden werden, durch die es den Empfindungen eine Form verleihe. Folglich seien die Kategorien sowohl subjektive Denk­ funktionen als auch Formen der Bewusstseins- und Weltgegenstände. Der Phänomenologe nehme wieder eine andere Einstellung zum System der Gegenstände ein. Zunächst habe er sich dabei auf die Intentionalitätslehre und die Klassifikation der physischen und psy­ chischen Phänomene bei Franz Brentano berufen, die auch Husserl, bis auf die Deskription der Empfindung als physischer Gegenstand, übernommen habe. Damit habe die Phänomenologie das System der physischen und psychischen Gegenstände des naiven Menschen sowie jenes der physischen und psychischen Erscheinungen des Wissenschaft­ lers transformiert. Alle werden nun zu Gegenständen, die sich in intentionalen Akten konstituieren und diese zugleich transzendieren. Das Augenmerk des Phänomenologen richte sich dabei vor allem auf die idealen Gegenstände. In seiner Widerlegung des Psycholo­ gismus sei es Husserl gelungen, diese als eine eigene Sache der Logik herauszustellen. Dem neukantianischen Idealismus gegenüber habe der Phänomenologe ferner gezeigt, dass auch die Kategorien ideale Gegenstände seien – und so mit der Zweideutigkeit der idea­ listischen Auffassung der Kategorien als subjektiven Funktionen und Formen der Gegenstände aufgeräumt. Phänomenologisch werde nun die Objektivität aller idealen Gegenstände nach dem Muster des Wesens aufgefasst. Die Wesenheiten machen das Apriorische aus. Während der idealistische Philosoph unter dem Apriori ein System von wenigen Kategorien begreife, die das Subjekt auf den empirischen Stoff anwende, um eine Welt zu konstituieren, fasse es der Phäno­ menologe als ein unbegrenztes System von idealen und materiellen Wesenheiten auf. Damit lege er seinem Weltbegriff eine vielschichtige Wesensstruktur zugrunde. Gleichwohl bleibe die Frage offen, wie sich diese ideale Struktur auf das faktische Subjekt bezieht. Denn gemeint sei primär nicht das reine Ich, sondern das Subjekt der Korrelation Ich»Umstände«, wie Ortega y Gasset sie beschrieben habe.

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Die Rezeption der Phänomenologie bei den Exilautoren

36. Gaos’ Darstellung der phänomenologischen Methode Gaos’ Betrachtung der phänomenologischen Methode folgt bemer­ kenswerterweise seiner Darstellung des Ortes des phänomenologi­ schen Weltbegriffes in der Geschichte der Philosophie. So ließe sich grob sagen, dass die antike und die mittelalterliche Philosophie dem Realismus des naiven Menschen Ausdruck verliehen haben. Der Wissenschaftler vertritt die mathematisch angelegte Physik, die mit Kopernikus und Galilei ihren Anfang nahm und den Beginn der neu­ zeitlichen Philosophie markiert. Die Beschreibung des idealistischen Philosophen wiederum entspricht dem Neukantianismus, der sich mit dem Positivismus des 19. Jahrhunderts auseinandersetzt. Gaos’ Frage lautete nun, wie der Phänomenologe methodolo­ gisch zu seinem Weltbegriff gelange. Die Methode Husserls beruhe auf einer epoché bzw. einem Sichenthalten von der Generalthesis der natürlichen Einstellung. Diese setze die Gegenstände als existierend und die Sätze über sie als wahrhaft, wobei es sich dabei um kein Urteil, sondern um einen Glauben handle. Die epoché bestehe nun darin, sich von diesem ausschließlich auf die Gegenstände bezogenen Glauben zu distanzieren, um die intentionalen Bewusstseinsakte und ihre objektiven Korrelate zu betrachten. Sie könne in zwei Richtungen erfolgen: als eidetische Reduktion der Tatsachen zu Wesenheiten263 263 Nach Gaos besteht die genuin eidetische Methode darin, Merkmale der Gegen­ stände freizulegen und anschaulich zu klären, die ein notwendiges Begründungsver­ hältnis zueinander haben. Er unterscheidet dabei die eidetisch-phänomenologische Methode von jeder anderen pseudophänomenologischen Methode, die sich darauf beschränke, das Gegebene im Sinne einer Aufzählung von Merkmalen zu deskribie­ ren. »Die eidetische Methode besteht darin, in den Wesenheiten Merkmale zu ent­ decken und zu beschreiben, die durch ein Begründungsverhältnis miteinander verbun­ den sind. Die Hervorhebung bezeichnet den Grundsatz, der die authentische phänomenologische Methode von der pseudophänomenologischen Methode trennt, die ohne eine genaue Kenntnis der Phänomenologie zur allgemeinen Praxis geworden ist […]. Denn die phänomenologische Beschreibung besteht nicht darin, alle Einzel­ heiten, die an dem als Beispiel genommenen empirischen Gegenstand wahrgenom­ men werden, minutiös aufzuzählen. Sie besteht auch nicht in der Aufzeichnung der Merkmale, die dem Forscher allgemeingültig zu sein scheinen oder die in allen Gegen­ ständen derselben Art zu finden sind. Die phänomenologische Deskription besteht in der Untersuchung und Aufzeichnung nur derjenigen Merkmale, von denen der For­ scher sieht, dass sie sich gegenseitig bedingen, wie etwa Farbe und Ausdehnung.« Gaos (2018a): S. 169. Zu einigen Schwierigkeiten von Gaos’ Konzeption der eidetischen Methode siehe Sergio Pérez-Gatica (2021): »Die Diskussion zwischen José Gaos und Luis Villoro über den Begriff der Lebenswelt – Kritische Auswertung einer entschei­

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36. Gaos’ Darstellung der phänomenologischen Methode

und als transzendentale Reduktion der Erscheinungen zu Phänome­ nen des reinen Bewusstseins. 1) Die Phänomenologie lässt sich zunächst als eine eidetischdeskriptive Wissenschaft charakterisieren. Gaos bemerkt dazu, die phänomenologische Deskription habe es nicht mit den exakten Wesenheiten der Mathematik zu tun, sondern mit den morphologisch inexakten Wesenheiten der psychischen Phänomene. Diese könnten identifiziert, differenziert, analysiert und letztlich begrifflich zum Ausdruck gebracht werden, sofern sich ihre Deskription von der mathematischen Herangehensweise unterscheide. Gaos maß dieser Methode großen Wert bei und versuchte, sie in seine eigene Philoso­ phie zu integrieren. 2) Die transzendental-phänomenologische Reduktion bilde das eigene Thema der Phänomenologie Husserls. Er gehe noch einen Schritt weiter als Brentano, indem er sich mit den reinen Phäno­ menen des reinen Bewusstseins befasse. Die phänomenologische Reduktion, wie Gaos sie nennt, wird auf jede Tatsache und jedes Wesen angewandt. Das reine Bewusstsein und dessen reine Akte sind das Residuum solcher Reduktionen. Daraus erweise sich ferner, dass jedes empirische Subjekt und Erlebnis in einem rein transzen­ dentalen Akt konstituiert werde, der seinerseits nicht konstituiert sei. Gaos bezeichnet ihn als einen »Akt der absoluten Setzung« durch das reine Bewusstsein. Der Phänomenologe interessiere sich nicht mehr für die psychischen Gegenstände des naiven Menschen oder die psychischen Erscheinungen des Psychologen, sondern für das Wesen des reinen Bewusstseins und dessen reine Erlebnisse. Die Phänomenologie erweise sich als eine Wissenschaft der Wesen und des reinen Bewusstseins, das sie als ein Absolutes verstehe – aufgrund seiner Setzung bzw. Konstitution des psychophysischen Subjektes und der Welt. Dies ist jedoch das genaue Gegenteil von Gaos’ Konzept! Für ihn bilden das psychophysische Subjekt und seine Welt die primäre Realität. Dieses Subjekt ist in erster Linie ein Individuum, das auf seine »Umstände« reagiert. Ideale Objekte und Wesenheiten sind lediglich ein Teil dieser Umstände.264 In diesem Punkt folgt Gaos denden Episode der Rezeptionsgeschichte von Husserls Phänomenologie in Spanien und Mexiko«, in: Husserl Studies Nr. 37 (2021), S. 277–278; Zirión (2009): S. 72–77. 264 In seinem Vorwort zum ersten Band der Obras completas von Gaos weist Agustín Serrano de Haro darauf hin, dass Gaos dazu neige, das System der idealen Objekte bei

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Die Rezeption der Phänomenologie bei den Exilautoren

seinem Lehrer Ortega y Gasset, der die Begegnung des »Ich« mit den neuen Objektivitäten, die ihm das reflektierende Bewusstsein darbie­ tet, beschrieben hat. Aber Gaos’ Interesse für das psychophysische Subjekt ist noch radikaler: Er will es im Sinne einer individuellen Lebensgeschichte beschreiben, beginnend mit seiner eigenen Geschichte als Philosoph.265

37. Gaos’ Philosophie der Philosophie Die Frage nach der Existenz des idealen Seins und die Feststellung der Geschichtlichkeit des Weltbegriffes waren für Gaos richtungswei­ send. Sie warfen das Problem des empirischen Subjekts auf, dem ein historischer Weltbegriff vorgegeben ist. Um diesen zu vertiefen, betreibt der Mensch Wissenschaft, indem er sich mit einem Teil dieser Welt beschäftigt und ihn mit einer exakten, experimentellen Metho­ dik untersucht. Philosophie betreibt er, wenn er seine Perspektive auf die gesamte Wirklichkeit in einem System universeller Erkenntnis aufbaut. Dieser Ansatz regte Gaos zur Skizzierung einer »Philosophie der Philosophie« (filosofía de la filosofía) an, die von der Tatsache ausgeht, dass jedem einzelnen Philosophen eine Pluralität von Philo­ sophien in Gestalt der Philosophiegeschichte vorgegeben ist. Für Gaos handelte es sich hierbei um keine triviale Feststellung. Er stimmt dem Satz zu, dass es so viele Definitionen von Philosophie gebe wie Philosophen. Aber es ging ihm zunächst nicht um die Ironie des Satzes. Die Pluralität der Philosophien gehört mit der Pluralität von Perspektiven, die manche Individuen – die Philosophen – bezüg­ Husserl als etwas zu interpretieren, das von Welterfahrung und der Tatsache des Erscheinens isoliert sei. »[…] Husserl selbst hat nie so emphatisch, so architektonisch vom ›System der Gegenstände des Phänomenologen‹ gesprochen, noch hat er den Bereich der reinen Erlebnisse als einen begrenzten Bereich der idealen Sphäre, als eine Provinz oder Region des ›Systems der Wesenheiten‹ (wiederum Gaos’ Ausdruck) betrachtet.« Gaos (2018a): S. 15. Diese kritische Bemerkung ist in gewissem Maße gerechtfertigt. Die von Gaos aufgeworfene Grundfrage war jedoch die nach der His­ torizität des phänomenologischen Weltbegriffs neben anderen philosophischen Welt­ begriffen und dem Weltbegriff des Alltagsmenschen. Wie hängen sie alle mit dem historischen Faktum des menschlichen Lebens zusammen? Gaos konnte jedoch letzt­ lich nicht sehen, dass diese legitime Frage einen Platz auch in der Husserl’schen Phä­ nomenologie hatte. 265 Dies schließt nach Gaos keineswegs eine transzendentale Analyse der Kategorien des individuellen Lebens aus, wie im folgenden Abschnitt gezeigt wird.

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37. Gaos’ Philosophie der Philosophie

lich der Totalität des Realen haben, zusammen.266 Gaos beschreibt sie als jene Subjekte, die sich in ihre jeweilige Perspektive von der ganzen Realität zurückziehen, um ein eigenes, wahrhaftes Denken über sie zum Ausdruck zu bringen. Nach Gaos besteht die Wahrheit der verschiedenen Philosophien weniger in ihrem Inhalt als darin, dass es reale Perspektiven von realen Subjekten sind. Da dem einzelnen Philosophen strenggenommen nur seine eigene Perspektive von der Realität gegeben sei, könne er im Idealfall lediglich zur Perspektive eines anderen Philosophen gelangen. Dazu müsste er sich mit dieser identifizieren. Die einzelne Perspektive bezüglich der Realität im Ganzen sei jedoch letztlich unübertragbar. Zwar gebe es Gegenstände der Philosophie, die allgemeingültig sind (etwa die der Logik) oder unterschiedliche Grade von Allgemeinheit aufweisen. Dies sei jedoch nicht immer der Fall. Um die Komplexi­ tät der Philosophie zu beschreiben, greift Gaos seine Klassifikation von Gegenständen in der Introducción a la fenomenología auf: Die Philosophie habe sich mit Gegenständen befasst, die durch Erfahrung oder Anschauung erreichbar seien. Dies sei bei den physischen, psychischen und idealen Gegenständen der Fall. Aber da die Philo­ sophie ihrem Wesen nach Anspruch auf die Erklärung der Totalität des Realen erhebe, beschäftige sie sich vorzugsweise mit metaphysi­ schen Gegenständen – mit der Seele als Substrat aller psychischen Gegenstände oder mit Gott als Ursache des Realen oder irgendeinem absoluten Prinzip –, welche nicht durch Erfahrung zu erreichen sind. Im Verlauf der Philosophiegeschichte tendierten die philosophischen Disziplinen, die sich mit Erfahrungsgegenständen beschäftigen, dazu, sich als einzelne Wissenschaften zu verselbständigen. Die Metaphy­ sik stelle hier einen besonderen Fall dar. Da sie sich nicht auf die

266 Im Unterschied zum Wissenschaftler begnügt sich der Philosoph nicht damit, einen Teil der Realität zu erforschen. Er erhebt Anspruch darauf, der ganzen Realität Rechnung zu tragen. Während der Wissenschaftler, dank seiner Methode, partielle, aber wohlbegründete und allgemeingültige Wahrheiten entdecken kann, muss der Philosoph die Totalität des Realen im Denken rekonstruieren, ohne dass er einen Kon­ sens bezüglich seiner Auffassung des Ganzen von den anderen Menschen verlangen kann. Ohne einen solchen Anspruch gäbe es jedoch keine Philosophie, sondern nur Wissenschaft. Die Philosophie löst sich deshalb nicht in Wissenschaft auf, weil sie einem Lebensbedürfnis entspricht. Gaos’ Philosophie der Philosophie kreist ständig um diese Problematik.

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Erfahrung stützen könne, erlange sie den Charakter einer Pseudowis­ senschaft, die, so Gaos, vermutlich zum Aussterben verurteilt sei.267 Nach diesen Überlegungen zu den historischen Verwandlungen der Philosophie formuliert Gaos die zwei Grundfragen seiner eigenen Philosophie der Philosophie: Warum haben sich die Menschen darum bemüht, den Perspektiven der Subjekte, in denen ihnen die Totalität des Realen gegeben wird, Ausdruck zu verleihen? Weshalb haben sie sich zudem darum bemüht, eine Wissenschaft der Gegenstände der Religion aufzubauen?268

Nach Gaos lassen sich diese beiden Probleme nicht getrennt von­ einander behandeln. Die Metaphysik sei die ursprüngliche Daseins­ berechtigung der Philosophie, weil erst ihre Gegenstände sich auf die Idee der Totalität des Realen bezögen. Der Philosoph sei Philo­ soph, weil erst er seiner Perspektive von der Totalität des Realen Ausdruck verleihe. Dieser Anspruch sei aus der Sorge des Menschen um sein individuelles Schicksal entstanden. Er habe sich niemals damit begnügt, an Gott und die Unsterblichkeit der Seele einfach nur zu glauben, sondern versucht, die Existenz bzw. die Wahrheit der ursprünglich religiösen Gegenstände zu beweisen. Bemerkenswert ist, dass es sich hierbei um eine ähnliche Frage­ stellung handelt, wie sie Miguel de Unamuno in El sentimiento trágico de la vida aufgeworfen hatte. Dieser verstand die metaphysischen Systeme als einen Versuch, den Konflikt zwischen der Vernunft und dem Streben nach Unsterblichkeit zu lösen. Seine Philosophie des tragischen Lebensgefühls wollte auf der Unlösbarkeit eben jenes Konfliktes eine Kultur, eine neue Philosophie und eine Ethik gründen. Gaos vertritt in diesem Zusammenhang zwei Thesen: Die Religion liegt zwar im Ursprung der Metaphysik, indem sie ihren Mangel fühlt und sich darum bemüht, ihm abzuhelfen. Aber der Unglaube (irreligión), der irreligiöse Wille, Gott zu werden, scheint

Gaos verfocht jedoch keinen Positivismus: »Eine Reduktion der Kultur und des menschlichen Lebens auf Wissenschaft bedeutete eine Rationalisierung des Menschen derart, dass das rein rational gewordene Seiende nicht länger jenes Seiende wäre, das er ist. Es wäre ein anderes Seiendes, das man nur äquivok Mensch nennen würde«. José Gaos (1982b): Obras completas XVII – Confesiones profesionales. Aforística. Hg. von Fernando Salmerón. Mit einem Vorwort von Vera Yamuni Tabush. Mexiko: UNAM, S. 50. 268 Ebd. 267

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genauso wie die Religion im Ursprung der Metaphysik zu liegen. Der Hochmut wäre mit einem solchen Willen verbunden.269

Im Unterschied zu Unamuno geht Gaos davon aus, dass den verschie­ denen Philosophien ein irreligiöses Gefühl – und zwar Hochmut (soberbia) – zugrunde liegt.270 Jeder echte Philosoph habe ein indivi­ duelles System der universellen Wahrheit. Aber anstatt einzuräumen, dass sein System weiter nichts sei als seine eigene Perspektive auf die Wirklichkeit, bemühe er sich darum, sie anderen Menschen als die eine philosophische Wahrheit glaubhaft zu machen. Diese bestehe jedoch in der realen Pluralität von Perspektiven. Trotzdem neige der Philosoph dazu, seinen subjektiven Blickwinkel zu verabsolutieren und so zu kommunizieren, dass er als die Wahrheit anerkannt werde. Im Grunde handle es sich jedoch um ein persönliches Bekenntnis des Philosophen, bei dem er übersehe, dass eine subjektive Wahrheit der Mitteilung bedarf, um von anderen erkannt zu werden. Die wissenschaftliche Wahrheit dagegen sei allgemeingültig und stehe allen gleichermaßen zur Verfügung.

38. Philosophie der Philosophie und Phänomenologie 1939 ging Gaos nach Mexiko ins Exil, wo er seine Idee der Philoso­ phie der Philosophie weiterentwickelte. Gleichwohl stieß er zunächst auf Widerstand. Der Philosophiehistoriker Francisco Larroyo (1912– 1981), einer der wichtigsten Vertreter des Neukantianismus in Mexiko, bestritt Gaos’ Fundierung der Philosophie auf subjektiven Motiven wie dem Interesse an der Begründung einer religiösen Über­ zeugung oder Hochmut mit aller Entschiedenheit.271 Larroyo wendet Ebd. Gaos’ Texte über den Hochmut sind zahlreich und über sein gesamtes Werk verstreut. Im Band I-2 der Gesammelten Werke Gaos’ sind die ersten Notizen und Anmerkungen zur Philosophie der Philosophie zusammengestellt, in denen das Thema des Hochmuts und sogar die Möglichkeit einer Phänomenologie des Hochmuts auftaucht. Siehe José Gaos (2018b): Obras completas I-2 – Escritos españoles (1928–1938). Hg. von Antonio Zirión Quijano. Mit einem Vorwort von Agustín Serrano de Haro. Mexiko: UNAM. 271 Der Kern der Debatte ist im Text »Dos ideas de la filosofía (pro y contra la filosofía de la filosofía)« [»Zwei Ideen der Philosophie (für und gegen die Philosophie der Phi­ losophie«)] zu finden. José Gaos (2003): Obras completas III – Ideas de la filosofía (1938–1950). Hg. von Antonio Zirión Quijano. Mit einem Vorwort von Abelardo 269

270

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ein, dass die Philosophie eine fundierende Wissenschaft sei, die sich auf keine tiefere Ebene oder Schicht zurückbeziehen lasse. Ferner stellt er Gaos’ Gleichstellung der Philosophiegeschichte mit einer »Philosophie der Philosophie« infrage: Die Philosophiegeschichte sei keineswegs eine Geschichte der Mitteilung von subjektiven Syste­ men, sondern die von genuinen philosophischen Probleme und Ideen. Vor allem aber protestierte Larroyo gegen Gaos’ psychologische Beschreibung des Philosophen als eines »diabolischen Hochmüti­ gen«. Einer solchen »Psychologie des Philosophen« stellte er den universellen Charakter der Philosophiegeschichte gegenüber, durch den man über einen historischen und allgemeingültigen Begriff der Philosophie verfüge. Er begriff sie als eine theoretische Reflexion über die universellen Werte der Kultur. Nichts könnte Gaos’ Konzept der Philosophie als einer Erzählung über sich selbst bzw. als persönliches Bekenntnis entfernter sein als diese Definition.272 Der Philosoph sei weder ein Hochmütiger noch jemand, der die Maske der Bescheiden­ heit trage, sondern einer, der sich respektvoll vor den überempirischen Gesetzen des Heiligen, des Guten, des Schönen und des Wahren verbeuge. Auch wenn Gaos sich auf die Phänomenologie berufe, um seine Beschreibung des Philosophen zu rechtfertigen, so bleibe sie doch auf der Ebene einer psychologischen oder gar psychologistischen Auffassung der Philosophie und des Philosophen.273 Es sei unersicht­

Villegas. Mexiko: UNAM, S. 45–125. Zum philosophischen Profil von Francisco Lar­ royo, seinen Wurzeln im Neukantianismus und in der Phänomenologie sowie seiner Rolle an der mexikanischen Universität siehe Leyva (2018): S. 159–161. 272 »Die Geschichte oder Erzählung der persönlichen Erlebnisse von Herrn Gaos, wie sehr sie auch immer denen seiner Generation ähnelt oder nicht, ist nichts mehr als eine empirische Analyse seines Bewusstseins, die von der philosophischen Methode der transzendentalen Reflexion weit entfernt ist. Ich glaube nicht, dass der Philoso­ phiebegriff auf dem Weg der psychologischen Deskription erläutert werden kann, nicht einmal, dass eine solche Deskription den Namen ›Philosophie der Philosophie‹ verdient«. Ebd., S. 70. 273 »Wenn man mithilfe einer hochmodernen phänomenologische Methode (nicht die von Husserl) darauf besteht, dass der Hochmut […] ein wesentliches Merkmal der Philosophie ist, dann gerät man, ob man will oder nicht, in einen Psychologismus. Handelt es sich beim Hochmut nicht um ein psychisches Phänomen, das als solches ein Thema der Psychologie wäre? Wenn man sich auf ein solches psychologisches Konzept beruft, geht es dann nicht um einen reinen Psychologismus? Dennoch war es bisher niemandem eingefallen, die Philosophie […] mit diesem diabolischen Ton zu definieren«. Ebd., S. 95.

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lich, wie sie überhaupt zur transzendentalen Reflexion Husserls auf die Phänomenologie als strenge Wissenschaft passe.274 Gaos’ Antwort auf die Kritik von Larroyo ist interessant, weil sie die Verbindung zwischen der Phänomenologie und seinem Begriff einer,Philosophie der Philosophie‘ erhellt. Er entgegnet Larroyo, dass sich »sowohl der psychologische oder phänomenologische Charakter der Philosophie der Philosophie als auch die Schwierigkeiten des Begriffes des ›persönlichen Bekenntnisses‹ […] von einem phänome­ nologischen Standpunkt aus« erklären ließen.275 Ihm zufolge stütze sich seine Philosophie der Philosophie auf die phänomenologische Methode, um der wesenseigenen Selbstreflexivität der Philosophie Rechnung zu tragen. Die Psychologie des Philosophen sei nur die Vorstufe des Verständnisses einer solchen Selbstreflexivität. Denn ihre Ergebnisse – nämlich die Charakterisierung des Philosophen als eines Hochmütigen und der Philosophie als persönliches Bekenntnis – ließen eine weitere phänomenologische Betrachtung bzw. eine eidetische Deskription zu. Hierzu weist Gaos auf vier Punkte hin, welche die phänomenologische Basis für die Philosophie der Philoso­ phie darstellten: 1.

Die Philosophie der Philosophie dürfe von persönlichen Erleb­ nissen und der eigenen Lebensgeschichte ausgehen, sofern sie als

274 »Man könnte trotz allem Anschein dagegenhalten, dass die Analyse von Herrn Gaos nicht psychologisch, sondern phänomenologisch sei. Man versteht allerdings nicht, wie die philosophische Phänomenologie Husserls, sofern sie eine ›transzen­ dentale Reflexion‹ ist, Herrn Gaos zu der neukantianischen Idee führt, dass die Phi­ losophie den Rang einer strengen Wissenschaft einnehmen müsse. Herr Gaos kommt dagegen auf einen Gedanken, der für uns unzulässig ist, dass nämlich die Philosophie nicht nur ein satanisches Wesen habe, sondern auch ein persönliches Bekenntnis sei«. Ebd., S. 70. Gegenüber der Kritik Larroyos behauptete Gaos alles in allem, dass seine Analyse letztlich transzendental sei und nicht bloß empirisch. Für ihn ging es nämlich in erster Linie um die Transzendentalität des faktischen Lebens als primärer Realität. Andererseits wird Gaos später bestreiten, dass die Phänomenologie den Status einer strengen Wissenschaft beanspruchen könne. Er spricht ihr den Charakter einer Grund­ wissenschaft ab, wobei er eine eidetische Methodologie aufgreift, die der Selbstrefle­ xivität des Philosophen und der Philosophie selbst untergeordnet ist. Nach Gaos schließt die Anwendung der eidetischen Methode eine transzendentale Analyse nicht aus, da die Kategorien des faktischen Lebens auf die philosophische Anthropologie und die Untersuchung der Lebensgeschichte der Philosophen als persönliches Bekenntnis angewendet werden können. Gaos bezeichnet diese Herangehensweise als »Phänomenologie der Philosophie«. 275 Ebd., S. 73.

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2.

3. 4.

anschauliche Beispiele für eine Wesensbestimmung der Philoso­ phie und des Philosophen gelten. Die Philosophie der Philosophie fließe in die Entwicklung der Phänomenologie von Husserl über Ortega y Gasset zu Heidegger ein, da sie die Konkretheit und Umstandshaftig­ keit (circunstancialidad) der Phänomene berücksichtige.276 Die Beschreibung des Charakters oder der Grundstimmung des Phi­ losophen sei keine Sache einer allgemeinen Psychologie, sondern eine konkrete Charakterologie, welche die empirische Grundlage für eine eidetische Deskription der Philosophien als persönliche Bekenntnisse bildet.277 Gerade deshalb widerspreche die Charakterisierung der Philoso­ phie als persönliches Bekenntnis keineswegs dem Desideratum einer eidetischen Phänomenologie der Philosophie.278 Husserl habe die Philosophie mit der Phänomenologie gleich­ gestellt, aber dennoch keine Phänomenologie der Philosophie

Wir haben »circunstancialidad« mit »Umstandshaftigkeit« übersetzt, was im Deutschen am treffendsten der Bedeutung des spanischen Wortes zu entsprechen scheint. Eine mögliche Übersetzung wäre auch »Zirkunstanzialität«; in Fußnote 30 wird Stascha Rohmer zitiert, der für die Philosophie Ortegas den Begriff »Zirkunstan­ zialismus« verwendet. Man kann sich von diesem Neologismus inspirieren lassen: »Zirkunstanzialität«. Eine solche eng am spanischen Original orientierte Neuschöp­ fung würde durchaus Sinn ergeben, da auch der spanische Begriff erst durch Ortega eingeführt wurde und es kein adäquates Pendant im Deutschen gibt. 277 »Die Philosophie hat sich von Husserl zu Heidegger so entwickelt, dass sie immer stärker auf die Umstandshaftigkeit [Zirkunstanzialität] (circunstancialidad) der Phä­ nomene Rücksicht nehmen muss, wie Ortega in seinen Meditationen über ›Don Qui­ jote‹ zeigte. Husserl hatte die psychischen Phänomene in der abstrakten Form der allgemeinen Psychologie betrachtet. Sowohl die Philosophie als auch die konkrete Psychologie (Charakterologie) haben jedoch festgestellt, dass die menschlichen Phä­ nomene Konkretheiten der abstrakten Phänomene sind. Deswegen müssen sie nach ihrer Konkretheit, die auch ihre Echtheit ist, beschrieben, erzählt und zum Thema der Geschichte werden.« Ebd., S. 76. 278 »Es gibt keine Unverträglichkeit zwischen einer Phänomenologie der Philosophie und der Bestimmung der Philosophie als persönliches Bekenntnis. Die Phänomenolo­ gie der Philosophie ist ja imstande, das Wesen der Philosophie als persönliches Bekenntnis herauszustellen. Der Begriff des persönlichen Bekenntnisses ist ein Wesensbegriff und kann als solcher entfaltet werden. Deswegen kann er auch, wie jeder analoge Begriff, zum Gegenstand der Phänomenologie werden. Das ›persön­ liche Bekenntnis‹ ist ein Eidos. Dieses kann anhand eines einzelnen empirischen Beispiels beschrieben werden. Dieser Fall ist und muss wesentlich ein persönlicher Fall sein.« Ebd. 276

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gestiftet. Die Philosophie der Philosophie unternehme es, diese Lücke zu schließen.279 Die Debatte mit Larroyo zeigt deutlich, inwiefern Gaos’ Aufnahme und Interpretation der Phänomenologie durch sein eigenes philoso­ phisches Vorhaben vorgezeichnet war. Es war daher unvermeidlich, dass Gaos kritische Fragen an die Husserl’sche Phänomenologie rich­ tete. Sie betrafen vor allem das Verhältnis zwischen Psyche und Logos, Eidos und Geschichte. Gaos nahm sich vor, von den konkreten, his­ torisch situierten Philosophen und deren Philosophien auszugehen, um zum Eidos der Philosophie zu gelangen. Damit ist nicht gesagt, dass die Philosophie der Philosophie sich ausschließlich auf eine phänomenologisch-eidetische Methode stützt. Da sie Philosophie als ein persönliches Bekenntnis bzw. eine Erzählung der konkreten Lebensgeschichte versteht, muss sie dem Leben nicht nur als Eidos, sondern auch als einem transzendentalen Faktum Rechnung tragen. In dieser Hinsicht rechnet Gaos es der Husserl’schen Phänome­ nologie als Verdienst an, den Menschen als ein transzendentales Seiendes beschrieben zu haben, auf welches der Bereich der idealen Gegenstände bzw. der Wesen zurückbezogen werden muss. Der strittige Punkt lag im Verständnis des transzendentalen Subjekts oder Faktums, welches die idealen Gegenstände konstituiert bzw. mit ihnen verbunden ist. Wie Ortega y Gasset fasst auch Gaos das menschliche Leben (und das menschliche Zusammenleben) als die Grundtatsache auf, auf welche alle anderen Tatsachen zurück­ geführt werden müssen. Gemeint war keine biologische Tatsache der menschlichen Art, sondern eine transzendental-geschichtliche Grundtatsache, die sich zunächst durch ihre Korrelation zu den idea­ len Gegenständen beschreiben lässt. Die Transzendenz der sich der Anschauung gebenden idealen Gegenstände ist ein ursprünglicher

»Husserl hat die Philosophie als Phänomenologie definiert und betrieben. Er gibt sich mit dieser Definition zufrieden. Dadurch unterließ er jedoch inkonsequenterweise die Ausarbeitung einer Phänomenologie der Philosophie. Ein solches Versäumnis ist weder etwas Neues noch ist es in der Philosophiegeschichte selten. Denn die Philo­ sophen überlassen die Fundamente ihres Denkens deswegen ihren Nachfolgern und der späteren Philosophiegeschichte, weil ihnen das Fundamentale weniger klar ist als ihren Nachfolgern. Aber nur dadurch entwickelt sich die Philosophie weiter. Hätte Husserl eine Phänomenologie der Philosophie gestiftet, wäre er vielleicht zu dem Schluss gekommen, dass die Philosophie, als menschliches Phänomen betrachtet, ein persönliches Bekenntnis sei.« Ebd., S. 76. 279

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Ausdruck der Transzendenz des Faktums des menschlichen Lebens bezüglich der physischen und biologischen Tatsachen. 1942 veröffentlichte Gaos eine Übersetzung der Cartesianischen Meditationen Husserls.280 Der Titel des Vorworts des Übersetzers, »Historia y significado« (»Geschichte und Bedeutung«), verdient Auf­ merksamkeit. Gaos stellt hier erneut die Frage nach der Verbindung von Phänomenologie, Philosophiegeschichte und Geschichtlichkeit. 1) Die Phänomenologie habe mit der Kritik des Psychologismus angesetzt, die in einem Argument für die Unmöglichkeit bestand, die idealen Gegenstände der Logik auf psychische Zusammenhänge her­ unterzubrechen. Gaos bemerkt hierzu, Husserl habe sich niemals vor­ genommen, eine bloße Deskription der idealen Gegenstände durch­ zuführen. Im Mittelpunkt seiner Phänomenologie stand vielmehr die Frage nach der Konstitution idealer Einheiten (logische Gegenstände und Werte) durch subjektive Erlebnisse. Im Anschluss an Brentano habe Husserl seine Herangehensweise zunächst als deskriptive Psy­ chologie bezeichnet. Erst später gebrauchte er das Wort »Phänome­ nologie«, die er als eine strenge Wissenschaft der Wesen und des reinen Bewusstseins begriff. Wie Zubiri betont Gaos den Einfluss von Bolzano auf die eidetische Phänomenologie Husserls. Er fügt jedoch hinzu, dass sich die Phänomenologie nicht auf die Deskription von Wesenheiten beschränke. Die eidetische Phänomenologie lasse sich keinesfalls von der transzendentalen Phänomenologie trennen, wie dies die realistischen Phänomenologien Max Schelers und Nicolai Hartmanns machten. Wie Descartes wollte Husserl zu einer abso­ lut unbezweifelbaren Wirklichkeit gelangen. Das transzendentale Das Projekt einer Übertragung der Cartesianischen Meditationen von Edmund Husserl ins Spanische entstand unter besonderen Umständen. Husserl hatte Ortega y Gasset im Jahre 1935, vor Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges, eine Kopie des deutschen Manuskriptes überreicht, damit im Verlag Revista de Occidente eine Über­ setzung erscheinen könnte. Ortega übertrug José Gaos den Auftrag Husserls. Auf­ grund der Umstände des Bürgerkrieges konnte Gaos lediglich die Meditationen I–IV übersetzen (Miguel García-Baró hat dann die V. Meditation übersetzt; es gibt zudem eine vollständige spanische Version der Cartesianischen Meditationen in der Über­ setzung von Mario A. Presas, die erstmals 1979 veröffentlicht wurde): Edmund Hus­ serl (2005): Meditaciones Cartesianas. Übersetzt von José Gaos und Miguel GarcíaBaró. Mexiko: Fondo de Cultura Económica; Edmund Husserl (2006): Meditaciones Cartesianas (1979). Übersetzt von Mario A. Presas. Madrid: Ediciones Paulinas. Gaos’ Einleitung in die Cartesianischen Meditationen ist zu finden in: José Gaos (1987): Obras completas VII – Filosofía de la filosofía e historia de la filosofía. Hg. von Fernando Salmerón. Mit einem Vorwort von Raúl Cardiel Reyes. Mexiko: UNAM, S. 285–300. 280

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Bewusstsein erwies sich als eine solche Wirklichkeit, sofern man es von allem befreit, was zu einem Irrtum führen könnte. Die früheren Bewusstseinsbegriffe (sowohl empirisch als auch transzendental) waren insofern unvollständig oder inkonsequent, als sie den Grund für die Möglichkeit des Irrtums nicht weiter verfolgten. Diese liegt in der natürlichen Einstellung, durch die der Mensch die Dinge als real oder irreal setze und sein Bewusstsein als das eines realen Subjekts in der realen Welt apperzipiere. Die phänomenologische Einstellung bestehe darin, sich von der Setzung der Dinge als real oder irreal und der Selbstapperzeption als Reflexion eines realen psychophysischen Subjekts zu enthalten. Sobald man diese Enthaltung oder epoché durchführe, lebe man im reflektierenden Bewusstsein und setze nichts mehr als dessen intentionale Gegenstände und ihre Wesen. Damit habe Husserl die antike und mittelalterliche realistische Eidetik in die Phänomenologie aufgenommen, wie er die neuzeitliche Bewusstseinsphilosophie und den Idealismus in die transzendentale Phänomenologie integriert habe. Aus einer philosophiegeschichtlichen Perspektive dürfe man also sagen, dass die Phänomenologie ein Versuch sei, entgegensetzte Strömungen der Philosophiegeschichte miteinander zu versöhnen. 2) Gaos legt weiterhin Nachdruck darauf, dass Husserl das reine Bewusstsein als ein Faktum verstanden habe. Damit kritisiert er eine Interpretation der Phänomenologie, die das transzendentale Bewusstsein mit dem Eidos des reinen Bewusstseins und das Phäno­ men mit dem reinen Wesen gleichstellt. Eine solche Interpretation trennt die Eidetik vom Leben im transzendentalen Sinne. Daher rech­ net er es Husserl als Verdienst an, versucht zu haben, der Faktizität des reinen Bewusstseins Rechnung zu tragen. Der Punkt sei jedoch, dass das transzendentale Faktum letztlich kein reines Bewusstsein sei, sondern die primäre Realität des Lebens, wovon auch bei Ortega y Gasset die Rede war. Gaos präzisiert dies noch: Es gehe dabei nicht um das Leben im Allgemeinen, sondern um das Leben eines kon­ kreten, einzelnen Menschen. Aus diesem Grund ist die Philosophie der Philosophie eine Philosophie des Philosophen, seiner philosophi­ schen Lebensgeschichte als persönliches Bekenntnis. Gaos’ Denken lässt sich aus dieser Perspektive als eine eidetische Deskription und eine transzendentale Analyse des konkreten menschlichen Lebens bezeichnen. Die Philosophie der Philosophie wird im Rahmen einer phänomenologischen Anthropologie betrieben.

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39. Der Streit Gaos’ mit seinen Schülern um die Phänomenologie Husserls Gleichwohl führte die pluralistische Konzeption der philosophischen Wahrheit Gaos zu einem gewissen Skeptizismus. Ihm zufolge bringt die Philosophie die Transzendenz des menschlichen Lebens zum Aus­ druck, indem sie, durch konsequente Entwicklung, zu den metaphysi­ schen Gegenständen aufstrebt. Aber im Unterschied zur Wissenschaft darf sie keinen Anspruch auf objektive und allgemeingültige Sätze erheben. Da der Philosoph eine persönliche Erkenntnis der Totalität des Realen beanspruche, ziehe er sich zunächst in seine Perspektive von der Realität zurück und mache sie dann, in Gestalt eines philoso­ phischen Systems, zum Zentrum aller Perspektiven. Dennoch belege das einander Ablösen von verschiedenen Systemen im Verlauf der Geschichte der Philosophie die Anmaßung und den Hochmut einer solchen Ambition. Wer dem Gerangel der Philosophien mit offenen Augen zuschaue, könne einen gesunden Skeptizismus nicht vermei­ den. Dem konsequenten Philosophen bleibe als einzige Möglichkeit, nicht länger auf eine universelle Wahrheit zu schielen, sondern die Endlichkeit des menschlichen Lebens und die Grenzen der Vernunft zu beschreiben und durch sein eigenes Dasein zu veranschaulichen. Die skeptischen Konsequenzen der Philosophie der Philosophie und deren Begriff der Philosophie als persönliches Bekenntnis stießen bei den bedeutendsten Schülern von Gaos auf Widerstand.281 Er hatte sie zu einer Besinnung auf ihre historischen Umstände und zum Entwickeln einer eigenen mexikanischen Philosophie motiviert282 – wobei sie hier ein Antezedens auch im Werk von Samuel Ramos Die Frage nach der Philosophie der Philosophie nahm auch einen Platz in der Diskussion ein, die Gaos mit seinem exilierten Kollegen Eduardo Nicol in den 1950er Jahren führte. Die Kontroverse drehte sich um die Begriffe von Essentialismus und Historismus. Nicol, dessen Denken den gemeinschaftlichen Ursprung von Sein und Wahrheit betont, fühlte sich gezwungen, die aus seiner Sicht rein persönliche Philo­ sophie von Gaos zurückzuweisen. Die Kontroverse ist in den folgenden Texten doku­ mentiert: José Gaos (1992): S. 233–246 und 247–306; Eduardo Nicol (1997): La vocación humana. Mexiko: Lecturas Mexicanas, S. 313–322 und 323–341. 282 Heinz Krumpel weist auf einen weiteren Wesenszug des Denkens von Gaos hin, der seine Schüler beeinflusste: »Die Auffassung von der Philosophie als Selbster­ kenntnis stimulierte mexikanische Philosophen, sich mit Fragen der praktischen Ver­ nunft auseinanderzusetzen. Dieser Aspekt blieb dann auch als grundlegende Orien­ tierung bis zur gegenwärtigen mexikanischen Philosophie erhalten, wie sie z. B. von Leopoldo Zea u. a. repräsentiert wird.« Heinz Krumpel (2011), S. 213. 281

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39. Der Streit Gaos’ mit seinen Schülern um die Phänomenologie Husserls

fanden. Trotzdem konnten sie sich weder mit Gaos’ Konzeption der Philosophie noch mit seinem Bild der Geschichte des spanischen und mexikanischen Denkens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun­ derts anfreunden. Text 19 »Bekenntnisse aus dem Berufsleben« (1958) ist zwar eine aufschlussreiche Darstellung der Geistesgeschichte in Spanien und Mexiko, jedoch wurde sie von einem skeptischen Standpunkt der Philosophie der Philosophie aus formuliert. Gaos ruft hier die Namen von Ortega y Gasset, García Morente und Zubiri als Beispiele für den Auf- und Untergang der wichtigsten philosophischen Lehren auf, die in Spanien Niederschlag gefunden hatten: Auf die Begeiste­ rung für die Phänomenologie Husserls folgte eine weitere für die realistischen Phänomenologien Schelers und Hartmanns, bis dann die Fundamentalontologie Heideggers und der Existenzialismus die Bühne betraten. Für Gaos war die Frage unausweichlich: Was ist das für eine Philosophie, bei der niemand weiß, wonach er sich vom einen zum anderen Tag richten soll? Um diese Frage zu beantworten, bedürfe es einer Theorie der Philosophie, die prinzipiell für keine einzelne philosophische Lehre einsteht. Gaos schärfte dieses skeptische Bild der Philosophie und Philo­ sophiegeschichte seit 1939 seinen mexikanischen Schülern unerbitt­ lich ein.283 In den »Bekenntnissen aus dem Berufsleben« berichtet Gaos sogar von der Koexistenz und Sukzession dreier Generationen seiner mexikanischen Schüler: den Historikern, den Mitgliedern der Gruppe El Hiperión und den Hegelianern. Es handelte sich dabei erstens um die Schüler Gaos’ an der UNAM, die sich mit der Ideen­ geschichte in Mexiko befassten, zweitens um die Begründer einer Forschungsgruppe, die auf eine Philosophie des Wesens des Mexika­ ners bzw. des Mexikanischen als solchen abzielten, und drittens um

283 Fernando Salmerón (1925–1977), einer der letzten Schüler von Gaos und Autor einer zweibändigen Monographie über seine Philosophie, hat diesen damaligen Ein­ druck beschrieben: »Der Grund des relativ geringen Einflusses der Philosophie Gaos’ auf seine Schüler lag weniger in seinem schweren, oft barocken Schreibstil als in der Wucht seines Skeptizismus, seinem extremen Historizismus und seiner von ihm betonten Überzeugung, dass die Grundwahrheiten der Metaphysik nur einen per­ sönlichen und sogar unvermittelbaren Wert hätten.« Fernando Salmerón (2006): Obras 2. Segunda parte. Gaos y la filosofía iberoamericana. Mit einem Vorwort von Fernando I. Salmerón Castro. Mexiko: El Colegio Nacional, S. 385–386.

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die Teilnehmer an einem Kurs von Gaos zur Logik Hegels.284 Gaos äußerte frank und frei seine Vorbehalte gegenüber den Begründern des Hiperión und verglich sie eher abwertend mit den Hegelianern. Im Grunde ging es darum, zu demonstrieren, dass die Arbeit seiner Schüler genau jener Geschichtlichkeit unterlag, die er in seiner eige­ nen Philosophie der Philosophie darlegte. Diese angespannte Situation hatte einen Grund: Die Dissidenz der Schüler von Gaos hatte bereits neun Jahre vor Gaos’ Lesung seiner »Bekenntnisse aus dem Berufsleben« an der Autonomen Universität von Nuevo León in Mexiko ihren Ursprung.285 Emilio Uranga (1921– 1988), den Gaos als primus inter pares bei seinen Schülern bezeich­ nete, erhob seine kritische Stimme als Erster. Er deutete zunächst Ortegas Konzeption der philosophischen Rettung der »Umstände« als eine Wiederaufnahme von traditionellen philosophischen Fragen um. Im Gegensatz zu der kritischen Meinung Gaos’ bezüglich des französischen Existenzialismus begrüßte Uranga ihn als eine aktuelle philosophische Strömung, die der mexikanischen Philosophie einen Ansatzpunkt bot. Nach einem Forschungsaufenthalt im Jahre 1956 in Freiburg, wo er Martin Heidegger und Eugen Fink kennenlernte, hatte Uranga an einem Seminar von Gaos teilgenommen, in welchem man über die Frage der »Berufung zur Philosophie« (vocación filosófica) diskutierte. In seiner Hausarbeit zum Seminar wies Uranga darauf hin, dass Husserl in einem Moment seines Lebens stark daran gezweifelt habe, ob er eine phänomenologische Kritik der Vernunft vollbringen könne oder nicht. Nach Uranga handelte sich dabei weniger um die Äußerung einer persönlichen oder autobiographischen Krise als

Siehe hierzu das Nachwort von Guillermo Hurtado zu José Gaos, Ricardo Guerra, Alejandro Rossi, Emilio Uranga et Luis Villoro (2012): Filosofía y vocación. Seminario de filosofía moderna de José Gaos. Hg. von Aurelia Valero. Mexiko: Fondo de Cultura Económica (Kindle Edition). 285 Fernando Salmerón erläutert den Sinn eines Bekenntnisses dazu, philosophisch berufen zu sein, bei Gaos wie folgt: »In diesem Fall [der Bekenntnisse] hat der Rekurs auf eine ungewöhnliche literarische Gattung zwei Gründe. Der bloß formale Grund liegt in der Tatsache, die zugleich eine Geste der intellektuellen Bescheidenheit und Ironie ist, dass sich der Verfasser weniger als Philosoph denn als Professor der Phi­ losophie vorstellt. Der tiefste Grund ist der Gedanke, den Gaos seinem Meister Ortega verdankt, dass es nämlich unmöglich sei, das philosophische Werk vom eigenen Leben zu trennen. Daher rührt die Schwierigkeit, das eine ohne das andere darzustellen.« Salmerón (2008): S. 388. 284

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um eine philosophische Krise im strengen Sinne des Wortes.286 Der philosophische Wert eines solchen persönlichen Bekenntnisses liege nicht in dem Bekenntnis selbst, sondern in den Gedanken, die Husserl durch dieses vermitteln wollte, so Uranga weiter.287 Die Kritik an Gaos’ Philosophie der Philosophie ließ sich auch in der Hausarbeit von Luis Villoro (1922–2014), einem der bedeutends­ ten mexikanischen Philosophen des 20. Jahrhunderts und Schüler Gaos’, wiederfinden. Er stellte sich dieser Philosophie der Philosophie stillschweigend aus einer phänomenologischen Perspektive entgegen. Villoro sah in dem Versuch, die Philosophie durch persönliche, zum mundanen und vorphilosophischen Bereich gehörige Motive zu erklären, einen Widerspruch, da sie eben mit der Infragestellung der natürlichen, weltlichen Einstellung einsetze.288 1959 veranstaltete Gaos an der UNAM eine Tagung zur Hundert­ jahrfeier der Geburt Edmund Husserls, deren Ziel darin bestand, den 1911 in der Zeitschrift Logos erschienenen Aufsatz »Philosophie als strenge Wissenschaft« von Husserl zu diskutieren. Die Beiträge der Schüler von Gaos spiegelten ihre unterschiedlichen philosophischen Interessen wider sowie eine kritische Stellungnahme zum philosophi­ schen Denken seines Lehrmeisters: So wirft Ricardo Guerra (1927– 2007), der später als einer der wichtigsten Heidegger-Forscher in Mexiko galt, die Frage auf, ob »[…] die methodologische Revolution der Phänomenologie nicht letztlich auf der Naivität der Geschichtslo­ sigkeit beruhe«289. Alejandro Rossi charakterisiert »Philosophie als strenge Wissenschaft« als ein philosophisches Manifest gegen den Naturalismus und die Konzeption der Philosophie als Weltanschau­ ung. Dem Aufsatz Husserls sei es als Verdienst anzurechnen, so Rossi, »die Unfähigkeit der Philosophie, sich als eine Wissenschaft zu etablieren, auf eine falsche und irrtümliche menschliche Haltung zurückgeführt zu haben«.290 Gemeint war das Interesse des Philoso­ phen an seinen geistigen Bedürfnissen und seiner individuellen Ret­ Ebd., Kapitel IV. Ebd. Siehe auch: Emilio Uranga (2016): Algo más sobre José Gaos. Hg. von Adolfo Castañón. Mexiko: El Colegio de México. Kapitel 10 (Kindle-Edition). 288 Gaos et al (2012): Filosofía y vocación, Kapitel V. 289 Ricardo Guerra (1961): »La historia y la filosofía como ciencia rigurosa«, in: Anuario de Filosofía I, S. 156. 290 https://www.revistadelauniversidad.mx/download/a2abc506-c196-4236a06f-56698d70d53a?filename=la-tentacion-del-filosofo (letzter Zugriff: 19.03.2022). 286

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tung, welches jeder Philosophie als Weltanschauung zugrunde liege. Die Haltung einer genuin wissenschaftlichen Philosophie bestehe dagegen darin, sie als eine unpersönliche und kollektive Aufgabe auszuführen, wie es die Wissenschaftler tun.291 In seinem Beitrag »Ciencia radical y sabiduría« (»Strenge Wis­ senschaft und Weisheit«) versucht Luis Villoro, die kategorische Tren­ nung zwischen der wissenschaftlichen Philosophie und der Weisheit (sabiduría) bei Husserl zu relativieren. Für Villoro lautet die entschei­ dende Frage, ob »[…] die Philosophie zu einer Wissenschaft werden kann, ohne aufzuhören, Philosophie zu sein«292. Bei Husserl sei die Antwort bejahend, sofern die Philosophie als die einzige radikale Wissenschaft verstanden werde. Diese soll in einer Erkenntnis der Ursprünge (saber de los orígenes) der anderen Wissenschaften beste­ hen. Dazu stelle die Phänomenologie eine Theorie der Prädikation, der vorprädikativen Verifikation der wissenschaftlichen Sätze und ihrer Idealität bzw. Allgemeingültigkeit auf. Eine solche Theorie setzt Villoro zufolge aber dennoch die unmittelbare Erkenntnis der Sphäre des Gegebenen voraus, also eine Erkenntnis der Welt, wie sie sich dem Menschen, der individuellen Person darbiete. Daraus erweise sich, dass die unmittelbare und persönliche Erkenntnis der Lebenswelt (die man Weisheit nennen darf) eine Vorbedingung sogar für die Phänomenologie als strenge, eidetisch-transzendentale Wissenschaft sei. Die Philosophie könne und dürfe nicht auf ihren traditionellen Weisheitscharakter verzichten. Trotzdem könne sie die Gestalt einer

Ebd. Villoros Vortrag erschien später in seinen Husserl-Studien. Luis Villoro (1975): Estudios sobre Husserl. Mexiko: UNAM, S. 137–149. Antonio Zirión schreibt über dieses Werk: »Die durchdachte Aufnahme der Phänomenologie erreicht ihre Reife erst mit den Studien von Luis Villoro.« Zirión (2009): S. 108. Er fügt hinzu: »Villoro war zweifellos durch die Lehren von Gaos zur Phänomenologie gekommen, aber er hat sich zu keinem Zeitpunkt in den Schematismus von Gaos’ Verständnis der Phänome­ nologie verstrickt. Vielmehr erweiterte er seine Lektüre von Husserls Werken […], so dass sein Begriff der Phänomenologie notwendig reifer und informierter war als der von Gaos«. Ebd., S. 109. Während dies bis zu einem gewissen Punkt zutrifft (vor allem in Bezug auf den gegenwärtigen Stand der Husserl-Forschung), sollte man jedoch beachten, dass »Gaos’ Schematismus« eher seine Philosophie der Philosophie war. Es gibt sicher eine Reihe von Problemen hinsichtlich der Richtigkeit oder Unrichtigkeit von Gaos’ Interpretation des Husserl’schen Werkes. Aber ein weiterer Aspekt betrifft die präzise Bedeutung, die die Philosophie von Gaos dieser Interpretation verleiht. Die Frage ist also, ob sich die beiden Problemkonstellationen tatsächlich voneinander trennen lassen. 291

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39. Der Streit Gaos’ mit seinen Schülern um die Phänomenologie Husserls

wissenschaftlichen Philosophie annehmen, sofern sie auf der Weis­ heit als unmittelbarer Erkenntnis der gegebenen Lebenswelt beruhe. Vor allem der Ansatz Villoros löste eine weitere Diskussion mit Gaos über die Phänomenologie aus. In Text 20 »Notizen zu Husserl« (1961) bestreitet Gaos entschieden die Möglichkeit, dass die Phäno­ menologie bzw. die phänomenologische Philosophie dieselbe überin­ dividuelle Objektivität beanspruchen dürfe wie die Wissenschaften – dass sich also die philosophische Weisheit und eine wissenschaftliche Philosophie vereinbaren ließen, wie Villoro meinte. Gaos argumentiert, dass die Philosophie im Verlauf der Geschichte immer die Gestalt einer persönlichen Erkenntnis ange­ nommen habe, die Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebe. Darin liege auch der Widersinn der Idee der Phänomenologie als stren­ ger Wissenschaft. Um eine Wissenschaft zu werden, müsse sie auf ihren universellen Anspruch verzichten und sich mit der objektiven Erkenntnis eines partiellen Bereiches begnügen. Husserl habe, so Gaos, versucht, sich dieser Schlussfolgerung zu entziehen, indem er eine Erkenntnis der Fundamente jeder Wissenschaft innerhalb einer individuellen Lebensgeschichte für möglich hielt. Die Geschichte Husserls und die ganze Philosophiegeschichte zeigten allerdings, dass sich keine der großen Philosophien der ersten Prinzipien als eine allgemeingültige Wissenschaft etablieren konnte. In dieser Hin­ sicht betrachtete Gaos die Phänomenologie lediglich als eine Philoso­ phie mehr. Die Frage laute nun, warum dies so sei. Die Phänomenologie stelle sich als eine Wissenschaft der Wesen und des reinen Bewusst­ seins dar, sofern sie die Fundamente aller sonstigen Wissenschaft bilde. Gleichwohl hielt Gaos ein solches Konzept für höchst unwis­ senschaftlich, wie es die kurvenreiche Entwicklung der traditionellen Philosophie der ersten Prinzipien sowie der neuzeitlichen Bewusst­ seinsphilosophie belege. Um zu einer Wissenschaft zu werden, müsse eine Philosophie vom Faktum der Wissenschaft bzw. der verschie­ denen Wissenschaften ausgehen, um deren objektive Fundamente freizulegen, so Gaos. Husserl aber ging, im Gegensatz zu Kant, nicht von den Sätzen der vorgegebenen Wissenschaften aus, sondern vom Postulat des reinen Bewusstseins und dessen Wesenheiten. Anstatt eine die Wissenschaften fundierende Philosophie zu sein, ist die Phänomenologie, eine angebliche Philosophie der Prinzipien aller Dinge, so Gaos abschließend, lediglich eine weitere metaphysi­ sche Philosophie.

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Die Rezeption der Phänomenologie bei den Exilautoren

1963 fand an der philosophischen Fakultät der UNAM ein von Gaos veranstaltetes Symposium zum Begriff der Lebenswelt statt, wie Husserl ihn in der Krisis der europäischen Wissenschaften entfaltet. Ludwig Landgrebe, Enzo Paci und John Wild hielten die Gastvorträge, die, einschließlich des Vortrages von Gaos, von Villoro protokolliert wurden.293 Diese Veranstaltung markierte die letzte Phase der frühen Rezeption der Phänomenologie in Mexiko, bevor dann die Schüler von Gaos, allen voran Fernando Salmerón und Alejandro Rossi, in den 1970er Jahren eine Wende zur analytischen Philosophie vollzogen.294 Gaos hatte indessen sein letztes Wort zur Phänomenologie Husserls gesprochen. Der Versuch Villoros, die Phänomenologie der Lebens­ welt anders als José Gaos zu interpretieren, nennt ferner den Grund, weshalb er sich vom philosophischen Ansatz Gaos’ zu lösen begann. Auf dem Symposium beschäftigte man sich mit der Frage, ob die Husserl’sche Phänomenologie ihr Ziel, die Lebenswelt als Korrelat einer transzendentalen Subjektivität darzustellen, wirklich erreicht habe. Gaos antwortet verneinend auf diese Frage: Die Konstitution José Gaos, Ludwig Landgrebe, Enzo Paci et John Wild (1963): Symposium sobre la noción husserliana de la Lebenswelt. Mexiko: UNAM. Die Texte von Gaos wurden im Band X der Obras completas gesammelt. José Gaos (1999a): Obras completas X – De Husserl, Heidegger y Ortega. Hg. von Antonio Zirión Quijano. Mit einem Vorwort von Laura Mues de Schrenk. Mexiko: UNAM, S. 51–78 und 387–403. Aurelia Valero schildert in ihrer Gaos-Biographie die Einzelheiten und den philosophischen Kontext dieses Symposiums an der mexikanischen Universität. Aurelia Valero (2015): José Gaos en México: una biografía intelectual. 1938–1969. Mexiko: El Colegio de México. Kindle Version Kapitel 10 »El silencio de los libros«. 294 Das philosophische Exil bedeutete praktisch das Ende der frühen Rezeption der Phänomenologie in Spanien. Ihre letzten Bastionen in der Franco-Zeit waren die realistische Philosophie Zubiris und eine neuthomistische Rezeption im Werk von Leopoldo Eulogio Palacios (1912–1981) und vor allem im Werk von Antonio Millán Puelles (1925–2005). Erwähnenswert ist auch die Aufnahme der Husserl’schen Phänomenologie bei Sergio Rábade Romeo (1925–2018), der ebenfalls ein großes Interesse an der modernen Philosophie von Descartes bis Kant zeigte. Die Lektüre der Logischen Untersuchungen spielte allerdings eine Rolle in der frühen Gestaltung des philosophischen Materialismus von Gustavo Bueno (1924–2016). Die Phänome­ nologie Husserls hatte ferner Einfluss auf das Denken eines der originellsten Schüler von Bueno, nämlich Ricardo Sánchez Ortiz de Urbina. Antonio Zirión hat jüngst eine prägnante, aber zugleich reichhaltige Darstellung der Entwicklung der Rezeption der Phänomenologie in Mexiko (wie auch in Spanien und Lateinamerika) von der Frühphase bis zur Gegenwart vorgelegt. Siehe Antonio Zirión (2021): »Historia de la recepción del pensamiento de Husserl en el mundo hispánico«, in: Guía Comares de Husserl. Hg. von Agustín Serrano de Haro. Albolote (Granada): Editorial Comares. Kindle Edition. Vierter Teil, Kapitel 3. 293

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39. Der Streit Gaos’ mit seinen Schülern um die Phänomenologie Husserls

der Gegenstände und der empirischen Bewusstseinserscheinungen bedürfe keiner Objektivierung einer transzendentalen Subjektivität durch epoché und phänomenologische Reduktion (siehe Text 21 »Hus­ serls Lebenswelt [1963]«). Wie Ortega y Gasset ging er davon aus, dass die primäre Realität des Bewusstseins bzw. des Lebens keiner Vermittlung durch die Reflexion bedürfe. Dennoch hat das ursprüngliche Verhältnis zwischen dem Subjekt und der Welt der neuzeitlichen Philosophie immer ein Rätsel aufgege­ ben. Denn das Subjekt ist die Instanz, durch welche die Gegenstände und die Welt zur Erkenntnis kommen. Jedoch ist es ein Teil der Welt, ein Gegenstand unter anderen Gegenständen. Husserls Lösung bestand darin, das reale Individuum vom transzendentalen Subjekt zu unterscheiden. Gaos fragte sich nun, ob eine solche Lösung nicht eine sinnlose Wiederholung der Problemstellung bedeute. Für ihn zeigte die Phänomenologie letztlich auch, dass es keine Antwort auf diese Frage gibt, da ihr eine unlösbare Antinomie zugrunde liegt. Nach Gaos gibt es keinen Ausweg aus der Alternative Realismus/Idealismus. Man entscheidet sich für die eine oder die andere Richtung aus persönlichen, letztlich »irrationalen« Gründen. Husserl hatte sich für den transzendentalen Idealismus entschie­ den. Daher fasste er die Lebenswelt als ein abstraktes Objekt auf, welches aus den in der transzendentalen Subjektivität gegebenen Wesen hervorgehe. Die Frage sei nun, so Gaos weiter, ob man das Konkrete anders als durch das Zusammenspiel von eidetischer und transzendentaler Reduktion objektivieren könne. Vom Standpunkt der Philosophie der Philosophie aus erwies sich die Autobiographie oder die Rede in der ersten Person als die einzige Art und Weise, eine individuelle Lebensgeschichte und ihre einzigartige, unverwech­ selbare Perspektive von der Welt zu objektivieren. Sie stütze sich auf keine Methode der Regression auf das reine Bewusstsein, sondern auf eine »progressive phänomenologische Analyse«, wodurch die Perspektiven der individuellen Subjekte und ihre historischen Welt­ begriffe entfaltet würden. Villoros Bemerkungen zum Vortrag von Gaos waren ein Indiz für ihre Meinungsverschiedenheiten bezüglich der Interpretation der Phänomenologie sowie ihrer Konzeption der Philosophie und ihrer Aufgaben.295 Villoro wies Gaos zunächst darauf hin, dass die epoché nicht nur in einer Reduktion des zweifelhaften Charakters der 295

Siehe Gaos (1999a): S. 387–388.

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Die Rezeption der Phänomenologie bei den Exilautoren

Welt zur unzweifelhaften transzendentalen Subjektivität bestehe. Die epoché als Kritik des objektiven Weltbegriffes habe einen weiteren Sinn: Sie führe zur Lebenswelt als dem Urboden jeder Gewissheit, wobei sich das Subjekt als eine apriorische Struktur der Lebenswelt erweise.296 Erst dank dieser Art epoché erscheint das Subjekt in Verbindung mit seiner Tätigkeit in der Welt. Es gehe hierbei um kein entweltlichtes Subjekt, sondern um ein operierendes Subjekt, das eine »Praxis« ausübe und eine historische Existenz in der Welt habe. Was Villoro vor allem interessierte, war die apriorische Korrela­ tion zwischen der Lebenswelt und der historischen Gemeinschaft. Gaos gegenüber insistierte Villoro darauf, dass die phänomenologi­ sche epoché nicht zuallererst in eine Bewährung der Apodiktizität durch Reflexion auf die transzendentale Subjektivität mündete. Denn sie bestehe nicht nur in einer Erklärung der Weltgegenstände durch ihre transzendental-subjektiven Vorbedingungen, sondern auch in einer Freilegung der apriorischen Struktur der Lebenswelt und ihrer Korrelation zur Intersubjektivität. Die lebensweltliche Phänomenolo­ gie ermögliche dadurch allererst die Thematisierung einer geschicht­ lichen Praxis.297 Dennoch konzedierte Gaos Villoro nicht einmal diese Interpre­ tation der Phänomenologie. Nach ihm ließ sich die Idee eines aprio­ rischen Verhältnisses zwischen der geschichtlichen Intersubjektivität und der Welt nur schwer mit dem phänomenologischen Begriff des transzendentalen Ego vereinbaren. Die Idee der Konstitution der historischen Lebenswelt durch eine transzendentale Subjektivität sei im Grunde aporetisch: Entweder schließe die Konstitution der »Ich glaube, dass Husserl in der Krisis einen anderen Weg zur Phänomenologie einschlägt, welcher auch der epoché einen anderen Sinn verleiht. Die Kritik der objektiven Welt führt zur Lebenswelt als einem Urboden, auf dem jegliche Wahrheit und Quelle der Gewissheit beruht. Es stellt sich somit die Frage nach der Struktur a priori dieser ›Grundlage‹.« Ebd. 297 »Die epoché erfüllt eine andere Funktion: Indem sie nach den,Gegebenheitsmodi‘ der Welt fragt, erreicht sie eine andere Sphäre des Lebens, nämlich die Korrelation a priori zwischen der geschichtlichen Gemeinschaft und der Welt als Feld des Handelns. In diesem Fall würde die Funktion der epoché nicht nur darin bestehen, die Apodikti­ zität zu garantieren, sondern auch die Möglichkeit einer anderen Art von Erklärung als die bloße Reflexion über die Subjektivität eröffnen. Streng genommen geht es nicht mehr darum, die Weltgegenstände aus ihren subjektiven Möglichkeitsbedingungen zu erklären, sondern darum, die Totalität der Lebenswelt durch die apriorische Struktur des Verhältnisses von Intersubjektivität und Welt zu erklären. Erweist sich dieses Verhältnis nicht als eine geschichtliche Praxis?« Ebd. 296

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39. Der Streit Gaos’ mit seinen Schülern um die Phänomenologie Husserls

Lebenswelt durch die transzendentale Subjektivität die Konstitution der Geschichtlichkeit mit ein oder sie seien ein und dasselbe. Die Phänomenologie jedoch gerate in einen Teufelskreis, weil sie diese Konstitution als Idealisierung der Geschichte verstehe. Es nutze wenig, so Gaos weiter, die transzendentale Subjektivität zugleich als geschichtliche Subjektivität zu begreifen. Denn die Geschichtlichkeit werde durch keine idealen Möglichkeiten konstituiert, sondern durch reale Möglichkeiten, die sich im Laufe der Geschichte verwirklichten. Gaos bestand auf seiner Kritik des transzendentalen Idealismus, ohne einzuräumen, dass die Krisis-Schrift Husserls die Phänomeno­ logie diesbezüglich in ein neues Licht rückte. In dieser Hinsicht war die Interpretation Villoros fundierter.298 Sie wies auf phänome­ nologische Problemkonstellationen hin, die Gaos gar nicht berück­ sichtigt hatte. Dennoch muss man auch sagen, dass Gaos – aus der Perspektive seiner Philosophie der Philosophie, für die er eine phänomenologische Methode heranzog – wesentliche Fragen an die Phänomenologie stellte. Deren Beantwortung liegt noch immer im Interesse der gegenwärtigen phänomenologischen Forschung. Sie betreffen die Möglichkeit einer phänomenologischen Anthropologie, einer Phänomenologie der Philosophie299 und der Geschichtlichkeit der Weltbegriffe. Gaos hatte all diese Themen in seinen Kursen De la filosofía (1960), Del hombre (1965) und Historia de nuestra idea del mundo (1967)300 angeschnitten, die er bis zwei Jahre vor seinem frühen Tod im Alter von nur 69 Jahren veranstaltete. Ihre 298 Javier San Martín hat die Diskussionen, die während des Lebenswelt-Symposi­ ums stattfanden, aus einer Husserl’schen Perspektive ausführlich kommentiert. San Martín (2015): S. 45–59. 299 Für Gaos wird die Frage »Was ist Philosophie?« erst dann beantwortet, wenn man die subjektiven Motive für eine Erkenntnis der Realität phänomenologisch unter­ sucht. Gaos ordnet einer Phänomenologie des Ausdrucks grundsätzlich die Aufgabe zu, die persönlichen und biographischen Motive für das philosophische Fragen zu beschreiben. Gaos’ Projekt einer Phänomenologie der Philosophiegeschichte könnte für die gegenwärtigen Überlegungen zur Geschichtsschreibung der Philosophie von Interesse sein, wie die in: Gerald Hartung et al (2017): From Hegel to Windelband. Historiography of Philosophy in the 19th Century. Hg. von Gerald Hartung und Valentin Pluder. Berlin/Boston: De Gruyter. 300 José Gaos (1982a): Obras completas XII – De la filosofía. Hg. Von Fernando Salmerón. Mit einem Vorwort von Luis Villoro. Mexiko: UNAM; ders. (1992): Obras completas XIII – Del hombre. Curso de 1965. Hg. und mit einem Vorwort versehen von Fernando Salmerón. Mexiko: UNAM; ders. (1994): Obras completas XIV – Historia de nuestra idea del mundo. Hg. Von Fernando Salmerón. Mit einem Vorwort von Andrés Lira. Mexiko: UNAM.

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Die Rezeption der Phänomenologie bei den Exilautoren

Interpretation aus einer phänomenologischen Perspektive stellt nach wie vor ein Desiderat der Forschung dar.301

Das neue Buch von Antonio Zirión ist ein erster Versuch in diese Richtung: Antonio Zirión (2021): El sentido de la filosofía. Estudios sobre José Gaos. Mexiko: Instituto de Investigaciones Filosóficas/UNAM.

301

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Die Phänomenologie und das Vorhaben einer lateinamerikanischen Philosophie

40. El Hiperión: Das Projekt einer Philosophie des Mexikanischen Im Jahre 1948 begründeten Schüler von José Gaos die Gruppe »El Hiperión«.302 Ihr philosophisches Programm bestand im Auf­ bau einer mexikanischen Philosophie durch eine Besinnung auf das Wesen des Mexikaners und des Mexikanischen. Um dieses Programm zu entfalten, stützte sich das Hiperión auf eine phäno­ menologisch-eidetische Methode und berücksichtigte zugleich die Ergebnisse der Existenzialanalytik Heideggers sowie des französi­ schen Existenzialismus. Sie beriefen sich des Weiteren auf Gaos und Samuel Ramos als Vorgänger der Idee einer Philosophie der mexikanischen »Umstände«. Samuel Ramos hatte bereits in den 1920er Jahren die historische Vernunft und den Perspektivismus Ortega y Gassets als Ausgangs­ punkt für eine mexikanische Philosophie gewählt. Er fand in El tema de nuestro tiempo und den Meditaciones del Quijote von Ortega y Gas­ set die erkenntnistheoretische Rechtfertigung einer nationalen Philo­ sophie.303 1932 erschien die Schrift El perfil del hombre y la cultura en México (1934),304 welche er als einen Essay zur Charakterologie des Mexikaners und zur Kulturphilosophie bezeichnete.305 Mit diesem Werk etablierte sich Ramos als der einflussreichste Philosoph der neuen Generation, wobei sein Buch heftige Kontroversen auslöste. Sie 302 Die Gründungsmitglieder des Hiperión waren Ricardo Guerra (1927–2007), Jorge Portilla (1918–1963), Joaquín Sánchez McGregor (1925–2007), Salvador Reyes Nevares (1922–1993), Emilio Uranga (1921–1988), Fausto Vega (1922–2015), Luis Villoro (1922–2014) und Leopoldo Zea (1912–2004). 303 Ramos (2011): S. 156–157. 304 Samuel Ramos (1934): El perfil del hombre y la cultura en México. Mexico: Editorial Pedro Robredo. 305 Ramos (2008): S. 115.

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Die Phänomenologie und das Vorhaben einer lateinamerikanischen Philosophie

betrafen vor allem die These Ramos’, der Mexikaner habe im Verlauf der Geschichte unter einem Minderwertigkeitskomplex gelitten, den er auf verschiedene Weise zu kompensieren versuchte.306 Für Ramos war die Psychoanalyse der mexikanischen Seele jedoch nur die Schwelle zu einer philosophischen Neubetrachtung der Geschichte Mexikos und des mexikanischen Menschen als mögliches Subjekt einer eigenen Kultur.307 Er wies zunächst auf die historische Tatsache hin, dass Mexiko nach dem Unabhängigkeitskrieg (1810– 1821) begonnen habe, die Ideen und Institutionen Europas zu imi­ tieren. Daraus erwuchsen kollektive Fiktionen, die dem Konflikt zwi­ schen dem Streben nach Identität und der bloßen Nachahmung eine falsche Lösung vorgaukelten. Um Spanien kulturell zu retten, setzte Ortega y Gasset auf eine Europäisierung des Landes. Ramos meinte, dass diese im Falle Mexikos ein Fehlversuch gewesen sei, und schlug einen anderen Weg vor. Erst aus der Betrachtung des Mexikaners als eines historisch-konkreten Wesens gingen seine Möglichkeiten zur Hervorbringung einer eigenen, ursprünglichen Kultur hervor. 1940 erschien Ramos’ Werk Hacia un nuevo humanismo,308 in dem er eine Anthropologie skizziert, welche die Basis für eine nicht imitative mexikanische Kultur schaffen und einen Beitrag zu einer universellen Kultur leisten sollte. In El perfil del hombre y la cultura en México hatte Ramos seine methodologische Herangehensweise als eine Charakterologie des Mexikaners umrissen. In Hacia un nuevo humanismo nun spielte die Phänomenologie eine wichtigere Rolle als die psychoanalytischen Beschreibungen. Nach Ramos bietet die Phänomenologie sowohl die eidetische Methode als auch anschauliche Evidenzen, wodurch die historische Vernunft revitalisiert und neue Erkenntnisbereiche

306 Ramos verficht diese These vor allem im Kapitel »Psicoanálisis del mexicano« von El perfil del hombre y la cultura en México (Samuel Ramos [2008]: S. 153–166). 307 Ramos (2008): S. 120. Er beschreibt das Minderwertigkeitsgefühl des Mexika­ ners nicht als Ausdruck für irgendeine individuelle organische oder psychische Stö­ rung, sondern als »kollektive Illusion«, die in der nationalen Geschichte wurzle: »Das Minderwertigkeitsgefühl unserer Rasse hat m. E. einen historischen Ursprung, der auf die Conquista und die Kolonisierung zurückgeht. Es trat erst nach dem Unabhän­ gigkeitskrieg zutage, als das Land nach einer nationalen Physiognomie aus eigener Kraft suchte.« Laut Ramos bestand die Illusion darin, dass der Mexikaner die Nach­ ahmung einer Kultur unbewusst mit ihrer Verwirklichung verwechselt habe. Ebd. 308 Samuel Ramos (1940): Hacia un nuevo humanismo. Mexiko: La Casa de España.

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40. El Hiperión: Das Projekt einer Philosophie des Mexikanischen

entdeckt werden.309 Vor allem aber könne sie dazu verhelfen, das apriorische Wesen des Menschen zu definieren. Die Phänomenologie allein reiche jedoch nicht aus, so Ramos weiter. Denn »[…] sobald das apriorische Wesen des Menschen bestimmt wird, muss man die erwünschte Wissenschaft [die philosophische Anthropologie] etablieren und sich mit der empirischen Wirklichkeit des Menschen sowie mit den damit verbundenen Lehren auseinandersetzen«.310 Mit diesem Ansatz lieferte Ramos den Mitgliedern des Hiperión ein philosophisch-anthropologisches Programm. Andererseits rechneten sie es José Gaos an, die Philosophiege­ schichte als eine individuelle und kollektive Erfahrung beschrieben zu haben, die zu einer Besinnung auf die eigene Kultur und Geschichte aufrief. In dem 1970 verfassten Vorwort zu seinem Aufsatz »Con­ ciencia y posibilidad del mexicano« (1952) erinnert Leopoldo Zea, ein Gründungsmitglied des Hiperión, an diese Einflüsse und betont zugleich den originellen Ansatz der Gruppe.311 Deren Suche nach kultureller Identität ließ sich mit jener der spanischen Generation von 1898 vergleichen, wie bereits Gaos in seiner Rezension (1940) zu El perfil del hombre y la cultura en México feststellt.312 Zea bemerkt sei­ nerseits, dass die mexikanische Revolution und der Verlust der letzten Kolonien in Spanien eine Krise auslösten, die eine philosophische Reflexion über die nationale Identität nach sich zog. Ihr Ausgangs­ punkt war jedoch nicht mehr die Definition eines allgemeinen Wesens des Menschen. Denn während die abendländische Philosophie stets Es ist allerdings eine Tatsache, dass Ramos die Begeisterung Casos und anderer hispanoamerikanischer Autoren für die Phänomenologie nicht teilte. Auf die Frage nach dem Einfluss der Phänomenologie in Amerika antwortete er: »Der Einfluss der Phänomenologie auf das philosophische Denken in Amerika ist unbestreitbar. Ich glaube jedoch, dass dieser Einfluss übertrieben wurde, bis hin zu dem Wunsch, ihn zu einem zentralen Thema unserer Philosophie zu machen.« Ramos (2011): S. 576. Antonio Zirión weist zudem auf die Grenzen von Ramos’ Rezeption der Phänome­ nologie hin: Zirión (2009): S. 42–43. 310 Samuel Ramos (2008): S. 409–411. 311 Siehe Leopoldo Zea (2001): Conciencia y posibilidad del mexicano. El Occidente y la conciencia de México. Mexiko: Editorial Porrúa. 312 »Die Kultur unseres Heimatlandes bot uns Spaniern ein Schauspiel der Minder­ wertigkeit gegenüber der westeuropäischen Kultur, das ähnliche herabwürdigende und kompensatorische Reaktionen hervorrief wie jene, die Ramos aufzeigt. Es förderte aber auch Bewegungen der Flucht in Richtung einer universellen Kultur und Bemü­ hungen um das nationale Umfeld wie die der mexikanischen Intellektuellen an. In Spanien gab es zum Beispiel die Generation von 98 sowie das literarische, pädagogi­ sche und politische Werk von Ortega.« José Gaos (1990): S. 150. 309

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Die Phänomenologie und das Vorhaben einer lateinamerikanischen Philosophie

über einen Begriff des Menschen verfügte, musste der mexikanische Mensch, genauso wie der lateinamerikanische und der afrikanische, jahrhundertelang um die Anerkennung seiner Zugehörigkeit zur Menschheit kämpfen. Sie wurden dazu gezwungen, eigens nach ihrer Identität zu fragen; keine Anthropologie, die vom abstrakten Wesen des Menschen ausgeht, konnte ihnen eine Antwort geben. Der lateinamerikanische Mensch musste sich als Schöpfer einer eigenen Geschichte und Kultur erst wieder entdecken.313 Die Originalität Zeas bestand darin, dass er die Beschreibung der historischen Suche des mexikanischen und lateinamerikanischen Menschen nach Identität auf die Ebene einer philosophischen Refle­ xion und Philosophie der Geschichte hob. Seine Kollegen im Hiperión verfolgten dasselbe Projekt und stützten sich dabei vorzugsweise auf eine eidetischen Methode, um den historischen Typus bzw. das Wesen des Mexikaners zu beschreiben.314 Sie waren zugleich offen für die Axiologie Schelers, die Philosophie Heideggers und den französischen Existenzialismus.315 Luis Villoro z. B. befasste sich seit 313 Es handelt sich dabei um einen Standpunkt, den Zea mit Blick auf die Universal­ geschichte wie auch die Philosophiegeschichte begründete: »Was Mexiko im Beson­ deren und das sogenannte Hispano- oder Lateinamerika betrifft, hat der Westen den menschlichen Charakter seines Volkes eingeklammert oder offen geleugnet. Seit ihrer Begegnung bzw. Entdeckung durch ihre Eroberung als politische und wirtschaftliche Kolonie hat man mit ihrer Menschheit gefeilscht«. Zea (2001): S. 79. Diese Ansicht wurde von den peruanischen Philosophen Francisco Miró-Quesada (1918–2019) und Augusto Salazar Bondy (1925–1974) weitgehend geteilt. Mit Zea gelten sie als Begründer einer lateinamerikanischen Philosophie. Sowohl Miró-Quesada als auch Bondy interessierten sich für die Phänomenologie als Methode und als philosophische Bewegung, die sich für die Entwicklung einer Philosophie der Befreiung eignete. Sie hatte in Mexiko vor allem in den 1970er Jahren ihre Blütezeit. 314 Zea hatte eher ein nachgeordnetes Interesse an der Phänomenologie bzw. betrach­ tete sie vom Standpunkt eines Philosophiehistorikers aus. Siehe Zirión (2009): S. 96. 315 Emilio Uranga scheibt hierzu: »Die gegenwärtige mexikanische Philosophie arbei­ tet vorzugsweise nach der von Edmund Husserl erfundenen phänomenologischen Methode. Grundlegend für diese Methode ist die Suche nach Wesenheiten und damit ihre Anwendung auf die Suche nach dem Wesen des Mexikaners bzw. des Mexikanischen«. Uranga selbst nahm sich beispielsweise vor, in Anlehnung an die existenziale Analytik Heideggers eine »Ontologie des Mexikaners« (Ensayo de una ontología del mexicano, 1949) zu entwickeln. Er versuchte, sie mit einer »Analyse des Wesens des Mexikaners« (Análisis del ser del mexicano, 1952) in Einklang zu bringen. Auf diese Weise wollte er zeigen, dass das Eigentümliche des Mexikaners in einem Gefühl der Mangelhaftigkeit (insuficiencia) bestehe, das er ontologisch als »Akzidentalität« (accidentalidad) beschreibt. Diese auf den ersten Blick abstrakte Formulierung lässt sich durch eine philosophiegeschichtliche Betrachtung erläutern.

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1948 mit dem philosophischen Gesellschaftsbegriff. Er kannte sich mit den Analysen Schelers zum »einsamen Bewusstsein« aus und dem Gedankenexperiment eines Menschen, der hypothetisch nie einen anderen Menschen zu Gesicht bekommen hat. Nach Scheler würde sich ein solcher Mensch dennoch früher oder später einsam fühlen und die intentionalen Akte vermissen, die sich auf andere Menschen beziehen.316 Villoro zeigte auch Interesse am Unterschied zwischen der drit­ ten und der zweiten Person bei Gabriel Marcel. »Er« ist zunächst ein Gegenstand meines Urteils. Ich betrachte den anderen, um Infor­ mationen über ihn einzuholen. Aber ich kann auch eine andere Die abendländische Tradition hat jahrhundertelang Wert nur auf das substanzielle Sein gelegt. Das Akzidentelle wurde dagegen zu einem Schatten des Seins bzw. Quasi-Sein herabgesetzt. Für Uranga ist der Mexikaner im Gegensatz dazu ein »Sein zur Akzidenz«. Gemeint ist damit, dass sich der Mexikaner im Horizont der akziden­ tellen Möglichkeiten halten sollte. Denn das, was ihn als Mensch auszeichne, liege nicht in der Behauptung irgendeiner Substanzialität oder Absolutheit eines Subjektes. Nach Uranga ist jede substanzialistische Auffassung des Menschen unmenschlich. Während Ramos das Minderwertigkeitsgefühl des Mexikaners psychoanalytisch interpretierte, misst Uranga ihm einen ontologischen und positiven Wert bei, und zwar das Bemühen, sich der substanzialistischen, auf das Subjekt zentrierten Auffas­ sung der Wirklichkeit gerade zu entziehen. Emilio Uranga (1990): Obras de Emilio Uranga. Bd. 3. Guanajuato: Gobierno del Estado de Guanajuato. 316 Villoro erläutert diese Gedanken in seinem Vortrag »Soledad y comunión« (»Ein­ samkeit und Gemeinschaft«), den er 1948 an der philosophischen Fakultät der natio­ nalen Universität von Mexiko hielt. Die Passage aus Schelers Wesen und Formen der Sympathie, auf die sich Villoro bezieht, lautet wie folgt: »Nach meinem Formalismus hat die Evidenz und die nur der zufälligen, beobachtenden, induktiven ›Erfahrung‹ gegenüber allerdings auch objektiv und subjektiv apriorische Evidenz des Robinson [Crusoe] von der Existenz irgendeines ›Du‹ überhaupt und seiner Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft eben doch eine bestimmte Anschauungsgrundlage – nämlich das bestimmte und wohlumgrenzte Leer-bewusstsein resp. Nichtdaseinsbewusstsein (im Sinne zufälligen Daseins eines vorgegebenen echten Wesens) für emotionale Akte, wie sie z. B. die Akte in den ›echten‹ Arten der Fremdliebe darstellen; für Strebensakte dürfte man auch sagen: das ›Mangelsbewusstsein, das ›Nichterfüllungsbewusstsein‹, das unser Robinson immer und wesensgesetzlich dann erleben würde, wenn er Geis­ tes- und Gemütsakte vollzieht, die nur mit möglichen sozialen Gegenakten zusammen eine objektive Sinneinheit bilden können. Aus diesen wesensmäßig bestimmten und unverwechselbaren Leerstellen gleichsam des Auftreffens seiner intentionalen Akt­ vollzüge würde ihm also nach unserer Meinung die höchst positive Anschauung und Idee von etwas aufgehen, was als Sphäre des Du da ist- und wovon er nur kein Exem­ plar kennt.« Max Scheler (1973): Wesen und Formen der Sympathie. Die deutsche Phi­ losophie der Gegenwart. Gesammelte Werke Bd. 7. Herausgegeben mit einem Anhang von Manfred. S. Frings. Bern/München: Francke Verlag, S. 229–230.

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Die Phänomenologie und das Vorhaben einer lateinamerikanischen Philosophie

Einstellung ihm gegenüber einnehmen, indem ich mich in ihn hinein­ versetze und zulasse, dass er mich überrascht. Er erscheint dann nicht mehr so, wie ich ihn mir zuvor vorgestellt hatte. Ich führe also keine Selbstgespräche mehr über ihn – denn er ist für mich zum »Du« geworden.317 In Anlehnung an Scheler, der die Akte der Liebe und der Sympathie als Anschauungsgrundlage für die Fremderfahrung nimmt, interessiert sich Villoro für eine phänomenologisch angelegte Philosophie der Andersheit.318 Die Diskussion mit Gaos auf dem Lebenswelt-Symposium von 1963 spiegelt Villoros Absicht wider, eine solche Philosophie der Andersheit auf die Geschichte Mexikos zu beziehen. Seine Estudios sobre Husserl (1975)319, die seine phänomenologische Arbeiten von 1959 bis 1966 enthalten, sowie seine Übersetzung von Formale und transzendentale Logik320 lassen sich als eine Reflexion auf die Mög­ lichkeiten verstehen, welche die Phänomenologie für sein philosophi­ sches Vorhaben bereithielt. In dieser Hinsicht ist sein Aufsatz »Cien­

317 Villoro übersetzte später einen Vortrag von Gabriel Marcel mit dem Titel »Position et approches concrètes au mystère ontologique«, den der französische Philosoph 1933 auf einer Tagung der Marseiller Gesellschaft für Philosophie gehalten hatte und der abgedruckt ist in Gabriel Marcel (1933): Le monde cassé. Paris: Desclée de Brouwer. Vgl. auch Gabriel Marcel (1955): Posición y aproximaciones concretas al misterio ontológico. Übersetzt von und mit einem Vorwort versehen von Luis Villoro. Mexiko: UNAM. Villoros Interesse an der phänomenologischen und existenziellen Begründung einer Philosophie der Gemeinschaft und ihrer Anwendung auf die Situation Mexikos war offensichtlich. Da sich eine historische Kluft zwischen den Urbevölkerungen und der mexikanischen Gesellschaft aufgetan hatte, wollte Villoro zunächst das Problem des Indigenismus angehen. Um den philosophischen Sinn und die pragmatische Ausrichtung des philosophischen Werkes von Villoro besser einordnen zu können, ist es unerlässlich, sich mit den Villoro-Studien von Mario Teodoro Ramírez zu beschäftigen. Mario Teodoro Ramírez (2010): La razón del otro. Estudios sobre el pensamiento de Luis Villoro. México: UNAM; ders. (2011): Humanismo para una nueva época. Con nuevos ensayos sobre Luis Villoro. Mit einem Vorwort von Oliver Kozlarek. México: Siglo XXI. 318 Villoro stellte diese Gedanken erstmals auf der Konferenz »Soledad y comunión« (»Einsamkeit und Gemeinschaft«) vor, die unter seiner Leitung an der Fakultät für Philosophie und Literatur der UNAM stattfand. Guillermo Hurtado hat diesen Text in seine Anthologie El Hiperión (2015): Mexiko: UNAM, S. 113–138, aufgenommen. 319 Siehe Villoro (1975). Antonio Zirión hat die technischen Einzelheiten mehrerer Kapitel dieses Buches prägnant dargelegt. Siehe Zirión (2009): S. 109–114. 320 Edmund Husserl (1962): Lógica formal y trascendental. Ensayo de una crítica de la razón lógica. Mexiko: UNAM. Antonio Zirión hat diese Übersetzung in einigen Punkten überarbeitet und korrigiert (2009: Mexiko: IIF/UNAM).

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40. El Hiperión: Das Projekt einer Philosophie des Mexikanischen

cia radical y sabiduría« (1959) von zentraler Bedeutung.321 Villoro rekapituliert dort einen Gedankengang, der seiner Doktorarbeit Los grandes momentos del Indigenismo en México322 entsprach sowie dem Projekt des Hiperión, die mexikanische Kultur und Geschichte mit eigenen philosophischen Kategorien verstehen zu wollen. Mithilfe der Phänomenologie und des Existenzialismus (sowie des Hegelianismus und des Marxismus) nahm sich Villoro vor, ein Problem anzugehen, das erstmals Ramos in seinem Aufsatz Medita­ ciones mexicanas (1938) aufgeworfen hatte. Im ersten Paragraphen des Abschnittes »El alma indígena« (»Die indianische Seele) gedenkt Ramos der Maya- und Aztekenkultur,323 von der heute nur mehr Ruinen übrig sind. Er fragt sich, ob es einer historischen Interpretation dieser Überreste gelingen könnte, das Denken und die Seele der anti­ ken Bevölkerungen zu rekonstruieren. Die Frage war umso brisanter, als Ramos feststellen musste, dass die Koexistenz einer indianischen und einer mestizischen Welt in der mexikanischen Gesellschaft in Vergessenheit geraten war. Eine solche Vergessenheit schien ihm ein Indiz für einen Dualismus im mexikanischen Bewusstsein zu sein, der aus einem verdrängten Konflikt zwischen einem angeblich »primiti­ ven« und einem »zivilisierten« Impuls der Gemeinschaft resultierte. Das Problem lag darin, dass »[…] die Seele des Indianers mit diesem Konflikt freilich nichts zu tun [hat], aber seine Anwesenheit alleine löst ihn aus«324. Sie verwirrte den Mestizen, da sich nach seiner Es handelt sich dabei um einen Vortrag, den Villoro 1959 in einem Seminar von Gaos hielt. Er nahm ihn später in seine Estudios sobre Husserl auf. Siehe Villoro (1975): S. 137–149. Zur Entstehung und dem philosophischen Inhalt dieses Vortrages siehe Pedro Stepanenko (2015): »Luis Villoro. Ciencia y sabiduría«, in: Revista de la Uni­ versidad de México, Nr. 15 (2015), S. 39–42. 322 Luis Villoro (1959): Los grandes momentos del indigenismo en México. Mexiko: El Colegio de México (2014, zweite Auflage. Mit einem neuen Vorwort von Luis Villoro. Mexiko: Fondo de Cultura Económica). 323 Ramos (2008): S. 361. Der Aufsatz erschien ursprünglich in der Zeitschrift Letras de México. Gaceta literaria y artística, Nr. 19 (1937). Ich referiere ihn hier nach der Paginieriung der Obras completas von Ramos. 324 Dies habe, so Ramos weiter, nichts mit einer geistigen Unterlegenheit des India­ ners zu tun, der sehr wohl dazu fähig sei, an der fremden Kultur teilzuhaben. Er müsse sich dafür jedoch von seiner Gemeinschaft trennen. »Solange er in seiner ursprüng­ lichen Umwelt bleibt, überwiegt bei ihm das kollektive, mit seinen Traditionen ver­ bundene und verschmolzene Bewusstsein, welches jede fremde Kultur als mit ihm unverträglich empfindet«. Ramos (2008): S. 361. Ramos erklärt diesen Widerstand durch einen Wesenszug der »primitiven Kulturen«, in denen das Leben, die Sitten und die Kultur eng miteinander verflochten sind: So halte der Europäer z. B. ein Werkzeug 321

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Ansicht der Indianer dagegen sträube, eine höhere Kultur anzuneh­ men. In Los grandes momentos del Indigenismo (1959) greift Villoro diese Problematik auf. Er beschreibt den Prozess im mexikanischen Bewusstsein, durch den der Indianer zunächst durch »den NichtIndianer (die,enthüllende Instanz‘) verstanden und beurteilt (,ent­ hüllt‘) wird«.325 Das Indigenismus-Buch berichtet über den Anfang und die Überwindung dieses falschen Bewusstseins, welches im Grunde eine Ideologie sei. Es nehme den Indianer zwar wahr, miss­ deute ihn jedoch. Es handle sich somit um die Geschichte einer ideologischen Verschleierung der Wirklichkeit des Indianers. 1) Die Conquista war nach Villoro das erste Moment einer historischen Bewusstwerdung für den Indianer und das Indianische. Damals sei er nah (cercano) gewesen, aber den Konquistadoren als eine negative und zur Zerstörung verurteilte Realität erschienen. Die Möglichkeit einer Versöhnung war dadurch gebahnt, dass sich die Indianer zum Christentum bekehrten und ihrer eigenen Geschichte und Kultur abschworen.326 2) Das zweite Moment, das einen Weg zu seiner Wiedererlan­ gung bahnte, war die zeitliche Entfernung vom Indianischen. Histori­ ker wie Francisco Javier Clavijero (1731–1787) und Manuel Orozco y Berra (1816–1881) behandelten die indianische Welt als Objekt der alten Geschichte, wodurch sie als etwas Vergangenes betrachtet wurde. Da das Indianische nicht mehr gegenwärtig war, schien es für ein nützliches, allerdings ersetzbares Objekt. Der Indianer verbinde es dagegen mit seiner Welt und trenne es nicht von seinem mythologischen Ursprung. Daher vertrat Ramos die Auffassung, dass der Indianer, selbst wenn die Conquista nicht blutig verlaufen wäre, der europäischen Kultur widerstanden hätte.. Natürlich ist die­ ser Ansatz in vielerlei Hinsicht fragwürdig. 325 Villoro (2014): S. 7–8. 326 »Das erste Moment, nämlich die Conquista, markierte den entscheidenden Moment der Verurteilung und Zerstörung der präcortesianischen Welt […]. Das ganze aztekische Universum lebte jedoch in den Überresten einer Kultur weiter, die Tag für Tag unter der Hand des Eroberers oder des Missionars fiel. Es wirkte allerdings weiter, indem es Götzendienst betrieb und sich der Frohen Botschaft auf empörende Weise widersetzte«. Villoro (2014): S. 253. Eine aufschlussreiche philosophiege­ schichtliche Überlegung zur Conquista und den Kolonialismus bietet Klaus Held (2001): Treffpunkt Platon. Philosophischer Reiseführer durch die Länder des Mittel­ meers. Stuttgart: Philipp Reclam jun., S. 407–461; siehe auch Guillermo Ferrer (2017): »Wutpilger-Streifzüge: Imágenes poéticas de la Conquista de Latinoamérica. Paul Celan, lector de Bartolomé de Las Casas«, in: iMex. México Interdisciplinario. Interdi­ sciplinary Mexico, Nr. 11 (2017), S. 55–72.

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41. Das kulturelle Bewusstsein Lateinamerikas

nicht zur gegenwärtigen Situation Mexikos zu gehören. Es trat zwar als etwas Eigenes, jedoch Unwirksames auf. Diese verobjektivierende Distanzierung erfuhr noch eine Verschärfung insofern, als man das Indianische nicht nur als etwas Vergangenes empfand, sondern auch als einer Geschichte zugehörig, die ihrerseits in eine fremde Vergan­ genheit gehörte. Damit wurde es Villoro zufolge zum Objekt einer unpersönlichen Vernunft.327 3) Das dritte Moment setzt sich nach Villoro aus zwei Pha­ sen zusammen: Zunächst wird die positive Bewertung des zweiten Momentes bestätigt und die verobjektivierende Distanz geleugnet. Man nähert sich dem Indianer zwar an, nimmt ihn jedoch nicht in die eigene Situation auf. Der Mestize betrachtet den Indianer als eine fremde Gegenwart und erwartet, dass er seiner Unterwerfung zustimmt. In der zweiten Phase wird der Indianer in Liebe und Anerkennung in die individuelle und gesellschaftliche Situation auf­ genommen. Dies bedeutet ein Wiedergewinnen des Indianers: Man erkennt ihn nun als etwas Eigenes. Er wird verinnerlicht und auf eine gemeinsame Zukunft projiziert, wodurch sich eine historische Gemeinschaft konstituiert (siehe den ausgewählten Text 22 »Der Indigene als der Andere, durch den ich mich selbst erkenne«).

41. Ernesto Mayz Vallenilla: Das kulturelle Bewusstsein Lateinamerikas und die Erwartung einer Neuen Welt Ernesto Mayz Vallenilla wurde 1925 in Maracaibo, Venezuela gebo­ ren und starb 2015. Er studierte Philosophie an der Universidad Central von Venezuela, wo er die Lehrveranstaltungen des Exilautors und Dilthey-Forschers Eugenio Ímaz (1900–1951) besuchte. Dieser erkannte schon bald die philosophische Begabung Mayz Vallenillas und trug mit einem Vorwort zur Veröffentlichung der Bachelorarbeit seines Schülers La idea de »estructura física« en Dilthey (1949) bei.328 327 »Der Indianer wurde dadurch zu einem Feind des Spaniers im Lichte der göttlichen Vorsehung, zu einem Alliierten des Criollo im Lichte der Geschichte und des Mestizen im Lichte der Soziologie.« Ebd., 260. 328 Ernesto Mayz Vallenilla (1949): La idea de estructura psíquica en Dilthey. Caracas: Universidad Central de Venezuela. Eugenio Ímaz ist vor allem für seine Übersetzung der Gesammelten Werke Diltheys in Spanien und Lateinamerika bekannt, die im Verlag Fondo de Cultura Económica in Mexiko veröffentlicht wurden. Aber er war

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Die Phänomenologie und das Vorhaben einer lateinamerikanischen Philosophie

Um sein Philosophiestudium weiter zu vertiefen, hielt sich Mayz Vallenilla in den Jahren 1950 bis 1952 zu Forschungsaufenthalten in Göttingen, München und Freiburg auf, wo er Martin Heidegger kennenlernte. 1954 promovierte Mayz Vallenilla mit der dem Denken Edmund Husserls gewidmeten Dissertation Fenomenología del cono­ cimiento. El problema de la constitución del objeto en la filosofía de Husserl, die er 1956 veröffentlichte. Eine zweite, überarbeitete und einem neuen Vorwort versehene Auflage erschien im Jahre 1976.329 Man kann sagen, dass mit der Doktorarbeit Mayz Vallenillas eine zweite Phase der Rezeption der Phänomenologie Husserls in Hispanoamerika einsetzte. Der Akzent verschob sich nun auf die Erforschung des Nachlasses von Husserl und den kritisch-erkennt­ nistheoretischen Aspekt der transzendentalen Phänomenologie. Luis Villoro rezensierte die Monographie Mayz Vallenillas; er schreibt: Das Buch […] besteht weniger in einer Einführung als in einem echten Kommentar zu den Ideen Husserls. Aufgrund seiner Seriosität und Genauigkeit erweist es sich als eine solide Anleitung zur Lektüre des Werkes von Husserl. Zudem hat es für uns auch einen symptomati­ schen Wert: Die lateinamerikanische Philosophie beginnt nun das Feld der leichten Improvisationen zu verlassen, um den schwierigen, jedoch lohnenden Weg der philosophischen Wahrhaftigkeit zu gehen.330

Im Vergleich zu mehreren spanischsprachigen Schriften zur Hus­ serl’schen Phänomenologie aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeichnete sich das Buch von Mayz Vallenilla durch seine fundierte Vertrautheit mit den damals veröffentlichten Werken Husserls und die Ausführlichkeit seiner Analysen aus. Ähnliches galt für die vier Jahre später veröffentlichte Monographie zur Philosophie Heideggers Ontología del conocimiento (1960).331 Beide Werke eröffneten eine auch ein Denker des Historismus und hat einige originelle Bücher geschrieben, die im Zusammenhang mit der Philosophie des spanischen Exils weitere Untersuchung ver­ dienten. Zur Philosophie von Eugenio Ímaz siehe Abellán (1998): S. 343–365. 329 Ernesto Mayz Vallenilla (1956): Fenomenología del conocimiento. El problema de la constitución del objeto en la filosofía de Husserl. Caracas: Universidad Central de Venezuela. 330 Villoro (1957): S. 383. Das Werk von Mayz Vallenilla wurde auch von Rudolf Böhm besprochen; siehe ders. (1959): »Compte rendu de Ernesto Mayz Vallenilla: Fenomenología del conocimiento. El problema de la constitución del objeto en la filosofía de Husserl, in: Revue philosophique de Louvain, Nr. 54 (1959), S. 254–255. 331 Ernesto Mayz Vallenilla (1960): Ontología del conocimiento. Caracas: Universidad Central de Venezuela.

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41. Das kulturelle Bewusstsein Lateinamerikas

neue Phase der lateinamerikanischen Philosophie – weniger aufgrund ihrer Gelehrsamkeit als dadurch, dass die tiefgründige Reflexion auf die phänomenologische Methode Husserls und Heideggers es erlaubte, spezifische Fragen zur lateinamerikanischen Philosophie, Kultur und Geschichte aufzuwerfen.332 Text 23 »Die Prüfung unseres kulturellen Bewusstseins« ent­ hält eine Neubetrachtung des Intentionalitätsbegriffes (sowie der existenzialen Analytik Heideggers) mit Blick auf eine Phänomenolo­ gie des kulturellen Bewusstseins. Sie stellt ferner die Basis dar für die philosophische Reflexion auf das, was Mayz Vallenilla als das Problem Amerikas bezeichnet: die Frage nach dem Spezifikum der »Neuen Welt«.333 Um das kulturelle Bewusstsein methodisch zu konturieren, vergleicht er es zunächst mit einer religiösen bzw. moralischen Gewissensprüfung (examen de conciencia). Das Wort »Prüfung« (examen) deute hier auf eine »andächtige Suche« nach der Stimme 332 Das Denken von Manuel Granell, der seit 1950 an der Universidad Central von Venezuela unterrichtete, fand Resonanz bei Mayz Vallenilla. In seinem späten Aufsatz »Filosofía latinoamericana y espíritu viajero« (1979) spricht Granell über einen durch die historischen Umstände bedingten Wendepunkt in der Phänomenologie Husserls. Kurz vor seinem Tod und an der Schwelle zum Zweiten Weltkrieg habe Husserl den Akzent verschoben, weg vom Ideal einer strengen Wissenschaft hin zu einer Auffas­ sung von Philosophie als Selbsterkenntnis der Menschheit durch gemeinschaftliche Erfahrung und die Verantwortung der Vernunft in der Geschichte. Granell verbindet diesen neuen Ansatz mit einem Konzept des hispanoamerikanischen Menschen als Urheber (hacedor) seiner Kultur und eine Art von Reisendem, der seinen eigenen kulturellen Geist zum Ausdruck bringen darf und soll (https://www.fgbueno.es/ba s/pdf/bas10603.pdf). Wie auch im Falle anderer Autoren des philosophischen Exils sollte man die Seiten lesen, die José Luis Abellán dem Denken Granells widmet. Abellán (1998): S. 179–193. 333 Mit diesem Ausdruck greift Mayz Vallenilla eine Frage auf, die auf Gedanken des südamerikanischen Unabhängigkeitskämpfers Simón Bolívar (1783–1830) zurück­ geht und die bereits von dem peruanischen Philosophen Alberto Wagner de Reyna (1915–2006) aufgeworfen worden war: »Die Bedeutung dieser beiden Worte [Neue Welt] ist eine andere: Amerika ist geistig dieselbe, jedoch umgestaltete Alte Welt. Die Neue Welt ist nicht deshalb neu, weil sie sich von der anderen unterscheidet, sondern weil in ihr das kraftvolle Alter derselben Kultur fortgesetzt, verlängert wird und blüht.« Alberto Wagner de Reyna (1949): La filosofía en Iberoamérica. Lima: Sociedad Peruana de Filosofía, S. 59–60. Während Wagner de Reyna die erneuerte Kontinuität der europäischen Kultur in Amerika betonte, suchte Mayz Vallenilla den Sinn des Aus­ drucks durch eine phänomenologisch-existenzielle Analyse des Bewusstseins des amerikanischen Menschen zu bestimmen. Leopoldo Zea wiederum bestand darauf, dass erst eine neue Philosophie der Geschichte diesen Sinn enthüllen könne.

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Die Phänomenologie und das Vorhaben einer lateinamerikanischen Philosophie

des Gewissens, deren Sinn es zu interpretieren gelte. Mayz Vallenilla befreit den Begriff von jeglicher religiösen Konnotation, um seinen ursprünglichen Intentionalitätscharakter herauszustellen. Das kultu­ relle Bewusstsein erweise sich folglich als eine »Suche nach« oder »Vertiefung in« sich selbst, durch die eine spezifische Intentionalität (ein »Bewussthaben«) hervortrete. Um das Wesen des kulturellen Bewusstseins zu erfassen, unter­ scheidet Mayz Vallenilla es sowohl vom theoretischen als auch vom moralischen Bewusstsein. Das theoretische Bewusstsein sei ein Bewussthaben des »Ich denke«, das moralische ein Bewussthaben des Sein-Sollens. Das kulturelle Bewusstsein sei ebenfalls ein inten­ tionales Bewussthaben. Mayz Vallenilla wirft nun die Frage auf, was genau ein solches Bewusstsein intentional besitze. Ähnlich wie das moralische Bewusstsein trete das kulturelle Bewusstsein erst dann auf, wenn der Mensch die »Stimme« seines Gewissens suche und auf sie höre. Aber die Stimme des kulturellen Bewusstseins spreche kei­ nen ethischen Imperativ an, sondern berühre den Ort des Menschen in der Geschichte. Dieser werde durch keine Reflexion offengelegt, sondern biete sich einer vorreflexiven Erkenntnis dar. Damit lässt sich das kulturelle Bewusstsein näher bestimmen. Es handelt sich um das vorreflexive Bewusstsein der eigenen Geschichtlichkeit, oder genauer: um ein geschichtliches Selbstbewusstsein, das mit dem historischen Dasein zusammenfällt. Denn es macht das Faktum der Geschichtlichkeit des Daseins aus. Dieses Faktum gehört mit der Zeitlichkeit zusammen. Die Stimme des historischen Bewusstseins hallt als Verbindung der Gegenwart mit der Vergangenheit und der offenen Zukunft wider. Es gibt keine Kulturleistung, in welcher nicht die Geschichte mitspricht und die keinen Zukunftshorizont in die Welt entwirft. Im Falle Latein­ amerikas jedoch könne man nicht abstrakt von seinem Ort in der Weltgeschichte sprechen. In Text 24 »Das amerikanische Problem« betrachtet Mayz Vallenilla die konkrete Bedeutung des Ausdrucks »Neue Welt« phänomenologisch. Seine Überlegungen kreisen um das ursprünglich Neue des amerikanischen Menschen und seiner Welt, wobei das Wort »ursprünglich« eher zweideutig ist. Denn es bezeichnet einerseits die Suche nach etwas Eigenem, das vorgegeben wird. Andererseits bedeutet es die ständige Bemühung des lateiname­ rikanischen Menschen darum, eine eigene Kultur hervorzubringen. Die historische Frage lautet nun: Was hat dieses Streben nach einer eigenen Kultur ausgelöst?

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42. Leopoldo Zea: Die europäische Philosophie und das amerikanische Bewusstsein

Mayz Vallenilla stellt zunächst eine gewisse Fragilität und Unsicherheit des lateinamerikanischen Menschen fest. Sein späterer Durchbruch zur Weltgeschichte führte ihn zu der Suche nach einer Identität, die ihm, im Unterschied zum europäischen Menschen des 19. Jahrhunderts, nicht vorgegeben war. Gerade deshalb konnte der lateinamerikanische Mensch erst als Bewohner einer noch nicht verwirklichten Neuen Welt zu einer eigenen Seinsweise gelangen. Mayz Vallenilla präzisierte schon bald die Bedeutung dieses Gedan­ kens: Gemeint sei nicht, dass dem lateinamerikanischen Menschen in seiner gegenwärtigen Situation keine Originalität zukomme. Im Gegenteil: Sie falle mit der ihm zugeteilten Aufgabe zusammen, eine Neue Welt hervorzubringen. Durch eine existenziale Hermeneutik des Amerikanischseins nahm sich Mayz Vallenilla vor, das Vorverständnis einer möglichen Neuen Welt freizulegen, die jedem lateinamerikanischen Menschen durch seine historische Situation vorgegeben ist. Ferner legte er Nach­ druck darauf, dass der Ausdruck »Neue Welt« keine Metapher sei, sondern eine ursprüngliche, im Horizont der Zukunft vorgezeichnete Wirklichkeit, die sich wie eine Stimme an das kulturelle Bewusst­ sein des lateinamerikanischen Menschen richte. Der Hermeneutik eines solchen Bewusstseins teilte Mayz Vallenilla die Aufgabe zu, die Existenzialien der Neuen Welt zu entdecken. Sie gründen auf dem Konzept der Existenz des lateinamerikanischen Menschen als Erwartung einer zu verwirklichenden Neuen Welt. Damit wird das Erbe der europäischen Philosophie nicht zurück­ gewiesen, sondern verhilft dazu, einen Pfad zu einer ursprünglichen Kultur bzw. zur Konstitution einer Neuen Welt zu ebnen. Die lateinamerikanische Philosophie muss den historischen Ursprung der Erwartung als Grundstimmung des lateinamerikanischen Menschen verfolgen. Damit formulierte Mayz Vallenilla ein neuartiges Problem, das Leopoldo Zea später aufgreifen sollte.

42. Leopoldo Zea: Die europäische Philosophie und das amerikanische Bewusstsein In Text 25 »Europäische Philosophie und die Entwicklung des ame­ rikanischen Bewusstseins« umreißt Leopoldo Zea eine neue Form der Geschichtsschreibung der Philosophie aus lateinamerikanischer Perspektive. Mayz Vallenilla hatte sich auf die europäische Philo­

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Die Phänomenologie und das Vorhaben einer lateinamerikanischen Philosophie

sophie (vor allem auf die Phänomenologie und die existenziale Analytik Heideggers) als Methode zur Bestimmung des amerika­ nischen Daseins berufen. Zea weist im Gegenzug auf eine histo­ rische Vorbedingung der Aufnahme der europäischen Philosophie und einer erneuten Geschichtsschreibung der Philosophiegeschichte hin. Es gelte, die drängenden Probleme der lateinamerikanischen »Umstände« zu lösen, ganz gleich, ob die Lösung eine Rechtfertigung in irgendeiner philosophischen Lehre finde oder nicht. Aus dieser Perspektive hatte Zea bereits in seinem Werk La filosofía en México (1955)334 die frühe Rezeption der Phänomenologie und des Existenzialismus bei den mexikanischen und Exilautoren neu betrachtet und bewertet. Es handelte sich dabei um einen Ansatz, den er dem Historizismus Ortega y Gasset verdankte. Dieser hatte sich zwar vorgenommen, eine Philosophie der spanischen Umstände mit Blick auf die europäische Kultur zu entwickeln. Aber sein philo­ sophischer Perspektivismus legitimierte den Gedanken, dass erst der lateinamerikanische Mensch eine lateinamerikanische Philosophie

334 Leopoldo Zea (1955): La filosofía en México. Bd. II. Mexiko: Ediciones LibroMex., S. 218–236. Zea stellt zunächst fest, dass die Phänomenologie die mexikanische Philosophie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark beeinflusst habe, wenn auch auf eigentümliche Art und Weise. Die mexikanischen Denker »nutzten sie, um ihre verschiedenen philosophischen Ansätze zu rechtfertigen oder zu verstärken«. Ebd., S. 222. Dies war der Fall bei Larroyo, der versuchte, die Phänomenologie in den Neukantianismus zu integrieren, und bei Oswaldo Robles (1904–1969), der sie als Methode zur Erneuerung des Thomismus in Mexiko einsetzte. Neben bekannten Namen, wie denen der Exilautoren und Philosophen wie Samuel Ramos und Antonio Caso, erwähnte Zea Adalberto García de Mendoza als Initiator eines pädagogischphilosophischen Programms, das die Phänomenologie einschloss, und Manuel Cabrera (1913–1997). Dessen Überlegungen zu einer »Phänomenologie der Geschichte und der Krise« waren für Zea von besonderem Interesse. Für Cabrera bedeutete die lebensweltliche Phänomenologie des späten Husserl einen misslunge­ nen Versuch, die Krise der Phänomenologie selbst als die seines idealistischen Solip­ sismus zu überwinden: »Da für Husserl das konstituierende Prinzip die transzenden­ tale Subjektivität ist, sieht er die Krise als das Ergebnis des Bruches zwischen dieser Subjektivität und der konstituierten Welt an. Die Überwindung der Krise bedeutet daher, die Welt in den Horizont des konstituierenden Bewusstseins wieder aufzu­ nehmen«. Dennoch, so Cabrera weiter, »[…] führt Husserls Philosophie der Geschichte zu einer Egologie der Geschichte, die seinen früheren Idealismus nicht leugnet, sondern ihn vielmehr bekräftigt, indem sie die Geschichte im unendlichen Leben des trans­ zendentalen Ich auflöst«. Antonio Zirión hat den Text von Cabrera in seine Anthologie zur Geschichte der Phänomenologie in Mexiko aufgenommen und erläutert. Siehe Zirión (2009): S. 119–122 und S. 239–249.

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42. Leopoldo Zea: Die europäische Philosophie und das amerikanische Bewusstsein

zu entwickeln vermöge, in die er die europäische Philosophie dann insofern aufnehme, als dass sie in seine Perspektive einfließe. Aus der Betrachtung der Phänomenologie und des Existenzialis­ mus vom Standpunkt der neuen lateinamerikanischen Philosophie aus folgert Zea: 1) Husserl sei der Initiator eines philosophischen Zeitalters gewesen. Er habe sich zunächst mit Theorien auseinandergesetzt, die die Objektivität der logischen Gesetze und der idealen Gegenstände auflösten, und dadurch gezeigt, dass der Positivismus unvollständig war, da er die anschauliche Gegebenheit der Wesen im Bewusstsein nicht berücksichtigte. Daher gelte Husserl als der Begründer eines genuinen Positivismus, wie Antonio Caso betont habe. Zea selbst interessierte vor allem die Tatsache, dass Husserl die Wahrheit auf eine feste Grundlage stellte, nachdem er, wie Descartes, über die Krise der Wissenschaft seiner Zeit meditiert habe. Man könne gegen den Autor der Cartesianischen Meditationen einwenden, dass ihm am Ende nichts anderes blieb als ein einsames Ego. Aber im Unterschied zu Descartes sei die Einsamkeit des phänomenologischen Ego nur eine scheinbare: Dieses Ego hätte das Welt-Phänomen, auch wenn es Phantasie oder Traum sei. Und ganz gleich, ob es Phantasie oder Traum sei, müsse es mit seinem Welt-Erlebnis fertigwerden. Hieraus resultiere eine Idee, die im Interesse der lateinamerikanischen Philo­ sophie stünde: Die unmittelbare Beschäftigung mit der vorgegebenen Lebenswelt bzw. den eigenen historischen Umständen ist wichtiger als die theoretische, abstrakte Frage nach ihrer Wirklichkeit.335 2) Nach den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhun­ derts zeigt sich dem lateinamerikanischen Menschen Zea zufolge unmissverständlich die Krise des europäischen Denkens und der europäischen Kultur. Dieser lehne sie jedoch nicht ab, sondern wandle sie in seine eigenen Möglichkeiten um. Im deutschen Existenzialis­ mus spiegele sich der »Geist« wider, der nach dem Ersten Weltkrieg entstanden sei und in den Zweiten Weltkrieg führte. Er fand zunächst Resonanz in Mexiko, weil er die Grundlage für eine philosophische Anthropologie bildete. Zea schlägt nun vor, die Existenzphilosophie im Lichte ihrer historischen Krise einer Revision zu unterziehen. »Die Einsamkeit [des Ichs] ist unmöglich, weil es eine Welt gibt, die reich an Formen ist und das Ich niemals alleine lässt. Es gibt eine Welt der Phänomene, mit der man rechnen muss, vor der man nicht fliehen kann. Man muss etwas über diese Welt sagen, die dem Ich so offensichtlich erscheint.« Zea (1955): S. 220–221. Dieses Zitat relativiert meines Erachtens die extreme Position von Cabrera. 335

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Die Phänomenologie und das Vorhaben einer lateinamerikanischen Philosophie

Der neue Ansatz lässt sich bis zu den Gründungsereignissen der hispanoamerikanischen Philosophie zurückführen. Zea erwähnt erneut den geschichtsphilosophischen Ansatz Ortega y Gassets. Dank dieses Ansatzes konnte sich der lateinamerikanische Philosoph auf seine eigenen Umstände, seine circunstancias, besinnen. Sie schlossen ihn in keinem geographischen Ort ein, sondern er-schlossen ihm den Horizont der Welt, zu welcher der lateinamerikanische Mensch mit seiner eigenen Kultur beitragen könne und solle. Zea rechnet es weiterhin Samuel Ramos als Verdienst an, die geschichtsphilosophi­ sche Auffassung Ortega y Gassets aufgegriffen zu haben, um eine philosophische Reflexion über den konkreten kulturstiftenden Men­ schen zu formulieren. Diese Aufgabe war insofern paradox, als die europäische Philosophie (an welche Ortega y Gasset fest gebunden war) einst Anspruch auf die Gesamtheit der Ideen erhoben hatte. Dennoch ließ die Krise des europäischen Konzeptes von Universalität eine andere erahnen: die Erweiterung der konkreten Perspektive bis hin zur Verwirklichung einer interkulturell konstituierten Welt. Der Existenzialismus hatte die Situation des Menschen in der Welt zum Thema gemacht. Die lateinamerikanische, phänomeno­ logisch orientierte Philosophie von Mayz Vallenilla konkretisierte diesen existenzialistischen Ansatz insofern, als sie auf ihm eine Anthropologie des amerikanischen Daseins errichtete.336 Mayz Valle­ nilla hatte darüber hinaus die anthropologische Grundfrage nach dem historischen Ursprung der Erwartung einer Neuen Welt als Stimmung des lateinamerikanischen Daseins gestellt – Zea griff sie aus einer historischen und philosophiegeschichtlichen Perspektive auf. Sein Ausgangspunkt ist die Tatsache, dass die Lateinamerikaner sich jahr­ hundertelang der Macht und dem Willen anderer Menschen unterge­ ordnet fühlten, die ihre Länder verwüsteten und kolonialisierten. Ein solches Gefühl war der Ausdruck eines konkreten Menschentypus, 336 »Was Mexiko betrifft, so ist der positive Teil des Existentialismus, der die philosophischen Gelehrten interessiert hat, seine Anthropologie gewesen. […] Das Verhältnis Ich-Welt, dieselbe Beziehung, die Ortega y Gasset als Ich und mein Umstand darstellte, hat dieses Interesse an der Welt oder dem Umstand, der uns in unmittelbarerer Weise entspricht, nur noch verstärkt; in diesem Fall Mexiko oder im weiteren Sinne Amerika. […] Andererseits wurden die pessimistischen Konsequenzen der Existenzphilosophie abgelehnt«. Ebd., 155. Deutschsprachige Leser können Zeas Buch Warum Lateinamerika? konsultieren, um einen Einblick in sein Konzept der lateinamerikanischen Philosophie zu gewinnen. Leopoldo Zea (1995): Warum Lateinamerika? Hg. und eingeleitet von Raúl Fornet-Betancourt. Übersetzt von Liane Keil. Aachen: Verlag der Augustinus Buchhandlung.

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42. Leopoldo Zea: Die europäische Philosophie und das amerikanische Bewusstsein

der weder Vergangenheit (die alten Kulturen waren untergegangen) noch Gewissheit in Bezug auf die Zukunft für sich hatte. Wie Mayz Vallenilla vertritt Zea die Auffassung, dass dem lateinamerikanischen Menschen nur die Erwartung auf eine von ihm hervorzubringende Neue Welt bleibe. Beide Autoren sind sich auch darin einig, dass erst die Praxis das Warten zu einem Ende führen könne. Zea fügt jedoch hinzu, dass die phänomenologisch-ontolo­ gische Fundierung dieser Praxis wichtig, jedoch nicht ausreichend sei. Es bedürfe darüber hinaus einer neuen Philosophie der Mensch­ heitsgeschichte (aus welcher die alten Bevölkerungen Lateinamerikas und Afrikas bislang ausgeschlossen waren). Laut Zea beruht die Her­ vorbringung einer ursprünglichen lateinamerikanischen Philosophie weniger auf einer ontologischen Erfahrung als auf der Reflexion über ein neues Bewusstsein der Universalität der verschiedenen, konkreten Menschentypen. Aufgrund der Krise seiner Kultur konnte der Europäer erfahren, dass er an der Aufstellung eines allgemeinen, allumfassenden Begriffs vom Menschen gescheitert ist. Umgekehrt konnte der Lateinamerikaner mit Blick auf diese Krise feststellen, dass er – ganz wie der Europäer – ein Mensch ist, der aus seiner Perspektive etwas zur Konstitution einer inter- und transkulturellen Welt, einer universalen Lebenswelt beizutragen vermag. Guillermo Ferrer

Wuppertal im Jahre 2022

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Miguel de Unamuno (1864–1936): Text 1 Auszüge aus dem Briefwechsel mit José Ortega y Gasset

(Übersetzt von Niklas Schmich)

Guillermo

Ferrer

in

Zusammenarbeit

mit

[Brief Miguel de Unamunos an José Ortega y Gasset vom 17. Mai 1906, Salamanca]337

Herrn Don José Ortega y Gasset […] Ich hoffe, dass Sie bei Ihren guten Vorsätzen bleiben und mir bald einen meiner Aufsätze zurückschicken werden. Ich fühle mich nämlich tagtäglich zu unbegründeten Behauptungen und Willkürlich­ keiten gezwungen, mein liebster Freund Ortega. Willkürlichkeiten sind die Methode der Leidenschaft. Und jeden Tag halte ich umso mehr an meinem Anarchismus fest – denn er ist der wahrhafte Anarchismus. Und dadurch isoliere ich mich immerzu. Ich passe nirgendwo, ja nicht einmal in mich selbst, hinein. Tagtäglich kümmere ich mich weniger um die Ideen und die Dinge als um die Gefühle und die Menschen. Und auch das, was Sie mir sagen, interessiert mich nicht, sondern ich selbst interessiere mich für Sie. Sie schreiben: »Die subjektive Interpretation einer wissenschaft­ lich unerklärbaren Tatsache …, etc.« Wissenschaftlich? Mein altes [Sieben Jahre nach seinem Studienabschluss der Philosophie und Philologie (1880–1884) an der Universidad Central de Madrid lehrte Miguel de Unamuno Altgriechisch an der Universität Salamanca. Im Jahr 1900 wurde er zum Rektor der Universität Salamanca ernannt. Auch aus seiner Heimatstadt Bilbao korrespondierte Unamuno gelegentlich mit Ortega.]. 337

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Text 1 Auszüge aus dem Briefwechsel mit José Ortega y Gasset

Misstrauen gegenüber der Wissenschaft wird langsam zu Hass. Ich hasse die Wissenschaft und vermisse die Weisheit. For nothing worthy proving can be proven, nor yet is proven, sagt [Alfred] Tennyson. Wenn Sie, lieber Herr Ortega, wüssten, welche Schmerzen es mir bereitet, sogenannte Paradoxien hervorzubringen! Wenn Sie nur von den Tränen wüssten, die ich mir bei so vielen meiner Schriften verkneifen musste! Ich frage mich also, wieso man darauf besteht, mich für einen Weisen, Pädagogen, Erzieher oder sonst was zu halten? So viel dazu. […] Nun schreibe ich meine Abhandlung über die Gottesliebe und verfasse Gedichte … Im Laufe dieses Jahres habe ich schon mehr Verse geschrieben als in meinem ganzen vorherigen Leben. Ich fühle mich wie ein Kind im Frühling seines Lebens. Schöne Grüße an unseren gemeinsamen Freund [Luis] Bello.338 Fragen Sie ihn bitte, ob er nicht etwas vergessen hat?! Am nächsten Montag werden Sie einen Aufsatz von mir bekommen. Ich hoffe, dass Sie diesen Aufsatz, wie Sie mir bereits andeuteten, genauso wie alle anderen Aufsätze behandeln werden. Es gibt dort sehr viel Willkürliches und einige unbegründete Behauptungen. Ich kann nur für mich selbst einen Nachweis bieten, der aber keinen logischen Charakter hat. Wie für Sie und alle anderen bestehen für mich selbst keinerlei Gründe. Wie Sie wissen verbleibe ich stets Ihr treuer Freund (das ist das Wichtigste). Miguel de Unamuno

[Gemeint ist der venezolanisch-chilenische Dichter Luis Bello (1872–1935), der zugleich der Herausgeber der Zeitschrift Revista de libros war und dem Unamuno den Aufsatz »Sobre mí mismo (pequeño ensayo cínico)« gewidmet hatte. Der Text ist erschienen in Miguel de Unamuno (1959): Mi vida y otros recuerdos personales (1889–1936). Zwei Bände. Hg. und mit einem Vorwort versehen von Manuel García Blanco. Buenos Aires: Editorial Losada.].

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Text 1 Auszüge aus dem Briefwechsel mit José Ortega y Gasset

[Brief Miguel de Unamunos an José Ortega y Gasset vom 30. Mai 1906, Salamanca] Mein liebster Freund, ich möchte nicht auch nur einen Tag vergehen lassen, ohne einen Einwand gegen Ihren berechtigten Vorwurf zu erheben. Ich muss zugeben, dass der Tonfall in meinem Brief mehr als unfair war. Denn letztlich haben Sie mit dem heftigen Sturm, der in meinem armen Geist aufzieht, rein gar nichts zu tun. Sie wissen auch nicht, inwiefern meine innere Einsamkeit wächst und immer tiefer wird. Ich fühle mich zunehmend allein. Und aus diesem Grund fühle ich mich auch nur in Begleitung von einsamen Menschen wie mich selbst wirklich wohl. Mich interessiert nichts von dem, was die meisten anderen Leute interessiert. Und was mich interessiert, interessiert sie nicht. […] Sie haben recht: Ich war unfair. In den von Ihnen dargelegten Ideen wollte ich nur das sehen, was sich meinen Gefühlen (ich sage nicht Ideen) entgegenstellt. Es handelt sich hierbei um einen Aspekt, den Sie aus dem Gelehrtendeutschland entlehnt haben. Dabei fange ich schon an, mich als wütender Antieuropäer zu fühlen. Die Europäer erfinden Dinge? Na gut! Das elektrische Licht leuchtet hier genauso gut wie da, wo es erfunden wurde – und auch ich kann mir nur selbst dazu gratulieren, diesen scharfsinnigen Aphorismus erfunden zu haben. Die Wissenschaft dient einerseits dazu, das Leben zu erleichtern, und andererseits dient sie als Tor zur Weisheit. Gibt es aber keine anderen Tore? Und haben wir Spanier nicht noch andere Tore zu bieten? Wenn wir uns persönlich begegnen, werde ich mit Ihnen über andere Dinge sprechen. Bitte verzeihen Sie mir vielmals den schlechten Ton in meinem Brief. So lebe ich also, in ständiger Unruhe. Auch schreibe ich nicht, um Ruhm zu erlangen, und auch nicht pour épater le bourgeois, sondern um meine Leidenschaften zu beherrschen und meine Triebe zu zügeln. Wer weiß, ob die Ethik Spinozas oder die Principia Newtons nicht denselben psychischen Ursprung haben wie der Werther von Goethe oder die letzten Artikel von [Mariano José de] Larra.339 339 [Der Schriftsteller Mariano José de Larra y Sánchez de Castro (1809–1837) gilt, zusammen mit Gustavo Adolfo Bécquer und Rosalía de Castro, als Hauptvertreter der spanischen Romantik.].

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Text 1 Auszüge aus dem Briefwechsel mit José Ortega y Gasset

Richten Sie bitte schöne Grüße von mir an Bello aus und auch an Ihren Vater.340 Und bitte nehmen Sie all diese Dinge Ihres sehr treuen Freundes nicht zu ernst … Ihr Miguel de Unamuno

[Der Vater von Ortega y Gasset, José Ortega Munilla (1856–1922), war Journalist und Schriftsteller. Dank ihm hatten die Vertreter der Generation von 1898 (José Martínez Ruiz »Azorín«, Pío Baroja und Ramón del Valle-Inclán) die Möglichkeit, in den Zeitungen El Imparcial und El Sol ihre Ideen zu verbreiten.]. 340

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Text 1 Auszüge aus dem Briefwechsel mit José Ortega y Gasset

[Brief José Ortega y Gassets an Miguel de Unamuno vom 30. Dezember 1906, Marburg] Meiner lieber Don Miguel, […] Wer ist der Spanier, der sich selbst zu vergessen vermag und für den es nur Ideen gibt? Klassisch ist Folgendes: Klassisch ist der Geist, der eine unterirdische Verbindung mit der Strömung der in einigen Jahrhunderten sich vollendenden ewigen menschlichen Aufgabe eingeht – unabhängig davon, wann dieser Geist entsteht. Die Menschheit ist Idee: Der Mensch, das einzig wirklich Wichtige im Universum, ist Idee. Alles andere ist Peter oder Johannes. Der Mensch ist [Percy Bysshe] Shelley. Und [Georg Gordon] Byron ist nur ein verachtungs­ würdiger Byron. Das Klassische ist also das Aufrichtige. Es besteht keineswegs darin, nach außen hin das zu sein, was man nach innen hin individuell ist. Das Aufrichtige besteht darin, sich um nichts mehr als, um die Idee zu kümmern. […] Der Klassizismus ist Aufrichtigkeit. Die Welt schreitet fort, weil die aufrichtigen Menschen sie vorantreiben. Ich bin davon überzeugt, dass die Religion des Klassizismus die wahrhaft tragische Religion des Menschen ist. Ich würde alles geben, um zu sehen, ob Sie meine lyrischen Sprünge rekonstruieren können und die Worte eines armen jungen Mannes ein Körnchen Wahrheit in sich bergen. […] Manchmal schäme ich mich für Spanien. Ich schäme mich, wenn ich daran denke, dass meine Rasse seit Jahrhunderten keinen Beitrag zu der Aufgabe der Menschheit leistet. Wir sind Afrikaner und Feinde der Menschheit und Kultur, mein lieber Don Miguel. Wir verabscheuen die Idee. Deshalb überdauert Aristoteles bei uns. Und niemand versteht Platon. Darum sind wir katholisch – der Katholizismus verabscheut Platon. Das Hin und Her in der Politik der letzten Tage hat mir allzu deutlich den Gedanken vor Augen geführt, dass Spanien als Volk verschwinden muss, wenn Spanien irgendwie überleben will. Spanien kann nur als Kultur überleben. Wegen dieser Überzeugung habe ich

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Text 1 Auszüge aus dem Briefwechsel mit José Ortega y Gasset

mich dazu entschlossen, mich nicht mehr mit dem jetzigen Leben unserer Heimat zu beschäftigen. Dafür sehe ich mich in der Lage, ein universales Werk zu leisten. Und es wird erst dann eine spanische Kul­ tur geben, wenn einige wenige Spanier universelle Kultur betreiben. In dekadenten Zeiten kann man keine nationale Kultur a priori machen. Die bis dato intendierten nationalen Kulturen sind tot geboren worden. Sie sind kulturelle pastiches und bloß momentane Kulturen – und das Momentane ist die negative Seite der Kultur. Jede Kultur ist erst durch ihren ewigen Wert eine Kultur. Ich glaube, Sie verstehen mich in dieser Hinsicht ganz gut … Deswegen brauche ich Ihnen nicht den Unterschied zwischen einer universellen und einer kosmopolitischen Kultur zu erklären. Da die Voraussetzung jeder wahren Kultur die Aufrichtigkeit ist, ist jede ewige und universelle Kultur zugleich eine griechische, spanische oder deutsche Kultur. Sobald wir ehrlich sind – und vor allem scharfsinnig, scharfsinnig ehrlich – müssen wir auch Spanier sein. Die einzigen und ewigen Ideen nuancieren sich durch ihre Entwicklung in den Rassen. Es ist nicht eine Rasse, die eine Idee unsterblich macht, sondern es sind die Ideen, jene allerhöchsten und dankbaren Mädel, welche die Rassen unsterblich machen. Gab es jemals irgendwo ein größeres Streben nach unsterblichem Ruhm als in unserer Rasse? Freilich ist unsere Rasse nie unsterblich gewesen, weil man dazu der Ideen bedarf. Wir sind immer Feinde der Ideen gewesen. Cervantes ist der einzige unsterbliche Spanier. Er ist der einzige Freund der Ideen gewesen. Erst wenn es uns gelingt, im Verhältnis zum Universum Spanier zu sein, werden wir auch gebildet sein. Wir werden aber nicht gebildet sein, solange wir lediglich im Verhältnis zu anderen Spaniern Spanier sein wollen – auch wenn es sich dabei um die Spanier des 16. Jahrhun­ derts handelt […] Ich befürchte, dass Sie, Don Miguel, in einem krassen Wider­ spruch zu diesen beiden Gedanken stehen: 1. Wir müssen uns zur klassischen, europäischen Religion bekennen; 2. Wir müssen uns nicht um das gegenwärtige Spanien kümmern, genauso wie wir uns nicht um unser Ich kümmern müssen. Deshalb befürchte ich, Don Miguel, dass der Gedanke der Aktualität Ihnen schadet und Sie einschränkt.

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Text 1 Auszüge aus dem Briefwechsel mit José Ortega y Gasset

Ich habe Ihren Essay »Sobre la europeización« leider noch nicht gelesen,341 aber ich befürchte, dass er ebendiese Aktualität in sich trägt. Vor einem Jahrhundert gab es in Spanien einen Unabhängig­ keitskrieg, wie man sagt. Jetzt benötigt man einen geistigen Unabhän­ gigkeitskrieg. Auf dem geistigen Feld sind die Unabhängigkeitskriege eher Kriege der Koordinierung von Ideen. Es gibt keine andere Art und Weise, geistig unabhängig zu werden, als auch den Geist unter einen kriegsähnlichen Druck zu setzen. Sie möchten einen Unabhän­ gigkeitskrieg gegen Spanier führen. Das hört sich zwar schön an, ist jedoch völlig verkehrt. Brauchen Sie dafür einen Beweis? Man könnte viele Ihrer Ideen folgendermaßen zusammenfassen: Das Furchtbare des gegenwärtigen spanischen Lebens sei gerade, dass es keine vitalen Probleme gebe. Wenn es diese Probleme jedoch gäbe, könnte man darüber nachdenken, einige Spanier von den anderen unabhängig zu machen. Bedauerlicherweise seien jedoch alle Spanier gleich. Ich bin zutiefst überzeugt, dass Sie sich mit objektiven kulturel­ len Problemen befassen sollten. Aufgrund meiner Reisen konnte ich Ihre letzten Essays noch nicht lesen. Deswegen verstehe ich noch nicht genau, was Sie mit »Willkürlichkeit« und dem »Allerletzten« meinen. Wir werden vermutlich über die Bedeutung dieser Worte miteinander einig sein. Allerdings ist der Wert der Willkür keine will­ kürliche, sondern eine wissenschaftliche Angelegenheit. Ich würde mir wünschen, dass Sie, aus einer Art geistiger Diät heraus, irgendeine wissenschaftliche Auffassung anstrebten. […] Ihre Feindseligkeit gegenüber der Wissenschaft scheint mir das Einzige zu sein, was bei Ihnen unwissenschaftlich ist. Hüten Sie sich bitte auch vor Nietzsche! Wieso widmen Sie sich also nicht voll und ganz einer Philosophie der Religion? Wir könnten Ihnen einen neuen und bestbezahlten Lehrstuhl in Madrid in Aussicht stellen. Ich glaube, mein lieber Don Miguel, dass es Ihnen an Keuschheit und einem Bußgürtel fehlt. Sie sollten einen neuen Ton anstimmen. Ansonsten werden Sie Hals über Kopf mit dem besessenen Mystizismus zusammenstoßen. Und gerade dann werden wir uns von Europa, der Blume der Welt, lösen. Glauben Sie wirklich, man kann ohne Druck leben? Glauben Sie wirklich, dass man auf einem anderen Wege als dem der Wissenschaft [Siehe Miguel de Unamuno (2007): Obras completas VIII. Ensayos. Hg. von Ricardo Senabre. Madrid: Fundación José Antonio de Castro, S. 997–1116.].

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Text 1 Auszüge aus dem Briefwechsel mit José Ortega y Gasset

überhaupt irgendwohin und insbesondere zum Willkürlichen gelan­ gen kann? Freilich würde ich mich über die Sendung des Manuskriptes Ihrer »Abhandlung« sehr freuen […] Herzliche Grüße von Ihrem Freund Pepe Ortega Frohes neues Jahr!

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Text 1 Auszüge aus dem Briefwechsel mit José Ortega y Gasset

[Brief José Ortega y Gassets an Miguel de Unamuno vom 17. Februar 1907, Marburg]342 Mein lieber Unamuno: […] Sie fügen Cervantes ein historisches Unrecht zu, wenn Sie ihn, eigentlich den einzigen spanischen Philosophen, ohne weiteres für einen Schriftsteller halten. Ich möchte Ihnen jedoch auf einen ande­ ren, hiermit verbundenen Aspekt eine Antwort geben: Sie sagten mir, dass Sie sich nicht in das orthodoxe Bataillon der europäischen Kultur einreihen möchten, sondern eher einen aufständischen Guerillakrieg führen wollen. Dieses Vorhaben scheint mir auch sehr richtig, aber … Niemand ist mehr davon überzeugt als ich, dass es in der Harmonie des Universums eine Melodie gibt, die wir als spanisch bezeichnen können. Diese Melodie klingt schon seit Jahrhunderten nicht mehr; und es hängt von uns ab, sie in dem Heiligen Land Kastilien nach­ klingen zu lassen. Wir müssen diese bestimmte Melodie in der keltiberischen Rabel343 spielen, damit sie in die universale Harmonie einfließt. Ein Volk, das keine Nation mehr ist, eignet sich besonders gut dazu, ein universelles Lied anzustimmen. […] Es gab nur einen Kastilier, der Übermensch war. Und da er alles und sich selbst ironisierte, konnte er seine Übermenschlichkeit dennoch als Schauspiel auffassen. Es gelang ihm, diese zu überwin­ 342 [Ortega hielt sich von 1905 bis 1907 und 1910 zu Studien- und Forschungszwe­ cken in Deutschland auf, wo er mit dem Neokantianismus in Berührung kam und begann, sich mit der Philosophie Brentanos und der phänomenologischen Schule Edmund Husserls zu befassen.]. 343 [Das spanische Wort »rabel« (dt. Hirtengeige) ist alt und stammt aus dem Arabi­ schen »rabāb«. Es handelt sich dabei um ein kleines und einfaches Saiteninstrument, das von den Arabern auf die iberische Halbinsel eingeführt wurde und im Mittelalter und in der Renaissance sehr beliebt war. Seine Form ähnelt der einer Laute, obwohl es mit einem Bogen gespielt wird. Die Hirtengeige besteht in der Regel aus drei Saiten; in einigen Regionen Spaniens wird sie mit nur einer Saite hergestellt. In Spanien ist sie noch heute ein Instrument, das zur Begleitung von Hirten- und Volksliedern, den sogenannten »rabeladas«, verwendet wird. Das Instrument kam während der Kolonialzeit auch nach Panama. Dort ist es volkstümlich und wird wegen seiner hohen Töne auch »rabo de michu« oder »rabo de gato« (dt. Katzenschwanz) genannt.]

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Text 1 Auszüge aus dem Briefwechsel mit José Ortega y Gasset

den und eben deshalb Mensch zu werden, zwar nicht durch und durch, dafür aber theoretisch: Gemeint ist Cervantes. Die Lektüre des Quijote hinterlässt einen Eindruck, der dieses Werk von jedem anderen spanischen Buch auf spezifische Art und Weise unterschei­ det. Bevor wir uns den Grundgedanken von Cervantes klarmachen, sollten wir über dieses unmittelbare und charakteristische Faktum jenes Eindrucks sprechen, den der Quijote bei uns hinterlässt. Worin besteht dieser Eindruck? Er gibt dem Leser – genauer: jedem Leser – Gelassenheit! Er ist Balsam für seine Seele. Und genau hierin liegt der springende Punkt: Er gibt jedem Leser Gelassenheit – ganz egal, ob dieser eher groß oder klein, eher phlegmatisch oder sanguinisch, eher männlich oder zart, eher realistisch oder idealistisch ist. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass ich Quevedo nicht lesen kann, ohne ihn zu hassen. Cervantes aber sym-pathisiert mit mir … und auch mit allen anderen. Cervantes ist eben die Sym-pathie schlechthin. Woher kommt diese Sym-pathie bei ihm? Cervantes begegnet dem Leben als einem absoluten Problem und betrachtet jede Lebensform als letzten Zweck und Wert. Und da er diesen letzten Zweck im Unendlichen findet, schließt er daraus, dass dem Unendlichen gegenüber alle Dinge ebenbürtig sind. Es existiert lediglich das Unendliche, das apeiron. Was ich aber Realität nenne, ist eine Verzerrung des Unendlichen gemäß einem spezifischen Prinzip: Die Realität ist eine Polarisierung des Unendlichen in einer bestimmten Achse, wobei das Unendliche unendlich viele Achsen hat. Ursprünglich gab es einen einzigen Stoff: das Unbestimmte und Unbedingte. Und dazu gab es eine gestaltende Form: die Einbildungs­ kraft. Das Ding an sich ist die Einbildungskraft, wie Cervantes sagen würde, und nicht der Wille. Im Leben geht es darum, das Formlose zu verzerren. Wie Cervantes weiter ausführt, würde ein Optimist Ihnen hierzu sagen, dass es sich dabei um eine Formgebung des Formlosen handelt. Ich erkenne bei Cervantes also eine Monadologie: Es gibt unendlich viele Punkte, deren Wesen eine imaginative Kraft ist. Die Welt ist ein Schauspiel – und innerhalb dieser Welt gibt es auch ein Schauspiel, das besonders schön ist. Dies ist das moralische Schau­ spiel. Beim Verstehen, im Denken und bei der Theorie geht es darum, inmitten der Verzerrungen der jeweiligen individuellen Perspektiven Informationen zu erhalten. Es geht auch darum, sich das Schauspiel, das jede innere Netzhaut aus sich selbst hervorbringt, anzuschauen, um schließlich festzustellen, dass alle Schauspiele schön sind und aus der Perspektive dieser Netzhäute einen quasi unendlichen Wert

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Text 1 Auszüge aus dem Briefwechsel mit José Ortega y Gasset

haben. Hierin bestehen die intellektuelle Sympathie und die Ironie des großen Kastiliers Cervantes. All das macht, meines Erachtens, die Grundlage des Quijote aus – jenes Buches, das die Menschen auch dann noch lesen werden, wenn sie alle anderen Bücher bereits verbrannt haben. Nachdem wir vom mathematischen Zeitalter der Zahl über das Zeitalter der Idee zum Zeitalter der Melancholie gelangt sind, werden sich wohl die Melancholiker des Jahres 3000 um ein Grammophon herum versammeln, aus dem mit der Stimme eines Zwitterwesens der harmonische Text unseres Buches vorgelesen wird – und sie werden sich auch dann noch immer für diesen Text begeis­ tern. Der Quijote zeichnet sich also dadurch aus, dass er das einzige spanische Buch ist, das nicht dogmatisch ist. Es entzieht sich dem Dogmatismus nicht durch einen Skeptizismus, wie dies etwa ein selbstgefälliger Montaigne tut, sondern gerade durch die unendliche Vervielfältigung der Dogmen: Jede Monade und jedes Ding sind ein Dogma. Und alles andere im Quijote ist nichts anderes als eine Vermutung oder ein freundlicher, aus der Erfahrung stammender und ganz persönlicher Ratschlag, den Cervantes seinen Lesern erteilt. Das positiv und tatsächlich Gegebene ist die Tracht Prügel, die der Quijote sich immerfort einfängt. Das Leben ist Schmerz – es besteht in einer Verzerrung, die durch die Einbildungskraft entsteht und einen Widerstand voraussetzt. Aber ist es nicht so, dass die Philosophen gerade nach dem Faktischen bzw. dem Gegebenen suchen? Da ist es doch! Also was ist es, das uns gegeben ist? Eine Tracht Prügel! Aber wem tat diese Tracht Prügel weniger weh? Don Quijote oder Sancho? Cervantes sagt: Auch wenn jeder von ihnen quantitativ gesehen gleich viel Prügel einsteckt, so bekommt Don Quijote letztlich doch weniger als Sancho. Man sollte Cervantes’ Metaphysik der Welt als Einbildungskraft nicht nur im Quijote suchen. Wer sich die Mühe machen will, kann gerne eine Monographie über dieses ständige Anliegen bei Cervantes verfassen. Was sonst sind der Licenciado Vidriera, der Retablo de las Maravillas und der Curioso impertinente?344 Ehrlich gesagt habe ich nie wirklich verstanden, warum Sie den Curioso impertinente in ihrem Kommentar auslassen und ihn als rein literarisches Werk betrachten. [Ortega erwähnt die Titel von drei Erzählungen der Novelas ejemplares von Cer­ vantes, welche unter verschiedenen Titeln mehrfach ins Deutsche übersetzt worden sind: Meistererzählungen: Die beispielhaften Novellen; Exemplarische Novellen; Die Novellen des Cervantes etc.]. 344

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Text 1 Auszüge aus dem Briefwechsel mit José Ortega y Gasset

Gerade dieser Teil enthält doch den Kern des Quijote: die Realität als Verzerrung der Realität und das Leben als Pose (amaneramiento). Der Schwerpunkt des Curioso liegt darin, dass dieses Problem hier auf eine reinere, entschlossenere und pessimistischere Art und Weise gelöst wird. Denn hier wird keine Wirklichkeit einer anderen Wirklichkeit vorgezogen. Alle Wirklichkeiten sind hier tragisch deshalb, weil keine als die einzige Wirklichkeit gilt, sondern als die einzige je meinige Wirklichkeit. Die Tragödie besteht darin, dass das Individuum seine eigene Wirklichkeit zur Realität werden lassen muss. Da es Realität hervorbringt, glaubt es, die Realität bzw. das Ganze zu sein. Ich kann mich beim besten Willen nicht daran erinnern, wer es genau war, der gesagt hat, Gott sei ein Pantheist. Das sich für ein Ganzes haltende Individuum stößt vielmehr mit all den anderen Individuen zusam­ men. Auf die tragische Antinomie der Übertragung des Unübertragba­ ren, von der Sie mir hier erzählen, würde Cervantes folgendermaßen antworten: Jede Ausdehnung, nur eine Ausdehnung ist Tragödie. Deshalb sind die Geltungssucht, der Proselytismus, das soziale Leben und auch die Liebe usw. eine Tragödie. Es gibt jedoch etwas, das über all diese Tragödien hinausgeht – und dieses ist der Inbegriff jeder Ausdehnung: die Unsterblichkeit der Seele.345

[Da der Brief letztlich nie abgeschickt wurde, verabschiedet sich Ortega an dieser Stelle nicht.].

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Text 1 Auszüge aus dem Briefwechsel mit José Ortega y Gasset

[Brief Miguel de Unamunos an José Ortega y Gasset vom 2. November 1911, Bilbao] Lieber Herr Don José Ortega y Gasset […] Sie fragen mich, warum ich Ihnen nicht zu Ihrer Professur gratu­ liert habe?346 Die Antwort ist: Dies verdient gar keine Gratulation! Das ist wirklich keine Kunst! Ich behalte besser meine Glückwünsche zurück, bis ich sehe, was Sie überhaupt damit anfangen können. Denn Ihr Arbeitsort ist jetzt dort, in Madrid, und nicht mehr in Marburg. Sie fragen mich über mein Leben, meine Gesundheit und meine Reisen … Meine Gesundheit ist besser denn je. Sie bereitet mir jedoch auch mehr Sorgen als je zuvor. Was meine Reisen betrifft … Ich ver­ reise überhaupt nicht, sondern bleibe hier, in Salamanca, und verdrehe mich dabei wie ein Fakir. Ich verreise nicht, weil ich keinen Ort habe, wo ich hingehen kann. Ich glaube an keine äußere Zweckmäßigkeit. Mein einziges Anliegen ist, wie Sie wissen, die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele, im mittelalterlichen Sinne des Wortes. Ich konzentriere mich voll und ganz auf den Menschen. Die Größe des Christentums besteht gerade darin, ein Kult des Menschen zu sein. Ich rede hier also vom Menschen und keineswegs von einer Idee. Es gibt keine andere Theologie als Christus selbst – er hat gelitten, ist gestorben und wieder auferstanden. Wenn unsere Erde in 10, 100, 1000 oder 100 000 Jahrhunderten ein Schneeball oder eine Handvoll menschenleerer Asteroiden sein wird, werden auch die gesamte Wissenschaft, Philosophie und Kunst usw. nichts mehr taugen. Frage: Wozu kommt der Mensch zur Welt? Antwort: Um Gott in diesem Leben zu dienen und sich seiner im ewigen Leben zu erfreuen. Es sollte besser lauten: Um sich an Gott im anderen Leben zu erfreuen, weil man ihm in diesem Leben gedient hat. 346 [Im November 1910 wurde Ortega y Gasset auf den Lehrstuhl für Metaphysik an der Universität Madrid, der heutigen Universität Complutense Madrid, berufen. Er durfte seine Professur jedoch erst ein Jahr später antreten, da er zunächst ein Stipendium für einen Forschungsaufenthalt in Marburg wahrzunehmen hatte.].

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Text 1 Auszüge aus dem Briefwechsel mit José Ortega y Gasset

Ich habe den Pharisäismus stets inbrünstig verabscheut. Weitaus mehr hasse ich nun jedoch den Sadduzäismus. […] Lassen Sie sich nicht von der Säure des Sadduzäismus verätzen. Bitte, schauen Sie sich selbst im Spiegel Ihres Sohnes an. Lassen Sie sich nicht durch den schrecklichen und pseudohaften Objektivismus bestechen. Tauchen Sie in Ihr ursprüngliches spanisches Christentum ein, auch wenn es Ihnen noch so unlogisch und chaotisch erscheint. Waschen Sie sich von jeder sadduzäischen Philosophie rein, die dazu neigt, das einzig wahre Problem aufzuheben: Memento mori! […] Adiós, adiós! Und herzliche Grüße von Miguel de Unamuno

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José Ortega y Gasset (1883–1955): Text 2 Über die Phänomenologie (1929)347

(Übersetzt von Niklas Schmich) Ich habe stets die Entschlossenheit bewundert, mit der Eugenio D’Ors348 von ihm unbekannten Dingen spricht. In der letzten Ausgabe der Zeitschrift Criterio349 gibt er uns erneut Anlass, dieser Bewunde­ rung freien Lauf zu lassen. Ich meine damit einige Absätze – zwei oder drei –, die Herrn D’Ors ausreichen, um die gesamte Phänomenologie einfach beiseitezuwischen. Als nächstes wird irgendwo zu lesen sein, dass er die Kritik der reinen Vernunft per Telegraf widerlegt hat! Vorläufig geht es jedoch nur um die Phänomenologie, die er mit der faulen Leckerei einer Glosse zu vergiften und vernichten versucht. Tatsache ist, dass es keine leichte Aufgabe ist, in noch weniger Zeilen eine noch größere Unkenntnis über ein Thema zu bekunden. Herr D’Ors hat sich von der Oberflächlichkeit mit einem Ritual reingewaschen. Diese Oberflächlichkeit betrachtet die philosophische »Logistik«, die »Phänomenologie« oder alles andere, was die Gemüter eine Zeit lang beschäftigt – denn die Gemüter beschäftigen sich immer nur temporär mit ein und derselben Sache –, als »Mode«. Nach seiner Reinwaschung von dieser Oberflächlichkeit bringt Herr D’Ors ein Argument gegen die »phänomenologische Erkenntnis« vor – diese beanspruche ihm zufolge, eine »rein konkrete Erkenntnis im traditionellen Sinne« zu sein. Warum, wo, wann und wie hat die © Herederos de José Ortega y Gasset. [Eugenio D’Ors war einer der Begründer der philosophischen Schule von Bar­ celona, auf dessen Einfluss auf die frühe Rezeption der Phänomenologie in der Einleitung zur Textauswahl hingewiesen wird. Zur langjährigen philosophischen Auseinandersetzung von Ortega und D’Ors siehe Alejandro Martínez (2013): D’Ors und Ortega frente a frente. Madrid: Editorial Dykinson.]. 349 [Der Text von D’Ors, den Ortega bespricht, erschien ursprünglich 1929 in der argentinischen Zeitschrift Criterio. Ortega bezieht sich dabei auf einen Artikel der Reihe, die D’Ors unter dem Titel »Diccionario filosófico portatil« (»Philosophisches Taschenwörterbuch«) von 1929 bis 1931 im Criterio veröffentlichte.]. 347

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José Ortega y Gasset (1883–1955): Text 2 Über die Phänomenologie (1929)

Phänomenologie etwas Derartiges behauptet? Tatsache ist, dass diese intellektuelle Methode versucht, weder mehr noch weniger konkret als jede andere Methode zu sein. Außerdem ist sie sich als Methode sehr wohl darüber im Klaren, dass ihr die eigenen Neuerungen nicht im Geringsten erlauben, auf dem Gebiet des Erkennens, das wir mit einer etwas ungeschickten Wortwahl als »konkretistisch« bezeich­ nen könnten, Fortschritte zu machen. Die Sache ist die, dass Herr D’Ors vollkommen unbekümmert »formal« und »konkret« einander gegenüberstellt, was auch zeigt, dass für ihn »abstrakt« und »formal« dasselbe bedeuten. Wenn er dann eines Tages feststellen sollte, dass das »Formale« nur eine Art des »Abstrakten« ist – und zwar eine zwischen unzähligen weiteren Arten und somit nicht einfach durch die Gattung »Abstraktion« bestimmt –, wird Herr D’Ors begreifen, dass bereits diese beiden ersten Zeilen seiner Glosse keinen Sinn ergeben. Also selbst der noch verständliche Aspekt in diesen Zeilen (»die phänomenologische Erkenntnis beansprucht, konkret zu sein«) entspricht nicht der Wahrheit. Der Leser möge hier auf die Bedeutung des folgenden Satzes achten: »Behauptungen entbehren der Wahrheit.« Es geht bei dieser Problematik also nicht darum, ob die Phänomenologie konkrete Erkenntnis ist oder nicht ist. Es ist unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich, dass es Meinungsverschiedenheiten im Hinblick auf diese Problematik gibt. Nach Herrn D’Ors beansprucht die Phänomeno­ logie, reine Erkenntnis zu sein. Herr D’Ors beurteilt damit nicht geschickt oder ungeschickt irgendeine Tatsache, sondern er behaup­ tet vielmehr, die Phänomenologie erhebe den Anspruch, konkrete Erkenntnis zu sein. Darauf entgegne ich, dass Herr D’Ors nicht einen einzigen Text der gesamten phänomenologischen Literatur wird vorweisen können, in dem dieser Anspruch sichtbar wird oder, um noch deutlicher zu sein, worin die Phänomenologie beansprucht, wie ich zuvor gesagt habe, eine konkrete Erkenntnis im Sinne der alten Disziplinen zu sein. Ein Mangel an Wahrheit ist hier kein bloßer Fehler von Herrn D’Ors. Er denkt sich für seine Leser lediglich eine nichtexistierende Tatsache aus. Indem Herr D’Ors seine Leser auf diese Weise in die Phänome­ nologie einführt, beweist er ein unbeschreibliches Maß an Kühnheit, das sich durch die gesamte Glosse zieht. Es wäre freilich ebenso falsch zu sagen, dass die Phänomenologie einen extremen und reinen Konkretismus beabsichtige, wie es falsch wäre, der philosophischen Logistik ein Streben nach reiner Abstrakt­

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José Ortega y Gasset (1883–1955): Text 2 Über die Phänomenologie (1929)

heit zuzuschreiben. Denn die Logistik wird nicht durch ein sonderba­ res Bedürfnis nach Abstraktion motiviert. Sie ist tatsächlich weniger abstrakt als fast alle anderen philosophischen Grunddisziplinen – und viel weniger noch als beispielsweise die Dialektik oder die Kategori­ enlehre. Die Logistik strebt nach Formalismus, und dazu abstrahiert sie so viel, wie sie es eben für nötig hält. Jeder Formalismus, der eine Abstraktion beinhaltet – wie ganz und gar jede Erkenntnis bis dato –, impliziert nicht ohne weiteres einen höheren Abstraktionsgrad. Das heißt also, dass der Formalismus relativ konkret sein kann. Formale Erkenntnis ist diejenige Erkenntnis, die man von einem Gegenstand hat, ohne diesen Gegenstand notwendigerweise in seiner Singularität zu erkennen. Man erkennt den Gegenstand schlicht und einfach aufgrund der Erkenntnis der Zusammenhänge, in denen er steht. Der Formalismus kennt deshalb bloß leere Beziehungen, also Formen. Die Bezugspunkte bleiben leer, um durch einfache Subsumtionen gefüllt zu werden. Diese »leeren Beziehungen« sind für die Logistik von besonderem Interesse. Herr D’Ors verwechselt hierbei jedoch die Bedeutungen von »leer« und abstrakt. Die durch einen deduktiven Eifer inspirierte Logistik hat eine lange und vornehme Geschichte. Descartes hatte eine Ahnung von ihr, als er eine mathesis universalis postulierte, und Leibniz begründete sie, um das Bedürfnis einer anschaulichen Begründung der Wahrheit sowie die durch Descartes vertretene clara et distincta perceptio zu umgehen. Seitdem hat die Logistik nicht aufgehört, sich aus Mathe­ matik und Philosophie gleichermaßen zu speisen. Um Kant entsteht die »formale Logik«, welche in England ihre symbolische Strahlkraft noch weiter ausweitet. Jenseits von Quantitäten und Zahlen ergibt sich aus der Ausweitung der Mathematik eine Annäherung an den logischen Formalismus und eine Verschmelzung mit ihm. Diese Verschmelzung ist die Logistik. Von einer Disziplin mit derartigen Wurzeln in der Entfaltung des europäischen Denkens herablassend zu sagen, sie sei eine bloße »Modeerscheinung« oder eine wundersame Laune, sieht nach außerordentlicher Dummheit aus. Aber kommen wir nun zur Phänomenologie zurück. Zu ihr hat Herr D’Ors faktisch nichts weiter als das Folgende zu sagen: Es erweist sich als unwiderlegbar, dass man den Bewusstseinsakten, aufgrund ihres Inhaltes, Objektivität zuschreibt. Diese Zuschreibung ist jedoch zugleich unbrauchbar. Wenn ich behaupte, dass ich einen schwarzen Tisch wahrnehme, dann weist der Wahrnehmungsinhalt ohne Zweifel die Existenz eines Gegenstandes auf. Er weist jedoch

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José Ortega y Gasset (1883–1955): Text 2 Über die Phänomenologie (1929)

nicht die Existenz des Tisches auf – wohl aber die Existenz des Bewusstseinsinhaltes selbst. Der Gegenstand ist dem Wechsel der äußeren Umstände unterworfen. Wenn er einmal existiert hat, wird er immer auf dieselbe Weise existieren, wie er, von den räumlichen und zeitlichen Bedingungen befreit, bereits zuvor existiert hat. In diesem Sinne kann man der Phänomenologie nicht das Recht auf die Behauptung absprechen, dass reine Phänomene Wesen sind …

Wenn Herr D’Ors über Philosophie schreibt, verwendet er Sätze und Ausdrücke, die denen eines Polizisten ähneln, der über Philosophie schreibt, ohne aufgehört zu haben, ein Polizist zu sein. Beispielsweise »weist der Wahrnehmungsinhalt ohne Zweifel die Existenz eines Gegenstandes auf«. Was ist jedoch diese »Aufweisung der Existenz eines Gegenstandes«? Herr D’Ors geht mit seiner Großzügigkeit sogar noch weiter: Man dürfe »der Phänomenologie nicht das Recht auf die Behauptung absprechen, dass reine Phänomene Wesen sind …«. Ich werde in meiner Besprechung nicht versuchen, den von philosophischer For­ schung entfernten Lesern zu erläutern, was Phänomenologie und was die reinen Phänomene sind. Lediglich Herr D’Ors ist dazu imstande, in zwei Absätzen eine derart komplexe Lehre darzulegen und überdies zunichtezumachen. Ich hingegen muss auf indirekte Bemerkungen zurückgreifen. Was sind »reine Phänomene« für diesen unberechenbaren Mann? Wir haben bereits gesehen, dass bei ihm die Bewusstseinsin­ halte selbst, wie zum Beispiel dieser schwarze Tisch, den ich wahr­ nehme, »von den räumlichen und zeitlichen Bedingungen befreit« sind. Es lässt sich nicht nachvollziehen, wie ein »Bewusstseinsinhalt« ein Gegenstand, geschweige denn ein Wesen sein kann. Denn das Bewusstsein ist schlechthin subjektiv und sein Inhalt wird es somit notwendigerweise auch sein. Es stimmt, dass die Objektivität zu Beginn des Absatzes den »Bewusstseinsakten« zugeschrieben wird. Wir wissen also nicht, wofür wir uns zu entscheiden haben – für die Bewusstseinsakte oder für die Bewusstseinsinhalte? Herrn D’Ors ist das egal – und möglicherweise hat er damit auch recht. Was wird aber der Leser denken, wenn man ihm kategorisch mitteilt, dass die gesamte Phänomenologie aus der strikten Unterscheidung ent­ standen ist, die unmittelbar vor ihrer Genese zwischen dem Bewusst­ seinsakt, dem Bewusstseinsinhalt und dem Bewusstseinsgegenstand

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gemacht wurde?350 Gemäß der Phänomenologie ist es nicht nur ein Fehler, sondern eine Absurdität, dasjenige Bewusstseinsinhalt zu nennen, wovon das Bewusstsein Bewusstsein ist – also das, dessen das Subjekt gewahr wird oder wovon es Bewusstsein hat. Das Bewusstsein beinhaltet in sich das, was zu ihm als Bestandteil dazugehört oder es reell konstituiert. Aus demselben Grund ist der Bewusstseinsinhalt nicht sein Bezugspol. Er resultiert nicht aus dem Bewusstsein und ist auch kein Gegenstand von ihm. […] Ich bestehe also darauf, hier nicht zur Diskussion zu stellen, ob die Phänomenologie eine Wahrheit ist: Ich werde die phänomenolo­ gische Lehre weder darlegen noch verteidigen; ich möchte auch die Probleme nicht aufgreifen, über welche die Phänomenologie forscht und entscheidet. Es geht mir lediglich darum, diejenigen Leser von Herrn D’Ors, welche die Phänomenologie nicht kennen, darauf hinzu­ weisen, dass auch Herr D’Ors die Phänomenologie durch und durch verkennt. In öffentlicher und intellektueller Hinsicht ist ein solcher Hinweis durchaus dringlich. Möge die Behauptung, der Bewusst­ seinsinhalt sei kein Gegenstand des Bewusstseins, auch falsch sein – so ist sie dennoch das Alpha und Omega der Phänomenologie. Und mehr noch: Ganz gleich, ob nun die These falsch ist oder nicht – es ist eine Tatsache, dass sie zumindest dazu gedient hat, bei nahezu allen gegenwärtigen Philosophen den Gebrauch des traditionellen Terminus »Bewusstseinsinhalt« – als Wurzel von Subjektivismus und Psychologismus – zu verdrängen. Die Phänomenologie beansprucht jedoch, den Psychologismus zu Grabe getragen zu haben.351 Das Werk von [Kazimierz] Twardowski, auf das Husserl sich stützt, trägt den Titel Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen, 1894. [Der vollständige Titel des Werkes von Twardowski lautet: Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen. Eine psychologische Untersuchung (1894). Wien: Alfred Hölder, K.u.k. Hof- und Universitäts-Buchhändler.]. 351 Jeden Tag neu stellte sich heraus, dass es notwendig wurde, entgegen dem jahrhundertelangen Gebrauch des Begriffs, den Gegenstand von alldem zu befreien, was ihn zu einem inneren Bestandteil des Bewusstseins machen will. Deswegen begann man, den Gegenstand vom Bewusstseinsinhalt zu trennen und ihn als »imma­ nenten Gegenstand« zu bezeichnen (so nannte ihn Husserl noch in den Logischen Untersuchungen). Danach verzichtete man auch auf den Gedanken der Immanenz und führte den »intentionalen Gegenstand« ein. Meiner Meinung nach ist auch dieser Begriff ungenügend. Es ist besonders dringlich, auch den Gegenstand mit voller Transzendenz auszustatten. Wie das möglich ist, ohne dabei in einen Realismus zu verfallen, habe ich kürzlich in einer öffentlichen Vortragsreihe in Madrid entwickelt. 350

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Das reine Phänomen besteht nicht darin, dass ich behaupte, einen »schwarzen Tisch wahrzunehmen«. Es geht nicht darum, dies zu behaupten oder nicht zu behaupten (ein weiteres Polizistenwort), sondern darum, dass ich dadurch, dass ich nicht einen, sondern diesen schwarzen Tisch wahrgenommen habe, durch einen neuen Bewusstseinsakt auf den Zustand der Wahrnehmung des Tisches zurückkommen kann und dessen auch gewahr werde. Jener Akt des Zurückkehrens auf einen vorhergehenden und primären Akt, bei dem ich dessen gewahr werde, dass ich dieser oder jener Sache gewahr wurde, nennt sich »Reflexion«. In der Reflexion wird mein primäres oder früheres Bewusstsein zum Gegenstand. Dabei geht es nicht nur um ein Bewusstsein vom »Inhalt jenes Bewusstseins«, sondern um ein Bewusstsein von jenem Bewusstsein bzw. um den Bewusst­ seinszustand oder den vollständigen Akt jenes Bewusstseins. Es geht also um nicht mehr und nicht weniger als um das cartesianische »Cogito«. Der Bewusstseinsakt, der von mir, wenn ich »Cogito« sage, zum Ausdruck gebracht wird, ist seinerseits eine cogitatio.352 Sein Sonderrecht besteht darin, dass der Gegenstand dieser cogitatio seinerseits eine cogitatio ist. Die Phänomenologie führt hier keine Neuerungen auf dem Gebiet des ehemaligen Rationalismus ein, indem sie eines seiner Merkmale auf die Spitze treibt. Denn gegenüber dem, was Herr D’Ors denkt, ist die Phänomenologie weit davon entfernt, antirationalistisch zu sein. Sie ist auch eine Wiederherstellung der reinen Logik, weswe­ gen das Buch Husserls den Titel Logische Untersuchungen trägt und in ihm auch ein Kapitel über die »Die Idee der reinen Logik« zu finden ist.353 Die radikalste Behauptung des Rationalismus besteht darin, dem Sein Identität zuzuschreiben. Wenn das Seiende durch Identität konstituiert wird, dann stimmt es mit der Konstitution des Denkens Das, was dort gesagt wurde, reicht jedoch noch nicht aus. Das Thema ist von großem Kaliber und setzt letztlich voraus, sich auf einen noch radikaleren Ausgangspunkt als die Phänomenologie zurückzubesinnen. 352 Wenn ein reflexiver Akt zum Ausdruck gebracht wird, stehen diese Worte niemals für diesen reflexiven Akt, sondern sie beziehen sich auf den primären Akt, der den Gegenstand der Reflexion konstituiert. Dass ich einen Tisch wahrnehme, drückt nicht den Akt aus, mit dem man den Tisch wahrnimmt, sondern die Reflexion über diesen Wahrnehmungsakt. Die bloße Wahrnehmung des Tisches drückt man aus, wenn man sagt: Tisch! »Da ist dieser Tisch!«. 353 [Siehe Edmund Husserl (1975): Logische Untersuchungen. Erster Band. Prolego­ mena zur reinen Logik. Husserliana Bd. XVIII. Hg. von Elmar Holenstein. Den Haag: Martinus Nijhoff, S. 230–258.].

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– also des logos oder der ratio, die ebenfalls Identität ist – überein. Leider ist alles zuhandene Seiende nicht mit sich selbst identisch, sondern, ganz im Gegenteil, veränderlich, widersprüchlich und daher irrational. Vom Standpunkt der Zeit aus gesehen, schien Identität Beständigkeit zu sein (was meiner Meinung nach schon immer ein weit verbreiteter Irrtum gewesen ist). Welche beständigen Dinge gibt es überhaupt? Der Rationalismus musste sich daranmachen, Gegen­ stände zu suchen, die der Beständigkeit fähig und unveränderlich sind. Und abgesehen vom ultrarationalen Gegenstand Gott fand der Rationalismus lediglich »Universalien«, »Begriffe«. Husserl zeigt, dass ein individueller »Inhalt«, also »dieser schwarze Tisch«, solange er reines Phänomen ist, immer mit sich selbst identisch, beständig und unveränderlich ist. In diesem Punkt befriedigt Husserl das ständige Streben des Rationalismus. Man stellt jedoch umgehend fest, dass es nicht die Identität allein ist, die dem Gegenstand Wirklichkeit zukommen lässt. Der »schwarze Tisch hier« ist irrational. Denn auch wenn er »dieser schwarze Tisch da« und nur dieser schwarze Tisch mit unerschütterlicher Identität ist, könnte er trotzdem auch anders sein. Es genügt dem reinen Phänomen »der Tisch da« nicht, dass man ihm das Attribut der Unvergänglichkeit zuschreibt, damit er ein Wesen ist. Seine Identität ist gleichzeitig beständig und kontingent. Das bedeutet jedoch noch nicht, dass dieses Phänomen notwendig und »wesenhaft« ist. Daraus folgt, dass diese phänomenologische Entdeckung dennoch nicht für einen entscheidenden Fortschritt des Rationalismus gehalten werden kann. Man ist vielmehr genötigt, zu dessen traditionellen Grundlagen und Grenzen zurückzukehren. Und diese Grundlagen sind das Allgemeine oder Universelle: das Wesen. Nichtsdestotrotz hat man etwas Bedeutendes erreicht: Zum ersten Mal verleiht die Phänomenologie dem Rationalismus, der sich zuvor auf pure Magie stützte, ein Fundament. Spätestens auf der achten Seite seiner Ideen zu einer Phänomeno­ logie sagt Husserl: Erfahrungswissenschaften sind Tatsachenwissenschaften. Die fundie­ renden Erkenntnisakte des Erfahrens setzen Reales individuell, sie setzen es als räumlich-zeitlich Daseiendes, als etwas, das an dieser Zeitstelle ist, diese seine Dauer hat und einen Realitätsgehalt, der seinem Wesen nach ebensogut an jeder anderen Zeitstelle hätte sein können; wiederum als etwas, das an diesem Orte in dieser physischen Gestalt ist (bzw. mit Leiblichem dieser Gestalt in eins gegeben ist), wo doch dasselbe Reale, seinem eigenen Wesen nach betrachtet, an jedem

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beliebigen Ort, mit jeder beliebigen Gestalt ebensogut sein könnte, desgleichen sich ändern könnte, während es faktisch ungeändert ist, oder sich in anderer Weise ändern könnte, als wie es sich faktisch verändert. Individuelles Sein jeder Art ist, ganz allgemein gesprochen, »zufällig«. Es ist so, es könnte seinem Wesen nach anders sein […]. Sagten wir: jede Tatsache könnte »ihrem eigenen Wesen nach« anders sein, so drückten wir damit schon aus, daß es zum Sinn jedes Zufälligen gehört, eben ein Wesen, und somit ein rein zu fassendes Eidos zu haben, und dieses steht nun unter Wesens-Wahrheiten verschiedener Allgemeinheitsstufe. Ein individueller Gegenstand ist nicht bloß über­ haupt ein individueller, ein Dies da!, ein ehemaliger, er hat als »in sich selbst« so und so beschaffener seine Eigenart, seinen Bestand an wesentlichen Prädikabilien, die ihm zukommen müssen, damit ihm andere, sekundäre, relative Bestimmungen zukommen können. So hat z. B. jeder Ton an und für sich ein Wesen und zu oberst das allgemeine Wesen Ton überhaupt oder vielmehr Akustisches überhaupt – rein verstanden als das aus dem individuellen Ton (einzeln, oder durch Vergleichung mit anderen als »Gemeinsames«) herauszuschauende Moment. Ebenso hat jedes materielle Ding seine eigene Wesensartung und zu oberst die allgemeine Artung »materielles Ding überhaupt« mit Zeitbestimmung-überhaupt, Dauer-, Figur-, Materialität-überhaupt. Alles zum Wesen des Individuum Gehörige kann auch ein anderes Individuum haben, et cetera, et cetera.354

Hieraus ergibt sich, dass der »Inhalt« einer Wahrnehmung niemals ein Wesen ist, sondern das am meisten Entgegengesetzte, was sich von einem Wesen denken lässt: ein Individuum. Das Individuelle ist das Nicht-wesensmäßige. Dies wusste bereits Platon und dieser gab es an Aristoteles weiter. Diesbezüglich führte die Phänomenologie keinerlei Neuerungen ein: Sie ist zwar eine »Modeerscheinung«, jedoch auch eine der ausdauerndsten und am tiefsten verwurzelten »Modeerscheinungen« der Menschheit. Sie ist seit jeher eine der in der Menschheitsgeschichte verwurzeltsten und beharrlichsten »Modeerscheinungen«. Bekannt ist sie unter dem Titel des Platonis­ mus.

354 [Es wurde hier das Originalzitat Husserls verwendet. Edmund Husserl (1976): Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch: Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie. Husserliana Bd. III/1. Hg. von Karl Schuhmann. Den Haag: Martinus Nijhoff, S. 12–13. Die Kursivierungen in dem Textteil wurden von Ortega vorgenommen und vom Übersetzer auf den Origi­ naltext Husserls appliziert.].

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Gegenüber dem gattungsmäßigen Wesen »Möbelstück« stellt das spezifische Wesen »Tisch« eine Konkretheit dar. Das spezifische Wesen ist in Bezug auf das gattungsmäßige Wesen, das seinerseits in Bezug auf das spezifische Wesen abstrakt ist, konkret. Da jedoch das Wesen »Tisch« letztlich eine Art und deshalb universell ist, versteht es sich ganz von selbst, dass es auch hinsichtlich des einzig authentisch Konkreten, des Individuums – d. h. der Tisch, den ich vor mir sehe – abstrakt ist. Die Phänomenologie beabsichtigt nichts anderes, als Wesenserkenntnis zu sein. Jedes Wesen ist, schon aufgrund seiner Wesenhaftigkeit, ein Abstraktum. Nachher zu behaupten, dass die Phänomenologie »uns eine konkrete Erkenntnis hat bieten wollen«, wäre eine Dummheit, sofern es sich hierbei nicht schlicht um bloße Ignoranz handelt. Die Phänomenologie hält bei der niedrigsten Spezies inne – diese ist für sie das Konkrete. Jenseits dieser niedrigsten Spezies ist keine rationale Erkenntnis mehr möglich, da sie der letzte Gegen­ stand ist, dessen Bestandteile oder Merkmale sich notwendigerweise gegenseitig voraussetzen. Fügen wir dieser niedrigsten Spezies neue Merkmale hinzu, die sie individualisieren (das heißt, zerlegen wir sie in das, was wir heute Individuen zu nennen pflegen), dann würden wir das Unteilbare teilen, das eigentlich keine rational kohärenten Variationen mehr duldet. Daher bezeichnet Platon die niedrigste Spezies als ἄτομον εἶδος – die unteilbare oder »individuelle« Spezies. Aus dem ἄτομον εἶδος macht Aristoteles dann eine substanzielle Form, die allgemeingültigen Charakter hat, Gegenstand rationaler Erkenntnis ist und sich von der singulären Substanz insofern unter­ scheidet, als dass sie von Aristoteles als δευτέρα οὐσία bzw. ἡ κατὰ τῶν λόγων οὐσία bezeichnet wird. Diese οὐσία übersetzen die Scholastiker vernünftigerweise mit »Wesen«. Von Husserl wiederum wird dieser Begriff mit einer Verallgemeinerung wiederbelebt, um ihn von seinem Substanzcharakter zu befreien. Die Doktrin Husserls ist von äußerster Einfachheit […]. Anstatt mich mit der Wahrnehmung des schwarzen Tisches zu begnügen, der mich an einen realen, von mir unabhängigen Gegenstand glauben lässt, reflektiere ich über meine Wahrnehmung. Und sobald ich die Wahrnehmung nicht mehr als solche oder als subjektiven Akt annehme, hört auch ihr Gegenstand (der schwarze Tisch) auf, dem Vollzug gemäß, real zu sein – er wird zu einem reinen Phänomen. Demnach wird alles, was den Gegenstand der bloßen Wahrnehmung und daher auch seine Wirklichkeit und Individualität

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konstituierte, zu einem reinen Phänomen. Es handelt sich hierbei schlicht um denselben Fall, wie bei der Bewusstwerdung einer inneren Halluzination: Der halluzinatorische Gegenstand bleibt samt all sei­ ner Attribute, einschließlich seiner »scheinbaren« Wirklichkeit, vor mir bestehen, nur dass ich diese Wirklichkeit jetzt, nach Einsicht in die Illusion, entkräfte und all die Attribute als reine Erscheinungen, als Phänomene im strengen Sinne und nicht für tatsächliche Wirklichkei­ ten nehme. Sobald es sich hierbei um ein reines Phänomen handelt, ist »dieser schwarze Tisch«, mit seiner eigenen Zeit und seinem eige­ nen Raum, bereits invariabel und unzerstörbar. Jedoch ist das reine Phänomen, das nun der schwarze, wahrgenommene Tisch ist, bei weitem kein Wesen. Wenn dem so wäre und die Gegenstände der Wahrnehmungen in irgendeinem Sinne Wesenheiten wären, würden die Phänomenologie, die Philosophie, die Wissenschaften und das Denken gänzlich überflüssig werden. Die Wahrnehmung wäre eine apodiktische Tätigkeit. Dem ist jedoch nicht so. Ich muss das Wesen aus dem reinen Phänomen, das der wahrgenommene Tisch ist, extra­ hieren. Und das Individuum, das stets allgemein ist (wie jedermann weiß, außer Herr Ors, der etwas anderes argwöhnt oder vermutet), muss das Eidos destillieren. Hätte dieser Herr während des Schreibens wenigstens minimal seinen Verstand eingesetzt, wäre ihm die Einfäl­ tigkeit bewusst geworden, die es bedeutet, die Zusammensetzung der Merkmale »schwarz« und »Tisch« als etwas Wesenhaftes anzusehen. Bei dem Vergleich des »reinen« Phänomens »schwarzer Tisch« mit dem reinen Phänomen »weißer Tisch« und »grüner Tisch« stoße ich sofort darauf, dass eines dieser Elemente (der Tisch) invariabel bleibt, während sich das andere Element (die Farben) verändert. Und dann, genau dann, löst sich das Wesentliche von dem indivi­ duellen, wahrgenommenen Gegenstand ab. Sein Wesen wird von ihm abstrahiert. Dieses Wesen ist ein neuer Gegenstand und zudem ein reines Phänomen, da es nicht vom Geist in einen individuellen Gegenstand gesetzt, sondern umgekehrt von ihm lediglich extrahiert und isoliert wurde. Da dieses Wesen jedoch ein nicht-individueller Gegenstand und, strenggenommen, anti- oder kontra-individuell, das heißt, »allgemein« ist, kann es nicht der Bezugspunkt einer indi­ viduellen Wahrnehmung oder Anschauung, sondern lediglich einer »Wesensanschauung« oder einer »eidetischen« Anschauung sein. An dieser Stelle würde Herr D’Ors mit seiner seltsamen Terminologie,

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die der eines Cro-Magnon-Menschen gleichkommt, von »Inhalt« sprechen … Auf der zehnten Seite seines Buches sagt Husserl: »Das Wesen (Eidos) ist ein neuartiger Gegenstand. So wie das Gegebene der indi­ viduellen oder erfahrenden Anschauung ein individueller Gegenstand ist, so das Gegebene der Wesensanschauung ein reines Wesen.«355 Es gibt nichts Elementareres in der Phänomenologie. Wie man sieht, handelt es sich hierbei um den ersten Absatz in Husserls Buch, der für die Phänomenologie maßgeblich ist. Wie erklärt sich der Leser, dass ein vor Ignoranz in Bezug auf alle philosophischen Rich­ tungen strotzender Herr D’Ors die Unverschämtheit begehen bzw. Lächerlichkeit besitzen kann, die Phänomenologie dem Untergang zu weihen? Dieser Autor spielt sich mit grotesken Allüren auf, um eine ihm folgende inexistente Menschenmenge ideologisch zu leiten wollen – welche auch immer das sein soll. Letztlich ist diese Tatsache viel zu verschroben und krankhaft, um nicht schärfere Überlegungen anzustoßen. Welche Form von Intellektualität muss in einem Land herrschen, in dem ein Autor von angeblich großartigem Format Absätze wie die in dieser Glosse verfassten überhaupt schreiben kann? Man sollte sich keine falschen Illusionen machen: etwas Derartiges passiert nur dort, wo keinerlei authentisches Geistesleben, sondern nur ein unbewusstes und läppisches Durcheinander von ländlichem Tonfall herrscht; wo alles auf dasselbe herauskommt; und wo man weiß, dass kaum jemand auch nur eine ungefähre Vorstellung von den Themen und Gedanken hat, über die man nachdenkt. Genau dies ist der Fall in Spanien und Hispanoamerika. Und deshalb ist in solchen Ländern ein Vorhaben, wie das von Herrn D’Ors, überhaupt möglich. Wie kann es sein, dass dieser Herr dennoch die Leichtsinnigkeit oder den Zynismus besitzt, sich in derselben Glosse ausschweifend auf seine Integrität zu berufen, in der er dem nur wenige Zeilen später, auf eine ebenso offensichtliche wie grobe Art und Weise, widersprechen wird? Wir wollen niemandem verbieten, frei und wie er will seine Meinung zu äußern. Es geht hierbei eher um Punkte, die eben nicht diskutabel sind. Weder erkläre noch verteidige ich in diesen Absät­ zen die phänomenologische Doktrin. Ich beschränke mich lediglich [Ebd., S. 14. Der Verweis Ortegas bezieht sich auf die Originalpaginierung in Edmund Husserl (1913): Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologi­ schen Philosophie. In: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. I, S. 1–324, hier S. 10–11.].

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darauf, festzustellen, dass die ihr von Herrn D’Ors zugeschriebenen Thesen falsch sind. Diese Falschheit lässt sich jedoch keineswegs als Irrtum bezeichnen. Denn sie bezieht sich auf elementarste Sachver­ halte, die keinen Interpretationsspielraum zulassen. Es ist nicht nötig, die Phänomenologie zu kennen, um ein gebildeter Mensch oder ein Intellektueller zu sein. Mehr noch: Man kann die Phänomenologie als Philosoph sogar ignorieren, selbst wenn man dabei Gefahr läuft, ein zurückgebliebener Philosoph zu sein, der sich dagegen verschließt und unfähig ist, die Probleme auf der Höhe der Zeit zu betrachten. Die »Höhe der Zeit« ist keine einfache Sentenz, sondern eine historische Kategorie, die zugleich ein Imperativ ist. Die Lebenszeit des Menschen ist ein Imperativ, weil sie eine Höhe in der Entwicklung der einzigartigen Wirklichkeit darstellt, die wir »menschliches Leben« nennen. Man lebt und man ist demnach in einer Zeit, die niemals irgendeine Zeit ist, sondern immer schon eine bestimmte, notwendige und ausschließliche Zeit: es ist diese, diese jetzige Zeit. Deshalb ist es eine Pflicht, sich auf der Ebene der Zeit zu bewegen und auf der Höhe der Zeit zu leben. Im wissenschaftlichen, politischen oder künstlerischen Leben, also wenn der Mensch Wissenschaftler, Politiker oder Künstler ist, steigert sich dieser Imperativ und zwingt diesen Menschen, seine Zeit wie ein Schwamm aufzusaugen, um von ihr ausgehend denken und schaf­ fen zu können. Wir müssen daher in unserer Person die sonderba­ ren, einzigartigen und unübertragbaren Möglichkeiten, die jede Zeit beinhaltet, entwickeln und wahrnehmen. Jede Zeit ist diese Vielzahl an Möglichkeiten. Jede Zeit birgt Möglichkeiten, die sich andernfalls nicht verwirklichen würden, wie Löcher einer transzendenten Leere in der höchsten Wirklichkeit des »menschlichen Lebens«. Jeder, der in Europa ernsthaft philosophisch arbeitet, weiß (abgesehen von seiner persönlichen Leistung), dass die philosophische »Logistik« und die »Phänomenologie« Möglichkeiten ersten Ranges und grund­ legende Entdeckungen unserer Zeit sind. Diese Möglichkeiten nicht zu kennen, verurteilt denjenigen Geist, der philosophische Techniken berücksichtigen will, unvermeidbar zur Unterlegenheit. Dessen ungeachtet gestehe ich, dass die Kenntnis der Phänome­ nologie für einen gegenwärtigen Philosophen womöglich angemes­ sen, jedoch beileibe nicht notwendig ist. Nur für eine Sache drängt sich diese Notwendigkeit unweigerlich auf: um über die Phänomenologie und, mehr noch, gegen sie zu sprechen. Eine Kenntnis der Phänome­ nologie ist umso wichtiger, wenn man versuchen will, sie in nur zwei

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Absätzen zu beseitigen. Ansonsten würde es sich dabei um eine bloße Anprangerung der Phänomenologie handeln. Wo es eigentlich kein intellektuelles Leben gibt, wie in Spanien und Hispanoamerika, ist Polemik am wenigsten angebracht. Aus diesem Grund habe ich seit jeher versucht, der Polemik aus dem Weg zu gehen. Ich lehne ihren einzig nennenswerten Wirkungskreis ab: die Belustigung von zwei Dutzend Stammtischen, wo der Intellekt unserer Rasse tagtäglich herabgewürdigt wird. […]

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(Übersetzt von Guillermo Ferrer und Niklas Schmich) Das Theater ist […] nicht so sehr eine literarische Gattung als vielmehr eine Gattung des Spektakels und der Vorstellung (visiona­ rio). Schon bald wird sich zeigen, in welch strengem und äußersten Sinne dies gemeint ist. Das Theater tritt nicht innerhalb unserer selbst auf wie andere literarische Gattungen (das Gedicht, der Roman, der Essay), sondern außerhalb unserer selbst. Wir müssen aus uns selbst und quasi aus unserem eigenen Haus herausgehen, um eine Aufführung zu besuchen. […] Was sehen wir aber auf der Bühne? Wir sehen beispielsweise den Saal eines Schlosses, genauer gesagt eines mittelalterlichen Palastes im Norden Europas, der sich weit über einen Park in Helsingør erstreckt.357 Wir sehen das Ufer eines Flusses, der langsam und trist dahingleitet. Wir sehen Bäume, die sich mit vager Schwere über Gewässer beugen. Und wir sehen Birken, Pappeln und Trauerweiden, die ihre Zweige hängen lassen. Meine Damen und Herren, sieht die Trauerweide nicht aus, als sei sie dessen müde, ein Baum zu sein? Wir sehen ein vor Angst zitterndes Mädchen, das Blumen und Gräser im Haar, auf ihrem Kleid und in ihren Händen trägt. Es geht zögerlich, mit bleichem Gesicht, und richtet seinen Blick auf einen weit entfernten Punkt, als ob es über den Horizont hinaus, dorthin, wo es keine Sterne gibt, dennoch zu dem schönsten Stern, der aber gar kein Stern ist, hinaufsehen würde. Dieses Mädchen ist Ophelia, die geisteskranke und traurige Ophelia – und sie wird zum Fluss hinuntergehen. Der Ausdruck »zum Fluss hinuntergehen« ist

© Herederos de José Ortega y Gasset. [Ortega macht hier eine Anspielung auf die Stadt Helsingør im Nordosten von Dänemark, die auch als Schauplatz von Shakespeares berühmter Tragödie Hamlet bekannt ist.]. 356

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Text 3 Die Idee des Theaters (1946)

ein Euphemismus, mit dem man im Chinesischen sagt, dass jemand stirbt. Das ist es, was wir sehen, meine Damen und Herren. Aber nein, das ist nicht das, was wir sehen! Sind wir etwa, einen Augenblick lang, einer optischen Täuschung unterlegen? Was wir nämlich tatsächlich sehen, das sind lediglich gefärbte Leintücher oder Kartonpappe. Und auch der Fluss ist kein Fluss, sondern nur Malerei. Die Bäume sind keine Bäume, sondern Farbtupfer. Und Ophelia ist nicht Ophelia, sondern … Marianinha Rey Colaço.358 Worauf einigen wir uns jetzt? Sehen wir das eine oder doch das andere? Was haben wir also dort, auf der Bühne, tatsächlich vor Augen? Es besteht kein Zweifel, dass wir dort, auf der Bühne, beide vorfinden: sowohl Marianinha als auch Ophelia. Aber merkwürdi­ gerweise finden wir sie nicht so vor, als ob es sich dabei um zwei Menschen, sondern so, als ob es sich lediglich um einen Menschen handeln würde. Es wird uns die Marianinha »präsentiert«, die Ophelia »re-präsentiert«. Das heißt, dass die Dinge und Personen auf der Bühne uns präsent sind, insofern sie andere Dinge oder Personen als sich selbst repräsentieren. Meine Damen und Herren, all dies ist wahrlich großartig! Denn die äußerst trivialen Tatsachen, die sich in den Theatern die­ ser Welt tagtäglich abspielen, sind wahrscheinlich das sonderbarste und außergewöhnlichste Abenteuer, das dem Menschen widerfahren kann. Ist es nicht sonderbar und außergewöhnlich, dass Männer und Frauen in Lissabon heutzutage, im Jahre 1946, auf ihren Logen- und Parkettplätzen des Doña-María-Theaters sitzen können, während sie zugleich Ophelia in dem sechs oder sieben Jahrhunderte zuvor angesiedelten und in Nebel gehüllten Dänemark, neben dem Fluss des Parks, der den königlichen Palast umgibt, wie ein totenblasses Flämmchen mit leichtem Schritt daher wandeln sehen? Wenn dies nicht außergewöhnlich und phantastisch ist, dann weiß ich nicht, was sonst auch nur annähernd so außergewöhnlich und phantastisch sein könnte. Präzisieren wir die Szene noch ein wenig: Marianinha überquert ziellos die Bühne. Sie ist erstaunlicherweise da, ohne da zu sein. Sie ist im Begriff zu verschwinden, ganz als ob sie sich selbst wegzaubern könnte, damit sich Ophelia in dieser Leerstelle ihrer vortrefflichen 358 [Bei Marianinha handelt sich um die Tochter der berühmten Schauspielerin des Doña-María-Theaters Amélia Rey Colaço de Robles Monteiro. Marianinha debütierte nur wenige Tage, nachdem Ortega den hier übersetzten Vortrag gehalten hatte.].

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Text 3 Die Idee des Theaters (1946)

Leiblichkeit einquartiert. Die Wirklichkeit einer Schauspielerin als solcher besteht darin, ihre eigene Wirklichkeit zu verleugnen und diese durch die Figur, die sie repräsentiert, zu ersetzen. Re-präsentie­ ren bedeutet, dass die Präsenz des Schauspielers nicht dazu dient, sich selbst, sondern ein von ihm verschiedenes Seiendes zu präsentieren. Marianinha verschwindet als Marianinha, weil Ophelia sie verdeckt bzw. verhüllt. Ebenso werden die Bühnenausstattungen durch einen Park und einen Fluss verdeckt bzw. verhüllt, sodass das, was nicht real ist, nämlich das Irreale (Ophelia und der Park des Palastes), die Fähigkeit und Magie besitzt, das Reale verschwinden zu lassen. Wenn Sie darüber reflektieren, was Ihnen als Zuschauern in einer Vorstellung geschieht, und dies auch versuchen, zu beschreiben, dann werden Sie, um auf unsere Ausgangsfrage zurückzukommen, Folgen­ des feststellen: Zunächst oder im Vordergrund stoßen wir auf Ophelia und einen Park, dahinter oder gewissermaßen im Hintergrund auf Marianinha und einige bemalte Stoffe. Man könnte sagen, dass die Realität in den Hintergrund rückt, damit das Irreale, wie ein Art Schimmer, durch sie hindurchscheinen kann. Auf der Bühne finden wir also verschiedene Dinge, die die Gabe der Transparenz besitzen: Theaterrequisiten und Menschen (die Schauspieler). Wie durch ein Glas scheinen durch sie andere Dinge hindurch. Wir können diese Tatsache nun verallgemeinern und präzisieren, dass es in der Welt Wirklichkeiten gibt, die dazu fähig sind, uns andere Wirklichkeiten als sie selbst zu präsentieren. Wir bezeichnen diese Wirklichkeiten als Bilder. Ein Gemälde ist beispielsweise eine »Bildwirklichkeit« (realidad imagen). Das Gemälde hat nicht mal einen Meter Länge und noch weniger Höhe und dennoch sehen wir in ihm eine kilometerweite Landschaft. Ist das nicht phantastisch? Das Stückchen Land mit seinen Bergen, Flüssen und der Stadt steht dort wie verzaubert. Auf nur einem Meter entdecken wir mehrere Kilometer Landschaft und anstatt eines Leinentuches mit Farbtup­ fern erkennen wir den Tajo, Lissabon und das Dorf Monsanto. Das »Gemälde«-Ding, das an der Wand unseres Hauses hängt, verwandelt sich fortwährend in den Tajo, in Lissabon und in dessen Hügel. Das Gemälde ist Bild, weil es eine ständige Metamorphose ist. Und auch das Theater ist eine Metamorphose bzw. eine wundersame Transfigu­ ration. Ich hätte gerne, dass Sie sich über diese äußerst trivialen Tat­ sachen, die uns tagtäglich im Theater geschehen, in Bewunderung versetzen. Platon machte die Feststellung, dass Erkenntnis aus der

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Fähigkeit entspringt, überrascht werden zu können und darüber zu staunen bzw. uns darüber zu wundern, dass die Dinge genauso so sind, wie sie sind. Was wir von unserem Logenplatz aus sehen, sind Bilder in folgendem Sinne: Jede imaginäre Welt und jede Theaterbühne sind, wie unbedeutend sie auch sein mögen, immer ein Berg Tabor, ein Ort der Verklärung. Die Bühne des Doña-María-Theaters ist immer dieselbe: Sie ist nur wenige Meter lang, hoch und tief und sie besteht aus einigen Brettern in irgendwelchen beliebigen Mauern. Mit wenigen Worten, sie besteht aus einem sehr trivialen Stoff. Rufen Sie, meine Damen und Herren, sich aber einmal all die unzähligen Dinge ins Gedächtnis, die dieser kleine Raum und dieses dürftige Material bereits für Sie gewesen sind. Der Raum war mal ein Kloster, mal eine Schäferhütte, ein Palast und ein Garten, die Gasse einer Altstadt und die Straße einer Neustadt oder eine Festhalle. Mit dem Schauspieler passiert das­ selbe. Ein und derselbe Schauspieler ist für uns unzählige Menschen zugleich gewesen: sowohl König als auch Bettler, sowohl Hamlet und als auch Don Juan. Die Bühne und der Schauspieler sind die allgemeine, verkörperte Metapher und das Theater ist Folgendes: sichtbare Metapher. Was ist aber das Metaphorische? Nehmen wir die simpelste, älteste und am wenigsten erlesene Metapher von allen Metaphern als Beispiel. Sie besteht darin zu sagen, die Wange eines Mädchens sei wie eine Rose. Das Wort »Sein« bedeutet im Allgemeinen Wirklichkeit. Wenn ich sage, dass der Schnee weiß ist, dann gebe ich zu verstehen, dass die Wirklichkeit Schnee jene reale Farbe, die wir das Weiß nennen, wirklich besitzt. Was bedeutet aber das Wort Sein, wenn ich sage, dass die Wange eines Mädchens eine Rose ist? […] Stellen Sie sich einmal einen bescheidenen Verliebten vor, dessen Vorstellungskraft gerade dazu reicht, zu sagen, die Wange seiner Geliebten sei eine Rose. Und stellen Sie sich einmal vor, dass sich dadurch die Wange des Mädchens plötzlich in eine Rose verwandeln würde. Wie furchtbar, nicht wahr? Der Unglückliche würde sich erschrecken und sagen, dass er all dies nicht so gemeint habe. Es sei nur ein Scherz und das Rose-Sein der Wange nur metaphorisch gemeint gewesen. Es sei kein Sein im Sinne des Realen, sondern des Irrealen. Deswegen gebraucht man in einer Metapher meistens den Ausdruck wie und sagt: Die Wange ist wie eine Rose. Das Wie-sein ist

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kein reales Sein, sondern ein »Als-ob-Sein«, ein »quasi-Sein«; es ist die Irrealität als solche. Nun gut, was passiert aber dann bei einer Metapher? Es passiert Folgendes: Es gibt die reale Wange und die reale Rose. Wenn man die Wange metaphorisiert oder in eine Rose verwandelt, muss die Wange aufhören, Wange zu sein, und auch die Rose muss aufhören, Rose zu sein. Insofern beide Wirklichkeiten in der Metapher identifiziert werden, stoßen sie zusammen und heben sich gegenseitig auf bzw. neutralisieren und entmaterialisieren sich. Die Metapher wird zur geistigen Atombombe. Das Ergebnis aus der Vernichtung dieser beiden Wirklichkeiten ist eben genau diese neue und wunderbare Sache: die Irrealität. Indem wir Wirklichkeiten zusammenstoßen und sie sich gegenseitig aufheben lassen, erhalten wir wunderbare Gestalten, die in keiner Welt existieren. Um die Misere der vorherigen Metapher zu kompensieren, werde ich als Beispiel nun an eine andere schöne Metapher von einem jungen katalonischen Dichter erinnern. Über eine Zypresse sagt dieser Dichter, sie sei »wie der Geist einer toten Flamme«. Das Wie-sein ist Ausdruck der Irrealität. Die Sprache hat jedoch ziemlich lange gebraucht, bis sie diese Formel für sich entdeckte. Max Müller wies darauf hin, dass in den religiösen Dichtungen Indiens, den Veden, von denen manche die ältesten literarischen Texte der Menschheit sind, die Metapher nicht etwa durch die Formel »eine Sache ist wie eine andere« zum Ausdruck kommt, sondern eher durch eine Negation. Dies zeigt, dass ich recht hatte, als ich behauptete, dass zwei Wirklichkeiten sich gegenseitig leugnen bzw. vernichten müssen, damit Irrealität erzeugt und hervorgebracht wird. In der Tat bemerkte Max Müller, dass vedische Dichter, wenn sie darauf hinaus­ wollen, dass ein Mann so stark wie ein Löwe sei fortis non leo sagen. Der Mann ist zwar stark, aber kein Löwe. Und um auszudrücken, dass ein Charakter so hart ist wie Stein, sagt der Dichter: durus non rupes. Er ist zwar hart, jedoch kein Stein. Ist ein Mensch so gut wie ein Vater, so wird er sagen: bonus non pater. Er ist zwar gut, aber wohlgemerkt kein Vater. Nun gut, meine Damen und Herren, dasselbe passiert im Theater – es ist das »Als-ob« und die verkörperte Metapher. Somit ist das Theater eine zweideutige Wirklichkeit: Sie besteht aus zwei Wirk­ lichkeiten, die sich wechselseitig verleugnen, und zwar aus der des Schauspielers und aus der der Figur des Dramas. Der Schauspieler muss eine Zeit lang aufhören, der reale Mensch zu sein, den wir

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kennen. Und auch Hamlet darf tatsächlich nicht der reale Mensch sein, der er einmal war. Es ist notwendig, dass weder der eine noch der andere real sind und dass sie sich fortwährend entwirklichen und neutralisieren. Damit bleibt lediglich das Irreale als solches, d. h. das Imaginäre, die reine Phantasmagorie, übrig. Die Duplizität, zugleich Realität und Irrealität zu sein, ist jedoch ein unbeständiger Faktor. Wir gehen immer das Risiko ein, entweder bei der Realität oder aber bei der Irrealität zu bleiben. Der schlechte Schauspieler fügt uns Leid zu, weil er uns nicht davon überzeugen kann, dass er Hamlet ist. Vielmehr sehen wir immer den glücklosen Hinz und Kunz, von dem Hamlet gespielt wird. Umgekehrt gelingt es den leichtgläubigen und volkstümlichen Leuten nicht, sich in diese »informelle«, metaphorische und irreale Welt angemessen hin­ einzuversetzen. Wir alle erinnern uns daran, wie unsere alte und leichtgläubige Bedienstete vom Lande eines Tages ins Theater ging und uns ihre Eindrücke schilderte. Ziemlich schnell konnte man feststellen, dass sie die Ereignisse auf der Bühne für wirklich gehalten hatte. Sie wollte sogar den Schauspieler davor warnen, dass die Feinde ihn töten würden, sollte er nicht von der Bühne verschwinden. Die Phantasmagorie verfestigt sich und schlägt sich in Halluzina­ tionen nieder, wenn die Seele des Zuschauers instabil ist – sei es auch nur minimal. Um einen Gegenstand auf eine gewisse Distanz zu sehen, müs­ sen die Augenmuskeln durch die sogenannte »Akkommodation« die Augen dem Gegenstand anpassen. Genauso muss sich unser Geist einzustellen wissen, um die imaginäre Welt des Theaters sehen zu können. Es ist dies eine virtuelle Welt, d. h. Irrealität und Phantasma­ gorie. Es gibt Leute, die wie unsere alte Bedienstete aufgrund ihrer Unkultiviertheit dazu nicht fähig sind. Es gibt aber auch vielerlei andere Ursachen, die eine eigentümliche Blindheit für das Phantas­ magorische hervorrufen können. […] Wir befinden uns in einem kastilischen Dorf in La Mancha und sind in der großen Küche eines Gasthofes. Fast das ganze Dorf hat sich dort versammelt, weil der Puppenspieler Meister Pedro mit seinen Marionetten eine Aufführung geben wird. In einer finsteren Ecke sieht man undeutlich die unglaubwürdige, schlaksige, abgemagerte und unansehnliche Gestalt Don Quijotes. In seinen Augen funkelt ein ewiges Fieber inopportunen Heldentums.

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Die Marionetten führen auf, wie der französische Ritter Don Gaiféros, der Cousin Rolands und Vasall von Karl dem Großen, seine Gemahlin Melisendra befreit. Sie war jahrelang eine Gefangene der Mauren in Zaragoza. Don Gaiféros ist die Befreiung gelungen und er führt Melisendra rittlings auf der Kruppe seines Pferdes mit sich. Sie galoppieren bereits voller Glück in Richtung des süßen Frankreich. Die Mauren bemerken dies jedoch und eilen den beiden scharenweise nach. Als sie sich nähern, scheint es unmöglich, ihnen zu entkommen! Dann schreibt Cervantes: Als Don Quijote so viel Mohrengetümmel, so viel Hatz und Rabatz sah und hörte, hielt er es für erforderlich, den Fliehenden beizuspringen, stand auf und rief lauthals: »Solang noch Atem in mir ist, lass ich nicht zu, dass man in meiner Gegenwart einem so trefflichen, so kühnen Liebenden wie dem Don Gaiféros mit solcher Übermacht Gewalt antut. Haltet ein, schändliches Gelichter, jagt und hetzt ihn nicht länger, wo nicht, seid ihr im Zwist mit mir!« Gesagt, getan, er zog sein Schwert, war in einem Satz neben der Puppenbühne und ließ in rasender, beispielloser Wut Hiebe auf den Mohrenpuppentrubel niederregnen, fällte die einen, köpfte die ande­ ren, zerschlug diesen, zerpaukte jenen, holte über dem Kopf aus und ließ sein Schwert so gewaltig niedersausen, dass er Meister Pedros Kopf, hätte dieser sich nicht geduckt, gebückt und gekrümmt, mit Leichtigkeit vom Rumpf getrennt hätte, als wäre er aus Marzipan.359

Nachdem sich der Wahnsinn des guten Don Quijote verflüchtigt hat, weist Meister Pedro ihn auf den Schaden hin, den seine unangebrachte Heldentat verursacht hat. Er zeigt Don Quijote die zu Boden gewor­ fenen restlichen Stücke und Scherben der Puppen, die zu Opfern der Halluzination seines Schwertes geworden sind. Und dann sagt Don Quijote mit der edelmütigen Ruhe und gewohnheitsmäßigen Erhabenheit, von der alle Menschen Gebrauch machen, die von ihrem Schicksal gelenkt werden: »Jetzt bin ich vollends davon überzeugt«, sagte da Don Quijote, »was ich so oft vermutet habe: Die Zauberer, die mich verfolgen, führen mir die Dinge in ihrer wahren Gestalt vor Augen und verwandeln und vertauschen sie dann, in was sie wollen. Ich versichere euch aus tiefstem 359 [Zitiert nach der deutschen Neuübersetzung des Klassikers von Miguel de Cer­ vantes Saavedra (2016): Der geistvolle Hidalgo Don Quijote von der Mancha. Gesamt­ ausgabe in einem Band. Hg. und übersetzt von Susanne Lange. München: DTV, S. 236 (Teil II).].

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Herzen, Herrschaften, die ihr hier zugegen seid, dass sich mir alles, was sich hier begab, wahrhaftig zu begeben schien: dass Melisendra Meli­ sendra sei, Don Gaiféros Don Gaiféros, Marsilio Marsilio und Karl der Große Karl der Große. Deshalb ist der Zorn mit mir durchgegangen, und um meiner fahrenden Ritterpflicht nachzukommen, wollte ich den Fliehenden Beistand und Hilfe bringen, und in dieser guten Absicht tat ich, was ihr saht. Ging es in die Brüche, bin nicht ich daran schuld, sondern die Bösewichte, die mich verfolgen. Dennoch will ich mich angesichts meines Irrtums, auch wenn es ohne bösen Willen geschah, zum Schadenersatz verurteilen. Mag Meister Pedro sagen, was er für die zerschlagenen Figuren will, ich werde es sogleich bezahlen, in guter, barer Münze, wie sie in Kastilien gültig ist.«360

Meine Damen und Herren, an dieser Stelle wird ein erster Aspekt der oben erwähnten Duplizität offenkundig. Der Saal und die Thea­ terlogen werden durch die Bühnenöffnung separiert – sie ist die Grenze zwischen beiden Welten: einerseits der Welt des Zuschauer­ raums, wo wir die Wirklichkeit, die wir sind, letztlich beibehalten; und andererseits die imaginäre und phantasmagorische Welt der Theaterbühne. Diese imaginäre und phantastische Umwelt, in der Irrealität geschaffen wird, hat eine viel feinere Atmosphäre als die des Zuschauerraums. In beiden Räumen gibt es verschiedene Höhen eines atmosphärischen Druckes der Realität. Und so wie in der tatsächlichen Atmosphäre, die wir einatmen, der Druckunterschied einen Luftzug verursacht, der von dem Ort mit höherem Druck zu dem Ort mit niedrigerem Druck zieht, so saugt die Bühnenöffnung die Realität des Publikums in Richtung Irrealität der Bühne. Manchmal ist dieser Luftzug ein Südwestwind. In der bescheidenen Küche des kastilischen Gasthofs wehte an diesem Abend der Südwestwind der Phantasmagorie und der imagi­ nären Welt von Meister Pedros Puppenspiel. Der Wind absorbierte mit seiner Sogkraft die schwerelose und labile Seele Don Quijotes, ja er bewegte sie vom Zuschauerraum auf die Bühne. Das heißt wiederum, dass Don Quijote kein Zuschauer oder Teil des Publikums mehr ist, sondern dass er sich selbst in eine Figur des Theaterstücks verwandelt hat. Die Phantasmagorie wurde dadurch zerstört, dass Don Quijote das Stück als Realität auffasst. Denn ihm zufolge verfolgten die Mauren dort auf der Bühne wirklich den echten Don Gaiféros und die echte Melisendra. Und die Zauberer sind für ihn diejenigen gewesen, 360

[Ebd., S. 238–239.].

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die diese realen Seienden in lächerliche Puppen verwandelt haben. Die glühende Seele des Don Quijote läuft also hinter dem magischen weißen Schwanz des Papppferdchens hinterher, auf dem Melisendra galoppiert. Melisendra ist ein Wachtraum und Don Quijote läuft ihm hinterher. Und hinter der Seele des Don Quijote läuft sein Körper und mitsamt seinem Körper auch sein Arm, und mitsamt seinem Arm geht auch das absurde, aber zugleich echte und messerscharfe Heldentum seines Schwertes einher! [Pierre] Janet und andere wenig scharfsinnige französische Psy­ chopathologen, wie es, zum intellektuellen Leidwesen unserer beiden Länder, mit nur wenigen Ausnahmen wie beispielsweise [Henri] Bergson, nahezu alle französischen Denker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewesen sind, sagten über den Wahnsinn Quijotes, er bestünde in einem Verlust des Realitätssinns. Dies scheint mir ein meisterhafter Blödsinn zu sein. Das Gegenteil ist nämlich der Fall. Geistige Schmälerungen oder Anomalien legen vielmehr einen Verlust des Sinns für das Irreale offen. Es ist so, als ob man den Scherz nicht für einen Scherz, sondern für etwas Ernstes nimmt. Wir alle kennen Personen, die zu dieser minimalen geistigen Agilität nicht fähig sind und denen es deshalb niemals gelingt, einen Scherz als einen Scherz zu verstehen. […] Hiermit wird deutlich, worin die Hyperaktivität des Schauspie­ lers und die Hyperpassivität des Publikums besteht: Zwar können sich die Schauspieler in den verschiedensten Formen, d. h. sowohl tragisch als auch komisch oder tragikomisch bewegen und äußern, jedoch stets nur unter der notwendigen, ständigen und grundlegen­ den Bedingung, dass nichts von dem, was sie machen und sagen, »ernst« genommen werden darf; dass ihr Tun und Sagen also irreal und Fiktion bzw. ein »Scherz« und Schwindel (farsa) ist. [Søren] Kierkegaard berichtet einmal von einem Brand, der in einem Zirkus ausgebrochen sei. Man beauftragte den Clown, das Publikum vor dem Feuer zu warnen, jedoch glaubten die Zuschauer, dass es sich dabei um einen weiteren Scherz handele, woraufhin alle Zuschauer in den Flammen umkamen. Mithilfe dieses Beispiels lässt sich die Tätigkeit des Schauspielers präzise bestimmen. Sie besteht darin, Schwindel zu betreiben, weswe­ gen man den Schauspieler auch als Schwindler (farsante) bezeichnet. Korrelativ besteht die Passivität des Publikums darin, diesen Schwin­ del als solchen in sich aufzunehmen, oder darin, aus seinem realen und

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gewöhnlichen Leben herauszutreten und in die Welt des Schwindels einzutauchen. Deswegen sagte ich oben, dass es für das Theater unerlässlich sei, aus dem eigenen Hause herauszugehen und sich zum Theater, d. h. zum Irrealen, hinzubewegen. In der Sprache gibt es kein Wort, um die eigentümliche Realität auszudrücken, die wir sind, wenn wir Theaterzuschauer sind. Das macht nichts! Denn wir können uns dieses Wort auch ausdenken und sagen, dass im Theater alle Schauspieler Schwindler sind und wir, das Publikum, angeschwindelt werden bzw. uns anschwindeln lassen. Der Schwindel ist wie ein einzelner Punkt, auf dem sich die reichhaltige und vielgestaltige menschliche Wirklichkeit der Thea­ tergeschichte versammelt und kondensiert. Es ist, als sei er das Herz und die Wurzel des Theaters. Bevor wir dem Schwindel einen Namen gegeben haben, haben wir uns mit seiner Bedeutung vertraut gemacht. Ich bezeichnete ihn als das wahrscheinlich sonderbarste, außerordentlichste und wahrlich phantastischste Abenteuer, das dem Menschen überhaupt widerfahren kann. In der Tat nimmt der Mensch im Schwindel an einer irrealen und phantasmagorischen Welt teil. Er sieht sie, hört sie und wohnt in ihr, aber wohlgemerkt als Irrealität und Phantasmagorie. Es ist jedoch eine Tatsache, dass es den Schwindel gibt, seitdem es den Menschen gibt. Dem, was wir im engeren Sinne Theater nennen, sind in den langen zurückliegenden Jahrtausenden der primi­ tiven Menschheit andere Formen des Schwindels vorausgegangen, die wir als Vortheater oder Prähistorie des Theaters bezeichnen kön­ nen. Diese Formen können wir aber an dieser Stelle nicht näher beschreiben. Ich möchte lediglich auf diese Vorformen hinweisen, um folgenden Schluss daraus zu ziehen: Der Schwindel ist eine der beständigsten Tatsachen der Geschichte. Das bedeutet, dass er eine konstitutive und wesentliche Dimension des menschlichen Lebens ist; er macht deshalb einen unentbehrlichen Aspekt unserer Existenz aus. Aus diesem Grund kann das menschliche Leben nicht »ausschließ­ lich« Ernst, sondern muss auch manchmal eine Zeit lang »Scherz« und Schwindel sein. Eben darum gibt es das Theater. Seine Existenz ist keineswegs bloßer Zufall oder ein etwaiger Zwischenfall. Der Schwindel, d. h. das Herz des Theaters, erweist sich, wie wir gleich zeigen werden, als einer der Brennpunkte, aus denen unser Leben zehrt. Deshalb bestehen die letzte Realität und Substanz des Theaters

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bzw. sein Sein und seine Wahrheit in einer radikalen Dimension unseres Lebens. […] Der ganze Rest unseres Lebens ist gerade das größte Gegenteil zum Schwindel, den man sich vorstellen kann: Es ist ein anhaltender und erdrückender »Ernst«. Wir sind Leben, unser Leben, und jeder ist das seinige Leben.361 Das, was wir aber sind, das Leben, haben wir uns nicht selbst gegeben. Wir stehen von vornherein im Leben, wenn wir uns mit uns selbst begegnen. Leben bedeutet, plötzlich und unerwartet in einer Umwelt sein und existieren zu müssen. Und diese Umwelt ist die Welt, »diese jetzige Welt«. In »dieser jetzigen Welt« kann man sich mit gewisser Freiheit hin und her bewegen. Allerdings sind wir nicht dazu imstande, schon im Voraus diejenige Welt aus­ zuwählen, in der wir später leben werden. Sie wird uns in ihrer spezifischen und unausweichlichen Form und mit ihren einzelnen Bestandteilen aufgezwungen. Angesichts ihrer Seinsweise müssen wir uns arrangieren, um zu sein und existieren und leben zu können. Deswegen habe ich diese Welt schon in meinem ersten Buch aus dem Jahre 1914 als »Umstand« (la circunstancia) bezeichnet. Leben bedeutet, in Anbetracht bestimmter »Umstände« sein zu müssen, ob wir nun wollen oder nicht. Wie ich bereits sagte, ist uns dieses Leben nicht gegeben worden, weil wir es uns nicht selbst gegeben haben, sondern weil wir uns in diesem Leben befinden und mit ihm sind – einfach so, ganz plötzlich und ohne überhaupt zu wissen, wie, warum und wozu. Das Leben ist uns gegeben worden, aber es ist uns nicht gemacht gegeben worden, sondern wir selbst müssen das Leben machen. Wir müssen unser Leben machen und jeder muss sich das seinige Leben machen. Jeden Augenblick sind wir dazu 361 Ich wiederhole hier in der ein oder anderen Variante die Formulierungen, die ich auch an anderer Stelle verwendet habe, um das Grundphänomen des menschli­ chen Lebens zu bestimmen, das heißt, um dieses Phänomen sehenzulassen. Diese Ausdrücke sind keine verbalen Gedankenblitze, sondern Fachausdrücke, die den Anschein erwecken, sich der gewöhnlichsten und üblichsten Redewendungen der Umgangssprache zu bedienen. Dass man auf die Umgangssprache zurückgreifen muss und dass es in der gesamten Philosophiegeschichte keine passende Terminologie gibt, um formal über das Phänomen des Lebens zu sprechen, ist auch kein Zufall, auch wenn dies eine Schande für die Geschichte der Philosophie ist. Es wäre jedoch leichtfertig, bei jeder Darstellung dieser Doktrin die Ausdrücke variieren zu wollen, als handelte es sich dabei lediglich um rhetorische Gebilde.

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gezwungen, etwas für unser Fortbestehen zu tun. Das Leben ist etwas, das nicht einfach da ist, wie etwa ein Ding, sondern es ist immer etwas, das man machen muss, es ist eine Aufgabe, ein Gerundium, ein faciendum. Die Aufgabe, zu leben, wäre weniger mühselig, wenn uns die Lösung der Frage, was wir in jedem Augenblick machen müssen, bereits gegeben wäre. Dem ist jedoch nicht so. In jedem Augenblick eröffnen sich uns diverse Handlungsmöglichkeiten, und uns bleibt nichts anderes übrig, als eine davon auszuwählen und in diesem Augenblick zu entscheiden, was wir im nächsten Augenblick aus einer unübertragbaren und alleinigen Verantwortung heraus tun werden. Wenn Sie in ein paar Minuten durch die Tür des Gebäudes des O Século362 nach draußen gehen, wird sich jeder von Ihnen, ob Sie nun wollen oder nicht, selbst dazu entscheiden müssen, in welche Richtung er auf der Straße seinen ersten Schritt lenken wird. Aber wie das uralte indische Buch sagt: »Wohin auch immer der Mensch seinen Fuß setzt, dort tritt er stets auf hundert Wege.« Jede Stelle im Raum und jeder Augenblick ist für den Menschen ein Scheideweg, vor dem er zögert und schwankt. Meine Damen und Herren, das Leben ist Ratlosigkeit: Man weiß nie genau, was zu tun ist. Aus demselben Grund ist das Leben ein Entscheiden-Müssen und deshalb auch ein Wählen-Müssen. Aber gerade, weil das Leben Ratlosigkeit und ein ständiges Wählen-Müssen unseres Tuns ist, sind wir dazu gezwungen, den »Umstand« zu verstehen – wir müssen uns den »Umstand« aneignen. Hieraus entstehen allerlei Wissensformen: die Wissenschaft, die Philosophie, die »Lebenserfahrung« und auch das Lebenswissen, das wir Besonnenheit oder sagesse zu nennen pflegen. Wir werden durch den »Umstand« bestimmt, wir sind seine Gefangene. Das Leben im »Umstand« oder in der Wirklichkeit ist ein Gefängnis. Der Mensch kann sich zwar das Leben nehmen. Solange er lebt, kann er jedoch die Welt, in der er wohnt, nicht wählen. Sie ist immer schon die Welt des Hier und Jetzt. Und um an ihr festzuhalten, müssen wir immer irgendetwas tun. Hierher rühren die unzähligen Tätigkeiten des Menschen. Denn im Leben, meine Damen und Herren, gibt es allerlei Aufgaben und viel zu tun. Deshalb macht der Mensch sein Essen, er macht seinen Beruf, er macht Häuser, er macht Arzttermine, macht Wissenschaft und er übt sich in Geduld, d. h. er wartet, um sich »die Zeit zu vertreiben« (hacer tiempo). Er 362 [Gemeint ist die zwischen 1877 und 1981 in Lissabon herausgegebene Tageszei­ tung O Século, in deren Redaktionsgebäude Ortega seinen Vortrag gehalten hat.].

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macht Politik, macht Benefizveranstaltungen und er tut so […], als ob er etwas tun würde, und macht sich […] Hoffnungen, für sich und für andere. Das Leben ist ein unumgängliches Tun. Und bei alldem steht der Mensch in einem Kampf mit den »Umständen«, da er Gefangener in einer Welt ist, die er nicht wählen konnte. Diesen unaufgeforderten Charakter des Auferlegens von alldem, was uns umgibt, nennen wir »Realität«. Wir sind zu lebenslänglicher Haft in der »Realität« bzw. in der Welt verurteilt. Deshalb ist das Leben auch so ernst und schwer – es lastet auf uns. Die ständige und unübertragbare Verantwortung für unser Dasein und Tun bekümmert uns. […] Der Mensch muss ab und zu der Realität entkommen, er muss flüchten können. Wir erwähnten bereits, dass dies, in einem absoluten Sinne, unmöglich ist. Wäre es also in einem weniger absoluten Sinn möglich? Um dieser Welt lebend zu entfliehen, müsste es noch eine andere Welt geben.363 Wenn diese Welt jedoch eine wie auch immer geartete andere Realität ist, dann wird sie dennoch eine Realität, d. h. ein aufgezwungener Rahmen und bedrückender »Umstand« sein. Damit es eine andere Welt gäbe, zu der es sich lohnen würde, aufzubrechen, müsste diese andere Welt nicht real, sondern irreal sein. In ihr zu sein, würde dann einem Sich-selbst-in-Irrealität-Verwandeln gleichkommen. So etwas würde tatsächlich eine Ausschaltung des Lebens bedeuten. Es würde bedeuten, dass man sich vorübergehend von dem Gewicht der Existenz lösen müsste, um sich himmlisch, schwerelos, unverletzlich, verantwortungslos und inexistent zu füh­ len. Deswegen, meine Damen und Herren, hat sich das Leben, also der Mensch, immer darum bemüht, all seinem durch die Realität auferlegten Tun genau diese sonderbarste und erstaunlichste Tätigkeit hinzufügen. Sie besteht gerade darin, alles andere, was wir ernsthaft machen, zu unterbrechen. Dieses Tun oder diese Beschäftigung, die uns von den anderen Tätigkeiten befreit, ist […] das Spiel. Während wir spielen, tun wir nichts – und wir tun, wohlgemerkt, mit tiefem Ernst nichts. Das Spiel ist die reinste Erfindung des Menschen – alle anderen Tätigkeiten werden ihm durch die Realität mehr oder weniger aufgezwungen und vorgeformt. Die Spielregeln – denn es gibt kein 363 Die andere Welt der Religion kommt hier nicht infrage, da man zunächst sterben muss, um sich zu ihr aufzumachen; und hier geht es darum, lebendig in sie hinüber­ zuwandern.

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Spiel ohne Regeln – erschaffen jedoch eine Welt, die es nicht gibt. Und auch die Regeln sind eine rein menschliche Erfindung. Gott hat die Welt erschaffen, er hat diese Welt erschaffen, das ist richtig, aber der Mensch hat das Schachspiel und alle anderen Spiele erschaffen. Der Mensch machte, nein, er macht […] die andere Welt, d. h. er macht die wirklich andere und nichtexistierende Welt, die sowohl Scherz als auch Schwindel ist. Das Spiel ist also jene Kunst oder Technik, die der Mensch besitzt, um seine Sklaverei innerhalb der Realität virtuell aufzuheben, um zu entfliehen, zu entkommen und sich selbst von dieser Welt, in der er lebt, in eine andere und irreale Welt zu lenken (traerse). Sich von seinem realen in ein irreales, imaginäres und phantasmagorisches Leben zu lenken, bedeutet, sich ab-zu-lenken (dis-traerse). Das Spiel ist eine Ablenkung. Der Mensch muss von seinem Leben entlastet werden und sich dazu mit dem Ultraleben (ultravida) in Berührung bringen bzw. sich diesem Ultraleben zuwenden, in dieses einfließen. Diese Zuwendung oder dieses Einfließen unseres Daseins in das Ultravitale oder Irreale ist die Zerstreuung (diversión). Ablenkung und Zerstreuung gehören dem menschlichen Leben zu. Sie sind also kein Akzidens oder etwas, worauf sich auch verzichten ließe. Leichtfertig ist keineswegs derjenige, meine Damen und Herren, der sich ablenkt, sondern vielmehr jemand, der glaubt, dass man sich nicht abzulenken brauche. In der Tat ergibt es aber auch keinen Sinn, das Leben zu einer reinen Zerstreuung und Ablenkung machen zu wollen. Denn dann hätten wir ja nichts, von dem wir uns ablenken oder weswegen wir uns zerstreuen müssten. Beachten Sie, meine Damen und Herren, dass die Idee der Zerstreuung zwei Pole voraussetzt: einen terminus a quo und einen terminus ad quem – das, von dem wir uns ablenken, und das, womit wir uns amüsieren. Deswegen ist die Zerstreuung, meine Damen und Herren, eine der bedeutendsten Dimensionen der Kultur. Es sollte uns nicht über­ raschen, dass der Athener Platon, der größte Gestalter und Mentor der Kultur, den es je gegeben hat, sich mit Wortspielen die Zeit vertreibt, die das griechische Wort für Kultur παιδεία (paideia) und das griechische Wort für Spiel, Scherz und Schwindel παιδιά (pai­ dia) bereithalten. Platon sagt uns mit ironischer Übertreibung, das menschliche Leben sei nicht mehr und nicht weniger als ein Spiel. […] Die schönen Künste sind die vollkommenste Art der Flucht in die andere Welt. Ich sage das nicht im Sinne einer konventionellen

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Huldigung oder aus dem Gefühl heraus, das ich vor einigen Jahren als »kulturelle Scheinheiligkeit« (beatería cultural) bezeichnet habe. Ich sage es auch nicht, weil ich dazu bereit wäre, mich vor den schönen Künsten niederzuknien, auch wenn sie noch so künstlerisch oder schön zu sein scheinen. Ich sage das vielmehr, weil es ihnen tatsächlich gelingt, uns von diesem Leben wirkungsvoller zu befreien als alles andere. Während wir einen sehr guten Roman lesen, können die Mechanismen unseres Körpers weiter funktionieren, aber das, was wir »unser Leben« genannt haben, bleibt buchstäblich und von Grund auf ausgeschaltet. Wir fühlen uns von unserer Welt ab-gelenkt (distraídos) und in die imaginäre Welt des Romans hineinversetzt (tras­ plantados). Als das Theater noch »formal« Theater war (ser en forma), d. h. als der Schauspieler, die Szene und der Dramaturg in ihrem Empfinden miteinander übereinstimmten und durch die große Phantasmagorie der Theaterbühne mitgerissen wurden, war dies der Gipfel jener Form des Ausbruchs, den die schönen Künste ausmachen. Sie ermöglichten es dem Menschen, seinem schweren Schicksal zu entfliehen. Heutzu­ tage ist dies nicht mehr der Fall. Denn weder die Szene noch der Schauspieler oder der Autor sind unseren Emotionen gewachsen, weswegen die magische Metamorphose und wunderbare Verklärung zumeist ausbleibt. Unser gegenwärtiges Theater ist in Bezug auf unsere Empfindsamkeit nicht mehr à la page – das Theater ist damit dem Untergang geweiht. In den Zeiten, über die ich eingangs gespro­ chen habe, ist es dagegen Generationen von Menschen in vielen Stunden ihres Lebens gelungen, dank des göttlichen Eskapismus des Schwindels das allerhöchste Streben des menschlichen Daseins zu erreichen und glücklich zu sein. Wie Sie sehen, zeichnet sich der Innenraum des Doña-MaríaTheaters durch sein vereinfachtes Schema aus. Dieses Schema hat uns kurz, aber doch sehr gründlich, die Idee des Theaters näherge­ bracht. Dadurch wurde es uns möglich, diese doch sehr merkwürdige weltliche Wirklichkeit des Schwindels, d. h. die Realisierung der Irrealität, zu definieren. Hierdurch wurden wir darauf gestoßen, zu untersuchen, warum der Mensch angeschwindelt (farseado) werden muss und daher zugleich ein Schwindler zu sein hat. Der Schauspie­ ler-Mensch verwandelt sich in Hamlet, während die Metamorphose des Zuschauer-Menschen ihrerseits darin besteht, an Hamlets Leben teilzuhaben und es mit ihm zu leben. Auch das Publikum ist also ein Schwindler, da es mit Blick auf ein außergewöhnliches und ima­

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ginäres Dasein aus seinem üblichen Dasein heraustritt und an einer nichtexistierenden Welt, einer Ultrawelt (Ultramundo), teilnimmt. In dieser Hinsicht erweisen sich nicht nur die Bühne, sondern auch der Zuschauerraum und das ganze Theater als Phantasmagorie, als Ultraleben (Ultravida). Gegen Ende des letzten Jahrhunderts, meine Damen und Herren, gab es an der Universität zu Madrid einen armen Chemieprofessor, den die Studierenden für gewöhnlich verspotteten. Er bereitete die Experimente stets auf dem Tisch seines Laboratoriums vor und kün­ digte mit einer Art naiver Feierlichkeit an, dass beispielsweise ein blauer Niederschlag erscheine, wenn er einen bestimmten Reaktanten über eine Flüssigkeit gieße. Der Niederschlag erschien genau so, wie es der Professor vorausgesagt hatte, woraufhin die Studierenden, mit einer für die Jugend typischen Grausamkeit, dröhnend Beifall klatschten, als sei der Professor ein Stierkämpfer, der gerade einen Stier erlegt hat. Demütig verbeugte sich der Professor, als er den Applaus der Studierenden hörte, und sagte: »Nicht mir, nicht mir, sondern dem Reaktant müsst ihr applaudieren!« Wenn Ihr gewohnheitsmäßiges Wohlwollen Sie jetzt ebenfalls dazu einlädt, mir zu applaudieren, bitte auch ich Sie, vielmehr das geistige Schema des Theaters zu beklatschen – denn es war letztlich dieses Schema, das sich in seinem Vortrag an Sie gerichtet hat.

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Text 4 Das Erdbeben der Vernunft (1944)364

(Übersetzt von Niklas Schmich)

Guillermo

Ferrer

in

Zusammenarbeit

mit

In meinen ersten beiden Vorlesungen habe ich mich darum bemüht, mit Nachdruck darauf hinzuweisen, dass der Intellektuelle heutzutage überall infrage gestellt wird. Wenn ich darüber nachdenke, dass eine solche Infragestellung auch den Intellektuellen in genere betrifft, so können Sie sich ausrechnen, wie sehr ich von meiner eigenen Fragwürdigkeit überzeugt bin, umso mehr, als mir meine enormen Beschränkungen wahrscheinlich bekannter sind als jedem anderen. Und gerade, weil ich stets von ihnen überzeugt war, habe ich mich mit diesem Schicksal abgefunden. Konsequenterweise habe ich meinem Leben eine höchst fragwürdige Gestalt verliehen. Ich wollte mit reiner Absicht immer zweifelhaft und infrage gestellt bleiben, weswegen ich meinen Kopf niemals hinter dem schützenden Taucheranzug eines Lehrstuhls, also hinter dem gewöhnlichen und veralteten institutionalisierten Leben eines Angebers versteckt habe. In diesem Kurs werden wir ganz genau untersuchen, worin das unei­ gentliche Leben im Wesentlichen und seit jeher besteht. Es handelt sich dabei um jede bereits konstituierte, definierte, kristallisierte und schon da seiende Lebensform, die sich der Person als eine im Voraus festgelegte Gussform darbietet, in die sie dann die strömende Flüssigkeit ihres Lebens hineingießen kann. Damit ist nicht gemeint, dass diese Uneigentlichkeit (inautenticidad) keine unvermeidliche, notwendige und ergiebige Seite hat. […] Kommen wir also wieder auf unseren Ausgangspunkt zurück. Wir haben behauptet, dass man über die Philosophie zumindest sagen könne, sie sei etwas, was vom Menschen gemacht ist. Wir wissen jetzt nämlich, dass wir, um uns eine präzise Vorstellung von diesem Tun zu verschaffen, zu dem Zustand zurückkehren müssen, der das 364

© Herederos de José Ortega y Gasset.

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Philosophieren anregt, und dass die Philosophie nichts anderes ist als eine Reaktion auf einen bestimmten Zustand. Wenn die Wechsel dieses Zustands minimal sind, muss sich auch das philosophische Denken kaum verändern. Dann schleppt sich das Denken schläfrig dahin, in der Gestalt einer alltäglichen Gewohnheit. Im öffentlichen Bereich gibt es dann auch eine Philosophie, die man ganz einfach und so automatisch nehmen kann wie einen Oberleitungsbus. Wenn sich dieser Zustand aber radikal ändert – radikal heißt hier, dass die Wurzel verändert wird, was eine vorhergehende Entwurze­ lung voraussetzt –, dann bleibt der Philosophie nichts anderes übrig, als eine ebenso radikale Antwort darauf zu sein. Die Philosophie sieht sich dazu gezwungen, den Charakter ihrer immerwährenden Probleme, das Repertoire ihrer Grundbegriffe und, als unumgängliche und sekundäre Konsequenz, ihren Wortschatz, ihre Redewendungen und ihre Äußerungsformen radikal zu erneuern. Wir befinden uns gerade in einer dieser radikalen Veränderun­ gen. Philosophie, die heute ist, muss – gegenüber all der Philosophie, welche vorher war – die gegenwärtige Lage des Verstandes zu ihrem Ausgangspunkt nehmen. […] Welche Veränderung hat in Bezug auf die Lage des Verstandes bzw. der Vernunft stattgefunden? Irgendwann werden wir feststellen, dass die Philosophie aus einer Entdeckung des Verstandes bzw. der Vernunft entstanden ist. Philosophie hat man bis dato immer mit dem Verstand und der Vernunft gleichgesetzt. Alle Veränderungen, die diese erleiden, betreffen auch die Philosophie. Welche Veränderung erleben wir gerade jetzt, in diesem Moment? In Bezug auf diese Frage kann ich mich zum Glück kurzhalten. Meine Ausführungen werden nur sehr schwer zu bestreiten sein. Es reicht, aus den folgenden Paragraphen Edmund Husserls vorzutra­ gen – desjenigen Philosophen, welcher in diesem Jahrhundert den größten und unvergleichbarsten Einfluss auf die weltweiten philoso­ phischen Forschungen ausgeübt hat. Dieser Paragraph befindet sich in dem letzten und von ihm selbst im Jahre 1929 veröffentlichten Buch Formale und transzendentale Logik. Husserl schreibt dort: Die gegenwärtige Lage der europäischen Wissenschaften nötigt zu radikalen Besinnungen. Sie haben im Grunde den großen Glauben an sich selbst, an ihre absolute Bedeutung verloren. Der moderne Mensch

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von heute sieht nicht wie der »moderne« der Aufklärungsepoche in der Wissenschaft und der durch sie geformten neuen Kultur die Selbstobjektivierung der menschlichen Vernunft oder die universale Funktion, die die Menschheit sich geschaffen hat, um sich ein wahr­ haft befriedigendes Leben, ein individuelles und soziales Leben aus praktischer Vernunft zu ermöglichen. Dieser große Glaube, dereinst der Ersatz für den religiösen Glauben, der Glaube, dass Wissenschaft zur Weisheit führe – zu einer wirklich rationalen Selbsterkenntnis, Welt- und Gotterkenntnis, durch sie hindurch zu einem wie immer vollkommener zu gestaltenden, einem wahrhaft lebenswerten Leben in »Gluck«, Zufriedenheit, Wohlfahrt usw. –, hat jedenfalls in wei­ ten Kreisen seine Kraft verloren. Man lebt so überhaupt in einer unverständlich gewordenen Welt, in der man vergeblich nach dem Wozu, dem dereinst so zweifellosen, vom Verstand wie vom Willen anerkannten Sinn fragt.365

Jeder, der sich gut mit der Bedeutung Husserls – der einflussreichsten philosophischen Gestalt in diesem Jahrhundert – auskennt, wird von diesen Zeilen berührt werden. Erstens wegen der Katastrophe selbst, die in ihnen zum Ausdruck kommt. Zweitens, weil Husserl als Denker äußerst rationalistisch ist – er ist der letzte große Rationalist, der den Ausgangspunkt des ersten Rationalisten Descartes neu bewerten wollte und sich daher als die Krönung des Rationalismus erweist. Drittens, weil ein jeder, der sich mit Husserl auskennt, sehr wohl weiß, dass dieser kein Wort über Dinge verschwendet, die er nicht zugleich auch »sieht«. Viertens, weil es sich, meines Wissens nach, um den einzigen Absatz seines Werkes handelt, in dem er über eine Tatsache spricht, die die Wissenschaften transzendiert, übersteigt und in sich einschließt. Es handelt sich dabei, kurzum, um eine allgemeingültige menschliche Tatsache. Fünftens und zu guter Letzt, weil Husserl stets in größter Zurückgezogenheit lebte. Er schnüffelte weder in der Weltgeschichte herum noch kümmerte er sich jemals darum, auf dem Laufenden zu sein. Sie können sich nun vorstellen, wie ihn diese von ihm so nüchtern beschriebene Tatsache bedrängen musste, wenn sie sogar in seine Zurückgezogenheit einbrach, um sich ihm zu zeigen, und ihn schließlich dazu zwang, sie »anzuschauen«. Meine Interpretation dieses Absatzes beruht jedoch auf einer externen Betrachtung des Husserl’schen Gesamtwerkes. Hinter sei­ [Aus dem deutschen Originaltext zitiert nach: Edmund Husserl (1974): Formale und transzendentale Logik. Husserliana Bd. XVII. Hg. von Paul Janssen. Den Haag: Martinus Nijhoff, S. 9.]. 365

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nen Worten verbirgt sich selbstverständlich eine andere und noch tiefere Bedeutung. Sie sind eigentlich nur als Hinweise zu verstehen. Denn Husserl war insoweit ein glücklicher Philosoph, als dass er sich an ein Publikum von Wissenschaftlern richten konnte, die über die wirkliche Wissenschaft auf dem Laufenden waren. Denn die wirkliche Wissenschaft ist gerade die, die auf dem Laufenden ist. Achten Sie bitte darauf, was Husserl sagt: Die Wissenschaften »haben im Grunde den großen Glauben an sich selbst […] verloren«. Es geht also nicht ausschließlich darum, dass der Mann aus dem Volk an der Wissenschaft zweifelt. Und es geht auch nicht darum, dass sich die soziale Stellung des Intellektuellen verändert hat (ich fühlte mich an einer Stelle aus mehreren Gründen dazu verpflichtet, über die Situation des Intellektuellen zu sprechen; insbesondere, weil ich die Lage des Intellektuellen gerne mit der des Verstandes vergleichen möchte, um zu zeigen, dass beide voneinander unterschieden werden müssen). Um all das geht es meiner Meinung nach jedoch hierbei nicht. Es geht nicht einmal darum, dass der Wissenschaftler hinsicht­ lich seines Glaubens an die Wissenschaft unschlüssig ist. Nein, es ist vielmehr die Wissenschaft selbst, die ihr Vertrauen zu sich selbst verloren hat. Und weil die Wissenschaft weder Unklarheiten noch diffuse Zustände zulässt, muss dieses Misstrauen unbedingt ein strenges und äußerst genaues Profil bekommen. Dass die Wissenschaft sich selbst misstraut, muss also als eine wissenschaftliche Wahrheit ver­ standen werden. Und ausschließlich darum geht es. Es gibt drei Wissenschaften, welche die Akropolis, also die Festung des Verstandes bzw. der Ver­ nunft, bildeten. Sie waren sozusagen dasselbe. Diese Wissenschaften sind die Physik, die Mathematik und die Logik. Sie bildeten den Boden, auf den sich die Menschheit vor allem in den letzten Jahrhun­ derten gestützt hat. Der Glaube an die Vernunft nährte sich von der Substanz dieser Wissenschaften. Es war so etwas wie die latente Basis, an der der zivilisierte Mensch und strenggenommen auch der abendländische Mensch seit der Antike festgehalten hat. Denn das Christentum und der Glaube der Religion fühlten sich seit der Zeit des Heiligen Anselm [von Canterbury], also seit dem XI. Jahrhundert, dazu gezwungen, sich auf die Vernunft bzw. auf den Verstand zu stützen. Dies verdeutlicht bereits dessen berühmter und programma­ tischer Satz fides quarens intellectum (Glaube, der nach Einsicht sucht). Es ist nicht möglich, dass in diesen wissenschaftlichen Disziplinen auch nur die geringste Unsicherheit eintritt, ohne dabei gleichzei­

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tig die Sphäre der Vernunft zu erschüttern und diese einer Gefahr auszusetzen. Seit nunmehr dreißig Jahren ist die außerordentliche Entwicklung dieser Disziplinen von einer sich steigernden Unruhe geprägt. Zum ersten Mal in der Geschichte dieser Wissenschaften haben der Physiker, der Mathematiker und der Logiker bemerkt, dass sich unerwartet Erdlöcher und tiefe Abgründe von Problemen im Bereich der Grundprinzipien ihrer jeweiligen theoretischen Kon­ struktionen auftun. Diese Prinzipien waren der einzig feste Boden, auf den sich ihre intellektuelle Leistung stützte. Und es sind genau diese Prinzipien, in denen sich der Abgrund offenbart – also genau in dem Bereich, der zuvor als unerschütterlich erschien, und nicht in den einzelnen individuellen Gliedern ihrer theoretischen Organismen. […] Jedenfalls kam es nicht nur zu einem Erdbeben in der wissen­ schaftlichen oder theoretischen Vernunft, sondern zugleich auch in der praktischen Vernunft. Wir reden nicht von der Moral, die sich als rationale Ordnung des Verhaltens vor ungefähr vierzig Jahren in Luft aufgelöst hat, weswegen nur der mechanische Druck der Gewohnheiten als Regler des menschlichen Verhaltens übrigbleibt. In der letzten Zeit erleben wir täglich ein noch nie dagewesenes Spektakel, das niemand, der ein genaues Bewusstsein von dessen Bedeutung hat, ohne Erstaunen mit ansehen kann. Ich meine hiermit die vollständige Verflüchtigung des Rechtes. Da dieses Sachgebiet aber sehr spitzfindig ist, und ich sämtliche Verdrehungen und Miss­ verständnisse vermeiden möchte, habe ich einige Seiten verfasst, deren Lektüre Sie nun ertragen müssen. Meine Damen und Herren, das Recht schien zusammen mit der Wahrheit – und sogar noch mehr als die Wahrheit, weil es viel älter als ist – ein unentbehrliches Organ des menschlichen Zusammenlebens zu sein. Man brauchte Jahrtausende, um das Recht zu entdecken, ein­ zuführen und zu festigen. Seine konkreten Inhalte, d. h. die Rechte im Plural oder die einzelnen Rechte, waren in diesen oder jenen Völkern verschieden bzw. sie änderten sich in jedem Volk mit hundertjähriger kaum wahrnehmbarer Langsamkeit. Im Grunde genommen fehlte ihnen jedoch niemals der Glauben daran, dass es Recht gibt, dass es die letzte Instanz gibt, auf die die Menschen bei ihren Streitigkeiten zurückgreifen können. Später werden wir sehen, inwiefern das Recht im Wesentlichen und substanziell aus einem Rückgriff besteht. Es mangelte niemals an dem Glauben, dass es das Recht gibt. Unserer Zeit ist die Originalität vorbehalten, auch diesen Glauben verloren

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zu haben. Es geht nämlich nicht darum, einige hinfällige und starre Rechte beiseite zu legen, um sie durch andere nagelneue Rechte zu ersetzen. Man ist bisweilen so vorgegangen, da es vielleicht immer ein schwerwiegenderer Vorgang war, als nahezu jedermann vermutet, weil es möglicherweise nichts Anderes gibt, was noch mehr als das Wesen des Rechts verkannt wird. […] Das klarste Beispiel für diese allgemeine Zerkleinerung des Rechtes ist die Aufhebung des grundlegendsten Rechtes, nämlich die des Neutralitätsrechtes. Es sei ausdrücklich festgestellt, dass ich weder davon spreche noch infrage stelle, ob dieses oder jenes Land in dieser oder jener Zeit oder diesem oder jenem Krieg neutral sein solle. Dies würde bedeuten, über Politik zu sprechen bzw. zu diskutieren, was ich nicht nur hier nicht machen kann, sondern selbst dann nicht tun würde, wenn ich es könnte. Das ist nämlich weder mein Beruf noch meine Pflicht. […] Ich rede hier ausschließlich über die Aufhebung des Neutralitäts­ rechtes als kleinstes Beispiel für das Verschwinden allen Rechtes, des Rechtsbewusstseins oder des Rechtsglaubens […]. [Sie] beginnt mit der Aushebelung der Handelsfreiheit, geht dann über die Einmi­ schung in den Postverkehr und den Verstoß gegen das Briefgeheimnis und endet damit, dass ein neutrales Land von einem der kriegstreiben­ den Länder annektiert wird. […] Die Grundsätze und Voraussetzungen des Lebens der westlichen Menschen sind sowohl im Bereich der theoretischen als auch in dem der praktischen Vernunft plötzlich problematisch und rätselhaft geworden. Ich habe bereits auf die »Krisis der Grundlagen« in den paradigmatischen Wissenschaften Physik, Mathematik und Logik hingewiesen. Sie bildeten das, was man bis dato konkret Verstand oder Vernunft nannte. Der Begriff der Materie wurde von der Physik unter den Tisch gekehrt. Das Kausalitätsprinzip hat sich verflüchtigt. Die physikalischen Gesetze haben sich von festen Kausalgesetzen in bloß statistische Gesetze verwandelt, die lediglich etwas über Wahrscheinlichkeiten aussagen. Und der Physiker sagt, er sei sich nicht sicher, ob die Physik eine Erkenntnis im herkömmlichen Sinne des Wortes ist. Er gesteht sich also ein, dass er nicht genau weiß, was er tut, wenn er Physik treibt. Ich habe nicht den Anspruch, dass Sie den genauen Sinn von alledem, was ich bisher gesagt habe,

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nachvollziehen. Es ist nicht nötig, da die Zeit noch kommen wird, in der Sie alle dies voll und ganz verstehen werden. Das Wichtigste ist nunmehr, dass Sie von der folgenden nackten Tatsache Notiz nehmen: Die Physiker denken selbst auf diese Weise über ihre Physik nach, und etwas ganz Ähnliches passiert mit der Mathematik und der Logik. Letztere bildet den Prototyp der reinsten und eigentlichsten Theorie. Sie bildet den Prüfstein, das Kriterium und die Richtschnur für alle anderen Wissenschaften. Heute müssen wir jedoch Klartext reden. Als ich sagte, dass die Logik kürzlich versucht habe, sich vollkommen und im strengen Sinne zu konstituieren und zu verwirklichen und nicht nur ein bloßes Pro­ jekt zu sein, musste sie feststellen, dass ihr dies gar nicht möglich ist. Ich sagte, dass die Grundlagen der Logik keinen logischen Charakter haben, sondern dass diese vielmehr unlogische Annahmen sind. Es hat sich herausgestellt, dass die Logik in hohem Maße »wesentlich« un-logisch ist. Ob es deshalb schlussendlich keine Logik gibt, ist aber noch klärungsbedürftig. Meine Damen und Herren, in den folgenden Ausführungen werde ich mich ein wenig präziser fassen: Das Wort Logik hatte bis dato eine ganz bestimmte Bedeutung. Es war der Name für eine strenge rationale Theorie, in der nichts vage oder ad libitum war. In dieser Theorie wies sich alles entweder von sich selbst her auf – aufgrund der Evidenz, wie es allem Anschein nach bei den logischen Prinzipien der Fall ist – oder es ließ sich von logischen Grundsätzen ableiten, weil es mit jeder erdenklichen Strenge bewiesen werden konnte. Die Wahrheit einer logischen Theorie war nicht irgendeine Wahrheit, sondern eine auf absoluten Gründen beruhende Wahrheit, d. h. eine im absoluten Sinne bewiesene Wahrheit. Und erst als diese Logik binnen der letzten fünfzig Jahre ihre präziseste, umfassendste und vollkommenste Gestalt annahm, hatten eben diese Präzision, dieser Umfang und diese Vollkommenheit selbst eine ungemein para­ doxe Entdeckung zur Folge: Denn diese Logik erweist sich vielmehr als eine Logik, die überhaupt nicht möglich ist (und ebenso wenig möglich ist das, was dieses Wort seit der Antike bedeutet). […] Der gegenwärtige Zustand ist vor allem deswegen philosophisch, weil er entweder, infolge des Scheiterns dieser visionären Methode, ähnlich wie in Griechenland erstmalig die intellektuelle oder rationale Methode entdeckt – diese ist im Übrigen nichts anderes als die Philo­ sophie selbst. Oder aber, weil infolge des Scheiterns der Vernunft, wie

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es heutzutage der Fall ist, eine neue Methode gesucht werden muss, die weder jene rationale Methode der philosophischen Tradition noch jene visionäre Methode ist, welche durch die Philosophie begraben wurde. Wir müssen eine andere und neue Vernunft entdecken. Zumin­ dest ich habe mich dazu entschlossen. In beiden Fällen gelangt man zu etwas Neuem. Und man erhält dieses Neue durch die Überwindung der zuvor verwendeten Methode. Diese Methode steckt derzeit in einer Krise. Man kann nicht die bereits gebrochene und gescheiterte Vernunft überwinden, wenn man keine Mittel anwendet, die diese Vernunft miteinschließen, d. h., wenn man keine rationalen und philosophischen Mittel anwendet. Ich wollte ein wenig mehr Zeit damit verbringen – und aufgrund des thematischen Umfangs ist es herzlich wenig Zeit gewesen –, die Bedeutung der jüngsten Katastrophe in der Logik zu klären, damit Sie wie anhand eines Beispiels sehen, wie es um den gegenwärtigen Zustand des Verstandes bzw. der Vernunft auf der Ebene der theore­ tischen Ordnung bestellt ist. Sie sollten auf diese Weise erkennen, inwiefern das Bewusstsein von dem problematischen Abgrund, der sich unter den Füßen der Wissenschaftler auftut, automatisch dazu führt, dass diese nach einem rettenden Anker greifen und neue Ufer suchen. Die Wissenschaftler spüren nämlich, wie ihnen das Festland plötzlich entgleitet. Sie spüren, dass sie sich in einem instabilen und schwankenden Element befinden und dass sie in ein Meer voller Zwei­ fel sinken. Wir hätten ähnliches über die Mathematik und die Physik sagen können. Für unseren Kurs wäre das jedoch zu viel verlangt. Meine Absicht besteht nicht darin, die von den Naturwissenschaften betriebene Einforderung einer neuen Methodologie eingehender zu untersuchen, sondern eben darin, die Grundsätze aufzubauen, aus denen eine solche Methodologie überhaupt erst entstehen kann. Ich möchte eine Philosophie ausarbeiten, die noch radikaler als die bishe­ rigen Philosophien sein muss, weil auch die Probleme radikaler sind als je zuvor. Sie werden jetzt den Satz Husserls, den ich Ihnen vorhin vorgelesen habe, genauer nachvollziehen können: »Die gegenwärtige Lage der europäischen Wissenschaften nötigt zu radikalen Besinnun­ gen«366. Diese radikale Besinnung macht die von uns beabsichtigte radikale Philosophie aus. Gleichwohl haben Sie wahrscheinlich bemerkt, dass die in den Grundlagen der theoretischen Vernunft und in den paradigmatischen 366

[Ebd.].

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Wissenschaften sich ereignende Katastrophe dennoch, und zwar in zweierlei Hinsicht, als positiv zu bewerten ist: Erstens hat sich diese Krise aus keinem Mangel des Verstandes ergeben, sondern, ganz im Gegenteil, aus seiner Vollendung und Zunahme. Und zweitens ist die Katastrophe positiv zu bewerten, weil der Verstand, sofern er authentisch ist, stets positiv ist, unabhängig davon, ob er das will oder nicht will. Die Entdeckung eines Irrtums macht nämlich zunächst den Anschein eines rein negativen Zustandes und kommt dennoch ipso facto dem menschlichen Besitz einer neuen Wahrheit gleich. Jeder würde sagen, dass das, was wir früher für eine Wahrheit hielten, als Fehler zu enthüllen, dem Erlöschen eines Lichtes gleicht. Nichtsdesto­ trotz handelt es sich dabei um eine neue und intensivere Beleuchtung. Echter Verstand zeichnet sich durch unvermeidliche Positivität aus. Genauso, wie sich ein nur scheinbarer Verstand durch Negativität auszeichnet. Daher rührt auch der verhängnisvolle Negativismus der hinterwäldlerischen Pseudointellektuellen, die beim Reden oder Schreiben ihr inneres Nichts nach außen tragen. Deswegen konnten wir oben die gegenwärtige Haltung des Men­ schen zur Krisis der Vernunft in einer Weise diagnostizieren, die heute wie folgt lauten könnte: Der Mensch nimmt nun eine zweideutige Haltung gegenüber seiner Vernunft ein; er glaubt zwar noch an diese Vernunft, jedoch zugleich auch an ihre Grenzen. Ganz anders steht es um die Umstände der praktischen Vernunft, die wir durch einen Verweis auf die Verdampfung aller rationalen Moral und die vollständige Verflüchtigung des Rechts, das als Instanz und Ressource für das menschliche Zusammenleben unentbehrlich zu sein schien, veranschaulicht haben. Auch hier hat der Ursprung der Katastrophe mindestens eine positive Dimension. Wenn nämlich, wie ich bereits sagte, zum ersten Mal in der Geschichte alle etablierten Rechte und Institutionen ungültig geworden sind, ohne dass man schon die idealen Gebilde anderer Rechte und Institutionen, die diese ersetzen könnten, in Sichtweite hat, kommt das teilweise – aber auch nur teilweise! – daher, dass das Abendland eine reiche Tradition in Rechtsangelegenheiten hatte. […] Der heutige Mensch, und nicht nur der europäische, fühlt sich in jeglicher Hinsicht verloren, und dieses Bewusstsein eines radikalen Verlustes bzw. einer Verlorenheit muss notwendigerweise in jedem von uns lebendig sein. Wir sollten keineswegs versuchen, den Blick für dieses Bewusstsein wie ein Feigling abzuwenden. Denn nur dieser

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verzweifelte Eindruck von Verlorenheit kann eine rettende Reaktion herbeiführen. Wir werden sehen, warum der Mensch alles Wertvolle, das er gemacht hat, genau deshalb gemacht hat, weil er sich verloren fühlte. Und umgekehrt werden wir erkennen, dass all seine Missge­ schicke und Unglücke unweigerlich dadurch entstanden sind, dass er sich seiner Sache in irgendeinem Moment zu sicher fühlte. Orientierungslos bzw. dépaysé zu sein, bedeutet für den Men­ schen, radikal verloren zu sein. Husserl sagte diesbezüglich, dass die Welt für uns problematisch geworden sei. Das ist sie auch, weil, wie wir alsbald (wenn wir die Zeit finden) oder vielleicht sogar schon heute sehen werden, dem Menschen nichts anderes übrigbleibt, als immer irgendetwas zu tun, um zu überleben bzw. um weiterzu­ leben. Damit wollte ich sagen, dass dem Menschen nichts anderes übrigbleibt, als immer irgendetwas zu tun, weil er sonst sein Leben in Gefahr bringen würde. Das wäre jedoch zu wenig. Denn wenn man aufgibt, nichts tut und einfach dahinstirbt, begeht man eine der furchtbarsten Taten, die man als Mensch begehen kann: Man begeht Selbstmord. Der Mensch muss also immer irgendetwas tun. Und um irgendetwas zu tun, muss er dieses Tun wählen, und um zu wählen, muss er sich wiederum an dem orientieren, was die Welt, er selbst und sein Leben sind. Er muss Motive finden, die seine Entscheidungen inspirieren und diese vor sich selbst rechtfertigen. […]

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(Übersetzt von Niklas Schmich)

Guillermo

Ferrer

in

Zusammenarbeit

mit

[…] Den ersten Anstoß zu einer klaren Überwindung des Realismus und des Idealismus hat ein zeitgenössischer bzw. nahezu zeitgenössi­ scher Philosoph gegeben: Franz Brentano aus Wien. […] Brentano hatte […] eine Art zu philosophieren, die für den neumodischen Stil des Philosophierens weitestgehend maßgebend wurde. Dieser besteht in der Konzentration all seiner Bemühungen auf ein bestimmtes Problem und in der Verfeinerung einer prägnanten und genauen Argumentation, die direkt auf das konkrete und zu erfor­ schende Thema gerichtet ist. Er behandelt dieses Thema mit Sorgfalt, um den Geist des Lesers oder Zuhörers zu dem präzisen Beweis dessen zu führen, was zu beweisen ist. Dabei spitzt Brentano seine Argumente mit einer außerordentlichen Leidenschaft zu. Seite für Seite ist er darum bemüht, seiner Argumentation einen besonderen Schliff zu verleihen. In dieser Hinsicht, also rein stilistisch und formal gesehen, kann man dem direkten Einfluss Brentanos in fast allen zeitgenössischen Philosophien nachspüren. Nun gut, in einem der Bücher Brentanos – der Psychologie vom empirischen Standpunkte – gibt es ein Kapitel mit dem Titel »Von dem Unterschiede der psychischen und physischen Phänomene«,367 das einem konkreten Einzelproblem gewidmet ist. Brentano beabsich­ tigt dort, den Unterschied zwischen einem psychischen und einem 367 [Siehe das genannte Kapitel in Franz Brentano (2008): Psychologie vom empiri­ schen Standpunkte. Von der Klassifikation der psychischen Phänomene, in: Sämtliche veröffentlichte Schriften. Erste Abteilung: Schriften zur Psychologie. Hg. von Thomas Binder und Arkadiusz Chrudzimski. Mit einer Einleitung von Mauro Antonelli. Frankfurt am Main: De Gruyter/Ontos Verlag, S. 95–117.].

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physischen Phänomen aufzuzeigen. Die physikalischen Phänomene, welche man im Labor untersucht und mit denen wir alltäglich leben, sind in unserer Welt von psychischen Phänomenen begleitet, nämlich von unseren Vorstellungen, Schmerzen und freudigen Empfindun­ gen; kurzum von allem, was in unserer Seele passiert. Das Psychische und das Physische gehören also zusammen, und es geht nun darum, den Unterschied zwischen beiden Phänomenen genau zu bestimmen. Brentano erforscht Schritt für Schritt die Merkmale, welche dazu imstande sind, beide Arten von Phänomenen unterscheiden, wobei er sich jedoch mit keinem dieser Merkmale wirklich zufriedengibt. Nachdem er diese also zur Diskussion gestellt hat, schlägt er seinen eigenen Lösungsansatz zu dem Problem vor: Die psychischen Phä­ nomene unterscheiden sich von den physischen dadurch, dass das psychische Phänomen nicht nur das ist, was es ist, sondern auch noch etwas anderes. Hingegen ist das physische Phänomen nichts weiter als das, was es ist. Das psychische Phänomen unterscheidet sich vom physischen somit aufgrund seiner Duplizität. Worin besteht eine solche Duplizität? Das physische Phänomen ist, d. h., es enthält nichts mehr als das, was gerade in ihm aktual ist; ich kann es gänzlich beschreiben, indem ich eins zu eins seine Bestandteile benenne. Das psychische Phänomen ist hingegen nicht nur das, was es ist – also eine Vorstellung, ein Schmerz, ein Willens­ akt, eine Absicht, eine Erinnerung oder ein Bild –, sondern es enthält zusätzlich noch eine Beziehung auf etwas, das es selbst nicht ist. Eine Vorstellung, z. B. ein Bild, ist nicht nur ein Bild, sondern darüber hinaus ein Bild von etwas, das es selbst nicht ist. Wenn ich jetzt das Bild von einem Baum habe, dann ist dieses Bild in mir ein psychisches Phänomen, ein Bild. Allerdings hat dieses Bild die Besonderheit, das zu sein, was es ist, und zusätzlich noch eine Beziehung zu enthalten. Es bezieht sich auf den Baum, der kein Bild von dem Baum ist; und demnach bezieht sich das Bild auf etwas anderes als auf sich selbst. Etwas Ähnliches geschieht mit einem Wegweiser, auf dem ein gemalter Pfeil abgebildet ist. Wenn wir diesen von einem bloß physi­ kalischen Standpunkt aus beschreiben, werden wir sagen, dass es sich hierbei um einen Holzstab handelt, der von einem anderen Holzstab überkreuzt wird und auf diesem eine Farbe in Gestalt eines Parallelo­ gramms enthält, das dann in zwei Flanken geteilt wird. Außerdem würden wir noch sagen, was dieser Wegweiser genau bedeutet. Auf dieselbe Weise befindet sich ein Schmerz in irgendeinem Teil des Körpers bzw. er besteht aufgrund einer spezifischen Ursache; eine

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Vorstellung ist eine Vorstellung, aber zusätzlich ist sie noch eine Vorstellung von etwas Vorgestelltem, das seinerseits keine Vorstel­ lung ist, aber durch die Vorstellung angedeutet wird, obwohl es diese letztlich gar nicht ist. Ein Bild ist ein Bild von etwas, das nicht in dem Bild ist, sondern dieses auf etwas anderes als das Bild selbst verweist. Somit zeichnen sich alle psychischen Phänomene allgemein dadurch aus, dass sie eine Beziehung auf etwas, das sie selbst nicht sind, innehaben. Demgegenüber ist das physische Phänomen gänzlich das, was es ist, ohne jene Beziehung zu enthalten. Brentano nennt diese Beziehung intentional. Das Wort hatte sei­ nen Erfolg, auch wenn es, was zumindest die spanische und eigentlich auch die deutsche Sprache betrifft, eher unglücklich gewählt ist. Es deutet nämlich so etwas wie eine Absicht (intención) an, wobei dieses Wort in den gegenwärtigen romanischen Sprachen einen ganz ande­ ren Sinn hat als auf Lateinisch. Intendere bedeutet zwar auf Lateinisch »Tendenz-zu«, jedoch meint es keineswegs das, was Intention für uns bedeutet, nämlich »Absicht«. Deshalb gibt Brentano dem Wort »intentional« den Sinn einer Beziehung, d. h. eines Hinweises, der von dem psychischen Phäno­ men zu dem vom psychischen Phänomen gemeinten Ding führt. Bei einer anderen Gelegenheit gebraucht Brentano für diesen intentiona­ len Bezug das Wort Inexistenz. In gewisser Hinsicht ist auch dieses Wort unglücklich gewählt, in einer anderen jedoch sehr treffend. Die Partikel in- ist nicht negativ gemeint, sondern bedeutet Inhalt. Inexistenz besagt also, dass innerhalb des psychischen Phänomens ein Hinweis auf etwas vorliegt, was im eigentlichen Sinne kein psychisches Phänomen ist, sondern sein Gegenstand.368 Mit Hilfe dieser Grundlagen jener Theorie des intentionalen Bezuges – sprich der berühmten Unterscheidung zwischen physi­ schen und psychischen Phänomenen – und dem eigentümlichen Cha­ rakter der psychischen Phänomene, begann sich die Phänomenologie in großen Teilen zu etablieren und weiterzuentwickeln. Husserl, der 368 [García Morente beschwört hier die berühmte Passage aus der Psychologie vom empirischen Standpunkte über die Intentionalität psychischer Akte oder Bewusst­ seinsakte: »Jedes psychische Phänomen ist durch das charakterisiert, was die Scho­ lastiker des Mittelalters die intentionale (auch wohl mentale) Inexistenz eines Gegen­ standes genannt haben, und was wir, obwohl mit nicht ganz unzweideutigen Ausdrücken, die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist), oder die immanente Gegenständlichkeit nennen würden«. Siehe Brentano (2008): S. 106.].

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Begründer der Phänomenologie, ist ein Schüler von Brentano gewe­ sen. Was die Analyse der psychischen Phänomene betrifft, geht Hus­ serl noch einen Schritt weiter, da die psychischen Phänomene noch vielschichtiger sind, als Brentano sie beschreibt. Für Husserl besteht ein psychisches Phänomen, d. h. ein sogenanntes Erlebnis oder jener Akt, in dem etwas innerhalb des Ganzen unserer Psyche bzw. unserer Seele auftritt, aus drei wesentlichen Grundlagen: erstens dem Ich, welches das Erlebnis hat; zweitens dem Erlebnis, sofern es Vorstellung ist, und drittens dem Bezugspunkt, welcher laut Brentano der Gegen­ stand des intentionalen Bezugs bzw. das erlebte und vorgestellte Ding ist. Anders oder genauer ausgedrückt gibt es Husserl zufolge in jedem Erlebnis einen Bedeutungsakt (acto significante) und einen Meinungsakt (acto mencionante) – jedes Erlebnis ist die Meinung von etwas.369 In jedem Meinungsakt gibt es wiederum erstens das meinende Ich, zweitens die Meinung und drittens das Gemeinte in der Meinung. […] Wenn wir über das Bewusstsein sprechen, müssen wir zunächst klären, wovon das Bewusstsein ein Bewusstsein ist und werden kann. Denn das Bewusstsein ist immer ein Bewusstsein von etwas. Wovon kann das Bewusstsein ein Bewusstsein sein? Geht es hierbei um ein Bewusstsein von dem Ich oder von dem Meinungsakt oder von dem Gemeinten? Schauen wir uns das Ganze einmal näher an. Das Bewusstsein kann kein Bewusstsein von dem Ich sein, weil das Ich kein Gegenstand sein kann. Deshalb kann das Ich kein Bewusstsein von dem Ich haben, es sei denn, dass es zu einem Gegenstand wird. Um die Frage zu verkürzen, bitte ich Sie, sich an die ersten Vorlesungen zu erinnern; dort sagten wir bereits, dass das Ich kein Ding sein kann. Ich kann zwar ein Bewusstsein von mir selbst 369 [1929 übersetzten García Morente und José Gaos die Logischen Untersuchungen Husserls für den Verlag Revista de Occidente. Siehe Edmund Husserl (2009): Investi­ gaciones lógicas 1–2. Versión de Manuel G. Morente y José Gaos. Madrid: Alianza Edi­ torial (erste Auflage 1982). In seinem Text interpretiert García Morente mit eigenen Worten die Unterscheidungen, welche Husserl vor allem in der vierten Untersuchung (»Über intentionale Erlebnisse und ihre ›Inhalte‹“) und der sechsten Untersuchung (»Elemente einer phänomenologischen Aufklärung der Erkenntnis«) des zweiten Bandes der Logischen Untersuchungen vorgenommen hatte. Siehe Edmund Husserl (1984): Logische Untersuchungen. Zweiter Band. Erster Teil. Untersuchungen zur Phä­ nomenologie und Theorie der Erkenntnis. Husserliana Bd. XIX/1. Herausgegeben von Ursula Panzer. Dordrecht/London/Boston: Springer Verlag.].

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haben, doch dazu muss ich mich selbst aufgespaltet haben bzw. ein Ich haben, welches ein Bewusstsein von mir hat. Ich muss also eine Selbstspaltung vollziehen. Ist das Bewusstsein also ein Bewusstsein von dem Meinungs­ akt? Nein, es kann auch kein Bewusstsein von dem Meinungsakt sein, da dieser, sobald das Bewusstsein ein Bewusstsein von dem Meinungsakt ist, dabei zu einem Gemeinten wird. Wenn ich einen Baum sehe, wovon habe ich dann ein Bewusstsein? Von dem Baum. Was gibt es damit für mich? Es gibt den Baum. Lenke ich jedoch meine Aufmerksamkeit auf das Sehen des Baumes statt auf den Baum selbst, verschwindet dieser. Nehmen wir an, wir befinden uns in der Wüste und es erscheint eine Oase am Horizont. Dann sehe ich eine Oase und es gibt auch für mich jenen Gegenstand, den man Oase nennt. Wenn ich mich jedoch an die Existenz dieser Luftspiegelung erinnere und mir sage, dass es sich dabei um keine Oase, sondern um das Sehen einer Oase handelt, gibt es für mich keine Oase mehr, sondern lediglich das Sehen einer Oase. Das Sehen einer Oase und eine tatsächliche bzw. wirkliche Oase sind nicht dasselbe. Wenn wir den Meinungsakt zum Gegenstand des Bewusstseins machen, dann machen wir sogleich den Meinungsakt zu dem Gemeinten; wobei die Meinung den Platz des ursprünglich Gemeinten einnimmt und dieses Gemeinte aus dem Bewusstsein verschwindet. Was hat das genau zu bedeuten? Es bedeutet etwas äußerst Einfaches, wodurch wir zudem, dank der Vervollkommnung der ursprünglichen Definition Brentanos, den Idealismus nun von Grund auf überwinden können. Es besagt, dass es kein Bewusstsein gibt, solange es ein Ding gibt, und dass es kein Ding gibt, solange es Bewusstsein gibt. Wenn ich ein Ding erlebe und meine Aufmerksam­ keit sich nicht auf dieses, sondern auf mein Ding-Erleben richtet, dann verschwindet das Ding. Damit das Ding mir gegenwärtig wird, müssen wir uns beide, das Ding und ich, ohne irgendeine Vermittlung durch das Bewusstsein einander unmittelbar gegenüberstehen. Eben dies bedeutet Erlebniswirklichkeit. Wenn der Idealismus mir beweist, dass die Welt nicht ist bzw. nur meine Vorstellung ist, dann hätte ich zwar den Meinungsakt, aber dennoch kein Gemeintes. Würde die Welt samt der Realität beibehalten, hätte ich hingegen kein Bewusstsein. Um Bewusstsein zu haben, müsste ich einen unnatürlichen und alles andere als spontanen Reflexionsaufwand betreiben, wobei ich das Ding selbst durch die

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Wahrnehmung des Dings ersetzen würde. Und ich kann das Ding nur sehr schwer an den Ort zurückbringen, an dem es zuvor war. Wie Sie sehen, erlaubt uns diese präzise und endgültige Analyse der Innenstruktur des Erlebnisses, die schmeichelhaften Worte des Idealismus ignorieren zu können. Die Dinge sind in mir, und erst wenn ich diese willkürlich beseitige, kann ich sie durch meine Ding­ wahrnehmung ersetzen. Dennoch ist meine Dingwahrnehmung nur der Meinungsakt der Dinge, nicht aber das Gemeinte selbst. Wenn also der Idealismus das Gemeinte beseitigt und nur die meinende Idee bzw. den Meinungsakt beibehält, amputiert er sogleich die Wirklichkeit des Erlebnisses. Diese Wirklichkeit ist das Ich, das dem Ding gegenübersteht, und das Mittel, durch das jenes Ich mit dem Ding in Verbindung tritt, also der Meinungsakt. Der Meinungsakt wird mir erst dann bewusst, wenn ich das Ding entferne und statt­ dessen den Meinungsakt selbst vor mir habe. Dies macht vielleicht der Psychologe, und zwar nachträglich; jedoch mit Sicherheit kein Mensch, der normal im Leben steht. In unserem wirklichen Leben gibt es die Dinge und das Ich. Und weder die Dinge noch das Ich sind das Sein an sich; vielmehr sind die Dinge erst dann das, was sie sind, wenn sie mir gegenwärtig werden und ich über sie reflektiere bzw. an sie denke. Dennoch ist mein Denken weder die primäre noch die grundlegende Tätigkeit in meinem Leben. Im Leben machen wir viel mehr mit den Dingen, als diese nur zu denken; wir verwenden, erzeugen, machen und erleben sie. Sie zu denken ist nur ein Einzelfall unter den mannigfachen Operationen, die wir an und mit ihnen verrichten können. Die Dinge zu denken, ist weder das Vorrangige noch das Grund­ legendste, was wir mit ihnen machen können. Noch bevor wir die Dinge denken, ist das Erleben der Dinge, das Leben, jener ursprüngli­ che und radikal grundlegende Akt (acto fundamental). Erst nachträg­ lich und aufgrund eines vitalen Bedürfnisses verwandeln sich das Ich und die Dinge, die sich dort unmittelbar gegenüberstehen, in das Denken und in einen Gegenstand. Demnach stellen sich das Problem des Denkens, des Seins und der Realität der Dinge also erst, nachdem wir das Leben schon erleben; sie sind somit ein Bestandteil des Lebens. […] Der Grundfehler des Idealismus besteht darin, eine Unmittelbar­ keit des Denkens proklamiert zu haben. Denn das Denken ist erst dann unmittelbar, gegenwärtig und evident, wenn ich das Ding nicht habe. Wenn mir das Ding gegenübersteht und ich mit ihm lebe,

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dann handhabe, gebrauche und vollziehe ich es, ohne an das Ding zu denken; mein Denken des Dinges ist mir somit offensichtlich nicht unmittelbar und gegenwärtig gegeben. […] Um diesen Fehler des Idealismus deutlich in Worte zu fassen, müssen wir zwischen zwei Modi unseres Verhältnisses zu den Din­ gen unterscheiden; nämlich zwischen einem lebendigen Modus, der darin besteht, die Dinge zu handhaben, zu erleben, zu gebrauchen, zu genießen oder abzulehnen; und einem anderen, reflektierenden, sekundären und nachträglichen Modus, der darin besteht, mit ihnen nichts von dem Gesagten zu machen, sondern etwas gänzlich Neues, nämlich, sie zu denken. Das Leben besteht jedoch nicht darin, die Dinge zu denken; es ist lediglich eine ganz bestimmte Art und Weise, mit ihnen umzugehen. Und wenn ich auf diese besondere Weise mit dem Ding umgehe, dann verschwindet es für mich, und stattdessen treten das Denken, das Wesen und das Sein dieses Dinges auf. An dieser Stelle könnten sich jedoch der Idealismus und der Realismus gegen uns verbünden und uns das folgende Rätsel aufge­ ben: Entweder bin ich in der Welt, und dann hat der Realismus recht, oder die Welt ist in mir, und dann hat der Idealismus recht. Letztlich könnten man aus beiderlei Perspektiven sagen, dass es keinen Mittelpunkt gibt. Schauen wir uns jedoch diese grausame Zwickmühle, jene Zange, die uns die Luftzufuhr abzuschneiden droht, einmal näher an. Was bedeutet es, in mir selbst zu sein? Wenn der Realismus und der Idealismus mir sagen, dass ich entweder in der Welt bin oder diese in mir ist, was bedeutet dann jenes in? Es bedeutet ganz offensichtlich, dass ich ein Teil von der Welt bin oder die Welt ein Teil von mir ist. Genau das möchten der Idealismus und der Realismus mir einstimmig sagen. Nun gut, man kann allerdings keineswegs sagen, dass ich ein Teil von der Welt bin, da ich nicht die Welt und auch nicht mein Körper bin. Ich bin etwas, für welches es die Welt und diesen Körper gibt. Ich muss etwas sein, das dem, was es für mich gibt, jederzeit gegenübersteht. Man darf somit keineswegs sagen, dass ich ein Teil von der Welt bin. Und genauso wenig darf man sagen, dass die Welt ein Teil von mir ist. Es stellt sich also die Frage: Welchen Sinn könnte es haben, zu sagen, dass die Dinge in mir sind? Das wirkliche Erlebnis und unsere wirkliche Anschauung bedeuten keineswegs, zu glauben

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bzw. zu denken, dass die Dinge in mir sind. Erst die wissenschaftliche und philosophische Reflexion der Psychologen, d. h. eine spätere als die vorrangige, vitale Einstellung, kann in Form einer Analyse und auf arg vermittelte Weise zu dem abstrakten Ergebnis kommen, dass die Welt, ja die Dinge in mir bzw. ein Teil von mir sind. Tatsächlich bin ich jedoch weder ein Teil von der Welt noch ist diese ein Teil von mir, sondern wir, ich und die Welt, sind beide Teil meines Lebens. Dieses ist der Urbereich, in dem wir, ich und die Welt, zugleich koexistieren […]. Sowohl der Idealismus als auch der Realismus begehen den Feh­ ler, jenes kleine Wort, jene Präposition namens in, welche eine inklu­ dierende Verhältnishaftigkeit bedeutet und indiziert, zu übersehen. Beide, der Idealismus und der Realismus, dachten, dass sie von einem absoluten Sein an sich ausgingen und dementsprechend alles, was jenes vermeintliche Sein nicht ist, in einem inkludierenden Verhältnis zu ihm stehen bzw. durch die Präposition in mit ihm verbunden sein müsse. Eben deshalb kommt es durch sie auch zu dem Dilemma, ob entweder ich in der Welt bin oder die Welt in mir ist. Weder der Realismus noch der Idealismus haben jedoch bemerkt, dass es einen radikaleren und ursprünglicheren Bereich als die Welt und das Ich gibt, und dieser Bereich ist das Leben. Deswegen ist das Verhältnis zwischen der Welt und dem Ich kein inkludierendes; es lässt sich nicht durch die Präposition in, sondern nur durch die Konjunktion und bzw. durch die Präposition mit ausdrücken. In diesem Sinne spricht man vielmehr von dem Verhältnis zwischen mir und der Welt. Es geht dann um keine inkludierende, sondern um eine koexistierende Beziehung; das Ich und die Welt bzw. das Ich mit der Welt sind voneinander getrennt und stehen zugleich in einem Verhältnis zueinander. Wir stehen im Leben und der Lebensbegriff, mein Leben, umfasst sowohl die Welt als auch das Ich. Die Überwindung des Idealismus bedeutet somit zugleich auch eine Überwindung des Realismus. Beide Lehren sind eine Abstrak­ tion, ein willkürlicher Ausschnitt unseres wirklichen und eigentlichen Erlebnisses, das gerade darin besteht, dass das Ich und die Dinge sich in einem allgemeineren und ursprünglicheren Bereich befinden, den wir Leben nennen. Das Leben erscheint uns ursprünglich, hauptsäch­ lich und grundsätzlich als Koexistenz; es ist meine Koexistenz mit den Dingen; ich existiere, und existieren bedeutet, dass ich mit den Dingen zu tun habe, mit ihnen umgehe. Meine Koexistenz mit den Dingen ist jedoch nicht zwingend gegenwärtig; sie kann auch vergangen und

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vorüber sein. Ich koexistiere nicht nur jetzt mit den Dingen, sondern tue das schon seit langem. Eine Koexistenz mit den Dingen ergibt sich so gesehen aus einer früheren Koexistenz. Zu der Koexistenz müssen wir, als Eigenart des Lebens, die Präexistenz hinzufügen. Das Leben ist nicht nur Koexistenz, sondern auch Präexistenz; es ist nicht nur meine gegenwärtige, sondern auch meine frühere Existenz mit den Dingen. Was ich jetzt mit den Dingen mache, geht auf das zurück, was ich zuvor mit ihnen gemacht habe. Wenn ich jetzt zu einem Entschluss komme, dann deshalb, weil ich ihn bereits zuvor gefasst habe. Deshalb ist der jetzige Augenblick meines Lebens ein Resultat, das frühere Augenblicke verursacht und herbeigeführt haben. Wir haben nun schon zwei Grundmerkmale jenes ursprüngli­ chen Bereiches des Lebens, nämlich die Koexistenz und die Präe­ xistenz. Dem müssen wir noch ein drittes Merkmal hinzufügen; wir nennen es die Antizipation. Mein Koexistieren mit den Dingen besteht wesentlich und grundsätzlich darin, mit den Dingen etwas zu machen, sich mit ihnen zu beschäftigen; aber die Beschäftigung, der Vollzug und die Handhabung der Dinge, d. h. das, was ich konkret mit den Dingen mache, besteht darin, zu einem Entschluss zu kommen, den ich bereits früher gefasst habe. Und damit ich etwas mit den Dingen machen kann, muss ich beschließen, was ich als Nächstes mit ihnen tun werde. Meine gegenwärtige Beschäftigung ist also Sorge, ja das Leben ist in jedem Augenblick Sorge, was bedeutet, dass das gegenwärtige Tun darin besteht, das kommende Tun vorzubereiten, es vorauszusagen. […] Zu den oben genannten Merkmalen, die den Bereich des Lebens charakterisieren, müssen wir noch das Merkmal der Bevorzugung hinzufügen. Leben ist Bevorzugen, da jeder Entschluss, den wir fassen, darin besteht, ein Tun dem anderen vorzuziehen, mit den Dingen besser auf diese als auf die andere Weise umzugehen. Diese drei Merkmale – Koexistenz, Präexistenz und Antizipation – reichen aus, um uns klar zu machen, dass das Leben genau darin besteht, sich die Zeit zu vertreiben. Leben heißt, sich die Zeit zu vertreiben. Der Mensch vertreibt sich die Zeit, und wenn er nichts zu tun hat, um sich die Zeit zu vertreiben, dann sieht er sich dazu genötigt, sich die Zeit zu vertreiben, ohne etwas zu tun zu haben. Und dies bedeutet, dass er sich bloße Zeit vertreibt, und darin besteht die Langweile.

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Und wenn das Leben Zeit ist, wenn die Zeit, die wir vertreiben, indem wir etwas tun, das Leben ist, dann zeichnet sich das Leben durch das charakteristische Adjektiv ›biografisch‹ aus. Wir setzen dem Biologischen das Biografische entgegen. Man kann das Leben auf zweierlei Weise betrachten, nämlich biografisch und biologisch. Gemeint ist damit aber nicht, dass diese Lebensphilo­ sophie überhaupt nichts mit der Biologie zu tun hätte. Das biologische Leben ist die Zeit unseres Körpers; sie kommt auch in dem tierischen und pflanzlichen Leben vor. Das biografische Leben ist hingegen die Zeit, die wir uns vertreiben. Der Unterschied zwischen dem biologischen und dem biografischen Leben besteht also darin, dass das biologische Leben schon gemacht ist; wir machen es nicht selbst. Das biografische Leben machen wir selbst; es ist die Geschichte unseres Lebens. Die Natur macht demgegenüber das biologische Leben in uns. Das biologische Leben ist demnach ein Ding für das biografische Leben, während das biografische Leben ein Ich ist, welches mit den Dingen etwas macht. Darüber hinaus ist das Leben absolut unübertragbar; man kann kein Leben durch ein anderes ersetzen. Niemand kann für mich eine Entscheidung treffen; und ich kann auch keine Entscheidung für jemand anderen treffen. Man kann auch nicht sagen, dass ich ein für alle Mal entscheiden kann, dass jemand an meiner statt Entscheidungen treffen wird. Denn jedes Mal, wenn ich mich den Entscheidungen dieses Anderen unterwerfen würde, hätte ich auch immer wieder erneut diesen Beschluss fassen müssen. Daher sind die Lebensgeschichten unübertragbar, nicht austauschbar und absolut; der Mensch ist das absolut einsame Seiende. Und somit nähern wir uns auch schon dem springenden Punkt dieser Ausführungen. Denn es gibt noch ein anderes grundlegendes Merkmal des Lebens, und zwar die Beunruhigung. Unser Umgang mit den Dingen ist nämlich nicht einfach und freiheraus, da die Dinge unseren Handlungen einen Widerstand entgegensetzen. Sie beugen sich nicht unseren Wünschen und schlagen fehl, wenn wir mit ihnen dieses oder jenes machen wollen. Und dieses Fehlschlagen, diese Unbeugsamkeit der Dinge, ruft in uns ein Gefühl der Unsicher­ heit hervor. Unsicherheit bedeutet hier, nicht zu wissen, was man tun soll und wonach man sich zu richten hat; sie ist jene grundlegende Beun­ ruhigung des Lebens, die den Menschen stets dazu bewegt, Fragen zu stellen, zu suchen und zu versuchen, diese radikale Lebensangst

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(angustia de vivir) zu beruhigen. Es ist aber absolut unmöglich, sie gänzlich zu lindern. Wir können die Angst zwar dämpfen und verringern, aber sie ist dann ohne Zweifel immer noch da, sie bleibt in uns auf somnolente Weise bestehen. Und manchmal wacht die Lebensangst auf und erschreckt uns; dann sehnen wir uns nach etwas Festem, auf das wir uns stützen können; dieses benötigen wir aus einem vitalen Bedürfnis heraus, denn sonst könnten wir gar nicht weiterleben. Wir müssen der Unruhe, der Lebensangst entkommen. Wieso müssen wir das? Weil diese Lebensangst eine Kehrseite hat. Die Kehrseite der Lebensangst, die mehr oder weniger schlum­ mernd unser Leben durchpocht, ist die Anwesenheit des Nichts. Die Lebensangst tritt und wacht in uns auf, wenn die Dinge unseren Absichten widerstreben, wenn wir Widerstand und Negation in ihnen vorfinden. Dann offenbaren sich die Dinge in ihrem Negationscharak­ ter bzw. das Nichts wird für uns offenkundig. Was wir kosmische Angst oder Lebensangst nennen, ist eigentlich jenes tragische Schau­ spiel des Nichts. Die Lebensangst gründet auf dem Nichts. Wenn wir das Nichts von einem logischen Standpunkt aus betrachten und als einen Begriff des Denkens, stoßen wir auf etwas Absurdes, auf eine bloße Nennung des Nichts, die in sich selbst eine Sinnwidrigkeit markiert. Denn sobald wir das Nichts mit unserem Verstand denken, zerrinnt es uns in unseren Händen; weil das Nichts das ist, was nicht ist, also die Negation des Seins. Das Nichts ist ein rein negativer Begriff; zumindest dann, wenn wir das Nichts als einen Begriff bzw. von einem logischen Standpunkt aus oder mit unserem Denken betrachten. Wir wissen jedoch bereits, dass wir zunächst nicht denken, sondern erst einmal leben. Das Leben geht dem Denken voraus. Und das Denken ist gerade eine Operation, die wir bewerkstelligen, um der Angst zu entgehen. Von einem vitalen – also einem weder logischen noch begrifflichen – Standpunkt aus gesehen, ist das Nichts gar nicht negativ, sondern etwas durchaus Positives, Offenkundiges, Gegenwärtiges und Unmit­ telbares. Bei diesem tiefen Lebensgefühl der Angst müssen wir etwas tun, um dem Nichts zu entgehen. Denn dieses Nichts droht, zu einem gewaltigen und unendlichen Meer zu werden, in dem unser Leben der Gefahr ausgesetzt ist, Schiffbruch zu erleiden. Um zu leben, müssen wir also etwas machen, um diese Unruhe zu beruhigen bzw. jene Angst zu besänftigen. Wir müssen das Nichts verschwinden lassen, und dazu setzen wir das Sein.

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Also machen wir etwas völlig Neues in unserem Leben: Wir denken. Wir denken nicht deshalb, weil wir sind, wie Descartes meint (unser Wesen ist nicht das Denken), sondern zunächst leben wir. Und da wir leben, wollen wir auch weiterleben. Unser Leben ist ständig bedroht, wir fühlen die Angst vor dieser Bedrohung und nehmen das Nichts offen und spürbar wahr. Um uns zu retten, denken wir, und damit setzen wir das Sein der Dinge. Und indem wir das Sein der Dinge setzen, gewinnen sie Sein. Die Dinge haben an sich und durch sich selbst kein ewiges, unerschütterliches Sein, sondern nur, insofern wir es mit unserem Denken in ihnen setzen. Und dies tun wir, weil wir leben, bevor wir denken. Zu leben besteht gerade darin, sich zu beunruhigen; denn Unruhe ist Angst und diese Angst ist der Kontakt mit dem Nichts. Was bedeutet es aber genau, das Sein der Dinge zu setzen? Ganz gewiss nicht, das Sein aus der Tasche zu holen, um es irgendwo aufzustellen. Wenn wir das Sein des Dings setzen, setzen wir die Negation des Nichts, was bedeutet, dass uns das Ding zu einem Problem wird. Die Seinssetzung bedeutet nicht die Aufweisung, sondern das Verbergen des Seins; es bedeutet, das Ding in seiner ausführenden Dinglichkeit (cosidad ejecutiva) aus unserer lebendigen Präsenz heraus zu schaffen. Und wenn wir denken bzw. sagen, dass dieses Ding etwas sein müsse, so stellt sich die Frage: Was ist denn dann dieses Ding? Ich weiß also nicht, was das Ding ist, denn sobald ich das Sein gesetzt habe, habe ich das Ding bereits zu einem Problem gemacht. Das Problem ist, dass das Ding ein Sein hat und ich nicht weiß, um welches Sein des Dinges es sich dabei handelt, weswegen ich anfange, es zu erforschen, und dazu muss ich von dem Denken oder der Vernunft Gebrauch machen. Sie können nun die Tiefsinnigkeit erahnen, mit der unser spani­ scher Philosoph Ortega y Gasset das alte und traditionelle Adjektiv »rein«, welches die Vernunft im Idealismus mit sich führt, durch das neue und radikalere Adjektiv »vital« ersetzt. In dieser lebendigen Philosophie ist die Vernunft, welche bei Kant noch rein ist, zu einer vitalen Vernunft geworden. Vital ist sie deshalb, weil sie weder primär noch ursprünglich ist, sondern einem tiefen Lebensbedürfnis

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Manuel García Morente (1886–1942): Text 5 Über die Metaphysik des Lebens (1934)

entspringt, um letztlich eine essentiell rettende Rolle im Leben zu spielen: uns von der Angst vor dem Nichts zu befreien.370 […]

[Man erkennt hier García Morentes Bemühen, sich den Nihilismus von Sein und Zeit aus der Perspektive der Philosophie der vitalen und historischen Vernunft Ortega y Gassets einzuverleiben und ihn zugleich zu überwinden.].

370

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Xavier Zubiri (1898–1983): Text 6 Rezension zu Brentano (1926)

(Übersetzt von Niklas Schmich)

Guillermo

Ferrer

in

Zusammenarbeit

mit

Die im Jahre 1874 veröffentlichte Psychologie von [Franz] Bren­ tano ist eines der am wenigsten bekannten, jedoch gleichzeitig ein­ flussreichsten philosophischen Ereignisse des letzten Jahrhunderts. Von ihr geht alles aus, was sich heutzutage Philosophie nennt, und somit auch das, was in Zukunft die Philosophie ausmachen wird. Um die Bedeutung des Werkes von Brentano nachzuvollziehen, reicht es aus, sich den Stand der psychologischen Forschung zum Zeitpunkt seines Erscheinens ins Gedächtnis zu rufen. Unter dem Ein­ fluss von [Johann Friedrich] Herbart und [Gustav Theodor] Fechner begann sich die Psychologie als positive Wissenschaft zu gestalten, um später in den Grundzügen der physiologischen Psychologie von [Wilhelm] Wundt kodifiziert zu werden. Wir können uns also auf dieses Buch als ein ideales Koordinatensystem für eine Definition von Brentanos Werk beziehen.371 Der Einfluss Wundts auf die Psychologie ist auf seine eigen­ tümliche Art und Weise, die geistigen Phänomene zu betrachten, zurückzuführen. Für Wundt sind das Physische und das Psychische nicht zwei verschiedene Phänomene, sondern zwei Weisen, ein und

371 [Zubiri hat sich schon sehr früh mit den Arbeiten von Fechner und Wundt auseinandergesetzt. Seine Privatbibliothek enthält u. a. die folgenden Exemplare: Gustav Theodor Fechner (1876): Vorschule der Ästhetik. Leipzig: Breitkopf & Härtel; Johann Friedrich Herbart (1883): Sämtliche Werke. Leipzig: Leopold Voss Verlag; Wilhelm Wundt (1908): Grundzüge der physiologischen Psychologie. Leipzig: Wilhelm Engelmann Verlag (erste Auflage 1874); ders. (1918): Grundriss der Psychologie. Leipzig: Alfred Kröner Verlag (erste Auflage 1896); ders. (1919): Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele. Leipzig: Leopold Voss Verlag; ders.; (1919): System der Philosophie. Leipzig: Alfred Kröner Verlag.].

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Xavier Zubiri (1898–1983): Text 6 Rezension zu Brentano (1926)

dasselbe Phänomen zu erwägen.372 Ein Mineral, ein Blitz oder der mir gegenüberstehende Tisch sind Gegenstand sowohl der physikalischen Wissenschaft als auch der Psychologie. Nehme ich diese Gegenstände genauso auf, wie sie mir in der unmittelbaren Erfahrung gegeben sind, so finde ich sie im Feld meines Bewusstseins beweglich vor; als Tatsache der unmittelbaren Erfahrung ist die Welt vorerst Bewusst­ seinsinhalt. Und das Bewusstsein selbst, welches für einen naiven Realisten nichts weiter als ein Teil des Kosmos ist, bekommt für die Psychologie dieser Zeit den Rang eines universalen Gehäuses dieses Kosmos. Wundt zufolge würde die reine Tatsache also zeigen, dass jeder Gegenstand Bewusstseinsinhalt ist, wodurch die rein empirisch betrachteten Verhältnisse zu anderen Gegenständen den Endpunkt der Psychologie, d. h. der Wissenschaft der unmittelbaren Erfahrung, bilden. Wenn ich aber die Ebene der reinen Tatsache verlasse, um auf die Deutung ihrer raumzeitlichen Wiederholungen abzuzielen, muss ich mir das Gegebene so vorstellen, als würde es durch ein hinter ihm Verborgenes hervorgebracht werden. Ich muss mir eine Welt vorstellen, die dem Bewusstsein zwar nicht unmittelbar gegenwärtig ist, dieses aber dazu zwingt, sie als vermittelte Realität zu denken. Nur von diesem Standpunkt der mittelbaren Erfahrung aus wird das Licht zum Gegenstand der Physik. Das Physische und das Psychische verhalten sich jeweils als das Mittelbare und das Unmittelbare. An 372 [Diesen Gedanken finden wir in einer der entscheidenden Passagen in Wundts Werk: »Mit der Unterscheidung des Subjekts und der Objekte oder, wie man diese Begriffe durch Reduktion des ersten auf seine ursprüngliche Gefühlsgrundlage und durch Zusammenfassung des zweiten in einen generellen Begriff auch auszudrücken pflegt, des Ich und der Außenwelt ist erst die Grundlage zu allen jenen Überlegungen gegeben, denen der zunächst in der populären Weltanschauung vorbereitete und dann aus ihr in die philosophischen Systeme übergegangene Dualismus seinen Ursprung verdankt. In diesem Sinne pflegt dann auch die Psychologie selbst als die Wissenschaft von dem Subjekt den anderen Wissenschaften und speziell den Naturwissenschaften gegenübergestellt zu werden. Diese Auffassung könnte aber nur dann richtig sein, wenn die Unterscheidung des Ich von der Außenwelt eine aller Erfahrung vorausge­ hende Urtatsache wäre, und wenn die Begriffe des Subjekts und der Objekte einander ein für alle Mal eindeutig gegenübergestellt werden könnten. Weder das erste noch das zweite trifft zu. Das Selbstbewusstsein ruht vielmehr auf einer Reihe psychischer Vorgänge; es ist ein Erzeugnis, nicht die Grundlage dieser Vorgänge; und demzufolge bilden auch Subjekt und Objekte weder ursprünglich noch überhaupt jemals absolut verschiedene Erfahrungsinhalte, sondern sie sind Reflexionsbegriffe, die infolge der Wechselbeziehungen der einzelnen Bestandteile des an sich vollkommen einheitli­ chen Inhalts unserer unmittelbaren Erfahrung entstehen«. Wilhelm Wundt (1918): S. 265–266.].

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Xavier Zubiri (1898–1983): Text 6 Rezension zu Brentano (1926)

sich selbst ist das Licht als Empfindung und das Licht als Gegenstand der Optik jedoch identisch. Das geniale Werk Brentanos besteht eben in der radikalen Über­ windung dieser groben Vereinfachung. Abgesehen von Einzelheiten, welche der Leser selbst feststellen wird, lässt sich Brentanos Position zum radikalen Psychologismus Wundts mit einem Wort so beschreiben: radikaler Objektivismus. Brentano löst sich vor allem durch seine Geisteshaltung und seinen methodologischen Begriff des Wissens von Wundt und dessen Vorgängern. Und dies ist das Entscheidende. Richtig gesehen, ist Wundts Definition der Psychologie ein Korollarium des positivisti­ schen Geistes jener Zeit. Wundt interessiert sich nicht dafür, zu wissen, was die Psyche gegenüber der Physis oder der Natur ist, sondern lediglich dafür, das Verhalten ihrer Phänomene vorauszu­ sagen. Sowohl in der Psychologie als auch in der Physik ist das wissenschaftliche Gesetz ein rein funktionales Verhältnis. Ist eine Empfindung oder ein bestimmter molekularer Zustand gegeben, so gilt es im Vorhinein zu ermitteln, welches geistige oder physische Phänomen durch jene Empfindung oder jenen Zustand hervorgerufen wird. Man sagt uns, es handele sich nicht darum, zu wissen, was die Dinge an sich selbst sind, sondern wie sie sich zueinander verhalten. Im Grunde genommen ist Wissenschaft Vorhersage, prolepsis. Ganz anders ist die Absicht Brentanos. Durch eine langjährige Beschäftigung mit Aristoteles ausgebildet, verfügt sein Geist über eine erlesene Sensibilität für die Wesenserkenntnis. Ihn irritiert die Sorglosigkeit, mit welcher der positivistische Denker über die Gegen­ stände huscht, ohne in ihnen ihre letzten Probleme zu entdecken. Der Positivismus ist niemals zu einer Philosophie geworden, weil ihm das subtile Unwohlsein bei den Komplexitäten, die ausgesuchte Sinnesschärfe für die Wahrnehmung des Mannigfaltigen, kurzum: jene geistige Hyperästhesie des Erstaunens, das göttliche θαυμάσίν,373 fehlt, in dem Platon den Ursprung alles philosophischen Wissens verortete. Der Positivist verwundert sich über nichts. Er nimmt die Ordnung als ein Postulat an und interessiert sich nicht für die sie realisierenden Dinge; und viel weniger noch interessiert er sich für das »Wie« der Realisierung dieser Ordnung. Brentano hat hingegen als [Zubiri begeht hier einen Transkriptionsfehler. Antonio Pintor-Ramos vermutet, dass es sich hierbei um das Wort thaumázein handeln könnte. Siehe dessen Einführung in: Zubiri (1999): S. 388.]. 373

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Xavier Zubiri (1898–1983): Text 6 Rezension zu Brentano (1926)

ein die Sensibilität für dieses Problem schärfender, geheimnisvoller Katalysator auf das moderne Bewusstsein gewirkt. Und für Brentano liegt »das Problem« in der Wesenserkenntnis. Seine geniale, in seinem Werk jedoch lediglich latente Entde­ ckung – sie wird erst im Werk seiner Schüler, den heutigen Meistern der Philosophie, explizit – ist die Überwindung des Dualismus zwi­ schen der positiven Wissenschaft und der Metaphysik. Im Grunde genommen kann der Unterschied zwischen dem phänomenalen und dem metaphysischen Wissen den über mehrere Jahrhunderte erkenntnistheoretischer Meditation gestalteten Intelligenzen nicht weniger als gerechtfertigt scheinen. Und aufgrund dessen können, ja mehr noch müssen wir mit ganzer Gültigkeit und Dringlichkeit nach einem phänomenalen Wissen trachten. Was dem Positivismus jedoch fehlt, ist die deutliche Einsicht in das Phänomen und dasjenige Wissen, das von ihm zwar postuliert, jedoch nicht definiert wird. Streng genommen sagt uns der Positivismus nicht, was die Phäno­ mene sind, sondern lediglich, wie sie sich in die Zeit und den Raum einordnen. Indes hat uns Brentano gezeigt – ohne dass es nötig wäre, das Gegebene aufzugeben –, dass es legitim und notwendig ist, klarzulegen, wie die Phänomene an sich selbst auftreten und welcher inneren Rangordnung sie zugehören. Nicht nur sagt uns der Positivismus nicht, was die Dinge an sich selbst sind, sondern auch nicht, was sie als Phänomene sind; er sagt uns nicht, was die Wärme ist, sondern lediglich, wann diese wärmt. Kurzgefasst zielt Brentano darauf ab, eine wesentliche Definition dessen zu geben, was die Phänomene an sich selbst und in ihrer phänomenalen Reinheit sind.374 Dass wir nicht bei den metaphysischen Substanzen ankom­ men, bedeutet nicht, dass es uns untersagt ist, zu den Wesenheiten zu gelangen. Der Positivismus verlangt, dem Gegebenen gegenüber Treue zu bewahren; jedoch glaubt Brentano, dass wir erheblich mehr [In der Psychologie vom empirischen Standpunkt nimmt sich Brentano von Beginn an vor, die psychischen Erscheinungen im Kontrast zu den physikalischen Phänome­ nen klar zu definieren. Sowohl Ortega als auch García Morente und Zubiri legen Nachdruck darauf, dass die Originalität der neuen Brentano’schen Definition des Bewusstseins und der Bewusstseinsphänomene darin besteht, das Ergebnis einer mühsamen deskriptiven Analyse zu sein. In diesem Sinne schrieb Brentano: »Die Erklärung, die wir anstreben, ist nicht eine Definition nach den herkömmlichen Regeln der Logiker. Diese haben in letzter Zeit mehrfach eine Vorurteilslose Kritik erfahren, und dem, was ihnen zum Vorwurfe gesagt wurde, wäre noch manches weitere Wort beizufügen. Das, worauf wir ausgehen, ist die Verdeutlichung der beiden Namen: physisches Phänomen – psychisches Phänomen«. Brentano (2008): S. 96.]. 374

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Xavier Zubiri (1898–1983): Text 6 Rezension zu Brentano (1926)

Dinge sehen können, als es sich der Positivismus vorstellt. Hierher rührt in letzter Instanz die Fruchtbarkeit seines Werkes, aus der die gesamte heutige Phänomenologie aufkeimt. Mit dieser Absicht versucht Brentano zum ersten Mal in der modernen Geschichte, die genauen Grenzen zwischen dem Physi­ schen und dem Psychischen abzustecken. Für Wundt ist der Unter­ schied, wie ich schon bemerkt habe, lediglich standpunktbezogen; für Brentano ist er dagegen wesentlich. Wenn man uns sagt, die Welt sei ein Bewusstseinsinhalt, so bietet man uns streng genommen keine Definition, sondern man stellt uns vor ein riesiges Problem: Ist die Welt als Bewusstseinsinhalt mit der Welt als Realität iden­ tisch? Wundt und der Psychologismus bejahen diese Frage, Brentano hingegen verneint sie. Das Spezifikum des geistigen Phänomens besteht eben darin, dass sein Gegenstand nicht eo ipso real, sondern vielmehr irreal ist. Der Gegenstand existiert intentional, virtuell im Bewusstsein; der Gegenstand der Physik existiert hingegen wirklich und wirksam. Die Wärme der Welt ist eine solche, die wärmt; die Wärme der Empfindung als solche ist eine, deren Wesenheit eben die Wärme ist, aber, wie Husserl sagt, in Klammern gesetzt wird; es geht hier um eine Wärme, die nicht wärmt. Der gedachte Schmerz ist ein Schmerz, der nicht weh tut. Brentano bringt diese eigentümliche Seinsweise der Gegenstände im Bewusstsein mit dem scholastischen Terminus intentionales Sein zum Ausdruck. Jedes psychische Phäno­ men zeichnet sich dadurch aus, intentional einen Gegenstand zu haben; jede Vorstellung setzt einen vorgestellten Gegenstand voraus; jede Liebe oder jeder Hass setzen etwas voraus, das geliebt oder gehasst wird, usw. Diese Auffassung stammt von Aristoteles. Im Buch V der Meta­ physik gibt es eine übergangene Bemerkung des Stagiriten, in welcher das Wissen als Beispiel für eine Beziehung angeführt wird.375 Die Idee ist eine reine Beziehung, und was das Bewusstseinsverhältnis 375 [Möglicherweise bezieht sich Zubiri auf die folgende Stelle bei Aristoteles: »Rela­ tiv nennt man einmal, was sich verhält wie das Doppelte zum Halben, das Dreifache zum Drittel und überhaupt das so Vielfache zu dem so vielten Teile und das Übertref­ fende zum Übertroffenen; ferner, was sich verhält wie das Erwärmende zum Erwärm­ ten, das Schneidende zum Geschnittenen und überhaupt das Tätige zum Leidenden; dann, was sich verhält wie das Gemessene zum Maß, das Gewußte zur Wissenschaft, das sinnlich Wahrgenommene zur sinnlichen Wahrnehmung.« Aristoteles (1989): Metaphysik. Erster Halbband: Bücher I (Α) – VI (Ε). Neubearbeitung und Übersetzung von Hermann Bonitz. Mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Horst Seidl.

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Xavier Zubiri (1898–1983): Text 6 Rezension zu Brentano (1926)

jedem anderen Verhältnis gegenüber auszeichne, sei die Tatsache, dass einer seiner Bezugspunkte, der Gegenstand, keineswegs real zu sein brauche. Die Idee hat, entgegen allem, was der moderne Subjek­ tivismus sagt, also minimale Realität; sie ist nur seitens des durch sie affizierten Subjektes Realität, jedoch nicht seitens des Gegenstandes, auf den sie sich bezieht. Deswegen können die mit den Individuen multiplizierbaren Ideen aufgrund ihres Gegenstandes identisch sein. Aus dieser Bestimmung ergibt sich die Teilung der psychischen Phänomene. Noch einmal, es handelt sich dabei um keine psychoge­ netische Klassifikation, sondern um eine wesentliche Rangordnung. Für Wundt gibt es tatsächlich nur ein psychisches Phänomen, und zwar den zu verschiedensten Komplexitäten fähigen Akt. Ein Urteil sei weiter nichts als ein Verhältnis zwischen Vorstellungen; ein Gefühl sei nur eine Verkomplizierung von Lüsten und Schmerzen. Ihrerseits seien Vorstellungen und Gefühle nichts weiter als zwei Standpunkte bezüglich einer einzigen Realität. Wenn man den Akt in Richtung Gegenstand betrachtet, dann handelt es sich um eine Vorstellung; wenn man ihn von der Seite des Subjekts aus betrachtet, ist er ein Gefühl. Brentano lehnt diesen Monismus entschieden ab. Die Vorstel­ lung ist ein Phänomen reiner Präsenz; bei ihr beschränken wir uns darauf, Gegenstände zu »haben«. Das Urteil ist eine Annahme oder Nichtannahme des gegenwärtigen Gegenstandes. Für Brentano ist also das Urteil der Glaube, das belief in der englischen Psychologie. Neben diesen Akten gibt es andere, in denen wir uns nicht darauf beschränken, Gegenstände zu haben oder dem zuzustimmen, was sie uns darbieten, sondern wir antworten auf sie mit unserem ganzen Ich; wir lieben oder hassen sie nicht infolge dessen, was sie sind, sondern aufgrund ihres »Wertes«. Letztendlich haben wir drei nicht reduzierbare Phänomene: die Vorstellung, das Urteil sowie Liebesund Hassgefühle mit ihren drei Korrelaten der Gegenstände, Wahr­ heiten und Werte. Hiervon sind die Objektivitätstheorien der Öster­ reichischen Schule und die ersten Forschungen zum Wert ([Christian von] Ehrenfels, [Alexius] Meinong usw.) ausgegangen.376 Griechischer Text in der Edition von Wilhelm Christ. Hamburg: Felix Meiner Verlag (dritte Auflage): S. 223.]. 376 [Zubiris Privatbibliothek zeugt auch von seiner frühen Beschäftigung mit anderen Vertretern der Österreichischen Schule neben Brentano: Christian Ehrenfels (1897– 1898): System der Werththeorie. 2. Bde. Leipzig: O. R. Reisland Verlag; Alexius

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Xavier Zubiri (1898–1983): Text 6 Rezension zu Brentano (1926)

Innerhalb der engen Grenzen dieser Rezension ist es weder dringend noch möglich, den Sinn dieser gründlichen Forschung Bren­ tanos zur Diskussion zu stellen. Freilich sind die von Brentano gelie­ ferten Bestimmungen zum Urteil und Wert verworren. Man kann weder das Urteil mit dem Glauben noch den Wert mit subjektiven Gefühlen gleichsetzen. Weil die Logik und Axiologie Brentanos diese Aspekte des Problems nicht unterscheiden, bleiben sie immer noch mit Psychologismus behaftet. Diesbezüglich reicht es aus, die Ausein­ andersetzung zwischen Ehrenfels und Meinong über die Definition des Wertes in Erinnerung zu rufen. Obwohl der Versuch Brentanos noch nicht völlig gelungen war, brachte er uns doch auf jenen Pfad, welcher zu der reinen Logik Husserls und der objektiven Werttheorie Schelers führte. Bereits aus diesem Grund sollte man den Genius Brentanos für den Vater der gesamten zeitgenössischen Philosophie halten. Das einzig Wichtige, das die Philosophie der Gegenwart zu sagen hat, ist, dass die Dinge etwas vom Bewusstsein Unabhängiges sind. Brentano hatte als Erster die Kühnheit, jene Unabhängigkeit der Dinge bezüglich des intentionalen Seins zu behaupten. Die große Aufgabe der zeitgenössischen Seele besteht nun darin, über ihn zu dem realen Sein als solchem zu gelangen.

Meinong (1904): Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie. Leipzig: Johann Ambroisius Verlag; ders. (1907): Über die Stellung der Gegenstandstheorie im System der Wissenschaften. Leipzig: Robert Voigtländer Verlag; ders. (1910): Über Annahmen. Leipzig: Johann Ambroisius Verlag; ders. (1913): Abhandlungen zur Erkenntnistheorie und Gegenstandstheorie. Leipzig: Johann Ambroisius Verlag: ders. (1914): Abhandlungen zur Psychologie. Leipzig: Johann Ambroisius Verlag.].

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Text 7 Phänomenologie, empfindende Intelligenz und Metaphysik der Realität (1944–1980)

(Übersetzt von Niklas Schmich)

Guillermo

Ferrer

in

Zusammenarbeit

mit

[Erstbegegnung mit der Phänomenologie] […]

Die Philosophie stand damals [1932] unter dem Motto der Phä­ nomenologie Husserls: Zurück zu den Sachen selbst! Sie war bis zum damaligen Zeitpunkt nicht die vorherrschende Philosophie. Damals war die Philosophie eine Mischung aus Positivismus, Historismus und Pragmatismus, der sich letztlich auf die Psychologie stützte. Diese Unterstützung kam in der Erkenntnistheorie zum Ausdruck. Von die­ ser Situation ausgehend hat Husserl – mithilfe einer strengen Kritik am Positivismus – die Phänomenologie begründet, die eine Wende vom Psychischen zu den Sachen selbst ist. Die Phänomenologie war eine ungeheuer wichtige Bewegung, die ein eigenes Feld für das Philosophieren als solches eröffnete. Sie bedeutete eine Philosophie der Sachen und nicht lediglich eine Erkenntnistheorie. Die Philosophie der Sachen war die stillschweigende Inspirati­ onsquelle der Zeit von 1932 bis 1944. Damit hatte die Phänomeno­ logie eine Doppelfunktion inne: Zum einen fasste sie den Inhalt der Dinge auf, zum anderen eröffnete sie den Raum des freien Philosophierens gegenüber jedweder psychologischen oder wissen­ schaftlichen Andienung. Die letztere Funktion war für mich die ent­ scheidende […]. Innerhalb der allgemeinen Inspiration hatte mein Nachdenken wiederum eine eigene Inspiration. Meine eigentliche Frage besteht darin, was die Dinge, über die man philosophiert, über­ haupt sind. Für die Phänomenologie waren die Dinge das objektive

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Text 7 Phänomenologie, empfindende Intelligenz und Metaphysik der Realität (1944–1980)

und ideale Korrelat des Bewusstseins. Letztlich schien mir dieser Ansatz jedoch unbefriedigend zu sein, auch wenn mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar war, was mir diesen Eindruck nahelegte. Die Dinge sind keine bloßen Gegenstände, sondern Dinge, die mit einer eigenen entitativen Struktur versehen sind. Undifferenziert hat man diese Untersuchung der Dinge – und nicht nur der Gegenstände des Bewusstseins – als Ontologie oder Metaphysik bezeichnet. Heidegger nennt diese Untersuchung so in Sein und Zeit. In dieser Phase meiner philosophischen Reflexion bildete die Ontologie oder Metaphysik die konkrete, gemeinsame Inspirationsquelle […]. Auf diese Phase folgte eine neue. Es stellte sich nämlich die Frage, ob Metaphysik und Onto­ logie sowie Realität und Sein ein und dasselbe sind. Innerhalb der Phänomenologie hatte Heidegger bereits den Unterschied zwischen den Dingen und dem Sein aufgewiesen. Die Metaphysik gründete für ihn also auf der Ontologie. Meine Überlegungen entwickelten sich in die entgegengesetzte Richtung: Das Sein ist in der Realität begründet. Die Metaphysik ist die Grundlage der Ontologie, wodurch die Philosophie sich weder mit der Objektivität noch mit dem Sein befasst, sondern mit der Realität als solcher. Seit 1944 ist mein Denken in eine neue Phase eingetreten, und zwar in die streng metaphysische Phase.377 […]

[Aporien der neuzeitlichen Erkenntnistheorie] […]

Sowohl ein wesentlicher Vorrang des Wissens gegenüber der Realität als auch der Realität gegenüber dem Wissen ist nicht möglich. Das Wissen und die Realität sind ursprünglich und strikt gleichartig. Es gibt keine Priorität des eines vor dem anderen. Und dies ergibt sich nicht aus den Voraussetzungen unserer Untersuchungen, sondern aus einer intrinsischen und formalen Vorbedingung der Idee von Realität und Wissen. Realität ist der formale Charakter bzw. die Form (formalidad), wonach das Aufgefasste etwas »am-Eigenen« (en propio), etwas »von 377 [Der hier übersetzte Textausschnitt findet sich auch in Xavier Zubiri (2015): Naturaleza, Historia, Dios. Hg. und mit einem Vorwort versehen von Diego Gracia. Madrid: Alianza Editorial/Fundación Zubiri, S. 13–15.].

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Text 7 Phänomenologie, empfindende Intelligenz und Metaphysik der Realität (1944–1980)

sich aus« (de suyo) ist. Und Wissen besteht in der Auffassung von etwas gemäß dieser Form […]. […] Das Ursprüngliche der Erkenntnis besteht darin, ein Modus des Verstehens zu sein. Deshalb setzt jede Erkenntnistheorie eine Untersuchung dessen voraus, was strukturell und formal gesehen die Intelligenz bzw. der Nous ist. Es handelt sich hierbei um eine »Noologie«. Die vage Idee des Wissens beschränkt sich nicht zunächst auf das Erkennen, sondern auf das Verstehen als solches. Es handelt sich hierbei weder um eine Psychologie der Intelligenz noch um eine Logik, sondern um die formale Struktur des Aktes des Verstehens.378 […]

[Kritik am phänomenologischen Intentionalitätsbegriff] […] In der griechischen und der mittelalterlichen Philosophie gab es eine Akzentverschiebung vom Akt zum Vermögen. Seit Descartes gibt es in der neuzeitlichen Philosophie eine Verlagerung in eine andere Richtung. Sie spielt sich innerhalb des Aktes des Verstehens selbst ab. Man hat festgestellt, dass das Verstehen und das Empfinden verschie­ dene Weisen sind, mittels derer man der Dinge gewahr wird (darse cuenta). Das Ding ist nicht deshalb anwesend, weil ich seiner gewahr werde, sondern ich werde seiner gewahr, weil es schon anwesend ist. Es handelt sich zwar um ein Anwesend-sein im Verstehen, in dem ich des Anwesenden gewahr werde, jedoch ist das Anwesend-sein des Dinges kein mit dem Gewahr-werden formal identischer Moment. Es gründet auch nicht auf dem Gewahr-werden. Deswegen hat die neu­ zeitliche Philosophie innerhalb des Aktes des Verstehens selbst das Anwesend-sein übersehen und nur auf das Gewahr-werden geachtet. Dieses Gewahr-werden ist jedoch kein Akt an und für sich selbst; es ist lediglich ein Moment des Aktes des Verstehens. In dieser Hinsicht hat sich die neuzeitliche Philosophie von einer vollständigen Analyse des Verstehens erheblich entfernt. [Siehe für den übersetzten Textausschnitt auch die gesammelten Werke des Ver­ fassers: Xavier Zubiri (2011): Inteligencia sentiente. Volumen 1. Inteligencia y realidad. Madrid: Alianza Editorial/Fundación Zubiri, S. 10–11.].

378

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Text 7 Phänomenologie, empfindende Intelligenz und Metaphysik der Realität (1944–1980)

Wir fragen uns nun, welcher der spezifische Charakter des Ver­ stehens als Akt ist. Er ist zwar ein Gewahr-werden, jedoch geht es um ein Gewahr-werden von etwas, das schon anwesend ist. Das Verstehen besteht nämlich in der untrennbaren Einheit dieser zwei Momente. Die griechische und die mittelalterliche Philosophie wollen das Anwesend-werden als eine Wirkung des Dinges auf das Verste­ hensvermögen begreifen, während die neuzeitliche Philosophie dem Gewahr-werden das Verstehen zuschreibt. Man muss den Akt des Verstehens jedoch gemäß der inneren Einheit seiner zwei Momente annehmen. Dabei darf man sie lediglich als seine Momente und keineswegs als Bestimmungen der Dinge bzw. des Bewusstseins betrachten. Im Verstehen ist mir etwas anwesend, dessen ich jetzt gewahr werde. Die untrennbare Einheit dieser zwei Momente besteht in dem »Sein« (estar). Das »Sein« ist ein physischer und nicht nur ein intentionaler Charakter des Verstehens. Physisch ist das ursprüngliche und traditionelle Wort, um etwas zu bezeichnen, das nicht bloß begrifflich ist. In dieser Hinsicht setzt sich das Physische dem bloß Intentionalen entgegen (bzw. es setzt sich dem entgegen, was lediglich darin besteht, Bezugspunkt des Gewahr-werdens zu sein). Das Gewahr-werden ist die Erlangung eines »Bewusstseinsvon-etwas«, und die Intentionalität besteht gerade in jenem Moment des »von-etwas«. Das »Sein« (estar), in dem der verstehende Akt physisch besteht, ist ein Sein, in dem ich »mit« und »in« dem Ding bin (es geht also um kein Bewusstsein »von« dem Ding). In dem Akt bleibt das Ding im Verstehen zugegen (estar quedando). Das Verstehen ist als Akt nicht formal intentional, sondern ein physisches »Sein« (estar). Die Einheit dieses »Seinsaktes« (acto de »estar«) ist als Akt das, was die Auffassung (aprehensión) ausmacht. Das Verstehen ist weder der Akt eines Vermögens noch eines Bewusstseins, sondern selbst ein Auffassungsakt. Die Auffassung ist keine Theorie, sondern eine Tatsache. Es ist die Tatsache, dass ich mir einer Sache bewusst werde, die mir anwesend ist.379 […]

[Realitätsauffassung und empfindende Intelligenz] […] 379

[Siehe für den Textausschnitt ebd., S. 20–23.].

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Text 7 Phänomenologie, empfindende Intelligenz und Metaphysik der Realität (1944–1980)

Die klassische Philosophie geht davon aus, dass es zwei For­ men von Akten gibt: Der Akt des Empfindens gibt der Intelligenz (inteligencia) das »zu« Verstehende. Das stimmt jedoch nicht ganz. Der Unterschied zwischen dem Dativ »der« [Intelligenz] und dem »in« [der Intelligenz] ist ein wesentlicher Unterschied. Er drückt die Verschiedenheit zwischen zweierlei Intelligenzbegriffen aus. Und das »in« bringt die strukturelle Einheit des Auffassungsaktes zum Ausdruck. Wenn man sagt, dass die Sinne der Intelligenz das geben, was »zu« verstehen sei, dann setzt man voraus, dass das primäre und angemessene Objekt der Intelligenz dasjenige sei, was die Gegen­ stände »ihr« präsentieren. Demzufolge wäre die Intelligenz das, was ich empfindende Intelligenz (inteligencia sentiente) nenne. Sie ist die Intelligenz »von« dem Sinnlichen. Wenn man aber sagt, dass die Sinne das Empfundene »in« der Intelligenz empfinden, dann ist damit nicht gemeint, dass das primäre und angemessene Objekt des Verstehens das Sinnliche sei. Es bedeutet noch mehr: Der Modus selbst des Verstehens besteht darin, Realität zu empfinden. Es handelt sich also um ein Empfinden, das als solches verstehend ist. Intelligenz ist empfindende Intelligenz. Sie besteht darin, dass das Verstehen selbst nichts weiter ist als ein Moment der Impression, der Moment der formalen Vorzeichnung der Andersheit der Impression. Etwas Reales zu empfinden besteht formal darin, verstehend zu empfinden. Das Empfinden ist folglich ein Verstehen, ein verstehendes Empfinden. Demnach ist das Verstehen nichts als ein Modus des Empfindens (der sich vom reinen Empfinden unterscheidet). Dieser ›andere Modus‹ betrifft die Form (formalidad) des Empfundenen. Die Einheit von Intelligenz und Empfinden ist die Einheit von Inhalt und Form der Realität (forma de realidad). Das empfindende Verstehen ist die impressionelle Auffassung eines Inhaltes in der formalen Vorzeich­ nung der Realität: Es handelt sich daher hierbei um die Impression der Realität.380 […]

380

[Siehe für den Textausschnitt ebd., S. 83–84.].

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Text 8 Auszüge aus dem Kurs Über die Realität (1966)

(Übersetzt von Guillermo Ferrer) […] Man hat im Verlauf der Geschichte der Philosophie und auch der Geisteswissenschaften gedacht, es seien die Sinne, die uns die realen Dinge geben, und dass diese uns überhaupt nur auf diese Weise gegeben werden. Wenn also die Intelligenz (inteligencia) etwas mit den Dingen anfangen kann, dann gilt dies offenbar etwas an ihnen, was die Sinne nicht erschöpfen können. Die Intelligenz muss die Dinge verstehen und zur Erkenntnis dessen gelangen, was sie sind. Die Dinge als solche jedoch sind uns bereits durch die Sinne gegeben. Wir haben also die Dualität Sinnlichkeit–Intelligenz, die grundsätzlich geklärt werden muss. Die Betrachtung dieser Dualität wird uns nämlich zur Entdeckung der Art und Weise führen, wie das, was wir Realität als solche nennen, dem Menschen präsent ist. […] Schon diese vermutlichen Gegebenheiten [Daten] der Sinnlich­ keit bilden freilich ein altes Thema der Philosophie. Dennoch ist dieses Thema zugleich ausgesprochen dubios. Um diesen Punkt besser zu verstehen, wird es reichen, sich auf einige Werke der gegenwärtigen Philosophie zu beziehen, so zunächst auf die Ideen zu einer reinen Phänomenologie von Edmund Husserl. Er nimmt dort eine Analyse der intentionalen Akte vor, durch die sich der Mensch auf die Sachen bezieht. Husserl sagt uns, dass es zwar nicht in allen Akten, jedoch in fast allen eine Auffassung der sinnlichen Welt gebe. So gibt es intentionale Momente der Wahr­ nehmung, durch die sich mein Bewusstsein auf den Tisch bezieht. Dieser hat eine bestimmte Form, die bleibt, wenn ich weggehe. Sie kann, auch wenn ich sie nicht sehe, da sein. Wie jede Intentionalität, besteht dieses intentionale Moment aus zwei Aspekten, und zwar aus dem noetischen Aspekt des Aktes, durch den ich mich auf den Tisch beziehe, und seinem Noema – also dem, was der Akt meint. Aber

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Text 8 Auszüge aus dem Kurs Über die Realität (1966)

Husserl sagt noch etwas mehr: Wenn wir die Intentionen nihilieren, bleibt etwas in der Wahrnehmung übrig, das keine Intention ist. Hus­ serl bezeichnet es als Materie, hyle bzw. als das hyletische Moment der Wahrnehmung. Man hätte erwarten können, dass Husserl nun groß­ artige Sachen über diesen hyletischen Bestandteil der Wahrnehmung sagen würde. Man öffnet jedoch das Buch und ist verblüfft, wenn man etwa Folgendes liest: »Sinnlichkeit in einem engeren Sinne bezeichnet das phänomenologische Residuum des in der normalen äußeren Wahrnehmung durch die ›Sinne‹ Vermittelten«381. Darf man aber das Hyletische als ein bloßes Residuum bezeichnen? Wovon ist es eigentlich ein Residuum? Umso erstaunlicher ist dieser Gedanke eines Phänomenologen, insofern er hinzufügt, dieser Unterschied stelle ein Grundproblem der Phänomenologie dar. Das mag sein, aber Tatsache ist, dass die Materie in der Phänomenologie Husserls keine Rolle spielt – und wenn, dann etwa als Stützpunkt für eine einzige Intention, worüber dann seine ganze philosophische Reflexion angestellt wird. Die Materie hat anscheinend bei Husserl keine andere Funktion als eine residuale. Wenn dies aber so ist, werden gleich mehrere Fragen virulent: Warum ist diese Funktion eine Funktion der Sinne? Darf man die Sinnlichkeit so ohne Weiteres als ein phänomenologisches Residuum bezeichnen? […] Die Abwesenheit der Sinnlichkeit im Zusammenhang der neuzeitlichen Philosophie ist merkwürdig und auch paradox. Die Sinnlichkeit fehlt auch in der philosophischen Anthropologie von Husserl und Heidegger. Diese Abwesenheit ist zwar weder weniger noch mehr merkwürdig als die in der neuzeitlichen Philosophie insgesamt, aber ist sie genauso gravierend. […] Husserl hat uns schon gesagt, was er unter Anschauung versteht. Er behauptet zunächst, dass wir in der Anschauung die ursprüngliche Anwesenheit eines Dinges haben.382 Es handelt sich dabei nicht darum, dass ich etwa an die Stadt Toledo denke oder [Edmund Husserl (1976) (Hua III/1): S. 193 (173).]. [Es handelt sich wohlgemerkt bei Husserl um die Anwesenheit des realen Dinges in der transzendenten Wahrnehmung. Er unterscheidet sie von der Phantasie, vom Bildbewusstsein und sogar von der Erinnerung. Zubiri könnte dabei an die folgende Stelle denken (unter vielen anderen): »In den unmittelbar anschauenden Akten schauen wir ein ›Selbst‹ an; es bauen sich auf ihren Auffassungen nicht Auffassungen höherer Stufe, es ist also nichts bewußt, wofür das Angeschaute als ›Zeichen‹ oder ›Bild‹ fungieren könnte. Und eben darum heißt es unmittelbar angeschaut als ›selbst‹. In der Wahrnehmung ist dasselbe noch eigentümlich charakterisiert als ›leibhaftiges‹ 381

382

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Text 8 Auszüge aus dem Kurs Über die Realität (1966)

sie indirekt durch ein Gemälde hindurch betrachte. Nein, ich hätte Toledo auch dann, wenn ich etwa die Augen schließen und mir die Stadt vorstellen würde, die ich mir so oft vorgestellt habe, wenn ich an sie dachte. Wir hätten dann die ursprüngliche Anwesenheit von Toledo selbst – und keineswegs die Anwesenheit der durch ein Gemälde hindurch gesehenen Stadt Toledo. Dies reicht aber nicht aus, so Husserl weiter. Die Sachen können auf vielerlei Arten anwesend werden: Ich schließe etwa meine Augen und versuche, wie gesagt, meine Wahrnehmung von verschiedenen Straßen in Toledo wiederzu­ beleben. Gleichwohl handelt es sich dabei noch um keine sinnliche Anschauung. Warum? Weil der entscheidende Charakter der sinnli­ chen Anschauung fehlt, wie Husserl sagen würde. Ihm zufolge besteht dieser Charakter darin, dass der Gegenstand der sinnlichen Anschau­ ung nicht nur ursprünglich, sondern auch leibhaftig dargestellt wird. In diesem Fall geht es also um die leibhaftige Anwesenheit Toledos selbst. Man muss zugeben, dass dieser Ansatz einen unbestreitbaren Fortschritt bei der Problemstellung bildet. Aber man darf Husserl zugleich fragen, was er unter leibhaftiger Anwesenheit versteht – eine Sache, die erneut im Dunkeln bleibt. Denn trotz dieser Bemühungen um eine genauere Bestimmung des Phänomens der Sinnlichkeit hat man das eigentümliche Moment der sinnlichen Anschauung zugunsten ihres Charakters als eines kognitiven, elementaren und endgültigen Aktes aufgehoben. Damit hat man die genaue und formale Weise, wie die Anwesenheit des Gegenstandes in der sinnlichen Anschauung zustande kommt, und zwar durch Impression, vergessen. Man hat nämlich nur auf die Anschauung geachtet, aber vergessen, worin das Sinnliche dieser Anschauung besteht. Diese Vergessenheit ist umso bedauerlicher und entscheidender, als das Sinnliche erst durch die Impression ein solches ist. Das ist ein wesentlicher Aspekt des Problems. Wie könnte man bestreiten, dass die Gegenstände der Sinnlichkeit erst durch Impres­ sion beim Menschen zur Anwesenheit gelangen, ganz unabhängig davon, welche anschauliche Rolle sie in der Erkenntnis spielen? […] Die Philosophie Husserls steht vor dem Problem einer genaue­ ren Bestimmung der Anschauung. Der Anschauungsgegenstand zeichnet sich durch seine ursprüngliche Anwesenheit aus, denn es gegenüber dem modifizierten Charakter ›vorschwebendes‹, ›vergegenwärtigtes‹ in der Erinnerung oder freien Phantasie«. Ebd., S. 90.].

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Text 8 Auszüge aus dem Kurs Über die Realität (1966)

handelt sich um keine vermittelte Anwesenheit, wie es etwa bei einer Fotografie der Fall ist. Aber dieser Ansatz ist unzureichend. Die »Ursprünglichkeit« muss derart sein, dass der Gegenstand leibhaftig anwesend ist. Aber worin besteht diese Anwesenheit? Husserl sagt uns genau deshalb nichts darüber, weil er den sinnlichen Charakter unserer Anschauung nicht zum Thema macht. Trotz aller Anstrengungen hat man also den Wesenszug der sinnlichen Anschauung zugunsten seines rein kognitiven, anschauli­ chen Moments aufgehoben. Wir stellen die Frage noch einmal: Was ist das Sinnliche unserer Anschauung? Es handelt sich um keine unmittelbare »Anwesenheit«, wie auch immer sie unmittelbar werden kann, sondern um eine Anwesenheit in der Impression. Empfinden bedeutet die impressionelle Anwesenheit der Dinge. Das Empfinden gilt keiner bloßen Anschauung, sondern der Anschauung in der Impression. Das Sinnliche unserer Anschauung liegt im Moment der Impression. All dies ist streng genommen keine Neuigkeit. Aber man muss diese Problematik erneut ansprechen, um die Frage stellen zu können, was »Impression« ist. Sie ist zunächst »Affektion«. Der Gegenstand affiziert nämlich die Sinne auf eine physische Weise […]. Die neu­ zeitliche Philosophie legt den Impressionsbegriff als Affektion aus. Da die neuzeitliche Philosophie jedoch jede Affektion als subjektiv begreift, trennt sie letzten Endes das Sinnliche (das als bloße Affektion des Subjektes konzipiert wird) vom Realen. Der Empirismus gründet auf eben dieser Konzeption. Aber sie ist ganz offensichtlich unzurei­ chend. Denn die Affektion erschöpft ja keineswegs das Wesen der Impression. Schon vor Jahrhunderten hat man festgestellt, dass in der Affektion das Affizierende bei uns durch Impression anwesend ist. Dieses Moment der Andersheit in der Affektion macht gerade das Wesen der Impression aus. Aus diesem Grund sind auch die Impressionen keine bloß subjektiven Affektionen. Das Sinnliche ist sowohl eine Gegebenheit der Realität als auch eine Gegebenheit für die Erkenntnis des Realen. Es stellt sich nun die Frage nach der Struktur der so verstande­ nen Impression. Wir stoßen hier zunächst auf das scheinbar größte Problem hinsichtlich dieser Struktur: das Problem ihres spezifischen Inhaltes. Die Sinne liefern uns jederzeit das, was die Dinge sind. Der Empirismus bezeichnet dieses »Was« als »sekundäre Qualitäten« und übt auf eine unerbittliche, negative Art Kritik an ihnen: Die reale Farbe sei keineswegs die visuelle Impression der Farbe usw.

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Text 8 Auszüge aus dem Kurs Über die Realität (1966)

Auf dieses Problem werde ich hier nicht eingehen. Ich möchte nur Folgendes bemerken: Was den Menschen betrifft, so schöpft dieser empiristische Ansatz den Sinn der Impression der Dinge durchaus nicht aus. Denn der Mensch empfindet impressionell beispielsweise nicht nur dieses »Grüne«, sondern auch die grüne »Realität«. Im Falle der menschlichen Impressionen besteht die Andersheit in der Affektion nicht nur aus ihrem Inhalt, sondern auch aus der Form ihrer Realität. Der Mensch empfindet impressionell die Realität des Realen. Gewiss lässt sich dieses Moment der Realität nicht ohne Weiteres als Impression bezeichnen, weil es keine zweite Impression neben der Impression des Grünen ist. Aber man darf auch den Inhalt nicht ohne Weiteres als Impression bezeichnen. Inhalt und Realität machen zwei Momente einer einzigen Impression aus, und zwar der mensch­ lichen Impression. Um mich besser mit dem Empirismus und auch dem Rationalismus auseinandersetzen zu können, habe ich jedoch das Problem der Impression mit dem Realitätsmoment verbunden. Um einen prägnanten Ausdruck für die sinnliche Auffassung dieses Realitätsmoments zu gebrauchen, habe ich sie als Impression der Realität bezeichnet. Es handelt sich hierbei um ein Moment, das die Philosophie bis dato unbeachtet gelassen hat. Dank seiner Sinnlichkeit befindet sich der Mensch voll und ganz in der Realität. Das Tier hat zwar auch Impressionen, jedoch ist die ihm gegebene Andersheit [Fremdheit] nichts mehr als die Alterität des bloß »Objektiven«, d. h. des von seiner Affektion Verschiedenen und Unabhängigen. Das Tier erkennt zwar die Stimme seines Besit­ zers als etwas ganz anderes denn als seine eigene Affektion usw., jedoch handelt es sich dabei um nichts mehr als ein »objektives Zeichen« für seine Reaktionen. Die Alterität für das Tier ist lediglich die Alterität eines objektiven Zeichens. Diese Objektivität ist bei dem Tier nichts weiter als die Unabhängigkeit von der Affektion, die Objektivität eines Reizes, dessen Affektion als solche sich in dem Reiz von etwas anderem, als es der Affizierte ist, erschöpft. Das Tier kann objektivierend sein. Es ist tatsächlich objektivierend – umso objektivierender, je vollkommener ist es. Dennoch ist es nicht realistisch. Es kann nicht realistisch sein. Das Tier hat nämlich keine Impression der Realität. Deswegen ist das Residuum, von dem die Phänomenologen sprechen, streng genommen nicht zunächst der spezifische Inhalt der Impression, sondern das Realitätsmoment selbst. Dem Tier fehlt es voll und ganz an diesem Residuum.

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Text 8 Auszüge aus dem Kurs Über die Realität (1966)

Was ist eigentlich dieses Realitätsmoment? Bei einem Reiz hat das, was ihn ausübt, keinen weiteren objektiven Charakter als den der Auslösung einer Reaktion. Der Inhalt ist völlig der Reaktion unterge­ ordnet. Bei der menschlichen Impression sieht das ganz anders aus: Der Inhalt affiziert uns hier als etwas, was eine Eigenschaft dessen ist, was die Impression uns darstellt. Es handelt sich hierbei um etwas, […] das von sich aus (de suyo) ist. Es besitzt die Inhalte der Impression als seine eigenen Merkmale. Deswegen ist das Moment der Realität kein Inhalt mehr, sondern ein Modus des Inhalts, den ich Form (formalidad) genannt habe. Der Inhalt der Impressionen erscheint uns in einer formalen Vorzeichnung. Das Realitätsmoment ist keineswegs etwas, was über das in den sinnlichen Impressionen Gegebene hinaus­ geht. Die Impressionen geben uns nämlich die »Eigenschaften« als etwas von sich aus. Wir empfinden z. B. als Impression des Steins etwas, was schon in meinem Empfinden als ein »von sich aus« auftritt. Es handelt sich um den Stein als etwas von sich aus. Dieses »von sich aus« bringt das Moment oder die Form des Realen zum Ausdruck. Erst dank dieser formalen Vorzeichnung haben wir ursprünglich mit den Dingen zu tun. Aber es handelt sich hierbei nicht um etwas bloß Subjektives, das der Intellekt bearbeiten müsste, um von da aus zu der Realität der Dinge, wie sie »von sich aus« sind, zu gelangen. Das ist nicht der Fall. Das Moment der Realität gehört vielmehr physisch und formal zur Impression selbst. Der bloß sinnliche Inhalt erscheint uns in der Impression als etwas, das impressionell schon »von sich aus« da ist. Dieses »schon« bringt genau das zum Ausdruck, was ich soeben sagte. Die Zuwendung zur Realität – zu dem »von sich aus« – ist ein physisches Moment der Impression, wodurch die Form der Realität (forma de realidad) zu der Impression selbst in ihrem Modus der Andersheit [Fremdheit] gehört. Die Dinge sind nicht nur in der Impression bei uns anwesend, sondern auch als etwas von sich aus. Wie ich oft sage, drückt dieses Moment des »schon« die Tatsache aus, dass in der Impression selbst die Realität ein prius bezüglich der Impression selbst ist. Es handelt sich zwar um kein chronologisches prius, aber doch um etwas wesentlich Früheres. Gerade deshalb ist der Bezug auf das reale Ding physisch und hat auch eine physische Unmit­ telbarkeit. Bei der sinnlichen Impression sind wir physisch durch die Realität selbst auf die Realität hin verwiesen. Dieses Moment der Realität, d. h. das »von sich aus«, kommt nicht dem Inhalt gleich, aber auch nicht der Existenz. Beide sind nur insofern real, als dass sie dem, was die Impression herbeiführt, »von sich aus« zukommen. Eben

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dies ist die wesentliche Struktur der menschlichen, von der tierischen grundsätzlich unterschiedenen Sinnlichkeit. In diesem Zusammenhang stellen sich unumgänglich folgende Fragen: Was ist der menschliche Intellekt? Worin besteht sein Erkenntnisvermögen (inteligir)? […] Alle intellektuellen Akte und Leistungen bewegen sich im Bereich dessen, was ich, um einen prägnanten Ausdruck zu gebrauchen, als die Auffassung (aprehensión) der Dinge als Realitäten bezeichnen werde. Die Intelligenz führt ihre eigenen Akte aus, indem sie die Dinge als Realitäten auffasst. Dazu wird sie durch die Realität der Dinge selbst gezwungen. In dieser Hinsicht lässt sich die Auffas­ sung der Realität als der grundlegende Akt der Intelligenz bezeichnen. […] Die Auffassung der Realität ist nicht nur der grundlegende Akt der Intelligenz, sondern auch ihr spezifischer Akt. Ich hatte gesagt, dass das Moment der Realität in der sinnlichen Impression der Realität auftritt. Hierbei handelte es sich immer um eine menschliche Sinnlichkeit. Das Eigenschaftswort »menschlich« war wesentlich für die Problemstellung der Sinnlichkeit. Wir können nun von dem, was ich über die menschliche Sinnlichkeit sagte, absehen. Achten wir jetzt nur auf das reine Empfinden, wie es beim Tier zustande kommt. Dadurch kommen wir in die Lage, das Wesen sowohl des Empfindens als auch der Intelligenz freizulegen. Was versteht man unter »reiner Sinnlichkeit«? Sowohl das physiologische als auch das psychische Empfinden sind eine biologi­ sche Entlastung von dem Reiz als solchem. Die Sinnlichkeit konsti­ tuiert und erschöpft sich in der Reizbarkeit (estimulidad). Gerade deshalb bewegt sich das Tier, wie wir schon gesehen haben, in einem Bereich bloß objektiver Zeichen. Ein Reiz ist immer etwas, was eine biologische Reaktion auslöst. Darin erschöpft er sich. Das eben ist das Eigentümliche des reinen Empfindens als solchen. Der formale Charakter der reinen Sinnlichkeit ist m. E. die Reizbarkeit. Der Realitätscharakter ist davon toto coelo verschieden. Realität ist der Charakter, dem gemäß die Dinge von sich aus (de suyo) sind, unabhängig davon, ob sie den Menschen reizen oder nicht, ob sie länger dauern als der Reiz oder nicht. Daher erschöpfen sich die realen Reize nicht im Vorgang des Reizens. Der reine Reiz ist immer etwas spezifisch Bestimmtes; die Realität zunächst etwas nicht Spezifisches, Unbestimmtes. Es handelt sich hierbei streng genommen um etwas mehr als das nicht Spezifische, um etwas Transzendentales. Aber dieser Aspekt des Problems liegt jetzt außerhalb unseres Themas.

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Reiz- und Realitätscharakter sind zwei völlig unterschiedliche formale Vorzeichnungen. Der Reizcharakter ist die Form der Dinge beim bloßen Auslösen einer Reaktion. Die Realität ist jene Form, durch welche die Dinge »von sich aus« sind. Die Reizbarkeit ist dem reinen Empfinden eigentümlich. Die Auffassung der Form der Realität (forma de realidad) ist dagegen dem Erkenntnisvermögen eigen. […] Jedes Empfinden und jeder Reiz haben drei Momente: Erstens ein rezeptives Moment, dann das Moment des Tonus des jeweiligen Lebewesens und zuletzt ein der Reaktion angepasstes Moment der Wirkung. Diese drei Momente machen ein einheitliches Phänomen aus, die Reizung (estimulación). Je nach der inneren Kom­ plexität des Lebewesens (die sich aus einer Formalisierungsstruktur ergibt, die ich hier nicht beschreiben werde) können die Reaktionen auf einen Reiz sehr unterschiedlich ausfallen – ja, sie sind tatsächlich sehr unterschiedlich. Dies macht den Reichtum des tierischen Emp­ findens aus (wobei ich von dem Reichtum der Spezifikation absehe). Aber wie umfangreich auch immer die Aufzählung der Reaktionen auf die Reize ausfallen kann, sind diese Reaktionen prinzipiell durch die Strukturen des tierischen Empfindens selbst abgesichert. Im Falle des Menschen ist die Sache viel komplizierter. Seine strukturelle Komplexität ist derart, dass die möglichen Reaktionen auf den Reiz durch die Struktur seines reinen Empfindens nicht immer abgesichert sind. Der Mensch ist das hyperformalisierte Tier. Denn wozu ist er in der Lage? Er schaltet sozusagen seine bloß responsive Haltung aus. Er hebt den Reiz nicht auf, sondern behält ihn bei. Damit leistet er etwas, was wir beim Erwachsenen als Übernahme der Realität bezeichnen. Er übernimmt die Reize wie auch die Umstände, die die Reize herbeigeführt haben. Damit ist nicht gemeint, dass der Mensch den Reiz aufgibt, um das Sein der Dinge an sich selbst betrachten zu können. Dies wäre völlig illusorisch. Der Mensch fasst die Reize vielmehr als etwas »von sich aus« auf, d. h. als auf ihn Reiz ausübende Realitäten. Und damit setzt das Erkenntnisvermögen ein. Die erste Funktion des Intellekts ist im strengen Sinne biologisch. Sie besteht darin, den Reiz (und natürlich den eigenen Organismus) als eine Realität aufzufassen, womit die Auswahl einer angemessenen Ant­ wort ermöglicht wird. Der Intellekt bewegt sich nunmehr im Bereich der Realität, den der erste, psycho-biologische Akt der Realitätsüber­ nahme, d. h. die Auffassung des Reizes und der ihn hervorbringenden Umstände, als etwas »von sich aus« eröffnet hat. Der Intellekt setzt somit das reine Empfinden fort. Aber insofern er sich im Bereich

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des Realen befindet, wird er durch die Dinge selbst dazu gezwungen, sie zu begreifen, zu beurteilen usw. Es handelt sich hierbei um die intellektuelle Entwicklung des »ersten«, psycho-biologischen Aktes der Realitätsübernahme. Der Intellekt tritt somit formal als Funktion der Realitätsauffas­ sung erst dann auf, wenn das reine Empfinden durch eine Ausschal­ tung der bloßen Reizbarkeit des Reizes überwunden wird. Deswegen ist die Auffassung der Realität weder nur das, was jedem intellektuel­ len Akt zugrunde liegt, noch lediglich eine eigentümliche Operation der Intelligenz – sie ist ihr am tiefsten grundlegender Akt. Der Intel­ lekt besteht formal darin, die Dinge in ihrer Form der Realität (forma de realidad) aufzufassen. Will man allerdings von einem »Vermögen« sprechen, muss man sagen, dass der Intellekt das »Vermögen« des Realen und nicht, wie man traditionell sagt, des Seins ist. Es tritt jedoch nun eine ernstzunehmende Frage auf, die wir früher zur Seite gestellt haben, mit der wir uns nun allerdings befassen müssen. Erst die menschliche – und nicht die tierische – Sinnlichkeit empfindet die Realität impressionell. Sie wendet sich somit der Realität von sich selbst aus zu. Ihre Impressionen sind tatsächlich Impressionen der Realität. Wenn der Intellekt aber formal darin besteht, den Reiz als Realität aufzufassen, stellt sich folgende Grundfrage: Welches Verhältnis hat der menschliche Intellekt zur menschlichen Sinnlichkeit? Welche ist letztendlich die Struktur der menschlichen Intelligenz als solcher? […] Anderseits gelangt der menschliche Intellekt zur Realität nur insofern, als er sich der sinnlichen, impressionell gegebenen Realität von sich selbst aus zuwendet. Das Empfinden und die Intelli­ genz konstituieren also eine intrinsische Einheit, die ich empfindende Intelligenz nenne. Im Grunde genommen besteht der menschliche Charakter unserer Intelligenz nicht so sehr in ihrer Endlichkeit als darin, dass sie eine empfindende Intelligenz ist.

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(Übersetzt von Niklas Schmich) […] Die Theorie von Georg Simmel gilt als eine der erfolgreichsten Theorien, die sich mit der Definition der seelisch-geistigen Anlagen und Unterschiede zwischen den Geschlechtern beschäftigen. Meines Erachtens hat sie die Besonderheit, die Bewertung ihrer spezifischen Tauglichkeit am Maßstab der und durch eine Bezugnahme auf die Kultur zu suchen, sofern die Kultur selbst das Produkt einer Geistig­ keit ist, die vielfältig und unterschiedlich urteilt. Betrachtet man die Kultur als etwas Ganzes, Organisches und Absolutes, kommt man nicht umhin, auf ihre Einheit und Kongruenz hinzuweisen. Deshalb behauptet Simmel zu Beginn seiner Theorie: Vielmehr, unsre objektive Kultur ist, mit Ausnahme ganz weniger Gebiete, durchaus männlich. Männer haben die Kunst und die Indus­ trie, die Wissenschaft und den Handel, den Staat und die Religion geschaffen. Daß man an eine, nicht nach Mann und Weib fragende, rein »menschliche« Kultur glaubt, entstammt demselben Grunde, aus dem sie nicht besteht: der sozusagen naiven Identifizierung von »Mensch« und »Mann«, die auch in vielen Sprachen für beide Begriffe das gleiche Wort setzen läßt. Ich lasse für jetzt dahingestellt, ob dieser maskuline Charakter der Sachelemente unserer Kultur aus dem inneren Wesen der Geschlechter hervorgegangen ist oder nur einem, mit der Kultur­ frage eigentlich nicht verbundenen Kraft-Übergewicht der Männer. Jedenfalls ist er die Veranlassung, weshalb unzulängliche Leistungen

Rosa Chacel Esquema de los problemas prácticos y actuales del amor © Rosa Chacel, 1931 and Heirs of Rosa Chacel.

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der verschiedensten Gebiete als »feminin« deklassiert und hervorra­ gende weibliche Leistungen als »ganz männlich« gerühmt werden.384

Diese eher fragliche Theorie lässt sich nur dann aufrechterhalten, wenn die hier als wesentlich erachteten Punkte unbestritten bleiben. Und um herauszufinden, was mit dem innersten Problem der Kultur zusammenhängt und was ihm fremd ist, müssen ihrerseits zwei Begriffe geklärt werden, die in dem zitierten Absatz noch unklar zu sein scheinen. Der Mensch ist ein Wesen (el ser), das sich wesentlich vom Tier unterscheidet. Zwischen ihnen besteht »mehr als ein nur gradueller Unterschied«, »was durch die Wahl Intelligenz überhaupt noch nicht getroffen und erschöpft ist«. Der Mensch ist das Wesen, zu dessen Erläuterung man nur durch eine »Metaphysik des Men­ schen« gelangt, als »ausgezeichnetes Verhältnis, das der Mensch als solcher zum Weltgrunde« besitzt. Die zentrale Besonderheit seines Wesens kann nur mit einem Wort definiert werden, das »den Begriff ›Vernunft‹“ und »neben dem ›Ideen-denken‹ auch eine bestimmte Art der ›Anschauung‹, die von Urphänomenen und Wesensgehalten«, mit umfasst. Dieses Wort lautet Geist. »Das Aktzentrum aber, in dem Geist innerhalb endlicher Seinssphären erscheint, bezeichnen wir als ›Person‹, in scharfem Unterschied zu allen funktionalen Lebenszen­ tren, die nach innen betrachtet auch ›seelische Zentren‹ heißen.« Darum ist Mensch ein Begriff, der den Kern des menschlichen Wesens in seinem vollen Umfang und in seinen Grundlagen umfasst. Der Begriff umfasst zugleich den Menschen in all seinen Aspekten, wes­ wegen man diesen als Person bezeichnen kann. Mann ist nichts weiter als ein Differenzbegriff für im Wesentlichen homogene Teile. »Das, was den Menschen allein zum ›Menschen‹ macht«, ist das, was ihn von den anderen Lebenszentren entfernt und auch das, weswegen er niemals eine Beziehung zu einem Individuum eingehen kann, das nicht über dieses Spezifikum verfügt.385 Was das menschliche Individuum dagegen zum Mann macht, ist das, was ihn einerseits 384 [Der im Jahre 1902 erstmals erschienene deutsche Originaltext von Georg Sim­ mel wurde hier nach der folgenden Ausgabe zitiert: Georg Simmel (2017): »Weibliche Kultur«, in: Georg Simmel (2017): Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur. Gesamtausgabe Band 14, Hrsg. von Rüdiger Kramme und Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main: Suhrkamp (dritte Auflage), S. 417–459, hier S. 419. Jorge Simmel: »Cultura femenina« (ohne Angabe des Übersetzers im Original), in: Revista de Occi­ dente, Bd. VII (1925), S. 273–301 und Bd. VIII (1925), S. 171–199.]. 385 [Max Scheler (1947): Die Stellung des Menschen im Kosmos. München: Nym­ phenburger Verlagshandlung, S. 34–35.].

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unterscheidet und andererseits dazu verleitet, mit seinem Gegenüber und Partner zu verschmelzen. Der Mensch, die Person oder der „,Träger‘ des Geistes« ist das, dessen wesentlicher Kern sich an die Beständigkeit seiner einzigartigen Beziehung zu dem fundamentalen »Grund der Dinge« bindet.386 Der Mann ist das Wesen, das dazu neigt, sich in einem anderen Individuum zu verlieren, wenn er sich in einem widerspiegelt, dessen Natur identisch und zugleich verschieden von seiner eigenen ist. Damit überlässt er die Wesentlichkeit des Männlichen dem Zufall – und verliert diese Partie in fünfzig Prozent aller Fälle auch. Erreicht die Wesentlichkeit des Männlichen nicht ihre volle formale Verwirklichung, gilt sie als latent und unerfüllt. Die Wesentlichkeit des Menschen dagegen liegt bei jedem Individuum vor, in dem es auch nur einen Funken der elementarsten geistigen Kategorien gibt. Für diese ist die Objektivität »die formalste Kategorie der logischen Seite des Geistes« – sie ist also das, was die Kultur formal konstituiert hat.387 Es ist überflüssig, darauf zu beharren, dass das Wesen der Kultur nicht ihre Form, sondern die Vernunft selbst bzw. das »Ideieren« ist – also die Erfassung der »essentiellen Beschaffenheiten und Aufbauformen der Welt«388. Kultur entsteht im Wesentlichen also aus der Anschauung der primären und essenti­ ellen Phänomene, die der Mensch objektivieren kann. Aus diesem Grund müssen wir auch nichts weiter als diese einfachen und ersten Erkenntnisfähigkeiten verstehen, wie zum Beispiel den Begriff der abstrakten Zahl oder die Position des eigenen Körpers im Verhältnis zur Umgebung. Der Bestand bereits vollzogener Objektivierungen wird daher die Form und Ausdehnung der Kultur bedeuten, während das Wesen der Kultur einzig die innere Selbstobjektivierung des Menschen ist. Unter Bezugnahme auf diese primäre Erkenntnis sagt Scheler: »Das Wissen aber, das wir so gewinnen, gilt, obschon an einem Bei­ spiel gewonnen, in unendlicher Allgemeinheit von allen möglichen Dingen, die dieses Wesen sind, und ganz unabhängig von unseren menschlichen Zufallssinnen und der Art und dem Maße ihrer Erreg­ barkeit […].«389 Nur durch ein Übergehen oder eine Geringschätzung dieses Aspektes kann wiederum Simmel beim Begriff der Sachlichkeit 386 387 388 389

[Ebd., S. 35–36.]. [Ebd., S. 38.]. [Ebd., S. 47.]. [Ebd.].

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eigene Unterscheidungen einführen. Er behauptet nun, Sachlichkeit sei einerseits die rein neutrale Idee, die über den Befangenheiten beider Geschlechter schwebe, und andererseits »die Sonderform der Leistung, die der spezifisch männlichen Wesensart entspricht«390. Darauf aufbauend argumentiert Simmel, dass sich die Kriterien, die einer dieser Unterscheidungen entspringen, irrtümerlicherweise der abstrakten Idealität der anderen Dinge bemächtigten, so »daß die Wesen, deren Natur sie von der Bewährung an der spezifisch männlichen Sachlichkeit ausschließt, von dem Standpunkt der über­ geschichtlichen, der schlechthin menschlichen Sachlichkeit aus (den unsere Kultur überhaupt nicht oder nur sehr sporadisch realisiert) deklassiert erscheinen«391. Gewiss, wenn wir zugestehen, dass die absolute und übergeschichtliche Sachlichkeit durch die Kultur reali­ siert wird und nicht die Kultur durch die absolute, übergeschichtliche Sachlichkeit, dann gilt es auch die vielen Irrtümer anzunehmen, die daraus logischerweise folgen. Aber wie kann eine Kultur überhaupt die absolute Objektivierung als primäre Funktion des Geistes – noch dazu sporadisch – leisten? Dies würde ja voraussetzen, dass die Kultur eine Reihe von Akten ohne Ideierung wäre, durch die man einerseits den Geist in grundlegende, bereits bestehende Objektivierungen zurückversetzt und andererseits neue und schwerer zugängliche Ebe­ nen der Objektivierung erreicht. »Aber – die Ideen sind nicht ›vor‹, nicht ›in‹ und nicht ›nach‹ den Dingen, sondern ›mit‹ ihnen und werden nur im Akte der stetigen Weltrealisierung (creatio continua) im ewigen Geiste erzeugt.«392 Deshalb gehen wir nicht davon aus, dass es eine Ordnung von Formen gibt, zu der man lediglich durch eine bestimmte Modalität des Menschen gelangt, d. h. konkret mithilfe einer »differentiellen Männlichkeit«393. Wenn die »schöpferische Dis­ soziation« der »Grundvorgang der psychischen Entwicklung« ist,394 werden wir uns eingestehen müssen, dass diese differentielle Fähig­ keit ihrem Wesen nach lediglich der Ausgangspunkt der geistigen Existenz ist. Der einzige mögliche Unterschied zwischen Mann und Frau wäre dann ein gradueller in der Entwicklung der ihrem Charak­ ter und Wesen nach identischen Geistigkeit. Es ist nämlich eher 390 391 392 393 394

[Georg Simmel (2017): S. 417–459, hier S. 430.]. [Ebd.]. [Max Scheler (1947): S. 45.]. [Georg Simmel (2017): S. 417–459, hier S. 430.]. [Max Scheler (1947): S. 21.].

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unglaubwürdig, dass sich beide Hälften der menschlichen Spezies in unterschiedlichen Stadien ihrer vitalen Entwicklung befinden. Wie kann man also behaupten, das Wesen der Frau sei einheitlich und nicht differenzierbar? Liegt es daran, dass das unzweifelhafte Übergewicht der nicht differenzierbaren Vitalität im weiblichen Organismus auf irgendeine spezifische Weise ihre essentielle Geistigkeit beeinflusst? Falls ja, dann hätte diese bedingte Geistigkeit (es wäre dann näm­ lich nötig, von diesem kaum fassbaren Begriff auszugehen) bereits Früchte getragen, deren Beschaffenheit man sich nur sehr schwer vorstellen kann. Nichts von alledem ist jedoch der Fall. Es gibt keinen »wirksame[n] Gegensatz zwischen dem ganz allgemeinen Wesen der Frauen und der ganz allgemeinen Form unserer Kultur«, wie Simmel glaubt.395 Es besteht kein derartiger Konflikt zwischen den geistigen Gehalten der Frau und denen der objektivierten Kultur, da der Frau schon durch den bloßen Fortschritt der Zivilisation alle Kulturformen zugänglich geworden sind. Und wie lässt sich leugnen, dass der Grund, weshalb man im Allgemeinen die Leistung der Frauen gering­ geschätzt hat, niemals nur eine unbeholfene und schlecht kanalisierte Form der großen geistigen Strömungen gewesen ist, sondern ganz im Gegenteil eher die List einer bislang erfolgreichen Dressur und eine bedauerliche innere Armut offenbart? Auf den ersten Blick scheinen alle diese Fragen lediglich das Schicksal der Kultur zu betreffen und damit hier eher fehl am Platze zu sein. Dem ist aber nicht so. In Simmels Theorie wird kein rational konzipiertes kulturelles Vorhaben, sondern lediglich die innerste Grundlage der einen Hälfte der Menschheit erwogen. Und diese Hälfte der Menschheit befindet sich in der besonderen Lage, sich selbst zu realisieren, indem sie sich ihrer selbst bewusst wird. Diese Selbstbewusstwerdung muss zwangsläufig auf die Welle der geistigen Überaktivität aufspringen. Denn diese belebt unser Jahrhundert und wird als Lösung gefeiert: »Freilich kann hier konsequenterweise nur ein ganz radikaler Dualismus helfen: nur wenn man der weiblichen Existenz als solcher eine prinzipiell andere Basis, eine prinzipiell anders gerichtete Lebensströmung als der männlichen zuerkennt, zwei Lebenstotalitäten, jede nach einer völlig autonomen Formel erbaut […].«396 Es besteht kein Zweifel, dass eine Theorie, die ver­ 395 396

[Georg Simmel (2017): S. 417–459, hier S. 430.]. [Ebd., S. 429.].

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sucht (im Bereich des Geistigen) eine zuvor als negativ betrachtete feminine Modalität positiv anzuerkennen, auf den ersten Blick von Großzügigkeit beseelt zu sein scheint. (Auch Simmel fragt sich, warum man die männliche Sachlichkeit »ganz selbstverständlich als das Vollkommenere […] und das Leben in der Ungeschiedenheit des Einzelnen vom Ganzen als das Schwächere und ›Unentwickeltere‹“ betrachten solle.397) Ich bestreite nicht, dass diese Theorie möglicher­ weise durch derartige Gefühle motiviert wurde. Genauso leicht ist es aber, zu zeigen, dass sich die Theorie im Laufe der Geschichte (was für ein ungewöhnlicher Fall von Ungerechtigkeit!) praktisch verändert hat. In ihrer Absicht und ihrem Sinn weicht sie von dem ab, was zuvor stets als eine Art Wechselwirkung zwischen den idealen Erzeugnissen der Menschen bezeichnet wurde. Im Grunde genom­ men hatten die Menschen immer den Wunsch, auf andere Menschen Wirkung auszuüben. Die Theorie bietet einem spezifischen Teil der Menschheit eine geistig freie Welt, eine Welt, die von der, zu der sich Simmel selbst zählt, ziemlich weit entfernt ist. Jedoch stiftet diese Theorie ein Regime wechselseitiger Straffreiheit, weswegen die Übernahme dieses Systems weder eine Verbesserung noch eine Beeinträchtigung der äußeren produktiven Form der Kultur mit sich bringt – auch wenn sie eigentlich darauf abzielt. Die Übernahme betrifft lediglich die innere Norm, welche die moralischen Affekte und Werte bestimmt. Darüber hinaus ist es völlig verkehrt, zu sagen, der Wille, sich der gemeinsamen Kultur anzuschließen, bedeute für die Frau einen »Verzicht auf Schaffung neuer Intensitäten und Qualitäten der Kultur«398. Denn jeder Verzicht bedeutet die Hemmung latenter Kräfte, die darum ringen, sich zu realisieren. Und so kann es auch bei der Frau niemals ein ausdrucksloses und resigniertes geistiges Residuum geben. Es gab und wird auch weiterhin bei ihr eine letzte minimale Geistigkeit geben, die sich zwischen den so mächtigen Lebenskräften langsam nach oben zu drängen vermag. Kurz, der Erfolg dieser Theorie unterstreicht, wie brüchig die geistige Unabhän­ gigkeit der Frauen ist, für die diese Theorie eintritt. Denn nur Wesen, die über keinerlei Bewusstsein verfügen und leicht zu beeinflussen sind, können durch die großartige Behauptung, die Simmel als den »Kern der ganzen Frage« bezeichnet, gewonnen werden.399 Es sei 397 398 399

[Ebd.]. [Ebd., S. 431.]. [Ebd.].

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danach »von den Frauen zu erwarten«, dass sie gerade das leisten, »was die Männer nicht können«400. Natürlich stimmt es, dass jeder kulturelle Beitrag von einem Individuum geleistet wird und damit für alle anderen in seiner Gänze nicht zu leisten ist. Man kann also sagen, dass die Daseinsberechtigung eines jeden Menschen darin besteht, sich zu realisieren, indem man ganz einfach das macht, was zuvor noch niemand anderes gemacht hat. In Sachen Geist können wir daher tat­ sächlich die irreduzible Individualität eines jeden Wesens annehmen. Nicht zugestehen können wir, dass es eine Art Massenproduktion des Geistes gibt. Es handelt sich nämlich um einen »übersingulären« Geist;401 »der Geist ist immer mit sich selbst solidarisch; er kann sich nicht in einigen Systemen auf die eine Art und in anderen auf eine andere Art verhalten.«402 Das, was uns am deutlichsten die Verbundenheit der Frau mit der Welt des Geistes und der Kultur aufzeigen kann, ist vielmehr ihre primäre Äußerung eines Widerstandes gegen die Kultur – gerade, weil dies zu einer Zeit geschah, als der Widerstand noch eine der lebendigsten kulturellen Ausdrucksformen war. Ebenso bedeutsam sind die unzähligen negativen Erscheinungen, die in jeder Kultur zugleich auftreten und mit dieser in einem engen aber auch nichtnotwendigen Zusammenhang stehen. Diese Erscheinungen werden als Entartungen betrachtet und folgen einer Richtung, die parallel zu derjenigen verläuft, die dem reinsten geistigen Leben folgt. Das heißt, dass jede Epoche einen Stil und Sinn hat, der sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht allen geistigen Prozessen gemeinsam ist. Ich glaube nicht, dass es möglich ist, die Frau von dieser abgrundtiefen Sphäre des Geistes, in der sich Suizide oder Entartungen jeder Art abspielen, auszuschließen. Selbstverständlich meine ich damit keine psychischen Vorfälle. Ich führe den Suizid und die Entartung vielmehr auf ihre Ursache, ihr Wesen und ihre Seins- und Geschehensmöglichkeit zurück. Diese Möglichkeit wur­ zelt ursprünglich in der »Rückwendung des Lebens in sich selbst« als Ursache der Unterdrückungen des Lebens.403

[Ebd.]. [Max Scheler (1947): S. 45.]. 402 [José Ortega y Gasset (2017c): Obras Completas. Tomo III – 1917–1925. Madrid: Taurus, S. 783.]. 403 [Max Scheler (1947): S. 14.]. 400

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Der Beginn dieses Bewusstseins muss als Erwachen aus einem ekstatischen Zustand begriffen werden, in dem laut Scheler die Animalität und gemäß Simmel die Weiblichkeit zur Gänze versun­ ken sind: »Die eigenartige Fernstellung, diese Distanzierung der ›Umwelt‹ zur ›Welt‹ […], deren der Mensch fähig ist, vermag das Tier nicht zu vollziehen, nicht die Umwandlung der affekt- und triebumgrenzten ›Widerstands‘zentren zu ›Gegenständen‹. […] Ich möchte sagen, das Tier hängt zu wesentlich an und in der seinen organischen Zuständen entsprechenden Lebenswirklichkeit drin, um sie je ›gegenständlich‹ zu fassen.«404 Und »die Wesensidee der Frau« besteht in der »Undurchbrochenheit der Peripherie, jenes organische Beschlossensein in der Harmonie der Wesensteile unter sich und in ihrer gleichmäßigen Beziehung zu ihrem Zentrum – wie es eben die Formel des Schönen ist.« Es ist so, dass »die Frau in dem Sinne schön sein soll, in dem dieses ›selig an sich selbst‹ ist«405. Beide Definitionen deuten einen vorgeistigen Zustand (estado preespiritual) bzw. einen seelischen Zustand (estado anímico) an, in dem das Bewusstsein, wel­ ches angeblich nah an diesen Zuständen liegt, hervorgerufen werden könnte. Bei Scheler verflüchtigt sich diese Annahme jedoch. Wieder­ holt beweist er nämlich im Laufe seines Werkes, dass die Geistigkeit der Wesensunterschied sei, der den Menschen als solchen ausmache. Bei Simmel dagegen ist die Vollständigkeit für den Nachweis dieses psychischen Residuums ganz und gar illusorisch; er kann deshalb auch nur ungenau werden. Während es bei Scheler darum geht, in der ›entsprechenden Lebenswirklichkeit drin‹ zu sein, spricht Simmel von einem Schönsein, bei dem man ›selig an sich selbst‹ sei. Bereits dieser Begriff, dessen Inhalt eines der menschlichen Hauptanliegen ist, reicht dazu aus, die von ihm intendierte Hermetik zu stören. Simmel weist nämlich kurz danach darauf hin, dass er sich nicht auf die körperliche Schönheit beziehe, im Sinne einer Lebenswirklichkeit und als einzige wirklich ekstatische Wirklichkeit, in der auch das Tier ruhe. Er beziehe sich auf eine andere Schönheit. Handelt es sich folglich um seelische Schönheit? Allem Anschein nach ja – er überzeugt uns nur nicht so richtig davon. Es geht um eine Schönheit, an der auch eine faltige und doch zugleich schöne alte Dame teilhaben kann. Eine solch partielle Wertschätzung kann nur durch sexuelle Bevorzugung erklärt werden, die in der affektiven Intimität des 404 405

[Ebd., S. 38.]. [Georg Simmel (2017): S. 417–459, hier S. 445.].

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Mannes zu respektieren, in der geistigen Intimität des Philosophen jedoch außerordentlich verwerflich ist. Die Vorherrschaft des seeli­ schen Lebens impliziert keineswegs seelische Schönheit, da allgemein bekannt ist, dass es in der reichen und zugleich chaotischen psychi­ schen Welt der Frau allerlei Erkrankungen mitsamt einer Unmenge an Scheußlichkeiten und Abweichungen geistigen Ursprungs gibt (und gerade deshalb sind sie so gravierend). Da die weibliche Psyche jahrhundertelang durch sinnliche und geistige Instanzen gestört und gequält wurde, kann sich die klischeehafte Vorstellung von der schö­ nen alten Dame nur als eine lächerliche Albernheit erweisen. Eine im Wesentlichen schöne Seele wäre die, in der niemals ein Kampf der Lebensimpulse stattfinden und die sich aus einer harmonischen Ganzheit an Sinnen und Leidenschaften zusammensetzen würde. Das, was Simmel die »Harmonie der Wesensteile unter sich und in ihrer gleichmäßigen Beziehung zu ihrem Zentrum« nennt, ist aber mehr als nur eine Harmonie ungleicher und nicht in Einklang zu brin­ gender Wesensteile. Die Summe gleicher und uneiniger Kräfte kann nicht als Harmonie bezeichnet werden, da ihre Gleichheit lediglich zu ihrer Aufhebung dient. Und jene Schönheit, die man bei genauerem Hinsehen zweifellos bei älteren Damen und Herren findet, lässt sich, wenn sie seelischer Natur ist, auf Einzelfälle beschränken – das klassische Beispiel hierfür ist beim alten Herrn der Patriarch. Diese Art von Schönheit lässt sich nämlich nur der individuellen Essenz und dem individuellen Schicksal einer jeden Seele zuschreiben. Und wenn diese Schönheit geistig ist, so beruht sie notwendigerweise auf irgendeiner auch noch so rudimentären Ethik oder Ästhetik. Deshalb erweist sie sich als eine, wenn auch minimale, Spiegelung des Bewusstseins und als das Verständnis einer Norm. Zusammenfassend geht die von uns analysierte Theorie davon aus, dass die Existenz der Frau auf einer anderen moralischen Grund­ lage beruht als jener, die das geistige Leben der Welt instand gehalten hat. Simmel meint, Frauen zeigten einen »sklavenhaften Ehrgeiz«, wenn sie versuchten, wie ein Mann zu schreiben – sprich, wie ein Mann zu denken.406 In Wahrheit hat die Frau jedoch niemals durch eine größere Schlechtigkeit denn durch Billigung dieses Postulat bewiesen. Es enthält nämlich eine Bestechungsabsicht und grundle­ gende Geringschätzung, die man in keiner der gesellschaftlichen Ten­ denzen, die wir heutzutage als nicht verdorben betrachten, vorfinden 406

[Ebd., S. 437.].

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kann. Damit dem so wäre, müsste man nachweisen, dass die Frau ihr eigenes Leben zu keiner Zeit mit der idealen zeitgenössischen Stoßrichtung identifiziert hat. Und diese These ließe sich wiederum nur von einem Standpunkt aufrechthalten, der behauptet, die Frau sei nur dem Anschein nach ein Mensch. Zweifellos spielte dieser Gedanke in irgendeiner der Kulturformen der Vergangenheit eine Rolle und das aufschlussreiche Paradox daran ist, dass er von der Frau befolgt, assimiliert und verstanden wurde. Als sich die Frau diesem Gedanken fügte, zeigte sie kein unterwürfiges Verhalten, sondern normatives Bewusstsein. Einwände zu erheben hätte nämlich bedeutet, die ideale Einheit einer Epoche zu durchbrechen – jede Möglichkeit eines Fortschritts lag aber in der Frau selbst. Derartiges kann nur von jemandem als möglich betrachtet werden, der kritisch argumentiert, dass »die historisch bestimmte, durch Zeit und Ort individualisierte Moral, die wir haben, den Begriff der Moral über­ haupt zu erfüllen scheint«407. Denn die »tradierten Inhalte sind uns ja gleichwohl stets als ›gegenwärtige‹ gegeben, als zeitlich undatiert; sie erweisen sich als wirksam auf unser gegenwärtiges Tun, ohne aber selbst dabei in einer bestimmten Zeitdistanz gegenständlich zu werden […].«408 Das bedeutet, dass jeder Begriff, solange er aktiv auf unsere Lebenswirklichkeit einwirkt, in gewisser Hinsicht immun ist gegen das Lösungspotenzial der Vernunft. Und wenn dann diese Wirksamkeit nachlässt, wird der tradierte Inhalt durch die Vernunft »in ein und demselben Akte« objektiviert und »in die Vergangen­ heit, in die er gehört« gleichsam zurückgeworfen.409 »Der Druck, den die Tradition auf unser Verhalten vorbewußt ausübt, nimmt in der Geschichte durch die fortschreitende Geschichtswissenschaft zunehmend ab.«410 Der Wandel bei der Begriffsübernahme stellt uns jedoch unvermeidlich vor die Alternative, zwischen Vertrauen und einer genaueren Untersuchung der Begriffe zu wählen, und bedeutet niemals eine pauschale Abwertung vergangener Werte. Ganz im Gegenteil, es bedeutet, dass die vergangenen Werte genau klassifiziert werden, sofern der Wandel ganz bewusst vollzogen wird. Deshalb können wir uns in der Tat nicht davor schützen, die Moral unserer Zeit und unseres Ortes als die einzig wirksame zu betrachten (denn sie ist die einzig wirksame), solange sie uns zu ihrem Prüfstein hat. Dies hält 407 408 409 410

[Ebd., S. 420.]. [Max Scheler (1947): S. 27.]. [Ebd., S. 28.]. [Ebd.].

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uns jedoch nicht davon ab, in die fundamentale Legitimität anderer historischer Augenblicke einzudringen. Und wenn wir erst einmal den Sinn verstanden haben, den diese historischen Augenblicke in sich bergen, dann werden wir auch billigen, dass die Atmosphäre, in der sich jeder dieser Augenblicke entwickelte, auch anderen, ja sogar gegensätzlichen Gebilden Leben verleiht. Die Frau hat niemals etwas anderes getan, als die Rolle auszufüllen, die ihr zukam. Damit will ich nicht sagen, dass sie nicht über den geringen Wert dieser Rolle resi­ gniert zu urteilen wüsste. Ganz im Gegenteil – da sie stets ein genaues Gespür für all die idealen Gründe ihrer Zeit hatte, konnte sie, ohne sich aufzulehnen, die eine oder andere Handlungsregel übernehmen, die in ihrer Zeit für sie verborgen lag. Denn der kulturelle Fortschritt hatte bereits damals einen hohen Entwicklungsstand erreicht. Es scheint, als würde ich das bisherige Programm einer Kultivie­ rung der Frau gutheißen. Dem ist aber ganz und gar nicht so. Im Einklang mit all den Befürwortern dieses Programms glaube ich, dass der Geist der Frauen durch die Schwere der religiös-sozialen Vorur­ teile, die sie noch tiefer in ihr ohnehin angeborenes physiologisches Korsett hineingepresst haben, gehemmt wurde. Im Unterschied zu den Befürwortern dieses Programms widerspreche ich jedoch dem Gedanken, die Ursache dafür beruhe auf dem Egoismus des Mannes, einem Interessenkonflikt oder einem dominanten Kräfteverhältnis. Wie in vielen anderen gibt es auch in dieser Angelegenheit keinen größeren Feind als menschliche Armseligkeit und Stumpfsinnigkeit – und dieses Erbe ist gerecht zwischen beiden Geschlechtern aufgeteilt. In diesem Sinne betrachte ich die Menschheit als geschieden in zwei Gruppen, mit einer so scharfen Grenze, wie sie bei der Trennung der Geschlechter niemals vorzufinden war: in das einfältige Individuum und sein Gegenteil. Nirgendwo gibt es mehr Kampf und Böswilligkeit als zwischen diesen beiden Arten des Menschseins. Hier ist alles Zusammenarbeit und Harmonie, was mich glauben lässt, dass der Frau keine der sie missachtenden und sie übergehenden Kulturformen fremd gewesen ist. Stattdessen arbeitete sie wahrscheinlich mit der gleichen Gemeinheit und moralisch-geistigen Beschränktheit wie der Mann an ihnen mit, mit gutem Willen und großem Aufwand. Und wenn es trotz dieser Zusammenarbeit und Einheit in den Neigungen und Wünschen nicht möglich war, zu verstehen, dass die moralische Lage der Frau eine gründliche Aufarbeitung verlangt, dann wohl vor allem deshalb, weil die geistig lebendige Menschheit selbst zu einem

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gemeinsamen Nenner kommen musste, bei dem der Feminismus zu einer Frage der Menschenrechte wird. Wie ich zuvor sagte, haben die obigen Theorien eine ausgespro­ chen grausame Absicht: Es geht darum, die Frau von der geistigen Welt fernzuhalten. Nie, nicht einmal in den Zeiten der größten Abwertung der weiblichen Existenz, hat man versucht, die Frau in eine zwar freie, jedoch gesonderte Welt zu verbannen. Würde man darin ein rein soziales Motiv erkennen, ließe sich dies schlicht als richtig oder falsch beurteilen – aber darum geht es nicht. Für uns stellt sich heutzutage erstmals die Frage, wie das Problem des Erotischen von der grundlegendsten Sexualität bis hin zu den unbeschreiblichs­ ten Nuancen des Affekts ergründet werden kann, auch wenn eine Ergründung uns nur den Schlüssel für die sonderbare Tatsache liefern kann, durch die der menschliche Verstand versucht, eine geistige Sphäre zu schaffen, die ihm zugleich hermetisch verschlossen und unzugänglich ist. […]

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Maria Zambrano: Text 10 Träume und Zeit (1957)

(Übersetzt von Niklas Schmich) Es ist nicht so, dass ich mir vorgenommen hätte, eine Metaphysik der Träume oder der geträumten Wirklichkeit zu entwickeln. Gerade weil das Träumen die primäre Äußerung des menschlichen Lebens ist und Träume eine Art Vorgeschichte des Wachzustandes sind, weisen sie die metaphysische Struktur des menschlichen Lebens – in verküm­ merter und unnatürlicher Gestalt, in Entbehrung und Übermaß, in der Ohnmacht des Subjekts und seines jeweiligen Bewusstseins, fast wie im vorgeburtlichen Zustand – genau dort auf, wo weder Theorie noch Glaube hingelangen. Dem Subjekt wird nämlich im Traum genau das entzogen, was ihm allererst durch die Geburt, und sogar noch vor dem Bewusstsein, zukommt: Zeit und Zeitfluss. In Träumen erscheint das Leben des Menschen in einem Zeit­ entzug, sozusagen als Zwischenphase zwischen dem Nichtsein, d. h. dem Nicht-geboren-worden-Sein, und dem Leben im Bewusstsein, im Zeitfluss. In dieser Zwischenphase verfügt man noch nicht über Zeit, da das Subjekt, das diese Situation erleidet, erst dann seine Wirklichkeit erlangt, wenn es sich in der Zeit bewegt. Denn erst hier eignet sich das Subjekt die es umgebende Wirklichkeit in der typisch menschlichen Form des Über-sich-selbst-Verfügens an. In der Zeit des Schlafes verfügt der Mensch nicht über sich selbst. Und ebendeshalb erleidet er seine Wirklichkeit. Welche nun diese dem Menschen eigene Wirklichkeit ist, ist eine Sache, die sich im scheinbaren Labyrinth der Träume verfolgen und ausmachen lässt. Das Labyrinth erweist sich als eine Reise, auch wenn diese Reise fragmentarisch, unterbrochen, rückläufig und mit Störun­ gen behaftet ist. Es geht also darum, einen Weg und, mehr noch, quer durch die diskontinuierlich gegebene Welt der Träume hindurch, denen die Kontinuität des Wachzustands fehlt, eine einheitliche Rich­ tung zu verfolgen. Prinzipiell sind Kontinuität und Diskontinuität diejenigen Eigenschaften, welche die beiden polaren Zustände des

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menschlichen Lebens unterscheiden: einerseits die Hemisphäre der Helle und andererseits die des Schattens – schattenhaft aufgrund der Zeitlosigkeit. Man kann nicht sagen, dass derjenige, der träumt, der Wirklich­ keit völlig entbehrt. Er leidet vielmehr an ihr und steht unter ihrem Einfluss. Er kann sie weder im Zaum halten noch ordnen. Er ist seiner Wirkmöglichkeiten beraubt, seiner selbst enteignet und in der ihn überfallenden Wirklichkeit fremd. Diese Entzogenheit erlaubt ihm jedoch zugleich, mit ihr und sich selbst – seinem eigenen Zustand gemäß – angemessen umzugehen. Im Träumen ist er entfremdet, weil er dort der Zeit entbehrt. Und er ist auch im Wachen entfremdet, weil er dann zwar in der Zeit ist, aber zugleich frei und bei Bewusstsein sein muss. Dagegen kann er in seinen Träumen – auch wenn er an die erlittene Wirklichkeit und in seiner eigenen Wirklichkeit verloren ist – diese Wirklichkeit ohne Interferenzen oder Schatten für einige Augenblicke erscheinen lassen, wenn auch nur für einige Augenblicke. Wenn also der Mensch durch das Erwachen in den Wachzustand gerät, dann geschieht dies, weil er zunächst im Traum, der sein erstes Leben zu sein scheint, sich selbst nicht einholen bzw. nicht er selbst sein kann. Denn wenn das Leben ein Traum ist, dann handelt es sich um einen Traum, der ein Erwachen verlangt. Es handelt sich hierbei um die anfängliche Entfremdung von jemandem, der sich selbst wiederzuerkennen versucht. Und deshalb liegt den Träumen, selbst den glücklichen, zugleich eine Angst zugrunde. Der Traum verlangt nämlich Wirklichkeit. Der Träumende bittet, aus diesem Zustand der Immanenz, der dem menschlichen Leben nicht eigen zu sein scheint und in dem er unglücklich oder glücklich wie eine Larve in ihrem Kokon ruht, herauszutreten. Würde nämlich der Zustand der Immanenz in Bezug auf den Menschen mit der Wirklichkeit übereinstimmen, wäre das Leben wie die Träume. Das würde bedeuten, dass der Mensch unter der ihn umgebenden und ihm eigenen Wirklichkeit ausschließlich leiden würde. Die Wirklichkeit würde dann, ganz wie in den Träumen, kommentiert, aufgezeichnet, deformiert und befragt. Auch die mit und sogar in der Wirklichkeit getätigten Handlungen hätten diesen Charakter und würden ebenfalls Leiden und Passivität bedeuten. Leiden woran? Passivität in Bezug auf was? Dies müsste man die Vertreter jedweder Art von Immanenzphilosophie fragen. Denn wenn der Mensch an irgendetwas grundlegend leidet, dann doch an seiner eigenen Transzendenz, an seinem eigenen unausweichlichen

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Transzendieren. Wir können nicht behaupten, dass man dies durch die Analyse der Welt der Träume herausgefunden hätte. Es gibt eine Wirklichkeit der Träume und eine Wirklichkeit in den Träumen. Und auch die Transzendenz des Menschen wurde zwar nicht in diesen Wirklichkeiten gefunden, aber sehr wohl in ihnen ent-deckt. Als Phänomen wird enthüllt oder vielmehr offengelegt, dass der Mensch das Wesen ist, das seine eigene Transzendenz erleidet. Es ist nämlich nicht möglich, dass dieser Charakter seines Wesens verborgen und von den grundlegendsten und spontansten Äußerungen des Lebens abgesondert bleibt. Das, was der Mensch ist, muss auch in seinem Leben sichtbar und lesbar sein. Bei dem, was wir hier zu begreifen oder vielmehr zu entschlüs­ seln versuchen, handelt es sich also um ein Phänomen, und zwar in zweierlei Hinsicht: erstens als eine Erscheinung des Seins und zweitens als der Schein, der dieses Sein verdeckt. Da es sich dabei um ein Ereignis der Psyche handelt, ist das Verdecken nicht ein bloßes Verdecken, sondern zugleich ein Verschleiern, Fingieren, Substituie­ ren und Ersetzen (deshalb finden wir dort auch Lügen- und sogar Verleumdungsmechanismen vor). Da wir es hier mit einem ursprünglichen Phänomen zu tun haben, wird uns ein Weg skizziert, den wir auch in dieser Untersu­ chung verfolgen sollten. Es handelt sich hierbei um einen Weg, eine Methode, die, aus mehreren Gründen, jedoch nicht die durch Husserl begründete sogenannte phänomenologische Methode ist. Vor allem, weil es nicht notwendigerweise die epoché ist, durch die der Glaube an die Wirklichkeit ausgeschaltet wird. Da es sich um die Welt der Träume handelt, muss man sich vielmehr bei dem Gegenteil Mühe geben, nämlich, dieser Welt ihre Wirklichkeit zuzugestehen. Denn sobald wir wach sind, setzen wir uns mit der Welt der Träume ausein­ ander, die dem Bewusstsein, das diese Welt ablehnt oder zumindest diskreditiert, entzogen zu sein scheint. Tatsächlich besteht das Problem der Wirklichkeit der Träume nicht, da die Wirklichkeit, die wir den Träumen zugestehen möch­ ten, lediglich die Wirklichkeit eines Teils des Lebens ist, nämlich seine Schattenseite. Der Unterschied zu Husserls Methode liegt in einem Aspekt, der auch dann bestehen würde, wenn es sich um ein Phänomen des vollen Bewusstseinslebens handelte. Gemeint ist die Nichtdurchführung der epoché, der von Husserl ausgeübten phäno­ menologischen Reduktion (damit meine ich nicht sein Spätwerk). Denn es geht gerade darum, die Elemente der Wirklichkeit – selbst

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im Traum – zu verfolgen und zu registrieren. Wirklichkeit meint hier die Wirklichkeit schlechthin, wie sie im Wachzustand gegeben ist, und es meint die absolute Wirklichkeit im Sinne einer realen Wirklichkeit ohne weitere Unterscheidung. Wird das Gefühl, in der Wirklichkeit zu sein, dem Wachzustand vorbehalten, betritt man zwischen den Wachzuständen – in den Träumen – nicht nur ihre Leerstelle, sondern das Absolute. Und wenn sich hier ein Aspekt der Wirklichkeit darbietet, geschieht dies mit dem Absolutheitscharakter, der im Wachzustand die wirklichen Ereignisse und Gegenstände nur in außergewöhnlichen Augenblicken begleitet. Wenn in Träumen etwas wirklich gegeben ist, dann ist es deswegen absolut wirklich, weil es sich nicht der fließenden Zeit unterwirft, wie es im Wachzustand der Fall ist. Der Zeitfluss ist vielmehr ausgeschaltet. Diese Ausschaltung, d. h. die hier (im Träumen) zu vollziehende epoché, ist also durch die Sache selbst vorgegeben. Sie ist die epoché der sukzessiven Zeit. Lediglich in den Träumen ist es uns gestattet, die sukzessive Zeit zu vollziehen, an ihr teilzunehmen. Hätten wir nur unsere tägliche Welt, könnten wir diesen Vollzug und diese Teil­ nahme weder tun noch denken. Denn dort bewegen wir uns in einer Zeit, die uns diese Teilnahme nicht erlaubt. Oder etwas vorsichtiger ausgedrückt: dort, wo wir uns in einer Zeitdimension bewegen, die sich als ein Weg für das Seiende erweist – ein Seiendes, das sowohl an seiner eigenen Transzendenz leidet – seinem eigenen Vorüber-, Überund Hinübergehen, seinem Überschuss am anfänglich Absoluten der Träume – als auch an dem Vorübergehen des Wachzustandes. Denn in Träumen ist es unmöglich, zu leben, zu sein und das zu aktualisieren, was wir sind, insofern wir erschöpft und machtlos werden, sobald wir unter den Druck von etwas Absolutem geraten. Absolut ist der Charakter, der seit jeher – seit Parmenides – dem Sein zugeschrieben wird. Das bedeutet jedoch nicht, dass das Absolute, das in den Träumen gegeben ist, real sei. Ganz im Gegenteil, es ist im Wesentlichen irreal. Es ist irreal, weil der Mensch im Traum, also ohne Zeit und Freiheit, nicht zurechtkommen kann. Das unterdrückte Leben fiebert dahin und fließt ohne klare Richtung. Es übersteigt sich, ganz als ob es von sich aus dazu neigen würde, zum Absoluten über­ zulaufen und sich ihm unterzuordnen. Das Leben erwacht erst dank eines Körnchens Wirklichkeit, das sich rettend, wenn auch bisweilen bedrohlich, abzeichnet. Mit ihm vermag das menschliche Subjekt durchzuhalten, auch dann, wenn es nicht mit ihm zurechtkommt.

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Zwischen diesen beiden Absoluten, die wie voneinander getrennt wirken, zeigt sich das Leben in seiner ganzen Zerbrechlichkeit, ja es rebelliert bisweilen sogar. Das Leben ist ein Hauch, fast nichts. Aber es ist niemals nichts oder das Nichts. Beim Erwachen geht es also um das Phänomen von etwas Abso­ lutem, das uns schlicht und einfach erscheint und alles Geschehen durchtränkt. Angesichts dieses Phänomens entwirft nun das Leben des Leidenden faktisch seine eigene Transzendenz. Und es behütet diese Transzendenz auch zeitweise. Der Zugang zu diesem Phänomen muss so wenig zwingend wie möglich sein, weil er das Phänomen sich offenbar machen und erscheinen lassen muss. Es wäre auch sinnlos und unaufrichtig, über die Eigenart dieses Phänomens, in dem die Psyche sich sozusagen frei zu erkennen gibt, hinwegzusehen. Die Psyche, der es gewissermaßen gestattet ist, durch die Zeit zu schreiten, muss nicht entschlüsselt werden. Es könnte aber angebracht sein, sie zu entschlüsseln, wenn auch nicht, sie zu erklären. Denn das, was wir über dieses menschliche Subjekt herausfinden, ist ebenfalls Phänomen. Es handelt sich also um die Phänomenologie eines zeitlosen Subjekts und dessen, was aus diesem außerhalb seiner Umwelt liegenden Subjekt, vor dem Kontakt mit dem Absoluten, mit dem es allein ist, heraussprudelt. Die Umwelt des menschlichen Subjekts ist die Zeitlichkeit. Sie ist die Umwelt, in der das menschliche Subjekt seinem derzeitigen Zustand gemäß lebt – ich sage »derzeitig«, weil es auch möglich wäre, sich das Subjekt in einem anderen Zustand vorzustellen. Ebenso wie das menschliche Subjekt in den Träumen ohne Zeit dasteht, könnte es sich auch in einem anderen Zustand befinden, der nicht der des Wachens ist. Man könnte es sich auch in einer anderen Zeit vorstellen, in einer gänzlich unbekannten oder kaum erkennbaren zeitlichen Dimension, die vom Menschen bislang unbemerkt geblieben ist. Denn der Mensch konzentriert sich mehr darauf, was er in und mit der Zeit machen muss, als auf die Zeit selbst, und auf die Art und Weise, wie er mit ihr zurechtkommt, sowie auf die Dimensionen, die sich in dieser Zeit für ihn öffnen. Von der Zeitlosigkeit des Traumes aus gesehen, ist Zeit vor allem Öffnung, Zugang und ein zu begehender Weg. Die Zeit öffnet demjenigen, der seine eigene Transzendenz erleidet, die Möglichkeit, den Widerspruch einer Bestimmung der Zeit als Einheit durch die Zeitlosigkeit zu aktualisieren. Denn wenn es keinen Widerspruch gäbe, dann gäbe es auch kein Leben. Und wenn

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es keine Einheit gäbe, dann gäbe es auch nicht »jene« Einheit, die das Leben als eigene Einheit versteht. Wenn die Zeit verbirgt, trennt, diversifiziert, analysiert und öffnet, meint das möglicherweise auch, dass die Zeit nicht nur der zu begehende Weg ist, sondern auch der Weg, auf dem man zu erkennen hat, sich zu erkennen hat. Die Zeit ist der Schlüssel für Erkenntnis und Selbsterkenntnis. Das zuvor angedeutete Entschlüsseln bezieht sich also nicht auf den Inhalt der Träume, wie es erstmals durch die antiken, mehr oder weniger ernst zu nehmenden Traumdeutungen und in der Moderne dann schließlich durch Freud und seine Anhänger betrieben wurde. Die Zeit erlaubt es, die Träume zu entschlüsseln, und gleichzeitig erlauben die Träume, sich der Zeit anzunähern – und zwar so, wie sie vom Menschen erlebt wird. Somit ist das Entschlüsselte zwischen den Träumen und der Zeit das menschliche Leben. Es ist das Leben desjenigen, der an seiner eigenen Transzendenz leidet. Das Leiden oder die Passivität weist sich, sogar in den Träumen, nahezu rein auf. Dadurch verschwindet nicht das unumgängliche Transzendieren des Subjekts, das dieser Prüfung unterworfen wird. In den Träumen tritt ein bestimmtes Verhalten des Subjekts hervor. In diesem Sinne lässt sich sogar von einer gewissen Ethik des Träu­ mens oder von einer Ethik in den Träumen sprechen. Diese darf sich prinzipiell weder auf die Qualität noch auf die Bedeutung der Bilder beziehen, sondern zielt einzig auf das Verhalten des zeitlosen Subjektes. Sie muss auf die Handlung zurückweisen, die das Subjekt in der Schutzlosigkeit zu vollziehen versucht. Sie muss sich auf die Art und Weise zurückbeziehen, wie es seine Sklaverei hinnimmt und sich bewegt, auch wenn es sich nicht bewegen kann. Der Charakter des menschlichen Subjekts ist derart, dass alle Versuche, eine tran­ szendente Handlung oder eine wahrhafte Bewegung auszuführen, letztlich zielführend sind, weil sie sich als eine Ausübung seines eigenen Charakters herausstellen. Dies gilt auch für die misslungenen Versuche. Von einem ethischen Standpunkt aus gesehen, tragen diese Versuche, die misslungenen inbegriffen, sowohl in den Träumen als auch im Wachzustand eher dazu bei, die Freiheit zu erlangen, als diese selbst (sofern es die richtigen Voraussetzungen für die Freiheit gibt). Dieses Verhalten des Subjekts – in der Zeitlosigkeit des Traums befangen und der Umwelt seiner Handlungen entzogen – muss nicht zwingend als Rebellion gegen eine Situation der »Versklavung« verstanden werden, indem es das ablehnen würde, was ihm im Traum

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erscheint. Denn das ihm Erscheinende ist letzten Endes eine eigene Sache des Subjektes oder ganz einfach das, was in dem ihm vertrauten Bereich auftritt, auch wenn es sich dabei um durch die Psyche ausge­ brütete, gestammelte und häufig lügnerische Geschichten handelt. Die Wirksamkeit des Verhaltens besteht nicht darin, die Bilder des Spiegels zu zerbrechen, auch wenn dessen Oberfläche noch so schräg und verzerrt sein mag. Es geht vielmehr darum, in den Träumen sich selbst und das Bewusstsein herauszuheben bzw. darum, in der Traum­ welt, also der hermetischen und absoluten Welt, einen Weg oder Entwurf für die Einsicht in diese Traumwelt zu bahnen. Schließlich passiert hier dasselbe, was auch gegenüber der Wirklichkeit geschieht: Sie wird für uns umso fremdartiger und verschlossener, je mehr ihr Wirklichkeitscharakter betont wird. Auch im Wachzustand ist man also in einem Traum. Jedoch sollten wir darauf hinweisen, dass sich diese Situation im Wachzustand nicht ergibt, wenn sich etwas zeigt, das einen schlichten Wirklichkeitscharakter hat. Damit dies zustande kommt, ist es not­ wendig, dass dieses Etwas die Fähigkeiten des Subjektes übersteigt, ja dass das Subjekt durch dieses im Grunde »erstickt« wird. Anders gesagt, die Wirklichkeit muss vollständig erscheinen, als Erscheinung von etwas Wirklichem mit Absolutheitscharakter. Es ist nicht notwendig, darzulegen, dass das Subjekt-ObjektVerhältnis – oder vielmehr das Subjekt-Wirklichkeits-Verhältnis – in den Träumen, wo es prinzipiell nicht erkenntlich wird, keineswegs mit derselben Klarheit vorkommt wie im Wachzustand. Wenn dieses Verhältnis erkennbar wird, so liegt dies daran, dass das Subjekt sich in eine Figur hineinprojiziert hat, die versucht, das reale Subjekt zu bewegen (so wie ein Schriftsteller versucht, seine Figuren in Bewe­ gung zu setzen). Oder es projiziert sich in eine Figur, in die das reale Subjekt kaum etwas von sich selbst übertragen hat. Wir müssen nun einen erhöhten Nachdruck auf den Zustand des maximalen Leides bzw. die in den Träumen gegebene Passivität legen. Dies bedeutet, die conditio humana, die im Erleiden der eigenen Transzendenz besteht, bei der Wurzel zu packen. Diese Wurzel ist phänomenologisch, wie die ursprüngliche und unaufhebbare Erscheinung; wie der Schatten, den das Subjekt im Wachzustand weder vollständig reduzieren noch absorbieren kann; und wie die Schwere seiner Transzendenz, in die es immer wieder zurückfällt. Diese Wurzel ist Merkmal und Zeichen eines Widerstandes, der sich hier unweigerlich behauptet.

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Der Mensch ist das Wesen, das an seiner eigenen Transzendenz leidet – und daher auch an seiner eigenen Wirklichkeit und an der Wirklichkeit, die ihm gegeben ist und ihn etwas angeht. Natürlich ist ihm die Wirklichkeit dann gegeben, wenn sie ihn betrifft, wenn sie irgendwie die seinige ist, wenngleich sie ihm Widerstand leistet. Mehr noch, sie leistet ihm gerade deshalb Widerstand, weil sie ihm gegeben ist und weil er sich als Subjekt von vornherein mit ihr auseinandersetzt. Und zwar als Subjekt, das nicht bloß ein Träger, ein Fixpunkt, eine fertige Sache oder ein beständiges und bereits vollkommenes Wesen ist. Das Subjekt gleicht einem lebendigen Kern, der über seinen eigenen Ort hinausgeht, dazu tendiert, mehr zu sein, als er eigentlich ist und sich selbst übersteigt. Es ist also ein Jemand, der transzendiert und sogar sich selbst transzendiert (er ist und ist nicht, zur selben Zeit). Denn wenn er sich selbst nicht transzendieren würde, dann müsste er auch nicht unter sich selbst und an seiner Wirklichkeit leiden. Das unausweichliche Transzendieren erscheint ihm selbst als Hoffnung. Das Leben ist jenes Transzendieren-Müssen, das sich als Hoff­ nung erweist bzw. dessen erste Erscheinung oder erstes Phänomen die Hoffnung ist. Der Mensch ist das Wesen, dessen erste Äußerung die Hoffnung ist. Es geht um Hoffnung – also weder um den Instinkt noch um den Verstand, der, wenn man ihn von der grundlegenden Hoffnung löst, als privilegierter Instinkt, als bloßes Werkzeug im Kampf gegen die Umwelt, interpretiert werden kann. Der Mensch kann somit für ein intelligentes Tier gehalten werden, das seinen Dunstkreis auf eine größere Umwelt ausbreitet und verallgemeinert. Wenn wir »Tier« sagen, beziehen wir uns auf die Idee des Tieres als zuverlässiger Organismus, als eine Art Lebensmaschine. Aber die Tatsache, dass das Leben eine mechanische Schicht hat, bedeutet nicht, dass diese das Leben schlechthin offenbart. Das Leiden an und Transzendieren der Wirklichkeit liegt in der Hoffnung und offenbart die metaphysische Struktur des menschli­ chen Lebens, also des Lebens, das durch das Subjekt und nicht durch das Leben selbst gelebt wird. Vielleicht ist aber auch das Menschsein der Zugang zur metaphysischen Struktur des Lebens. Es ist vielleicht der Ort, an dem sich diese Struktur erschließt, wenn man sich auf die conditio humana wirklich einlässt. Dem Menschen ist es nicht möglich, in das Innere der ihn umge­ benden Wirklichkeit einzudringen. Er kennt sie jedoch im Innern,

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nicht subjektiv, als ob er im Kern der Wirklichkeit versunken und ihr gleichzeitig fremd wäre. Beim Subjektivismus gibt es weder Fremdheit noch Andersartig­ keit noch einen Widerstand des Realen; ein solcher kommt lediglich im Inneren des menschlichen Subjekts vor, ganz gleich, ob dieses nun ein empirisch-psychologisches oder ein absolut-idealistisches Subjekt ist. Wir behaupten sogar das Gegenteil: Die Wirklichkeit bietet sich dem Menschen nicht bloß subjektiv an, d. h. in seinem Innern, als könnte er sie umarmen oder gar konstituieren, sondern es ist vielmehr die Wirklichkeit, die das Subjekt, jetzt aber im singulären Modus, beherbergt. Das Subjekt wird von der Wirklichkeit umhüllt, überstiegen, belagert und umstellt. Das Subjekt wird nämlich nicht von der Wirklichkeit konstitu­ iert, sofern ihm diese Wirklichkeit erscheint und sich ihm zeigt. Wo kommt eigentlich dieses Sich-Zeigen der Wirklichkeit her? Wenn das, was wir hier erläutert haben, der Wahrheit entspricht und der Mensch als Subjekt in das Innere und gar in den Kern der Wirklichkeit hineinversetzt ist, dann wäre die Wirklichkeit für das Subjekt entwe­ der überhaupt nicht oder aber völlig sichtbar. Paradoxerweise würden wir auf diesem dem Idealismus entgegensetzten Weg zum absoluten Wissen, zur absoluten Sichtbarkeit des Wirklichen und seiner völligen Erscheinung gelangen. Für das Subjekt, das in den Kern der Wirklich­ keit hineinversetzt ist, wäre schlechthin alles gegenwärtig. Dem Menschen ist die Wirklichkeit aber nicht vollkommen gegenwärtig. Ihm ist nicht einmal die Wirklichkeit, die ihn reizt und betrifft, gegenwärtig, ja nicht einmal die Wirklichkeit, die ihm erscheint. Denn sie erscheint ihm auf unzusammenhängende, frag­ mentierte und wechselhafte Art und Weise. Sie widersetzt sich ihm nicht nur – auch er fühlt sich ihr gegenüber fremd. Diese Fremdheit wird umso intensiver, je größer seine Distanz und sein Bewusstsein von der Wirklichkeit sind. Der Mensch ist innerhalb und von der Wirklichkeit geschieden und zugleich von ihr belagert. Es ist unver­ meidlich, dass der Mensch die Wirklichkeit transzendiert. Es ist so, als würde ihm die Wirklichkeit in ihrer Tiefe ein noch unentdecktes Loch öffnen, einen noch unbewohnten Ort, der seine Vollendung bedeutet. Diese Vollendung würde letztlich einer Beendigung des gleichzeitigen Transzendierens und Leidens gleichkommen. Es scheint, als wäre der Mensch deplatziert. Aber nicht in dem Sinne, dass er bereits wäre, was er zu sein hat, wozu er tendiert, zu sein, sondern weil er genau dies noch nicht ist. Wäre er all dies schon, könnte er auf sein Transzendieren

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und sein Leiden gleichermaßen verzichten und beides beenden. Und dadurch würde er gegenüber dem, was ihn umgibt, äußerlich und fremd bleiben. Er würde seiner Intimität entleert und über kein Innen, kein Subjektsein, keine Erinnerung, keine Zukunft und keine Zeit mehr verfügen. Die Zeit bzw. der Modus, in dem der Mensch die Zeit erlebt und in der Zeit lebt, hängt von dem unweigerlichen Transzendieren und von der Befindlichkeit in der ihn umgebenden Wirklichkeit ab. Sie hängt auch von dem Anspruch ab, diese Wirklichkeit zu durchqueren, um andere Schichten der Wirklichkeit zu gewinnen. Und über diese hinaus hängt sie auch von dem Sein ab, das mit dieser Wirklichkeit nicht übereinstimmt. Wenn der Mensch von einem Sein, das er nicht selbst ist, umgeben wäre, wäre sein Leiden wie ein Traum, aus dem er niemals erwacht. Es wäre buchstäblich die Hölle. Und wenn der Mensch von einem Sein umgeben wäre, das er schon ist, wenn er Mit-Sein wäre, dann gäbe es kein Leid. Er wäre reine Aktualität, eine einzige und mannigfaltige Monade im Zentrum des Seins, auch wenn er nicht selbst dieses Zentrum wäre. Auch die bereits erreichte Trans­ zendenz wäre kein Transzendieren mehr. Die Zeit wäre der ewige und einzige Augenblick, in dem sich etwas aktualisiert. Es würde keine Bewegungslosigkeit, sondern eine reine und phasenlose Bewe­ gung bedeuten. Auf der einen Seite wäre also das bloße Leiden, die totale Passi­ vität; und auf der anderen Seite die Aktualität ohne irgendwelches Leiden, ein schon-Sein. Die tatsächliche Situation des Menschen besteht im Leiden und Transzendieren; aber nicht nur im Leiden, sondern auch im Erleiden seiner selbst, im Ertragen der Last seiner eigenen Passivität. Es lässt sich zeigen, dass die Passivität kein bloßes Untätigsein oder Nichtsein ist. Sie ist aktiv, solange sie noch nicht ist. Die Passivität ist wirkmächtig. Sie ist weder stumm noch unsichtbar, sondern hat vielmehr positiven Charakter, sie bewegt sich. Sobald sich diese Passivität äußert und offenlegt, gibt es in dem Wesen, in dem dies geschieht, bereits Leiden und Schmerz. Der grundlegende Unter­ schied zwischen dem Tier und dem Menschen wäre dann vielleicht die Offenbarung dieser Passivität. Denn wenn diese Passivität dem Tier gegenwärtig wäre, würde das Tier aufhören, ein Tier zu sein oder wir müssten zumindest den Begriff ändern, den wir vom Tier haben.

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Diese auf verschiedene Weisen auftretende Offenbarung oder Gegenwart der Passivität bringt Leid. Und sie tut dies allein aufgrund der Passivität, ganz unabhängig von den Gefahren der Umwelt. Man kann fragen, ob sich dieser Gedanke verallgemeinern lässt. Ein Wesen, dem seine Passivität nicht gegenwärtig ist, würde nämlich von der Umwelt anders affiziert werden (es wäre etwa frei von Demü­ tigungen). Die Passivität offenbart sich aber dem Menschen, weil dieser nicht einfach nur ist, ruht (yacer) oder in einem bloßen, unveränder­ lichen, sichtbaren Vorhandensein besteht. Dies geschieht in gewissen Extremsituationen, in denen das Subjekt sozusagen untergeht, weil es sich bei seinem Ruhen (yacer) um eine Bewegung, eine Situation handelt. Denn auch eine solche Passivität bewegt, manifestiert und vergegenwärtigt sich. Es ist das Subjekt, das die Passivität in Bewe­ gung versetzt. Ihr natürlicher Zustand ist kein Ruhezustand. Wenn sich das Subjekt nicht von sich selbst aus bewegt, dann beunruhigt es sich, ist angespannt, verspürt Verlangen. Die Passivität kommt vor allem in der Psyche vor, in der sich das Subjekt befindet und sich dort in die oben erwähnten Extremzustände vergräbt. Das der Psyche Eigentümliche ist die Begierde. Sie ist eine Spannung, die Agitiertheit bedeuten kann und oft auch bedeutet. Diese Agitiertheit steht auf einer niedrigeren Ebene als die orexis bei Aristoteles. Denn bei der orexis ist die Begierde bereits in das Bewusstsein eingedrungen. Die orexis, das Verlangen, ist die Passivität, welche zu einem bestimmten Grad an Tätigkeit aufgestiegen ist. Und deshalb ist sie bereits Bewe­ gung. […]

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Carlos Astrada (1894–1970): Text 11 Eine Soziologie des Krieges und Philosophie des Friedens (1948)

(Übersetzt von Niklas Schmich) Über den Ruinen einer tausendjährigen Kultur und dem Schrei der von Vernichtung ihrer menschlichen Werte, Städte, Denkmäler und künstlerischen Schätze gequälten Völker schwankt die Mensch­ heit in dieser wankelmütigen Weltstunde einmal mehr auf dem Zünglein der Entscheidung. Die mahnende Stimme der Vernunft erhebt sich abermals inmit­ ten einer unübersehbaren und unermesslichen Wüste von Kreuzen, um den Menschen den Weg des Lebens und der friedlichen Zusam­ menkunft, der schöpferischen Solidarität in Gütern und Werten als einziges Klima für das Fortschreiten des Geistes in seiner immer­ während orbitalen Parabel zu weisen. Das Denken, welches wieder einmal mit dem alten und unverwirklichten Traum des ›ewigen Friedens‹ liebäugelt, tritt den mühseligen Herausforderungen des zu schaffenden Friedens und der Bedrohung eines neuen Krieges, welcher sich über dem Schicksal einer Zivilisation als dramatischste Alternative zwischen Leben oder Tod zusammenbraut, eifrig und mit Unbehagen entgegen. […] Wir müssen dem Krieg als historischer Tatsache und zugleich an die Kultur und deren Schicksal gebundenem Phänomen ins Auge bli­ cken; und dies unter Berücksichtigung der Prinzipien, d. h. von einem philosophischen Blickwinkel aus, der es uns erlaubt, das Problem des Krieges in seinen grundlegenden Dimensionen und mit begrifflicher Strenge zu fassen. Vor allem müssen wir diese frenetische und fast krankhafte Verherrlichung des Krieges durch irreführende Ideologien und romantische Haltungen als vernunft- bzw. erkenntniswidrig und als das Gegenteil der durch Wissenschaft und Philosophie gestützten

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Text 11 Eine Soziologie des Krieges und Philosophie des Friedens (1948)

Erkenntnisse verurteilen. Durch Berufung auf moralische Prinzipien und Begründungen wollen sie im Krieg eine Art Anreiz für das Aufblühen männlicher Tugenden, eine ausgezeichnete Gelegenheit zum Heldenkult, eine Stärkung der Bindungen zwischen dem Men­ schen und seiner nationalen Gemeinschaft und eine biologische und moralische Kräftigung der Völker sehen. Welchen Anteil bzw. positiven Einfluss hat der Krieg als histo­ rische Tatsache, die Veränderungen in menschlichen Gruppen stetig begleitet hat, an der Entstehung großer kultureller Einheiten gehabt? Die Rückschlüsse der Ethnologie hinsichtlich des Lebens primitiver Völker zeigen uns, dass die Menschen bereits einige tausend Jahre vor dem Beginn politischer Gesellschaften in wesentlich friedlichen Staatsformen lebten; und zwar ohne kriegerische Oberhäupter, wel­ che ständig ihre Macht und Autorität ausübten. Diese primitiven Gemeinschaften vereinigte nichts weiter als das Band des Blutes. Sie kannten keine Klassentrennung, besaßen jedoch auch keine Hochkul­ tur, da eine solche folglich nur auf der Grundlage einer Opferung der friedlichen Existenz entstehen konnte. Und tatsächlich, mit dem Erscheinen durchgängig starker und kriegerischer Staaten nehmen auch alle Formen von Hochkultur und Religion ihren Anfang, sodass – historisch gesehen – Krieg und Gewalt allen bedeutenden Kulturen den Weg geebnet und die Natio­ nen erschaffen haben. Daraus schloss man, dass es ohne Kriege auch keine richtige Kultur und ohne Kultur weder kulturellen Fortschritt noch Expansion und Höhepunkt der verschiedenen geistigen Kul­ turformen (Theogonien, Gründungs- und Reformationsreligionen, Kunst, Philosophie) geben könne. Es lässt sich also nicht leugnen, dass jede Hochkultur als his­ torische Folge von Ordnungen hervorgegangen ist, die durch das kriegerische Tun eines starken Staates ins Leben gerufen wurden. Die Tatsache jedoch, dass die Nachgeburt der großen Kulturen durch die Geburtshilfe kriegerischer Gewalt vonstattengegangen ist, erlaubt uns nicht, daraus den grundlegend falschen Schluss zu ziehen, dass, sobald sich dieser Faktor darbietet, deshalb immer und zwangsläufig derselbe Effekt folgen muss. Dass dies in der Vergangenheit der Fall war, gibt uns keinen Grund zu der Annahme, dass es mit einer Art legaler Gesetzmäßigkeit in der gesamten Geschichte so weitergehen muss. Dies zu behaupten, würde bedeuten, empirische Andeutungen

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und die bloße Existenz von Tatsachen zu einem Gesetz des Gesche­ hens, zu einer Konstante der historischen Entwicklung zu machen. […] Scheler wies jedoch darauf hin, dass es »nicht nur einen Zweck­ wandel, sondern auch einen Quellenwandel in der Geschichte aller Zivilisation und Kultur« gibt, und dies gilt zweifellos insbesondere in Bezug auf das Phänomen des Krieges.411 Wenn die alten Kriege zwischen begrenzten Heeren und Subjekten mit einer eingeschränk­ ten Waffentechnik so etwas wie Kulturinitiatoren oder zumindest ausschlaggebend für das Schicksal und Fortschreiten bestimmter Kulturen waren, so haben die modernen Kriege zwischen ganzen Völkern fast immer die Kultur bzw. die Werte, deren Erhaltung und Zuwachs vom Menschen abhängen, die Kräfte, welche im Dien­ ste der Kultur stehen, sowie die Güter, welche die materielle und organisatorische Grundlage der kulturellen Strukturen und Inhalte bilden, zerstört oder ausradiert. Und diese Katastrophe hat sowohl die Sieger als auch die Verlierer geschädigt. All dies bildet das Gegenstück zu einem äußerst relativen historischen Wert des Krieges hinsichtlich der Genese und Entwicklung der Kultur und lässt sich anhand der katastrophalen Bilanz des Ersten Weltkrieges und des Zweiten Weltkrieges, der gerade zumindest in militärischer Hinsicht beendet wurde, belegen. Es handelt sich hierbei um jene beiden modernen Kriege, die wir am besten bewerten können, da es uns möglich ist, sie in all ihren Aspekten aus dem Blickwinkel unserer gegenwärtigen historischen Perspektive zu betrachten. All dies zeigt uns, dass der Krieg seinen Sinn und Charakter verändert hat. Er hat heute Auswirkungen, die den kriegerischen Rahmen der alten Auseinandersetzungen gänzlich überschreiten. Es geht nicht mehr um einen Krieg, dem, als Konsequenz entgegengesetzter geistiger und vitaler Tendenzen, wirkliche kulturelle Gemeinschaften entsprin­ gen, sondern um einen Kampf um Vernichtung und Überlegenheit mittels einer hochkomplexen Kriegsmaschinerie, die nach den Plänen der Technik, zwischen staatlicher Herrschaft und in von ökonomi­ schen und marktimperialistischen Interessen bewegten politischen Machtkonstellationen geschmiedet wurde. In diesem, auf dem Boden von Maschinen ausgerichteten Krieg besteht der Kampf nicht ledig­ 411 [Zitiert nach dem deutschen Originaltext: Max Scheler (1990): Schriften aus dem Nachlass. Bd. 4. Philosophie und Geschichte. Hg. von Manfred S. Frings. Bonn: Bouvier, S. 87.].

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lich in einer militärischen Konfrontation. Seine verheerenden und tödlichen Auswirkungen betreffen vielmehr die, in theoretischer Hinsicht betrachtet, passive Zivilbevölkerung, welche in die große Mobilmachung, die selbst auf Städte und künstlerische Denkmäler ausgreift, einbezogen wird. Um die in jeder Hinsicht verheerende Reichweite des modernen technischen Krieges richtig zu bewerten, die die schönsten Städte des europäischen Kontinentes und auch einige japanische als unförmige Ansammlung von Ruinen zurückgelassen hat, müssen wir nur an das Ergebnis des Einsatzes der Atombombe denken. Halten wir uns dabei vor allem die radikal zerstörerische Wirkung vor Augen, die die Anwendung bzw. Anwendungen des viel eher einfach nur tödlichen als kriegerischen Instrumentes der Atomenergie in einem zukünftigen Krieg auf das menschliche Leben auf diesem Planeten haben wird. Natürlich können wir nicht daran denken, ohne dass unseren Geist dabei ein Schauder des Grauens durchläuft. Diesen zukünftigen Krieg, dessen Möglichkeit wir bis dato nicht ausschließen können, werden mit Sicherheit weder die spezifisch menschlichen Monopole wie die Kunst und ihre Werke, die Wissenschaft und ihre Organisation, die Religion und ihre Kulte und Glaubensgemeinschaften, die Politik und ihre Umsetzungen etc. noch der Mensch als Spezies überleben. Dem Phänomen des Krieges selbst ins Auge blickend und im Angesicht seiner historischen Realität, fragt sich der Philosoph Karl Jaspers, ob im Menschen nicht so etwas »wie ein dunkler und blinder Wille zum Krieg […], etwas wie [ein] Wille zum Tod als Vernich­ tungswille und Selbstpreisgabe« herrsche. Und er gelangt sogar zu der Annahme, dass im Menschen etwas schlummere, »was von Zeit zu Zeit wiederkehrt, wenn die Anschauung wirklichen Krieges sinnlich vergessen ist«412. Soweit der Boden bzw. die subjektiv-anthropologische Grund­ lage, in der die Möglichkeit des Krieges ihre Wurzeln hat. Wenn man das Problem jedoch philosophisch angeht und den Krieg im Verhältnis zum Wesen des Menschen betrachtet, können wir uns fragen, ob jener blinde Wille, welcher im Menschen latent schlummert, so etwas wie ein dunkler Impuls, ein blinder Wille zum Krieg oder einfach ein instinktiv ablaufender Impuls für etwas anderes ist, das sich lediglich

[Zitiert nach dem deutschen Originaltext: Karl Jaspers (1999): Die geistige Situa­ tion der Zeit. Berlin/New York: De Gruyter, 1. Auflage 1931, S. 88.].

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über historische Umstände kanalisiert und dann seine Befriedigung im Krieg gefunden hat. Wenn wir davon ausgehen, dass es im Menschen einen blinden Willen zum Krieg gibt, der gelegentlich, nach einer tauben Latenzzeit, erneut seine vernichtende Wirkung entfaltet, wie auch Vulkanaus­ brüche ihre verheerenden Kräfte zunächst im Erdinneren ausbrüten, dann ist die von Kant philosophisch begründete und verherrlichte Idee vom ewigen Frieden nichts weiter als ein Traum, eine schöne, aber vergebliche Utopie. Vom Nachweis der Unwirksamkeit der Idee des ewigen Friedens ausgehend, nehmen wir zur Kenntnis, dass sich dieser Annahme ausdrücklich oder stillschweigend so herausra­ gende Philosophen bzw. Denker wie Hegel, Nietzsche, Heinrich von Treitschke usw. angeschlossen haben. Diese überzeugten Militaristen stützen sich auf die langfristige Wirkungslosigkeit oder besser gesagt auf das bewiesene Unvermögen dieser Idee. Dies gibt ihnen das Gefühl, jeden Wert an sich bestreiten zu können und dabei für die Notwendigkeit des Krieges einzutreten. So wird für Hegel durch den Krieg als Ausdruck der Souveränität der Staaten »die Gesundheit der Völker« wie ein See durch die »[…] Bewegung der Winde […] vor der Fäulniß bewahrt, in welche sie eine andauernde Stille, […] versetzen würde«413. Und Nietzsche ermahnt uns in dem Kapitel »Vom Krieg und Kriegsvolke« seines Zarathustra: »Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr, als den langen. Euch rathe ich nicht zur Arbeit, sondern zum Kampfe. Euch rathe ich nicht zum Frieden, sondern zum Siege.« Und er fügt hinzu: »Der Krieg und der Muth haben mehr grosse Dinge gethan, als die Nächstenliebe.«414 Und Heinrich von Treitschke argumentiert in

413 [Zitiert nach dem deutschen Originaltext: Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1968): Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der prak­ tischen Philosophie, und sein Verhältniß zu den positiven Rechtswissenschaften, in: Gesammelte Werke Band 4. Jenaer kritische Schriften. Hg. von Hartmut Buchner und Otto Pöggeler. Hamburg: Felix Meiner Verlag, S. 450.]. 414 [Zitiert nach dem deutschen Originaltext: Friedrich Nietzsche (1999): Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Bd. 4: Also sprach Zarathustra. Hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München: DTV, S. 58–59.].

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seinen Politik-Vorlesungen wie folgt für den Krieg: »Der Krieg ist für krankende Völker das einzige Heilmittel«415. […] Der Krieg liegt als blinder Zerstörungs- und Todeswille nicht der menschlichen Natur zugrunde, er gehört nicht zum Wesen des Menschen. Seinem Wesen eignet vielmehr ein Instinkt, eine Tendenz zur Macht und zum Kampf im Allgemeinen, d. h. nicht jene besondere Art des Kampfes, die wir Krieg nennen. Dieser Impuls des Menschen zum Kampf und zur Selbstbehauptung kann, in Abhängigkeit von vitalen und geistigen Faktoren, in andere Richtungen sprießen und sich gegenüber anderen Phänomenen oder gar gegenüber denjenigen Situationen artikulieren, die eine Bemühung um das Bezwingen der Widerstände verlangen, die sich ihren Vorhaben widersetzen wollen. Es handelt sich hierbei um Richtungen, die viele andere Zwecke der spezifisch menschlichen Tätigkeit konstituieren. Diese instinktive und dem Menschen angeborene Tendenz zur Macht, die so tiefgründig und subtil von Nietzsche in ihren unter­ schiedlichsten Äußerungen unter dem Namen des »Willens zur Macht« analysiert und aufgezeigt wurde, kann beispielsweise gegen seine eigene vitalen Prozesse durch Beherrschung und Sublimierung der Instinkte, Leidenschaften und natürlichen Neigungen agieren. Im Blick steht hier die Askese, welche die Gültigkeit, ja das Reich der geistigen Lebensinhalte und moralischen Ideale sichert, die ihre paradigmatische Verkörperung im Heiligen, im geistigen Asketen, im Märtyrer der Wissenschaft (als eine Art weltlicher Heiliger) und im religiösen Reformator finden. Die Tendenz zur Macht kann sich aber als Herrschaftsimpuls auch gegen Menschen bzw. soziale Gruppen wenden, korrelativ zur Unterwerfung der Schwächeren oder ökonomisch und moralisch schwächerer sozialer Klassen. Genauso kann sie gegen die Natur, in erster Linie die organische, sodann die anorganische Natur gerichtet werden – nämlich mittels Arbeit und Technik, welche die Naturkräfte zugunsten des Menschen verbinden, lenken und nutzen. Hinsichtlich dieses Aspektes der angewandten Wissenschaft und Technik hat jener Impuls zur Macht praktisch den gesamten Planeten zu einer Umgebung des Menschen verwandelt, um durch die Einebnung der Distanzen angesichts der in jeder Hin­ 415 [Zitiert nach dem deutschen Originaltext: Heinrich von Treitschke (1897): Politik. Vorlesungen gehalten an der Universität zu Berlin. Bd. 1. Hg. von Max Cornicelius. Leipzig: Verlag von S. Hirzel, S. 74.].

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sicht erleichterten Kommunikation das menschliche Zusammenleben in den verschiedensten Formen zu ermöglichen. Bezüglich der Tendenz oder des Impulses zur Macht und des­ sen partieller Kanalisierung in der historischen Bahn des Krieges können wir mit Max Scheler zwischen mindestens drei verschiedenen Gesetzen in der Evolution, die von der Stärke zur Macht übergeht, unterscheiden. So sehen wir beim ersten Gesetz der Richtung der Evolution, dass die frühen Kriege ganze Völker ausrotteten und die Sklaverei hervorbrachten, die den menschlichen Körper und des­ sen Leistungsfähigkeit Herren und Besitzern überantwortete. Später folgten die Annexions- und Kontributionskriege, die den Beginn des Kampfes um ökonomische Hegemonie einleiteten. Das zweite Gesetz der Evolution besagt, dass die ausgeübte Macht über Men­ schen zur Behauptung der Herrschaft über Dinge führt, während das dritte Gesetz eine Entwicklung verfestigt, die von der Macht über die organische Natur und der Inanspruchnahme der Pflanzen und Tiere zur Herrschaft über die anorganische Natur übergeht, welche die Industrialisierung als Merkmal des Hochkapitalismus in seiner gegenwärtigen Entwicklungsphase definiert. Wie wir sehen, führt die Evolution, ihren Richtungsgesetzen gemäß, von Kraft und Gewalt zur Machtausübung; von der zunächst physischen zur geistigen Macht, von der Macht über Menschen zur Macht über die (erst organische und dann anorganische) Natur. Daher lässt sich mit Scheler Fol­ gendes begründen: Je höher die Seinsformen, die dem Machttrieb entzogen werden, desto tiefer sind die Seinsformen, gegen die sich dieser Impuls, als Domäne der anorganischen Naturkräfte, wendet. Somit wird der Kampf zwischen Mensch und Mensch bzw. zwischen den durch nationale Einheiten konstituierten menschlichen Gruppen immer mehr zu einer Sache der Vergangenheit. Gleichzeitig kann man mit einem Verschwinden des Kampfes zwischen ökonomischen oder ideologischen Interessenkonstellationen rechnen. Und dies auf­ grund der hegemonischen Vormachtstellung gegenüber kollektiven Kämpfen, welche die zivilisierte Menschheit ebenso rücksichtslos wie unnachgiebig von der menschenunwürdigen Natur und deren entfesselten oder latent lauernden Kräften, die sich den Mühen und Vorhaben des Menschen widersetzen, befreit. Abschließend, und mit den genannten Richtungsgesetzen in einem intrinsischen Zusammenhang stehend, gibt es ein Gesetz, das sowohl den Evolutionsverlauf der politischen Geschichte einer wach­ senden Vergeistigung des Impulses der Macht als auch die Potenzia­

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lisierung der geistigen Leistung vorschreibt. Dementsprechend führt die Evolutionslinie von der physischen Potenz zur politischen oder prestigereichen Macht und, nachträglich, von einem Pseudo-»Gesetz des Stärkeren« zu einer »Stärke des Gesetzes«; vom Machtstaat zum Schutzstaat und zu gesteuerten Prognoseinstitutionen. Im Blick auf die Gesetze, welche die Richtung des Evolutionsverlaufes anzei­ gen, ist darauf hinzuweisen, dass hier nicht beabsichtigt wird, die wirkliche Geschichte gleichsam »wortgetreu« zu übersetzen. Denn diese ist voll von Tatsachen, die Zwischenräume bzw. Lagunen in die Gesetzesstruktur oder Unterbrechungen in jene kontinuierliche Linie einbringen, als die wir das Gesetz darstellen. Kein Gesetz lässt sich zweifellos bezüglich derjenigen Phasen etablieren, welche die Menschheit durchlaufen muss, um Frieden zu stiften. Berücksichtigt man allerdings in einem viel allgemeineren Sinne jene verborgenen Richtungsgesetze der menschlichen und seelischen Evolution, so ist das Ende der Kriege eher in einer ferneren Zukunft als einem kurzsichtigen und vor allem naiven und oberfläch­ lichen Pazifismus positivistischer und progressistischer Art anzusie­ deln. Dagegen ist das von dem bekannten Soziologen [Leopold] von Wiese formulierte Gesetz der »Kraftminderung« (disminución de la fuerza) nicht überzeugend, seitdem die Tatsachen belegen, dass sich das Ausmaß der Gewalt intensiv wie extensiv in jedem neuen Krieg tendenziell vergrößert (und faktisch vergrößert hat) und in seiner magmatischen Raserei immer größere Teile der Menschheit, eine höhere Anzahl von Völkern und immer weitere rassische, politische und ideologische Konstellationen mitreißt. Diesen Umstand hat der soeben beendete Zweite Weltkrieg unter Beweis gestellt, und dies wird, bedauerlicherweise, auf vielleicht noch verheerendere Art und Weise derjenige Krieg veranschaulichen, der in dem schmerzhaften Innersten dieses so entscheidenden Zeitalters ausgebrütet wird. […]

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Francisco Romero (1891–1962): Text 12 Intentionalität und Geist (1952)

(Übersetzt von Niklas Schmich) Im vor-intentionalen Psychismus lebt das Individuum seine Zustände auf verworrene Art und Weise, ohne sie auf ein subjektives Zentrum zu beziehen. Im intentionalen Psychismus organisiert sich das Bewusstsein hingegen als differenzierte Struktur, in der es einen subjektiven Pol gibt, der die Gegenstände erfasst und sich aktiv über sie projiziert. Dank seiner normalen Funktion konstituiert sich der subjektive Pol in einem von Welt – d. h. von einem Umkreis in sich objektiv zusammenhängender Objektivierungen – umgebenen Ich. Die kognitiven, emotionalen und willensmäßigen Verhaltensweisen des Ich münden in der Welt, die diese weitgehend determiniert; sowohl aufgrund der Situationen, die sie dem Ich darbietet, als auch insofern die Konstitution des Ich auf die akkumulierten Erfahrungen dieser Welt zurückzuführen sind. Im rein intentionalen Psychismus ist die Welt nichts weiter als das objektive Feld, an dem das Ich seine Existenz bestätigt und entfaltet. Die Existenz richtet sich voll und ganz nach praktischen und individualtypisch veränderlichen Interessen aus, welche sich auf ihr singuläres und konkretes Sein beziehen. Wie bereits erwähnt, ändert sich dieser Sachverhalt nicht grundlegend, wenn diese Interessen nicht direkt auf die individuelle Singularität, sondern auf bestimmte Komplexe oder Gruppen, mit denen sich das Individuum konkret identifiziert, bezogen sind. Jedoch nur, insoweit diese Identifikation praktische und konkrete Motive anspricht, und nicht ideale Intentionen, welche die Überschreitung der natürlichen Einstellung hin zu einer geistigen bedeuten würden. Die rein intentionale Tätigkeit erschafft dem Subjekt Objektivi­ täten, welche jedoch sofort den unmittelbaren Zwecken des Wahrneh­ menden unterstellt werden, der sie in die Bereiche des Interessanten oder Gleichgültigen, des Brauchbaren oder Nutzlosen, des Angeneh­ men oder Unangenehmen, des Reizvollen oder Abstoßenden usw. einordnet. Das Hervortreten der einen und die Verdrängung der

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Francisco Romero (1891–1962): Text 12 Intentionalität und Geist (1952)

anderen Objektivitäten, die Richtung und Kraft des objektivierenden Blicks, hängen von praktischen Faktoren ab. Die konkret veränderba­ ren Faktoren greifen besonders in die erkenntnismäßige Weiterver­ arbeitung, in die intellektuelle Handhabung ein. Die emotionalen Akte und die Willensakte orientieren sich auf dieselbe Weise, d. h. in Abhängigkeit und zugunsten der psychophysischen Wirklichkeit des Agens. Die intentionalen Akte,schießen‘ demnach zu den gegebenen Objektivitäten hinaus, wenngleich es bei ihnen auch so etwas wie einen Rückweg zum Subjekt gibt. Das wesentliche Merkmal des geistigen Aktes liegt in dem Man­ gel eines solchen Rückwegs. Der geistige Akt wirft sich auf das Objekt und verbleibt dort. Im Bereich des Emotionalen, Erkenntnismäßigen und Willensmäßigen widmet sich das Ich den Objektivierungen um ihrer selbst willen. Während das Subjekt im rein intentionalen Modus die Objekte setzt und die Objekte für sich (a sí) sogleich setzt, setzt es im geistigen Akt die Objekte, um sich selbst für die Objekte (a ellos) zu setzen. Die folgende vorläufige und unvollständige Definition wird uns dazu nützlich sein, den Bereich des geistigen Aktes einzugrenzen: Der geistige Akt ist der intentionale Akt, in dem sich das Subjekt für das Objekt (al objeto) setzt. Eine genauere Erklärung zu dieser Art von Akten erfordert eine Bestimmung des Was, Warum und Wie, d. h. ihrer inneren Wesensart, des mutmaßlichen Grundes ihrer Erscheinung und ihrer Funktionsweisen. Da es sich bei dem geistigen Akt um einen Akt besonderer und höherer Art handelt, werden wir von nun an bei nicht-geistiger Inten­ tionalität von »bloßer Intentionalität« oder »reiner Intentionalität« sprechen; oder auch einen anderen Ausdruck verwenden, welcher es erlaubt, diese von der vergeistigten Intentionalität zu unterscheiden. Gemäß der vorangegangenen kurzen Darstellung scheint der geistige Akt, zumindest auf den ersten Blick, einfacher, direkter und weniger komplex als der Akt der bloßen Intentionalität zu sein. Und tatsächlich gibt es im nicht-geistigen intentionalen Akt ein Element, welches im geistigen fehlt: der subjektive Rückweg, d. h. der praktische Bezug des Objektivierten auf die Individualität des Agens. Für sich genommen bieten die bloßen Akte zweifellos diese Unterscheidung. Nicht jedoch, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf das Ich und sein jeweiliges Betragen in der bloßen und geistigen Intentionalität richten. In der ersten lebt das Ich auf spontane Weise seine Natürlichkeit, indem es sich über das Objekt neigt und dadurch seine Wirklichkeit als konkretes Individuum, welches sich selbst

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für universell und als allerletzten Bezugspunkt nimmt, zur Geltung bringt. Erst jetzt erkennen wir, dass das, was wir zuvor als subjektiven Rückweg bezeichneten, nichts ist, was dem Akt auferlegt wird. Es ist vielmehr eine im Akt selbst wirkende Intention, eine letzte Polari­ sierung zum Agens, als dessen »natürliche« Veranlagung. Einerseits ist diese Intention im geistigen Akt unterdrückt; hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine Vereinfachung, sondern vielmehr um eine Reinigung des Aktes. Andererseits erweitert der geistige Akt seinen Radius zum nicht-geistigen, da er durch die freie Berücksichtigung seines Objekts auf ein weiteres Feld als jenes stößt, welches das vergleichsweise beschränkte Feld der tatsächlichen Bestrebungen des Agens eingrenzt. Die bloße Intentionalität bringt die Realität in den Schoß der Natur des Menschen zurück, während der Mensch sich mittels der Geistigkeit allem, was ist, widmet und freigiebig an der Totalität teilhat. Das, in der ersten Einstellung, partikularistische Ich erhebt sich über sich selbst und universalisiert sich in der zweiten Ein­ stellung. Wenn wir uns auf die zuvor etablierten Untersuchungen und Annahmen einlassen, springt uns vor allem der Unterschied zwischen dem Zustand des Psychismus und seiner Intentionalität ins Auge. Der erste ist ein Fluss psychischer Materie, ohne klare Trennung zwischen Erkenntnisfähigkeit, Willenstätigkeit und Emotionalität; und ohne die Existenz eines Subjektes, vor dem die objektivierten Instanzen auftreten. Der intentionale Psychismus dagegen birgt die Tätigkeit eines Subjektes, dem Objektivitäten erscheinen, welche es intellektiv als solche versteht und auf die es seine Gemüts- und Willensakte projiziert. Auch wenn man lediglich den entsprechenden inneren Aufbau berücksichtigt, ist die Verschiedenartigkeit zwischen beiden psychischen Realitäten enorm. Betrachtet man ihre Funktionsweise, so vernimmt man sogar eine Vergrößerung dieses Unterschiedes. Der vor-intentionale Psychismus steht unvermeidlich im Dienste des organischen Lebens; er ist ein Regulierungs- und Anpassungsmittel für das Individuum, d. h. für die Anpassung des Individuums an die Umwelt. Und teilweise auch bei der Anpassung der Umwelt an das Individuum, als Ausschnitt und Funktionalisierung der Umgebung, angesichts der impliziten Anforderungen in der Konstitution jeglicher Spezies. Wie hoch auch immer man auf die Skala dieses Psychismus hinaufsteigt, auf welch ungewöhnliche Art und Weise man ihm auch Rudimente der Intentionalität beifügen mag, so überschreitet doch das Individuum die Ebene des rein Vitalen nicht. Bezüglich einer

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räumlich-temporär erweiterten und umfassenden Objektperspektive geht das Individuum nicht einfach dazu hinüber, ein von einer für ihn erkennbaren und frei handhabbaren Welt umgebenes Ich zu sein. Demgegenüber löst der intentionale Psychismus das Individuum aus der strengen organischen Ebene heraus, um es in ein mit Welt verse­ henes Ich umzuwandeln. In ihr entwickelt es eine Tätigkeit, welche die biologischen Ebenen insoweit überschreitet, als die Anreize dieser Ordnung selbst teilweise in andersartige Motive übergehen. Es darf keineswegs vernachlässigt werden, dass die Intentionalität die kultu­ relle Objektivierung mit sich bringt. Mit ihr konstituiert sich eine neue Sphäre – die der Kultur – um das Individuum herum, wodurch eine völlig neue und komplexe Situation hervorgebracht wird, da das Subjekt nun zugleich in der Welt der spontanen Natürlichkeit und der Welt der Kultur lebt und in Abhängigkeit von beiden agiert. Dies jedoch, selbst in den untersten zivilisatorischen Rängen, mit einem spürbaren Vorrang eines kulturellen Einflusses, der seine Beur­ teilungen und Verhaltensweisen gegenüber dem originär Natürlichen bestimmt. Die Distanz zwischen dem nicht-intentionalen und dem intentionalen Seienden ist, vom Standpunkt der Struktur und Tätig­ keit aus, ausreichend groß, um eine streng ontologische Trennung zu rechtfertigen. Das vor-intentionale und das intentionale psychische Feld wei­ chen deutlich voneinander ab. Dagegen gibt es zwischen dem bloß intentionalen und dem geistigen keine strukturelle Differenz, da das Fundament – das Paar Ich-Welt – in beiden Fällen die Grundlage bildet. Das intentionale Bewusstsein ist das gemeinsame Feld der rein intentionalen und der geistigen Akte, so dass strenggenommen nicht von einem geistigen Bewusstsein, welches sich dem anderen entgegensetzt, gesprochen werden kann. Der geistige Akt ist ein mit besonderem Sinn versehener intentionaler Akt, der sich nicht nur auf Objekte richtet, sondern sich von diesen – und dies sei mit Vorbehalt gesagt – leiten und in ihnen verausgaben lässt. Im Wesentlichen ist der geistige Akt gänzlich objektive Richtung. Als Agens dieses Aktes verändert sich das Subjekt nicht bezüglich seiner subjektiven Materie, sondern hinsichtlich seiner Position, seines Sinnes, seiner Einstellung oder seines Verhaltens in der Realität. Dennoch kann man nicht sagen, dass die Geistigkeit für das Subjekt lediglich eine Handlungsweise und nicht eine Seinsweise sei. Denn wenn sich das Subjekt in seinen Akten auflöst, hängt seine Seinsweise immer noch von der Wesensart seiner Akte ab, als Aktualität wie als Vollzugsweise. Die Unterschiede,

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welche wir aufzeigen werden, bestätigen sich nur, wenn wir davon ausgehen, dass die nicht-intentionalen Akte sich äußerlich relativ leicht von den intentionalen Akten unterscheiden lassen, während eine intentionale Einstellung geistig wirken mag, ohne wirklich geis­ tig zu sein, und umgekehrt. Es kommt sogar vor, dass der Agens selbst Fehler bezüglich der Wesensart des Aktes zu begehen pflegt. Von einem Standpunkt aus gesehen, ist die Differenz also mini­ mal; von einem anderen, welcher übrigens gerechtfertigter ist, ent­ puppt sie sich als unkalkulierbar. Zwischen dem bloß intentionalen und dem geistigen Akt scheint der Unterschied geringfügig zu sein, da die Akte häufig verwechselt werden und die einzige Verschieden­ artigkeit zwischen ihnen auf nichts weiter als der letztlich subjektivis­ tischen Intention des ersten und der objektivistischen des zweiten beruht. Mit dem Schritt zum radikalen Objektivismus, welcher den geistigen Akt in seiner Reinheit definiert, wird jedoch die natürliche Ebene verlassen und im Menschlichen nicht weniger als ein Teilchen Göttlichkeit errichtet. Aus dem Gesagten lässt sich herauslesen, dass das rein Inten­ tionale und das Geistige bezüglich ihres realen inneren Aufbaus übereinstimmen, jedoch Unterschiede zwischen Intention und Zweck bestehen. Mit anderen Worten könnten wir sagen, dass hier eine materielle und inhaltliche Übereinstimmung vorliegt, wobei jedoch gesetzmäßige und formale Unterschiede aufzufinden sind. Man bemerke, dass dasselbe in den beiden vorherigen Stufen des Realen – im Anorganischen oder Physischen und dem Organischen oder Lebendigen – der Fall ist. Die für das Anorganische und das Organi­ sche konstitutive Materie ist dieselbe; im Organischen lässt sich kein einziges Element auffinden, welches nicht schon auf Bestandteile der physischen Ordnung reduzierbar wäre. Die Gesetzmäßigkeit oder Form ist jedoch unterschiedlich und dient dank ihrer funktionalen Auswirkungen dazu, das Seiende jeweils zu bestimmen und es auf der Ebene der anorganischen Realität oder der des Lebens entsprechend zu verorten. Das philosophische Problem, welches hier zutage tritt, könnte nicht schwerwiegender und anregender sein. Es ist uns jedoch nicht erlaubt, hierbei zu verweilen. Die Frage nach Materie und Form, ihren jeweiligen Verhältnissen und Bereichen taucht in großen philo­ sophischen Systemen auf, ohne jedoch bis dato eine gesonderte und erschöpfende Gesamtprüfung erfahren zu haben. Der Pythagoreis­ mus beispielsweise stellt eine große Bemühung da, die Welt durch die

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Realität der Form zu erklären; über seine Bedeutung als Antezedens jüngster Konzeptionen lassen sich einige scharfsinnige Hinweise bei [Robin George] Collingwood416 finden. Die Beziehung zwischen Materie und Form ist einer der grundlegendsten und interessantesten Wesenszüge des aristotelischen Systems. Über das Formelement konstituiert sich das Wichtigste der aristotelischen Erkenntnistheorie. Schopenhauer vermerkte, dass für die wesentliche Unterscheidung zwischen der physischen und der organischen Ordnung die Materie in der ersten und die Form in der zweiten Ordnung entscheidend ist. Nicht nur der im neuesten Denken so lebhafte und verlockende Strukturalismus hat mit diesem allgemeinen Problem zu tun. Auch jedweder Aktualismus, jegliche Auflösung des Seienden im Akt, betrifft diese Angelegenheit, weil hierdurch die Zurückführung des Seienden auf ein reines Handeln, welches als dynamische Form begriffen werden muss, verteidigt wird. Der Aufschwung struktura­ listischer und aktualistischer Interpretationen in der gegenwärtigen Philosophie und Wissenschaft kann als möglicherweise endgültiger Triumph des Formalismus verstanden werden.417 Im Grunde genommen hat unser gesamter Realitätsbegriff einen Hang zum Strukturalismus und Aktualismus. Die Unterscheidung zwischen Materie und Form, zwischen Inhalt und Gesetzmäßigkeit, welche wir bei dieser Gelegenheit vornehmen, bezieht sich auf die Gegebenheitsweise des Realen, auf die Dualität zwischen dem zur Entität Gehörigen und dem Funktionalen und steht einer endgültigen Auflösung des zur Entität Gehörigen in aktualen Momenten nicht entgegen. Unter diesem Vorbehalt stellen wir fest, dass die vier Grade oder Stufen des Realen zweierlei Gattungen bilden: die Gattung der zeitlich-räumlichen und die der zeitlichen Seienden, welche beide jeweils zwei Arten beinhalten. Was wir Materie nennen, ist in beider­ lei Gattungen identisch, die Gesetzmäßigkeit und Form sind jedoch von Art zu Art verschieden. Abgesehen von der letzten Reduktion des Seienden auf den Akt, den wir als allgemeingültig annehmen, müssen wir zugestehen, dass das offensichtlich entitative Moment mit dem Fortschreiten [Robin George] Collingwood, The Idea of Nature. Siehe die bemerkenswerte Arbeit R[isieri] Frondizis mit dem Titel Sustancia y función en el problema del yo (Substanz und Funktion im Rahmen des Ich-Problems). [Romero bezieht sich auf die in der von ihm selbst herausgegebenen Reihe Biblioteca Filosófica erschienene Schrift des argentinischen Philosophen Risieri Frondizi (1952): Sustancia y función en el problema del yo. Buenos Aires: Losada.]. 416

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im Bereich des Realen zugunsten von Gesetzmäßigkeit und Form schwächer wird. Das bedeutet, dass die letzteren wichtiger und ent­ scheidender im Lebendigen sind als im Physischen, im Intentionalen als im Lebenden, im Geistigen als im bloßen Intentionalem. Auch wenn die metaphysische Frage der Freiheit hier nicht gestellt werden darf, gibt es einen Bezug, welcher mit dieser Frage zusammenhängt und aufgezeigt werden sollte. Es ist nicht schwer nachzuvollziehen, dass die zeitliche Gattung (bloße Intentionalität und Geistigkeit) sich – aus dem einfachen Grund, nicht räumlich zu sein – einer Reihe strenger Bestimmungen und jeder strikten mathematischen Raumregel entzieht. Sie genießt daher größere Frei­ heit als die andere Gattung (das Anorganische und Organische). Sie entgeht zumindest den spezifischen Zwängen eines besonders starren Determinismus. Als bloße Annahme und unter Berücksichti­ gung der Stufeneinsicht lassen sich ein qualitatives Wachstum und ein quantitativer Rückgang feststellen. Dies hängt jedoch davon ab, inwiefern man von der ersten Art, d. h. der des Anorganischen, zu den anderen Arten übergeht. Und da die höchste Form des Determinismus die Mathematik ist, entspricht jener Übergang einer progressiven Freisetzung des Seins. Unseres Erachtens impliziert die Stufe einen Zuwachs an Transzendenz, wie wir sogleich sehen werden. Ohne auf diese Angelegenheit zu sprechen zu kommen, sei von nun an darauf hingewiesen, dass sie als Verlauf vom mehr zum weniger Determinierten – von der Unabdingbarkeit zur Freiheit – über das all­ mähliche Abklingen mathematischer Implikationen in den Begriffen des folgenden Diagramms interpretiert werden kann: Gattungen

Arten des Anorganischen

Klasse der realen Seienden

Raumzeitlich

des Organischen

*1

*2

Räumlich des Intentionalen des Geistigen

* 1 Zuwachs an mathematischer Bestimmtheit * 2 Zunahme an Freiheit

Da dieses Diagramm nicht die Objekte der Kultur beinhaltet, darf es nicht für eine vollständige Klassifikation des realen Seienden gehalten

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Francisco Romero (1891–1962): Text 12 Intentionalität und Geist (1952)

werden. Seine einzige Absicht besteht in der schematischen Fixierung einiger vorangegangener Reflexionen. Wenn wir die Realität des Geistes bekräftigen, so gestehen wir zugleich seine Zeitlichkeit zu. Gelegentlich hat man auch an einer These der Zeitlosigkeit des geistigen Aktes festgehalten. Die­ ser Interpretation können wir jedoch entgegnen, dass die geistigen Erkenntnisakte, die Akte des ethischen Verhaltens und die der ästhe­ tischen Schöpfung oder des ästhetischen Genusses nicht nur in ihren einfachsten Modi dauern, sondern üblicherweise auch eine oftmals lange und komplexe Entwicklung durchlaufen haben, welche nur in der Zeit begriffen werden kann. Das Subjekt, welches den Akt vollzieht, ist insofern lebendige Geistigkeit, als es eine Einstellung bewahrt, die sich nicht in punktuelle Augenblicke auflösen lässt. Der Übergang von der reinen Intentionalität zur Geistigkeit zieht nicht nur eine Unterscheidung nach sich, die es erlaubt, eine neue ontologische Art herauszubilden, sie verursacht zugleich auch eine der denkbar größten Spaltungen. Es handelt sich um jene Spaltung zwischen den beiden großen Ordnungen, in welche die Realität auf­ geteilt ist: die der Natur und die des Geistes. Über die Heterogenität der letzteren ist bereits einiges gesagt worden und auch im Folgenden wird diese Thematik umfangreicher behandelt werden müssen. Der als wahrhaft unüberbrückbare Kluft geöffnete Raum zwi­ schen Natürlichkeit und Geistigkeit hält uns nicht davon ab, zu versuchen, den Grund der Erscheinung der Geistigkeit aus der Grund­ lage der Natürlichkeit zu verstehen. Der Sinn dieser Erscheinung kann bei dem Versuch einer Begründung von Verbindungen zwischen Geistigkeit und Transzendenz in Betracht gezogen werden. Wie entfernt auch immer die Geistigkeit von der Intentionalität ist und wie wesentlich die Neuartigkeit, welche sie in das Feld der Totalität einführt, auch sein mag, so muss dennoch zuerkannt werden, dass sie bereits als Möglichkeit und sogar als Ursprung in der ersten intentionalen Einstellung vorlag. Was wir als bloße Intentionalität bezeichneten, ist eine unvollkommene Intentionalität, da sie sich in Anbetracht der geistigen Anforderungen sogar als unbefriedigt offenbart. Denn der subjektive Rückweg erscheint hier nicht als Plus, sondern vielmehr als Verminderung der objektivierenden Intention. Allgemein ist es für die Intentionalität charakteristisch, Objektivitä­ ten zu bestimmen, wahrzunehmen, zu denken und sich über sie in emotionale und willensmäßige Bewegungen zu projizieren. Die objektive Richtung und die Intentionalität sind also wesensgleich;

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vor der Erscheinung des Geistes erfüllt sich jene objektive Rich­ tung jedoch nicht vollständig, da ein Ballast ihr freies Fortschreiten erheblich erschwert. Hierbei handelt es sich um die Konsistenz des Ich als Bündel individueller Interessen. Uns erweist sich die bloße Intentionalität somit als etwas Unvollständiges und Verkürztes, als ein Impetus des Subjekts gegen etwas, dass nicht es selbst ist; ein Impetus, der später abschwächt, zum Subjekt zurückkehrt und ihm, so könnte man sagen, die brauchbaren Überreste des Objekts übermit­ telt. Eigentlich konstituiert die Intention des subjektiven Rückwegs, das sogenannte »interessierte Interesse«, den rein intentionalen Akt und definiert diesen, obwohl er von vornherein ein Anhalten am objektivierenden Impuls anzeigt. Die Natürlichkeit der nicht-vergeis­ tigten Intentionalität beruht gerade auf dem letztendlichen Verweis oder der Rückführung der Akte auf das Ich als einzelnes Zentrum. Wie wir sehen werden, teilt das Ich somit seinen Partikularismus mit dem der Gesamtheit des Natürlichen, welches sich hierdurch gegenüber dem radikalen Universalismus des Geistigen charakteri­ siert. Das nicht-vergeistigte Subjekt teilt auf seine Weise, d. h. als eigennütziges Interesse für seine Welt, die Lage des organischen Wesens. Es interessiert sich nur für die Umwelt, die ihm für seine individuellen und spezifischen Zwecke dient. Die Einstellung bleibt hierbei dieselbe; es variieren lediglich die Protagonisten und dessen Schauplätze. Obwohl der Partikularismus ein allgemeines Naturge­ setz sein mag, ist darauf hinzuweisen, dass seine Ausformungen verschiedenartige Grade an Umfang und Würde mit sich bringen. Außerdem nähert sich der intentionale Partikularismus mitunter dem geistigen Universalismus an. Dies geschieht, wenn sich die objekti­ vierte Welt vergrößert und das Ich zu einem Wir erweitert, welches die vollständige Menschheit und sogar andere, durch sympathisierendes Miteinander aufgenommene Bereiche umfasst. Das Ich vergrößert und veredelt sich zweifellos vielmals, wenn es sich im Wir erweitert. Allerdings ist jedweder Einfühlungsakt, der sich letztlich auf dieses Wir bezieht, rein intentional. Der Einfühlungsakt ist aber von einer höheren Intentionalität, da das Entscheidende des geistigen Aktes die offene und reine objektive Richtung, die Projektion auf etwas ist, insofern es ebendieses »etwas« ist.

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Antonio Caso (1883–1946): Text 13 Was ist Bewusstsein? (Brentanos Entdeckung) (1938)

(Übersetzt von Guillermo Ferrer in Zusammenarbeit mit Niklas Schmich)

I Niemals ist die Neugierde nach der Bestimmung einer Sache intensi­ ver als dann, wenn die zu bestimmende und für alle offenkundige Sache noch nicht bestimmt werden konnte. Dies gilt relativ auch für das Bewusstsein, das insofern unbestimmbar ist, als es die höchste Gattung der psychischen Ordnung ausmacht. Wie ließe sich zumin­ dest das psychologische Bewusstsein charakterisieren …? Ernst Haeckel, der berühmte Naturforscher aus Jena und Anhän­ ger [Charles] Darwins, zählte das Problem des Bewusstseins zu den von ihm so genannten »Rätseln des Universums«.418 Er erklärte dieses Rätsel ausdrücklich für unlösbar. Tatsächlich ist alles Seiende im Bewusstsein eingeschlossen. Dank des Bewusstseins sind wir erkenntnisfähig, obwohl wir nicht wissen können, was das Bewusst­ sein selbst ist. Gleichwohl beruht das überragende Verdienst des großen Psy­ chologen Franz Brentano in seiner Bemühung, das Bewusstsein als »in-intentionalen« Akt zu charakterisieren: Jedes psychische Phäno­ [Caso spielt hier auf das berühmte ignorabimus an, das Haeckel, in Anlehnung an Emil du Bois-Reymond, über zwei Rätsel der Welt aussprach. Das erste ist der Zusam­ menhang von Kraft und Materie. Das zweite ist das Bewusstsein selbst als eine Sub­ stanz, die auf der Grundlage materieller Bedingungen fühlen, begehren und denken kann. Siehe Ernst Haeckel (1899): Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie. Bonn: Verlag von Emil Strauß, S. 208.]. 418

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Antonio Caso (1883–1946): Text 13 Was ist Bewusstsein? (Brentanos Entde­ ckung) (1938)

men kennzeichnet sich durch das, was die Scholastiker als »die intentionale Inexistenz eines Gegenstandes« bezeichneten. Was ist nun unter »intentionaler Inexistenz« zu verstehen …? Hierauf antwortet Brentano: »die Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Object (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist) […].«419 Das Bewusstsein existiert nicht ohne seinen Gegenstand. Bei jedem psychischen Akt gibt es einen Objektbezug.

II Bei der Empfindung ist etwas das Empfundene; bei der Wahrneh­ mung ist etwas das Wahrgenommene; bei dem Willen ist etwas das Gewollte; bei dem Denken ist etwas das Gedachte; bei der Einbildung ist etwas das Eingebildete. Das Objekt ist dem Bewusstsein stets immanent. Dies ist es, was Brentano mit der Sprache der Scholastik als »den intentionalen Gegenstand« bezeichnet. »In-intentional« bedeu­ tet in diesem Zusammenhang nicht das Nicht-Intentionale, sondern eben die Existenz in dem Intentionalen. Brentano kommt mit folgender Behauptung zum Abschluss: »Diese intentionale Inexistenz ist den psychischen Phänomenen ausschliesslich eigentümlich. Kein psychisches Phänomen zeigt etwas Aehnliches. Und somit können wir die psychischen Phänomene definiren, indem wir sagen, sie seien solche Phänomene, welche intentional einen Gegenstand in sich enthalten.«420

III Wenn das Bewusstsein seinen Gegenstand einschließt, dann ist die Annahme eines reinen Subjektivismus falsch, weil die Bejahung des Subjektiven notwendigerweise das Objektive einschließt. Dies ist die erste Konsequenz aus der Charakterisierung des Bewusstseins bei Brentano. In dem subjektiven Akt liegt das Objektive bereits immanent vor. Der gängige Subjektivismus, bei dem das Bewusstsein vermeintlich das Maß der Realität ist, hätte bereits selbst die Realität als Bewusstseinsinhalt eingeschlossen. 419 420

[Zitiert nach dem deutschen Originaltext: Franz Brentano (2008): S. 106.]. [Zitiert nach dem deutschen Originaltext: Ebd., S. 107.].

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Antonio Caso (1883–1946): Text 13 Was ist Bewusstsein? (Brentanos Entde­ ckung) (1938)

IV Gemäß dem Objektivismus ist der Gegenstand die Richtschnur der Erkenntnisbeziehung. Es ist wahr, dass der Gegenstand das Subjekt bestimmt. Das individuelle oder allgemeine Bewusstsein richtet sich nach dem Objekt, es tendiert zu ihm. Und das Objekt liegt selbst im Akt des Denkens immanent vor. […] Die platonischen Ideen sind objektive Realitäten, die vom Bewusstsein angeschaut werden. Die Anschauung der Formen ist der eigentümliche Akt des menschlichen Geistes. Das Eigentümliche des Menschen besteht darin, das Allgemeine zu verstehen. Es ist das, was laut Platon in der Mannigfaltigkeit der Empfindungen einer Einheit des Verstandes untergeordnet werden kann. Platon zufolge konstituiert das Verständnis des Allgemeinen die Erinnerung dessen, was unsere Seele während ihrer Reise zu Gott erblickt hat, als sie all das verachtete, was wir unpassend als das Seiende bezeichnen, und ihren Blick nur auf das wahre Sein erhob. Bei seinem Objektivismus vertritt auch Husserl, als Schüler von Platon und Brentano, die Wesensanschauung. Sie ist der implizite Zweck der geistigen Anschauung. Die sinnliche Anschauung blickt auf die konkreten Dinge und die intellektuelle Anschauung blickt auf die Wesenheiten. Der menschliche Geist kann von der Existenz, also von dem, was dauert und dem, was sich im Laufe der Zeit verwandelt, abstrahieren, indem er zur Kontemplation der Form aufstrebt. Denn die Form ist der Gegenstand des Bewusstseins von der Allgemeinheit. Für den deutschen Philosophen machen die Wesenheiten eine eigene Welt aus, und zwar die Welt des Apriori. […]

V Husserl beobachtet die Wesenheiten durch die wechselnden und vorübergehenden Tatsachen hindurch. Es gelingt ihm, über die sinnli­ che Anschauung zu den Ideen aufzusteigen. Im Unterschied zu Platon betrachtet Husserl die Ideen nicht in einer früheren Existenz der Seele, in der diese vom vergänglichen Körper befreit war und die Urbilder (paradigmas) erblickte. Vielmehr entdeckt und bestimmt Husserl das

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Antonio Caso (1883–1946): Text 13 Was ist Bewusstsein? (Brentanos Entde­ ckung) (1938)

Wesen in der sinnlichen Gegebenheit selbst, d. h. dem Phänomen (daher die Bezeichnung »phänomenologische Methode«). Jedenfalls liegt das Objekt in dem Subjekt vor; die Objektivität ist immanent, offenbar und unwiderlegbar im Bewusstsein enthalten. Die Psychologie Brentanos stimmt sowohl mit dem platonischen und dem aristotelischen Denken als auch mit einer der berühmtesten Richtungen des zeitgenössischen philosophischen Denkens überein. Den Subjektivismus in der gegenwärtigen Philosophie konnte man vor allem dank der psychologischen Entdeckung Brentanos über­ winden. Zuvor charakterisierte man das Psychische nur auf negative Art und Weise: Man sagte, dass das Psychische das Nicht-Räumliche und sein Einflussbereich die Zeit sei, und zwar als Sukzession; man bestimmte jedoch nicht die Beschaffenheit der geistigen Tatsachen. Durch seinen Begriff der Intentionalität bezieht Brentano das Subjek­ tive konstant auf das Objektive und das Psychische auf das Reale. Die zeitgenössische Philosophie entdeckt die eidetische Welt, die bereits im antiken Denken durch die Werke Platons und Aristoteles’ festgestellt wurde, in dem Realen. Diese großartige psychologische Entdeckung Brentanos schaffte die Grundlage, auf der Husserl das Gebäude der Phänomenologie errichten konnte. Dies liegt vor allem daran, dass sich die Wissenschaften in ihrem fortschreitenden Prozess stetig aufeinander beziehen; und jeglicher Fortschritt, jede außeror­ dentliche Entdeckung auf dem Feld der Psychologie hat enorme Auswirkungen auf den Bereich der Metaphysik. Der ideierende Akt (acto ideatorio) ist genau diese Wesensund Formanschauung a priori. Auf diese Weise bildet sich, von den Tatsachen und den Erfahrungsphänomenen ausgehend, der Aufstieg zu den Urbildern. Deswegen konnte der große Philosoph Husserl mit Stolz sagen, dass sein System den wahren Positivismus ausmache – und zwar jenen, der das Reale nicht selektiv an einigen einzelnen Aspekten festmache, um es in anderen Aspekten zu verleugnen. Wenn derjenige Positivist ist, der schlechthin alle Erfahrungsgegebenheiten annimmt, warum sollten wir dann die sinnliche Anschauung behaup­ ten, während wir die rein intelligible Anschauung leugnen …? Der Positivismus Husserls erweist sich, wie er selbst sagt, als »der Positi­ vismus der Wesenheiten«421. Diese philosophische Einstellung bringt

421 [Im spanischen Originaltext fehlt an dieser Stelle die Literaturangabe zu der Husserl’schen Terminologie.].

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Antonio Caso (1883–1946): Text 13 Was ist Bewusstsein? (Brentanos Entde­ ckung) (1938)

jedoch die Leugnung des alten Empirismus mit sich – den Empiris­ mus, den Auguste Comte »positivistische Philosophie« nannte.

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Text 14 Intuitionismus (1943)

(Übersetzt von Niklas Schmich) […] Wenn wir glauben würden, dass ausschließlich die »reine Ver­ nunft« die Philosophie hervorbringt, wären wir ein und derselben Meinung mit denjenigen, die der Vernunft die Fähigkeit absprechen, das Absolute zu seinem Gegenstand machen zu können. Vernunft geht jedoch mit Anschauung einher. Gemeinsam bilden sie die Leis­ tung der Intelligenz. Mit dem Syllogismus und der ihm innewohnen­ den dialektischen Strenge geht die Intuition einher. Ohne Anschauung kann man nichts verstehen. Die Anschauung ist ein Sehen, ein sehendes Erkennen. In der Anschauung geben sich die Gegenstände »leibhaftig«, wie Husserl mit Nachdruck sagt. Sowohl die Positivisten als auch die Neukantianer bestehen darauf, zu leugnen, dass das Denken das Absolute erkennen kann. Warum sollten wir uns auch darüber wundern, da sie ja konsequenterweise behaupten, für das Bewusstsein sei alles Transzendente unzugänglich …? Wer das einzige Mittel leugnet, einen Zweck zugänglich zu machen, muss mit gesundem Menschenverstand auch den Zweck selbst für unzugänglich erklären. Was viele dazu bewegt, dem Intuitionismus zu misstrauen, ist ein gewisses Vorurteil, dessen Ursprung in der Haltung einer philosophischen Scheinkongruenz liegt. Manch einer glaubt, die Intuition sei die Verkleidung, in der sich die zusammenhangslose Welt der Phantasie in die Philosophie einschleicht. Und manch ein anderer glaubt, auch der Mystizismus liege aufgrund der Intuition im Bereich der philosophischen Spekulation. Was die systematischen Leugner der Intuition inspiriert, ist wahrscheinlich gerade die Angst, das eigentlich Philosophische zu entstellen. Der übertriebene Eifer bei der Gespensterjagd im Bereich des Spekulativen führt zu dem schwerwiegenden Fehler, offensichtliche Wahrheiten zu leugnen und sie durch unzulässige Postulate zu ersetzen.

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Die philosophische Intuition kann aber, wie Bergson sagt, genauso präzise sein wie die exaktesten wissenschaftlichen Erkennt­ nisse. Alles hängt vom Grad der Strenge ab, mit der man sich auf ihre Lehren einlässt. Auch Husserl stellt im Zuge dessen, was er das »Prinzip aller Prinzipien« nennt, fest, dass alles, was sich uns in der »Intuition« originär (sozusagen in leibhaftiger Wirklichkeit) darbietet, einfach als das hinzunehmen sei, als was es sich gibt, und zugleich nur in den Schranken, in denen es sich gibt.422 Es handelt sich hierbei also nicht um einen neuen Mystizismus, sondern darum, auf das einzig mögliche Mittel zurückzugreifen, mit dem ein Erkenntnisgegenstand erfasst werden kann. In seinem Verlauf versammelt der Gedankengang die Intuitionen universeller und individueller Gegenstände. Ohne Intuition ist die Vernunft blind; ihr würde der Objektbezug fehlen. Um etwas ratio­ nal zu erkennen, muss man es nämlich zunächst einmal erfassen oder begreifen, kurz: Man muss es intuitiv erkennen. Vernunft und Intuition komplementieren sich. Sie sind die Flügel des menschlichen Geistes, welche ihn zur Erlangung der Wahrheit führen. Verzichtet man auf die Intuition, ist es auch nicht mehr möglich, einen Kontakt zwischen dem Verstand (mente) und dessen Objekt herzustellen. Das Erkenntnissubjekt muss dann auf eine agnostische Haltung zurückgreifen – oder gar auf die merkwürdige Hypothese, es schaffe sich durch sein Denken allererst den eigentlichen Gegenstand seines Denkens. Wenn man diesen Pfad verfolgt, gerät man schnell in einen unverständlichen Subjektivismus. Man tut dann so, als könne man den Teil mit dem Ganzen gleichsetzen. Man hüllt den Geist in ein feines Spinnennetz ein, mit dem man nicht nur eine Illusion der Erkenntnis, sondern auch eine Illusion der Erschaffung des Erkennt­ nisgegenstandes schafft. Schlussendlich gibt sich dann das Sein ganz der Erkenntnis des Seins hin. Das berühmte Immanenz-Argument, mit dem man den Panlo­ gismus aufrechtzuerhalten versucht, vermag dem Druck der folgen­ 422 [Caso bezieht sich natürlich auf die berühmte Stelle aus den Ideen: »Doch genug der verkehrten Theorien. Am Prinzip aller Prinzipien: daß jede originär gebende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis sei, dass alles, was sich uns in der ›Intui­ tion‹ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet, einfach hinzu­ nehmen sei, als was es sich gibt, aber auch nur in den Schränken, in denen es sich da gibt, kann uns keine erdenkliche irre machen«. Edmund Husserl (1976) (Hua III/1), S. 51.].

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den, ebenso klaren wie elementar wichtigen, plausiblen und wahren Unterscheidung nicht standzuhalten: Man sagt, das Objekt sei nichts, wenn es nicht dem Bewusstsein immanent sei. Dazu habe ich Folgen­ des zu sagen: Eine Sache ist der Inhalt meines Denkens – und eine ganz andere Sache ist das Objekt, auf das sich mein Bewusstsein bezieht. Das eine ist meine Anschauung eines Menschen – und etwas ganz anderes ist der in meiner Anschauung intuitiv erfasste Mensch. Eine Sache ist das, was mir vom Objekt gegeben wird – und eine andere Sache das Objekt selbst, das seinerseits unendlich viele Anschauungen herbeiführen kann. Mehr noch: Die Sprache benennt nicht die Anschauungen der Gegenstände, sondern die Gegenstände der Anschauungen. Insofern stimmen die Strukturen der Sprache, des Denkens und der Wirklichkeit überein. Wenn die Anschauung geleugnet wird, kommt die dem Panlogismus implizite Synthese an Widersprüchen voll zur Geltung. Die bewundernswerte Struktur der Sprache zeigt uns auf origi­ näre Art und Weise, dass man ganz einfach auf das Objektive und somit auch auf die Anschauung des Objektiven zurückgreifen muss. Wenn ich »Baum« sage, bezeichne ich damit gewiss nicht meine Anschauung des Baumes, sondern den Baum meiner Anschauung. Das eine sind das Zeichen, das Wort und der Laut, der etwas mit Bedeutung versieht – das andere ist der Inhalt meines Gedankens von dem Baum. Auch der Inhalt des Gedankens ist jedoch nicht der Gegenstand selbst, der diesen Gedanken herbeigeführt hat. Die Struktur der menschlichen Sprache stimmt mit der Struktur der Erkenntnis überein. Und beide entsprechen letztlich der Struktur des Seins. Jeder Subjektivismus sitzt einem Irrtum auf. Sowohl die Idealisten als auch die Positivisten leugnen die Realität. Sie haben sich in ihrem Hochmut und ihrem Argwohn den einzigen Weg verbaut, mit dem man die Realität hätte entdecken können: die Anschauung. […] Es gibt zwei Richtungen der zeitgenössischen Philosophie, die auf der Anschauung basieren. Beide zählen zu den wirkungsmächtigs­ ten aller Versuche, die hinsichtlich der Frage nach einer philosophi­ schen Methode bzw. nach einer Logik der Philosophie selbst unter­ nommen wurden. Die Wissenschaften sind ein Teil der Wahrheit; ihre Methoden sind ein Teil der Methode. Um zur metaphysischen Wahrheit zu gelangen, müssen die wissenschaftlichen Methoden und Ergebnisse mit den Wahrheiten der Anschauung kombiniert werden. Laut Bergson ist diese Kombination die einzige der Philo­

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sophie eigentümliche Methode. Der berühmte Philosoph hat den Charakter der Konzeption dieser Methode nie genauer erläutert als in seinem Vorwort zu Émile Lubacs Buch Esquisse d’un système de psychologie rationelle: Unter Anschauung verstehe ich hier keine passive Selbstbetrachtung des Geistes, keine Art von Traum, aus welchem der Geist heraus­ kommt, indem er seine Traumbilder mit den Sachen selbst vertauscht. Obwohl sich eine metaphysische Tendenz in der Intuition, von der hier die Rede ist, abzeichnet, kann diese so genau und unbestreitbar wie die genauesten und unbestreitbarsten wissenschaftlichen Methoden wer­ den. Die Intuition besteht darin, wieder Kontakt zu der konkreten Wirk­ lichkeit, über welche uns die wissenschaftlichen Analysen so viele abstrakte Auskünfte erteilen, aufzunehmen. Hierzu wird man sich dieser Analysen selbst bedienen. Die Analyse einer Vorstellung (pré­ sentation) besteht darin, sie auf ihre schon bekannten Bestandteile zu reduzieren, von ihr das abzuziehen, was sie mit anderen Vorstellungen gemeinsam hat. Es mag sein, dass die Analyse in manchen Fällen den ganzen Inhalt des zu analysierenden Gegenstandes ausschöpft; jedoch handelt es sich hierbei um keinen selbstständigen Gegenstand. Wir haben es mit keinem besonderen Gegenstand zu tun, sondern mit einer Zusammensetzung von mehreren Gegenständen. Hätte der Gegen­ stand einen eigenen Bestand, so würde man vergeblich versuchen, durch die Analyse ein gemeinsames Element herauszufinden. Denn die Analyse ist eine Operation, die weder mehr kann noch mehr will, als eine bloße Aufzählung von Ähnlichkeiten zu sein. Es ist unmöglich, eine solche Aufzählung auszuschöpfen, und wir sind dazu gezwungen, sie weiterzuführen, um das eigene Wesen (caractère) des sich immer entziehenden Gegenstandes festzuzurren. All dies lehrt uns, dass man eine andersartige Operation braucht. Es bedarf einer Intuition.423

Aus den obigen Ausführungen geht hervor, dass die Bergson’sche Intuition darauf abzielt, jeden wirklich singulären Gegenstand in seiner Individualität zu betrachten. Es handelt sich dabei also um eine ästhetische Intuition. Für den französischen Philosophen ist vor allem jene für die Wesen und Dinge charakteristische Individualität von Bedeutung, die in den abstrakten Analysen der wissenschaftlichen Erkenntnis zwangsläufig übersehen wird. Die Wissenschaften liefern 423 [Zitat aus dem französischen Originaltext, von G. Ferrer ins Deutsche übersetzt: Émile Lubac (1903): Esquisse d’un Système de Psychologie Rationnelle. Mit einem Vor­ wort von Henri Bergson. Paris: Félix Alcan, S. 7–10.].

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uns Abstraktionen der Wirklichkeit. Demgegenüber muss eine philo­ sophische Methode, die auf der Intuition basiert, uns zur Erkenntnis der irreduziblen Individualitäten führen, indem sie auf die Intuition zurückgreift und sich das Kontingent der abstrakten Analysen der Wissenschaft zunutze macht. Bergson kannte jedoch nicht jene andere Art von Anschauung, die von der phänomenologischen Methode, die sich dem deutschen Philosophen Husserl verdankt, rehabilitiert wurde. In dieser Rehabilitation besteht gerade das Verdienst der phä­ nomenologischen Methode. Neben der Anschauung des individuell Konkreten bringen sowohl die idealistische als auch die realistische Phänomenologie bei Husserl wie auch bei Max Scheler die Anschau­ ung allgemeiner Gegenstände wieder zum Einsatz: die Anschauung des Wesens und des Wertes. Damit nähert sich das zeitgenössische Denken der scholastischen Philosophie an, die an der Rezeption der platonischen und aristoteli­ schen Tradition einer Wesenserfassung festhielt. Schon die Rede von Wesenheiten deutet auf eine scholastische Herkunft hin. Wenn wir also die Grundfrage aller Wissenschaften stellen – die Frage »Was ist das?« –, dann beziehen wir uns damit nicht auf die Exis­ tenz eines Dinges, sondern streben nach einer Wesensanschauung. Wenn wir danach fragen, was ein Zentaur ist, ist es nicht so wichtig, ob der Zentaur existiert oder nicht existiert – wir fragen nach seinem Wesen. Daher entspricht dem Akt des Existierens auch nicht das Sein. […] Der Mensch wird nicht wie das Tier in den Schranken des Hier und Jetzt gehalten. Er strebt vielmehr zu der Anschauung allgemeiner Prinzipien auf. Die Wissenschaften, die über Tatsachen spekulieren und die Husserl »faktische« Wissenschaften nannte, setzen eine Anschauung der allgemeinen Elemente der Erkenntnis voraus. Eine solch illusorische Anschauung zu verkünden bedeutet, der Wissen­ schaft ihre unumstößliche Grundlage zu verweigern und den Faden zu zerreißen, der Theseus, wie Descartes sagt, durch das Labyrinth der Wirklichkeit führen wird. Husserl schätzt vor allem den auf einem »denkenden Ich« basie­ renden Ausgangspunkt der cartesianischen Philosophie und ihre feste Entschlossenheit, alles, was als wahr empfunden wird, solange infrage zu stellen, bis eine Untersuchung dieser evidenten Wahrheit, die jede spekulative Konstruktion auf unerschütterliche Aussagen stützt, durchgeführt wurde:

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Denn Frankreichs größter Denker, René Descartes, hat ihr durch seine Meditationen neue Impulse gegeben, ihr Studium hat ganz direkt auf die Umgestaltung der schon im Werden begriffenen Phänomenologie zu einer neuen Form der Transzendentalphilosophie eingewirkt. Fast könnte man sie danach einen Neu-Cartesianismus nennen, wie sehr sie, und gerade durch die radikale Entfaltung Cartesianischer Motive, genötigt ist, fast den ganzen bekannten Lehrgehalt der Cartesianischen Philosophie abzulehnen.424

Worin besteht jene cartesianische Haltung, welche die moderne Philosophie einleitet? Wie hat es der französische Philosoph geschafft, die Ausrichtung des philosophischen Denkens gänzlich zu verändern? Husserl antwortet darauf, die Philosophie wandle ihre Ausrichtung durchgängig beim Übergang vom naiven Objektivismus zum trans­ zendentalen Subjektivismus. Die höchste Wahrheit, von der sich alles andere ableiten muss, ist: »Ich denke, also bin ich.« Die Wahrheit dieser Aus­ sage ist eine Wahrheit, die durch die Anschauung herbeigeführt wird. Eine Zurückweisung der Anschauung macht somit die Philoso­ phie unmöglich. Bereits Sokrates hat auf diese Orientierung des transzendentalen Subjektivismus hingewiesen, als er das Diktum des Orakels von Delphi »Erkenne dich selbst!« zu dem seinigen machte. Das sokratische Denken weist bereits unmissverständlich darauf hin, dass die Grundlage der Philosophie die Selbstkenntnis ist. Außerhalb des denkenden Ich braucht man gar nicht erst nach einer Grundlage der Meditation zu suchen. Augustinus konnte die Skep­ tiker seiner Zeit überwinden, indem er sie dazu brachte, darüber nachzudenken, dass der Verstand, selbst wenn er sich täuscht, nicht an seiner eigenen Existenz zweifeln kann. Er sagte: »Wenn ich mich täusche, dann bin ich.« Descartes und Husserl haben nichts anderes getan, als auf der Orientierung zu beharren, die den naiven Objektivismus in einen transzendentalen Subjektivismus verwandelt. Husserl geht vom Ich bzw. vom cartesianischen ego cogitans aus. Der ständige Rückgriff auf die Anschauung macht die Phänomenolo­ gie jedoch zu etwas anderem als das cartesianische System. Husserl und Descartes sind wie zwei Linien, die einen Winkel bilden und 424 [Nach dem deutschen Originaltext zitiert: Edmund Husserl (1963): Cartesianische Meditationen und Pariser Vorträge. Husserliana Bd. 1. Hg. und eingeleitet von Stephan Strasser. Martinus Nijhoff: Den Haag, S. 3.].

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an ihrem Scheitelpunkt zusammenkommen. Sie trennen sich jedoch sofort wieder – und zwar immer entschiedener, je mehr sich der Winkel öffnet. »Das Prinzip aller Prinzipien« ist die Anschauung (um den Ausdruck des deutschen Philosophen zu gebrauchen). Aber was ist eigentlich Anschauung? Anschauung ist ein sehendes Erkennen. In der Anschauung geben sich die Gegenstände, wie sie sind; sie weisen sich in ihrer eigenen Struktur auf. Sie werden weder abstrahiert noch analysiert, sondern einfach betrachtet und beschrieben. Die Anschauung, mit der wir uns hier befassen, ist ein Verfahren, das sich streng an der Erfahrung orientiert. Es geht hierbei um nichts weiter als um die Erfahrung, das Sehen, die Kontemplation des Gegebenen. Die Philosophie sollte nicht mit Hypothesen begin­ nen, sondern damit, der Wirklichkeit ins Auge zu blicken und sie zu beschreiben. Ausgehend von einem denkenden Ich, dem cartesia­ nischen ego cogitans, folgt Husserl nicht mehr den Herleitungen, zu denen sich der große französische Philosoph hingezogen fühlte, sondern er hält sich ganz an den neutralen Bereich des Erlebten. Dies ist das eigentliche und vorläufige Feld allen spekulativen Den­ kens. Die Phänomenologie fungiert freilich als Vorwort zu jeder spekulativen Diskussion – und zwar als notwendiges Vorwort: Denn ohne eine Gegenwärtigung (presentación) der Objekte im denkenden Ich erweist sich ein Aufstreben zu spekulativen Konstruktionen als absolut unmöglich. Wir haben also zwei grundlegende Prinzipien der Philosophie: einerseits das denkende Ich und andererseits die Erscheinungen oder Gedanken des Ich. Ebenso wie man etwas denkt, wenn man denkt, will man auch etwas, wenn man will. Und genauso fühlt man auch etwas, wenn man fühlt. Das heißt: Es gibt kein Denken ohne Objekt. Die Vorarbeit des Philosophen muss darin bestehen, die Gegenstände der Anschauung zu beschreiben. Kein System würde je damit beginnen, sich als reine Beschreibung des neutralen Bereichs des Erlebten aufzufassen. Die Phänomenologie erhebt für sich den Anspruch, sich ständig auf die Anschauung und Beschreibung der Objekte des Denkens zu stützen. Die Anschauung des Objektes bringt uns jedoch notwendigerweise dazu, zwischen verschiedenen Objekttypen zu unterscheiden: den allgemeinen und den individuellen Objekttypen. Die individuellen Gegenstände bestehen hier und jetzt, so wie beispielsweise dieser Tisch hier oder dieses Buch da. Die allgemeinen Gegenstände sind dagegen immer; sie verändern und verwandeln

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sich nicht. Ein individuelles und konkretes Sein hat Geschichte; die allgemeinen Gegenstände nicht. Sie sind außerhalb jedweder Zeit, und dennoch betrachtet sie die Anschauung mit der gleichen Klarheit und Ursprünglichkeit, mit der sie auch das Individuelle betrachtet. Platon nannte diese Gegenstände Ideen. Die Phänomenologie stößt zwar auf diese Gegenstände bzw. die Ideen, sie hypostasiert sie jedoch nicht, wie Platon dies tut. Sie erklärt lediglich, dass sie die letzten Gegebenheiten der Anschauung seien. Man sieht hier, wie jener Philosoph, der von Descartes und dem »denkenden Ich« ausging, durch den ständigen Rückgriff auf ein streng anschauliches Verfahren als seine einzige Methode letztlich bei Platon anlangt. Die Anschauung kommt vor der Analyse. Zugleich muss man jedoch wissen, wie man etwas anschaut: Man sollte das Erfahrungsfeld nicht einfach willkürlich auswählen und einen Aspekt der Erfahrung der restlichen Erfahrung vorziehen, sondern sich alles anschauen. Man muss sich auf die gesamte Erfahrungswelt einlassen, man muss sie sehen und beschreiben. Dann wird man verstehen, dass sich die Bemühungen des Empirismus und des Positivismus, zu einer Leugnung allgemeiner Gegenstände zu gelangen, als vollkommen gescheitert erweisen. Daher sagt Husserl selbst mit berechtigtem Stolz, sein Positivismus, und nicht der Positivismus der Empiristen, sei der einzig wahre Positivismus- ein Positivismus der Wesenheiten. Es überrascht zunächst, dass ein Philosoph, der von einem cartesianischen »denkenden Ich« ausgeht, bei Platon und Aristoteles anlangt. Die Strenge der anschaulichen Methode führt die Phäno­ menologie zu einer Inanspruchnahme der letzten Gegebenheiten der Anschauung. In der von Descartes markierten Stoßrichtung und mit dem ständigen Rückgriff auf die Anschauung, tauchen im zeitgenössischen Denken wieder die großen Theorien der antiken Philosophie auf. Für uns ist das philosophische Denken nie so inhalts­ reich und synthetisch gewesen wie heute. Das Gesamtwerk des Denkens scheint sich in der großartigen Leistung der Husserl’schen Phänomenologie zu synthetisieren. Es handelt sich dabei um einen radikalen Intuitionismus und einen Positivismus der Wesenheiten, der die platonischen Ideen wieder für sich in Anspruch nimmt und sie mit dem Leben des Geistes in Einklang bringt – und nicht um einen absurden Synkretismus. Es ist das wiederholte und konstante Bemühen um eine philosophische Methode, die sich auf das ewige Gedankengut von Sokrates, Augustinus und Descartes stützt. Dies

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scheint uns das grundlegende Verdienst des von dem deutschen Philosophen vollbrachten Werkes zu sei […]. […]425 Das tiefere Ich Bergsons muss, so glauben wir, auf das ego cogitans von Descartes und Husserl reduziert werden. Bergson hat nur eine einzige Wesenheit erkannt: das Leben. Durch seine Faszination für die Intuition des élan vital will er das Leben zu einer allgemeinen Wesenheit erklären. Das Leben, die Freiheit und die reale Zeit sind charakteristisch für die Welt en train de se faire, während der Raum, der Determinismus und die Materie das Abgeleitete, das Abnehmende und das tout fait … sind. Aber fehlt es Husserls Philosophie nicht an der Intuition eines Prinzips von Dynamik und Evolution, an der Intuition des Lebens oder des Willens, wie Schopenhauer und Bergson sie vertreten haben …? Welcher Denker wird das Prinzip des Lebenswillens und den élan vital zu ihrer eigentlichen Funktion, zum adäquaten Aufbau der transzendentalen Phänomenologie führen?

425 [Die obigen Auszüge wurden dem Werk La existencia como economía, como desinterés y como caridad von Antonio Caso entnommen, der letzte Abschnitt stammt aus ders., El acto ideatorio y la filosofía de Husserl. Eine Zusammenstellung der spanischen Originalveröffentlichungen findet sich am Ende der Textauswahl.].

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Text 15 Existenz als Ökonomie, Uninteressiertheit und Barmherzigkeit (1943)

(Übersetzt von Niklas Schmich)

Leben als Ökonomie Der ökonomische Aspekt der Existenz regiert die Lebenswelt und ihre Lebensäußerungen mit absoluter Autorität. Sich ernähren, wachsen, sich fortpflanzen, kämpfen, spielen und sterben …: All dies sind vielfältige und mehr oder weniger komplexe Ausdrucksformen der Grundgleichung des Universums als Ökonomie: Leben = Maximaler Ertrag bei minimalem Aufwand. Beim Spielen muss man einen weiteren wichtigen Faktor berück­ sichtigen. Nicht jedes individuelle Wesen beansprucht den Energie­ überschuss, den höhere Tiere haben. Da es jedoch bei den Tieren kei­ nen Ansatzpunkt für irgendeinen uninteressierten Akt gibt, besteht der Lebensüberschuss bei ihnen in der Nachahmung eines Kampfes, den ein Spieler eben kämpft und durch diesen Kampf zugleich des Spieles fähiger wird. Das Leben ist eine egoistische Energie oder Lust nach Fleisch, die ständig darum bemüht ist, ihren Hunger zu stillen. Daher erschöpft sich das Leben stets in sich selbst, solange es keine andere Kraft oder das Prinzip einer anderen Ordnung findet. So sehr sich das Leben auch bemüht, seinen Hunger zu befriedigen und das hierzu Erworbene an sich zu reißen, es erschöpft sich dennoch in sich selbst. Der Lebensüberschuss des Spiels kann als unverzichtbare Lebensbedingung für andere Zwecke als das rein biologische Leben dienen. Wenn der Mensch über keinen Lebensüberschuss verfügen und nicht eine viel größere Menge an Energie produzieren würde als die, die er benötigt, um sich als Säugetier sui generis zu verwirklichen, dann würde ihm die organische Bedingung für intellektuelle, ästhe­

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Text 15 Existenz als Ökonomie, Uninteressiertheit und Barmherzigkeit (1943)

tische und moralische Ordnungen fehlen. Das bedeutet aber nicht, dass die Wissenschaft, die Moral und die Kunst Äquivalente oder Abbilder der reinen Lebenskraft wären – wie sich in den folgenden Ausführungen bestätigen wird. Die höheren Tiere erschöpfen sich in ihrem Tier-Sein. Der Überschuss des Menschen hingegen macht aus dem Menschen ein potenzielles Werkzeug der Kultur, des Helden­ tums und der Heiligkeit.426

Kunst als Uninteressiertheit […]

Kunst ist keine ökonomische Tätigkeit. Je mehr man auf das Haben verzichtet, um sich der Kontemplation zu widmen, desto besser ist der dadurch erworbene künstlerische Geist. Man wäre der allergrößte Künstler, wenn man in jeder Hinsicht uninteressiert wäre. Bergson schreibt: Wäre diese Loslösung vollständig, hinge die Seele dieses Menschen durch keine ihrer Wahrnehmungen mehr mit seinem Tun zusammen, so wäre es die Seele eines Künstlers, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Sie würde sich in allen Künsten zugleich auszeichnen oder vielmehr alle Künste zu einer einzigen verschmelzen. Sie nähme alle Dinge in ihrer ursprünglichen Reinheit wahr, sowohl die Formen, Far­ ben und Klänge der materiellen Welt als auch die subtileren Regungen des inneren Lebens.427

Kunst ist angeborene Uninteressiertheit, die sich einer Erklärung durch das Leben entzieht. Sie erfordert eine enorme Anstrengung und ihr Ergebnis ist nutzlos. Kunstwerke sind für die Ökonomie der Existenz unbrauchbar. Schopenhauer definierte die Kunst als »die Betrachtungsart der Dinge, unabhängig vom Satze des Grundes, im

426 [Siehe für das Kapitel »Leben als Ökonomie« auch die gesammelten Werke des Verfassers: Antonio Caso (1972): Obras completas III – La existencia como economía, como desinterés y como caridad. Hg. von Rosa Krauze de Kolteniuk. Mit einem Vorwort von José Gaos. Mexiko: UNAM, S. 43–44.]. 427 [Aus der deutschen Übersetzung zitiert: Henri Bergson (2011): Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen. Übersetzt von Roswitha Plancherel-Walter. Hamburg: Felix Meiner Verlag, S. 110.].

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Text 15 Existenz als Ökonomie, Uninteressiertheit und Barmherzigkeit (1943)

Gegensatz der gerade diesem nachgehenden Betrachtung, welche der Weg der Erfahrung und Wissenschaft ist.«428 Kein philosophischer Begriff könnte dem Zweck der Kunst ange­ messener sein. Da der Geist aufgehört hat, sich um seine Nützlichkeit, seine Subjektivität und sein elendes Selbst zu sorgen, gibt sich ihm die Welt in ihrer ursprünglichen und charakteristischen Individuali­ tät. Die Dinge und Wesen werden dann nicht zu praktischen und theoretischen Zwecken, sondern sie werden in ihrem Wesen selbst gesehen, sie werden gesehen, um sie zu betrachten, oder besser noch: Sie werden um der Betrachtung selbst willen gesehen. Sie sind so, wie sie uns in der Betrachtung gegeben sind. […] Diejenigen, die den Seelenzustand der poetischen Inspiration charakterisiert haben, haben stets Nachdruck auf die Notwendigkeit der Metapher und einer Form des Ausdrucks gelegt, die von den Rhe­ torikern als figurative Sprache bezeichnet wird. Nebenbei bemerkt stellt die Rhetorik eine unzulässige Invasion der Logik in den Bereich der Kunst dar. Sie ist dies aber auch nicht mehr und nicht weniger als die zeitgenössische wissenschaftliche Invasion, die von Ärzten betrieben wird und dazu neigt, ästhetische Werte durch die reine Psychologie von Gefühlen und durch Geisteskrankheiten zu erklären. Man sucht nicht nach einem passenden Satz, sondern er fällt dem Dichter einfach ein. […] Was zeigt diese Erfahrung der Inspiration, wenn nicht die, dass Kunst eine kleine Form mystischer Befreiung ist, die nicht auf das Gute abzielt? Kunst befreit die Dinge von ihren Beziehungen zueinan­ der. Sie wird den Dingen in ihrer ständigen Individualität (universalia sunt nomina) gerecht, ganz egal, wie ähnlich sie auch zueinander sein mögen. Kunst akzeptiert die Dinge in ihrer absoluten und für die Vernunft undurchdringbaren Unversehrtheit (integridad). Denken heißt nämlich, sich auf Dinge zu beziehen und sie zu gebrauchen.

428 [Aus dem deutschen Originaltext zitiert: Arthur Schopenhauer (1986): Sämtliche Werke Bd. 1. Die Welt als Wille und Vorstellung I. Textkritisch bearbeitet und heraus­ gegeben von Wolfgang Frhr. von Löhneyesen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag, S. 265.].

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Text 15 Existenz als Ökonomie, Uninteressiertheit und Barmherzigkeit (1943)

Die Vernunft ist hingegen als Individualität und als Anschauung erkennbar. In der Anschauung ist das Subjekt das Objekt.429

Existenz als Barmherzigkeit […]

Goethe bekundet in einer seiner kurzen und tiefgehenden lyri­ schen Dichtungen, dass er bei der Betrachtung großer Kunstwerke stets die Leistung der Künstler erkenne. Bei der Betrachtung seiner eigenen künstlerischen Skizzen denkt er dagegen daran, was er selbst hätte vollbringen müssen. Diese Bescheidenheit des großen neuzeit­ lichen Dichters hat symbolischen Charakter. Das menschliche Werk ist häufig weniger perfekt als es hätte sein können. Alles in allem lässt sich sagen, dass die primäre Grundlage von Bildung folgende ist: Es geht darum, den Menschen dazu zu bewegen, Kräfte aufzubringen, die er in eine Tätigkeit bzw. in ein Werk investiert. Hierdurch braucht er seine Kräfte auf. Der Mensch wird auf diese Weise desto bescheidener, je größer er ist. Er wird nicht sterben, ohne sich voll und ganz veräußert zu haben. Er wird nicht mit einem untätigen und von Eitelkeit und Stolz aufgeblasenen Geist sterben. Genauso wie der Kampf ist auch die Barmherzigkeit eine Tatsa­ che des Lebens. Sie wird nicht vorgeführt, sondern wie das Leben praktiziert und ausgeübt. Es ist dies aber eine andere Art von Leben. Wenn Ihr nicht barmherzig seid, werdet Ihr niemals eine Anschauung von der Ordnung gewinnen, die sich dem biologischen Leben entge­ gengesetzt, und Ihr werdet auch die Existenz nicht in ihrem Reichtum verstehen, sondern sie vielmehr unweigerlich verstümmeln. Grund­ legende Anschauungen müssen gelebt werden. Wer sich nicht aufop­ fert, wird niemals die ganze Welt verstehen. Man wird sie ihm auch nicht erklären können, ähnlich, wie man einem Tauben nicht erklären kann, was ein Ton, und einem Blindgeborenen nicht erklären kann, was Licht ist. Es gibt weder eine Optik für Blinde noch eine Akustik für Taube noch eine Moral oder Religion für Egoisten. Wie Ihr seht, leugnen Egoisten Religion und Moral. Aber so wie der Taube nicht 429 [Siehe für das Kapitel »Kunst als Unineteressiertheit« auch die gesammelten Werke des Verfassers: Antonio Caso (1972a): Obras completas III- La existencia como economía, como desinterés y como caridad. Hg. von Rosa Krauze de Kolteniuk. Mit einem Vorwort von José Gaos. Mexiko: UNAM, S. 71–73.].

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Text 15 Existenz als Ökonomie, Uninteressiertheit und Barmherzigkeit (1943)

gegen die Musik und der Blinde nicht gegen die Malerei argumentiert, so argumentiert auch der Bösewicht nicht gegen die Barmherzigkeit, die ihrerseits ein unvergleichbares Kunstwerk ist. Man muss alle den Menschen konstituierenden Elemente beisammen haben und ein vollständiger Mensch sein. Man muss weder ein Engel noch ein Tier sein, um die Existenz als Ökonomie und als Barmherzigkeit, als Interesse und als Hingabe sein zu können. […] Alle wirklich neuen Tatsachen und Ordnungen sind für die reine Vernunft, die dazu neigt, alles auf ein Einziges, alle Erfahrungen auf nur eine einzige Erfahrung zu reduzieren, nicht fassbar. Wenn man Gutes tut, glaubt man an das Gute, so wie man an die Erfahrung glaubt, wenn man eine Erfahrung macht. Wer den Glauben der Barmherzigkeit vorzieht, der handelt wie jemand, der die Vernunft der Tat voranstellt. Die Vernunft kann sich täuschen, sie täuscht sich ständig. Das Leben und das Gute täuschen sich dagegen nie: Sie sind. Die Theologen, die den Glauben für absurd erklären, hätten besser ihre eigenen Methoden für absurd erklären sollen. Diese Methoden stellen nämlich den Glauben über die Barmherzigkeit. Sie machen aus der Vernunft klammheimlich ein Absolutes, das wiederum aus der Welt etwas Unerkennbares macht. Wie ihre Feinde, die Rationalisten, sind auch sie in Bezug auf den Rationalismus abergläubisch. Kant verabsolutiert die Vernunft, wodurch die Welt für ihn zu einem undurchdringbaren Ding an sich wurde. Die Theologen machen aus dem Glauben etwas, das vor aller Erfahrung liegt, etwas sich selbst Genügendes, ein Absolutes, während die Religion, mitsamt der übernatürlichen Ordnung, zusammenbricht. Wenn es keine guten Taten gibt, dann gibt es auch keinen Gott. Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott! aber seinen Bruder hasst, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht.430 Der ewige Ruhm Kants beruht darauf, dass er die Existenz Gottes und der freien menschlichen Seele durch die Existenz des Guten begründet hat. Das Gute ist jedoch kein Gebot und keine kategorische Vernunft, sondern Begeisterung. Die Moral ist die Verwirklichung des Guten und nicht die Unter­ werfung unter ein Gesetz oder die Befolgung eines Gebotes. Wenn das Gute nicht inspirieren und begeistern würde, dann wäre auch derje­ 430

[1 Joh. 4, 20].

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Text 15 Existenz als Ökonomie, Uninteressiertheit und Barmherzigkeit (1943)

nige, der Gutes tut, nicht gut, sondern Sklave und Untertan des Guten. Und auch die Sklaven, Unterworfenen und Fremdbestimmten wären eher schwach, klein, anonym und schlecht. Gut ist nur derjenige, der Gutes tut. Und frei ist nur derjenige, der die ununterdrückbare Persön­ lichkeit des Gebens erreicht hat. Man gibt, weil man stark ist – über all die negativen Ursachen, Gesetze und Bedingungen des eigenen Handelns hinweg. Das Leben sagt: Gib das Deinige nicht weg. Die Vernunft sagt: Das Deinige zu geben ist schwachsinnig. Das Gute sagt: Gib das, was dein Egoismus von dir verlangt, denn deine Vernunft wird dein wirkliches Wesen bzw. deine wirklich unabhängige und vom biologischen Leben emanzipierte Persönlichkeit nicht enthüllen können. Wenn du dein äußerliches Ich verneinst, findest du dein tran­ szendentales Ich. Opfere dich, um dich ewig zu bewahren. Denn nur dann wird es nichts geben, das über dir steht. Dein Egoismus ist wie eine schwere Last. Wenn du alles gibst, wirst du auch alles haben. Und wenn du etwas behältst, dann wirst du zum Sklaven eines anderen Gesetzes. Nur derjenige, der keinerlei Eigentum hat, ist Herr seiner selbst. Existenz als Barmherzigkeit bedeutet die Fülle der Existenz. Kein Gesetz regelt die Selbstaufopferung. In der Aufopferung liegt ein Triumph. Denn die Krönung der Tugend ist die Hoffnung – es ist die sagesse des Christen. Sie ist noch größer als die sokratische Weisheit. Sie ist die philosophischste und die liebenswerteste aller Tugenden. Der Astronom glaubt aus einem einzigen Grund an die Rückkehr der Sterne: weil sie auch gestern zurückgekehrt sind. Er erwartet, dass sie daher ständig zurückkehren werden. Der Gläubige glaubt an die Ewigkeit des Guten, weil auch zuvor, heute, morgen und stets gute Taten begangen wurden und werden. Es gibt keine Unordnung, es herrschen lediglich verschiedene Ordnungen in der Welt, wie Bergson sagen würde. Folglich wäre die Aufopferung eine Unordnung des Lebens als reine Ökonomie. Das Leben wäre eine Unordnung der Barmherzigkeit. Tatsache ist jedoch, dass dem Postulat der Einheit­ lichkeit der Natur das Postulat der Einheitlichkeit der Barmherzigkeit hinzugefügt werden muss. Und die Hoffnung ist eine Induktion, wie es sie auch in den Wissenschaften gibt. Auf der einen Seite stehen die Welt und ihre Gesetze, auf der anderen die göttliche Vorsehung und ihre Tat. […] Das einzigartige Gesetz der moralischen Welt ist also die Liebe. Dabei handelt es sich keineswegs um die biologische und zutiefst

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Text 15 Existenz als Ökonomie, Uninteressiertheit und Barmherzigkeit (1943)

eigennützige Liebe, die, kurz gesagt, Hunger und nicht ein Leben als Ökonomie der allgemeinen Menschengattung, sondern vielmehr ein Leben als Ökonomie des Individuums ist. Hierbei geht es nicht um die Liebe zum räumlich Nächsten, sondern um die Nächstenliebe, die Liebe zum Fernen, wie Nietzsche sagen würde. […] Jesus wurde ein Zeichen des Widerspruchs genannt – kein Gedanke könnte wahrhaftiger sein. Jesus ist der Widerspruch des animalischen Lebens und die Bestätigung eines anderen, uninteres­ sierten und barmherzigen Lebens. Deshalb stößt auch der Christ in seinem Handeln auf Widerstände. Er wird vom élan vital bekämpft. Aber so, wie das animalische Leben ein gewaltsamer Sieg über die Welt ist, ist die Barmherzigkeit ein Sieg über das Leben – ein mysti­ scher Sieg, der triumphiert, indem er lindert und Frieden statt Krieg, Liebe statt Kriegsbeute und Glückseligkeit statt Sattheit schenkt. […] Lieber Leser: Was hier gesagt wurde, ist nur Philosophie, und Philosophie lässt sich als Erkenntnisinteresse definieren. Barmher­ zigkeit ist Handeln. Geh und begehe Akte der Barmherzigkeit! Denn dann wirst du nicht nur weise, sondern auch heilig sein. Philosophie ist ohne Barmherzigkeit nicht möglich, während Barmherzigkeit ohne Philosophie einwandfrei möglich ist. Denn die erstere ist ein Gedanke und die letztere eine Erfahrung, eine Handlung. Dein Jahrhundert ist egoistisch und gottlos. Liebe dennoch die Menschen deines Jahrhun­ derts. Es scheint, als ob sie nicht mehr zu lieben wissen und nur aus Hunger und Gier handeln. Wer nicht zu lieben weiß, wird es niemals wissen. Denn alle Philosophien der Wissenschaftler sind absolut wertlos gegenüber dem uninteressierten Handeln eines guten Men­ schen.431

[Siehe für das Kapitel »Existenz als Barmherzigkeit« auch die gesammelten Werke des Verfassers: Antonio Caso (1972a): Obras completas III – La existencia como eco­ nomía, como desinterés y como caridad. Hg. von Rosa Krauze de Kolteniuk. Mit einem Vorwort von José Gaos. Mexiko: UNAM, S. 99–106.].

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Joaquín Xirau (1895–1946): Text 16 Der Höhepunkt einer Krise (1945)

(Übersetzt von Niklas Schmich) Die soziale und politische Krise, welche die zeitgenössische Welt durchmacht, hat einen metaphysischen Hintergrund, der von der gro­ ßen Mehrheit der Menschen kaum bemerkt oder komplett ignoriert wird. Dies ist die Atmosphäre, die die Menschen einatmen; und jede Atmosphäre ist unsichtbar, solange man nicht aus ihr herauskommt oder die notwendige Distanz zu ihr aufbaut, um einen Überblick über sie zu gewinnen. Daher rührt auch die Überraschung gegenüber den scheinbar noch nie dagewesenen Ereignissen, die eigentlich vorher­ sehbar und vollkommen natürlich sind. An der Spitze bildet sich der Blitz – und in der Tiefe arbeitet der Vulkan. Beide bilden sich in unsichtbaren Regionen – daher ihre scheinbare Unvorhersehbarkeit. Lange Zeit lebten die Menschen achtlos dahin, ohne auf die Hekatom­ ben, welche in ihrer Atmosphäre geschmiedet wurden, aufmerksam zu werden. Sie machten einfach damit weiter, von Fortschritt, Freiheit und Zivilisation zu sprechen, ohne zu bemerken, dass das Metall der Stimme allmählich jede Fähigkeit zur Resonanz verlor. Alle alarmierenden Symptome wurden durch die feierliche Erklärung, dass bestimmte Dinge »in diesen Zeiten« nicht mehr möglich seien, leichtfertig kleingeredet. Daher die Verwirrung und der Schrecken darüber, dass »in diesen Zeiten« Dinge eben doch möglich sind, wie sie wahrscheinlich kein Jahrhundert jemals zuvor gesehen oder vermutet hat. Prophetische Stimmen – wie zum Beispiel Kierkegaard, Nietz­ sche, Unamuno und [Georges] Sorel – haben frühzeitig vor dem Aus­ maß des Abgrundes gewarnt. Gelassenere Gemüter waren bemüht, die Risse ausfindig zu machen, die sich in den Fundamenten des säkularen Gebäudes unserer Kultur auftaten, und entschieden, sie zu flicken und, falls es keine Abhilfe mehr gab, die Geschehnisse immerhin zu rekonstruieren. Wir haben zwei von ihnen ausgewählt: Bergson und Husserl. Sie sind beileibe nicht die Einzigen und man

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Joaquín Xirau (1895–1946): Text 16 Der Höhepunkt einer Krise (1945)

könnte neben ihnen auch noch die Stellvertreter des sogenannten angelsächsischen Neurealismus (vor allem Whitehead) nennen. Wir haben uns in erster Linie auf diese beiden Philosophen festgelegt, weil ihre einzigartige Erhabenheit symbolischen Charakter hat. Obwohl die Wege, die sie einschlagen, verschiedenartig und auf unterschied­ liche Art und Weise gegensätzlich sind, bieten sie auch beachtliche und signifikante Übereinstimmungen. Zudem ist bei beiden der strikt wissenschaftliche und theoretische Charakter ihrer Forschungen die gelassene Manifestation einer tiefen Sorge um das zeitliche und ewige Schicksal des Menschen. […] Dem modernen Leben mangelt es an Welt. Und einem Leben ohne Welt mangelt an einem Zentrum, einem Sinn und einem Zweck. Die antike Welt war ein Organismus. Wie in jedem Organismus standen die Teile im Dienste des Ganzen und das Ganze im Dienste der Teile. Zwischen dem Materiellen, das seine tellurische Wurzel bildete, und der leuchtenden Krone des Ideellen, stand in der Mitte das Leben. Der lebende Körper der Realität hatte sein Fundament im Behältnis der Materie und seinen Höhepunkt im Glanz des Geistes. Beide waren eine Funktion des Hauptorganismus, der ihnen Sinn und Form verlieh. Descartes operiert dann aus der Welt das lebende Fleisch heraus. Der Organismus zerfällt somit und verschwindet. Uns bleiben nur noch die Basis und der Gipfel, die Materie und der Geist, das Reale und das Ideale. Die Fülle und Pracht der Welt beschränkt sich damit auf das eine oder auf das andere. Die Welt verwandelt sich in eine Filigranarbeit der Gedanken oder in einen Abgrund von Ursachen und Wirkungen – sie reduziert und entkleidet sich. Und durch den Idealismus oder den Materialismus, die jeweils ein bloß mathematisches Rechnen oder eine atomare Bewegung sind, neigen sie gar dazu, sich im Nichts aufzulösen. Bergson und Husserl ziehen gegen diese radikale Auflösung an einem Strang. Ihre Reaktionen sind jeweils nicht der Versuch, zurückzutreten oder die Ansprüche des modernen Rationalismus zu mäßigen. Im Gegenteil, sie möchten noch einen Schritt weiter gehen, indem sie die Skepsis, die den Rationalismus in die Krise gebracht hat, so zu ihren letzten Konsequenzen führen, dass sich ihre Erschöpfung in eine Aufhebung verwandelt. Damit stehen sie der großen Tradition der abendländischen Philosophie nahe. Keiner der großen Erbauer des Denkens hat jemals auch nur im Geringsten versucht, den Wert des Skeptizismus, der eine Initialzündung des Denkens darstellt, zu

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Joaquín Xirau (1895–1946): Text 16 Der Höhepunkt einer Krise (1945)

schmälern. Jedweder Eklektizismus ist eine unfruchtbare Banalität. Es ist stets nötig, die Dinge so zu ihren letzten Konsequenzen zu führen, dass eine Überwindung aus der ihnen innewohnenden Dialektik resultiert. So stellt Sokrates dem Skeptizismus der Sophisten kein Wissen entgegen, das in den Überresten antiker Traditionen erhalten ist, sondern er vollzieht ganz im Gegenteil einen noch tiefsinnigeren Skeptizismus. Er setzt seinem Wissen ein Nicht-Wissen entgegen – bzw. das Wissen vom Nicht-Wissen –, was seine sogenannte Wissenschaft durcheinanderbringt und sie auf ein Nichts reduziert. Genauso wenig mäßigt, beschränkt und beschneidet Descartes den Skeptizismus eines [Michel de] Montaignes oder eines [Pierre] Char­ rons. Ganz im Gegenteil führt er sie zu ihrer letzten Konsequenz. Mittels eines hyperbolischen und radikalen Skeptizismus, in der festen Überzeugung, nicht nur an dem zu zweifeln, an dem diese beiden zweifeln, sondern vielmehr an allem zu zweifeln, über das man sich auch nur den geringsten Schatten einer möglichen Unsicherheit vorstellen kann, und trotz alledem zu etwas zu gelangen, an dem man nicht zweifeln kann, wird sich sein Gebäude auf einem Felsen und nicht auf Sand errichten. Dasselbe gilt für Kant. Er weist [David] Humes Kritik nicht zurück, sondern nimmt sie auf und integriert sie in seine Philosophie. In diesem Punkt stimmen Husserl und Bergson überein. Weder der eine noch der andere widersetzt sich einfach dem vorherrschenden Positivismus. Sie stellen vielmehr dem partiellen einen absoluten Positivismus, nämlich die entschlossene Entscheidung, sich an das Gegebene und allein an dieses zu halten, entgegen. Der Fehler des Positivismus entsteht nicht aus dem Exzess, sondern aus einem Mangel. Der Positivismus gibt seinen gerade erst formulierten Impe­ rativ auf. Er nimmt das allein Gegebene nicht an, sondern verkürzt, verzerrt und unterdrückt es letztendlich sogar und lässt uns mit einem Konglomerat an Empfindungen, einem Realitätsstaub, zurück. Gegenüber einer solchen Deformierung ist es nötig, zu dem Gege­ benen bzw. zu den unmittelbaren Gegebenheiten des Bewusstseins zurückzukehren und auf dieses in seiner reinen Präsenz zu achten. Das Gegebene bietet sich dem voraussetzungslosen Blick dar. Man kann es nur sehen und anschauen. Das Sehen, d. h. die Anschauung, ist das einzige Instrument, um das Gegebene zu erfassen. Wir müssen uns einfach dessen bewusst werden, was wir vor uns haben und der ungerechtfertigten Abstraktion eine lebendige und unmittelbare Anschauung entgegensetzen. In diesem Punkt stimmen Husserl und

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Joaquín Xirau (1895–1946): Text 16 Der Höhepunkt einer Krise (1945)

Bergson überein. Genauso stimmen sie in ihrem Einspruch gegen einen geschlossenen Begriff des Bewusstseins überein und reichen, wie Bergson sagt, der geschlossenen Faust die Hand. Das Bewusstsein ist kein Kontinent, auf dem sich die wirklichen Dinge der Welt einfach wie Inhalte zu erkennen geben. Bewusstsein ist Transzendenz, Transzendenz in der Immanenz. Das Wesentliche beim Leben und Bewusstsein ist, dass beide aus sich selbst hervorkommen und in der objektivierenden Intentionalität oder der schöpferischen Freiheit über sich selbst hinausgehen. Für beide, Bergson und Husserl, erreicht das Wissen – anders als im Relativismus – das Absolute. Und die Philosophie ist für sie kein geschlossenes System, sondern eine offene Konzeption, in welcher, ähnlich wie in der Wissenschaft, verschiedene Menschen und Generationen zusammenarbeiten können und sollen. […] Aus verschiedenen Perspektiven und auch in anfänglich durchaus widersprüchlicher Ausrichtung nimmt Husserl in Deutschland eine energische Wiederaufbauarbeit in Angriff. In der Strenge und Genau­ igkeit der mathematischen Wissenschaften ausgebildet, stieß er in der Struktur dieser Wissenschaften auf einen unüberwindbaren Wider­ stand, als er eine psychologische Erklärung für sie zu finden versuchte – ganz wie es in seinem geistigen Umfeld damals üblich war. Daher auch seine anfänglichen Vorbehalte gegenüber einer Philosophie, die mit kritischem und positivem Anspruch die Struktur der Wissenschaft deformiert und jede Möglichkeit ihrer Begründung unterdrückt. Und vor diesem Hintergrund ist auch seine Entscheidung zu verstehen, gegenüber einem partiellen Positivismus, der die Wirklichkeit unter­ drückt und verformt, einen ganzheitlichen Positivismus zu betreiben, der die Welt in der Fülle ihrer Präsenz anerkennt. Man muss sich an das Gegebene halten, an alles Gegebene und ausschließlich an dieses. Die Wirklichkeit auf Empfindungen zu reduzieren, ist nicht lediglich eine Feststellung, sondern eine hypothetische Interpreta­ tion. Die Realität – d. h. das Offensichtliche, das Erscheinende, das Phänomen –, bietet sich niemals als Sinneskomplex dar, sondern als eine Perspektive über Realitäten mit Beständigkeit und Sinn. Bei einer naiven, vorurteils- und voraussetzungslosen Untersuchung stellen wir sehr leicht fest, dass sich das unmittelbar Gegebene gegenüber der Flüchtigkeit der Empfindungen in seinem innersten Kern auf eine arti­ kulierte Verflechtung unveränderlicher und identischer Wesenheiten reduziert. Jedes Ding, jede Präsenz und jedes Phänomen ist das, was es ist, und es ist möglich, sein Wesen zu umgrenzen, wenn wir uns ent­

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Joaquín Xirau (1895–1946): Text 16 Der Höhepunkt einer Krise (1945)

schlossen darauf vorbereiten. Diese Möglichkeit gilt für alles Seiende, sogar für das am stärksten umgrenzte und individualisierte Seiende, denn auch das Individuelle hat sein Wesen. Auch das Individuum ist und hebt sich durch seine unverwechselbare Realität von allem anderen Seienden ab. Daher die vollständige Rationalität der Welt. Alles hat seinen eigenen, einzigartigen Sinn und »ist, was es ist«. Und zwar nicht in der Art und Weise, wie sich das Eindeutige dem Analogen entgegensetzt. Jede Realität hat und bringt ihren eigenen, einzigartigen und eigentümlichen Sinn mit. Und in diesem Sinne der Einzigartigkeit liegt die Rationalität. Es geht dabei natürlich weder um einen deduktiven Sensualismus noch um einen dialektischen Ontologismus, sondern um die Identifikation des Rationalen mit dem Anwesenden in seiner stummen und unverwechselbaren Wesenheit. Daher auch die Theorie der materiellen und der formalen Wesen und die Möglichkeit einer formalen Ontologie sowie einer Reihe von regionalen Ontologien. Es gibt in der Wirklichkeit wesentliche universelle Beziehungen, die alle wirklichen Dinge, sofern sie sind, teilen. Diese Wesensverflechtungen bauen sich jedoch zwischen ver­ schiedenartigen Dingen auf. Je nach der Definition des Unterschieds, der alle Dinge und jedes Einzelne von ihnen in seiner partikularen Physionomie verortet, befinden wir uns vor verschiedenen wesentli­ chen Seinsregionen und dadurch vor einer Welt, die perfekt zusam­ menhängend ist. Mittels einer Ontologie der reinen Objektivität können wir also die Welt in ihrer wesentlichen, kristallinen Struktur wieder aufbauen. Die Wahrheit ist, dass eine solche objektive Realität weder als transzendent erwiesen wird noch als transzendent erwiesen werden kann. Es geht hier vielmehr um eine transzendentale Realität. Die Realität gibt sich mir. Ich kann sie in ihrer unbeschadeten und sicheren Präsenz konstatieren. Das genaue Profil ihrer Erscheinung und ihr offen angelegter phänomenaler Widerschein sind genau das, was sie ist: das Wesen. Das Phänomen, die reine Objektivität und die wesentliche Textur lassen sich auf ein und dasselbe reduzieren und gehen in ihrer idealen Präsenz ineinander über. Wir haben eine Welt von reinen Objektivitäten. Die Wesenhei­ ten, aus denen sie sich zusammensetzt, ermangeln der Transzendenz. Um dem Relativismus zu entkommen, ist jedoch ein absolutes Fun­ dament notwendig und dieses Fundament kann, gemäß den Anfor­ derungen des von Descartes formulieren Cogito, nur im inneren Zen­ trum des Ich aufgespürt werden. Jedwede Wesenheit wurzelt durch

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Joaquín Xirau (1895–1946): Text 16 Der Höhepunkt einer Krise (1945)

den Strahl einer geistigen Intention in diesem Zentrum. Es ist nötig, von der objektiven Wesenheit anschaulich zum subjektiven Zentrum, in dem diese wurzelt, zurückzukehren und in ihrer feinen Struktur die Intentionalität zu analysieren, in der diese objektive Wesenheit konstituiert wird und auf die sie sich stützt. In der phänomenologi­ schen Reflexion scheint jede Intentionalität zugleich eine wesentliche Struktur zu sein. In und vor mir ist die gänzlich logische Realität, die in ihrem objektiven Inhalt und auch hinsichtlich der Struktur der intentionalen Akte, die diese Realität konstituiert, logisch ist. Die Aufgabe der Wissenschaft ist unendlich, weil die Wesensstruktur der Realität die unfehlbare Wirksamkeit dieser Methode ein für alle Mal gewährleistet. Allerdings lauert hier eine Gefahr. Es ist durchaus möglich, das Wesen der Dinge durch eine streng deskriptive Analyse zu bestim­ men. Das Ich ist der lichtspendende Leuchtturm, vor dem sich die Realität entfaltet. Im Ich passiert dasselbe wie in der Realität, die sich vor mir konstituiert: Alles hat einen eindeutigen und folglich rationalen Sinn. Die objektive Welt und ihre Verflechtungsmöglich­ keiten setzen das Ich voraus. Ohne ein Subjekt gibt es kein Objekt. In dem Subjekt liegt das Absolute. Die Welt ist zwar objektiv, aber trotz ihrer Objektivität hört sie nicht auf, abhängig von mir zu sein. Die Welt gehört mir. Sie ist zwar wesenhaft und objektiv, aber dennoch meine Welt. Wir befinden uns mitten in einem Solipsismus, und im vollen Bewusstsein dieser Gefahr versucht Husserl, sich mit der Theorie der monadologischen Intersubjektivität aus der Affäre zu ziehen. Jede Monade ist dazu in der Lage, in das persönliche Zentrum der anderen Monaden einzudringen und dadurch für das Verständnis der Wesenheiten, d. h. der unzweideutigen Bedeutung der Worte, in denen der Sinn des universellen Logos widerhallt, nützlich zu sein oder zu überzeugen. Das Wort bzw. der Logos und meine Welt verwandeln sich in die Welt aller. Die Realität wird auf die Gemeinschaft der Geister in der Universalität des Logos beschränkt. In einem Kapitel der Ideen und in den Cartesianischen Medi­ tationen und vor allem in den Vorlesungen zum Zeitbewusstsein, die von seinem Schüler Heidegger publiziert wurden,432 erfährt das stabile Gebäude, welches von Husserl geduldig konstruiert wurde, 432 [Xirau bezieht sich hier auf die Erstveröffentlichung dieser Vorlesungen: Edmund Husserl (1928): Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins, in: Jahr­ buch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. IX. Siehe auch Edmund Husserl (1966): Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins (1893–1917). Hus­

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Joaquín Xirau (1895–1946): Text 16 Der Höhepunkt einer Krise (1945)

allmählich das Schwanken seines Stützpfeilers. Alles ruht in der Mitte des Ich. Aber dieses persönliche und biographische Zentrum ist keine unbewegliche Achse. Es entwickelt sich in der Zeit. Die ideale und objektive Präsenz des Kosmos gleitet über einen fließenden Himmel. Die Ewigkeit ruht in der Zeitlichkeit. In der Tat ist das Ich Übergang, Streben und Projektion. Husserl versucht diese Schwierigkeit durch die Theorie der Zeit­ intentionalität zu überwinden. Auch die Zeitfolge besitzt eine inten­ tionale Struktur und es ist möglich, diese in die Wesensanschauung zu übersetzen. Es handelt sich dabei um keine bloße Vergänglichkeit, sondern um eine Zeitachse. Ohne die Metapher allzu sehr zu forcie­ ren, könnten wir vielleicht sagen, dass sich die Intentionalität in zwei Richtungen orientiert: eine zum Ich senkrechte Richtung, die mir wie eine glänzende Glühbirne vorauseilt; und eine horizontale und darun­ terliegende Richtung, aus der das Ich und der in ihm konvergierende Lichtstrahl gleiten und durch die sich die Welt konstituiert. Die böse Saat liegt jedoch in der Furche und ihre Auflösungskraft braucht nicht lange, um zu wuchern. Das Merkwürdige daran ist, dass ihr zerstörerischer Atem gerade aus der radikalen Anwendung der Bergson’schen Analyse der Zeitlichkeit auf die gesamte Wurzel des von Husserl errichteten Gebäudes hervorgeht. Der Höhepunkt der Krise resultiert somit aus dem Aufeinandertreffen der energischsten Anstrengungen, sie zu überwinden. Dabei ist es lediglich nötig, auf dem rettenden Pfad beider Systeme einen kleinen Schlenker zu machen. Die Bergson’sche Dauer ist eine schöpferische Kraft; sie hat sich Bergson dank der Kritik an der Idee des Nichts, die seinem Gesamtwerk zugrunde liegt, eröffnet und stellt in ihrer offenkundigen Form eines der Meisterstücke des Systems dar. Das Nichts ist ein widersprüchlicher Begriff. Ohne Intuition ist es nicht möglich, das Nichts zu denken, denn sobald wir versuchen, das Nichts zu denken, müssen wir gezwungenermaßen auch an etwas denken. Auch wenn wir an eine Intuition des Nichts denken, denken wir an etwas; ansonsten denken wir nicht. Die Idee des Nichts ist ein negativer Begriff, der ein Ergebnis unserer wesentli­ chen Einschränkung ist. Wir sagen, wir hätten nichts gefunden, wenn wir hofften, etwas zu finden und statt dessen etwas anderes gefunden haben. Ein leeres Zimmer, ein verlassener Bürgersteig: Weder hier serliana Bd. X. Hg. von Rudolf Boehm. Martinus Nijhoff: Den Haag und Edmund Husserl (1963) (Hua I).].

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noch dort haben wir etwas gefunden. Anstelle von Möbeln oder Personen gibt es in dem einen oder anderen Raum etwas (anderes) – altes Gerümpel, Müll, Luft, irgendetwas … Es ist also nicht möglich, die vollständige Leere zu konzipieren oder wahrzunehmen. Auf diesen nachahmenden Begriff des Nichts stößt man in der einen oder anderen Form in der vornehmsten philosophischen Tradition. Husserl nimmt hier einen herausragenden Platz ein. Dank der Einschränkung des Seins durch das Nicht-Sein entsteht die kon­ krete Wirklichkeit. Das Nicht-Sein ist eine bloße Einschränkung und keine positive Präsenz. Bergson will der »Dauer« durch eine Präzisierung und Einschätzung des Nicht-Seins einen konstruktiven und schöpferischen Charakter verleihen. Im Nichts gibt es nicht nur kein Bewusstsein vom Sein, sondern aus der Präsenz des Nichts entsteht gerade die größte Seinsfülle. Denn es birgt zugleich das Posi­ tive und das Negative, die Wirklichkeit und die Möglichkeit in sich. Nur seinetwegen lässt es sich begreifen, dass aus dem Kleinsten das Größte hervorgeht, und genau das ist es, was Schöpfung buchstäblich bedeutet. Die Bergson‘sche Dauer wird also in der schöpferischen Entwicklung und in ihrer ganzen Philosophie in eine Philosophie der Erleuchtung umgewandelt. Heidegger findet jedoch einen Weg, das Nichts als positive und aktive Anwesenheit einzuführen. Dies war weder in einer Philosophie der Vernunft wie der von Husserl noch in einer Theorie der erleuch­ tenden Intuition wie der von Bergson möglich. Dem Bewusstsein ist ein Denken, eine Vorstellung oder eine Anschauung des Nichts nicht möglich. Die Zeitlichkeit bewegt sich bei Husserl und Bergson in den klaren Dimensionen der Existenz, in dem im Bewusstsein unmittelbar Gegebenen und im Bereich der Phänomene. Das Nichts kann sich dem Licht nicht widersetzen. Um in seiner unmittelbaren Anwesenheit zu sein, ist es nötig, in den Keller, in die tiefen Schichten des Vorbewussten und Irrationalen einzudringen und jedweder Form der Vernunft ein für alle Mal »Lebewohl!« zu sagen. Heidegger nennt dies Existenz, andere nennen es Vitalität. Die radikale Existenz ist mehr als ein klarer Gedanke; sie ist eine erleuchtende Anschauung bzw. eine vorbewusste Erfahrung der reinen Zeitlichkeit, die aus dem Abgrund auftaucht und in diesen auch wieder zurückkehrt. Der Mensch ist ein Sein in der Zeit, ein kurzes Aufleuchten in einer vergänglichen und abgrundtiefen Uner­ messlichkeit. Genauer gesagt ist der Mensch kein Sein. Um sagen zu können, dass der Menschen ein Sein sei, muss man in klaren und

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deutlichen Begriffen reden. Der Mensch ist nicht. Er hat kein Wesen. Er macht sein Dasein. Der Mensch ist Existenz und deshalb können wir bezüglich der biographischen oder historischen Existenz gar nicht sagen, dass der Mensch sei. Es handelt sich bei dem Menschen um ein ständiges Streben und einen unerfüllten Wunsch. Bei seiner Geburt ist der Mensch bereits viel zu alt, um zu sterben. Wir können nicht sagen, dass er dieses, jenes oder überhaupt etwas sei. Seine gesamte Wirklichkeit beschränkt sich auf eine Tätigkeit, und im Wesentlichen Tätigkeit zu sein bedeutet, sich selbst in einer hoffnungslosen Projek­ tion zu verwirklichen. Seine gesamte Wirklichkeit ist Übergang, Pro­ jektion und soziale Transzendenz in der Immanenz. Hierin bestehen seine radikale Historizität und seine unhintergehbare Vergänglich­ keit. Diese Erfahrung einer Wirklichkeit, die aus der Vergangenheit auftaucht und in die Zukunft projiziert wird, ist im Wesentlichen durch die zeitliche Immanenz begrenzt, die im Tod endet. Die Anwesenheit dieser Wirklichkeit zeigt sich nur in zwei Formen vor-rationaler Anschauung: In dem oberflächlichen Bereich des alltäglichen Lebens ist es die Besorgnis oder Sorge, zu welcher die Unsicherheit einer Zukunft ohne Licht veranlasst; und in dem tieferen Bereich der reflexiven Erfahrung ist es die Angst vor dem Abgrund des Nichts. In der verantwortungsvollen Akzeptanz dieser unvermeidbaren und toxischen Situation liegt die Freiheit bzw. die Perfektion. Damit ist keine Perfektion im Sinne einer Fülle oder gänzlichen Realisierung gemeint. Es geht hier vielmehr um etwas, das zu Ende geht und gerade in das Staunen und die Transzendenz münden wird. Die Wirklichkeit ist Schicksal. Aber dieses Schicksal erfüllt sich nicht. Es ist eine Transzendenz, die sich nicht transzendiert. Zum Tode hin zu leben und dieses Schicksal zu akzeptieren, ist die größte aller menschlichen Tugenden. In ihr vermischen sich das Nichts und seine Anwesenheit mit der Erfahrung, in der sie gegeben sind: der Sorge, der Besorgnis und der Angst. In dieser ursprünglichen Erfahrung liegt der Grund für alles. Es ist das Sein, das dem Sein Sein verleiht – dies ist die Grunderfahrung und der ontologische Grund der gesamten Wirklichkeit. Auf diesem dunklen und rauen Abgrund errichten sich alle Wirk­ lichkeiten der Welt, alle Werte der Kultur und alle Ideale des Lebens. Die Ewigkeit seiner Wesensstruktur – das »Wesen« Husserls – ist als Wirklichkeitserscheinung nur ein Lichtstrahl, der auf den Bildschirm der Leere, d. h. auf einen Bildschirm ohne Hintergrund, Spektrum und Halluzination projiziert wird. An ihr hält sich das menschliche Leben

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Joaquín Xirau (1895–1946): Text 16 Der Höhepunkt einer Krise (1945)

fest, welches den Untergang, der es bedroht, überlebt. Sie hat eine lebensrettende Funktion. Der Rettungsring hält der Dichte des Meeres jedoch nicht stand. Denn er ist selbst eine Projektion des Abgrundes, der den Rettungsring fordert. Niemand wird es versäumt haben, in dieser Dialektik einer rei­ nen Askese die Wiederbelebung einer säkularen Tradition zu bemer­ ken. Sie ist der Ausgangspunkt für die Mystik aller Zeiten. Ein Leitbild hierfür ist Johannes vom Kreuz, aber wir finden es auch bei Pascal und selbstverständlich bei Kierkegaard. Bei ihnen ist die Dunkelheit der Weg zum Licht. Die Aufhebung der Welt ist die wirksamste Weise, sich selbst in die Anwesenheit Gottes zu versetzen. Es ist die dunkle Nacht der Seele. Durch sie und in ihr wird die indirekte Manifestation Gottes in der Welt durch seine totale Anwesenheit ersetzt. Im heutigen Existenzialismus verschwindet jede Idee bzw. jede Transzendenz. Da kein Licht über uns hinaus projiziert wird, befinden wir uns in einer immerwährenden und beängstigenden Nacht, die nur durch vorübergehende Lichtblitze unterbrochen wird. Dies ist der Höhepunkt einer Krise und die konsequente Voll­ endung eines langanhaltenden Prozesses. Es ist die Tragödie des Humanismus. Es ist mir hier weder möglich, die Beziehung zwischen dieser Metaphysik des Abgrundes und dem historischen Moment seiner Rahmenbedingungen zu analysieren noch, zu bestimmen, inwieweit diese Metaphysik diese Rahmenbedingungen hervorruft oder umgekehrt von ihnen hervorgerufen wird. Es ist selbstverständ­ lich, dass es, wenn im Schatten des Geistes solche Überzeugungen vorherrschen, nicht ratsam ist, sich auf die »Zeiten« zu verkrampfen, die diese herbeigeführt haben. Noch weniger ratsam ist es, diese Überzeugungen mit der einfachen Behauptung abzutun, es würde sich lediglich um pathologische Abweichungen handeln, und ihnen Ver­ achtung entgegenzubringen. Selbst wenn man sie für Erkrankungen hält, so ist doch die geistige Pathologie etwas sehr Ernstes. Und nur, wenn man sich ganz in das Innere dieser Pathologie hineinbegibt, lässt sie sich wenden, erhellen und beherrschen.

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Juan David García Bacca (1901–1992): Text 17 Der phänomenologische Sinn der neuzeitlichen Philosophie (1964)

(Übersetzt von Niklas Schmich) […] Durch die phänomenologische Enthaltung und Reduktion sowie durch die Ausschaltung (sobreseimiento) der Anforderung der Dinge nach Existenz verlagert sich auch die Schwere unseres Wesens. Wir gravitieren nicht mehr auf der Welt, sondern steigen und sinken beliebig durch die Dinge hindurch, graziler noch als der grazilste Vogel. Damit entdecken wir so etwas wie eine zweite Welt, die fiktiv zu sein scheint. Diese Welt hat weder Eigengewicht noch ist sie das Schwerefeld für unser Wesen oder ein Gefängnis des realen Seins mitsamt seinen Anforderungen. Hiermit verfügen wir bereits über zwei verschiedene Welten: erstens die natürliche, alltägliche und übliche Welt. Die Dinge scheinen dort auf uns zu wirken, eine eigene Konsistenz zu haben. Und wir, die wir eines von so vielen Dingen sind, stützen uns anscheinend auf die Dinge. Wir bestätigen uns und die Dinge durch die Dinge selbst und betteln darum, durch deren Festigkeit selbst Konsistenz zu erlangen. Und es gibt eine andere, phä­ nomenologisch reduzierte Welt, in der dieselben Dinge erscheinen, die nur mit einem anderen Erscheinungsbild, schwerelos und neutral hinsichtlich ihrer Konsistenz oder auch Inkonsistenz sind. In dieser Welt leben wir, also das transzendentale Ich, erscheinungsmäßig, in einer auf sich selbst zentrierten Lebensweise, ohne reale Eingliederung in die reale Welt. Die Akte eines solchen Lebens, seine Erlebnisse, sind also irreal. Deswegen sagt Husserl, dass die phänomenologische Enthaltung eine neuartige unendliche Seinssphäre freilegt als Sphäre einer neuartigen, der transzendentalen Erfahrung. Berücksichtigen wir, daß zu jeder Art wirklicher Erfahrung und ihren allgemeinen Abwandlungsmodis: Wahrnehmung, Retention, Wiedererinnerung usw. auch eine entsprechende reine Phantasie, eine Erfahrung als

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Text 17 Der phänomenologische Sinn der neuzeitlichen Philosophie (1964)

ob mit parallelen Modis (Wahrnehmung als ob, Retention als ob, Wiedererinnerung als ob usw.) gehört […].433 Das heißt, dass wir durch die phänomenologische Enthaltung eine neue Welt erhalten, eine unendliche Sphäre, in der wir die Dinge auf eine neue und ursprüngliche Weise erfahren. Damit gebührt jeder realen Erfahrung (d. h. jeder Wahrnehmung, Retention und Wiedererinnerung), die an (wahrgenommene, wiedererinnerte usw.) Dinge gebunden ist bzw. sich auf diese Dinge stützt und sie als kon­ sistent erfasst, eine andere und nicht weniger gehaltvolle Erfahrung. Diese Erfahrung gleicht bezüglich der Anzahl der Gegenstände eher der realen Erfahrung. Wir fassen sie nun aber als ein uns gegenüber neutrales Universum auf, in das wir nichts von unserer wahrhaften Wirklichkeit einbeziehen. Es handelt sich dabei um ein fingiertes Universum, d. h. um ein Universum, das durch eine fast poetische Handlung hervorgebracht wurde – eine Handlung, die uns in Bezug auf das Reale außer Kraft setzt und das Reale in Bezug auf unsere Akte bzw. unsere praktischen und alltäglichen Interpretationen außer Kraft setzt. Das transzendentale Ich verlangt nicht, dass ihm die Dinge in ihrer angeblich wahrhaften Realität gezeigt werden. Eine solche Realität der Dinge ergibt für das transzendentale Ich nämlich keinen Sinn, genauso wie es keinen Sinn machen würde, über die Härte eines Diamanten zu sprechen, ohne ihn mit der Härte anderer Gegen­ stände zu vergleichen. Die Dinge müssen dem transzendentalen Ich vielmehr neutral, mit der Neutralität und Gleichgültigkeit eines Spiegelbildes dargeboten werden. Sie müssen ihm ohne eigene Härte oder irgendeinen Anspruch auf Festigkeit erscheinen. Es dürfen also keine anstößigen Vergleiche gemacht werden wie: Einige Dinge seien realer, dimensionaler oder härter als andere … Husserl hat diese Modifikation Neutralitätsmodifikation genannt. Und ihre beste, wenn auch untechnische Übersetzung ist der spanische Satz »oír como quien oye llover« (»etwas geht zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus«): sehen ohne zu schauen, hören ohne zuzuhören, verstehen ohne zu bejahen oder zu verneinen, wollen ohne sich zu verpflichten, fühlen ohne zu leiden … Man sieht also ohne weiteres, dass das Universum realer oder auch idealer Gegenstände als neutrale Parade mit einer rein objektiven Präsenz vor dem Subjekt vorüberziehen kann, ohne auch nur irgendetwas zu 433

[Edmund Husserl (1963) (Hua I): S. 66.].

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verlangen oder sich zu irgendetwas zu verpflichten. Es ist die Art von Parade, bei der die Dinge Spiegelbilder sind. Das Bild des Feuers brennt nicht mehr, das des Wassers kühlt nicht mehr ab, das des Steines schlägt nicht mehr auf und das des Menschen verpflichtet uns zu keiner wirklichen Gesellschaft mehr … Deshalb sagt Husserl zur realen Welt mit ihrem Anspruch auf wahrhafte Realität ähnlich wie Hérodiade zur Amme: Assez! Tiens devant moi ce miroir. Ô miroir! Eau froide par l’ennui dans ton cadre gelée [...],434

dass sie sich nicht mit ebensolchen Realitätsallüren darstellen solle. Genug von diesen gottlosen und frevelhaften Gesten – cette main encore sacrilège –,435 mit denen sie versucht, unsere echte, wahrhafte Realität zu berühren, […] car tu voulais, je crois, me toucher,436

denn an den Intentionen der Realität, uns zu berühren, lässt sich nicht zweifeln. Um nicht der Versuchung zu erliegen – und damit das transzendentale Ich uns nicht in die Versuchung kommen lässt –, unterdrückt das transzendentale Ich sowohl den Wunsch eines Bejahens und Verneinens als auch den, uns in die natürliche und alltägliche Einstellung zu versetzen. Es verwandelt sich in einen Spiegel, d. h. in einen subtilen Zustand, der die Dinge nicht mit einem Realitätsanspruch erscheinen lässt. Unsere eigentliche Realität verliert nämlich tatsächlich die Lust am Realen, und »innerhalb ihres Wesens durch die Langeweile erfroren« verwandelt sie sich in einen Spiegel, in kaltes Wasser, das der Realität der Dinge gegenüber gleichgültig und neutral ist: Und mit … […] ce dédain triomphant …437

[»Genug! Spiegel halt mir vor. / O klares Glas! / Des Leides Flut erstarrt zu Eis in deinem Rahmen, […].« Aus dem französischen Original ins Deutsche übersetzt in Stéphane Mallarmé (2016): Sämtliche Dichtungen. Zweisprachige Ausgabe. Übersetzt von Carl Fischer und Rolf Stabel. München: DTV, S. 48–49.]. 435 [»nun dieser Hand so ruchloses Verletzen, […].« Ebd., S. 50–51.]. 436 [»die fast mich schon berührt, ich ahn es, […].« Ebd., S. 50–51.]. 437 [»Stolz und Verachtung […].« Ebd., S. 52–53.]. 434

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ist es für das transzendentale Ich überaus machbar, diese großartigen Verse von Mallarmé sinnvoll zu rezitieren: Oui, c’est pour moi que je fleuris déserte! Vous le savez, jardins d’améthyste, enfouis Sans fin dans de savants abîmes éblouis. [Hérodiade]438

Durch die phänomenologische Enthaltung blüht das Ich für sich selbst wie eine Blume in der Wüste, in Abwesenheit irgendeiner anderen Realität. Die Akte der Wahrnehmung, der Wiedererinnerung, der Phantasie, des Denkens und des Begehrens …, die es vorher vollzogen hat, um sich in der fremden Realität niederzulassen und zu ruhen, sind jetzt zu »inneren Gärten geworden, die in unendlich tieferen Abgründen verborgen sind und durch die Schönheit der Blumen, die in der Einsamkeit der Erde blühen, geblendet werden.«439 Wer zu diesem Reinheitszustand, zu dem Erwählen einer absolu­ ten Erkenntnisarmut, wie Husserl es nannte, gelangt ist, für den gilt: J’aime l’horreur d’être vierge et je veux Vivre parmi l’effroi que me font mes cheveux Pour, le soir, retirée en ma couche, reptile Inviolé sentir en la chair inutile Le froid scintillement de ta pâle clarté Toi qui meurs, toi qui brûles de chasteté Nuit blanche de glaçons et de neige cruelle!440

438 [»Ich blühe für mich als Einsamste von allen! / Ihr Amethysten, ihr wisst es wohl, verhüllt / endlos in Schluchten, hell von heißem Glanz erfüllt […].« Ebd., S. 52–53.]. 439 [García Bacca bringt mit eigenen Worten verschiedene Versen Mallarmés zusam­ men: »Als Blume blühst du nur in trüben Einsamsein, / um starr dein Schattenbild im Wasser zu gewahren«; die oben zitierte Verse: »Ihr Amethysten, ihr wisst es wohl, verhüllt / endlos in Schluchten, hell von heißem Glanz erfüllt« und aus dem Gedicht »Hymne«: »dies Land, wo hundert Iris blühen,/ sie wissen, dass es wirklich war, / kein Name nennt, den Sommerglühen / mit Goldfanfaren rühmte gar.« Ebd., S. 52– 53 und S. 74–75.]. 440 [»Ich lieb der Jungfrau Grauen, will / im Schrecken leben, den mein Haar mir macht, und still / des Abends auf dem Bett, unnahbar wie die Schlange, / mit brachem Leib die Lust genießen ohne Bange / der kühlen Reinheit, die sie deiner Bleiche dankt, / du, die erstirbt, die an keuschen Gluten krankt, / du weiße Nacht aus Eis und Schnee der Grausamkeit!«. Ebd., S. 54–55.].

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Durch die Absicht, sich in einen Spiegel zu verwandeln, was, ohne reale Verpflichtungen, jegliche Realität, sogar die eigene, dazu zwingen kann, als noematische Realität bzw. als Welt für mich und nicht als Welt an sich zu erscheinen, ergibt sich, dass die »Welt selbst eine unendliche, auf Unendlichkeiten einstimmig zu vereinender Erfahrungen bezogene Idee ist – eine Korrelatidee zur Idee einer vollkommenen Erfahrungsevidenz, einer vollständigen Synthesis mög­ licher Erfahrungen«.441 Aufgrund welcher wunderbaren Transformation verändert sich die reale Welt, die für unsere Sinne und Wissenschaften so gut begrenzt und definiert scheint, in eine unendliche Idee, in den »Gegenstand der kühnsten und großartigsten Begehren«,442 die darauf abzielen, zu einer perfekten Synthese aller, absolut aller mög­ lichen Erfahrungen zu gelangen? Die rohen Erscheinungen der alltäglichen Welt in einer aufstei­ gend einstimmigen Synthese zu einer unendlichen Idee zu verwan­ deln, bedeutet, diese in eine noematische Realität, in eine Welt für mich und mein transzendentales Ich zu verwandeln. Dieses trans­ zendentale Ich ist der »Spiegel, der in seiner schläfrigen Ruhe die jungfräuliche Realität des Menschen, die wiederhergestellte Jungfräu­ lichkeit des Menschen, dessen Blicke nunmehr klar und kalt wie Demant sein werden, widerspiegelt«.443 Die gesamte natürliche und alltägliche Welt »wird in einer Vergötterung dieses Spiegels leben«. Bezüglich der natürlichen Welt und der Welt der Frauen gilt Nietz­ sches Aphorismus: »[N]imm ihnen etwas und sie werden dir bis ans Ende der Welt folgen.« Nimm der natürlichen Welt und dir als einem Bestandteil dieser Welt ihre angebliche und die ihr attribuierte Konsistenz und sie wird dir bis in die phänomenologische Welt (Mundo fenomenológico) folgen. Husserl sagt nichts anderes. Für ihn ist die Enthaltung »die radikale und universale Methode, wodurch ich mich als Ich rein fasse, [Edmund Husserl (1963) (Hua I): S. 97.]. [Dies ist wahrscheinlich eine Anspielung auf folgende Strophe des Gedichtes »Hymne«: »Und, ewigen Sehnens Sieg, Ideen / wie hoch entrückt sah ich die Pracht / der Gattung der Iridaceen / in diesem neuen Geist erwacht […]«. Ebd., S. 74–75.]. 443 [Siehe hierzu die Worte Hérodiades: »Ich liebe der Jungfrau Grauen, will / im Schrecken leben, den mein Haar mir macht, und still […] / des Spiegels, der aus Schlaf und tiefer Stille schickt / das Bild Hérodiades, die wie Demant blickt […]«. Ebd., S. 54–55.]. 441

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und mit dem eigenen reinen Bewußtseinsleben, in dem und durch das die gesamte objektive Welt für mich ist, und so, wie sie eben für mich ist«444. Die phänomenologische Enthaltung bzw. Keuschheit ist die radikale Jungfräulichkeit, aufgrund deren sich das Ich nicht durch die Realität befruchten lässt. Es ist die universale und radikale Methode, um sich selbst zu fühlen. Es ist die Methode, um sich selbst mit einem reinen Bewusstseinsleben zu erfassen, d. h. einem Eigenleben, bei dem die gesamte objektive Welt für mich genau in dem Maße existiert, in dem sie für mich existiert. Dies gilt auch für die natürliche Welt. […] tout, autour de moi, vit dans l’idolâtrie D’un miroir qui reflète en son calme dormant Hérodiade au clair regard de diamant.445 [Mallarmé]

Das transzendentale Ich ist hier Hérodiade, die einen Blick so klar wie Diamant hat und auch so kaltherzig ist wie das transzendentale Ich. Wie der Diamant hat es aber auch scharfe und profilierende Kanten. Es schneidet und definiert so sehr, dass es das Ich zur Monade werden lässt, zum absolut Einsamen. Diese Bedeutung haben sowohl das griechische Wort monás als auch der Begriff meine Monade, den Husserl verwendet. Und wenn jemand, um sich nicht der Realität hin­ zugeben, mühselig bzw. mit aller Kraft keusch bleibt und den Dingen nur erlaubt, »mich anzuschauen, aber mich nicht zu berühren«, dann bleibt dieser Jemand mit sich selbst allein und kann, wie Hérodiade, Folgendes verkünden: Ô charme dernier, oui!, je le sens, je suis seule.446

»Endlich allein«, sogar ohne das alltägliche Ich, das so viele gefährliche Beziehungen zu den realen Gegenständen eingegangen und von ihnen gefesselt und geblendet worden ist; und ohne dieses alltägliche Ich, das sich als einen dieser Gegenstände versteht und ihren Zufällen, Rückschlägen und Gegentänzen unterworfen ist. Was würde die Einsamkeit bringen, wenn man zugleich allein sein muss? Ebd., S. 60. »[…] wo alles um mich lebt, dem Götzendienst zu frönen / des Spiegels, der aus Schlaf und tiefer Stille schickt / das Bild Hérodiades, die wie Demant blickt …«. Ebd., S. 54–55. 446 [»ich weiß, ich bin allein. O letzte, höchste Weihe!«. Ebd.]. 444

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Wenn die Amme, unsere Mutter des Realen und die reale fürsorg­ liche Welt, hört, dass wir wie Hérodiade sagen »O, höchste Weihe, ja, endlich bin ich einsam!«,447 warnt sie uns mitfühlend und ängstigt uns mit den Worten: Madame, allez-vous donc mourir?448

Tatsächlich scheint diese Gefahr demjenigen zu drohen, der einsam ist und darüber hinaus abgeschottet bleibt. Die Bedrohung besteht darin, dass er sterben wird (en trance de muerte). Und wie befreit Husserl das Ich von den Auswirkungen dieser übermäßigen Keuschheit, die uns die phänomenologische Enthaltung auferlegt und durch die wir uns weder positionieren noch auf irgend­ eine Realität, ja nicht einmal auf unsere gewöhnliche Realität stützen können? Was hätten wir davon, uns allein und als selbstständig wahrzunehmen, ja sogar von der Kontingenz unserer sinnlichen Realität befreit zu sein, wenn wir uns in diesem Zustand daran gewöhnen würden, nicht mehr zu essen und daher zu verhungern? An dieser Stelle kommt Husserls raffinierter Ausweg ins Spiel: Wenn wir allein sind und von allem isoliert bleiben, ganz wie ein Diamant, der sowohl perfekt kristallisiert ist als auch aus allem herausgeschnitten und zugleich schneidend, verbleibt in unserem Inneren eine ganz besondere Lust und aus unserem monadischen Wesen erstrahlt eine flammende Sonnenkorona. Diese wird in der philosophischen Fach­ sprache Intentionalität genannt. Husserl würde sagen, dass »das Wort Intentionalität dann nichts anderes als diese allgemeine Grundeigen­ schaft des Bewußtseins, Bewußtsein von etwas zu sein, als cogito sein cogitatum in sich zu tragen, bedeutet.«449 Bewusstsein ist wesensgemäß Bewusstsein von etwas, ganz gleich, ob es Dinge gibt oder nicht. Dieses Merkmal ist für das Bewusstsein genauso grundlegend und unabdingbar, wie es für eine Bewegung die Richtung ist. Auch wenn das Denken weder an wahre noch an falsche Dinge denken muss, so muss es doch alles in allem dennoch an etwas denken, es ist dazu gemacht, etwas zu denken. Die Wirklichkeit des Denkens ist nämlich derart gestaltet und derart wirklich, dass es denkt, auch wenn es falsch denkt. Das Denken ist dazu da, etwas 447 448 449

[Siehe ebd.]. [»So willst du sterben?« Ebd., S. 54–55.]. [Edmund Husserl (1963) (Hua I): S. 72.].

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zu denken, und es zieht dieses Dazu irgendwie aus sich heraus. Dennoch verweist das Denken dieses Dazu nicht auf etwas Richtiges oder Falsches, sondern schlicht und einfach auf einen intendierten Transzendenzzustand. Das Begehren muss kein Begehren eines Mög­ lichen sein, um ein wirkliches Begehren zu sein, weil das Begehren nach dem Unmöglichen oder nach dem, wovon wir nicht wissen, ob es für uns möglich oder ob es überhaupt möglich ist, wirklich ist. Ebendarum ist das Begehren unvermeidlich das Begehren von etwas, das Begehren gen etwas. Es ist abermals klar, dass diese in dem Begehren mit eingeschlossene Richtung das Begehren nach außen richtet – und zwar nicht auf einen konkreten, möglichen oder unmög­ lichen Bezugspunkt, sondern schlicht und einfach auf eine intendierte Transzendenz. Damit lässt sich feststellen, dass es, einerseits, eine subtile Art und Weise oder Gerichtetheit gibt, die dem Denken durch den Akt des Denkens zukommt, und, andererseits, eine ganz andere Art und Weise oder Gerichtetheit, die dem Begehren durch die bloße Tatsache, ein Begehren zu sein, unvermeidlich zukommt. Unabhängig davon, ob man richtig oder falsch denkt oder etwas Mögliches oder etwas Unmögliches begehrt, sind die Intentionalitäten des Denkens und Begehrens an und für sich verschieden. Eine weitere Thematik der transzendentalen Phänomenologie besteht in der Untersuchung dieser Intentionalitätstypen, der inneren Gerichtetheiten, des Auffla­ ckerns und der Ausdehnungen des Bewusstseins, auch wenn dieses allein und von allen realen Objekten abgeschottet ist. Dieses Thema ähnelt dem einer Astronomie, deren einziger Gegenstand die Sonne inmitten des »Schweigens dieser unendlichen Räume« ist, das Pascal so sehr erschreckte. Die Phänomenologie untersucht liebevoll all die Arten von Lust, die in uns rumoren, wenn wir einsam und allein sind. Schlussendlich heißt das, dass wir uns höchstens von den Gegenständen und ihrer alltäglichen und kontingenten Realität befreien können. Nicht aber können wir uns von der Lust an den Dingen befreien, jener besonde­ ren Lust, die sie bei uns erwecken oder in uns hinterlassen haben. Als sich Hérodiade von der Amme verabschiedet und ihr Adieu sagt, sieht sie sich (und dieser Vergleich ist aufschlussreich) dazu gezwungen, dem Folgendes hinzuzufügen:

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Vous mentez, ô fleur nue De mes lèvres […]450

Auch wenn sich die Phänomenologen von der Realität der Dinge verabschiedet haben und sie wie eine Monade heiß ersehnter Lust, polymorpher Lüste oder Intentionalitäten einsam und allein sind, müssen sie sich letztlich eingestehen, dass »die Blütendüfte der Lippen lügen«, wenn man den Dingen Adieu sagt. Ihnen geschieht dasselbe wie Hérodiade: J’attends une chose inconnue451

Sie erwarten nämlich das Unbekannte, einen unbestimmten Gegen­ stand. Sie denken an das Unbestimmte und begehren etwas Unbe­ stimmtes. Sie wissen nicht, was sie wollen, aber sie wollen etwas. Ihnen geschieht auf irgendeine Art und Weise das, was Johan­ nes vom Kreuz auf einer anderen und erhabeneren Ebene zur Spra­ che brachte: […] y déjame muriendo un no sé qué que quedan balbuciendo.452

Wenn das transzendentale Bewusstsein erst einmal die Dinge verab­ schiedet hat, klingt es lange und mit so vielen Arten von Echos nach, wie es Arten von Dingen gibt. Die Potenzen des Ich stottern, ohne klar und deutlich das vorbringen zu können, was sie im alltäglichen Leben hinsichtlich eines bestimmten Gegenstandes sagen, bei dem die Spitzen der jeweiligen Intentionalität – das Ziel des Begehrens, der Gegenstand des Wissens oder der Endpunkt und Zweck des Willens – fixiert sind. Aus diesem Grund weist Heidegger, der – bitte verzeihen Sie mir den Ausdruck –, das erwidernde Dienstmädchen Husserls und die [»Ihr lügt, ihr nackten Blütendüfte / der Lippen!« Ebd., S. 56–57.]. [»Wehen doch schon unbekannte Lüfte«. Ebd.]. 452 [García Bacca zitiert hier eine Strophe des Cántico espiritual von Johannes vom Kreuz: Und alle auf freier Bahn erzählen mir tausend Liebreize von dir, und alle verwunden mich noch mehr, und sterbend läßt mich zurück ein,Ich-weiß-nicht-was‘, das sie ständig stammeln Johannes vom Kreuz (1997): Gesammelte Werke Bd. 3. Der geistliche Gesang. (Cántico A) Vollständige Neuübertragung. Herausgegeben, übersetzt und eingeleitet von Ulrich Dobhan OCD, Elisabeth Hense, Elisabeth Peeters OCD. Freiburg: Herder, S. 66.]. 450

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Amme Mallarmés ist, darauf hin, dass sich die gesamte Phänomeno­ logie und die gesamte monadische Einsamkeit des transzendentalen Ich durch die Intentionalität in Lust auflösen. Er zeigt, dass die Inten­ tionalität daher kommt, dass der Mensch ein Sein ist, das den Dingen der Welt, als eines von diesen vielen Dingen, verfallen ist (Sein und Zeit, S. 147, 361, 363; Vom Wesen des Grundes, S. 8, Ausgabe von 1931). Als Husserl, wie Hérodiade, bemerkte, dass die Amme Heidegger sich in seine Angelegenheiten einmischen wollte, schrie er auf und exkommunizierte Heidegger bei einem öffentlichen Vortrag offiziell und im Namen der gesamten phänomenologischen Schule: »Arrête dans ton crime« »cette main [encore] sacrilège.«453

In der Philosophie muss man jedoch häufig, ja fast immer, einen Vatermord begehen, wie Platon es mit dem altehrwürdigen Parmen­ ides tat. …………… Und wir könnten für das Husserl’sche System zwei Verse von Mallarmé als Grabinschrift aufsetzen: Gloire du long désir, Idées, Tel qu’en Lui-même enfin l’éternité le change.454

Diese Inschrift fasst sehr gut die Vorzüge und Defekte der trans­ zendentalen Überempfindlichkeit zusammen, welche Husserl dazu führte, jene seltsame Haltung eines Rückzugs, einer Enthaltung und 453 [García Bacca zitiert hier zwei Verse aus der folgenden Strophe: »Hérodiade Gebiete frevler Tücke, die bis zum Quell mein Blut erstarrt, und unterdrücke bekannter Lästerung Gebärde: oh, und sprich, welch stärker Dämon dich mit bösem Rat beschlich, der Kuß, das Duftöl, die du botest, und Entsetzen, o Herz, nun dieser Hand so ruchloses Verletzen, die fast mich schon berührt, ich ahn es, sind ein Tag, der nicht ohne Unheil auf dem Turme enden mag … o Tag, dein Nahen sieht Hérodiade mit Grauen!« Mallarmé (2016): S. 50–51.]. 454 [García Bacca paraphrasiert an dieser Stelle Verse aus verschiedenen Gedichten von Mallarmé: »Prose« (»Hymne«): »Und, ewigen Sehnens Sieg, Ideen […]« und »Le Tombeau d’Edgar Poe« (»Das Grab von Edgar Poe«): »Wie jetzt die Ewigkeit ihn zu sich selber führte«. Mallarmé (2016): S. 74–75 und S. 104–105].

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Text 17 Der phänomenologische Sinn der neuzeitlichen Philosophie (1964)

Mäßigung von allem Realen einzunehmen. Diese transzendentale Überempfindlichkeit besteht in einem unverhältnismäßigen Anliegen: Es ist die Idee einer ersten und absoluten Begründung des gesamten Universums, die jedoch nur Gott leisten kann. Für einen derart gewaltigen Versuch musste sich der Phänomenologe in sich selbst ver­ wandeln, d. h. in ein transzendentales Ich. Das bringt man jedoch nur zustande, wenn man ewig wird. Er passt aufgrund dieses ruhmreichen und selbstmörderischen Versuchs in die Kategorie der Verleumder der Vergänglichkeit, die es, um mit einer Sentenz von Galileo zu sprechen, verdienen, zu Statuen zu werden. Wahrscheinlich wurde Husserl aufgrund seiner platonischen Perspektive von derselben Strafe heimgesucht, die, dem Alten Testa­ ment nach, die Frau von Lot durch Gott erhielt, als sie in eine Salzsäule verwandelt wurde. Seine transzendentale Überempfindlichkeit wäre dann streng und genau genommen so empfindungslos wie eine Statue aus Salz. Und auch die Lektüre der Werke, in denen Husserl als Philosoph weiterlebt, erweckt bei uns den Eindruck, als würden sie uns wie einen klaren, kristallinen, scharfen und menschlich neutralen Diamant behandeln. Und da Husserl sicher auf menschliche Weise zu leben anfing, kann ich keine weiteren Erklärungen für den vitalen Ursprung seiner Art zu philosophieren ausfindig machen, als zu bekräftigen, dass Husserl derjenige ist, que murió de ganas de Necesidad, Eternidad, Inmutabilidad y Absolutismo.455

Lesen wir den Schlusssatz der Cartesianischen Meditationen: Das delphische Wort γνῶθι σεαυτόν hat eine neue Bedeutung gewon­ nen. Positive Wissenschaft ist Wissenschaft in der Weltverlorenheit. Man muß erst die Welt durch ἐποχή verlieren, um sie in universeller

455 [Vermutlich paraphrasiert García Bacca hier auf Spanisch Zeilen aus dem Abschnitt IV des Prosagedichts »Igitur« von Mallarmé: »Le coup de dés« (Au tom­ beau), im Deutschen »Der Würfelwurf« (im Grab). Ein Absatz dieses Gedichtes lautet wie folgt: »Das alles bedeutet, daß seine Ahnen rein waren: daß sie dem Absoluten seine Reinheit entrissen haben, um sie zu leben und davon nur eine in die Notwen­ digkeit zielende Idee übrig zu lassen: und daß, was den Akt betrifft, er völlig absurd ist, außer (persönliche) Geste, die dem Unendlichen angehört: aber daß das Unend­ liche endlich fixiert wird«. Mallarmé (2016): S. 198–199.].

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Text 17 Der phänomenologische Sinn der neuzeitlichen Philosophie (1964)

Selbstbestimmung wiederzugewinnen. Noli foras ire, sagt Augustinus, in te redi, in interiore homine habitat veritas.456

Dieser Schlusssatz erinnert an zwei andere Sentenzen. Eine stammt aus dem Evangelium: »[W]er aber sein Leben verlieret um meinetwil­ len, der wird’s finden« (Matth., 16, 25), d. h., wer die natürliche Welt und sich selbst als ihren Bestandteil verliert, der wird diese Welt und sich selbst in Form einer inneren Welt wiederfinden. Und eine andere ist von Augustinus: Non intratur in veritatem nisi per charitatem, »Der einzige Weg zur Wahrheit geht über die Liebe«. Vielleicht ist die Caritas oder Liebe gerade das, was der phäno­ menologischen Philosophie fehlt: die Gottesliebe oder Nächstenliebe. Denn die letzte Thematik, die in den Cartesianischen Meditationen behandelt wird (»Die noematisch-ontische Gegebenheitsweise des Anderen als transzendentaler Leitfaden für die konstitutive Theorie der Fremderfahrung«), beinhaltet zu Beginn eine strenge Durchfüh­ rung einer phänomenologischen Enthaltung von der Existenz anderer Menschen. Dies kommt fast schon einem bewusst geplanten Mord gleich. Ein Jeder ist uns nämlich per se in der natürlichen Welt gegeben – ein Jeder ist uns als in seiner Realität fest verankert und in seiner Individualität konsistent gegeben. Es ist nicht von Bedeutung, dass wir die Wirklichkeit der anderen Dinge (Körper, Zahlen, Gestalten oder logische Gesetze) durch die phänomenologische Enthaltung bzw. die transzendentale Einklam­ merung infrage stellen. Aber die Wirklichkeit unserer Nächsten infrage zu stellen und diese auf die Rolle eines »transzendentalen Leitfadens« zu reduzieren, hätte vielleicht, seitens Augustinus, einen höflichen und dennoch energischen Tadel verdient: »Du wirst nicht in der Wahrheit Einzug halten, weil deine Methode nicht über die Liebe geht.«

456

[Edmund Husserl (1963) (Hua I): S. 183.].

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Eduardo Nicol (1907–1990): Text 18 Das Sein des Ausdrucks (1957)

(Übersetzt von Guillermo Ferrer und Niklas Schmich) Die »Abhandlung über die Methode«457 lässt sich nicht als Weg beschreiben, der uns zum Sein führt. Sobald wir zu denken anfangen, stehen wir bereits dem Sein gegenüber. Husserls Phänomenologie erweist sich als eine Methode, die es uns ermöglicht, das Wesen offen­ zulegen, ganz gleich, ob man Husserls Voraussetzungen zustimmt oder nicht. Was Wesen genannt wird, ist zweifelsohne etwas, das zumeist verborgen ist. Das Sein ist jedoch nicht das Wesen, es verbirgt sich nicht. In der Tat sind wir, bevor wir das Wesen freilegen, mit dem Sein schon vertraut. Das Sein setzt keine Untersuchungen voraus. Ich rede nun, wohlgemerkt, von der reinen Gegebenheit in seiner Anwesenheit. Das Seiende ist anwesend: Seine sichtbare Erscheinung (φαίνεσθαι) liefert, als manifeste Wirklichkeit (φαινόμενον), eine Evidenz (e-videncia), die sich durch unsere Unwissenheit in Bezug auf ihre Struktur, ihre qualitative Zusammensetzung oder die Funktionen ihrer Veränderung nicht gerade verringern lässt. Die Phänomenologie Heideggers geht in eine andere Richtung als die Phänomenologie Husserls und ist von der Absicht der berühmten Frage nach dem Sein geleitet. Die durch Heidegger einge­ führten Korrekturen auf der Grundebene der phänomenologischen Methode sind dennoch nicht ausreichend. Und zwar nicht nur aus dem bereits genannten Grund, dass die Seinsanalyse, was den Menschen anbelangt, auf dessen geschichtliche Dimension projiziert werden müsste. Es reicht nicht, unser Denken über das Sein nur geschicht­ lich in Betracht zu ziehen. Es gibt noch einen weiteren, fundamen­ talen Grund: die Betonung der wohlbekannten Verborgenheit des Seins, durch welche Heidegger, auch wenn er auf andere Termini zurückgreift, mit der Grundhaltung Husserls und der gesamten Tradi­ tion übereinstimmt. 457

[Anspielung auf den Discours de la méthode Descartes’.].

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Eduardo Nicol (1907–1990): Text 18 Das Sein des Ausdrucks (1957)

Auch wenn Heidegger darauf besteht, dass wir immer schon in einem gewissen Seinsverständnis leben, so hält er doch dieses Seinsverständnis nicht für die Grundlage, auf welcher die Methode begründet werden soll. Das ist insofern richtig, als dass die Grundlage etwas Festeres sein muss und das genannte Seinsverständnis nichts anderes ist als eine doxa in den Diensten der praxis. Die Frage lautet nun, ob die Meinung, auf der wir unsere praktische Existenz gründen, nicht doch auf einer noch früheren Evidenz beruht. Das vulgäre Verständnis ist im Sinne des Vorwissenschaftlichen vorontologisch. Die Evidenz des Seins ist nicht nur deshalb ursprüng­ lich, weil sie vorontologisch ist, sondern auch, weil sie keine Meinung ist. Weder kann noch wird es irgendeine andere, frühere oder höhere Evidenz als die Evidenz des Seins geben. Die Methode als Instrument der Wissenschaft kann jene Untersuchung des Gegebenen, die wir alle vollziehen, um zu existieren, lediglich korrigieren oder erweitern. Der Philosoph wird das Ergebnis dieser Methode als vulgäres Seins­ verständnis bezeichnen. Es kann deshalb eine »Unverständlichkeit« des Seins vorliegen, die mit einer apodiktischen Anschauung des missverstandenen Seins einhergeht. In der Tat ist die Evidenz oder ›Einsicht in das Sein‹ (visión del ser) die Bedingung der Möglichkeit für das Verständnis, sei es nun vulgär oder wissenschaftlich. Das Sein ist jedenfalls sichtbar (Phänomen). Das (platonische und cartesianische) Gefühl, wir wären gar nicht im vollen Besitz des Seins, solange wir keine Methode einführen, die es uns erlaubte, das Sein zu »offenbaren«, beherrscht nach wie vor das Denken Heideggers und beschreibt auch die Wesenszüge seiner Phä­ nomenologie. Der folgende Abschnitt dient der Veranschaulichung dieses Zusammenhangs: Was ist es, dass in einem ausgezeichneten Sinne »Phänomen« genannt werden muss? Was ist seinem Wesen nach notwendig Thema einer ausdrücklichen Aufweisung? Offenbar solches, was sich zunächst und zumeist gerade nicht zeigt, was gegenüber dem, was sich zunächst und zumeist zeigt, verborgen ist […]. Was aber in einem ausnehmenden Sinn verborgen bleibt […] ist nicht dieses oder jenes Seiende, sondern […] das Sein des Seienden.458

Sein und Zeit, § 7 C. An derselben Stelle erhält das Sein nacheinander folgende Bezeichnungen: Das, was sich nicht zeigt; das Verborgene; das Verdeckte; das Unent­ deckte; das Entstellte; das Vergrabene. 458

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Eduardo Nicol (1907–1990): Text 18 Das Sein des Ausdrucks (1957)

Betont werden muss, inwiefern die Grundhaltung Heideggers mit den altbewährten Haltungen der Metaphysik übereinstimmt. In der Frage nach der Methode ist seine Terminologie bahnbrechender als das Schema des Theoretischen, welches in ihr formuliert wird. Traditionell wird das, »was sich zeigt«, als Phänomen bezeichnet; dies ist die Bedeutung des Wortes, das echte Sein ging somit über das Erschei­ nende oder Phänomenale hinaus. Auch bei Heidegger zeigt sich das Sein nicht, sondern bleibt verborgen. Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, das Sein zu enthüllen. Damit sich diese Philosophie aber weiterhin für phänomenologisch halten kann, obwohl sie den Anspruch hat, über das Phänomen hinauszugehen, bezeichnet sie gerade das, was sich nicht zeigt, als Phänomen. Die Terminologie ist eine andere, aber die Grundhaltung ist immer noch die gleiche. Entscheidend ist nach wie vor der Gedanke der Verborgenheit des Seins; der Gedanke, dass das Sein in der gegenwärtigen Wirklichkeit abwesend ist und dass es einer Methode bedürfe, um es zu enthüllen und zur Erscheinung zu bringen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass sich die Phänomenologie nicht darauf beschränken kann, »das Erscheinende«, d. h. das bloße Phäno­ men dessen, was sich in einer unmittelbaren und primären Auffassung gibt, zu registrieren und zu beschreiben. Sie muss auch das im bloßen Erscheinen Implizite auslegen; also das, was Heidegger zufolge den Sinn und das Fundament des Phänomens ausmacht. Tatsächlich gehen nicht nur die phänomenologische Philosophie, sondern auch die Naturwissenschaften auf diese Weise vor. Beispielsweise sind die Funktionsstrukturen der Materie metaempirisch und auf den ersten Blick nicht offenkundig, sie sind also nicht buchstäblich phänomeno­ logisch. Von dem unmittelbar Evidenten ausgehend, muss man sie deshalb mithilfe von Berechnungen oder Experimenten ergründen. Wenn es dennoch etwas gibt, das keiner weiteren Untersuchung bedarf und unmittelbar vollkommen und authentisch gegeben ist – kurzum, im Wesentlichen Phänomen ist –, dann ist es das Sein. Das Seiende ist die Gegebenheit des Seins. Seine Struktur und Funktion sind der phänomenologischen Forschung vorbehalten. Die Phänome­ nologie selbst enthüllt jedoch nicht das Sein, sondern kalkuliert die unmittelbare Anwesenheit des Seins immer schon mit ein. Darüber hinaus sind im spezifischen Fall des Menschen nicht einmal die zentrale Funktion und das erste Merkmal, welche diese Struktur ausmachen, verborgen. Seine phänomenale Präsenz ver­ deckt nicht sein eigentliches Sein. Wir müssen seine Erscheinung

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Eduardo Nicol (1907–1990): Text 18 Das Sein des Ausdrucks (1957)

nicht überschreiten, um sein Sein zu befreien bzw. sein Wesen zu entdecken. Der Mensch ist das einzige Seiende im Universum, von dem wir nicht nur, wie von jedem anderen Seienden, die Anschauung einer realen Existenz haben. Seine bloße Anwesenheit offenbart uns bereits seine Seinsweise. Der Mensch bringt die Kategorien seines Seins an die Oberfläche. Das bedeutet, dass die allgemeine und unmittelbare Seinser­ fassung bzw. das Seinsverständnis durch das menschliche Seiende kategorial vorbestimmt ist: Das Erfassen und die distinktive Identi­ fizierung sind gemeinsam und gleichzeitig gegeben. Man erkennt ein Stück Mineralstoff unverzüglich als reale Existenz; es bedarf jedoch einer besonderen Analyse, um die ontologische Art bzw. den Mineraltypus zu bestimmen. Die ontologische Singularität des Menschen besteht nicht in seiner Fähigkeit, Fragen über das Sein zu stellen, wie Heidegger meint. Die Ausübung dieser Fähigkeit ist nämlich weder universell noch primär. Die ontologische Besonderheit des Menschen besteht vielmehr in der Tatsache, dass das Phänomen der Präsenz des Menschen bereits eine ontologische Verfassung hat. Und diese ontologische Verfassung oder Form lässt sich ohne weitere phänomenologische Analysen erfassen. Dies geschieht vielmehr mit einer invariablen Einheitlichkeit und ohne jedes Zögern: Was nämlich der Mensch mit seinem Akt der Präsenz enthüllt, ist die Enthüllung selbst: Es handelt sich dabei um einen charakteristischen Akt des Ausdrucks. Die menschliche Präsenz ist eine ausdrückliche Enthüllung. Der Andere bekundet dadurch, was er ist: Wir fassen ihn durch eine reale Eigenschaft, die ihn auf der privilegierten Ebene des Gesprächspartners situiert, als einen Mitmenschen auf. Er ist das freie Subjekt einer Handlung, die irgendwie ausdrücklich werden muss und stets eine kommunikative Intentionalität und einen Sinngehalt hat. Die Analyse dieses Seins muss deshalb nach einer hermeneutischen Methode durchgeführt werden. Diese Hermeneutik stimmt jedoch ebenfalls nicht mit der Ausgestaltung überein, die sie in der Heidegger’schen Phänomenolo­ gie angenommen hat. Die phänomenologische Methode muss hermeneutisch sein, wenn sie auf das Sein des Ausdrucks angewendet wird. Denn die Disposition, in der wir uns im alltäglichen Leben begegnen, ist bereits hermeneutisch. Die ursprüngliche Gegebenheit des Ausdrucks reicht aus, um die ontologische Identifizierung des Menschen unanfechtbar, endgültig und differenziell werden zu lassen. Diese Identifizierung

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des fremden Seins ist ein Akt des eigenen Seins. Es bedarf keiner besonderen Interpretation des menschenspezifischen »Sinnes von Sein«. Der Sinn seines Seins manifestiert sich nämlich bereits in seiner bloßen Aktualität: Der Mensch ist das Sein von Sinn. Der Sinn­ gehalt und die Ausdrucksintention erfordern wiederum eine Interpre­ tation. Gerade weil ihre bloße Anwesenheit kommunikativ ist und eine Interpretation veranlasst, ist eine Identifikation dieser Anwesen­ heit unzweideutig. Das Bedürfnis, das wir ständig verspüren, das Sein unseres Nächsten zu interpretieren, macht ihn zum Nächsten. Die Ontologie geht hermeneutisch vor, wenn sie herausfindet, dass keine andere Entität ihre Seinsweise so unmittelbar und unmissverständlich darbietet wie der Andere. Nur vom Nichtmenschlichen wissen wir unmittelbar und unmissverständlich, dass es das Andere ist: Es ist die Entität, deren Erkenntnis nicht hermeneutisch sein wird. Wir Menschen haben alle die natürliche Fähigkeit, zwischen einem Sein mit Sinn und einem Sein ohne Sinn zu unterscheiden. Und diese Fähigkeit ist für unsere eigene Seinsweise konstitutiv. Das Erkennen des sinnhaften Seins ist für das sinnhafte Sein cha­ rakteristisch. Die Berücksichtigung dieser Tatsache erlaubt es, jenen fundamentalen und gesunden Positivismus, der in der Absicht der phänomenologischen Methode liegt, zu verfeinern und zu verstärken. Die erste Regel dieser Methode bürdet uns die Verpflichtung auf, uns strikt an das Gegebene zu halten. Daher rührt die hermeneutische Eignung der Methode. Und in der Tat, was wir »Gegebenheitsweise« nennen, ist ein integraler Bestandteil der Seinsweise des Gegebenen. Wenn es um nichtmenschliche Dinge geht, ist diese Formel aber nur eine Meta­ pher. Die nichtmenschlichen Dinge haben den Sinn, anders als das Sein mit Sinn zu sein. Deshalb kann man genau genommen nicht sagen, dass sich diese Dinge geben: Sie sind einfach da. Der Mensch ist hingegen in der eigentümlichen Art und Weise der Selbstgegebenheit da: Seine Anwesenheit ist eine Selbstgebung. In gewisser Hinsicht wäre das authentische Dasein alles andere als der Mensch.459 Das Adverb da bedeutet in diesem Kompositum die Bestimmung der Anwesenheit: Es spielt auf das Gegebene an, wobei es keine Rolle Heidegger unterscheidet zwischen der Seinsweise der Vorhandenheit und der Seinsweise des Menschen (Dasein). Den Begriff der Existenz (mit einer anderen Bedeutung als die herkömmliche existentia) behält Heidegger für die letztgenannte Modalität vor. Siehe Sein und Zeit, § 9. Vgl. Eduardo Nicol, La idea del hombre, Ein­ leitung, und Historicismo y existencialismo, Einleitung und Kapitel X. 459

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spielt, ob dieses Gegebene sich gibt oder nicht. Beim Menschen wird die Anwesenheit durch eine Manifestation bestimmt. Sein Sein ist nicht wie jedes beliebige andere da. Der Begriff Dasein verfügt über keine spezifische Eigenschaft, das Sein, welches seine Seinsweise mitteilt, genau zu bestimmen. Der Akt der Selbstgebung ist menschlich: Es handelt sich dabei um einen Ausdruck, dessen höchste Form das »Sich-zu-verstehenGeben« ist. Schon die reine Kopräsenz von Ich und Du impliziert für beide Seiten das fundamentale Verstehen des allgemeinen Seins: sowohl des menschlichen als auch des nichtmenschlichen. Sich-Aus­ drücken bedeutet, die Existenz eines anderen Seins zu bezeugen als das Sein dessen, das sich zum Ausdruck bringt. Kopräsenz ist kommunikativ. Kurz: Für den Menschen bedeutet der Ausdruck, dass er im Akt ist und die seinem Sein eigentümliche Potenz verwirklicht. Der Seinsakt, welcher in einer Selbstgebung besteht, verlangt nicht nur physisch, sozial und logisch einen Empfänger bzw. Adressaten, er impliziert ihn auch metaphysisch. Der Akt des Seins des Ausdrucks ist nicht auf die Entität der sich ausdrückenden Entität beschränkt. Der und das Andere sind in der Potenz dieser singulären Entität miteingeschlossen – vor allem der Andere. Hierin bestehen die phänomenologische Gegebenheit und Selbstgegebenheit. Die ontologische Differenz bestimmt die methodische Differenz. Nur eine nichthermeneutische Logik kann das analysieren, was in einer Seinsweise ohne Sinn, d. h. ohne einen eigenen Akt der Selbst­ gegebenheit, gegeben ist. Dies wird durch die Erfahrung bestätigt. Der Ausdruck lässt sich auf keine quantitative Formalisierung reduzieren. Die Ausarbeitung von Kategorien für die menschliche Welt geht einen anderen Weg. Die Selbstgegebenheit ist ein produktiver Akt, der den nichtmenschlichen Entitäten abgesprochen wird. Diese Entitäten gruppieren wir in Gattungen und Klassen. Eine Klasse erlaubt es uns, alle Exemplare auf einheitliche Art und Weise zu verstehen; ihre individuellen Varianten erfordern keine Interpretation. Was nur einen Sinn hat, ist eben das, was keinen Sinn hat. Dasjenige, dessen Aktualität die Möglichkeit von mehr als einem Sinn bietet – und genau darin besteht das für den Ausdruck Charakteristische –, muss wiederum interpretiert werden. In der menschlichen Koexistenz ist der Bezug des Individuums auf die menschliche Spezies eine rein abstrakte Operation, die ihre Einzigartigkeit nicht schmälert und uns auch nicht vor Überraschungen bewahrt. Ganz im Gegenteil: Wir

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existieren vielmehr in der Erwartung der Überraschung, weil jedes Exemplar eine existenzielle Neuheit ist. Wir haben vom Menschen (d. h. nicht von seiner Spezies, son­ dern von seiner allgemeinen Seinsform) ein Wissen, weil wir nicht von jedem Menschen (d. h. von seiner individuellen und aktuellen Seinsweise) ein Wissen haben. Der konkrete Ausdruck ist für jeden Menschen und in jeder Situation individualisierend. Das Sein des Ausdrucks als solches weist die allgemeine Seinsform auf. Seine Seinsweise ist demgegenüber mehrdeutig. Es handelt sich dabei um eine existenzielle und differenzielle Mehrdeutigkeit; die Semantik ist nämlich eine andere Sache. Die Anwesenheit eines Menschen wirft für seinen Mitmenschen stets Fragen auf. Sie erkennen sich gegenseitig als Menschen an. Die ursprüngliche Gewissheit dieser Anerkennung hält jedoch auch die Ungewissheit aufrecht. Die Teil­ habe beider Menschen an der ontologischen Form lässt immer auch die unmittelbar bevorstehende Möglichkeit des Ereignisses, des ori­ ginären Aktes und sogar des Missverständnisses offen. Das sich gebende Sein hört niemals auf, sich zu geben. Keinem aktuellen Ausdruck gelingt es, absolut eindeutig zu sein, weil er nie existenziell vollständig und eindeutig ist. Diese allgemeinen Hinweise auf die phänomenologische Methode lassen darauf hoffen, dass der Zweck einer Metaphysik des Ausdrucks gerechtfertigt ist. Von Anfang an wurde davor gewarnt, dass diese Metaphysik nicht als eine Art Anhang dieses Systems funktionieren würde. Sie müsste vielmehr in einem neuen Versuch bestehen, die Metaphysik selbst und damit auch die Wissenschaft im Allgemeinen zu begründen. Im Erneuerungsprogramm der ersten Wissenschaft musste sie vor allem die Wiederherstellung der Sein­ sevidenz darstellen. Diese Wissenschaft kann als Metaphysik des Ausdrucks bezeichnet werden, weil sie zeigt, dass diese unmittelbare und allgemeingültige Evidenz gerade in einem ausdrucksvollen und kommunikativen Akt gewonnen wird. Nicht weniger entscheidend ist die Tatsache, dass die apodiktische Intuition des Menschen als Sein des Ausdrucks die ebenso unmittelbare Unterscheidung zwischen den beiden bekannten Seinsformen mit sich bringt: das Sein ohne Sinn und das Sein mit Sinn. Alle künftigen ontologischen Untersuchungen müssen von dieser Grundlage ausgehen. Die Forschung muss sich zunächst mit den Themen einer Onto­ logie des Menschen auseinandersetzen. Dies liegt vor allem an der bereits angedeuteten Vorrangstellung, die diesem Sein aufgrund sei­

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Eduardo Nicol (1907–1990): Text 18 Das Sein des Ausdrucks (1957)

ner eigenen Art und Weise, sich zu geben, zukommt: Es ist nämlich das Sein, welches vom Sein sprechend existiert. Die Metaphysik des Ausdrucks lässt sich jedoch auf keine Spezialontologie beschränken, weil das Phänomen des Ausdrucks es ermöglicht hat, die allgemeine Theorie des Seins und Wissens zu kanalisieren. Und im spezifischen Bereich der Theorie des Menschen hat sie es ermöglicht, die üblichen Verfahrensweisen zu verändern. Der Ausdruck ist nicht nur die erste phänomenologische Tatsache, die uns der Mensch bietet; dieses konstitutive Merkmal ist der eigentliche Vorläufer auch aller anderen Merkmale. Sie alle sind innerhalb seiner Struktur funktional mit ihm verbunden. Bestätigen wir abschließend, in welchem legitimen Sinne man sagen kann, dass der Mensch Dasein ist. Seine bloße Anwesenheit ist hinsichtlich seines Seins kommunikativ: Der Mensch ist da, ecce homo. Die einzigartige platonische Idee, dass der Mensch das Sym­ bol des Menschen sei, erlangt damit eine neue Gültigkeit.460 Der Mensch ist deshalb Symbol, weil sein Sein weder vollständig ist noch in der Bestimmtheit seiner vereinzelten Individualität vollständig erkannt werden kann. Kommunikation wird durch die ontologische Gemeinschaft ermöglicht; und diese besteht nicht nur in einer bloßen Ko-existenz wie die der Dinge um uns herum. Symbolisch zu sein bedeutet, komplementär zu sein. Das andere Ich ist ein Bestandteil des eigenen Seins: Es ist buchstäblich eine Eigenschaft des Ichs. Der Mensch sollte deswegen nicht als symbolisches Seiendes betrachtet werden, weil er als Produzent von symbolischen Systemen, die zur Kommunikation bestimmt sind, existiert bzw. weil er dabei ein Her­ steller von Gebrauchsgegenständen ist. Er ist deshalb ein symboli­ sches Seiendes, weil die Kommunikation keine Verbindung zwischen zwei ontologisch hinreichenden oder fremden Subjekten ist. Diese Systeme sind die konkrete Aktualität des im Voraus festgelegten Kom­ plementaritätszusammenhangs. Beim Menschen ist der Ausdruck das Sein. […]

460

Symposium, 191d.

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José Gaos (1900–1969): Text 19 Bekenntnisse aus dem Berufsleben I & II (1958)

(Übersetzt von Niklas Schmich)

[Teil 1] […]

Aber es geht nicht nur um die gewesene Geschichte, sondern darum, wie die Geschichte mit jeder neuen Gegenwart unser Leben lang neu hervorgebracht wird. Die erste Hervorbringung dieser Geschichte im Kontext des intellektuellen Lebens im Allgemeinen, in Literatur und Kunst, in den Wissenschaften und in der Philosophie, ist das »Sich-auf-demLaufenden-halten« (estar al día) – denn das Bedürfnis, sich auf dem Laufenden zu halten, ist allem Anschein nach so evident wie gerechtfertigt. Dadurch, dass die Geisteswissenschaften, die Künste, die Naturwissenschaften und die Philosophie gewesene Geschichte haben, haben sie heutzutage immer noch Geschichte, bringen sie auch heute noch immer Geschichte hervor. Denn Tag für Tag werden diesen Disziplinen neue Hervorbringungen zuteil. Daher muss ihre Produktion, wie man sagt, verfolgt werden, ja, man muss ihr sogar nacheilen. Da es in den Geisteswissenschaften und Künsten vor allem um ästhetische Freuden und ästhetische Bildung geht, gibt es keinen Grund, sich den Freuden dieser Schöpfungen zu entziehen. Im Bereich der Naturwissenschaften handelt es sich sogar um eine strenge moralische Pflicht, denn ihre Entdeckungen folgen aufeinan­ der, ergänzen das Bisherige (wie in der Mathematik) oder nehmen früheren Ergebnissen die Gültigkeit (wie in der Medizin). In der Philosophie stoßen wir im Ansatz auf all die eben erwähnten Pro­ bleme. Zu ihnen treten womöglich weitere Aspekte hinzu: die Freude

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José Gaos (1900–1969): Text 19 Bekenntnisse aus dem Berufsleben I & II (1958)

an Neuem; Berichtigungen, die durch diese Probleme angestoßen werden, oder man wird eines Besseren belehrt; ferner gibt es eine Anbindung an das Vorherige, dieses Vorherige verliert jedoch inso­ fern seine Gültigkeit, als die Philosophiegeschichte die merkwürdige Beschaffenheit hat, eine ununterbrochene Wiederholung ab initio des im Grunde genommen Gleichen zu sein … Für die spanische Intellektualität der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts war das »Sich-auf-dem-Laufenden-halten« ein beson­ deres Gebot. Bekanntlich wurde seit dem 18. Jahrhundert Spaniens Dekadenz als ein Rückstand oder Nachhinken im Blick auf das »gebildete Europa« diagnostiziert und die entsprechende Therapie verordnet: eben das Sich-auf-dem-Laufenden-halten. Der Übergang von der Ausstellung des Rezepts bis zur Anwendung in der Praxis war jedoch, aufgrund von Widerständen, die in der Geschichte stets reichlich auftreten, von Unterbrechungen geprägt. Solche Reaktionen sind in Spanien, und zwar vom 18. Jahrhundert an bis heute, sehr spezifisch und im Übermaß vorhanden. Besonders entschlossen ging man dagegen im Jahre 1905 mit der Eröffnung der Vereinigung zur Förderung der Studien und wissenschaftlichen Forschung (Junta para Ampliación de Estudios e Investigaciones Científicas) vor,461 als spezifi­ sches Verwaltungsorgan eines neuartigen Europäisierungsversuches. Man begann, immer wieder junge Spanier zum Studium ins Ausland zu schicken, sodass diese sich selbst und ihr Heimatland bei ihrer 461 [Die Junta para Ampliación de Estudios e Investigaciones Científicas wurde 1907 von dem Philosophen Francisco Giner de los Ríos (1839–1915) gegründet, der mit seinem Meister Julián Sanz del Rio (1814–1969) als Vertreter des »krausismo« in Spanien galt. Gemeint ist eine kulturell und politisch angelegte Neuinterpretation des Denkens des deutschen Philosophen Karl Christian Friedrich Krause, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen bedeutenden Einfluss in Spanien und sogar in Lateinamerika ausübte. Die Vereinigung zielte ausdrücklich auf die kulturelle Erneuerung Spaniens durch die Förderung der Natur- und Geisteswissenschaften ab. Im Jahr 1939 wurden sie vom Franco-Regime aufgelöst. Die Mitglieder der Junta para Ampliación de Estudios e Investigaciones Científicas konnten jedoch ihre Arbeit im Exil fortsetzen, insbeson­ dere dank der Casa de España (heute El Colegio de México), die 1938 von dem mexi­ kanischen Präsidenten Lázaro Cárdenas (1895–1970) und dem mexikanischen Diplo­ maten Daniel Cosío Villegas (1898–1976) ins Leben gerufen wurde. Angesichts der drohenden Niederlage der Zweiten Republik hatten sie beschlossen, eine Institution zu begründen, welche die nach Mexiko geflüchteten spanischen Intellektuellen auf­ nehmen sollte. Im Text gibt Gaos 1905 als Gründungsjahr der Junta an. In Wirklichkeit wurde sie offiziell durch ein königliches Dekret von Alfons XIII. am 11. Januar 1907 gegründet.].

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José Gaos (1900–1969): Text 19 Bekenntnisse aus dem Berufsleben I & II (1958)

Rückkehr auf den neuesten Stand bringen konnten. Wer würde die Scham und die unangenehmen praktischen Konsequenzen auf sich nehmen, in einem solchen Umfeld von klugen Köpfen nicht auf dem Laufenden zu sein? Zumal diese Konsequenzen darin bestehen könnten, an einem Berufungsverfahren zu scheitern … Sei es aufgrund des Sich-auf-dem-Laufenden-haltens selbst oder weil der Lauf der Dinge uns dazu bringt, uns nach ihm zu richten – über die gewesene Geschichte unterrichtet zu sein bzw. die tagtägliche zu erleben, ist für den Historismus entscheidend, mitsamt all seiner Konsequenzen. Aus der Geschichte hat man gelernt, dass stets diese oder jene Werte und Wahrheiten herrschen. Sie hätten auch einen endgültigen Charakter, wenn die Zusammenhänge der gewesenen Geschichte nicht durch die nachfolgenden Gegenwarten abgelöst würden. Das Entscheidende ist also ihre Aufeinanderfolge: diesen Wert oder jene Wahrheit heute als den Wert bzw. als die Wahrheit zu erachten; und andere Werte und Wahrheiten als dasselbe Absolute heute erachten zu müssen – ich meine also das Heute bezüglich des Gestern, welches zu einem gewesenen Heute wurde; und einmal mehr haben wir dritte Werte und Wahrheiten, als den Wert und die Wahr­ heit heute zu erachten – ich meine das Heute des Vorgestern, welches zum ersten Heute wurde und des Gestern, welches zum zweiten Heute wurde … Hierbei geht es um nichts Abstraktes, rein Theoretisches, sondern um etwas sehr Konkretes und dem Leben Eigentümliches. Aus den Lektüren der Jahre in Valencia, bevor ich nach Madrid ging, um mein Philosophiestudium am 21. September fortzusetzen, und vor allem aus den Büchlein von [Manuel García] Morente, La Filosofía de Kant und La filosofía de Bergson, sowie aus der Historia de la Filosofía (Geschichte der Philosophie) [Wilhelm] Windelbands, schöpfte ich die Überzeugung, dass die zeitgemäße Philosophie die deutsche neukantianische Philosophie war. Zu Beginn der Kurse in Madrid merkte ich jedoch, dass Morente sich bereits daranmachte, einen Tag pro Woche der Erklärung der Husserl’schen Phänomeno­ logie zu widmen. Alsbald wurde diese zum »letzten Schrei« in der Philosophie. Man sah sich dazu gezwungen, auf die Phänomenologie zu schwören. Aber kaum, dass ich anfing, mich wahrhaftig auf Husserl einzulassen, dessen Kritik des Psychologismus mir meine Lehrer [García] Morente und [Xavier] Zubiri, unter Genehmigung von Ortega, einvernehmlich als Dissertationsthema vorgeschlagen hat­ ten, da behandelte man bereits die Phänomenologie in der realisti­ schen Variante Schelers. Diese wurde durch die neukantianische

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Erkenntnistheorie Nicolai Hartmanns, jedoch in ihrer realistischen Wendung, untermauert, und schließlich durch die Wertephilosophie dieser beiden Philosophen, Scheler und Hartmann, vervollständigt. Während nahezu eines Jahrzehntes erlebte ich also eine Synthese der realistischen Phänomenologie, mehr der Wesenheiten als des Bewusstseins, und der Wertephilosophie als die philosophische Wahrheit. Diesem Moment entsprach die Übersetzung der Einleitung in die Philosophie von Aloys Müller,462 welche ganz ausgezeichnet die Form von Synthese darstellte, wie man sie aus dem Umfeld der Scheler- und Hartmann-Schulen entstanden sehen wollte. Dieser Philosophie korrespondierten, neben meiner Dissertation, diejenigen Arbeiten, die ich für meine ersten akademischen Berufungsverfahren vorlegte oder in diesem Zusammenhang verfasste: erstens die Schrift Objetos y Ciencias, die ich leider verloren habe, und des Weiteren ¿Qué es la fenomenología?, das erstaunlicherweise durch Luis Recasens Siches463 erhalten geblieben ist, dem ich das Manuskript, aus mir nicht mehr ersichtlichen Gründen, überlassen hatte … Um 1930 begann ich aber, Heidegger zu studieren, und zwischen 1933 und 1935 Dilthey … Zusammenfassend habe ich als die Wahrheit also mindes­ tens die Scholastik von [Jaime] Balmes,464 den Neukantianismus, die Phänomenologie und die Wertephilosophie sowie den Existenzialis­ [Gaos verweist auf seine eigene Übersetzung: Aloys Müller (1931): Introducción a la filosofía. Übersetzt von José Gaos. Madrid: Revista de Occidente; dt. Originaltext Aloys Müller (1925): Einleitung in die Philosophie. Berlin/Bonn: Ferd. Dümmlers Ver­ lag.]. 463 [Luis Recasens Siches (1903–1977) war ein spanischer Jurist und Philosoph, der an der Universität Santiago de Compostela und an der Universität Complutense Madrid unterrichtet und während der Zweiten Republik diverse öffentliche Ämter besetzt hat. Wie Gaos war auch er nach dem Spanischen Bürgerkrieg gezwungen, nach Mexiko ins Exil zu gehen. Recasens Siches übte seine Lehrtätigkeit, vor allem im Bereich der Rechtsphilosophie, an der UNAM und dem Colegio de México aus.]. 464 [Jaime Balmes y Urpiá (1810–1848) war ein spanischer Philosoph und Theologe, der eine originelle Synthese zwischen der Philosophie Descartes’, dem Thomismus und der »Philosophy of Common Sense« anstrebte. In kirchlichen Kreisen genoss er großes Ansehen, so dass Pius XII. ihn als »Fürst der modernen Apologetik« bezeichnete. Weder Unamuno noch Ortega und seine Schüler hatten viel Sympathie für Balmes. In El sentimiento trágico de la vida macht sich Unamuno sogar über die Beweise Balmes’ für die Existenz Gottes lustig. Letztere assoziierten ihn eher mit der scholastischen Vergangenheit des spanischen Denkens. Gaos hatte jedoch Balmes vor seinen Studien bei Ortega und Zubiri mit Begeisterung gelesen, also bevor die Vertrautheit mit den philosophischen Strömungen des 20. Jahrhunderts den Zauber brach.]. 462

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mus und den Historismus erlebt … Obwohl, eigentlich nicht: Die Letzteren konnte ich bereits nicht mehr als die Wahrheit anerkennen … Ich hatte also bereits aus meinen Erfahrungen gelernt und war, aufgrund der Abfolge der vorherigen Wahrheiten, zurückhaltender, was das Anerkennen von Wahrheiten anbelangt … Denn was kann eine solche geschichtlich-biographische Sukzession, solch eine Auf­ einanderfolge von Wahrheiten – also eine eher erlebte als durch die Geschichte vermittelte Abfolge des Gewesenen – erzeugen, wenn nicht Skepsis?

3 Das Wissen um die gewesene Geschichte und das Erlebnis der alltäg­ lichen Geschichte sind nicht ein und dieselbe Sache. Im Wissen um die gewesene Geschichte, die zeitlich insgesamt vor der gegenwärtigen Wahrheit liegt, erweist sich diese als von der gegenwärtigen Wahrheit überwunden. Die gewesene Geschichte wird als Ganze durch etwas begrenzt, das so bekannt ist wie sie selbst: die gegenwärtige Wahrheit. Im Erleben der täglichen, heutigen Wahrheit mangelt es dieser an einer weiteren bekannten Grenze – man weiß nämlich höchstens, dass der morgige Tag seine eigene Wahrheit mit sich bringt, aber eben nicht, welche diese Wahrheit sein wird. Sie zu kennen, würde sie zu einer gegenwärtigen Wahrheit, zu einem Teil der Gegenwart werden lassen. Dies verleiht der Wahrheit der Gegenwart den Charakter einer Unüberwindbarkeit, ja einer Absolutheit. Umso einschneidender ist das Erlebnis der Relativität des Absoluten und der Relativität aller Wahrheiten, indem das Morgen mit seiner neuen Wahrheit zu einem Heute wird. Wahrscheinlich würden wir uns nicht großartig über die Tatsache wundern, dass von den Menschen der Vergangenheit die jeweils nachkommenden Generationen anders gedacht haben als die vorherigen. Dass wir aber selbst fortwährend gezwungen sind, anders zu denken, und dass gerade wir selbst vorgestern etwas für wahr hielten, was wir in Anbetracht des Gestern als falsch erkannten, dieses Gestern aber wiederum in Anbetracht der heutigen Wahrheit als falsch zurückweisen müssen … Wie kann uns dabei diese heutige Wahrheit mit einer anderen Gewissheit leben lassen, als mit einer, die wir morgen erneut als falsch verwerfen werden? Nur dadurch, dass wir den morgigen Tag erreichen … und nicht heute sterben … Denn der Tod scheint die Bedingung der absoluten Wahrheit zu sein …

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Hätte ich aber meinerseits die Scholastik, den Neukantianismus, die Phänomenologie und die Wertephilosophie, den Existenzialis­ mus und den Historismus lediglich als vorübergehende Wahrheiten intellektuell wahrgenommen, so wäre mein Eindruck wohl nicht der gewesen, welcher mir durch das Miterleben der im Leben meiner Lehrer und ihren Nachfolgegenerationen verkörperten Wahrheiten tatsächlich zuteil wurde. Es war kein Geringerer als Morente, den ich in einem kleinen Unterrichtsraum in einer Ecke des Untergeschosses einer alten Stadtvilla in der Calle San Bernardo einen Meter neben mir hatte, als er uns vorführte, wie die Phänomenologie dazu kam, den Neukantianismus, welchen ich durch sein Büchlein über Kant kennengelernt hatte, zu überwinden. Und was Ortega und Zubiri betrifft … Ich sah und hörte Zubiri zum ersten Mal an dem Tag, an dem ich auch Ortega zum ersten Mal hörte, ohne ihn jedoch zu sehen geschweige denn jemals zuvor gesehen zu haben. Ich war noch nicht lange an der Fakultät in Madrid, sodass ich noch keine Gelegenheit hatte, mit Ortega, Professor für Metaphysik, dessen Kurs ich im Laufe meiner Promotion besuchen musste, Bekanntschaft zu machen. Unter den Kommilitonen redete man über Zubiri, der sein Studium mit die­ ser Pflichtveranstaltung und der Abgabe seiner Dissertation beenden sollte, wie von einem Wunderknaben. Aber dadurch, dass wir nicht in denselben Kursen saßen, hatte ich auch hier kaum Gelegenheit, ihn kennenzulernen. Plötzlich kursierte in der Fakultät der Aushang eines Vortrages Ortegas zu Don Juan, der in der Residencia de Estudiantes [Studentenwohnheim] stattfinden sollte. Wir Kommilitonen nahmen uns vor, diese Veranstaltung gemeinsam zu besuchen. Für den besag­ ten Nachmittag versammelten wir uns bereits in aller Herrgottsfrühe in der Fakultät. Dorthin kam jetzt auch Zubiri: klein, dünn, mit seiner Soutane, dem Priestermantel und dem Birett, alles ein wenig zu knapp und zu schmal. Dazu ein sehr blasses Gesicht mit Augenrändern und einem scharfen Profil. Wir hatten noch Zeit und beschlossen, den mehrere Kilometer weiten Weg zur Residencia zu Fuß zu laufen. Von dem Fußweg habe ich ein Bild behalten, dass mir seit geraumer Zeit jedes Mal – und das waren wirklich einige Male – immer wieder erschienen ist, wenn ich mich an diese Begebenheiten erinnerte. Ich sehe mich links neben Zubiri die Castellana hinaufgehen. Zubiri ist eng in seinen Priestermantel eingepfercht und hält in seiner einzig freien und beweglichen rechten Hand eine große Rose. Während des Weges hatte Zubiri mir die Phänomenologie erklärt und war dabei

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immer wieder auf das Beispiel der Rose zurückgekommen: das Wesen der Rose, das Noema der Wahrnehmung von der Rose, die Noesis der Wahrnehmung von der Rose … Als wir dann zur Residencia kamen, hatten wir Schwierigkeiten, den Konferenzsaal zu betreten, ja wir konnten weder zu den Türen geschweige denn in den Raum selbst vordringen. Der Vortrag hatte bereits begonnen und jeder Fleck der Residencia um den Saal herum war komplett mit stehenden Zuschauern gefüllt. Man hatte jedoch Türen und Fenster offengelassen, so dass die Stimme Ortegas mit schwankender Deutlichkeit nach außen drang. Sie kam mir damals, glaube ich, ein wenig metallisch stumpf und nasal vor. Als sich die Zuhörerschaft nach dem Vortrag zu zerstreuen begann, gelang es uns endlich, den Raum zu betreten, wo nun auch wir eine längere Zeit vereinzelt herumliefen. Denn viele Leute, darunter auch wir, schafften es nicht, den Saal wieder zu verlassen. Niemand aus der Kleingruppe, von der ich mich im Verlauf der Ereignisse nicht getrennt hatte, konnte sich in dieser Zeit Ortega nähern. Vom Konferenzsaal bis hin zu dem Auto, in dem er abfuhr, war der Philosoph von einer dichten, undurchdringbaren und hartnäckigen Menschenmasse umgeben. Letzten Endes mussten wir uns damit zufriedengeben, ihn nur vage zwischen Köpfen und Schultern zu sehen und zu hören. Für Zubiri schien es, als gäbe es nichts als die Phänomenologie. Seine Dissertation sollte ein Essay über die phänomenologische Theo­ rie der Urteilskraft werden. Er war der Wunderknabe und ein fach­ kundiger Schüler: Neben seiner Graduierung in Rom hatte er sich auch in Belgien und Deutschland aufgehalten. Zweifellos verkörperte für ihn die Phänomenologie Husserls die Philosophie. Deshalb wunderte es mich auch nicht, dass mir zwei oder drei Jahre später [García] Morente und Zubiri, mit Ortegas Segen, einvernehmlich das Thema der Psychologismuskritik vorschlugen. Es schien mir ganz im Gegen­ teil perfekt. Zubiri betrachtete ich seit dem besagten Aufstieg zum Pinar eher als einen Lehrer denn als einen Kollegen. Und als einen solchen empfinde ich ihn auch heute noch. Das Dissertationsthema war ein gegebener Anlass, um in diese Philosophie einzudringen und sie schließlich in der Fülle zu beherrschen, die ihre definitive Bedeut­ samkeit verlangte … Und ach, genauso war es. In seinem Kant sagte Ortega, dass er sich für etwa zehn Jahre in der Gefangenschaft der kantischen Philosophie befunden hatte. Ich war in der Gefangenschaft der Philosophie Husserls, der Philosophie seines Lehrers Brentano und in der des Ideengebers der beiden, [Bernard] Bolzano. Darüber

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hinaus war ich von einigen unmittelbaren Schülern Husserls gefan­ gen, Scheler war sicherlich der größte von ihnen … Diese Gefangen­ schaft reichte vom Jahre 1923, in dem ich das Examen ablegte, über das Jahr 1928, in dem ich mit einer Dissertation zum genannten Thema promovierte und mich um einen Lehrstuhl bewarb, bis zum Jahre 1933, an dessen 6. Januar die Philosophische Fakultät in der Ciudad Universitaria eingeweiht wurde.465 Am nächsten Tag, dem 7. Januar, sollte die erste Stunde Philosophie in der neuen Fakultät gehalten werden – und auch ich unterrichtete an diesem Tag zum ers­ ten Mal als Professor in Madrid. Am Tag zuvor kam ich bereits eine Stunde vor der festgelegten Zeit im Auftrag des damaligen Dekans [García] Morente zur Eröffnungszeremonie, um die ersten Gäste in Empfang zu nehmen. Und obgleich noch kein einziger Studierender erschienen war, tauchte bereits auch Unamuno auf. Wir machten uns daran, einen der Gänge auf und ab zu laufen. Zwischen den Sachen, die er in den roten Faden meines Schweigens, wenig mehr durchbrochen als durch den einen oder anderen Satz, den einen oder anderen Laut oder das ein oder andere einfache Geräusch der Einwilligung, einfädelte, sagte er mir in einem bestimmten Augenblick mit flötenartiger Stimme und sichtbarer Entrüstung: »Über all diese Sachen des Existenzialismus, von denen Sie, die Jüngeren, jetzt so begeistert sind, habe ich bereits weitaus eher und besser etwas gesagt«. – »Das stimmt sehr wohl, Don Miguel [de Unamuno]; glauben Sie bloß nicht, dass wir, die Jüngeren, das nicht wissen oder Ihnen dieses Verdienst nicht zugestehen!« In Wahrheit habe ich jedoch lediglich so geantwortet, um ihm nicht zu widersprechen. Denn das wäre mehr als riskant, furchterregend und nahezu unmöglich gewesen. Und dies umso mehr, wenn ich an jenem Morgen die Erkenntnis und Überzeugung gehabt hätte, die ich jetzt habe – nämlich, dass Don Miguel recht hatte. Zum damaligen Zeitpunkt begannen Husserl, Scheler und Hart­ mann einige Verfinsterungen durch das unklare Funkeln eines neuen Sterns zu erleiden. Noch wusste man nicht genau, inwiefern es sich hierbei um eine schwarze Sonne, einen Mond, einen Planeten oder etwa um einen Kometen handelte. Man wusste auch nicht, inwieweit [Gaos bezieht sich auf die Verlegung der geisteswissenschaftlichen Fakultät der UNAM in die Ciudad Universitaria, welche im Süden von Mexiko-Stadt liegt. Bis 1954 hatte die Fakultät ihren Sitz im alten »Mascarones«-Gebäude im Stadtviertel Santa María la Ribera.]. 465

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diese Finsternis in Raum und Zeit eine vollständige Verfinsterung des Leuchtens der vorherigen Gestirne bedeutete. Zu meiner Dozen­ tenzeit in der Provinz, um 1930, kam ich in der Abenddämmerung während eines Aufenthaltes in Madrid zum Redaktionstreffen der Revista de Occidente. Als ich den Raum betrat, standen diejenigen, die vor mir eingetroffen waren, noch um Ortega herum. Ich näherte mich der Runde. Ich habe von dem damaligen Geschehen noch ein sehr lebhaftes Bild. Als ich zur Runde stieß, richtete sich Ortega zu Jorge Guillén,466 der ihm gegenüberstand. Die ersten Worte, die ich von Ortega hörte, waren »… bei Heidegger gelangt die Philosophie nach Hause«. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich den Namen Heidegger hörte. Erst weitaus später begriff ich, dass Ortega, in Anlehnung an Ciceros berühmte Stelle zu Sokrates, über Heidegger sagte, er habe die Philosophie vom Himmel wieder auf die Erde zurückgeholt, um sie schließlich die Häuser der Menschen betreten zu lassen. Seit jener Nacht ›verstand‹ ich, dass man sich Heidegger »aneignen« musste – und das tat ich auch: mit meinem ersten Exemplar von Sein und Zeit. Fakt ist jedoch, dass ich meine Heidegger-Studien bis zu meinem ersten Jahr als Professor in Madrid nicht ernsthaft aufnahm. Zubiri kam gerade von einem zweijährigen Studienaufenthalt bei Heidegger aus Freiburg zurück. Man munkelte, dass er Heideggers Lieblingsschüler geworden sei und diesen sogar bei seinen Bergsteigerexkursionen im Schwarzwald begleitet habe. Und tatsächlich konnte ich konkrete Nachweise darüber finden – Heidegger schenkte Zubiri zum Beispiel ein Porträt von sich mit einer Widmung. Jedenfalls kam Zubiri sehr begeistert zurück; und zwar nicht nur von, sondern auch mit Heidegger, was nicht genau dasselbe ist. Mein Zubiri der Phänomenologie, dem ich seit der Lehrzeit in Zaragoza und seinen Studien in Freiburg nicht mehr begegnet war, war nun der Zubiri des Existenzialismus. Für ihn verkörperte Heidegger die Wahrheit – nicht mehr der arme Husserl, der so eingeschränkt und manisch daherkam; und auch nicht der dermaßen unberechenbare und verrückte Scheler; sondern dieser, ja, eben dieser Heidegger war für ihn die Wahrheit; denn er war technischer als Husserl, sogar noch tiefgründiger als Scheler und ebenso gefährlich, 466 [Gemeint ist der spanische Dichter Jorge Guillén (1893–1984). Guillén hatte Philosophie und Literatur studiert; sein Ansehen als Spezialist für spanische Litera­ tur ermöglichte es ihm, an den Universitäten von Murcia, Oxford und Sevilla zu unterrichten. Der Bürgerkrieg brachte ihn ins Exil, zunächst nach Kanada, dann in die Vereinigten Staaten.].

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schrecklich und mitreißend wie Nietzsche. Im Unterschied zu all diesen Philosophen war Heidegger nicht nur Kulturkritiker und Kul­ turphilosoph, er war kein Methodiker oder Erkenntnistheoretiker und nicht einmal Metaphysiker ohne ontologische Grundlage, sondern in erster Linie ein Fundamentalontologe, der die auf die Ursprünge der Philosophiegeschichte zurückgehenden Grundlagenkenntnisse besaß, beherrschte und interpretierte. Heidegger kannte die Philoso­ phiegeschichte sogar vollständiger als Nietzsche (mit seinem Wissen über die Vorsokratiker oder was auch immer) und Scheler. Er kannte sie aber vor allem vollständiger als der arme Husserl, der sich lediglich ein bisschen beim englischen Empirismus auskannte. Es gab letzten Endes keine andere Alternative, als sich diese andere Wahrheit wirk­ lich anzueignen. Nur dass diese »Alternativlosigkeit« eben nicht zu einer Art Resignation vor einer undankbaren Aufgabe führte. Ganz im Gegenteil, es ging dabei um ein leibhaftiges Vergnügen an der »Neugier« (avidez de novedades), bis ich diese dann auch in den Schriften Heideggers wiederfand. Ich kam als Vertretungsdozent für die Lehrveranstaltung des soeben verstorbenen Jordán de Urríes467 nach Madrid – auch er war mein Lehrer gewesen. Zudem wartete ich noch auf die für den Herbst angesetzten Auswahlprüfungen für den vakanten Lehrstuhl, welche ich unbedingt so gut wie möglich vorbereiten musste. Dazu galt es zwingend, eine möglichst umfassende Kenntnis von Heidegger zu haben. Erst nach der Zeit der bestandenen Auswahlprüfungen gab es Aussichten auf einen Studienaufenthalt bei Heidegger in Deutsch­ land. Zubiri wurde unter diesen Umständen zur besten Alternative, um die Philosophie Heideggers zu studieren. Ich vereinbarte mit ihm, mich in Eigenarbeit mit Sein und Zeit zu beschäftigen und ihn, wenn nötig, um Rat zu fragen. Wir begannen, uns samstags regelmäßig zu treffen. Zubiri kam kurz nach dem Mittagessen zu mir. Wir ver­ brachten gemeinsam den Nachmittag und redeten ununterbrochen. Kurz vor Abendessen bestand er darauf, dass er sich unbedingt davonmachen müsse. Natürlich blieb er noch bis zum Abendbrot, obgleich er dabei immer wieder beteuerte, nach dem Abendessen unverzüglich aufbrechen zu müssen. Meistens machte er sich aber erst mitten in der Nacht oder sogar am frühen Morgen auf den [José Jordán de Urríes y Azara (1868–1932) war Lehrstuhlinhaber für Ästhetik an der philosophischen Fakultät der Universidad Central Madrid. Er war ein Schüler des Kunstwissenschaftlers Oskar Wulff, schrieb regelmäßig für die Zeitschrift für Ästhetik und verbreitete die deutschen Kunsttheorien an der Zentralen Universität Madrid.]. 467

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Heimweg. Dadurch geriet ich in eine neue Gefangenschaft …: dieses Mal jedoch nicht über zehn, sondern über zwanzig Jahre, von etwa 1933 bis 1953. Zubiris Begeisterung für Heidegger zum Trotz war ich von Heidegger nicht mehr völlig überzeugt, zumindest nicht im Sinne einer absoluten Wahrheit. Es stellte sich für mich mit zunehmendem Nachdruck und wachsender Klarheit eine Frage, die als das Problem der Philosophie bzw. als das Thema meiner Philosophie (falls es zu einer solchen eigenen Philosophie überhaupt jemals kommen sollte) betrachtet werden kann. Von diesem Thema hatte ich bereits in den Jahren meiner ersten Begegnung mit der Philosophie eine erste vage Vorstellung: Was ist eine Philosophie, bei der niemand genau weiß, wonach er sich vom einen zum anderen Tag richten muss? Ich für meinen Teil entschied mich, Heidegger wie alle anderen Gegenwarts­ philosophen auch zu behandeln – es war ohnehin meine Pflicht, diese Denker zu untersuchen und zu lehren. Derweil bemühte ich mich aber auch, das Problem der Philosophie selbst in einer vollständigen »Theorie der Philosophie« zu entfalten. Meine Dilthey-Lektüre führte dazu, dass ich schließlich dessen noch adäquatere Bezeichnung einer »Philosophie der Philosophie« übernehmen sollte. […]

[Teil 2] […] Im eigentlichen Sinne Schüler hatte ich in Zaragoza und in Mexiko. In Mexiko waren es sogar noch mehr als in Madrid. In Madrid pflegte ich zu [Manuel García] Morente, [Xavier] Zubiri und Ortega eine ähnliche Beziehung, wie die, die Morente zu Ortega während meiner Studienzeit hatte. Ich wurde zum Lehrstuhlinhaber für die Einführung in die Philosophie; und zudem der jüngste. Ich selbst war ja ein Schüler dieser Lehrmeister. Meine Schüler wurden deshalb auch nicht wirklich zu meinen Schülern. Sie schlossen sich zunächst voll und ganz Zubiri und Ortega an, da Morente durch seine Tätigkeiten als Dekan daran gehindert war, als Hochschullehrer zu fungieren. Seine Funktion gestaltete sich in den ersten Lebensjahren der Fakultät äußerst aufwendig und heikel. Der Fakultät war im Zuge einer neuen Satzung innerhalb der Universität und der Universitätsstadt Autono­ mie zugesprochen worden. Unsere Fakultät war die erste autonome

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Fakultät, die vor dem Bürgerkrieg innerhalb der Universitätsstadt in Betrieb genommen wurde. Demgegenüber war in Zaragoza der Lehrstuhl für Philosophie in der Fakultät für Geschichte abgeschottet. Und auch die Studierenden, die sich zur Philosophie hingezogen fühlten, hatten keinen anderen Dozenten als nur mich. Es rührte mich daher besonders, als ich kürzlich in einer Ausgabe von Logos, der hiesigen Zeitschrift des Fakultätsrates für Philosophie, einen Bericht aus Spanien las. Dort heißt es, dass Manuel Mindán,468 der, wie man derzeit sagt, der einzige intellektuell bedeutsame Philosophiedozent der Madrider Fakultät sein soll, seinen ehemaligen Professor aus Zaragoza nicht leugne. Mindán war ein junger und ambitionierter Priesterseminarist, der nach anderen philosophischen Horizonten strebte. Er war jedoch dermaßen vielversprechend, dass ich, als ich Zaragoza gen Madrid verlassen musste, der Fakultät vorschlug, Mindán meine Kurse zu überlassen, bis der Lehrstuhl entsprechend besetzt sein würde. In diesen Vorschlag willigte die Fakultät ein. In Mexiko dann hatte ich dank der Großzügigkeit Mexikos eine eigene Schülerschaft, da die mexikanischen Dozenten an dieser Universi­ tät, mit dem unvergesslichen Antonio Caso vorneweg, uns Spanier mit vollkommener Gleichberechtigung aufnahmen. Darüber hinaus gaben sie uns ausnahmsweise die Möglichkeit, Dozenten von Studie­ renden zu sein, die uns als ihren Betreuern nahezu ausschließlich anvertraut wurden, um eine möglichst adäquate Ausbildung durch einen spezifischen Lehrmeister zu gewährleisten. Genau dies war auch der Fall bei Leopoldo Zea und mir. Im ersten Lehrjahr, im Jahre 1939, begann ich damit, den Kurs­ teilnehmern das eigenständige Anfertigen von schriftlichen Arbeiten vorzuschlagen. Nach einer privaten Lektüre stellte ich diese schriftli­ chen Arbeiten im Seminar zur kritischen Diskussion (was für mich nicht heißt, dass ich an diesen Arbeiten ausschließlich negative Kritik übte). Von den Arbeiten, die bereits in der ersten Gruppe abgegeben wurden, fiel mir besonders der von einem gewissen Leopoldo Zea A. unterzeichnete Text auf. Zum damaligen Zeitpunkt wusste ich 468 [Manuel Mindán Manero (1902–2006) war ein spanischer Priester und Philo­ soph. Er begann sein Studium der Geschichte an der Universität von Zaragoza, wo er Lehrveranstaltungen von José Gaos besuchte. Nach der Niederlage der Zweiten Repu­ blik erhielt er Professuren für Philosophie am Instituto de Ávila und am Instituto Ramiro de Maeztu in Madrid. Er war 25 Jahre lang Direktor der Revista de Filosofía des Institutes für Philosophie Luis Vives. Einige von Gaos’ Briefen an Mindán wurden in Gaos (1999): S. 143–163, veröffentlicht.].

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nicht einmal, wer dieser Seminarteilnehmer überhaupt war. Deshalb bat ich ihn in einer Lehrveranstaltung darum, sich zu melden. Von diesem Zeitpunkt an befasste ich mich damit, ihn zu beobachten, und stellte fest, dass er einen ständig müden und schläfrigen Eindruck machte. Ich erkundigte mich über ihn und erfuhr dann von ihm selbst, dass er nachts bei den Nationaltelegraphen arbeitete und darüber hinaus morgens in der juristischen und nachmittags in der philosophischen Fakultät studierte. Mit gutem Grund machte er also diesen müden Eindruck; in diesem Zustand hätte er auf Dauer nicht weitermachen können. In der Zwischenzeit ermutigte mich Daniel Cosío Villegas, Hochschulabsolvent und Leiter der Casa de España in Mexiko, ihm Vorschläge für die Tätigkeiten dieser Institution und ihre noch nicht vollständig definierten Leitlinien zu machen. Ich schlug ihm vor, mit Zea ein Stipendienprogramm einzuleiten, das vielversprechenden Studierenden erlaubte, sich – unter der Leitung des einen oder anderen Professors der Institution – ausschließlich seinem Studium zu widmen. Somit konnte sich Zea, unter meiner Aufsicht, ausschließlich mit Philosophie beschäftigen. Um meiner Betreuung eine möglichst große Wirksamkeit zu verleihen, leistete die Fakultät einen ebenso großzügigen wie effizienten Beitrag, indem sie Zea, mit der Genehmigung des damaligen Dekans Doktor Edu­ ardo García Máynez,469 gestattete, jedes Jahr an sämtlichen meiner Lehrveranstaltungen teilzunehmen, anstatt an denen der anderen Dozenten. Ist es an dieser Stelle wirklich nötig, hinzuzufügen, dass Zea mit seinem Tun zu Genüge bewiesen hat, dass er all das, was die Casa de España und die Fakultät für ihn getan hatten, verdiente …? Ja, es ist nötig, da es durchaus möglich ist, dass die allgemein bekannten Tatsachen nicht so beweiskräftig sind wie diejenigen, die nur ihm, mir und einigen wenigen weiteren Personen – wie bspw. Alfonso Reyes470 und Cosío Villegas – bekannt sind. Denn ihnen sollte ich darüber Bericht erstatten und das tat ich auch herzlich gerne. 469 [Der mexikanische Philosoph Eduardo García Máynez (1908–1993) studierte Rechtswissenschaften an der Escuela Nacional de Jurisprundencia (Nationalen Schule für Jurisprudenz) und Philosophie an der UNAM. Er nutzte die phänomenologische Methode, um eine Axiologie und eine Rechtsphilosophie zu entwickeln, die mehrere Generationen mexikanischer Studenten beeinflusste. Die Bibliothek des Institutes für philosophische Forschungen der UNAM trägt heute seinen Namen.]. 470 [Der berühmte mexikanische Schriftsteller, Essayist und Diplomat Alfonso Reyes (1889–1959) spielte eine sehr wichtige Rolle in der den spanischen Exilanten zuge­ wandten mexikanischen Politik. Sein Konzept der Literatur und seine literarischen

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Für die Anfertigung der Masterarbeit und der Dissertation brauchte Zea mehrere Jahre. Wir trafen uns regelmäßig, d. h. wöchentlich oder halbmonatlich, um die zu verrichtende Arbeit festzulegen und die getane Arbeit zu überprüfen. Zea ist die einzige Person auf der Welt, die ich kenne, die in den zwei Jahren die wöchentlich oder halbmonatlich vereinbarte Arbeit ausnahmslos verrichtet hat. Eine derart erstaunliche (espantoso) Pünktlichkeit (Ihnen ist bestimmt aufgefallen, dass ich das Wort ›erstaunlich‹ hier im klassischsten Sinne gebrauche) hat es mit Sicherheit nicht einmal in Deutschland gegeben, dem Land der Intellektuellen mit der ungeheuerlichsten (espantoso) Ordnung und Disziplin. In Bezug auf die deutschen Intellektuellen können sie das Adverb auch im gegenwärtig vulgären Sinne gebrauchen.471 Wenn Zea ahnte, dass ihn etwas daran hindern könnte, die Arbeit zu verrichten, welche ich ihm vorschlug, gab er mir dies auch zu verstehen. Seine endgültige Aufgabe blieb dabei jedoch niemals unerfüllt. Nach all den Jahren und Nachweisen, die Zea von sich erbracht hat, möchte ich hier gestehen, dass ich seine Pünktlichkeit jetzt nachvollziehen kann, auch wenn dies meiner Bewunderung für sie keinen Abbruch tut. Sie ist eine Demonstration der Willensstärke, die unseren Freund ebenso auszeichnet wie seine scharfsinnige Intelligenz. Für eine Person, die schlauer ist, als ich es bin, wäre diese Demonstration bereits ein Vorzeichen für die Zukunft Zeas gewesen. Lieber Zea, bitte verzeihen Sie mir, dass ich in meinen Geständnissen auch ein wenig von Ihnen gestanden habe! Aber was erwarten Sie! Wer von uns beiden trägt schon die Schuld dafür, dass Sie der größte Erfolg meines Dozentendaseins sind …? Wenn jede Berufung und jeder Beruf durch Werke gerechtfertigt werden muss, und es Sie nicht geben würde, dann hätte ich mir Sie ausdenken müssen. Von den Studierenden, die ich hier in Mexiko unterrichtete, habe ich gerade einmal vier persönlich gefördert. Viele meiner Schüler haben mir die Erlaubnis gegeben, sie gar als meine Anhänger zu bezeichnen, weil sie sich selbst öffentlich als solche ausgeben. Ehrlich gesagt übertreiben sie. Denn manche von ihnen bezeichnen sich als Werke hatten einen tiefgreifenden Einfluss auf Gaos und andere Exilautoren wie Juan David García Bacca und María Zambrano.]. 471 [José Gaos spielt hier mit der Bedeutung des Wortes »espantoso« bzw. »espanto­ samente«. In der klassischen spanischen Sprache kann »espanto« neben »Entsetzen«, »Grauen« und »Schrecken« auch »Erstaunen« bedeuten.].

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meine Anhänger, obwohl sie es in Wirklichkeit gar nicht sind. Aber wie könnte man schon die Anhängerschaft eines Schülers ablehnen, der sich als solchen bezeichnet? Das wäre zweifellos ein Gipfelpunkt der Unhöflichkeit und Undankbarkeit. Andererseits zwingt uns die Gerechtigkeit, diese zuweilen unangenehmste aller anderen etwas unangenehmen Tugenden, dazu, den Ausdruck unseres Gefühls nicht als strengen Begriff zu nehmen. In meiner innigsten Zuneigung kann ich deshalb auch gerne dem Wunsch nach Anhängerschaft eines Manuel Cabrera, eines Justino Fernández, eines Edmundo OʼGorman472 und auch anderen, die Zeas Abschlussjahrgang ange­ hörten, entsprechen. Die Gerechtigkeit verpflichtet mich jedoch dazu, Folgendes zu sagen: Wenn ein Schüler derjenige ist, den man von Anfang an und in entscheidender Hinsicht ausgebildet hat, dann waren zumindest die drei genannten in dem Moment, als sie in ein noch immer anhaltendes Lehrer-Schüler-Verhältnis an mich geraten sind, bereits insofern ausgebildet, als dass sie sich selbst mit einigen philosophischen Werken einen Weg vorzeichneten, den sie später einschlagen wollten und tatsächlich auch eingeschlagen haben. Es handelt sich bei ihnen viel eher um Freunde als um Schüler. Zwei von ihnen verdankt meine eigene Entwicklung in diesem entscheidenden Reifeprozess in Mexiko mindestens genauso viel wie sie behaupten, mir zu schulden. Daran hinderte auch die lange Abwesenheit des dritten Genannten nichts. Schüler im eigentlichen Sinne habe ich auch in den drei anderen Jahrgängen gehabt, d. h. in dem der Historiker, der Mitglieder der Gruppe El Hiperión und der Hegelianer. Sie waren zwar Schüler im eigentlichen Sinne, aber nicht in der Form, wie Zea es war. Denn sie waren gleichermaßen auch die Schüler anderer Hochschullehrer dieser und anderer Universitäten. Da sie aber auch meine Schüler waren, denke ich, dass ich sie auch als solche behandeln kann. 472 [Manuel Cabrera (1913–1997) studierte Jura und Philosophie an der UNAM. Dort besuchte er die Seminare von José Gaos und freundete sich mit Leopoldo Zea an. Sein Interesse für die Phänomenologie Husserls, die Philosophie Heideggers und die Geschichte der Philosophie verdankte er Gaos. Cabrera machte auch eine bedeutende diplomatische Karriere und wurde Botschafter Mexikos in Österreich und in der Bundesrepublik Deutschland. Justino Fernández (1904–1972) war ein bekannter Historiker der mexikanischen Kunst. Die Seminare von José Gaos und Juan David García Bacca vermittelten ihm philosophische Interessen, die er auf seine ästhetischen Ideen anwendete. Edmundo O’Gorman (1906–1995) studierte Philosophie und Geschichte an der UNAM und war ein bekannter Historiker des kolonialen und postkolonialen Amerika und Mexikos.].

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Den ersten dieser drei Jahrgänge bezeichne ich als den »der Historiker«, weil sich die Herausragenden unter ihnen bis dato vorwiegend auf dem Feld der mexikanischen Ideengeschichte aus­ gezeichnet haben. Es ist die Generation derer, die (nach Zea) mei­ ner Bitte um Mitarbeit in Sachen mexikanischer Ideengeschichte nachkamen. Dazu war es nötig, zunächst mit den Dingen anzufan­ gen, deren Durchführung keine Hindernisse bargen. Diese Dinge waren in zweierlei Hinsicht grundlegend: erstens sollte die Mexiko eigene Philosophie auf der Grundlage einer immer vollkommeneren Erkenntnis der ideologischen Geschichte des Landes weiterentwickelt werden, und zweitens verlangte die gegenwärtige Bedeutung der Weltphilosophie (filosofía universal) ein vorteilhaftes Klima für das geschichtliche Verständnis der allgemeinen Kulturerzeugnisse, insbe­ sondere der Philosophie, und die beste, wenn nicht die sogar die einzige Weise, dieses Klima zu fördern, bestand in der Kultivierung der Ideengeschichte. Allen, die sich bei diesem gemeinschaftlichen Werk hervorgetan haben, möchte ich sagen, dass ich sicher bin, dass der ihnen gebührende Anteil an der mexikanischen Kulturgeschichte fortbestehen wird wie die Bausteine eines riesigen Gebäudes. Und die Mitglieder der Gruppe El Hiperión – ach, was für Ben­ gel, Donnerwetter! Jeder von ihnen hat Talent, viel Talent sogar.473 Erstaunlicherweise verfügen alle über eine Art Geistesschärfe und Erfindungsgabe, wenn auch in ganz unterschiedlichen Spielarten. Ich glaube, dass einer von ihnen sogar ein Genie (tiene genio) ist, was ihn jedoch nicht davon abhält, einen schlechten Charakter (mal genio) zu haben. Aber dennoch … nicht alle haben bis dato auf die gleiche Weise gearbeitet; sie haben nicht einmal gleich viel gearbeitet. Darüber hinaus vertreten sie alle politischen Meinungen, die mir Sorgen bereiten … Nicht so sehr um ihrer selbst willen, sondern um des intel­ lektuellen Werkes willen, zu dem diese Autoren in außerordentlicher Art und Weise imstande wären. Man muss ihnen zugestehen, dass ihre politischen Neigungen im Wesentlichen damit zusammenhängen, dass sie das intellektuelle Problem ihrer Generation, das sie mit großer Scharfsinnigkeit (ein weiterer Beweis ihres Talents) als solches erkannt haben, auch als das Thema ihrer Werke betrachten. Durch das Wesen ihres intellektuellen Werkes laufen sie Gefahr, durch eine 473 [Siehe die detaillierte historische und systematische Analyse zur Gruppe El Hiperión in dem Kapitel »El Hiperión: Das Projekt einer Philosophie des Mexikani­ schen« in der Einführung des vorliegenden Buches.].

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vollständige Radikalisierung ihrer politischen Neigungen ihr Werk nicht verwirklichen zu können. Eben deshalb ist diese Gefahr so groß und schwerwiegend, und sie steht unmittelbar bevor. Was könntest Du, allmächtiger Gott, als Einziger, der die Dinge tun kann, von denen wir sagen, dass sie nur ›mit Gottes Hilfe‹ getan werden können, machen, um diesen Jungen das intellektuelle Leben und seinen Ruhm reizvoller zu gestalten als die unreine politische Tat, die Macht, den Reichtum und Glanz …? Du weißt besser als jeder andere, dass sie für Mexiko die größten Möglichkeiten bereithalten. Sie halten die Möglichkeit bereit, dass Mexiko in Zukunft mehr als nur einen großen Philosophen haben wird … Sollte ich besser Teufel beschwören, als Gott anzuflehen? Wie dem auch sei, diese Generation hat insgesamt etwas … wie soll ich sagen … etwas … »divenhaftes« (vedettismo) gehabt. Was diese Generation zu Beginn noch anspornte, konnte ihr auf Dauer zum Verhängnis werden. Diejenigen, die ich Hegelianer474 nannte, weil sie sich selbst überraschenderweise als solche bezeichneten, wählten Hegel als den Klassiker, der für ihre philosophische Erziehung maßgebend werden sollte. Sie haben derart mehr Zukunft als die Mitglieder von El Hiperión, dass es vollkommen unangebracht wäre, etwas über sie zu sagen, solange Bekenntnisse lediglich den Charakter von Memoiren haben. Eben weil es sich hierbei aber nicht um Memoiren handelt, habe ich diese Lektüren auch nicht als Memoiren, sondern als Bekenntnisse bezeichnet. In Bekenntnisse können sogar Erinnerun­ gen an die Zukunft einfließen. Ich werde also nur kurz ein paar Dinge zu den Hegelianern sagen. Dabei handelt es sich um einen Eindruck und um eine Hoffnung. Ich habe den Eindruck, dass die Hegelianer weitaus weniger brillant sind als die Gruppe El Hiperión. Sie besitzen zwar nicht geringere Fähigkeiten, haben aber einen anderen Charakter und schlagen eine ganz andere Richtung ein. Es ist durchaus möglich, dass sie, um besonders originell zu sein, als unvermeidliche Reaktion gegenüber ihren Vorgängergenerationen, freiwillig eine düstere Phi­ losophie betreiben. Aus diesem Grund erwarte ich gerade von ihnen, dass sie es als die Aufgabe ihrer Generation verstehen, in der mexika­ 474 [Es handelt sich dabei um die Teilnehmer an einem Kurs von Gaos zur Logik Hegels. Gaos äußerte frank und frei seine Vorbehalte gegenüber den Begründern des Hiperión und verglich sie eher abwertend mit den Hegelianern. Im Grunde ging es darum, zu demonstrieren, dass die Arbeit seiner Schüler genau jener Geschichtlichkeit unterlag, die er in seiner eigenen Philosophie der Philosophie darlegte.].

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nischen Philosophie nun endgültig jene Phase einzuleiten, in der diese nicht mehr von der Genialität einzelner Personen abhängt, sondern kollektiv gearbeitet wird, sodass endlich Normalität eintritt. Dabei soll sie in einem regelmäßigen Austausch mit der internationalen Philosophie sensu strictissimo stehen. […]

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Text 20 Notizen zu Husserl (1961)

(übersetzt von Guillermo Ferrer) Husserl stellt fest, dass alle historisch relevanten Philosophien wissenschaftliche Philosophien sein wollten. Sie haben dies jedoch nicht erreicht, sie sind keineswegs wissenschaftliche Philosophien.475 Er fragt sich also, warum nicht. Die Antwort kann offenbar nur lauten: Weil sie eben anders als die Wissenschaften sind. Aber welche Wissenschaften sind gemeint? Die Wissenschaften sind ja nicht alle gleich, d. h. im gleichen Maße wissenschaftlich. Gleichen die Philosophien nicht den im höchsten Grade wissenschaftlichen Wis­ senschaften wie z. B. der Mathematik? Warum sollten sie nicht etwa wie die Geisteswissenschaften sein? Worin besteht ihr Unterschied zur Mathematik? Der Unterschied liegt darin, dass die Philosophien, anders als die Mathematik, kein verbindliches corpus im Verlauf der Geschichte ausgebildet haben. Das corpus der Mathematik ist von intersubjektiver Allgemeingültigkeit. Die Philosophien haben hinge­ gen nur eine subjektive Gültigkeit für die jeweiligen Philosophen.476 475 [Gaos stellt hier eine der Ausgangsfragen des Artikels Philosophie als strenge Wissenschaft von Husserl zur Diskussion. Husserl schreibt dort: »Denn mit der schroffen Betonung der Unwissenschaftlichkeit aller bisherigen Philosophie erhebt sich sogleich die Frage, ob die Philosophie noch weiterhin das Ziel, strenge Wissen­ schaft zu sein, festhalten will, ob sie es wollen kann und wollen muß.« Edmund Husserl (1987): Aufsätze und Vorträge (1911–1921). Husserliana Bd. XXV. Hg. von Thomas Nenon und Hans Rainer Sepp. Dordrecht/Boston Lancaster: Martinus Nijhoff, S. 5– 6.]. 476 Man hat bisher die jeweilige Geschichte einer Philosophie und der Wissenschaft weder gesondert noch im Vergleich zueinander ausreichend erforscht. Auf der einen Seite gibt es üblicherweise das Konzept der Geschichte der Philosophie als einer diskontinuierlichen, auf der anderen das der Geschichte der Wissenschaften als einer kontinuierlichen Geschichte. Darüber hinaus gibt es das Konzept der Philosophiege­ schichte als Geschichte sich wiederholender Bewusstseinsarchetypen oder gar eines kollektiven Unbewussten, und das der Wissenschaftsgeschichte als Geschichte eines unablässigen, ja rasenden Sich-Ablösens von Hypothesen, Theorien und Theoremen. Leider gibt es bislang keine befriedigende Theorie, nicht einmal eine vorbereitende

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Husserl legt sich diese Situation wie folgt zurecht: Die Daseins­ berechtigung der Philosophie wäre das individuelle Bedürfnis nach universeller Erkenntnis, die man möglichst bald im Leben erwerben sollte. Das individuelle Bedürfnis nach einer objektiven Erkenntnis oder deren Genuss, auch wenn er bis zuletzt partiell bliebe, wäre dagegen die Daseinsberechtigung der Wissenschaft. Gerade weil die objektive Erkenntnis derart verfasst sei, erweise sie sich als intersubjektiv allgemeingültig (es wäre allerdings noch zu klären, ob diese intersubjektive Allgemeingültigkeit je nach der Wissenschaft verschiedene Grade annimmt) und offensichtlich progressiv. Da die universelle Erkenntnis wiederum voreilig sei, sei sie weder objek­ tiv noch intersubjektiv, sondern lediglich subjektiv. Während der Wissenschaftler die Objektivität der Erkenntnis bevorzuge, bevor­ zuge der Philosoph Universalität und »Frühreife« (tempranía). Wenn der Wissenschaftler eine universelle und unmittelbare bzw. sofortig umfassende Erkenntnis suche, tue er dies außerhalb der Wissenschaft oder er verzichte eben ganz auf sie. Der Philosoph dagegen könne keineswegs auf die Objektivität seiner universellen und voreiligen Erkenntnis, zu der auch ihre Intersubjektivität gehört, verzichten und erhebe daher Anspruch darauf. Gleichwohl täusche er sich immer wieder über den Charakter dieser Objektivität.477 Hieraus zieht Husserl folgende Konsequenz: Man müsse sich abermals darum bemühen, die wissenschaftliche Philosophie letzt­ gültig zu begründen, indem man das beseitigt, was sie bis dato Phänomenologie, für die komplexe Konstitution einer Geschichte der Philosophie bzw. der Wissenschaft, geschweige denn eine Phänomenologie und Theorie der dynamischen Konstitution der Geschichte in ihrer Gesamtheit. Ich übergehe in diesem Urteil übrigens weder Klassiker wie Hegel noch jüngst erschienene Abhandlungen und Essays zu diesem Thema. 477 Husserl hat jedoch Recht, wenn er den philosophischen vom wissenschaftlichen Geist unterscheidet. Im klassischen und unzweideutigen Sinne ist der philosophische Geist jener der religiösen und rationalistischen Menschen, die sich nicht damit begnü­ gen, zu wissen, sondern auch ihren Glauben begründen wollen. Der wissenschaftliche Geist ist entweder jener der religiösen und rationalistischen Menschen, die ihre Religiosität mit Religion und ihren Rationalismus mit Wissenschaft befriedigen, oder jener der offen irreligiösen, freilich auch rationalistischen und szientistischen Menschen. Es gibt eine langsame, komplizierte, aber insgesamt gut erkennbare historische Entwicklung von der Vorherrschaft des religiösen Menschen zu der des rationalistischen Menschen. Zwar ist das Gesetz der drei Stadien ziemlich diffamiert worden und heute in Verruf gekommen, aber es hat doch einen unverrückbar wahren Kern. Es geht um eine geniale Auffassung der Geschichte. Husserl ist dennoch im Unrecht, wenn er versucht, beide Geister zu vereinigen.

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hemmte, und zwar die Bevorzugung der universellen und voreiligen Erkenntnis bzw. der Objektivität.478 Ist dies jedoch nicht eine wider­ sprüchliche und absurde Konsequenz? Wenn Philosophie = universelle Erkenntnis innerhalb des indi­ viduellen Lebens (≠ universelle Erkenntnis innerhalb des Lebens der ganzen Menschheit), dann ist die Ungleichung Philosophie ≠ universelle Erkenntnis innerhalb des individuellen Lebens ein Irr­ tum. Was unzweideutig ist, ist die Ungleichung partielle Erkenntnis innerhalb des individuellen Lebens oder universelle Erkenntnis über das individuelle Leben hinaus innerhalb des Menschheitslebens ≠ Philosophie […]479. Aber universelle Erkenntnis innerhalb des individuellen Lebens ≠ objektive Erkenntnis, da die objektive Erkenntnis = partielle Erkenntnis innerhalb des individuellen Lebens. Universelle Erkenntnis innerhalb des individuellen Lebens = objektive Erkenntnis, ist ein Widerspruch und an sich selbst eine Unmöglichkeit bei Husserl.480 478 [Gaos bezieht sich auf das Streben nach Universalität, das jedem einzelnen System in der Geschichte der Philosophie eigen ist. Gleichwohl sah Husserl gerade in diesem Streben ein Hindernis für den Aufbau einer wissenschaftlichen Philosophie. Eine der Hauptfragen von Philosophie als strenge Wissenschaft bezieht sich auf diese Proble­ matik: »Und was soll uns das ›System‹ bedeuten, das wir ersehnen, das uns als Ideal vorleuchten soll in den Niederungen unserer forschenden Arbeit? Ein philosophisches ›System‹ im traditionellen Sinn, gleichsam eine Minerva, die vollendet und gewappnet aus dem Haupte eines schöpferischen Genies entspringt – um dann in späteren Zeiten neben anderen solchen Minerven im stillen Museum der Geschichte aufbewahrt zu werden? Oder ein philosophisches Lehrsystem, das, nach gewaltigen Vorarbeiten von Generationen, von unten her mit zweifelssicherem Fundament wirklich anfängt und wie jeder tüchtige Bau in die Hohe wachst, indem Baustein um Baustein gemäß lei­ tenden Einsichten als feste Gestalt dem Festen angefügt wird?« Edmund Husserl (1987) (Hua XXV): S. 6.]. 479 Auf dem Wege der Geschichte sind wir dazu gekommen, von der individuellen universellen Erkenntnis Abstand zu nehmen, mit der Hoffnung, zu einer universellen Erkenntnis der Menschheit zu gelangen. Stellen wir uns aber die letzten Männer und Frauen auf der Erde vor, von denen manche Philosophen oder Philosophinnen wären und denen die universelle Erkenntnis noch fehlen würde. Worauf würden sie eine neue Hoffnung setzen? Sie würden von Verzweiflung gepackt! Wenn sie aber keiner solchen Hoffnung lebensnotwendig bedürften […] … Oder umgekehrt: Stimmt es, dass die Wissenschaft nicht dringend ist? 480 Im Verlauf der Geschichte ist man von der Idee einer allgemeinen philosophischwissenschaftlichen Erkenntnis zu einer spezialisierten, generationsübergreifenden, kollektiven Wissenschaft übergegangen. Bei Husserl jedoch ist man bei einer angeb­ lich wissenschaftlichen Philosophie angelangt, welche ein Monster von Widersprü­

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Husserl fand jedoch einen Ausweg, den er in seiner ganzen Philosophie heranzieht: Erkenntnis der Fundamente für alles = universelle, innerhalb des individuellen Lebens erreichbare Erkenntnis. Erkenntnis der Fundamente für alles = partielle, für universelle Objektivität und Intersubjektivität geeignete Erkenntnis. Betrachtet man jedoch den Werdegang Husserls mit Blick auf die ganze Philosophiegeschichte, belegt dies, dass es bisher keine philo­ sophische Erkenntnis der Fundamente für alles gab. Dies führt uns auch zu der Frage nach der möglichen Unmöglichkeit einer solchen Erkenntnis sowie zu der Frage nach dem Grund dieser Unmöglichkeit. Die großen Philosophen, zumindest die meisten, haben sich nämlich weiter nichts vorgenommen, als die Fundamente, die Prinzi­ pien zurückzuverfolgen.481 Die Philosophie strebte nach nicht mehr chen ist: Sie ist zwar nicht universell in dem Sinne, dass sie – ganz wie die Wissenschaft – partiell, kollektiv und generationsbedingt ist, aber sie ist doch universell innerhalb des individuellen Lebens von Husserl in dem Sinne, dass sie die Fundamente für alle Wissenschaften und auch für alle Dinge bereitstellt – möge auch das Letztere lediglich durch sie zustande kommen. Sie ist angeblich objektiv und intersubjektiv zugleich, jedoch faktisch subjektiv. 481 Aristoteles und die aristotelische Schule haben möglicherweise das corpus aristo­ telicum bzw. das Werk von Aristoteles plus der Werke der Mathematiker und sonstigen Wissenschaftler des Lyzeums für die Enzyklopädie der erworbenen universellen Erkenntnis gehalten. Gleichwohl haben sie das Problem der Philosophie lediglich im Rahmen der prima philosophia bzw. der Ersten Philosophie gestellt. Die specula und mittelalterlichen summae sind Enzyklopädien einer Erkenntnis, die man für universell und gelungen hielt. Dennoch wurde das Problem der Philosophie, z. B. in der Summa des Thomas von Aquin, erst durch die anfänglichen und grund­ legenden Beweise der Existenz Gottes aufgeworfen, d. h. durch die sogenannten preambula fidei. Der sechste Teil der Abhandlung über die Methode macht den Eindruck, als habe Descartes folgendermaßen gedacht: Um eine beweiskräftige universelle Erkenntnis zu gewinnen, die in eine Mechanik, Medizin und Moral münden und sowohl das individuelle als auch das kollektive Leben revolutionieren würde, würden jene »Erfah­ rungen« ausreichen, die er für den Rest seines Lebens machen könnte – sofern die anderen ihm dazu helfen würden, solche Erfahrungen zu machen, wie er sich sie vorstellte. Die Prinzipien sind die Darstellung einer Erkenntnis, die er für universell und gut gelungen hielt. Das Problem der Philosophie wird erst im ersten Teil der Prinzipien gestellt, also im Teil der Prinzipien der Prinzipien bzw. der ersten Prinzipien. Nach Descartes sind diese Prinzipien nach wie vor Prinzipien, auch wenn sie hier zwar bereits der »menschlichen Erkenntnis« oder der »Erkenntnisordnung« zugehören, aber noch nicht der Seinsordnung. Der Fall von Descartes stellt vornehmlich ein historisches Konzept der Wissenschaft dar, das in der postcartesianischen Geschichte und auch heute keine Gültigkeit

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als danach, die Wissenschaft der ersten Prinzipien zu werden bzw. sie ist tatsächlich niemals mehr als das gewesen. Dennoch ist es gerade sie, die bis dato keine objektive und intersubjektive Wissenschaft gewesen ist. Gerade die Prinzipien, die Fundamente, sind zur Objek­ tivität und universellen Intersubjektivität unfähig. Sie sind nur zur Subjektivität fähig. Husserl selbst nahm eine letzte Fundierung der philosophischen Wissenschaft in Angriff, indem er die angebliche Wissenschaft der Fundamente jeglicher wissenschaftlichen Erkenntnis bzw. Erkennt­ nis über jede Wissenschaft, und zwar die Phänomenologie, betrieb. Gleichwohl weiß man heute, was daraus geworden ist: Die Phänome­ nologie ist letztlich nur eine Philosophie unter anderen. Die nachfol­ genden Philosophien waren ebenso wenig wissenschaftlich wie die denkbar unwissenschaftlichsten Philosophien. Eine von ihnen hat sogar zugegeben, dass sie weder wissenschaftlich sein könne noch wolle. Es wird nun aufschlussreich, klarzustellen, weshalb die Phäno­ menologie lediglich eine Philosophie unter anderen geblieben ist. Sie ist zunächst eine angebliche Wissenschaft der Wesenheiten und des reinen Bewusstseins. mehr hat. Denn dieses Konzept hielt nicht nur die Philosophie, sondern auch die Wissenschaft für eine universelle Erkenntnis innerhalb des individuellen Lebens. Es handelt sich hierbei jedoch um eine Vermengung von Philosophie und Wissenschaft, wodurch die Philosophie das für sich in Anspruch nimmt, was allein die Wissenschaft verlangen durfte, wie die spätere historische Unterscheidung zwischen beiden aufzeigt – wobei es nicht bedeutet, dass die Philosophie das Problem der Philosophie nicht mehr angehen darf. Newton bezeichnete noch als »Naturphilosophie«, was für uns heute reine physikali­ sche Wissenschaft ist. Die kritische Philosophie Kants befasst sich mit den Prinzipien bzw. Fundamenten der Mathematik, der Physik, der Moral, der Ästhetik und der Teleologie. Insofern ist diese Kritik eine Philosophie der Prinzipien, eine an sich selbst fundamentale Wissenschaft. Dadurch dachte Kant, dass er letztlich eine Metaphysik begründet hätte, die sich selbst rechtens als Wissenschaft verstehen durfte. Was Kant als Metaphysik ausarbeitete, lässt sich jedoch in Bezug auf die frühere und spätere Geschichte nur in einem äquivoken Sinne als Metaphysik bezeichnen. Es handelt sich dabei eher um eine Philosophie der Physik. Und die kritische Philosophie insgesamt teilte das gleiche Schicksal wie die vor- und postkritischen Philosophien. Nehmen wir nämlich an, dass Hegel seine Enzyklopädie der Wissenschaften für eine philosophische Wissenschaft hielt, jedoch nicht in dem Sinne, dass sie eine nicht philosophische Wissenschaft ausschließen würde, sondern so, dass sie die ganze und einzig wahre philosophische Wissenschaft wäre. In diesem Fall würde sein ganzes Werk das Problem der Philosophie aufwerfen, aber nur, weil es als ein von A bis Z philosophisches Werk bezeichnet wäre.

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Husserl selbst macht jedoch einen Unterschied zwischen den mathematischen und den morphologischen Wesenheiten.482 Die mathematischen Wesenheiten bilden das Objekt der archetypischen Wissenschaften. Welche Wissenschaft hat aber die morphologischen Wesenheiten zum Gegenstand?483 Das Problem besteht genau darin, dass alle Wesenheiten des reinen Bewusstseins morphologisch sind. Das reine Bewusstsein ist eo ipso idealistisch-subjektiv, wie es erneut der Fall Husserls, nach wie vor der Fall Kants (und der Fall Descartes) bestätigen. Husserl hat offenbar prinzipiell Verwirrung gestiftet, was zu einer ziemlichen Katastrophe führte. Er meinte, eine Wissenschaft der Grundlagen für jede wissenschaftliche Erkenntnis begründet zu haben. Stattdessen hat er eine angebliche Wissenschaft der Wesenhei­ ten und des reinen Bewusstseins betrieben. Es handelt sich hierbei um eine der voreiligsten, am meisten apriorischen und am wenigsten wissenschaftlichen Ideen der ganzen Philosophiegeschichte, obwohl oder gerade weil sie sich von dieser Geschichte von Plato bis Kant inspirieren ließ.484 Für Husserl, genauso wie für jeden anderen Philo­ 482 [»Die vollkommenste Geometrie und ihre vollkommenste praktische Beherr­ schung kann dem deskriptiven Naturforscher nicht dazu verhelfen, gerade das zum Ausdruck zu bringen (in exakt geometrischen Begriffen), was er in so schlichter, ver­ ständlicher, völlig angemessener Weise mit den Worten: gezackt, gekerbt, linsenför­ mig, doldenförmig u. dgl. ausdrückt – lauter Begriffe, die wesentlich und nicht zufällig inexakt und daher auch unmathematisch sind […]. Exakte Begriffe haben ihre Korre­ late in Wesen, die den Charakter von ›Ideen‹ im Kantischen Sinne haben. Diesen Ideen oder Idealwesen stehen gegenüber die morphologischen Wesen, als Korrelate der deskriptiven Wesen«. Edmund Husserl (1976) (Hua III/1): S. 155.]. 483 Die Phänomenologie ist eine unbegründete Verallgemeinerung der Philosophie der Mathematik, welche sich in die augustinisch-cartesianische Idee der neuen Begründung der Gewissheit ab initio, also einer nicht objektiven, sondern subjektiven Evidenz, einmischt. 484 Bereits in meinen ersten Vorträgen in Mexiko, die in Dos ideas de la filosofía [Zwei Ideen der Philosophie] gesammelt wurden und später im Vorwort zur spanischen Übersetzung der Meditaciones Cartesianas [Cartesianische Meditationen] sowie in Artikeln zu diesem Werk (die in Filosofía de la filosofía [Philosophie der Philosophie] erschienen), habe ich die Phänomenologie als eine Synthesis von antiker und moder­ ner Philosophie, Philosophie der Wesenheiten und Philosophie der Wirklichkeiten, platonischem Idealismus bzw. Realismus der Ideen oder Universalien und cartesia­ nisch-kantianischem, empirisch-transzendentalem Idealismus des Bewusstseins dar­ gestellt. Insoweit die Ontologie und sogar die Kritik zu der klassischen Metaphysik gehören, ist auch die Phänomenologie eine Metaphysik. Deswegen ist die Theologie der einzige Teil der klassischen Metaphysik, der in die Phänomenologie nicht hinein­ passt. Husserl beeilt sich nämlich, Gott in Klammern zu setzen, aber danach kümmert

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sophen, war seine universelle Wissenschaft dringend, weil es um die Grundlagen für die Wissenschaft geht. Wissenschaftlich wäre es anscheinend gewesen, von den Wis­ senschaften auszugehen, sie bis auf den Grund zu analysieren, um ihre Grundlagen objektiv zu erfassen – sofern man nicht entdeckt, dass weder alle Wissenschaften dieselben Grundlagen haben noch es überhaupt gemeinsame Fundamente geben kann. Man kann eine solche Möglichkeit nicht a priori ausschließen, es sei denn, man ruft ein dem Monismus entspringendes Vorurteil hervor, das dann nichts anderes als ein grundloses Vorurteil sein könnte. Es wäre auch angebracht, von den Wissenschaften auszugehen, um objektiv herauszufinden, was ihnen, von den mathematischen Wissenschaften bis hin zu den Geisteswissenschaften, Objektivität und im absteigen­ denden Grade Intersubjektivität verleiht. Und vielleicht würde die Philosophiegeschichte reichen, um zu erkennen, dass keine morpho­ logischen Wesenheiten, geschweige denn das reine Bewusstsein, je eine solche Objektivität und Intersubjektivität konstituieren können. Dieser Grundfehler Husserls liegt an etwas, dessen Bedeutsamkeit die Kritik an der Philosophie als strenge Wissenschaft anscheinend übersehen hat. […] Kant ist ein weitaus wissenschaftlicherer Philosoph als Husserl. Er lässt nämlich die Kritik auf den für die Wissenschaften und die Metaphysik charakteristischen Urteilen beruhen. Sollte die Kritik der reinen Vernunft Weltanschauung sein, so wäre auch eine Philosophie – wir dürfen nicht mehr Wissenschaft sagen – der Wesenheiten (und) des reinen Bewusstseins Weltanschauung. Das heißt: Wenn Kant lediglich ein Philosoph war, so war auch Husserl in gleichem Maße ein Philosoph – dies sei im Hinblick auf seine prädikativen (nicht vorprädikativen) Analysen zu Lasten Husserls gesagt. Husserl wollte die Wissenschaft der Fundamente für alle Wis­ senschaften stiften, jedoch leistete er nichts mehr, als eine weitere Philosophie der Prinzipien aller Dinge vorzulegen. Seine Wesenheiten er sich nicht mehr um ihn. Seine Weltanschauung ist die des typisch neuzeitlichen Indifferentismus. [Siehe José Gaos (2003): Obras completas III – Ideas de la filosofía (1938–1950). Hg. von Antonio Zirión Quijano. Mit einem Vorwort von Abelardo Villegas. Mexiko: UNAM, S. 45–125; José Gaos (1987): Obras completas VII – Filosofía de la filosofía e historia de la filosofía. Hg. von Fernando Salmerón. Mit einem Vorwort von Raúl Cardiel Reyes. Mexiko: UNAM, S. 285–300.]

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und sein reines Bewusstsein sind so wenig Prinzipien aller Dinge und gewissermaßen Helferinnen aller Wissenschaften wie die plato­ nischen Ideen oder das allgemeine Bewusstsein Kants.485 Die Grundlagen für die Wissenschaften müssen aus den Wis­ senschaften selbst hervorgehen, genauso wie die Dinge aus den Dingen. Aber Husserl ließ seine Fundamente für die Wissenschaft zweifellos nicht aus den Wissenschaften selbst hervorgehen. Wenn er der Mathematik die Idee entlehnte, dass mathematische Wesenhei­ ten ihre Grundlagen sind, so verallgemeinerte er diese Idee jedoch bis hin zu den morphologischen Wesenheiten und zu den anderen Wissenschaften, ohne eine von diesem Vorurteil befreite oder min­ destens zureichende Analyse diesbezüglich durchgeführt zu haben. Wahrscheinlich und trotz der Devise »Zurück zu den Sachen selbst« hat Husserl seine Grundlagen, d. h. die Wesenheiten und das reine Bewusstsein, nicht aus den Sachen selbst herausbekommen. Denn im Rückblick auf die Philosophiegeschichte, deren Lektion der hoch­ mütig antihistoristische und unwissenschaftliche Philosoph Husserl nicht lernen wollte, betrifft ihn die Frage, ob es möglich ist, aus den Sachen Grundlagen herauszuholen, die ihre objektiven Grundlagen, aber zugleich allgemeingültig und intersubjektiv wären. Eins führt zum anderem: Wie wäre es, wenn die Sachen gleichermaßen objektiv und intersubjektiv wären? Wie wäre es, wenn es Sachen gäbe, die von sich aus, an sich und durch sich, lediglich subjektiv wären? Wie wäre es, wenn aus diesen bloß subjektiven Sachen die Grundlagen bzw. Prinzipien der Philosophie entspringen würden oder sie gerade solche Prinzipien wären? Als ob es ein und dasselbe wäre, Totalität und Subjektivität bzw. innerhalb des individuellen Lebens zu denken.486 485 Hinter dem Motto, »sich an alle Wissenschaften zu halten«, verbarg sich immer die verschlagene Ambition, durch die Wissenschaften alle Dinge als eigene Gegen­ stände gewinnen zu können. 486 Man hat zu Recht bemerkt, dass sich die »historische Geschichte« des Menschen, im Vergleich zu seiner Naturgeschichte, als eine Gleichzeitigkeit von kollektiven und individuellen Diskrepanzen erweist, die nicht verschwinden. Sie folgen nicht aufein­ ander, sondern erscheinen gleichzeitig. Diese Bemerkung ist der Grund, weshalb ich schon seit vielen Jahren meine Ideen über die Subjektivität der Philosophien auf den Begriff bringe, wie man es in meinen Veröffentlichungen feststellen kann. Es handelt sich hierbei nicht um Historizismus, sondern um Personalismus. Das Entscheidende für mich ist die nicht reduzierbare Individualität der Subjekte. Ihre Sukzession oder Gleichzeitigkeit ist für mich eine sekundäre Sache. Ich habe eine – radikale – Sensibilität für die Individualität, die in ihrem tiefsten Inneren einsam ist. Diese Sensibilität hat mich dazu veranlasst, den Begriff der geschichtlichen Einsamkeit

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Text 20 Notizen zu Husserl (1961)

Jedenfalls scheint nun Folgendes infrage kommen zu müssen: Die mögliche Unmöglichkeit einer objektiven, intersubjektiven und universellen Wissenschaft, d. h. – mindestens innerhalb des Lebens der Menschheit – einer Wissenschaft der Grundlagen oder Prinzipien von allem. Sollte es sich aber dennoch herausstellen, dass es eine solche Wissenschaft gibt, würde die Frage nach ihrer Daseinsbe­ rechtigung entstehen.487

des Individuums in seinem Zeitalter zu bilden. Dieser Begriff kongruiert mit dem oben genannten Personalismus. 487 Man muss noch deutlicher zwischen Weltanschauung und wissenschaftlicher Philosophie unterscheiden. Zunächst muss man die philosophischen Disziplinen voneinander unterscheiden. Bei den meisten von ihnen muss man, so wie sie heutzutage konstituiert sind, weitere Unterscheidungen vornehmen: Die Logik ist eine exakte Wissenschaft. Die Erkenntnistheorie, die Ontologie, teilweise die Philosophie der Natur und der Wissenschaften, könnten exakte Wissenschaften werden. Die Anthropologie, teil­ weise die Philosophie der Religion, die Ethik, die Philosophie des Rechtes und die Ästhetik könnten reine Geisteswissenschaften werden. Eine Unterscheidung zwischen Soziologie und Sozialphilosophie scheint mir immer noch haarspalterisch zu sein. Andererseits könnten die Erkenntnistheorie, die Ontologie, die Philosophie der Natur, die Anthropologie, die Philosophie der Religion sowie die Theologie eigentlich zu keinerlei Wissenschaften werden. Die anderen Teile dieser Disziplinen, mitsamt der Theologie, würden den Hauptbe­ standteil der Metaphysik ausmachen. Diese zeichnet sich durch drei Merkmale aus: Die Totalität des Gegenstandes: Das Existierende. Das Meta-Empirische seitens des Gegenstandes. Die partiell negative Konzeptualisierung. Wenn man die Philosophie schon auf diese Weise klassifiziert hat, sollte man noch weitere Unterscheidungen machen: Weltanschauung als irrationale und unwissenschaftliche Weltanschauung, Weltidee bzw. irrationales und unwissenschaftliches Weltbild (gerade deshalb sage ich weder Begriff noch Konzeptualisierung), wie sie, mehr oder weniger entwickelt, in allen Kulturen und bei allen Menschen auftreten. Weltanschauung als Weltbegriff, der sich auf rationale und wissenschaftliche Metho­ den stützt, welche jedoch fälschlicherweise auf nicht dazu passende Gegenstände angewandt werden. Es handelt sich hierbei um die klassische Metaphysik, die pseudo­ wissenschaftliche Philosophie. (Pseudo)wissenschaftliche Philosophie: Die wissenschaftlich-philosophischen Dis­ ziplinen, die sich als Philosophie von den Wissenschaften nur schwer wirklich unterscheiden lassen – vorausgesetzt, dass sie sich von den Wissenschaften unter­ scheiden, sei es aufgrund ihrer größeren Allgemeinheit, sei es kraft eines höheren Reflexionsvermögens. In diesem Fall wäre ihre Bezeichnung als Philosophie statt als

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Text 20 Notizen zu Husserl (1961)

Die heutige »wissenschaftliche Philosophie« entspringt anschei­ nend der Analyse der wissenschaftlichen Theoreme und Philoso­ pheme selbst. Es handelt sich dabei zweifellos um die richtige Methode. Aber damit betreibt man offenbar eine Philosophie der Wissenschaften und der Philosophie, die keineswegs die klassische metaphysische Philosophie ist, sondern ihre Verurteilung. (Anuario de Filosofía, Facultad de Filosofía y Letras, Año I, México, 1961; S. 143–150).488

bestimmte Wissenschaft neben den exakten Wissenschaften oder anderen eine bloß verbale Unterscheidung. Verschiedene Wissenschaften, von den exakten Wissenschaften bis hin zu den Geis­ teswissenschaften. Man sollte auch hier weitere Unterscheidungen vornehmen – und bestimmt nicht weniger als jene, die man bei den philosophischen Disziplinen vor­ nimmt. 488 [Wir haben den bibliographischen Hinweis auf die Erstveröffentlichung der »Notizen zu Husserl« so gelassen, wie er am Ende des Textes in dem zitierten Band der Obras Completas von Gaos erscheint. Es handelt sich um die Zeitschrift Anuario de Filosofía, welche 1955 von verschiedenen Intellektuellen der geisteswissen­ schaftlichen Fakultät der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko (UNAM) gegründet wurde.].

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Text 21 Husserls Lebenswelt (1963)

(Übersetzt von Niklas Schmich)

Guillermo

Ferrer

in

Zusammenarbeit

mit

[…] Unter »Lebenswelt« – oder auf Spanisch el mundo de la vida corriente – versteht man zunächst eine Voraussetzung der Wissen­ schaften, die von ihnen jedoch nicht thematisiert wird, weshalb sich eine vollständige Begründung der Wissenschaften die Lebenswelt zum Gegenstand machen muss. Dennoch geht es dabei letzten Endes um die Lebenswelt als bloßes Korrelat einer transzendentalen Sub­ jektivität, deren Analyse sich Husserl zur Aufgabe macht, um eine bestmögliche Erklärung für die bzw. ein bestmögliches Verständnis von der Sache zu erlangen. Wenn wir ihm diese Absicht zugestehen, dann beschränkt sich die Fragestellung allein darauf, ob die Analyse einer solchen Subjektivität – nämlich der Begriff der transzendentalen Subjektivität, deren Korrelat die Lebenswelt ist – wirklich in der Lage ist, zu jener allgemeingültigen und grundlegenden Erklärung oder Einsicht zu gelangen, welche die Philosophie traditionsgemäß anstrebt. Es stellt sich weiterhin die Frage, ob der Begriff der trans­ zendentalen Subjektivität nichts weiter als die letzte – und zudem programmatische – Form von Husserls Idee einer phänomenologi­ schen Philosophie ist. Aus diesen Gründen müssen die folgenden Ausführungen eine Kritik an der Phänomenologie bzw. der Philoso­ phie Husserls im Allgemeinen formulieren. Die transzendentale Subjektivität ist das Korrelat der transzen­ dentalen epoché, insofern die epoché darin besteht, dass die Subjekti­ vität mit ihren objektiven Korrelaten »sich selbst objektiviert«, ohne dass sie diese Korrelate als real und möglich, sondern lediglich als ihre Gegenstände, oder als ihre bloßen »Phänomene«, objektiviert. Man müsste die Selbstobjektivierung der transzendentalen Subjektivität also in Anführungszeichen setzen, um sie mit Husserl von der Objek­ tivierung, welche die Wissenschaften betreiben, zu unterscheiden.

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Text 21 Husserls Lebenswelt (1963)

Es handelt sich somit um eine subjektive Objektivierungstätigkeit, die sich von der Objektivierung der objektiv realen, möglichen usw. Korrelate unterscheidet. Oder noch anders gesagt: Sie besteht in einer Reflexion auf die Objektivierung dieser Korrelate als real, möglich usw., ohne dass diese Reflexion ihrerseits objektiviert wird. Sie wird lediglich vollzogen oder ausgeübt, weswegen auch das ›sich‹ der Selbstobjektivierung keine strenge Identität konnotiert. Im Text Hus­ serls489 wird diese Tätigkeit letztlich nicht als die einzige in Betracht gezogen, die unfehlbar ist oder zum Gegenstand einer apodiktischen Gewissheit der absoluten Wahrheit werden kann. Das Gegenteil wäre hinsichtlich der »Begründungsabsichten« der Phänomenologie zwar konsequenter, jedoch ist solch eine Tätigkeit die einzige, welche letzterklärenden Charakter hat und ein grundlegendes Verständnis ermöglicht, sofern es keine andere echte Erklärung und Verstehens­ weise als eine universale und radikale Erklärung und Verstehensweise gibt. Die Erklärung oder das Verstehen würden also in der Reduktion oder im Bezug des Phänomens auf die Subjektivität – oder in der Darstellung des Verhältnisses zwischen beiden, als Konstitution des Phänomens durch die Konstitution der Subjektivität – bestehen. Wenn dies zutrifft, dann weist dieses Verhältnis eine Dimension auf, die sich mit der Dimension der von der Subjektivität geleisteten Objektivierung der Gegenstände, als reale und mögliche usw. oder als bloße Phänomene, überschneidet. Die Konstitution der Gegenstände durch die Subjektivität bedeutete keineswegs eine Objektivierung der Subjektivität in der epoché, denn diese epoché würde einzig und allein einen apodiktischen Nachweis leisten. Zum Zwecke der Erklärung oder des Verstehens würden die Analyse und die Darstellung der Konstitution der Subjektivität und der Gegenstände, die durch die Subjektivität selbst konstituiert werden, ausreichen; und zwar sowohl ohne als auch mit der epoché. Die Psychologie könnte dasselbe wie die Phänomenologie leisten; wenn nicht hinsichtlich der Gewissheit, so doch in Bezug auf die Erklärung oder das Verstehen, insofern beide, die Psychologie und die Phänomenologie, sich nicht aufgrund ihrer jeweiligen Gegenstände, sondern nur durch den Vollzug oder das Unterlassen der epoché voneinander unterscheiden. Es ist jedenfalls kein Zufall, dass Husserl sich in der Krisis erst mit dem Thema 489 [Gemeint ist das Krisis-Buch Edmund Husserls. Siehe ders. (1976): Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Husserliana Bd. VI. Hg. von Walter Biemel. Den Haag: Martinus Nijhoff.].

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der Psychologie befasst, nachdem er sich mit der Lebenswelt beschäf­ tigt hat. Das Gesagte vermittelt zwar den Eindruck einer Trennung zwi­ schen Gewissheit und Erklärung bzw. Verstehen, die aller Voraussicht nach haltlos ist … Dennoch wird im Text diese Trennung anscheinend vollzogen, ohne sich ihre Konsequenzen und Implikationen klarzu­ machen. Die Erklärung der Gegenstände durch die Subjektivität, welche diese Gegenstände als objektive Korrelate hat, wäre der Inbegriff der Gattung »Transzendentalphilosophie«. Ihre Aufgabe bestünde in dem Darstellen der Bedingungen der Möglichkeit für ein Existierendes und des Existierenden überhaupt, als Gegebenheiten in einem Subjekt. Eine solche Erklärung bzw. Philosophie zieht folglich Ergebnisse nach sich, deren Wert im Einzelnen sehr unterschiedlich ist. Beispielhaft in dieser Hinsicht wäre die Erklärung der apriori­ schen, objektiven Wahrheit der künftigen und intersubjektiv allge­ meingültigen Erfahrung sowie die der geometrischen Sätze. Denn der Raum ist eine die Empfindungen gestaltende Form der physischen Phänomene und dadurch, dass er Bestandteil des erkennenden Sub­ jektes ist, auch ein Bestandteil der physischen Phänomene. Diese Erklärung trifft insofern zu, als dass sie auf Erkenntnissen beruht, die vor Kant noch unbekannt waren, auch wenn dieser die Lebenswelt für den Geometriker als selbstverständlich erachtet, ohne dies überhaupt zu merken, geschweige denn zu erklären. Bekanntlich erklärt Heidegger sowohl die Sorge um das Zeug als auch die Sorge um die Seienden, deren Seinsweise das Dasein ist, durch die Zeitekstasen. Heidegger merkte selbst an, dass eine solche Erklärung banal und trivial erscheine. Hätte er die Ontologie vom sterblichen Dasein aus entwickelt, das sich von seiner Geburt bis zu seinem Tode geschichtlich gestaltet, wäre dies allerdings ganz anders gewesen. Es stellt sich weiterhin die Frage, ob die Erklärung des wahrge­ nommenen Gegenstandes (percepto) durch einen konstituierenden Wahrnehmungsakt nicht Gefahr läuft, eine pseudoerklärende Tauto­ logie und eine unnötige Vermehrung von Seiendem zu sein, bei denen es sich folglich nur um Worte handelte wie bei der sogenannten virtus dormitiva. Diese Beispiele reichen vielleicht schon aus, um anzudeuten, inwiefern die transzendentale Philosophie, ebenso wie die antike Philosophie der Formen und verborgenen Qualitäten, manchmal als

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Text 21 Husserls Lebenswelt (1963)

Rückschritt zu banalen, trivialen und tautologischen Grundlagen oder Bedingungen auftreten kann. Im Gegensatz dazu richtet sich der progressive Schritt (marcha progresiva) hin zu einer Entdeckung von latissimo sensu unbekannten Tatsachen sowohl der Wissenschaften als auch andernfalls der Transzendentalphilosophie. Es stellt sich also die Frage nach einem Kriterium, mit dem wir einen Fort- und Rückschritt sowie die jeweiligen Gruppen von Transzendentalphi­ losophie voneinander unterscheiden können. Wir müssten dieses Kriterium dann auf die Husserl’sche Erklärung des Phänomens und der Lebenswelt durch die transzendentale Subjektivität, d. h. kurzum, auf die Phänomenologie Husserls im Allgemeinen anwenden. Wäre der rückläufige Schritt ein verkrampftes Beharren auf die epoché, während der progressive hingegen eine Analyse des Phänomens wäre, welche dieses auf Empfindungen der Wahrnehmung und der Einbildungskraft sowie auf durch Begriffe aufgefasste Gefühlsregun­ gen (emociones) und Bewegungen (mociones) reduzieren würde?490 Würde sich die Intentionalität in dieser Analyse ihrerseits auf jene Apperzeption reduzieren? Würden sich die intentionalen Akte im Unterschied zu diesen Elementen, d. h. den Empfindungen, Gefühls­ regungen und Bewegungen, auflösen, um so das Existierende mitsamt seinen Subjekten und für jedes für sich selbst seiende Subjekt wieder instand zu setzen? Husserl hat, zumindest seit den Ideen, diese Phänomene und Tatsachen vollkommen erkannt und auf sie hingewiesen: Die einzel­ nen Subjekte begreifen sich anfänglich als Teile (miembros) der Welt und des Existierenden; jedes einzelne Subjekt kann sich jederzeit als Subjekt begreifen, welches die Welt und das Existierende erkennt, wobei sich die Frage stellt, wie ein und dasselbe Subjekt ein Teil seines Gegenstandes sein kann. Die Husserl’sche Lösung würde lauten, dass es sich nicht um dasselbe Subjekt handele, wenn es sich einerseits als Teil seines Gegenstandes und andererseits als dessen Subjekt auffasst. Im ersten Fall ginge es um ein einzelnes Subjekt, welches ein Teil des Existierenden wäre; im zweiten ginge es um ein absolut einziges Subjekt, welches kein Teil des Existierenden wäre, sondern für das alles Existierende Gegenstand oder von dem alles, im Sinne eines durch das Subjekt Konstituierten, wäre. 490 [Gaos hat seinerseits versucht, diese progressive Analyse im Rahmen seiner phi­ losophischen Anthropologie durchzuführen. Siehe José Gaos (1992): Obras completas XIII – Del hombre. Curso de 1965. Hg. und mit einem Vorwort von Fernando Salmerón. Mexiko: UNAM.].

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Text 21 Husserls Lebenswelt (1963)

Aber diese Lösung scheint vielmehr eine Wiederholung des Problems zu sein, die tatsächlich in dem Unterschied und Verhältnis solcher Subjekte bestehen würde. Das Problem erschwert sich durch den Einschub der transzen­ dentalen Intersubjektivität zwischen den einzelnen Subjekten und dem einzigen transzendentalen Subjekt. Denn wenn man von jenen zu diesem übergeht, gelingt es nicht, vom Solipsismus des transzen­ dentalen Subjektes zu irgendeiner Intersubjektivität zu gelangen. Geht man jedoch von der in der Lebenswelt oder gar der in der transzendentalen und für sich bestehenden Subjektivität gegebenen Intersubjektivität aus, erweist sich dieser Schritt als unnötig. Hier kann man jedoch von dieser Erschwerung der Sache absehen, da sie in Bezug auf das Problem des Verhältnisses zwischen den einzelnen Subjekten und dem einzigen transzendentalen Subjekt nebensächlich ist und auch zu keiner besseren Lösung des Problems führt.491 Keine Kritik irgendeines Konzeptes ist erschöpfend, wenn sie nicht seine genetische Erklärung enthält oder diese zumindest andeu­ tet. Diese Erklärung sollte das Konzept nachvollziehbar machen oder dessen Verständnis aus den Gründen oder Ursachen, die es herbeigeführt haben, anzeigen. Es stellt sich nun also die Frage: Was wäre, wenn die Dualität zwischen dem naiven Realismus und dem transzendentalen Idealismus der Ausdruck einer Antinomie wäre? Würde es sich um eine Dualität von Konzeptionen handeln, denen man jeweils Wahrheit oder korrelativ auch Falschheit zuschreiben könnte? Bestünde die einzige Möglichkeit dann darin, sich aus irratio­ nalen Gründen für die eine und nicht für die andere zu entscheiden? Und was wäre, wenn sich Husserl aus irgendwelchen irrationalen Gründen für den transzendentalen Idealismus entschieden hätte …? Die Lebenswelt ist … alles: Zunächst enthält sie sogar das, was sie als transzendentale Subjektivität schließlich objektivieren wird. Dadurch kommt das Problem, zu dem die früheren Überlegungen führten, überhaupt erst zustande. Die Lebenswelt ist also, ohne weite­ res und ohne die Möglichkeit eines Weiteren, das Konkrete. Was »das Phänomen« betrifft, welches für die transzendentale Subjektivität besteht, so lässt sich sagen, dass es kein »reeller« Teil derselben, An dieser Stelle muss man auch von einer anderen Erschwerung des Sachverhaltes absehen, und zwar von der Geschichtlichkeit der Lebenswelt und dem dadurch entstehenden Problem, vor das uns die Geschichtlichkeit jeder Philosophie, welche die Geschichtlichkeit der Lebenswelt erklärt, stellt […].

491

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Text 21 Husserls Lebenswelt (1963)

sondern mit ihr Teil eines Ganzen ist, das Ganze aus beidem, dem Phänomen und der transzendentalen Subjektivität selbst, besteht. Es handelt sich dabei um einen Aspekt desselben Problems, der die Gestalt einer Schwierigkeit des Überblicks über ein und dasselbe Ganze aus zweierlei Perspektiven annimmt, die ihrerseits Teile des Ganzen selbst sind … Allerdings erweist sich dieses Ganze in einer anderen Hinsicht oder Dimension als unvollständig: Es ist ein von der Konkretheit des Lebens abstrahiertes Ganzes und somit, wie das Objekt der Wissenschaft, abstrakt, obwohl es nicht dasselbe ist. Denn das Ganze der typischen Wesenheiten lässt sich mit den Korrelaten der Lebenswelt in dem Wesen der transzendentalen Subjektivität analysieren. Dieses Objekt der phänomenologischen Wissenschaft ist also dasselbe, wie das der Psychologie der allgemeinen psychischen Phänomene, welche von der konkreten und individualisierenden Psy­ chologie überwunden worden ist. Es handelt sich hierbei um dasselbe Objekt, unabhängig davon, ob das Programm der Phänomenologie vollständiger ist und sich methodologisch und philosophisch von jener psychologischen Herangehensweise unterscheidet. Die Phäno­ menologie wäre deshalb Wissenschaft, weil sie das ist, was laut Hus­ serl die Wissenschaftlichkeit der Wissenschaften ausmacht, nämlich ihr abstrakter, allgemeiner und objektiver Charakter.492 Dies würde sich auch nicht anders verhalten, wenn die phäno­ menologische Reduktion stricto sensu die eidetische Reduktion mit sich bringen und wenn das Sich-Objektivieren der transzendentalen Subjektivität selbst ihre objektiven Korrelate als bloße Phänomene objektivieren würde. Die transzendentale Subjektivität bedürfte dann einer Abstraktion von den individualisierenden Verbindungen mit dem Konkreten, wobei sich eine Abstraktion in dem Allgemeinen bzw. dem Eidetischen des Konkreten ergäbe, oder wenn »Phänomen« im Husserl’schen Sinne prinzipiell nur »Wesen«, eidos, werden könnte. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die einzige Art und Weise, das Individuelle und Konkrete zu objektivieren, die Autobiographie ist, als streng genommen einzige konkrete und individuelle Gestalt; oder ob man zumindest in der ersten Person so spricht, dass die Sprache individualisiert wird. Denn so entscheidet man sich zweifellos für die naiv realistische Alternative der erwähnten Antinomie.

492 Wir müssen auch das Problem des eidetisch-typologischen Charakters der Wis­ senschaft der Lebenswelt als geschichtliche Welt der Diskussion […] überlassen.

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Text 21 Husserls Lebenswelt (1963)

Schlussendlich würde der Husserl’sche Vorschlag einer transzen­ dentalen Phänomenologie als Wissenschaft sui generis der Lebenswelt darin bestehen, diese Welt als Phänomen der sie konstituierenden transzendentalen Subjektivität, und damit letztendlich die Welt als Phänomen einer alleinigen transzendentalen Subjektivität zu erklä­ ren. Dabei müssen wir Folgendes unterscheiden: Die Erklärung der Welt durch die Subjektivität, im Sinne der obigen progressiven Analyse, kann die Aufgabe einer rein phäno­ menologischen und ametaphysischen (ametafísica), weil abstrakten, allgemeinen und eidetischen Philosophie sein. Die Durchführung einer solchen Analyse, in der Einstellung der epoché oder nicht, wäre dem erklärenden Zweck der Analyse gegenüber gleichgültig, auch wenn sie der apodiktischen Gewissheit der absoluten Wahrheit jener Analyse gegenüber nicht gleichgültig sein könnte. Der Unterschied zwischen einer Phänomenologie und einer Psychologie desselben Objektes würde sich somit auf dessen Objekti­ vierung – in der epoché oder ohne diese – reduzieren.

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Luis Villoro (1922–2014): Text 22 Der Indigene als der Andere, durch den ich mich selbst erkenne (1950)

(Übersetzt von Niklas Schmich) Der Kreole war dem alten Europa zugewandt. Er hing von Europa ab und reagierte auf Europa. Seit der Trennung von der Mutterbrust richtet der unabhängige Amerikaner seine Augen auf sich selbst und versucht, sich selbst zu erkennen. Verantwortlich für diese Besinnung ist der Mestize. Er kann sich selbst jedoch nicht direkt erkennen, da das Ich nicht unmittelbar vollständig erfasst werden kann. Wann immer er dies versucht, entzieht sich ihm seine eigene Wirklichkeit. Sie wird flüssig, löst sich auf und verschwindet. Das Ich kann sich selbst nicht dingfest machen, es kann vor sich selbst nicht zu einem stabilen und vollstän­ digen Objekt werden. Es benötigt eine Realität, die außerhalb seiner selbst liegt, um sich selbst zu finden. Deshalb muss der Mestize, wenn er versucht, sich als Mestize zu erkennen, unverzüglich die Realität des Anderen, des Nicht-Mestizen, begründen. Er muss sich an das ihm Fremde, von ihm Entfernte und Abgespaltene wenden. Amerika sieht sich als eine zerrissene Wirklichkeit, deren Bestandteile sich als Alte­ rität gegenüberstehen. Nur durch die Aufspaltung der Bestandteile kann sich der Mestize selbst finden und nur durch Alterität entdeckt er den Weg zur Selbsterkenntnis. Dieser Weg besteht in der Begegnung mit einer Realität, die zwei paradoxe Charakteristika impliziert: Sie ist ihm äußerlich, unterscheidet sich von ihm und spiegelt ihn doch in irgendeiner Weise gleichzeitig wider. Das Ich erkennt sich durch eine Alterität, die auf das Ich selbst zurückverweist. Im Fall des Mestizen ist dies das Indigene. Der Indigene ist dem Mestizen fremd. Er ist der Andere par excellence: Abgesondert, mürrisch und fremd steht er da. Seine Welt und seine Werte sind von dem Universum, in dem der Mestize lebt, radikal unterschieden, ja, sie stehen ihm weiterhin feindselig gegen­

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Luis Villoro (1922–2014): Text 22 Der Indigene als der Andere, durch den ich mich selbst erkenne (1950)

über. Das Indigene ist das Nicht-Mestizische im eigentlichen Sinne: Es ist die radikalste Alterität. Der Indigene verweist gleichzeitig aber auch auf den Mestizen. Zumindest glaubt der Mestize diesen Hinweis auf den Indigenen zu erkennen, wenn er in ihm sein eigenes Vorhaben entdeckt. Wir sagten, dass der Mestize in dem Indigenen seine eigene Mission sieht. Nur indem er den Indigenen als abgespalten und fremd betrachtet, beleuchtet dieser sein Einheitsprojekt. Indem er über den Indigenen seine eigenen Reflexionen anstellt, manifestiert er ihn als eine Realität, die im Mestizen vollendet werden will. Die Mestizaje493 ist das Ziel, nach dem der Indio strebt. In ihm liegt seine einzige Rettung, seine einzige Hoffnung. Die Rettung seiner Tätigkeit besteht darin, sich ganz und gar in die Welt des Mestizen zu verwandeln und dessen Werte, Gedanken und Leitung anzunehmen. Wir haben gesehen, wie, dem Mestizen zufolge, der Indigene die Errettung aus seinem Entfremdungs- und Segregationszustand in der Bestätigung der Einheit sehen soll, die durch den Mestizen symbolisiert wird. Der Indigene soll das Ziel des Mestizen für sein eigenes Ziel halten. Der Mestize glaubt auf diese Weise wahrzunehmen, dass der Indigene auf ihn als sein Ziel verweist. Der Mestize konstituiert sich durch den Indio. Indem er den Indio manifestiert, erkennt er sich in seinem eigenen Projekt und in der Autonomie seines Ziels selbst. Damit ist der Indigene der Spiegel, in dem der Mestize sein eigenes Projekt und die Autonomie seines Ziels vorgezeichnet sieht. Das Indigene spielt hier also eine ähnliche Rolle, wie er es bei [Francisco Javier] Clavijero tat.494 Der Jesuit übertrug seine eigene Transzendenz auf die aztekische Vergangenheit, um sie außerhalb seiner selbst realisiert und bestätigt zu sehen und dem Anderen zeigen zu können. Der Mestize beleuchtet und enthüllt nun das Wesen des Indios als eine Wirklichkeit, in der das Wesen des Mestizen selbst als Transzendenz und autonomer Zweck sichtbar wird. In Wahrheit ist es aber der Mestize, der sich durch die Alterität des Indios selbst erkennt und damit auf indirektem Wege das erreicht, 493 [Entsprechend des gegenwärtigen Gebrauches des Mestizaje-Begriffs in der Lateinamerikanistik und in den romanistischen Kulturwissenschaften, behalten wir hier das spanische Wort bei.]. 494 [Francisco Javier Clavijero (1731–1787) wurde in Neuspanien (heute Mexiko) geboren. Nach seinen ersten Studien am Colegio de San Jerónimo in Puebla trat er in die Gesellschaft Jesu ein. Als die Jesuiten aus Neuspanien vertrieben wurden, war Clavijero gezwungen, nach Italien ins Exil zu gehen, wo er auf Italienisch seine berühmte Storia antica del Messico (1780) [Alte Geschichte Mexikos] schrieb.].

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Luis Villoro (1922–2014): Text 22 Der Indigene als der Andere, durch den ich mich selbst erkenne (1950)

was er auf einem Direkten niemals geschafft hätte: sich selbst zu erfassen. Um sich selbst erkennen und etwas über seine persönliche Berufung (vocación) erfahren zu können, benötigt der Mestize den Anderen und muss sich in ihm widergespiegelt sehen. Nur wenn der Andere sich als seine Affirmation offenbart, kann er sich selbst finden. Bis jetzt ist die Bestätigung des Mestizen durch den Indio ledig­ lich ein Merkmal, das der Mestize, wenn er sich selbst sucht, im Wesen des Anderen offenbart. Dieses Merkmal gehört also zum ›äußeren‹ Wesen des Indios, insofern es durch eine Wirklichkeit manifestiert wird, die außerhalb seiner liegt. Die Offenbarung des Mestizen im Sinne eines autonomen Zwecks hängt also letzten Endes von dessen eigenem offenbarenden Akt ab. Sie könnte in jedem Augenblick zusammenbrechen und verschwinden, als eine bloße Illusion, die in der Phantasie des Mestizen geschaffen wurde. Damit kann sich der Mestize nicht zufriedengeben. Er benötigt die Zustimmung des Indios selbst. Dieser müsse dem in ihm offenbarten Wesen selbst zustimmen und die Rolle, die der Mestize ihm gibt, als die seinige annehmen. Mit anderen Worten: Es ist notwendig, dass der Andere den Mestizen als Zweck »anerkennt«. Um überhaupt anerkennungsfähig zu sein, muss eine Wirklich­ keit gleichwohl für eine Person und damit auch für eine Transzendenz gehalten werden. Sie muss ein Anderer als Person und nicht im Sinne eines Dinges sein, ein aktives, wirkliches und gegenwärtiges Seiendes, das es versteht, permanent seine eigene Situation zu überschreiten und sich anderen Dingen und dem Anderen zu öffnen. Genau aus die­ sem Grund hat der Indigene als ein vergangener und toter Gegenstand der Geschichte auch keine Relevanz. Und der Indigenismo verlagert seinen Schwerpunkt von der fernen Vergangenheit in die Zukunft und von der historischen Zeit vor Hernán Cortés in die Soziologie und Ökonomie. Denn es geht nicht mehr um die Wirklichkeit, die einmal war, sondern um die gegenwärtige als eine persönliche und transzendenzfähige Wirklichkeit. Der Kreole, welcher nicht nach der Anerkennung des Indios suchte und sich damit zufriedengab, sich in ihm widergespiegelt zu finden – auch wenn er sich das nicht eingestand –, sah den Indio weiterhin im Horizont seiner fernen Geschichte. Demgegenüber betrachtet der Mestize den Indio als einen Anderen in seiner Welt, als Person. Der Indio erkennt den Mestizen nämlich tatsächlich an, auch wenn er vielleicht kein vollständiges Bewusstsein seines Aktes hat. Er bejaht den Mestizen ohne durchdachte Absicht und Absichtserklä­

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Luis Villoro (1922–2014): Text 22 Der Indigene als der Andere, durch den ich mich selbst erkenne (1950)

rung. Sein Verhalten ihm gegenüber ist jedoch das der Anerkennung. Er ist dem Mestizen unterworfen. Sein Handeln und Wirken ist auf die axiologische Welt gerichtet, die der Mestize vertritt und leitet. Was auch immer seine Absicht sein mag, sein Verhalten ist nichts anderes als eine ständige Affirmation und Anerkennung des Mesti­ zen. Der Mestize bekommt somit das, was er immer wollte: In dem unterwürfigen und entfernten Blick des Indios, der nach Annäherung und Einheit strebt – in seiner unbeholfenen, kleinmütigen und den Werten des Mestizen zugeneigten Haltung und in seinem gefügigen und benommenen Willen, der geduldig die Nutznießung der anderen akzeptiert – sieht der Mestize seine eigene Anerkennung. Und in der gleichen wirksamen Handlung des Indios findet der Mestize das sichere Kriterium für seine Beurteilung, ohne einer Illusion zu verfal­ len. Dieses wechselseitige Verhalten, welches in der Tat zwischen dem Mestizen und dem Indio vermittelt, offenbart, wie der Indio, durch das Urteil des Mestizen, diesen anerkennt. Der Mestize wird somit als Zweck bejaht; er erhebt sich in seiner vollen Autonomie.495 Diese Anerkennung beruht jedoch nicht auf Gegenseitigkeit. Der Mestize ist, mit all den Werten, für die er steht, sowohl für sich selbst als auch für den Indio ein Zweck. Dieser ist jedoch nur ein Mittel, ein Mittel zur Verwirklichung der endgültigen Einheit und Konvergenz im Mestizaje. Der Indio erkennt den Anderen als Zweck an, wird seinerseits jedoch nicht von diesem anerkannt. Die Existenz des Indios wird nur insofern gebilligt, als er diese Rolle erfüllt. Seine Transzendenzfähigkeit wird anerkannt, aber nicht, um sich selbst zum Zweck zu erheben, sondern nur, um in der Lage zu sein, ständig den Zweck zu akzeptieren, den der Andere ihm zuspricht. Sie wird ihm zugestanden, um sie dann unmittelbar an die Bejahung des Anderen zu ketten und mit der Zustimmung des Wesens zu verbinden, das der Andere in ihm offenbart. Die Transzendenz des Indios wird nur insofern anerkannt, als sie bereits in einem äußeren In der Tat zeigt sich der Indio durch sein Handeln in seinem »äußeren« Wesen als auf den Mestizen gerichtet. Letzterer wird ihn dazu auffordern, diese Dimension seines Wesens anzunehmen und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Es handelt sich dabei letztlich um eine ähnliche Anforderung wie diejenige, die der Spanier zu Beginn des Indigenismo an den Indio stellte: dass er Verantwortung für die Rolle übernimmt, die er in der Geschichte tatsächlich spielt. Und so wie zum damaligen Zeitpunkt auf die Schuldübernahme eine Beseitigung derselben folgte, so wird jetzt auf die Bewegung, Verantwortung für die Sklaverei zu übernehmen, eine Bewegung folgen, bei der diese Verantwortung (auf der zweiten Stufe desselben Momentes) wieder aufgehoben wird. 495

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Luis Villoro (1922–2014): Text 22 Der Indigene als der Andere, durch den ich mich selbst erkenne (1950)

Verhalten realisiert ist, das von ihm verlangt wird. An sich selbst hat sie keine Relevanz, sondern nur im Hinblick auf die Faktizität, mit der sie sich in den Augen des Anderen zeigt. Es handelt sich also um eine Transzendenz, die notwendigerweise auf einen von außen her aufer­ legten Zweck gerichtet ist, um eine Transzendenz, die vom Anderen transzendiert wird. Dem Indio wird nur Respekt gezollt, wenn er diese Lage beibehält und sein Verhalten der stillschweigenden und stetigen Wiederholung der Rolle unterwirft, die der Andere ihm zugesteht. Das Dilemma war klar: Entweder er akzeptierte das Mestizaje oder er würde sterben. Der Indio wird gerettet, aber nur indem er sich selbst unterwirft. Sein Leben im Tausch für die immerwährende Anerkennung des Anderen! Der Mestize braucht den Indio und kann ihn deshalb auch nicht vernichten. Er will ihn bewahren. Die Formel für diese Erhaltung ist die »Transformation« des Indios, bei der ihm seine Eigenart und Autonomie abgesprochen werden, seine Existenz jedoch erhalten bleibt, solange er seine Unterwerfung unter das soziale, ökonomische und kulturelle System des Mestizen akzeptiert. Der Mestize braucht den Indio ständig, da er sich ohne ihn nicht mehr als autonomen Zweck sehen würde. Aus diesem Grund will er ihn zu seinem unverzichtbaren und natürlichen Verbündeten im Kampf gegen andere Gruppen machen. Dies erfordert aber auch ein Verhalten des Indios, bei dem er die stetige Anerkennung des Mestizen gewährleistet. Allem voran manifestiert sich dieses Verhalten in der Arbeit, die zugunsten des Mestizen vollbracht wird und den Indio als seinen ständigen Bestäti­ ger offenbart. Die Arbeit für die Anderen ist die Fessel des Indios. Sie ist das, was ihn an seine Funktion der Anerkennung des Anderen bindet. Damit verfechtet und fordert der Mestize die totale Verwest­ lichung und radikale »Transformation« des Indios. Nur dadurch wird der Indio imstande sein, sich mit seiner Arbeit für den Mestizen zu verbinden. Und nur dadurch kann die Affirmation des Anderen durch den Indio solide gefestigt werden. »Transformation« bedeutet hier, sich in den Anderen im Sinne einer Person, die das Ich des Mestizen anerkennt, zu verwandeln. […]

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Ernesto Mayz Vallenilla (1925–2015): Text 23 Die Prüfung unseres kulturellen Bewusstseins (1959)

(Übersetzt von Niklas Schmich)

Guillermo

Ferrer

in

Zusammenarbeit

mit

Wenn wir das Christentum irgendwann einmal mehr oder weni­ ger praktiziert haben, wird das, was wir Gewissensprüfung (examen de conciencia) nennen, uns einen ganz bestimmten Akt ins Gedächtnis rufen, den jeder Gläubige dieser Religion vollzieht. In der Regel verübt man einen solchen Akt, bevor man zur Beichte geht. Durch diesen Akt versucht der Mensch, sein Gewissen (conciencia) von sich aus und durch sich selbst reden zu lassen, indem er sich in sich selbst vertieft. Wie wir sehen, hat die Prüfung zunächst den ursprünglichen Sinn einer Suche. Sie betont nämlich nachdrücklich die Aufgabe, das eigene Gewissen durch eine Vertiefung oder Versenkung zu erkunden. Etwas nahezu Ähnliches geschieht bei der Prüfung, die wir in diesem Vortrag durchführen möchten. Es handelt sich hierbei zweifellos um eine Art Suche, auch wenn wir mit dieser Suche keinesfalls auf eine Art moralisches oder religiöses Gewissen abzielen. Es geht keineswegs darum, ein Gewissen ausfindig zu machen, das uns der kulturellen Erfolge oder Misserfolge bzw. der Sünden oder Tugenden bezichtigt, aufgrund derer wir entweder verdammt oder gerettet werden. Wie in jeder moralischen Gewissensprüfung, die nach der Sündhaftigkeit oder Tugendhaftigkeit der vollzogenen Akte fragt, bestünde hierin eine ziemliche Grobheit, die wir von Beginn an vermeiden möchten. Und dennoch nimmt die Prüfung, von der hier die Rede ist, die Gestalt bzw. den Stil einer andächtigen Suche an. Man möchte eben einfach das Gewissen entdecken. Es stellt sich dann die Frage, ob wir überhaupt ein solches Gewissen haben und die Suche nach ihm in Angriff nehmen müssen. Denn tatsächlich sucht man nur das, was man noch nicht besitzt, wie die einfachste Logik nahelegt. Es ist hinge­ gen Unfug, nach dem zu suchen, was man schon besitzt. Oder hatten

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Text 23 Die Prüfung unseres kulturellen Bewusstseins (1959)

wir etwa ein Gewissen und haben es lediglich verloren und nicht wiedergefunden, weswegen wir es nun suchen? Es sieht ganz danach aus. Spricht man aber über eine Prüfung als Synonym von Suche, könnte man noch ganz andere Möglichkeiten als logische Varianten in Betracht ziehen. Entweder man sucht etwas, weil es noch nicht existiert, oder man sucht es, weil es zufällig verloren gegangen ist und man es wiederfinden möchte. In unserem Fall ist aber weder die eine noch die andere Möglichkeit rechtmäßig akzeptierbar, geschweige denn richtig. Das zu suchende Gewissen ist schon da, wir haben es nicht verloren. Es ist, um einen Fachterminus zu gebrauchen, eine unmittelbare und nachweisbare Gegebenheit, dass dieses Gewissen existiert. Die Existenz einer solchen Gegebenheit erweist sich in dem unleugbaren Faktum, dass uns das Gewissen als klar vernehmbare und nachweisbare Stimme des Gewissens gegeben ist. Man muss diese Gegebenheit also interpretieren. Man könnte sagen, es handle sich bei dieser Gegebenheit um die Stimme des Gewissens. Um zu wissen, was diese Stimme sagt, reicht es nicht, ihr lediglich auf die Weise zuzuhören, wie jemand »dem Regen lauscht«. Man muss dieser Stimme vielmehr aufmerksam sein Ohr schenken, indem man das, was sie uns sagen oder zuflüstern will, interpretiert. Wir müssen also, indem wir ihr zuhören, ihren »Sinn« angemessen deuten. Und manchmal, wenn wir nicht klar und deutlich vernehmen, was sie uns zuflüstert (balbucea), müssen wir eine Frage an sie richten. Dieses interpretierende Fragen bezeichnen wir als Suche. Eine auf diese Weise verstandene Suche bestimmt den terminus technicus der Prüfung. In diesem Fall bedeutet Prüfung eine Suche des »Sinnes« dessen, was schon als Gegebenheit vorliegt. Eine solche Prüfung nimmt in ihrer interpretierenden bzw. hermeneutischen Phase Schritt für Schritt die Gestalt einer analytischen und phänome­ nologischen Beschreibung dessen an, was uns die Gegebenheit selbst als transzendental gereinigtes Phänomen darbietet. Eine Suche oder Prüfung ist aber immer zugleich eine Suche oder Prüfung von etwas. Wonach suchen wir in unserem konkreten Fall? Was versuchen wir zu prüfen? Es ist zweifellos … das Bewusstsein (conciencia). Um welches Bewusstsein geht es hierbei? Geschichtlich gesehen hat man unter Bewusstsein eine oder mehrere Wirklichkeiten verstanden, die von dem, was wir kulturelles Bewusstsein nennen, völ­ lig verschieden sind. In dieser Hinsicht unterscheidet man zwischen zweierlei Formen des »Bewusstseins«: einerseits einem ursprünglich intellektuellen Bewusstsein – zum Beispiel dem transzendentalen

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Bewusstsein Kants – und andererseits einem moralischen Bewusst­ sein, das man auch das Gewissen nennt. Wenn man in der Philosophiegeschichte diese Bedeutungen verwendet hat, um die Wirklichkeit des Bewusstseins zu beschreiben, müssen wir die Bedeutung des zu erläuternden kulturellen Bewusst­ seins von der Bedeutung anderer in der Philosophiegeschichte gän­ giger Bewusstseinsformen abgrenzen. Dazu müssen wir sowohl die Unterschiede als auch die Ähnlichkeiten zwischen all diesen Bedeu­ tungen bestimmen. Unter Bewusstsein, sei es transzendental, moralisch oder kul­ turell, verstehen wir zunächst einmal ein Bewussthaben (el tener conciencia). Auf diese Weise können wir vermeiden, dass der Termi­ nus mit einer äußerst gefährlichen Unbestimmtheit belastet wird. Insofern man das Bewusstsein aber als ein Bewussthaben bezeichnet, wird das Bewusstsein durch einen Akt vorsätzlicher Besitzergreifung abgegrenzt und definiert. Dieser Akt verleiht dem Bewusstsein einen äußerst spezifischen Charakter, einen Charakter, der das Bewusstsein als Quelle der Intentionalität ausweist. Das Bewusstsein ist, sofern es intentional ist, kein bloßes und formales Bewusstsein, sondern ein Bewusstsein von. Dies impliziert, dass das Bewusstsein ein Bewusstha­ ben oder, wie ich bereits sagte, ein Akt vorsätzlicher Besitzergreifung ist. Aber wovon? Wovon ergreifen wir Besitz, wenn wir Bewusstsein haben? Ferner stellt sich für uns die Frage, wie wir überhaupt dazu kommen, Besitz von etwas zu ergreifen. Wie können wir uns etwas aneignen bzw. etwas begreifen, um bewusstseinsmäßig von ihm Besitz ergreifen zu können? Diese Art von Fragen werden es uns erlauben, die Unterschiede und Ähnlichkeiten zwischen den oben genannten Bewusstseinsfor­ men zu präzisieren. Zunächst werden wir also ein erstes und distinktives Merkmal ihrer Beschaffenheit herausarbeiten. Es geht hierbei um die Verschie­ denartigkeit dessen, wovon man in der einen oder in der anderen Bewusstseinsform Besitz ergreift. Die innerste Besitzergreifung eines intellektuellen oder rationa­ len Bewussthabens (oder, um es streng auszudrücken: einer reinen theoretischen Vernunft) besteht in dem cogito oder Ich denke, das als Grundlage der cartesianischen Philosophie fungiert. In dieser Hinsicht können wir sagen, dass das Bewussthaben innerhalb der Sphäre der reinen Vernunft in der Erkenntnis des Ich denke besteht. Das Bewusstsein ist also der Grund- und Letztbegriff

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des Ich denke, es ist die unbezwingbare Festung der rein rationalen Denktätigkeit. In einem rein rationalen Sinn ist Bewusst-werden (ser consciente) das Bewussthaben des Ich denke. Wovon hat man in der Sphäre der praktischen Vernunft bzw. in der Sphäre der Moral ein Bewusstsein? Das, wovon man innerhalb der rein intellektuellen Sphäre Besitz ergreift, nämlich das Ich denke, verwandelt sich in ein Ich soll. In dem moralischen Akt ist der Begriff bzw. das Bewusstsein vom Sollen die letzte und grundlegendste Fes­ tung einer solchen Bewusstseinsform. Das moralische Bewussthaben besteht darin, im innersten und äußersten Besitz des Begriffs des Sein-Sollens zu sein. Aus dieser Vielfältigkeit von Bewusstseinsformen entsteht eine für die Absicht dieses Vortrags entscheidende Kernfrage: Worin besteht die unterste und grundlegendste Schicht eines kulturellen Bewusstseins? Wovon ergreift man in einem kulturellen »Bewusstha­ ben« auf innerste und äußerste Art und Weise Besitz? Vielleicht wäre es noch zu früh, diese Frage zu beantworten. Jede Antwort, die wir an diesem Punkt skizzieren könnten, würde wahr­ scheinlich in Bezug auf ihre Konsequenzen ehrlich gesagt nicht ganz nachvollziehbar sein. Bevor wir auf die erste Frage antworten, müssen wir zunächst eine andere Frage klären – schon allein, um aus dieser Frage keine vage, bloß abstrakte und überraschend ungewöhnliche Aussage zu machen. Parallel dazu müssen wir auch die Erklärung einer anderen Frage liefern. Wir haben diese Frage zur gleichen Zeit aufgeworfen wie die, die jetzt noch offensteht. In der Tat haben wir nicht nur danach gefragt, was genau das ist, von dem wir Besitz ergriffen haben, sondern wir haben gleichzeitig auch danach gefragt, wie wir von dem, von dem wir Besitz ergriffen haben, ein Bewusstsein bekommen haben. Das heißt: Wie können wir es zu einem Korrelat unseres Besitzes machen? […] Wenn wir uns nun die Frage stellen, wie wir zu einem Bewusst­ sein des »Ich denke« kommen, sollten wir auch darauf hinweisen, dass sich die unbezweifelbare Existenz dieses factum nur durch eine in sich versenkende Reflexion aufweisen lässt, während wir über das Sollen, sofern es der unbezweifelbare Besitz unserer moralischen Tätigkeit ist, spontan und vor-reflexiv als wesentliches factum unseres moralischen Bewusstwerdens verfügen. Wenn wir uns nun aber auf das Bewusstsein beziehen, das wir als kulturell bezeichnet haben, dann sollten wir zunächst darauf

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hinweisen, dass es sich hierbei eher um ein moralisches als um ein intellektuelles Bewusstsein handelt. In der Tat ist das kulturelle Bewusstsein ein solches, das uns spontan mitgegeben ist. Wir können sogar ohne Vorbehalte sagen, dass der Aufweisungsmodus des kul­ turellen Bewusstseins irgendwie identisch mit dem des moralischen Bewusstseins ist. Es erscheint oder es manifestiert sich nämlich auf­ grund einer oder durch eine Stimme. Allerdings spricht die »Stimme« des kulturellen Bewusstseins mit uns nicht über ein moralisches Sol­ len. Was sagt uns also dann diese »Stimme«? Wie spricht sie mit uns? Ich stelle nun eine für das Ziel dieses Vortrages entscheidende These auf: Sie spricht mit uns als eine »Stimme« der Geschichte. Die Art und Weise, wie diese Stimme mit uns spricht, besteht darin, dass sie uns sowohl die Geschichte als auch unseren Ort in ihr offenbart. Oder anders gesagt: Genauso wie wir dank der Stimme ein Bewusstsein vom Sollen haben, ist das kulturelle Bewusstsein dasje­ nige, das uns den Sinn unserer Aufgabe in der Geschichte offenbart. Ein derartiges Bewussthaben unseres Verhältnisses zur Geschichte ist kein Begriff, zu dem wir durch einen Reflexions- oder Analyseaufwand gelangen würden. Dieses Verhältnis skizziert unse­ ren Ort in der Geschichte und legt unsere innerste und unübertragbare Lage als geschichtlich Seiende offen. Unsere geschichtliche Lage und unser Ort in der Geschichte haben strenggenommen den Charakter eines vor-ontologischen Verständnisses. Das menschliche Seiende hat ein Bewusstsein von seinem eigentümlichen und notwendigen Ort in der Geschichte. Es nimmt diesen Ort nämlich als ein factum an. Dies liegt jedoch nicht daran, dass es eine historische Wissenschaft oder Ontologie gibt (oder, um es mit einem Neologismus auszudrücken: eine Historiologie oder Historiographie), sondern genau umgekehrt: Nur insofern das menschliche Seiende und sein existenzielles Werden (gestarse existencial) geschichtlich sind, und folglich das menschli­ che Seiende ein geschichtliches Selbstbewusstsein hat, gibt es oder kann es eine Wissenschaft oder Ontologie der Geschichte geben. Das kulturelle Bewusstsein (das, was wir als Stimme der Geschichte beschrieben haben) erweist sich als eine radikale und grundlegende vor-ontologische Struktur. Wie wendet sich aber jene Stimme der Geschichte an den Menschen? Was sagt sie oder flüstert sie ihm letzten Endes zu, wenn sie aus ihrem tiefsten Innern zu ihm spricht? […]

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Wir können nun sagen, dass sich die Geschichte auf den Menschen richtet, indem sie ihm seine Geschichtlichkeit offenbart. Die Stimme des kulturellen Bewusstseins vollzieht die Offenbarung eines solchen factum. Die Stimme der Geschichte ist also diejenige, die dem mensch­ lichen Dasein seine im Wesentlichen zeitliche Wurzel zeigt. Indem das Dasein der Geschichte zuhört, weiß es sich, auf eine genuin vor-ontologische Weise, als geschichtliches Dasein. Oder anders aus­ gedrückt: Das Dasein spürt oder ist sich dessen gewahr, dass es unweigerlich zwischen zwei radikalen und uneinholbaren zeitlichen Bezugspunkten eingespannt ist. Es vollzieht den Übergang von dem einen zum anderen Bezugspunkt in einer irreversiblen Richtung. Diese Bezugspunkte […] sind die Gewesenheit und die Zukunft. Der Übergang (dessen Richtung die Irreversibilität des menschlichen Daseins ausmacht) ist die Gegenwart. Wir können nun sagen, dass der Nachklang der Stimme, also jener Stimme unseres kulturellen Bewusstseins, mit der die Geschichte für uns gegenwärtig wird, die notwendige Verbindung unserer Gegen­ wart mit dem Gewesenen und dem Zukünftigen ist. Insofern wir kulturbildende Subjekte sind, begleitet das kulturelle Bewusstsein spontan jeden von uns vollzogenen schöpferischen Akt. In keinem unserer moralischen Akte können wir uns von der Stimme des Gewissens befreien; sie bestimmt unser Sollen. Ebenso begleitet die Anwesenheit der Geschichte alle unsere kulturellen Handlungen, indem sie uns den geschichtlichen Charakter (die Verbindung der Gegenwart mit der Gewesenheit und der Zukunft) unseres Handelns offenbart. Ein kultivierter Mensch zu sein bedeutet, jene Stimme der Geschichte zu spüren, die uns wohl oder übel immer darauf hinweist, dass unsere Handlungen in ihrer Gegenwart, und gerade, weil sie kulturellen Charakter haben, eo ipso in einen Gewesenheits- und in einen Zukunftshorizont eingebettet sind.

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(Übersetzt von Niklas Schmich) […] Überall hört man, dass wiederholt der Wunsch geäußert wird, eine amerikanische Kultur mit eigenen Besonderheiten her­ vorzubringen, wobei fast immer dafür geworben wird, dass diese Kultur autochthon sein und etwas originär Amerikanisches gesucht werden solle. Sämtliche Vorlagen, Modelle oder Paradigma, die das Ursprüngliche verschleiern, verbergen oder entkräften könnten, sollen verworfen werden. Hierin besteht die absolut einzigartige Erschei­ nung eines neuen Geistes in der Weltgeschichte. Die Sehnsucht nach dem Autochthonen zeigt uns, dass unser Amerika – Lateinamerika – dafür kämpft, einen Platz in der Weltgeschichte zu erlangen. Bevor wir jedoch darauf antworten, ob dies auf der Höhe unserer Zeit überhaupt möglich ist, d. h. ob es sich dabei um eine nachweisbare bzw. bewältigbare Aufgabe, in Anbetracht unserer Mittel, handelt, dürfte jedem Denker, der sich nichts vormacht und der dieses Phäno­ men auf das hin prüft, was bei ihm existenziell und eigen ist, eine Sache völlig klar sein: dass eine solche Suche und das Projekt der Hervorbringung einer originären Kultur aus verborgenen Quellen und Wurzeln entspringen muss, die es zu analysieren gilt, um sich ihre Daseinsberechtigung und authentischen Erfüllungsmöglichkei­ ten zu erklären. Woran liegt es also, dass der Amerikaner von heute so sehr nach Originalität verlangt, als sehnlichsten und unabdingbarsten Wunsch alles genuin kulturellen und absolut authentischen Strebens? Aus welcher Wurzel nährt sich das Bedürfnis, ein Werk zu schaffen, das so sonderbar, eigen und persönlich ist, dass es gleichzeitig den Anspruch erheben kann, Definition und Zeichen eines Lebens oder einer indivi­ duellen Existenzweise in der Weltgeschichte zu sein? Zunächst sollten wir noch keine endgültige Antwort auf diese Frage riskieren. Es lässt sich jedoch erahnen, dass das Streben nach Originalität als geschichtliche Befangenheit durch eine bestimmte Auffassung oder möglicherweise durch ein Erlebnis der Weltgeschichte bedingt

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Text 24 Das Problem Amerikas (1959)

ist. Wie fühlt sich der Amerikaner von heute innerhalb des Konzertes der Weltgeschichte? Verrät nicht bereits die Tatsache selbst, dass eine leidenschaftliche Suche nach originalen Gesten und Werken unternommen wird, inwiefern Unzufriedenheit – oder sogar noch radikaler ausgedrückt: eine grundlegende Verunsicherung – gegenüber der Geschichte besteht? Welche andere Erklärung gäbe es sonst für ein Phänomen wie dieses, wenn nicht die, dass Originalität gerade deswegen gesucht wird, weil man sie nicht sein Eigen nennt? Sollte der Mensch, der etwas erlangen will, nicht erst einmal damit anfangen, sich dessen bedürftig zu fühlen? Sagt uns diese verzweifelte Suche nach Originalität nicht auch, dass der amerikanische Mensch damit begonnen hat, sich innerhalb der Weltgeschichte als unbestimmtes Wesen zu empfinden und eifrig bemüht ist, sich dessen zu versichern, was er für eine unabdingbare Voraussetzung hält, für den Anfang seines neuen Seins? Und woher rührt das Streben, anzufangen, anders und radikal neu gegenüber allen anderen zu sein? Warum diese Furcht, mit anderen verwechselt zu werden, die ihn zur leidenschaftlichen Suche nach einem originalen und originären Wesen bewegt? Ohne eine kategorische Antwort auf solche Fragen zu riskieren, könnten wir sehr wohl sagen, dass das Symptom einer geschichtli­ chen Fragilität, Unsicherheit, Unbeständigkeit und Unklarheit, eines Noch-nicht-Seins, sich in dem Streben widerspiegelt, das den latein­ amerikanischen Menschen heutzutage völlig in seinen Bann zieht und sich auch in seinen kulturellen Tätigkeiten erkennen lässt. Die Betrachtung darf hier aber noch nicht enden. Es ist nämlich notwendig und dringlich, sich zu fragen, ob Symptome wie dasjenige, dass wir hier entdeckt haben, eine echte Ursache haben oder gar Legitimität besitzen. Zudem sollte man sich fragen, ob dieses Sym­ ptom aus einem Mangel an Klarheit in Bezug auf die Art und Weise entspringt, mit der der lateinamerikanische Mensch eine originale kulturelle Tätigkeit zu verwirklichen in Erwägung zieht. Im Falle des Letzteren würde das Streben nach Originalität weniger einen positi­ ven Wesenszug als vielmehr eine bösartige Ursache oder schlechte Indizien offenbaren: einen Mangel an Stärke und Kraft, unser eige­ nes Schicksal geistig zu verstehen. In diesem Fall wären die Suche und das Streben nach Originarität das am wenigsten Originale. Sie würden zugleich einen schwerwiegenden historischen Minderwertig­ keitskomplex offenbaren. Bestimmt nicht ein solcher historische Min­ derwertigkeitskomplex viele der Indigenismo-Ansätze, die heutzutage in der amerikanischen kulturellen Tätigkeit erprobt werden? Wie

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lassen sich solche Negativtendenzen von solchen unterscheiden, in denen das Streben nach Originalität authentischer Ausdruck eines positiven Geistes und das Ergebnis der Zusammenkunft unserer geschichtlichen Seinsweise ist? Wir neigen zu folgender Feststellung: Wenn wir von der Ver­ mutung ausgehen, dass es unserer Seinsweise an Originalität fehlt und dass wir, um diese zu erreichen, eine Gewesenheit (die nicht unsere ist) mit unserer Geschichte überlagern, oder einfach anders sein sollten, als wir es bisher gewesen sind, dann wäre die Schlussfol­ gerung vollkommen negativ. Der besagte Anfang würde weniger eine stabile Grundlage als einen unsicheren Boden völlig unkontrollierba­ rer und gar absurder Vorbedingungen darstellen. Statt authentische und radikale Grundlagen zu schaffen, würde man dadurch sogar gegen die Möglichkeit einer echten Autonomie im Bereich der kulturellen Schöpfungen verstoßen. Nähmen wir von diesen Grundlagen unseren Ausgang, würden wir zu einer Situation gelangen, die uns einschrän­ ken und daran hindern würde, wirklich original zu sein. Mit anderen Worten: Solange wir auf der Suche nach unserem eigenen Wesen wären, würde uns ein historischer Minderwertigkeitskomplex daran hindern, souverän oder spontan zu handeln, da er uns unsere radikale Originarität verbergen würde. Durch die Abwertung unserer gegenwärtigen oder durch die Projektion einer radikal neuen oder neuartigen Seinsweise, die unse­ rer eigenen kreolischen Geschichte zuwiderläuft, werden unsere Schöpfungen keine Originalität erlangen. Diese Herangehensweisen wären zwar intellektuelle oder theoretische Programme a priori, aber dennoch keine genuin kulturelle Tätigkeit, die aus einer Fülle wirklich echter und unabhängiger Kräfte entspringt. Um im Bereich der Schöpfungen original und originär zu sein, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns einem möglichst authentischen Leben unserer eigenen Seinsweise hinzugeben … und zwar als Menschen in einer Neuen Welt. Das bedeutet, dass wir nicht von der falschen Grundlage ausge­ hen sollten, keinerlei Originalität oder geschichtliche Originarität zu besitzen. Denn das hieße, dass wir Mängelwesen, bloße Nachahmer Anderer oder Erben einer (indigenen oder abendländischen) Gewe­ senheit sind, die uns – im Sinne einer wahrhaften Tradition – nicht gehört. Im Gegensatz dazu sollten wir uns in dem Glauben bestärken, dass wir getreu unseres eigenen geschichtlichen Tempos, wenn wir radikal verfahren und uns dabei nicht selbst hintergehen, womög­

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lich (und zudem ganz unbeabsichtigt) die Originarität des Mensch­ seins der Neuen Welt und damit zugleich auch einen originalen Stil geschichtlichen Seins innerhalb der Weltgeschichte erreichen werden. Was bedeutet es, Amerikaner zu sein? Sich diese Frage überhaupt auf diese Art und Weise zu stellen, spricht bereits für einen Mangel an Sinn und Authentizität. Das lateinamerikanische Sein erschließt sich nicht plötzlich, nicht einmal durch einen zuvor ausgebildeten intellektuellen Diskurs. Sein geschichtliches Sein muss sich geduldig und in der Zeit und der Geschichte offenbaren.496 Wir müssen also 496 Neben den Schwierigkeiten, die sich aus dem vorliegenden Gegenstandsbereich ergeben, darf man auch die mannigfachen Probleme nicht übersehen, die der angemessenen Methodologie für eine mögliche Beschreibung des geschichtlichen Seins des amerikanischen Menschen anhaften. Welches Verfahren müsste bei der Verwirklichung dieser Beschreibung angewendet werden? Eine naturalistisch-wissen­ schaftliche Herangehensweise oder eher die phänomenologische Methode? Sollten wir uns für die erste Variante entscheiden, müssten wir – da wir dann wie die Naturwissenschaftler vorgehen würden – zunächst die Anwesenheit eines realen Phänomens feststellen (die räumlich-zeitlich-geschichtliche Existenz des Faktums, das wir »Lateinamerika« genannt haben). Danach müssten wir, möglichst ausführlich und nach den durch die Methode vorgeschriebenen Regeln, die Charakteristika eines solchen Phänomens betrachten und vermerken. Und zu guter Letzt müssten daraus Konsequenzen abstrahiert, verallgemeinert, geschlussfolgert und abgeleitet werden, bis die Präsenz, die Charakteristika und die Gesetze des Phänomens festgelegt sind … All dies würde uns zu wesentlich kontingenten Ergebnissen führen, die keinerlei Rechenschaft über ihre eigene Gültigkeit abgeben könnten (vgl. mein Buch Fenomeno­ logía del Conocimiento, Kapitel 1). [Ernesto Mayz Vallenilla (1956): Fenomenología del conocimiento. El problema de la constitución del objeto en la filosofía de Husserl. Caracas: Universidad Central de Venezuela.] Wenn wir hingegen der phänomenologischen Methode den Vorzug gewähren und von ihrer eigentümlichen Vorgehensweise (Beschreibung, Reduktion, Reflexion, Ideation etc.) Gebrauch machen, lauern uns nicht weniger Probleme und Schwierigkeiten auf. Denn: Können geschichtliche Phänomene im strengen Sinne ohne weiteres zu Gegenständen einer »Reduktion« und »eidetischen Anschauung« werden? Kann der ontologische Charakter dieser Phänomene, welcher grundsätzlich der Veränderung durch zeitliche Prozesse unterworfen ist, durch ein Verfahren eidetischer Anschauung vollständig und angemessen erfasst werden? In der Annahme, dass die geschichtlichen Phänomene zu Gegenständen der Reduk­ tion und der Wesensanschauung werden könnten (womit sich die Geschichte gefähr­ lich nah an die exakten eidetischen Wissenschaften annähern würde) …: Würde die sich dadurch ergebene Anschauung einem Horizont absoluter Gegebenheiten oder lediglich der »Höhe« der historischen Perspektive entsprechen, von der aus diese erblickt und erhalten wurden? Lauert in dem Letztgenannten nicht ein ziemlich riskanter Bruch, durch den sich mit Leichtigkeit auch der verheerendste Relativismus einschleichen kann?

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achtsam sein, um Äußerungen, welche es ankündigen, zu entdecken und zu interpretieren. Um diese Aufgabe zu erfüllen, gibt es nichts Besseres, als den Dichtern nachzukommen. Denn diese sind die Instrumente des Seins und Träger seiner Geheimnisse. Jedoch sollten auch die Dichter und Künstler ganz allgemein bei dem Versuch, ›original‹ zu sein, nicht die Geduld verlieren. Die Wirklichkeit des Seins tritt nicht zutage, auch dann nicht, wenn wir sie eifrig dazu zwingen, zu erscheinen. Nur insofern die Dichter und Künstler sich durch die Geheimnisse bezwingen lassen und sie zu ihrem alltäglichen Wohnsitz (morada) machen, wird sich ihnen die Originalität des Seins offenbaren. Das Sein geht nicht aus heimlich blitzartigen Bedingungen auf, sondern muss mit Geduld geschürt werden. Es handelt sich dabei um das alltäglich Bekannte, um jenes, was alle sagen, ohne zu wissen oder zu bemerken, dass sie es über­ haupt sagen; um das dem Dichter ganz und gar Nahegelegene und Vertraute, d. h. um das, was im Wohnsitz des Gedichtes wohnt. Ein vergeblich illusionärer und irrtümlicher Weg wäre es also, »unser Amerika« durch eine programmatische Originalität oder die Rückeroberung einer Vergangenheit etablieren zu wollen, die uns nicht gehört, um an ihr unsere Originarität festzumachen. Lassen wir Amerika erscheinen, lassen wir es zu, dass die Erfahrung des Seins durch eine von der Zukunft begeisterte Zeit zutage tritt. Beinhaltet dies einen Quietismus, also eine bloß rezeptive Haltung oder etwa eine Spur realistischer Alchemie? Allein die Frage und ein Bewusst­ sein von ihr implizieren eo ipso ihre Verneinung. Unsere Einstellung wird man schlechterdings nur verstehen, wenn man berücksichtigt, dass wir von einer Idee ausgehen, die alle rezeptiven (realistischen) Wenn wir erneut davon ausgehen, dass ich nach der Durchführung solch einer phänomenologischen Arbeit – aus meinem eigenen transzendentalen Bewusstsein (d. h. jetzt weder aus meinem »subjektiven« noch aus meinem »psychologischen« Bewusstsein) – eine Reihe eidetischer Anschauungen herausziehen kann …: Welches Recht habe ich, diese »Gegebenheiten« meines Bewusstseins als Beleg für das soge­ nannte »geschichtliche Wesen des Lateinamerikaners« zu betrachten? Durch ein Verschweigen dieser Schwierigkeiten hätte man rein gar nichts gewonnen. Wir haben es vorgezogen, sie hier gleich zu Beginn zu erwähnen, um zu vermeiden, dass man uns mit »naiven« Webern von Mythen und Metaphern verwechselt. Was hier vermerkt wird, ist das Ergebnis eines streng wissenschaftlichen Vorgehens, das vielleicht, der Sache gemäß, durch einige unumgängliche Mängel getrübt wird, jedoch zugleich, wie jede authentische Theorie, die sich ihrer selbst bewusst ist, lediglich darauf wartet, dass ihre Behauptungen durch eine Instanz, welche sie weder selber verkörpert noch gänzlich bereitstellen kann, bejaht oder verneint wird.

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oder fingiert schöpferischen (falscher Idealismus) Haltungen glei­ chermaßen bekämpft. Sie schlägt sich in der folgenden Äußerung nieder: Dadurch, dass wir Amerikaner sind, ist uns in unserem »Sein« bereits das originale Verständnis von Amerika gegeben. Der Weg zu einer existenzialen Hermeneutik des amerikani­ schen Amerikanisch-Seins (der Menschen der Neuen Welt) soll darin bestehen, das vor-ontologische Verständnis der Welt, in der wir leben und in der wir In-der-Welt-Seiende sind, zu erhellen. […] Den Sinn vom originalen Sein Amerikas durch eine Analyse der Existenzialien unseres vor-ontologischen Verständnisses eines In-einer-Neuen-Welt-Seienden … gibt uns den entlang der Zeit und Geschichte – der originalen Geschichte Amerikas – zu durchlaufen­ den Pfad. Sagt uns dies nicht bereits, dass in einem ersten Schritt genau geklärt werden sollte, was das Neue, d. h. das Novum unseres In-derWelt-seins ist? Worauf beruht eine solche Neuigkeit? Wie und von wo aus lässt sie sich verstehen? […] Dass Amerika die Neue Welt genannt wurde, ist eine Tatsache, die vielschichtigen und tieferen als bloß metaphorischen Gründen gerecht wird. Hinter der Neuen Welt lässt sich nicht nur eine Metapher oder eine geglückte Übereinstimmung von einem Beinamen und dem Bezeichneten erahnen und offenbaren, sondern das Substrat einer wirklich originalen Wirklichkeit. Es handelt sich dabei um einen Horizont, der durch das Neuartige oder Neue der geschichtlichen Perspektive, kurz, durch eine wirklich originäre, d. h. autochthone Welt eröffnet wird. […] So mancher von uns ist zu der Überzeugung gelangt, dass das Neue und Originale der amerikanischen Welt, also jenes, in dem seine Originarität aufleuchtet, in einer Stimmung des Bewusstseins des Bewohners der Neuen Welt wurzeln sollte, bevor man einer Eigenart der innerweltlichen Wesen, aus denen sich die äußerste und damit am unmittelbarste sichtbare Seite der Landschaft als ein Ganzes zusammensetzt, gerecht wird. Dank der Stimmung, die wie eine Enthüllerin (reveladora) von Existenzialen wirkt, erscheint die Welt als neu. Nicht die Welt als factum brutum, sondern die Existenz des Menschen ist die Instanz, welche die Originarität Amerikas konstitu­

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iert. Was wären also ein solcher Akt oder eine derartige existenziale Stimmung, die somit die Erscheinungsform der amerikanischen Welt bestimmen? Es handelt sich dabei zweifellos um ein gewisses struk­ turelles Bündel prospektiver Akte, in dem vermutlich die Stimmung einer Erwartung am grundlegendsten wäre. Denn nur aus dieser Stimmung heraus und dank der ihr innewohnenden ontologisch existenzialen Charakteristika ist es möglich, dass die Welt als Neue Welt und mit den ontischen Charakteristika, die dieses Faktum beglei­ ten, erscheint.497 […] Das Programm einer „,originalen‘ Philosophie« Es sollte zur Aufgabe der Philosophie gehören, die Erfahrung des Seins zum Licht zu führen, sie zu beleuchten. Dies ist der Pfad, den wir entwerfen wollten, und dessen Ergebnisse, welches Schicksal sie auch immer erleiden, letztlich unerheblich sein werden. Denn am wichtigsten war es, den Weg selbst aufzuzeigen, welcher verfolgt werden muss, um diese zu finden, d. h., um einen Zugriff auf die Inter­ pretation der Seinserfahrung durch den amerikanischen Menschen in seiner Welt zu gewinnen. Wenn man auf die Schritte zurückblickt, die wir gegangen sind, wird man die Route und den verfolgten Zweck deutlich erkennen können. Geht man tatsächlich von der Angabe aus, dass wir, dadurch, dass wir Amerikaner sind, in unserem Sein bereits ein Verständnis von Amerika (unseres »amerikanischen Seins«) haben, das den Sinn eines Neu-Seins unserer Neuen Welt bereits impliziert, so mussten 497 Wenn die Erwartung als grundlegende Stimmung des amerikanischen Menschen hervorsticht, so kann das nicht bedeuten, dass sie in seinem alleinigen Besitz ist. Die Erwartung ist als existenziale Stimmung ein den Menschen gemeinsamer Wesenszug. So wie es jedoch möglich ist, in einigen Weltkonzeptionen bestimmte, teilweise betontere ethologische (ethológico) Stimmungen, durch die das Eigentümliche der jeweiligen Kulturen hervorgehoben und verständlich gemacht werden kann, aufzu­ spüren, glauben wir, auch die Erwartung als eine der grundlegenden Stimmungen des amerikanischen Menschen unterstreichen zu können. Die Grundfrage des vorlie­ genden Problems ist, ob sie nun die fundamentalste aller möglichen Stimmungen ist oder nicht und ob sich dementsprechend anhand des existenzialen Spiels auch andere Wesenszüge dieses Menschen aufzeigen und verständlich machen lassen. Wie wir im Verlauf dieses Essays sehen werden, geht es grundsätzlich weniger darum, dass die Erwartung die ausschließliche Stimmung des amerikanischen Menschen ist (denn streng genommen ist sie häufig mit anderen Bestandteilen vermischt, die ihre existenziale Umformung hervorrufen), als vielmehr darum, dass diese sozusagen die grundlegendste und am meisten verbreitete unter all jenen Stimmungen ist, die eine allgemein prospektive Struktur bilden können.

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wir alsbald nach den Bedingungen der Möglichkeit eines solchen Verständnisses fragen. Auf diese Art zeigten sich der Kontext und die Struktur eines Bündels prospektiver Akte, deren Grundstimmung von der Erwartung gezeichnet wird, als ermöglichende Grundlage einer derartigen Angabe vor-ontologischer Herkunft. Die Erwartung offenbarte sich also als Wurzel unserer Seinserfahrung und nur auf ihrer Grundlage konnte ein Verständnis unserer Weltkonzeption ermöglicht und sogar die Angabe unseres Seins als eines wesenhaft Immer-noch-nicht-Seins erwachsen. Dies erhellte und wiederholte auf eine gewisse existenziale Weise die Sehnsucht des amerikanischen Menschen, auf die Originarität seines innersten Seins zu stoßen bzw. diese zu entdecken. Da dieses Sein etwas ist, was der amerika­ nische Mensch noch nicht innehat, aber in seiner ereignishaften, aber zugleich unausweichlichen (als ein »Ziel«) Ankunft bemerkt oder verspürt, tendiert die Existenz zu diesem Sein wie zu ihrer ihr eigensten Seinsmöglichkeit. Übernimmt oder begreift man diesen Umstand genau so, besagt das jedoch, dass diese Möglichkeit nicht irgendeine beliebige unter vielen ist, sondern – gerade, weil sie die eigentümlichste ist – jene, welche zugleich den Sinn entwirft, welcher der Existenz die Authen­ tizität bzw. Eigentümlichkeit verleiht. Mit einem vor-ontologischen »Wissen« weiß, d. h. »meint« oder »berücksichtigt«, der Amerikaner, dass er sein authentisches Sein nur dann erlangt, wenn er originär ist. Einen der skizzierten Wege, um sich diesem Stadium zu nähern, haben wir bereits entworfen: die Tat.498 Aber gibt es nicht auch andere Wege, um dorthin zu gelangen? Tatsächlich gibt es solche weiteren Möglichkeiten. Unter den vielen Wegen, die aus der Quelle der Existenz hervorgehen, ist das Philosophieren vielleicht einer derjenigen, welche die höchste Würde und Hierarchie besitzen. Wenn die zu entwickelnde Philosophie einen Pfad zur Originalität, ja zur authentischen Existenz sein will, muss auch sie original sein. Was bedeutet aber originale Philosophie? Birgt dies nicht einen begrifflichen Widerspruch oder gar eine geschichtli­ che Ungereimtheit in sich? Der Gedanke ist zweifellos absurd, »das Originale« der amerika­ nischen Philosophie könnte darin bestehen, das philosophische Erbe zu ignorieren, zu vergessen oder zu missachten. Als Ertrag eines fortdauernd mühsamen Aufwandes gehört die Philosophie heute zum 498

Eine Tat, welche jedoch an das Gebot der Erwartung selbst gebunden ist.

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Erbe der Menschheit. Keine Sekunde lang kann und soll Amerika den­ ken oder glauben, dass seine philosophische Tätigkeit die universellen Errungenschaften der Philosophie unbeachtet lassen dürfe. Würden wir eine ebenso einfältige wie absurde Haltung einnehmen, müssten wir uns, anstatt zu »philosophieren«, eher damit beschäftigen, Höhlen zu bauen und in primitive Zeiten zurückzukehren. Im Gegensatz dazu sollte jeder Versuch, auf intelligente Weise zu Originalität zu gelan­ gen, über das gesamte Erbe des durch den Menschen angesammelten Schatzes verfügen. Nur von diesem aus und auf Grundlage der durch streng objektives Wissen erhellten Resultate kann die Arbeit an dem Entwurf einer originalen Philosophie beginnen. […] Was ist aber das Originäre, das zum Ziel haben muss, die amerikanische Philosophie zu erhellen und zu beleuchten, und wo ist es zu finden? Wie gewinnt man einen wahren Zugang zu ihm? »Methode« bedeutet auf Griechisch »Weg«. Die Zugangswege sind, wie wir bereits sagten, mannigfach und nebensächlich, weswe­ gen eine Reflexion sich dessen bewusst sein muss, dass diese Wege oftmals vom Umstand, den Höhen der Zeit und dem zu erforschenden Gegenstand selbst abhängen. Ohne dadurch einem dogmatischen Extrem oder einer Schulposition anheimzufallen, glauben wir, dass die Methode der existenziellen, deutlich phänomenologisch inspirier­ ten Hermeneutik,499 markante Vorteile bietet, um diese Aufgabe in Angriff zu nehmen. Sie verfügt nämlich über die Fähigkeit, die Forschung ohne Umschweife vor das analysebedürftige Schlüsselpro­ blem zu stellen. Was wir hier »Schlüsselproblem« nennen, ist das Gelände, auf dem sich die Originarität bewahrt und verdeckt aufhält. Sie zu ent-decken und zu beleuchten, ist die zentral zu bewerkstelligende Aufgabe, um die elementaren Umrisse eines wahrhaft philosophischen Programms zu skizzieren. Die Originarität des amerikanischen Menschen hält sich in sei­ ner eigentümlichen Erfahrungsweise des Seins verdeckt. Und genau dort werden wir sie suchen und finden müssen. Sie äußert und offenbart sich vor allem in der Art des amerikanischen Menschen, seine Geschichte zu leben, seine Werke zu konzipieren und der Auf­ gabe des Denkens entgegenzutreten. Hinter alledem schimmert auf, 499 Dies würde im Grunde der Befürwortung Heideggers entsprechen, dessen Reso­ nanzen in diesem Essay sehr leicht festzustellen sind.

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dass die Seinserfahrung des amerikanischen Menschen gegenüber den traditionellen Seinserfahrungen der Menschen anderer Zeiten und Kulturen deutliche Unterschiede aufweist. Heißt das etwa, dass sich zwischen jenen und dieser eine unüberwindliche Kluft auftut? Bedeutet die Originarität einen radikalen Bruch mit der Geschichte des Abendlandes und der Menschheit? Bereits eine solche Vermutung bedeutete eine Dummheit. Die Seinserfahrung des amerikanischen Menschen ist mit der durch die gesamte Menschheit vollzogenen Geschichte der Seinserfahrung verwandt. Und dennoch weist sie Züge einer originalen Originarität auf. Die Originarität besteht in den unterschiedlichen Formen, das Sein zu verstehen und folglich auch seinen Sinn und seine kategorialen Bestimmungen zu objektivieren. Die Seinserfahrung erfolgt stets von einer bestimmten Vorblick­ bahn (perspectiva) aus. Eine solche Instanz funktioniert als das origi­ näre Fundament dieses Verständnisses, weswegen wir die Perspektive, aus der man das Sein in der ontologischen Erfahrung versteht, als Ursprung bezeichnen können. Wie jede ontologische Erfahrung wur­ zelt dieser Ursprung im Menschen selbst (wodurch sich die Ähnlich­ keit jeder Gestalt der Seinserfahrung – sei es die griechische, mittelal­ terliche oder moderne – erklären lässt). Aber eben weil der Mensch einer wesentlichen Kontingenz gegenüber dem Sein unterworfen ist, kann dieser Ursprung verschiedenartige Modalitäten und Strukturen im Laufe der Geschichte annehmen, wodurch ein verschiedenartiges Seinsverständnis ausgelöst wird und eo ipso die Variation seines Sinnes und den begleitenden Wechsel in seinen Bestimmungen und kategorialen Bedeutungen prägt. Welches ist der Ursprung der amerikanischen Seinserfahrung? In seiner Entdeckung und Erhellung könnte sich das eigentliche Pro­ gramm einer originalen Philosophie verorten. Ohne Zweifel müsste man das Faktum berücksichtigen, dass der amerikanische Mensch sich selbst in einer Neuen Welt existierend vorgefunden hat und dies auch eine maßgebliche Rolle in dem Erscheinen seines eigentümlichen geschichtlichen Bewusstseins gespielt hat. Die Aufgabe auf diese Weise anzugehen, würde jedoch eine Beschränkung dieses Versuchs auf eine bloß historiographische Arbeit bedeuten. Ein solches Projekt von bloß historiographischem Format – und folglich ein Abbild sekundären Charakters – sollte mit einer tieferen und radikaleren Erforschung einhergehen. Genau darin würde eine tatsächliche His­ toriologie unseres geschichtlichen Seins bestehen. Auf den Ursprung unserer Seinserfahrung, die wiederum unsere originäre geschichtli­

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che Einstellung bestimmt, zurückzugehen, entspricht einer Selbstent­ deckung und Erhellung unseres innigsten Ursprungs. Wie wir bereits sagten, könnte sich in einer solchen Arbeit das tatsächliche Programm einer originalen Philosophie verorten und entfalten. Denn gerade weil die ontologische Erfahrung des amerikanischen Menschen in seiner Originarität aufgedeckt ist, werden sich neue Felder für eine originale Bestimmung des Sinns von Sein eröffnen. Es wäre nicht ungewöhn­ lich, hier auch einige kategoriale Bestimmungen zu entdecken, die noch nicht im umfangreichen ontologischen Repertoire, welches die Menschheit mit der Zeit und durch die verschiedenen Weisen, das Sein zu verstehen, entfaltet hat, eine Ausprägung erfahren haben. Dies würde keineswegs einen Bruch zwischen unserer ontologischen Erfahrung und der Entwicklung der Philosophie bedeuten oder gar den absurden Versuch begünstigen, zwischen uns und dem Rest der Menschheit eine geschichtliche Kluft zu säen. In der Geschichte (und ferner in der Philosophie als Seinsgeschichte) gibt es weder unerwartete Sprünge noch Emergenzen. Auf die Existenz einer origi­ nären ontologischen Erfahrung hinzuweisen, bedeutet lediglich, die Anwesenheit des amerikanischen Menschen in der Weltgeschichte durch seine unübertragbare und einzigartige Begegnung mit dem Sein zu erklären. Deswegen finden wir, dass die von uns erledigte Aufgabe nichts an Bedeutung eingebüßt hat. Es ist leicht zu erahnen, welche wesent­ liche Rolle in alledem die Stimmung der Erwartung als existenzial ermöglichende Grundlage für die Klärung der durch den amerikani­ schen Menschen verwirklichten Seinserfahrung spielt – zumindest, wenn man sie gründlich versteht. Demgegenüber lässt sich allerdings noch eine letzte Frage stellen, die wir, auch wenn wir noch nicht bereit sind, sie zu beantworten, dennoch formulieren möchten: Warum wurde die Stimmung der Erwartung so radikal entscheidend im ame­ rikanischen Menschen?500 Wie entsprang sie aus der Quelle seiner 500 Auch wenn es noch sehr früh ist, darauf hinzuweisen, sollten wir dennoch ein entscheidendes Problem umreißen, welches der Kern dieses Essays in Bezug auf die Erwartung und vor allem hinsichtlich ihrer Funktion als Bestandteil der menschlichen Existenz impliziert: Ist die Erwartung, und folglich auch deren Rang und Funktion, ein ontologischer oder lediglich ein ontischer Bestandteil in Bezug auf die Existenz des amerikanischen Menschen? Ohne ein so heikles Problem zu klären oder ihm gar auf den Grund zu gehen, können wir doch Folgendes sagen: Der amerikanische Mensch hat, wie jeder Mensch, als Grundzug seiner Existenz, und folglich als eigentlichen ontologischen Bestandteil,

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Existenz, sodass es ihm obliegt, sich als ein Immer-noch-nicht-Sein zu spüren? Amerika ist ein Schmelztiegel von Rassen und Kulturen. Zwei­ fellos besteht in ihnen jenes Element der Erwartung als ein Bestand­ teil, welcher ihre Existenz betrifft und formt. Welches Wunder oder welcher außerordentliche Zufall machte sie aber zu jener Grundstim­ mung, die heute den amerikanischen Menschen auszeichnet? War dies wirklich eine Frage rein faktischen Zufalls oder gibt es eine verborgene und an sich fassbare Begründung, die es uns erlaubt, das Warum einer derartigen Ankunft (advenimiento) zu lichten (esclare­ cer) und ihr einen Sinn zu geben? All dies scheint in eine Geschichtsphilosophie zu münden und sich dort aufzulösen. Die ontisch-ontologische Lichtung (esclarecimiento) des amerikanischen Menschen bzw. seiner Welt muss das Kernstück

eine ekstatische Konstitution. Aus diesem Grund ist seine Existenz grundlegend prospektiv. Das Auftreten von prospektiven Stimmungen und Akten ist daher das ontologische Faktum schlechthin. Geht man jedoch von einem Standpunkt aus, in dem die eigentliche Erwartung lediglich eine Möglichkeit unter vielen einer regionalen (ontischen) Konkretisierung jener prospektiven (ontologischen) Stimmung ist, könnte sie für einen ontischen Charakterzug gehalten werden. Ihre Betonung oder Entstehung als Grundstimmung der Existenz – die gegenüber der Hoffnung, Vorahnung, Vermutung oder Neugierde adjektivische Modalitäten sind – ließe sich dann von dem Begriff der Situation als faktischer Determinante seiner Ankunft her verstehen. Auch uns ist klar, dass diese Erklärung vermutlich die geeignetste wäre, um die Problematik unverkrampft und ohne zu zögern zu lösen, stellt sie uns gleichwohl (aus Gründen, die hier nicht genannt werden müssen) nicht gänzlich zufrieden. Hat also die Erwartung nicht etwa eine radikal ontologische Funktion, obwohl sie durch und durch ontisch ist, wenn sie als Bedingung der Möglichkeit einer Entdeckung des Seins selbst sowie seines Verstehens und Sinnes fungiert? Wäre sie also ein ontisch-ontologischer Bestandteil? Wir bevorzugen es, unsere Unschlüssigkeit in dieser Hinsicht einzugestehen und das Problem somit nur anzudeuten, nicht jedoch zu lösen. Hieraus rührt (wie man im Laufe dieses Essays feststellen kann) eine begleitende Unschlüssigkeit im Gebrauch der Termini. Wenn wir uns etwa strikt an die Heidegger’sche Terminologie gehalten hätten, hätte dies nach unserer Auffassung gewisse Unklarheiten hervorgerufen, da wir dann das Wort »existenzial« in seinem eigentümlichen ontologischen Sinn hätten gebrauchen müssen, um den Terminus »existenziell« für die Bestimmung des Ontischen vorzubehalten. Da wir hingegen die Kernfrage aus prinzipiellen Gründen, die uns sogar dazu zwingen würden, von Heidegger abzuweichen, nicht erledigt haben, wären wir nur schwerlich dazu imstande, diese Begriffe schulgerecht zu verwenden. Nur dort, wo es uns wichtig war, gewisse Probleme hervorzuheben, haben wir ihre technische Bedeutung bekräftigt. Der aufmerksame Leser wird dies sehr leicht feststellen.

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für den Beginn seiner Entwicklung sein; sie muss die Basis oder das primäre Fundament für diesen Prozess darstellen. Vielleicht können die Ideen, welche wir nun in einer flüchtigen Skizze dargelegt haben, als Ansporn für jene anhaltende und präzise Untersuchung dienen, vor die uns eine solche Aufgabe – wenn wir denn verstehen, was originär zu existieren bedeutet – stellt.

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Leopoldo Zea (1912–2004): Text 25 Europäische Philosophie und die Entwicklung des amerikanischen Bewusstseins (1969)

(Übersetzt von Niklas Schmich) […] Einige Seiten zuvor haben wir bereits zusammengefasst, inwie­ fern der Anspruch besteht, die europäische Philosophie als Gesamt­ heit der Ideen zu begreifen, die es zu erreichen gilt. Wir haben aber auch gezeigt, wie diese Philosophie, unabhängig von dem Willen derer, die sie mit dieser Absicht betreiben, umgestaltet und an die lateinamerikanische Wirklichkeit angepasst wird. Diese Wirklichkeit drückt der adaptierten Philosophie insofern ihren Stempel auf, als sie sie als schlechte Kopie des Originals und somit als ein Scheitern offenbart. Wir haben auch festgestellt, dass die Philosopheme dieser Philosophie in Lateinamerika keine Gelegenheit finden, eine solche Welt hervorzubringen, wie sie in Europa und in den Vereinigten Staaten von Amerika möglich war. Sie haben allerdings auch nichts mit Kabbala oder Magie zu tun: Ihre Aufnahme vollbringt nicht einfach Wunder, wie das vielleicht an ihrem Ursprungsort der Fall war. Sie sind lediglich Mittel, die willentlich aufgegriffen und in Bahnen gelenkt werden müssen, um durch die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit ihre tatsächliche Tragweite und Möglichkeit zu entfalten. So war es in der Aufklärung und später im Positivismus. Man wird noch einige Zeit warten müssen, bis sich der lateinamerikanische Mensch dieser Situation bewusst wird – dass nämlich erst sein Wille, der in einer bestimmten Situation wirkt, die Veränderungen seiner Wirklichkeit hervorruft und selbst der in Lateinamerika eingeführten Philosophie einen Sinn verleiht. Es würde sich dabei also um eine Philosophie handeln, die sich, ob man nun will oder nicht, an diese Situation und an diesen Willen anpasst. […]

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Text 25 Europäische Philosophie und amerikanisches Bewusstsein

Es war José Ortega y Gasset, ausgerechnet ein spanischsprachiger Philosoph, welcher der lateinamerikanischen Philosophie die Türen des Historismus öffnete; einer Philosophie also, die dem Lateinameri­ kaner ein Bewusstsein für die Tragweite seines eigenen Denkens ver­ leiht. Nur weil diese Philosophie, wie jedes Philosophieren, in einem bestimmten und konkreten Menschen ihren Anfang nimmt, hört sie nicht auf, in ihrem Bewusstsein Philosophie zu sein. Und auch die von ihr behandelten Themen hören deswegen nicht auf, philosophisch zu sein. Die Revista de Occidente und ihre Publikationen werden es dem lateinamerikanischen Menschen erlauben, in die Welt einer Kultur und Philosophie einzudringen, die sich in einer Krise befindet. Diese Kultur und diese Philosophie sind sich ihrer Tragweite bereits voll und ganz bewusst. Von der europäischen Philosophie, die man für die Philosophie schlechthin hält, wurde das lateinamerikanische Denken in seiner langjährigen philosophischen Tätigkeit legitimiert und bestätigt. Damit ist gemeint, dass der Mensch, ob er nun will oder nicht, auf seiner Suche nach Lösungen von sich und seinen »Lebensumständen« bzw. seiner Situation ausgehen muss. Diese Lösungen können zwar nicht für die Allgemeinheit gültig sein, wohl aber für diese spezifischen »Umstände« und Situationen. Es handelt sich hierbei um eine Entdeckung der europäischen Philosophie, die von einer Krise den Ausgang nahm, die eben den Menschen erschüt­ terte, der diese Krise ausgelöst hatte. Die Krise aber war eine Krise des Menschen selbst, ganz gleich, ob er nun Europäer, Amerikaner, Asiate oder Afrikaner war; eine Krise, die den Menschen dazu brachte, sich seiner selbst und damit auch der Anderen bewusst zu werden. Als er sich selbst begegnete, begegnete er auch den Anderen, die ihrerseits in seiner Krise ihre eigenen Krisen wiedererkennen konnten. Was auf diese Weise für das europäische Bewusstsein zum Wissen um die eigene Begrenztheit wurde, bedeutete für das lateinamerikani­ sche Bewusstsein ein Wissen um die eigenen Möglichkeiten. Im Bewusstsein seiner eigenen Krise konnte der Europäer die Beschrän­ kungen dieses Bewusstseins ausfindig machen; und damit auch seine notwendige Ähnlichkeit zu Menschen, die er zuvor lediglich nach ihren äußeren Beschränkungen beurteilt hatte. Ihrerseits fanden diese Menschen – und zu ihnen zählt auch der lateinamerikanische Mensch – in den Beschränkungen, deren sich der Europäer bewusst wurde, Ähnlichkeit mit dem europäischen Menschen. Aus diesem Grund stießen die Lateinamerikaner auch auf eine Reihe von Möglichkeiten, die dem Europäer nicht zwingend fremd sein müssen. Durch das

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Text 25 Europäische Philosophie und amerikanisches Bewusstsein

Wissen um seine Begrenztheit verstand sich der Europäer nun als ein Mensch unter vielen Menschen; und auch der Lateinamerikaner fühlte sich als einer unter vielen, als Teil der Menschheit, durch die ihm keine der Möglichkeiten, welche die Zivilisation und Kultur des Abendlandes hervorgebracht hatten, verwehrt blieb. Der abendländi­ sche und der nicht-abendländische Mensch werden sich auf scheinbar entgegengesetzten Wegen begegnen. Als sich der Mexikaner Samuel Ramos auf die kulturelle Bewe­ gung bezog, die mit der Revolution von 1910 entstand, wies er ausdrücklich auf die Bedeutung hin, die der Historismus für die Philosophie in Mexiko haben würde, um die Früchte dieser Bewegung auf eine philosophische Ebene zu heben; das heißt auf die Ebene einer Philosophie, die Mexiko – und Lateinamerika im Allgemeinen – zuvor als fremd erschien. Die Reflexion über die eigene Kultur und den Menschen, der diese Kultur zuallererst ermöglicht hat, waren Themen, die gegenüber der Philosophie nicht zwingend als fremd erwogen werden sollten. Nichts anderes tat die europäische Philoso­ phie, aber sie wurde sich erst jetzt, im Zusammenhang ihrer Krise, dieser Tatsache wirklich bewusst. In Mexiko, schreibt Ramos, entwi­ ckelte und verwirklichte sich eine kulturelle Bewegung, die, wenn sie auch nationalen Charakter hatte, in ihrem Ausdruck durchaus von internationaler Tragweite war. Man nahm sich selbst zum Ausgangs­ punkt, konnte sich aber durch das Bewusstsein, das dieses Selbst von den Anderen hatte, durchaus auch erweitern. »Es handelte sich um eine Bewegung nationalen Charakters«, so schreibt er, »die sich nach und nach auf die gesamte mexikanische Kultur ausbreitete: in der Lyrik von Ramón López Velarde, in der Malerei von Diego Rivera und im Roman von Mariano Azuela.«501 Dasselbe geschah im Bereich 501 Ramos, Samuel: Historia de la filosofía en México, Mexiko 1943: S. 149 [Siehe auch Samuel Ramos (2011): Obras 2. Filosofía y Estética. Hg. von Rosa Campos de la Rosa. Mit einem Vorwort von Tania López Osuna. Mexiko: El Colegio Nacional, S. 155.] [Wie Samuel Ramos hier bereits andeutet, heben die von ihm zitierten Künstler in ihren Werken allesamt den Nationalcharakter Mexikos hervor: Ramón López Velarde (1888–1921) gilt als poetischer Beschwörer der mexikanischen Revolution und wird der durch Rubén Darío begründeten literarischen Bewegung des modernismo zuge­ rechnet. Die mexikanische Revolution wird in Romanen wie Los de abajo (1915) des preisgekrönten Schriftstellers und Widerstandskämpfers Mariano Azuela (1873– 1952) zu einem literarischen Sujet. Der kubistische Maler und Ehemann von Frida Kahlo Diego Rivera (1886–1957) erlangte besonders durch seine sozialkritischen Wandmalereien, die eine Vielzahl von öffentlichen Gebäuden in Amerika schmücken, einen hohen Beliebt- und Bekanntheitsgrad.].

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der Bildung durch die Lehrerschaft José Vasconcelos’, der für die Entwicklung einer eigenen Kultur plädierte. Eine eigene Kultur und eine eigene Philosophie? Waren nicht die Kultur wie die Philosophie etwas Universelles und damit über allen lokalen Wurzeln angesiedelt? »Allerdings«, so fügt er hinzu, »schien die Philosophie nicht in diesen idealen Rahmen der Nationalismen hineinzupassen, weil sie den Anspruch erhob, sich in die universelle menschliche Perspektive hineinzuversetzen, die den konkreten raumzeitlichen Bestimmungen widerstrebt.«502 Es war aber dieselbe Philosophie, die Philosophie par excellence, die europäische Philosophie, welche diese Form der Konkretisierung nicht nur als Ausgangspunkt rechtfertigte, sondern sie auch als etwas für die gesamte Philosophie Wesentliches präsen­ tierte, gerade weil sie der Ausdruck menschlichen Handelns sei. Eine mexikanische Philosophie? Eine amerikanische Philosophie? Selbst­ verständlich! Genauso, wie es zuvor eine griechische, mittelalterliche, französische, englische und deutsche Philosophie gab. Die neue euro­ päische Philosophie brachte die Geschichtlichkeit und Begrenztheit jeglicher Philosophie zum Ausdruck, während der philosophische Perspektivismus und Vitalismus die philosophische Besinnung – und zwar jede – aus einer bestimmten Konstellation heraus rechtfertigten. José Ortega y Gasset, so der mexikanische Philosoph Samuel Ramos, erschien, »um dieses Problem zu lösen, indem er in Tema de nuestro tiempo die Geschichtlichkeit der Philosophie aufzeigte. In meiner Generation wurden diese Gedanken mit einigen anderen aus den Meditaciones del Quijote zusammengeführt, um hierin die etymolo­ gische Rechtfertigung einer nationalen Philosophie zu finden.«503 Ortega sprach von einer Philosophie des Manzanares504 und stützte sich dabei auf die besten Seiten einer abendländischen Philosophie, die sich der Krise ihrer Universalität bereits bewusst war. Auf die philosophischen Überlegungen Ortegas folgte eine bemerkenswerte Verbreitung jener besten Seiten der zwischen den beiden Weltkriegen entstandenen abendländischen Kultur. »Neue [Ramos (2011): Ebd.]. Ebd. [Ramos (2011): S. 156–157.]. 504 [Zea verweist auf eine berühmte Passage in den Meditationen über »Don Qui­ jote«, in der Ortega zur Illustration seines Konzepts einer »Philosophie der Umstände« von einem Logos des durch Madrid fließenden Manzanares spricht: »Selbst der Manz­ anares hat seinen Logos: unter den paar Wassertropfen dieses mehr denn bescheide­ nen Baches, dieser verflüssigten Ironie, welcher an den Grundmauern unserer Stadt leckt, ist sicher irgendein geistigerer Tropfen zu finden«. Ortega (1959): S. 53.]. 502

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Tatsachen« und »Neue Ideen« waren die Schwerpunkte der durch die Revista de Occidente verbreiteten Publikationen. Die Wirkung auf Lateinamerika war groß; es erwuchsen neue Sichtweisen und eine größere Sicherheit bezüglich der Fähigkeit der Lateinamerikaner, an der dem Menschen eigenen kulturellen Tätigkeit teilzuhaben. Weit entfernt davon, diese Verbreitung zu hemmen, trug der Spanische Bürgerkrieg von 1936 vielmehr zu ihr bei, indem er diverse Zentren der lateinamerikanischen Kultur, insbesondere Mexiko und Argen­ tinien, zu neuen Keimzellen werden ließ. Eine Gruppe spanischer Philosophen des transtierro wie José Gaos, Joaquín Xirau, Juan David García Bacca, José Ferrater Mora,505 Eduardo Nicol, Luis Recasens Siches und viele andere wird zum Fundament lateinamerikanischen Denkens. Exemplarischen Charakter gewinnt dabei vor allem die Haltung des Lehrmeisters José Gaos, der seit dem Moment seiner Ankunft in Amerika auf die Universalität eines Denkens aufmerksam macht, das zuvor noch auf seine eigenen »Umstände« beschränkt zu sein schien: das lateinamerikanische Denken. Auch wenn dieses Denken nicht dem terminologischen Profil der abendländischen Phi­ losophie entspricht, muss es nicht zwingend unphilosophisch sein. In der Professur José Gaos’ und in seinen Seminaren kam es, wie auch in den von anderen transterrados in Lateinamerika, zu einer immer intensiveren Sorge um die Suche nach philosophischer Uni­ versalität, die von einer bestimmten Situation bzw. spezifischen »Umständen« ihren Ausgang nimmt. Seine Lehrtätigkeit wird durch Publikationen der höchsten Erzeugnisse abendländischer Kultur (und darunter auch der Philosophie) ergänzt, die nicht mehr durch Ortegas Revista de Occidente bewerkstelligt werden konnten. Neben ande­ ren Verlagshäusern in Lateinamerika werden vor allem der Fondo

505 [Der katalanische Philosoph José Ferrater Mora (1912–1991) ist wohl das bekann­ teste Mitglied der »Schule von Barcelona«. Nachdem er während des Spanischen Bürgerkriegs Teil der republikanischen Armee gewesen war, wurde er durch die Machtergreifung Francos ins Exil gezwungen, zunächst nach Kuba und Chile und schließlich in die Vereinigten Staaten. Sein bekanntestes Werk in Lateinamerika und Spanien ist das Diccionario de filosofía, das in zahlreichen Auflagen erschienen ist. Ferrater war ein Autor, der versuchte, eine originelle philosophische Methode zu entwickeln und sie auf die verschiedensten Disziplinen anzuwenden (Ontolo­ gie, Geschichte der Philosophie, Wissenschaftsphilosophie, Kulturphilosophie, Ethik usw.). Zea erinnert an Ferrater als Exilautor, wohl wissend, dass Ferrater auch der Geschichte der spanischen Philosophie bzw. dem Werk von Autoren wie Unamuno, Ortega y Gasset, Eugenio DʼOrs u. a. mehrere Schriften gewidmet hatte.].

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de Cultura Económica506 in Mexiko und Losada507 in Argentinien diese außergewöhnliche Diffusionsarbeit übernehmen. Unter ande­ ren finden dadurch Wilhelm Dilthey, Werner Jaeger, Ernst Cassirer, Edmund Husserl und Martin Heidegger, in spanischer Übersetzung, Verbreitung in Lateinamerika. Um den Ansatz einer universellen Philosophie, die von dem durch Ortegas Perspektivismus inspirierten Gedanken einer spezifischen Besonderheit Lateinamerikas ausgeht, zu rechtfertigen, beschäftigte man sich mit einer Darstellung des Den­ kens in diesem Teil Amerikas. Unter anderem der Historismus, die Kultursoziologie und der Existenzialismus werden es gestatten, ohne Minderwertigkeitskomplexe zur Realität, das heißt zu der konkreten Situation der Menschen Amerikas, zurückzukehren, um von dort aus zu einer wahren Universalität zu streben. […] Der historistischen Strömung wird sich ergänzend die philoso­ phische Strömung des Existenzialismus anschließen. Es handelt sich dabei um eine Strömung, die man nicht mehr nur als Modeerschei­ nung wahrnimmt, sondern mit anderen Augen zu sehen beginnt, nämlich als Instrumentarium und Erkenntnisweise im Dienste einer konkreten Wirklichkeit. Nichts anderes hatten Heidegger und Sartre in ihren jeweiligen Anthropologien getan, die Ausgangspunkte zur Erfassung eines Wesens darstellten, das letztlich eine bloße Abs­ traktion bleibt. Sie gingen dabei von der konkreten, spezifischen Erfahrung des durch sie befragten Menschen aus – also des abend­ ländischen, europäischen, deutschen oder französischen Menschen –, der sich in einer ganz bestimmten Welt oder Situation befindet. 506 [Die Geschichte des Verlags Fondo de Cultura Económica geht auf das Jahr 1934 zurück, als dieser von dem mexikanischen Wirtschaftswissenschaftler, Historiker und Diplomaten Daniel Cosío Villegas gegründet wurde. Unter dem entscheidenden Impuls der Exilanten José Gaos und Eugenio Ímaz avancierte der Fondo de Cultura Económica 1943 zu einem der renommiertesten philosophischen Verlage in ganz Lateinamerika – sein Themenspektrum war und ist jedoch äußerst breit gefächert: Geschichte, Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Literatur, Essays usw.]. 507 [Das Verlagshaus Losada wurde von dem spanischen Emigranten Gonzalo Losada Benítez (1894–1981) in Buenos Aires gegründet. Man kann sagen, dass der LosadaVerlag nach dem Spanischen Bürgerkrieg die Arbeit von Ortega y Gassets Revista de Occidente (sowie des gleichnamigen Verlages) fortsetzte und auch ein Publikationsor­ gan für die republikanischen Exilanten in Argentinien war. Francisco Romero leitete dort etwa die Reihe »Biblioteca Filosófica«, die nicht nur Übersetzungen klassischer Denker (Thomas von Aquin, Kant und Hegel) und zeitgenössischer Autoren (Scheler, Heidegger, Bertrand Russell, Alfred Whitehead, Jean-Paul Sartre etc.), sondern auch Titel spanischer und hispanoamerikanischer Philosophen und Schriftsteller enthielt.].

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Diese wird durch einen neuen Konflikt erschüttert, da den Horizont eines jeden Menschen – der somit abstrakt bleibt – der Tod und das Nichts bilden. Der Mensch verspürt angesichts einer aus der Kontrolle geratenen Katastrophe, die auf sein Tun zurückgeht, Angst. Es handelt sich dabei um eine Welt, die das Resultat einer menschli­ chen Selbstentfremdung ist: Der Mensch ist zum Werkzeug seines Werkzeugs, der Welt, geworden. Und in dieser Welt muss der Mensch unweigerlich Entscheidungen treffen – auch dann, wenn seine Situa­ tion noch so aussichtslos ist und er selbst gewissenlos handelt, um sich seiner Verantwortung zu entziehen. Dieser Mensch und die Situation bzw. Welt, in der er sich befindet, bilden die Grundlage des Existen­ zialismus, einer Lehre, die vergeblich das absolute Sein sucht und dabei lediglich das Wesen eines Seienden betont, das eines »Wesens« entbehrt. Da es sich also um ein begrenztes Seiendes handelt, ist es sowohl in diesem als auch in jedem anderen Teil der Welt ein Mensch im Allgemeinen, das heißt gleichermaßen in Europa, Asien, Afrika oder Lateinamerika ein Mensch. Die bereits in sich gegangenen Lateinamerikaner werden nicht bloß versuchen, sich selbst in einem bestimmten Horizont der Geschichte zu erfahren, sondern auch als Menschen, als konkrete Akteure dieser Geschichte, welche die Situa­ tion oder die »Umstände« erleiden, die sie determiniert, personalisiert und individualisiert haben. Neben der Sorge um die kulturelle und philosophische Vergangenheit entsteht hierdurch auch eine Sorge darum, was der amerikanische Mensch ist. Er ist zwar in erster Linie ein Mensch, aber eben auch ein bestimmter und konkreter Mensch. Er ist ein Mensch, dessen nicht-wesenhaftes Wesen der Existenzialismus versucht hat zu beschreiben. Jedoch handelt es sich hierbei nicht um den Menschen aus Deutschland, Europa oder dem Abendland, sondern eben um einen anderen Ausdruck des Menschlichen: Es geht um den Menschen Amerikas, mitsamt seinen Ängsten und seinem Ekel, aber auch seiner Projekte und Projektionen. Dieser Mensch hält sich nicht bloß aufgrund seiner eigenen, sondern auch aufgrund der Projekte Anderer für entfremdet und anderen Menschen untergeordnet und durch sie kolonisiert. Diese Fremde verspürt er auch gegenüber der Welt seiner Kolonialisten und jener Welt, die durch sie als Mittel für andere Zwecke erscheint. Diesen Menschentyp zu beschreiben, bedeutet nicht, ein fremdes oder monströses Seiendes darzustellen, sondern schlicht und einfach einen Menschen, einen konkreten Ausdruck des Menschseins. Es ist der Mensch, von dem uns

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die Existenzialphilosophie der europäischen Kriegs- und Nachkriegs­ zeit erzählt. So werden es diejenigen verstehen, die in Lateinamerika aus dem Existenzialismus ein Beschreibungs- und Erkenntnisinstrumen­ tarium gewinnen, um zu zeigen, welche Seinsweise des Menschen dort zugegen ist. Es versteht sich von selbst, dass es dabei nicht um einen allgemeinen Menschen, sondern um einen konkreten Men­ schen geht. Es geht um einen Menschen, dessen Konkretion und Wirklichkeit ihm durch sein Verhältnis zu den situativen »Umstän­ den« vorgegeben ist, in denen er zu leben, zu handeln und zu existie­ ren hat. […] Aber nicht nur ein Bewusstsein von der Assimilierung des als eigen Erachteten ist notwendig, sondern auch ein Bewusstsein von der Überwindung des Assimilierten. Die Lateinamerikaner sind genauso wie alle anderen Völker dazu in der Lage, einen Beitrag zu leisten. Sie sollten sich nicht mehr darum kümmern, der je neuesten Mode hinterherzulaufen oder diese zu imitieren, sondern schlicht und einfach darum, schöpferisch zu werden und sich produktiv zu assimilieren. Dieses Interesse drückte sich bereits bei einigen Lehr­ meistern der lateinamerikanischen Generationen aus, die nicht den Nachhall und die Rechtfertigung gefunden haben, die ihnen die europäische Kultur und Philosophie bieten können. Ausgehend von gewissen Ausdrucksformen des Menschlichen, die sich in der abend­ ländischen Philosophie zeigen, kann der Lateinamerikaner seine eigenen Ausdrucksformen herausstellen und als Beitrag zu einer Idee des Menschen und seiner Welt vorlegen. Es handelt sich dabei um eine Idee, der noch nie entsprochen wurde und deren Befriedigung vom Vermögen des Ausdrucks eines Aspektes oder Momentes dieser Idee abhängen wird. Ausgehend vom Perspektivismus Ortegas und anderen vitalistischen Philosophien beschreibt Samuel Ramos einen konkreten Menschentyp, nämlich den mexikanischen Menschen mit­ samt seiner Welt und Kultur. Ebenso zeigt der uruguayische Philo­ soph Arturo Ardao,508 ausgehend vom Historismus, den Menschen [Gemeint ist der uruguayische Philosoph Arturo Ardao (1912–2003), der an der Universidad de la República (Universität der Republik) in Montevideo Professor für Ideengeschichte Lateinamerikas war. Im Zuge der Militärdiktatur ins venezolanische Exil gezwungen, lehrte er am Centro de Estudios Latinoamericanos Rómulo Gallegos und an der Universidad Simón Bolívar. Im Jahr 1989 wurde er von der Universität

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Amerikas in seiner Geschichte auf, einer konkreten Geschichte, auch wenn sie sich etwas anders gestaltet als die Geschichte der Menschen anderer Breitengrade. Der mexikanische Philosoph Emilio Uranga wiederum beschreibt, ausgehend vom Existenzialismus Sartres, das Wesen des Mexikaners.509 Und auch der venezolanische Philosoph Ernesto Mayz Vallenilla betont, mit Hilfe von Heideggers philosophi­ scher Interpretation des Menschen, eine Nuance, die er als für den amerikanischen Menschen charakteristisch erachtet: die Erwartung. Ohne Vergangenheit, aber auch ohne eine Gewissheit hinsichtlich der Zukunft verweilt er in der Erwartung eines Seins, das sich nach langem Warten ereignen wird. Das Einzige, was dieses ständige Warten beenden kann, ist die Tat. Nur sie wird den lateinamerikani­ schen Menschen aus dem Sumpf einer Erwartung, die niemals zur Gegenwart wird, herausziehen. Mayz Vallenilla schreibt: Der Reichtum des amerikanischen Kontinents, seine großen Energiequellen und sein menschliches Potenzial sowie die privile­ gierte Lage seines Territoriums, um der Entwicklung der Menschheit einen Ort zu geben, können sich unerwartet in negative Vorzeichen verwandeln. Es ist ein Fehler, von Amerika als »Königreich der Zukunft« zu träumen. Die Zukunft könnte Amerika zu einer begehr­ ten Beute für jeden Imperialismus werden lassen, und unter einer derartigen Hegemonie könnten sein Boden und seine Bewohner in bloße Rohstoffe für den Betrieb einer gigantischen Kolonialfabrik verwandelt werden. Amerikas einzige Funktion würde dann darin bestehen, als Nahrungsquelle zu dienen, um die Bedürfnisse anderer Völker zu befriedigen. Die Furcht davor, dass diese Möglichkeit in die Tat umgesetzt wird, kann einem Leben in falschen Hoffnungen Beistand leisten.510 Der amerikanische Mensch, der sich in einer Erwartungshaltung befindet, sollte aus dieser Dimension ein zu erreichendes Ziel formen, der Republik emeritiert. Er war Autor zahlreicher Werke zur lateinamerikanischen Philosophie und Geschichte.]. 509 [Uranga schreibt Folgendes über Sartre: »Für meine Generation, genauer gesagt für die Hiperión-Gruppe, ist es wirklich wichtig zu wissen, wie Sartre mit den Themen der Moral umgehen wird, und nicht so sehr, wie Heidegger Das Sein und das Nichts einschätzt […]. Aus der Position, die Sartre einnehmen wird, wird sich unmittelbar eine Theorie der sozialen Beziehungen, eine Pädagogik, eine Theorie der Geschichte, eine Moral und eine Idee des Menschen ergeben«. Uranga (2016): Kapitel »Dos existencialismos« (Kindle Edition).]. 510 [Mayz Vallenilla (1992): S. 68.].

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Text 25 Europäische Philosophie und amerikanisches Bewusstsein

das zu einer Tat führt, die Enttäuschung vermeidet und der Möglich­ keit von Abweichungen vorbeugt. Diese Tat muss mit dem Zufälligen rechnen und gleichzeitig versuchen, es unter Kontrolle zu bringen. Und wie erreicht man das? Eben dadurch, dass man das Bewusstsein dafür schärft, auf alles und gegenüber allem, was auf uns zukommt, »vorbereitet« zu sein. Denn das, was auf uns zukommt, ist die »Neue Welt« und auch wir selbst, als ihre Bewohner. Der amerikanische Mensch muss wissen, dass diese »Neue Welt« keine bereits gegebene Wirklichkeit ist und auch nicht durch den Zufall des Glücks zu einer Art »gelobtem Land« […] wird. Das bedeutet, dass der amerikanische Mensch verstehen sollte, dass er radikal der Gefahr ausgesetzt ist, seine »Neue Welt« nicht zu haben. Hören Sie gut zu, sie »nicht zu haben«. und nicht nur »sie zu verlieren«… er hat sie dann nämlich nicht einmal endgültig erworben […].511 Die Erwartung ist nämlich lediglich die abstrakte Anwesen­ heit von etwas, das noch nicht eingetreten ist. Im Gegensatz dazu macht die Tat aus der Gegenwart ein Instrument, um etwas, was zu geschehen hat, der Erwartung gemäß herbeizuführen. Das, was man anstrebt, worauf man wartet bzw. abzielt, ist das, was Mayz Vallenilla Originalität nennt. Die Originalität ist wie die Seinsweise des ameri­ kanischen Menschen: das angestrebte Sein, die erwartete Zukunft. Durch eine phänomenologische Interpretation, die an Heideggers Interpretation des Seienden, welches über sein Sein befragt werden kann, erinnert, hat Mayz Vallenilla gezeigt, dass das eigentümliche Sein des Menschen in Amerika die Erwartung ist, die Erwartung einer gewissen Originalität dessen, was man für das Eigene hält. Dieses Sein äußert sich in der Gegenwart als »wesenhaftes immernoch-nicht-Sein«, als Sein, das zu jener Originalität des Eigenen hinstrebt, die es noch nicht hat und die nur durch ein Handeln dieses Seins, welches sich nicht verwirklichen kann, ausdrücklich wird. Zum Sein gelangt man auf verschiedenen Wegen und durch verschiedene Perspektiven, die sich in der Erwartung äußern, d. h. in dem, worauf man wartet. Der amerikanische Mensch hat, wie jeder Mensch, seine eigene Erwartung, seinen eigenen Blickwinkel, seine Perspektive. Gerade von der Perspektive aus betrachtet man das Sein bzw. gelangt man zu dem, was Mayz Vallenilla den Ursprung nennt, von dem aus man das Verlangen nach Originalität, die Suche 511

[Ebd., S. 69.].

458 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Text 25 Europäische Philosophie und amerikanisches Bewusstsein

eines eigenen Ausgangspunktes, um zum Sein zu kommen, ablei­ tet. Wir würden sagen, dass es darum geht, von einer konkreten menschlichen Seinsweise aus zum Menschen zu gelangen. Diesen Ursprung, d. h. die eigentümliche Perspektive des amerikanischen Menschen, zu entdecken, wäre nach Meinung Mayz Vallenillas das Programm einer ursprünglichen lateinamerikanischen Philosophie. So folgert der venezolanische Philosoph: »Auf die Existenz einer ori­ ginären ontologischen Erfahrung hinzuweisen, bedeutet lediglich, die Anwesenheit des amerikanischen Menschen in der Weltgeschichte durch seine unübertragbare und einzigartige Begegnung mit dem Sein zu erklären.«512 Diese Philosophie muss nicht etwa in einer Ontologie, sondern in einer Philosophie der Geschichte kulminieren, in der man – im Sinne eines Ursprungs – etwas von der ursprünglichen Form erfahren kann, in der sich der amerikanische Mensch hinsichtlich der Taten anderer Menschen, Völker und Nationen in der Geschichte verortet. Sich selbst als ursprünglich zu empfinden bedeutet nicht, sich als etwas Verschiedenes, sondern als Einer unter Anderen, als Gleicher unter Gleichen, ein Ähnlicher unter Ähnlichen, als ein Mensch unter Menschen zu begreifen. In dieser Form der Universalität verbindet sich das Universalitätsstreben mit dem Streben nach Originalität. Die zeitgenössische europäische Philosophie ist so zu dem Bewusstsein gelangt, dass sie in ihrer Ausprägung eine unter vielen ist. Sie ist Teil einer Menschheit, die über eine falsch verstandene Universalität hin­ ausgeht. Diese war nämlich lediglich eine Abstraktion des Ausdrucks dessen, was alle Formen der Menschheit, in all ihrer Unterschieden­ heit, zum Ausdruck bringen wollen – und brachte so letztlich gar keine zum Ausdruck. Der Europäer oder Abendländer betrachtete seine Universalität als selbstverständlich. Demgegenüber empfand der Amerikaner seine Unfähigkeit, aus sich selbst zu dieser Universa­ lität zu gelangen, als selbstverständlich, da er sich anders empfand als der Mensch, der behauptete, Inbegriff der gesamten möglichen Menschheit zu sein. Die großen Hekatomben der letzten Jahre haben dem Abendländer gezeigt, dass er keineswegs der singuläre Ausdruck der Menschheit ist. Und sie haben dem Lateinamerikaner gezeigt, dass er gerade dadurch, dass er anders, individuell und auf seine Weise ursprünglich ist, ein Mensch schlechthin, ein Mensch unter Menschen ist. Das heißt, dass er nicht mehr, aber auch nicht weniger Mensch 512

[Ebd., S. 77.].

459 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Text 25 Europäische Philosophie und amerikanisches Bewusstsein

ist, als ein Mensch anderer Kontinente, ganz unabhängig davon, ob es sich dabei um den europäischen, den afrikanischen oder den asiatischen Menschen handelt. Gleichzeitig führt die neue, aus dem Krisengefühl des abendländischen Menschen geborene Philosophie ein neues Bewusstsein von Universalität herbei, dessen zwingender Bestandteil auch der Mensch Amerikas ist. […]

460 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Originalveröffentlichungen

Zusammenstellung der Einzeltitel Text 1 Auszüge aus dem Briefwechsel mit José Ortega y Gasset Epistolario completo Ortega – Unamuno. Hg. von Laureano Robles. Madrid: Edi­ ciones El arquero, S. 37–40 [Brief vom 17. Mai 1906]; S. 41 42 [Brief vom 30. Mai 1906]; S. 55–61 [Brief vom 30. Dezember 1906]; S. 159–163 [Brief vom 17. Februar 1907], S. 100–103 [Brief vom 2. November 1911]

José Ortega y Gasset Text 2 Über die Phänomenologie (1929) »Sobre la fenomenología (1929)«, in: José Ortega y Gasset (2017h): Obras Com­ pletas. Tomo VIII (1926–1932). Obra póstuma. Madrid: Editorial Taurus, S. 177–187. Text 3 Die Idee des Theaters (1946) »Idea del teatro. Una abreviatura (1946)«, in: José Ortega y Gasset (2017i): Obras Completas. Tomo IX (1933–1948). Obra póstuma. Madrid: Editorial Taurus, S. 836–849. Text 4 Das Erdbeben der Vernunft (1944) »El terremoto de la razón (1944)«, in: José Ortega y Gasset (2017i): Obras Com­ pletas. Tomo IX (1933–1948). Obra póstuma. Madrid: Editorial Taurus, S. 653–694.

461 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Originalveröffentlichungen

Manuel García Morente Text 5 Über die Metaphysik des Lebens (1934) Auszüge aus De la Metafísica de la vida a una teoría general de la cultura (1934), in: ders. (1996a): Obras Completas I-1 (1906–1936). Hg. von Juan Miguel Palacios und Rogelio Rovira. Madrid/Barcelona: Fundación Caja Madrid/ Anthropos, S. 400–412. [Erstveröffentlichung in: Manuel García Morente (1995): De la metafísica de la vida a una teoría general de la cultura. (Curso en Buenos Aires de 1934). Philosophica Complutensia Bd. 6. Hg. von Juan Miguel Palacios und Rogelio Rovira. Madrid: Facultad de Filosofía de la Universidad Complutense]

Xavier Zubiri Text 6 Rezension zu Brentanos Psychologie (1926) »Recensión de Brentano«, in: Xavier Zubiri (1999): Primeros escritos (1921– 1926). Hg. von Antonio Pintor-Ramos. Madrid: Alianza Editorial/Fundación Xavier Zubiri, S. 383–391. [Erstveröffentlichung: Xavier Zubiri (1926): »Recensión de Brentano«, in: Revista de Occidente, Nr. 42 (1926), S. 403–408]

Text 7 Phänomenologie, empfindende Intelligenz und Metaphysik der Realität (1944–1980) Auszüge aus Xavier Zubiri (2011): Inteligencia sentiente. Volumen 1. Inteligencia y realidad. Madrid: Alianza Editorial/Fundación Zubiri (erste Auflage 1980), S. 10–11, 20–23, 83–84. Auszüge aus Xavier Zubiri (2015): Naturaleza, Historia, Dios. Hg. und mit einem Vorwort von Diego Gracia. Madrid: Alianza Editorial/Fundación Zubiri (erste Auflage 1987), S. 13–15. [Erstveröffentlichung: Xavier Zubiri (1944): Naturaleza, Historia, Dios. Madrid: Editoria Nacional]

462 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Zusammenstellung der Einzeltitel

Text 8 Auszüge aus dem Kurs Über die Realität (1966) Auszüge aus Xavier Zubiri (2001): Sobre la realidad. Hg. von José A. Martínez. Madrid: Alianza Editorial/Fundación Xavier Zubiri, S. 12–14, 16, 20–21, 247– 257.

Rosa Chacel Text 9 Eine Darstellung der praktischen und gegenwärtigen Probleme der Liebe (1931) »Esquema de los problemas prácticos y actuales del amor«, in: Revista de Occi­ dente, Nr. 92 (1931), S. 129–180.

María Zambrano Text 10 Träume und Zeit (1957) María Zambrano (2011): »Los sueños y el tiempo (1957)«, in: Obras Completas – III (1955–1973). Barcelona: Galaxia Gutenberg: S. 845–852. [Erstveröffentlichung: María Zambrano (1957): »Los sueños y el tiempo«, in: Diógenes, vol. 5, Nr. 19, S. 43–58]

Carlos Astrada Text 11 Soziologie des Krieges und Philosophie des Friedens (1948) Carlos Astrada (1948): Sociología de la guerra y filosofía de la paz. Buenos Aires: Facultad de Filosofía y Letras – Universidad de Buenos Aires, S. 7–17.

463 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Originalveröffentlichungen

Francisco Romero Text 12 Intentionalität und Geist (1952) Francisco Romero (2008): Teoría del hombre. Buenos Aires: Editorial Losada, S. 161–170. [Erstveröffentlichung: Francisco Romero (1952): Teoría del hombre. Buenos Aires: Editorial Losada, S. 157–169]

Antonio Caso Text 13 Was ist Bewusstsein? (Brentanos Entdeckung) (1938) “¿Qué es la conciencia? (El descubrimiento de Brentano)«, in: Antonio Caso (1972b): Obras completas VII – El acto ideatorio y la filosofía de Husserl. Posi­ tivismo, neopositivismo y fenomenología. Mit einem Vorwort von Luis Villoro. Textauswahl von Rosa Krauze de Kolteniuk. Mexiko: UNAM, S. 178–181. [Erstveröffentlichung: Antonio Caso (1938): “¿Qué es la conciencia? (El des­ cubrimiento de Brentano)«, in: El Universal, 5. August 1938]

Text 14 Intuitionismus (1943) Antonio Caso (1957): »El intuicionismo«, in: Antología filosófica. Hg. von Rosa Krauze de Kolteniuk. Mit einem Vorwort von Samuel Ramos. Mexiko: UNAM, S. 20–31. [Das übersetzte Kapitel »Intuitionismus« in den Gesammelten Werken: Anto­ nio Caso (1972a): Obras completas III – La existencia como economía, como desinterés y como caridad. Hg. von Rosa Krauze de Kolteniuk. Mit einem Vor­ wort von José Gaos. Mexiko: UNAM, S. 58–64]

464 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Zusammenstellung der Einzeltitel

Text 15 Leben als Ökonomie, Kunst als Uninteressiertheit und Existenz als Barmherzigkeit (1943) Antonio Caso (1957): »La existencia como economía, como desinterés y como caridad« Antología filosófica. Hg. von Rosa Krauze de Kolteniuk. Mit einem Vorwort von Samuel Ramos. Mexiko: UNAM, S. 51–79. [Das übersetzte Kapitel in den Gesammelten Werken in ders. (1972b): Obras Completas VII – El acto ideatorio y la filosofía de Husserl. Positivismo, neopo­ sitivismo y fenomenología. Mit einem Vorwort von Luis Villoro. Textauswahl von Rosa Krauze de Kolteniuk. Mexiko: UNAM, S. 74–75] [Das übersetzte Kapitel »Leben als Ökonomie« in den Gesammelten Werken: Antonio Caso (1972a): Obras completas III – La existencia como economía, como desinterés y como caridad. Hg. von Rosa Krauze de Kolteniuk. Mit einem Vorwort von José Gaos. Mexiko: UNAM, S. 43–44] [Das übersetzte Kapitel »Kunst als Uninteressiertheit« in den Gesammelten Werken: Antonio Caso (1972a): Obras completas III – La existencia como eco­ nomía, como desinterés y como caridad. Hg. von Rosa Krauze de Kolteniuk. Mit einem Vorwort von José Gaos. Mexiko: UNAM, S. 71–73] [Das übersetzte Kapitel »Existenz als Barmherzigkeit« in den Gesammelten Werken: Antonio Caso (1972a): Obras completas III – La existencia como eco­ nomía, como desinterés y como caridad. Hg. von Rosa Krauze de Kolteniuk. Mit einem Vorwort von José Gaos. Mexiko: UNAM, S. 99–106]

Joaquín Xirau Text 16 Der Höhepunkt einer Krise (1945) »Culminación de una crisis (1945)«, in: Joaquín Xirau (2000b): Obras completas III-2. Escritos sobre historia de la filosofía. Artículos y ensayos. Hg. von Ramón Xirau. Mit einem Vorwort von Antoni Mora. Madrid/Barcelona: Fundación Caja Madrid/Anthropos: S. 239–251. [Erstveröffentlichung: »Joaquín Xirau: Culminación de una crisis«, in: La Uni­ versidad de La Habana, Nr. 58–60 (1945), S. 45–64]

465 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Originalveröffentlichungen

Juan David García Bacca Text 17 Der phänomenologische Sinn der neuzeitlichen Philoso­ phie (1964) »El sentido fenomenológico de la filosofía moderna«, in: Juan David García Bacca (2003): Introducción literaria a la filosofía. Barcelona: Anthropos/Universidad Nacional Autónoma de México/Universidad Pública de Navarra (erste Auf­ lage Caracas: Universidad Central de Venezuela 1964), S. 135–155.

Eduardo Nicol Text 18 Das Sein des Ausdrucks (1957) Eduardo Nicol (1957): »El ser de la expresión. Caracteres del método fenome­ nológico«, in: Metafísica de la expresión. Mexiko: Fondo de Cultura Económica (erste Auflage 1957): S. 116–123.

José Gaos Text 19 Bekenntnisse aus dem Berufsleben I & II (1958) »Confesiones profesionales (1958)«, in: José Gaos (1982): Obras completas XVII – Confesiones profesionales. Aforística. Hg. von Fernando Salmerón. Mit einem Vorwort von Vera Yamuni Tabush. Mexiko: UNAM, S. 58–65 [Teil 1]; S. 85– 90 [Teil 2]. [Erstveröffentlichung: Gaos, José: Confesiones profesionales, Mexiko: Tezontle/Fondo de Cultura Económica 1958]

466 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Zusammenstellung der Einzeltitel

Text 20 Notizen zu Husserl (1961) und Text 21: Husserls Lebens­ welt (1963) »Notas sobre Husserl« und »La Lebenswelt de Husserl«, in: José Gaos (1999): Obras completas X. De Husserl, Heidegger y Ortega. Hg. von Antonio Zirión Quijano. Mit einem Vorwort von Laura Mues de Schrenk. Mexiko: UNAM, S. 65–71 und S. 73–78. [Erstveröffentlichung: José Gaos; Ludwig Landgrebe; Enzo Paci; John Wild (1963): Symposium sobre la noción husserliana de la Lebenswelt. Mexiko: UNAM, S. 19–24]

Luis Villoro Text 22 Der Indigene als der Andere, durch den ich mich selbst erkenne (1950) Luis Villoro (2018): »El indígena como el otro por quien me reconozco«, in: Los grandes momentos del indigenismo en México. Mexiko: Fondo de Cultura Económica, S. 198–202. [Erstveröffentlichung: Luis Villoro (1950): Los grandes momentos del indige­ nismo en México. Mexiko: El Colegio de México]

Ernesto May Vallenilla Text 23 Das Problem Amerikas (1959) »El problema de América«, in: Ernesto Mayz Vallenilla (1992): El problema de América. Caracas: Equinoccio – Ediciones de la Universidad Simón Bolivar (erste Auflage 1959), S. 41–78.

Text 24 Die Prüfung unseres kulturellen Bewusstseins (1959) »Examen de nuestra conciencia cultural«, in: ders. (1992): El problema de Amé­ rica. Caracas: Equinoccio – Ediciones de la Universidad Simón Bolivar (erste Auflage 1959), S. 17–23.

467 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Originalveröffentlichungen

Leopoldo Zea Text 25 Europäische Philosophie und die Entwicklung des amerikani­ schen Bewusstseins (1969) »Filosofía europea y toma de conciencia americana (1969)«, in: Leopoldo Zea (1969): La filosofía americana como filosofía sin más. Mexiko: Siglo XXI Edi­ tores, S. 63–77.

468 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Personenregister

Abbagnano, Nicola

Abellán, José Luis

Achaerandio, Luis

Aguirre, Arturo

Alberini, Coroliano

Alfons XIII

Antonelli, Mario

Aquin, Thomas von

Ardao, Arturo

Aristoteles

Assisi, Franz von

Astrada, Carlos

Augustinus von Hippo

Ávila, Teresa von

Azuela, Mariano

Balmes, Jaime

Bardet, Anne

Baroja, Pío

Barrés, Maurice

Bécquer, Gustavo Adolfo

Bello, Luis

Bello, Sara del

Berger, Gaston

Bergson, Henri

Bermes, Christian

Beyle, Marie-Henri (»Stendhal«)

Biemel, Walter

Binder, Thomas

Biran, Maine de

Blondel, Maurice

Blumenstock, Konrad

Boehm, Rudolf

Bohr, Jörn

Bois-Reymond, Emil du

Bolívar, Simón

Bollnow, Otto Friedrich

Bolzano, Bernard

Bonitz, Hermann

Boutroux, Émile

Brentano, Franz

Brouwer, Luitzen Egbertus Jan

Buchbinder, Pablo

Buchner, Hartmut

Bueck, Otto

Bueno, Gustavo

Bundgaard, Anna

Bustos, Nora

Byron, Georg Gordon (»Lord Byron«)

Cabrera, Manuel

Cajetan, Thomas

469 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Personenregister

Calderón de la Barca, Pedro

Camino Galicia de la Rosa, Felipe (»León Felipe«)

Campos de la Rosa, Rosa

Campos, Arturo

Canterbury, Anselm von

Cantor, Georg

Cárdenas, Lázaro

Cardiel, Raúl

Carrasco, Sansón

Cascardi, Anthony

Caso, Antonio

Castañón, Adolfo

Castro, José Antonio de

Castro, Octavio

Castro, Rosalía de

Celan, Paul

Celms, Theodor

Cervantes Saavedra, Miguel de

Chacel, Rosa

Chacón, Pedro

Charron, Pierre

Chihaia, Matei

Christ, Wilhelm

Chrudzimski, Arkadiusz

Cicero

Clavijero, Francisco Javier

Cohen, Hermann

Colli, Giorgio

Collingwood, Robin George

Comte, Auguste

Constante, Alberto

Cornicelius, Max

Corominas, Jordi

Cosío Villegas, Daniel

Costa, Joaquín

Cousin, Victor

Croce, Benedetto

Crusoe, Robinson

Cruz Vélez, Danilo

Curtius, Ernst Robert

Darío, Ramón

Darwin, Charles

David, Guillermo

De Larra y Sánchez de Castro, Mariano

Delbos, Victor

Descartes, René

Díaz Álvarez, Jesús

Díaz de Vivar, Rodrigo (»El Cid«)

Dilthey, Wilhelm

Dobhan, Ulrich

Don Gaiféros

D'Ors, Eugenio

Ehrenfels, Chritian von

Einstein, Albert

Ellacuria, Ignacio

Enquist Källgren, Karolina

Eucken, Rudolf

Expósito, Noé

Farber, Marvin

Fechner, Gustav Theodor

470 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Personenregister

Fenoy, Sebastián

Fernández, Justino

Ferrater Mora, José

Ferrer, Guillermo

Fichte, Johann Gottlieb

Fink, Eugen

Fischer, Carl

Flaubert, Gustave

Fogler, María

Fornet-Betancourt, Raúl

Fornet-Ponse, Thomas

France, Anatole

Franco, Francisco

Frank, Manfred

Frei, Charlotte

Freud, Sigmund

Friese, Robert

Frings, Manfred

Frondizi, Risieri

Frost, Elsa Cecilia

Gadamer, Hans-Georg

Galilei, Galileo

Gallegos, Rómulo

Gaos, José

García Bacca, Juan David

García Blanco, Manuel

García de Mendoza, Adalberto

García Máynez, Eduardo

García Morente, Manuel

García-Baró, Miguel

Garrera-Tolbert, Nicolás

Geiger, Moritz

Gilson, Étienne

Giner de los Rios, Francisco

Goethe, Johann Wolfgang von

Gómez de la Serna y Favre, José

Góngora, Luis de

González, Antonio

Görner, Else

Gourdain, Sylvaine

Goya, Francisco de

Gracia, Diego

Granell, Manuel

Grassi, Ernesto

Gregor IV

Guerra, Ricardo

Guerrero, Luis Juan

Guillén, Jorge

Guy, Alain

Haeckel, Ernst

Hamlet

Hand, Annika

Hardy, Lee

Hartmann, Nicolai

Hartung, Gerald

Hegel, Georg Wilhelm Friedrich

Heidegger, Martin

Held, Klaus

Hense, Elisabeth

Herbart, Johann Friedrich

Hernández García, Gabriela

Hernández Luna, Juan

471 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Personenregister

Hernández Prado, José

Hérodiade

Herrera Restrepo, Daniel

Hilbert, David

Hoffmann, Abraham

Hoffmann, Heinrich

Holenstein, Elmar

Horneffer, Ricardo

Horst, Karl August

Hume, David

Hurtado, Guillermo

Husserl, Edmund

Ibarlucía, Ricardo

Ímaz, Eugenio

Inverso, Hernán

Jalif de Bertranou, Clara Alicia

James, William

Janet, Pierre

Janssen, Paul

Jaspers, Karl

Johannes der Täufer

Kahlo, Frida

Kant, Immanuel

Karl der Große

Kastil, Alfred

Keil, Liane

Kierkegaard, Søren

Killisch-Horn, Michael von

Kilpper, Gustav

Kirschner, Ewald

Koenig, Heike

Kolnai, Aurel

Korn, Alejandro

Kozlarek, Oliver

Kramme, Rüdiger

Kraus, Oskar

Krause, Karl Christian Friedrich

Krauze de Kolteniuk, Rosa

Kreuz, Johannes vom

Krüger, Felix

Krumpel, Heinz

Kultzen, Peter

Landgrebe, Ludwig

Landsberg, Paul Ludwig

Lange, Susanne

Larroyo, Francisco

La Rubia de Prado, Leopoldo

Las Casas, Bartolomé de

Laurenzi, Elena

Leibniz, Gottfried Wilhelm

Lemke Duque, Carl Antonius

Lepiorz, Gerhard

Levinas, Emmanuel

Leyva, Gustavo

Lida, Raimundo

Lira, Andrés

Llórens y Barba, Francisco Xavier

Löhneyesen, Wolfgang Frhr. von

López Forjas, Manuel

López Osuna, Tania

López Velarde, Ramón

Losada Benítez, Gonzalo

472 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Personenregister

Lot

Lotze, Hermann

Löwith, Karl

Lull, Ramón

Luther, Martin

Maeztu, Ramiro de

Maillard, María Luisa

Manrique, Jorge

Marañón, Gregorio

Marbach, Eduard

Marcel, Gabriel

March, Ausiàs

Marías, Julían

Maritain, Jacques

Marquínez, Germán

Marsilio

Martínez Ruiz, José (»Azorín«)

Martínez, Alejandro

Martínez, José A.

Martín-Retortillo, Sebastián

Marx, Karl

Maxwell, James Clerk

Mayz Vallenilla, Ernesto

Mazón, Manuel

Meinong, Alexius

Meister Pedro

Melisendra

Mercier, Joseph

Merleau-Ponty, Maurice

Meyer-Clason, Curt

Meyer-Minnemann, Maralde

Meyerson, Émile

Millán-Puelles, Antonio

Mindán, Manuel

Miró-Quesada, Francisco

Molina Velásquez, Carlos

Montaigne, Michel de

Montinari, Mazzini

Mora, Antoni

Moreno Sanz, Jesús

Mues de Schrenk, Laura

Muguerza, Javier

Müller, Aloys

Müller, Max

Muñoz Victoria, Fernando

Natorp, Paul

Nenon, Thomas

Newton, Isaac

Nicol, Eduardo

Nietzsche, Friedrich

Noël, Léon

O’Gorman, Edmundo

Ophelia

Orozco y Berra, Manuel

Ortega Munilla, José

Ortega y Gasset, José

Paci, Enzo

Palacios, Juan Miguel

Palacios, Leopoldo Eulogio

Panza, Sancho

Panzer, Ursula

Parmenides

473 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Personenregister

Pascal, Blaise

Paulus von Tarsus

Paz, Octavio

Pérez-Gatica, Sergio

Perón, Juan

Peteers, Elisabeth

Pfänder, Alexander

Pintor-Ramos, Antonio

Pius XII

Plancherel-Walter, Roswitha

Planck, Max

Platon

Plotin

Pluder, Valentin

Poe, Edgar Allan

Pöggeler, Otto

Poincaré, Henri

Portilla, Jorge

Poussin, Nicolas

Presas, Mario

Protagoras

Pucciarelli, Eugenio

Pythagoras

Quijote, Don

Rábade, Sergio

Ramírez Voss, Jesús

Ramírez, Mario Teodoro

Rammstedt, Otthein

Ramos, Samuel

Rampérez, Fernando

Rangel, Alfonso

Recaséns, Luis

Requena Hidalgo, Cora

Revilla, Carmen

Rey Colaço, Amélia

Rey Colaço, Marianinha

Reyes, Alfonso

Reyes, Salvador

Richir, Marc

Rivara Kamaji, Greta

Rivarola, Rodolfo

Rivera, Diego

Robles, Laureano

Robles, Oswaldo

Rodríguez Huéscar, Antonio

Rodríguez Sanz, Hilario

Rohmer, Stascha

Roland

Romero, Francisco

Rossi, Alejandro

Rötzer, Hans Gerd

Rovira, Rogelio

Russell, Bertrand

Ruvituso, Clara

Salazar Bondy, Augusto

Salinas-Arango, Natalia

Salmerón Castro, Fernando

Salmerón, Fernando

San Martín, Javier

San Martín, José de

Sánchez Cuervo, Antolín

Sánchez McGregor, Joaquín

474 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Personenregister

Sánchez Ortiz de Urbina, Ricardo

Sanz del Río, Julián

Sartre, Jean-Paul

Scheler, Max

Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph Schmich, Niklas Schnell, Alexander

Schopenhauer, Arthur

Schrödinger, Erwin

Schuhmann, Karl

Scivoletto, Gonzalo

Seidl, Horst

Senabre, Ricardo

Sepp, Hans Rainer

Serra Hunter, Jaume

Serrano de Haro, Agustín

Shelley, Percy Bysshe

Sierra Mejía, Rubén

Simmel, Georg

Sokrates

Sommerfeld, Arnold

Sorel, Georges

Sowa, Rochus

Spencer, Herbert

Spinoza, Baruch de

Stabel, Rolf

Stein, Edith

Steinbach, Tim-Florian

Stepanenko, Pedro

Strasser, Stephan

Stuart Mill, James

Suárez, Francisco

Szilasi, Wilhelm

Tejada, Ricardo

Tengelyi, László

Tertullian

Tirado, Victor Manuel

Tolstoi, Leon

Treitschke, Heinrich von

Twardowski, Kasimierz

Unamuno, Miguel de

Uranga, Emilio

Urríes, José Jordán de

Uscatescu, Jorge

Valado, Óscar

Valero, Aurelia

Valle-Inclán, Ramón del

Vargas Abarzúa, Esteban

Vasconcelos, José

Vecellio, Tiziano (»Tizian«)

Vega, Fausto

Velázquez, Diego

Vendrell Ferran, Íngrid

Vicens, Joan Albert

Villa, José Alfonso

Villar Ezcurra, Alicia

Villegas, Abelardo

Villoro, Luis

Vives, Luis

Vongher, Thomas

Wagner de Reyna, Alberto

Walton, Roberto

475 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .

Personenregister

Weber, Ulrich

Weyl, Helene

Weyl, Hermann

Whitehead, Alfred North

Wiese, Leopold von

Wild, John

Windelband, Wilhelm

Wulff, Oskar

Wundt, Wilhelm

Xirau, Joaquín

Xirau, Ramón

Xolocotzi, Ángel

Yamuni, Vera

Zambrano, María

Zaragüeta, Juan

Zea, Leopoldo

Zirión, Antonio

Zorrilla, José

Zubiri, Xavier

Zuloaga, Ignacio

476 https://doi.org/10.5771/9783495999059 .