Oskar Panizza : Fremder in einer christlichen Gesellschaft : Ein hässliches Pamphlet & eine wilde Kampfschrift 387956115X

Der Autor nennt seine Arbeit ein „häßliches Pamphlet", und er stellt fest, daß Panizza heute aktueller ist als je z

212 28 9MB

German Pages [174] Year 1993

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Oskar Panizza : Fremder in einer christlichen Gesellschaft : Ein hässliches Pamphlet & eine wilde Kampfschrift
 387956115X

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Rainer Strzolka

= o tn

ö>

Oskar

t

Pamzzai L

*

Fremder .= in einer christlichen Gesellschaft * k.

RAINER STRZOLKA OSKAR PANIZZA FREMDER IN EINER CHRISTLICHEN GESELLSCHAFT

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Strzolka, Rainer; Oskar Panizza : Femder in einer christlichen Gesellschaft Ein häßliches Pamphlet und eine wilde Kampfschrift Rainer Strzolka Berlin : Kramer, 1993 ISBN 3-87956-115-X

© Karin Kramer Verlag Berlin Postfach 440 417 - 12004 Berlin 1. Auflage 1993 Gesamtherstellung: Offsetdruckerei Dieter Dressier Berlin

Rainer Strzolka

Oskar Panizza Fremder in einer christlichen Gesellschaft Ein häßliches Pamphlet

& eine wilde Kampfschrift

Karin Kramer Verlag

Berlin

INHALT [ncipit_________________________ 2 Pest und Cobra _____________________________ 7 Christliche contra humanistische Kultur _____ 8 Cave canem _________________________________ 9

Intra muros____________________ 13

_ et extra______________________ 53 Das Gift ist wirksam noch __________________ 57 Opportunismus als christliches Gesetz ________ SS Conceptual disorpanization 39 Objekt der Umstlnde. sich selbst versäumend- 60 Der heilige Staatsanwalt ____________________ 64 Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. sondern vom Gift ____________ 64 Der Coup ist gelungen _______________________ 65 Eine geistig unfreie Persönlichkeit ___________ 65 Alles auseinanderfllit ________________________ 66 Umsunst gelebt ______________________________ 67 Erotema ____________________________________ 67 Vom bOsen Greis__________ 69 Metaphysische Gegenkräfte ___________________ 69 Diskurs ______________________________________ 69 Risus natalis - risus pascalis _________________ 70 Talmii Lametta. Illusionen ____________________ 70 De profundis clamavi ad te Domino_________ 75 Dr. med. Jesus Christus: ein Teutone _________ 77 Panizza Selbstdenker _________________________ 77 Credo quia absurdum est _____________________ Himmels-Tragödie< >Das Liebeskonzik in München zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. K. Tu­ cholsky nannte ihn den >frechsten, kühnsten, den geistreichsten und revolutionärsten Propheten seines Landest. Werke. Düstere Lieder (1886); Londoner Lieder (1887); Dämmerungsstücke (1890); Aus dem Tagebuch eines Hundes (1892); Visionen (1893); Der teutsche Michel u. der römische Papst (1894, neu hg. v. H. Prescher ,1964, m. Lit.); Der heilige Staatsanwalt (Komödie, 1895); Das Liebeskonzil (1895); Dia­ loge im Geiste Huttens (1897); Das Haberfeldtreiben im bair. Gebirge (1897); Psichopatia criminalis (1898); Nero (Tragö­ die, 1899); Visionen der Dämmerung, hg. v. H. Ruch (1914). F. Lippert: In memoriam O. P. (1925).

- 13 -

INTRA MUROS ...

Die Stimme des Fremden ertönt gegen die erstickenden Mauern der Psychokratie

die uns umgibt - tu sais. Gisela Dischner

- 14 -

1844 6. Januar Carl Panizza (30. September 1808 - 26. November 1855) lernt Mathilde Speeth (8. November 1821 - 13. August 1915) bei einem Konzert kennen. Mathilde entstammt hugenottischem Geschlecht und ist nach dem Zeugnis Friedrich Lipperts "biblisch-pietistisch-evangelisch*; das Prädikat schon bezeugt, daß Lippert imbezill war und nicht einmal von der eigenen Aber­ glaubenslehre einen Begriff hatte. Mathilde gibt in ihren unveröffentlichten Memoiren an, sie sei "durch einen Traum’ auf diese Begegnung "vorbereitet" worden. Sie greift bereits kurz nach der Hochzeit aktiv in die Geschäfte des Gatten, eines glücklosen Geschäftsmannes, ein und nimmt den Verkehr mit den Gläubigem des Panizzaschen Kurhotels "Russischer Hof" in die Hand. Mathilde und Carl verloben sich bereits am 11. Januar. Carl Panizza wird von dem Protestanten Lippert als "bigott-römisch-katholisch" beschrieben, Oskar Panizza hingegen schildert seinen Vater als "Lebemann im besten Sinne, tätig, umsichtig, repräsentirend, Lärm und Aufsehen erregend, gefallssüchtig, renommirend; alles in großem Stil betreibend, nach außen plänereich, Erfolg suchend und prahlend, Administrator, aber nicht Öko­ nom; stark sinnlich, sehr eifersüchtig, verschwenderisch, wohlwollend, um­ gänglich, aber auch reizbar, oft bis zum Jähzorn aufbrausend, um sich bald zu besänftigen, weder Raucher noch Trinker, aber Spieler."

1853 12. November Leopold Hermann Oskar Panizza kommt als viertes von fünf Kindern in Bad Kissingen zur Welt und wird in Gegenwart dreier Pastoren getauft. Die anderen Geschwister sind Maria (3. Juni 1846 - 16. Mai 1925), Felix (18. März 1848 - 6. März 1908), Karl (15. Februar 1852 - 29. August 1916) und Ida (7. Juni 1855 - 20. Dezember 1922). Seine Kindheit ist von früh an durch Ehestreitigkeiten und Rangeleien um die religiöse Erziehung der Ge­ schwister geprägt. Die beiden jüngeren Kinder sind nach Panizzas Aussage, so wie er selbst, mütterlich belastet und "melancholischen Zufällen’ ausge­ setzt.

1855 Carl Panizza äußert Selbstmordgedanken und stirbt am 26. November

an Typhus unter Hinterlassung hoher Schulden. Mathilde Panizza führt den "Russischen Hof” weiter, sporadische Armenspeisungen führen zu einer Strafe wegen "Begünstigung der Bettelei.” Michael Bauer wies in seinem literarischen Porträt zu Oskar Panizza darauf hin, daß die übliche Darstel-

- 15 lung Mathilde Panizzas als "sozialer Vorkämpferin’ im Kampfe mit der Obrigkeit stark zu relativieren ist: die Anklage wegen Begünstigung der Bettelei war reine bürokratische Schikane; die soziale Tat der Hotelbesitzerin bestand darin, während der Kursaison Küchenabfälle nicht an Schweine, sondern an Arme verfüttert zu haben (vgl. M. Panizzas unveröffentlichte, in der Stadtbibliothek München aufbewahrte Memoiren 1, S. 412). Die Anfein­ dungen von katholischer Seite her gegen sie nehmen zu.

1856 Ende Februar

Mathilde Panizza bringt ihre beiden schulpflichtigen Kinder vor dem Zugriff der Behörden in Sicherheit und verweigert die Zahlung der auferlegten Geld­ strafen. 3. August

Das Landgericht Kissingen entscheidet, die Kinder seien katholisch zu er­ ziehen. Begründung: Carl Panizza sei, als er am 24. November 1855 ein Schriftstück mit der Einwilligung zur protestantischen Erziehung seiner Kinder nach seinem Tode unterzeichnet habe, nicht mehr voll zurechnungs­ fähig gewesen.

1857 5. Mai Die Kammer des Innern der Regierung von Unterfranken und Aschaffenburg bestätigt den Gerichtsbeschluß zur fortdauernden katholischen Erziehung der Kinder.

1858 21. Februar Das Bayerische Innenministerium für Kirche und Schulangelegenheiten be­ stätigt diese Entscheidung ebenfalls.

9. November

Maximilian II. verwirft den Einspruch Mathilde Panizzas. Sie stellt einen Auswanderungsantrag nach Sachsen-Meiningen.

- 16 Januar

1859

Der Kissinger Schneidermeister Andreas Reuß erhält durch das Landgericht den Auftrag, Mathilde Panizzas Kinder nach Kissingen zu bringen, um sie dortselbst zwangsweise katholisch erziehen zu lassen. Mathilde Panizza ver­ steckt ihre Kinder jedoch weiterhin vor dem Behördenzugriff.

11. Februar

Die Regierung von Unterfranken und Aschaffenburg gestattet dem Landge­ richt Kissingen ausdrücklich, alle Mittel zur Durchsetzung des Gerichtsur­ teils gegen Mathilde Panizza anzuwenden. Das Innenministerium warnt jedoch davor, noch weitere Eingriffe in die Intimsphäre der Familie zu begehen. Mathilde hat somit ihren Willen de facto durchgesetzt. Ursache für die empfohlene Zurückhaltung ist der große Wirbel in der Presse, den der Fall aufgeworfen hatte.

1860 Pfarrer Anton Gutbrodt denunziert Mathilde Panizza, die ihre Kinder noch immer versteckt hält, und weist das Landgericht auf die Schulpflicht Oskars hin. Es gelingt jedoch nicht, ihn zum Schulbesuch zu zwingen und Mathilde Panizza den Privatunterricht zu untersagen. Sie bestimmt ihn für die Zu­ kunft eines "Geistlichen", des Berufsstandes also, der den Geist so sehr verachtet wie ansonsten nur noch der Diktator.

10. April

Mathilde bringt Oskar nach Komthal zwecks streng gläubiger Erziehung bei einer pietistischen Brüdergemeinde, wo er in das private, der christlichen Heilsbotschaft und der Gemeinde nahestehende Knabeninstitut des Herrn Doktor Gottlob Pfleiderer gerät.

1868 Oskar verläßt nach der Konfirmation die Komthaler und geht bei dem Schweinfurter Buchhändler Heinrich Adam Giegler in Logis. Eintritt in das Schweinfurther Gymnasium.

1869 Oskar betreibt Leistungsverweigerung, um seine Mutter zur Aufgabe ihres Plans, aus ihm einen Pfarrer zu machen, zu zwingen. Er drängt, Kaufmann werden zu dürfen, da er hofft, als Handelsschüler in Ruhe seinen musikali­ schen Interessen nachgehen zu können.

- 17 -

1870 Wechsel auf ein Münchner Gymnasium; die Schulleistungen Oskars sind schlecht. Panizza erhält nebenbei Musikunterricht von den Professoren Schönherr und Wollmuth.

1871 Panizzas wahrscheinlich erstes Gedicht entsteht aus Anlaß des fünfzigsten Geburtstages seiner Mutter. Mathilde Panizza nimmt Oskar in München wieder in Ihre christliche Obhut. Er setzt durch, auf die Handelsschule zu wechseln und besucht zwecks Gesangsausbildung nebenher das Konservato­ rium. Der Besuch der Handelsschule ist unregelmäßig. Nebenher nimmt er Privatunterricht in Französisch, Stenographie und kaufmännischem Rechnen.

Mathilde zwingt Oskar, sie nach Kissingen zu begleiten, um sich dort in das Hotelfach einarbeiten zu lassen. Seine permanente Verweigerung, Mathil­ des christliche Werte als eigene Lebensmaximen anzuerkennen, führt hinein in offene lebenslange Konfrontation.

12. Mai

Oskar wird von Mathilde zu einem Volontariat im jüdischen Bankhaus Bloch, Nürnberg, gezwungen. Diese Erfahrung mit dem Geldgewerbe schlägt sich in ’Mach Mores, Jud'" nieder. Die Novelle schildert realistisch die Methoden des Kapitals; vereinfacht jedoch stark, was später den Nazis ermöglicht, Panizza postmortem für politische Propaganda zu mißbrauchen. Ob der Text zur Veröffentlichung vorgesehen war, ist unbekannt; wahr­ scheinlicher ist, daß es sich um Aufzeichnungen eines Heranwachsenden zur Selbstfindung handelt.

Panizza wird wegen schlechten Betragens aus dem Bankhaus Bloch entlas­ sen und kehrt nach München zurück, um seine Musikstudien wieder aufzu­ nehmen.

Herbst

Panizza dient in innerer Unentschlossenheit im HI. Bayerischen InfanterieRegiment. Der Legende nach hat er sich freiwillig gemeldet, tatsächlich halten ihn einzig Drohungen Mathildes davor ab, zu desertieren. Der Ge­ horsam im Militärdienst ist Panizza ekelhaft. Er achtet seine ’innere Pflicht*

- 18 höher als Befehle, leistet passiven Widerstand und wird deshalb mehrfach gemaßregelt und arrestiert. Die Haftzeit nutzt er für literarische und erste kompositorische Arbeiten. Er ist häufig krank. Schließlich erkrankt er an Cholera. Entlassung aus dem Militärdienst, anschließende Rückkehr nach München an das Konservatorium. Panizzas Berufswunsch ist nunmehr, Musiker zu werden; außerdem besucht er als Gasthörer Veranstaltungen an der Philosophischen Fakultät der Universität. Panizza ändert seine Berufs­ pläne, beschließt, das Abitur nachzumachen.

1875 Panizza ist zwischen der Erkenntnis der eigenen Genialität und starken Depressionen zerrissen.

1876 Herbst

Panizza macht eine glänzende Reifeprüfung und entscheidet sich für ein wissenschaftliches Studium. Vor die Wahl gestellt, sich zwischen Juristerei und Medizin entscheiden zu müssen, entscheidet er sich für die Medizin und immatrikuliert sich zum Wintersemester 1876/77 an der Ludwig-Maximi­ lians-Universität; einer HOchschule, die nach einem Guten Christer? be­

nannt worden war.

1878 Panizza reist zur Erholung in den Semesterferien des Frühjahrs nach Italien und gelangt bis hinauf nach Neapel. Auf dieser Reise infiziert er sich nach eigener Darstellung mit Syphilis; später stellt er sein stark nach hinten gekrümmtes Bein als Spätfolge dieser Erkrankung dar, die im Prozeß von 1904 noch eine wesentliche Rolle spielen soll. Tatsächlich rührt die Beinver­ letzung von einem Sturz in der Kindheit her, dessen Ursache in der Litera­ tur unterschiedlich beschrieben wird als durch von einem Sturz vom Hochrad oder von der Kinderschaukel herab bedingt. 12. Oktober

löou

Panizza wird per Handschlag summa cum laude promoviert und geht als einziger Doctor medidnae seines Jahrgangs in die StaatBexamensprüfung. Hugo von Ziemssen, bei dem Panizza als Co-Assistent gearbeitet hat, schlägt Panizzas Dissertation für den Reissinger-Preis vor, der jedoch in diesem Jahr schon vergeben ist. Panizza wird zum Assistenzarzt II. Klasse ernannt. Karl Panizza führt derweil mit seinem Schwager Gustav Collard das Hotel "Russischer Hof" weiter.

- 19 -

1881 8. Februar

Panizza erhält seine Approbation als Arzt. Mai

Panizza reist nach Frankreich. Der anschließende halbjährige Aufenthalt führt zu der Erkenntnis, nicht für praktische Tätigkeiten geeignet zu ein. Er plant vage eine bürgerliche Existenz; beschließt jedoch rasch, diese, die eine geregelte Berufstätigkeit voraussetzt, aufzugeben. Es kommt zu einem erneu­ ten Grundsatzstreit mit Mathilde Panizza über Prägen von Lebens- und Ho­ telführung. Bei seiner Rückkehr fordert er, Felix und Karl Panizza sollten den Hof gemeinsam führen. Aus der Diskussion um diese Frage folgt ein heftiger Streit mit Mathilde, die umgehend die monatlichen Wechsel für Karl und Oskar sperrt. Felix Panizza kehrt aus Hong Kong zurück und über­ nimmt die Geschäftsführung.

Veröffentlichung: Über Myelin, Pigment, Epithelien und Micrococcen im Sputum. München, Univ., Med.-Diss. [Buchausgabe: Leipzig 1882]

1. Mai

Panizza beginnt seine Tätigkeit als vierter Assistenz-Arzt an der Oberbaye­ rischen Kreisirrenanstalt bei Herrn Professor Doktor Bernhard von Gudden, dem Leibarzt Ludwigs II., die beide zusammen später auf ungeklärte Weise ums Leben kommen. Oskar rät seiner Mutter, seine Schwester Ida wegen eines gescheiterten Suizidversuches psychiatrisch behandeln zu lassen. Paniz­ za lenkt bezüglich der Pläne Mathildes, 'den Russischen Hof” zu verkaufen, ein, es kommt jedoch zu einem ernsten Zerwürfnis wegen seiner Vorhaltun­ gen zu ihrem religiösen Erziehungsstil. Mathilde wirft ihm vor, ein Werkzeug des »Teufels« zu sein. Verbohrt, wie Mathilde ist, verschließt sie sich jeder inhaltlichen Diskussion über die Frage, welchen der zahlreichen Teufel sie eigentlich meint. Gustav Roskoff: Geschichte des Teufels hätte dieser Amateursatanologin bekannt sein können, hätte sie Wert auf kulturgeschichtliche Kenntnisse gelegt. Mathilde setzt jedoch lieber auf Glauben. Der Streit spaltet die Familie angeblich, die tatsächlich aus ganz anderen Gründen längst vollkommen zerrüttet ist. Schuldzuweisung als tragendes Prinzip christlicher Konfliktbewältigung.

1883 Ein Großteil der "Düstren Lieder* ist vollendet.

- 20 -

1884 20. April Oskar entschuldigt sich bei seiner Mutter für seine Kritik an der Geschäfts­ übergabe des Kissinger Grandhotels. Wenige Tage später stirbt sein Onkel Ferdinand in Würzburg unter "religiösen Wahnvorstellungen", wie die Familie in der Tagespresse kolportieren läßt. Tatsächlich hatte er ein Jahr zuvor in faszinierender Klarheit in einem Wallfahrtsort in Franken einer Marienstatue den Kopf abgeschlagen und dazu ausgerufen "Die Götzen müssen fallen." Panizza befürchtet eigene erbliche Belastungen. Aus Sorge, durch den steten Kontakt mit Geisteskranken selbst zu erkranken, kündigt Panizza seine Stelle bei Gudden und eröffnet eine Praxis als Allgemeinmediziner.

Ab Herbst

erhalten alle Kinder Mathildes eine jährliche Rente von 6000 Mk. Panizza gibt seinen Beruf auf, und betreibt in finanzieller Unabhängigkeit literari­ sche Arbeiten, die in der modernen "Forschung* als Selbsttherapie beschrie­ ben werden, ganz als gelte es, Panizza zu therapieren, und nicht die bür­ gerliche Gesellschaft.

1885 1. Oktober Panizza flieht nach England, von Angst vor dem "roten Hause” - dem Irrenhause- getrieben. Er zeigt das Manuskript der "Düstren Lieder" einem Bekannten seiner Familie, dem Herrn Professor Johann Nepomuk Sepp. Sepp nimmt Kontakt zu Mathilde auf und erklärt, der Verfasser dieser Verse sei krank. Panizza hält sich häufig im British Museum auf, auf der Suche nach Stof­ fen für einen neuen Gedichtband.

Veröffentlichung: Düstre Lieder (Im Impressum: 1886)

1886 Panizza kehrt über Berlin nach München zurück. Eugen Wolff publiziert in Berlin seine zehn Thesen zur Moderne. Als Ziel werden Wahrhaftigkeit und Individualismus gefordert, Cliquenbildung angeprangert. 17. Dezember

Panizza bezieht eine neue Wohnung in der Münchner Goethestrasse 10/1.

- 21 -

1887 18. März Panizza verfaßt unter dem direkten Eindruck des Todes eines Nachbarn das Gedicht ’Die Leichenfahrt”. 21. März

Panizza bezieht eine andere Wohnung, wenige Häuser von der alten entfernt in der Goethestrasse 17/1. Veröffentlichung:

Londoner Lieder

1888 Anfang Oktober zieht Panizza in die Krankenhausstrasse (spätere baumstrasse) um.

Nuß­

1889 In Berlin wird der "Verein Freie Bühne" gegründet. Veröffentlichung:

Legendäres und Fabelhaftes. Gedichte

1890 Juli Panizza beginnt seine journalistische Arbeit als Mitarbeiter von Kulturzeit­ schriften, vor allem in ’Die Gesellschaft*, ’Moderne Blätter’, ’Mephisto”, "Wiener Rundschau”, ’Neue deutsche Rundschau”, ’Der Zuschauer*, ’Die Gegenwart”; und verkehrt im Zirkel der Münchner Moderne um Michael Georg Conrad. Panizza wird Mitglied der "Gesellschaft für Modernes Leben.’

Publikationen: Der Teufel im Oberammergauer Passionsspiel. Eine textgeschichtliche Studie mit Ausblicken auf andere Mysterien-Spiele

Dämmrungsstücke. Vier Erzählungen

- 22 -

1891 Panizza spricht sich öffentlich dagegen aus, Suidd als Zeichen von Geistes­ störung zu werten. 29. Januar

Erste öffentliche Versammlung der »Gesellschaft für Modernes Leben«. 20. März

Panizza hält seinen ersten Vortrag in der 'Gesellschaft*. 23. März

Das ’Münchner Fremdenblatt" klagt Michael Georg Conrad in seiner Eigen­ schaft als Vorsitzender der "Gesellschaft für Modernes Leben" des Atheismus und der Staatsfeindschaft an. 4. April

Das Königlich Bayerische Infanterie Armee-Korps richtet eine Anfrage an die königliche Polizeidirektion in München zur Frage, ob es sich bei der Gesell­ schaft für Modernes Leben um eine »sozialistische Vereinigung» handle, mithin eine Mitgliedschaft für Offiziere untragbar sei. Anlaß der Anfrage ist einer der Vorträge Panizzas. 27. April Die Polizeidirektion bestätigt die Befürchtungen der Militärs, stellt jedoch fest, die "Gesellschaft für Modernes Leben" sei noch nicht als politischer Verein gemeldet.

8. Mai

Die "Gesellschaft für Modernes Leben" beschließt die Gründung eines eige­ nen Münchner Vereins "Freie Bühne*. Anläßlich des fünften öffentlichen Abends der Gesellschaft für Modernes Leben rezitiert Julius Schaumberger Panizzas "Der heil'ge Antonius (Ein Cyklus)" aus der Sammlung "Legendäres und Fabelhaftes*. 6. Juni

Der Vorstand der ’Gesellschaft für Modernes Leben* stellt an den Magistrat der Königlichen Haupt- und Residenzstadt München die Eingabe um die Errichtung einer freien Tagesbühne zur Aufführung volkstümlicher Stücke aus der bayerischen und der deutschen Geschichte. Panizzas Vorstellung, das Drama aus dem Einfluß des Hoftheaters zu lösen und moderne Volks­ bildung zu betreiben, ist Treibsatz in diesem Projekt.

- 23 Juli

In Wien wird der "Verein Freie Bühne* gegründet: die Volksbühnen-Idee greift Raum. 5. September Der Sammelband "Modernes Leben. Ein Sammelbuch der Münchner Moder­ nen* wird sofort nach Erscheinen konfisziert. Anlaß sind die Beiträge von Bierbaum, Conrad, Panizza, Schaumberger, und Scharf. Erhoben wird Vor­ wurf der "Gotteslästerung*. Zielpunkt der Anklage ist vor allem Panizzas Satire "Verbrechen in Tavistock-Square", die sich über die sittliche Entrü­ stung käuflicher, staatlich bezahlter Moralhüter angesichts der Bestäubung von Pflanzen lustig macht. Die Justiz argumentiert mit Verweis auf §166 RSGB, Vergehen wider die Religion und §184, Verbreitung unzüchtiger Schriften. Die Anklage läßt sich selbst vor der bayerischen Justiz nicht halten; ganz offensichtlich handelt es sich um einen Vorwand, den verblie­ benen Restvorstand der Gesellschaft für Modernes Leben juristisch zu be­ langen, nachdem Hanns von Gumppenberg bereits wegen der Rezitation sozialkritischer Lyrik verfolgt worden war. Panizza weigert sich, auf Weisung der Militärbehörden die »Gesellschaft für Modernes Leben« zu verlassen. Die 2. Strafkammer des Königlichen Landgerichts gibt den Band nach drei Monaten wieder frei.

2. Dezember Panizza hält am VII. öffentlichen Abend der "Gesellschaft für Modernes Leben" im großen Saal der "iBarlust* den Vortrag »Die Unsittlichkeits-Ent­ rüstung der Pietisten und die freie Literatur« im Rahmen der Vortragsreihe "Realismus und Pietismus”. 5. Dezember

Conrad verläßt die "Gesellschaft für Modernes Leben” aus Sorge, in den Ruf zu geraten, umstürzlerischen Gedanken nahe zu stehen. Die Schikanen der staatlichen Polizei hätten, so das eigene Wort, »keine Rolle gespielt«. Die ständige Bespitzelung und halböffentliche Diffamierung durch staatliche Kräfte tragen ihren Teil bei zu dieser Entscheidung. Panizza schließt sich Conrads Rücktrittsentscheidung aus überwiegend anderen Gründen an.

9. Dezember

Michael Georg Conrad tritt als Vorsitzender der »Gesellschaft für Modernes Leben« offiziell zurück. Anlaß sind u.a. Auseinandersetzungen innerhalb des Vorstandes um sein öffentliches Bekenntnis zum Protestantismus, das Con­ rad für die Gruppe fordert und persönlich auch vor-leistet. Schaumberger wird Conrads Nachfolger im Amt. Zwischen Panizza und Conrad kommt es zu Differenzen, da Conrad eine Erklärung an das Kriegsministerium formu­ liert und eingereicht hatte, nach der die "Gesellschaft für Modernes Leben" nur königstreue, unpolitische Künstler beherberge.

- 24 Wichtige Publikationen:

Genie und Wahnsinn Beelzebub

Das Verbrechen in Tavistock-Square

Ueber Selbstmord Zum Kapitel der Todesstrafe

Das Verbrechen wider die Religion

Theater-Koups und Machinationes. Ein geschichtlicher Überblick über Szene und Konstruktion der Mysterien-Bühne, bei Gelegenheit der Oberammer­ gauer Passionsaufführungen Mister Muybridge's Momentaufnahmen und - die Kunst

An unser aller Mutter

Andreas Hofer. Ein schwäbisches Bauemspiel aus dem Allgäu Magdalenenfest

Parsifal Die drei Parzen Tannhäuser Stoßseufzer aus Bayreuth

Die moderne Litteratur und die künstlerische Freiheit Kirchenmoral und Staatsmoral

Litteratur und Kritik Zum Tag aller Seelen

1892 5. April

Panizza hält seinen dritten Vortrag bei der »Gesellschaft für Modernes Leben« , "Die Minnehöfe”. Über Schabelitz nimmt er erste Kontakte nach Zürich auf. 16. Mai

Panizza hält seinen letzten Vortrag bei der »Gesellschaft für Modernes Leben«. Wichtige Publikationen:

Hexenlied Sarg-Verordnung

- 25 [Forts.] Aus dem Tagebuch eines Hundes

Hansens Menschen-Diagnose

Prostitution. Eine Gegenwartsstudie

1893 2. Januar Münchner Kundgebung gegen die 'Lex Heinze*, ein Gummi-Gesetz gegen alles, was in Bayern vom gesunden Volksempfinden als bedrohlich für ’Sitt­ lichkeit* und ’Kultur* empfunden wird. Die Versammlung wählt Panizza zum Diskussionsleiter. Panizza exponiert sich durch die Annahme der Wahl politisch.

10. Februar Die ’Gesellschaft für Modernes Leben” löst sich wegen ständiger Auseinan­ dersetzungen der Vorstandsmitglieder um weltanschauliche Fragen auf. Ent­ scheidend für den Zerfall der Gesellschaft ist der Druck der staatlichen Gewalt, die für die Aufreihung der kritischen Geister untereinander sorgt und Unvereinbarkeitsbeschlüsse dort produziert, wo Solidarität geboten gewesen wäre.

Wichtige Publikationen:

Die unbefleckte Empfängnis der Päpste Visionen. Skizzen und Erzählungen Stauffer-Bem

Luther und die Ehe. Eine Verteidigung gegen Verleumdung Ein Besuch bei den Sessionisten in München

1894 Hermann Bahr's Studien zur Kritik der Moderne erscheinen.

Mai

Panizza fährt zu Studienzwecken mit einer Wallfahrtsgruppe nach Andechs.

10. Oktober Das ’Liebeskonzil’ erscheint in der Schweiz.

- 26 Anfang November Der ZUrcher Verleger Jakob Schabelitz sendet 300 Belegeexemplare des Lie­ beskonzils für Panizza Anfang November ab. 17. November Panizza erhält seine Belegexemplare per Post. Er verschickt sie sofort an Freunde weiter, um sein Werk vor dem Zugriff von Polizei und Staatsan­ waltschaft zu sichern.

Wichtige Publikationen: Die Haberfeldtreiben im bayerischen Gebirge

MUnchener Brief Graf Hönsbröch

Kunst und Polizei An einen Unterfranken

Münchner Theaterbrief

Pastor Johannes Dr. Sigl, der Redakteur des ”BayT. Vaterland”

Die Gemälde-Gallerie des Grafen Schack

Die Frühjahrs-Ausstellung der Münchner Sezession Die ’unsittlichen” Gebrüder Grimm und die neue "Sittlichkeit” jüdisch­ deutscher Verlagsbuchhändler Kunst und Künstlerisches aus München

Das Liebeskonzil. Eine Himmels-Tragödie in fünf Aufzügen, (im Impressum: 1895)

Der teutsche Michel und der römische Papst. Altes und Neues aus dem Kampfe des Teutschtums gegen römisch-wälsche Überlistung und Bevormundung in 666 Tesen und Zitaten.

Der heilige Staatsanwalt. Eine moralische Komödie in fünf Szenen (nach einer gegebenen Idee)

1895 4. Januar Die Münchner Staatsanwaltschaft erhebt nach Lektüre eines Artikels in der sozialdemokratischen ’Münchner Post” vom 24.11.1894 Anklage wegen ’Got­ teslästerung’ gegen Panizza.

8. Januar Eröffnung der Voruntersuchung gegen Panizza.

- 27 12. Januar

Verhtir Panizzas. Er bekennt sich zum Liebeskonzil als ganz »eigenem Kunstwerk«, betont jedoch, es sei ihm nicht um eine Beschimpfung der Re­ ligion gegangen, sondern er wolle ’als Arzt und Schriftsteller’ die Entste­ hung einer Lustseuche drastisch schildern. Der als Zeuge geladene katholi­ sche Autor Heinrich Steinitzer äußert auf Befragen im Verhör, sein religiöses Empfinden sei keineswegs durch die Himmelstragödie verletzt worden. Die Suche der Staatsanwaltschaft nach einem Kläger scheint erfolglos zu sein. 17. Februar Der zufällig diensthabende Staatsanwalt erkundigt sich auf dem offiziellen Dienstweg bei der Polizeidirektion München nach einem Anstoßnehmenden und bittet um einen potentiellen Kläger, der sich nicht findet. Erst auf eine erneute Anfrage beim Polizeipräsidium Leipzig meldet sich am

25. Februar ein Polizist mit Namen Müller, der mit Datum vom

27. Februar

auch im Namen eines Oberwachtmeisters Forstenberg Anstoß an der Him­ melstragödie genommen haben will. 1. März Die Anklageschrift lautet auf Verstoß gegen § 166 Reichsstrafgesetzbuch, ’Vergehen wider die Religion, verübt durch die Presse*. Trotz verschiedener Versuche gelingt es Panizza nicht, einen qualifizierten Verteidiger zu finden. Bernstein und Loewenfeld geben vor Prozeßbeginn ihr Mandat zurück. Dr. Georg Kugelmann übernimmt ’Den Fall’, verkündet jedoch am 26. April

dem Präsidenten des Schwurgerichts, er werde Panizza nur im formalen Teil der Klage vertreten, womit dieser einverstanden sei. 29. April

Ungefähr 5000 sozialdemokratische Arbeiter demonstrieren gegen die Um­ sturzvorlage. Das Urteil gegen Panizza als ein politisches Urteil ist durch diese Demonstration möglicherweise mitverursacht ebenso wie durch Konzes­ sionen an den durch den Kulturkampf geschwächten Katholizismus. 30. April Die Prozeßverhandlung wird von Panizza mit den Worten ’Ich erkläre, daß ich Atheist bin* eröffnet. Seine Geschworenen, ausnahmslos Christen, erken­ nen Panizza als für schuldig, öffentlich und in beschimpfenden Äußerungen GOtt gelästert, Ärgernis gegeben und öffentliche Einrichtungen und Ge­

- 28 bräuche der christlichen Kirchen, vor allem der Catholica, schimpflich be­ schrieben zu haben. Ein sauberes Selbstbewußtsein, welches vor den Kadi zieht, weil seine phänomenologische Ausformung beschrieben wurde. Panizza wird anschließend in die Münchner Fronfeste am Anger überstellt mit der Begründung, bis zur endgültigen Entscheidung durch das Reichsgericht Leipzig bestehe Fluchtgefahr.

3. Mai

Panizzas Anwalt erhebt Haftbeschwerde, die umgehend abschlägig beschieden wird. Die Kaution für vorübergehende Haftentlassung beträgt 80.000 Mk, die Mathilde Panizza in Wertpapieren hinterlegt. Anwalt Dr. Georg Kugel­ mann stützt den Revisionsantrag auf die Feststellung, daß nicht sicher sei, daß Panizza sein Werk auch in Deutschland verbreitet sehen wollte. Staat­ sanwalt von Sartor versucht, die Öffentlichkeit des Deliktes zu begründen. Der Polizei gelingt es nicht, auch nur ein einziges Exemplar der Himmel­ stragödie zu konfiszieren. Durch brutale Durchsuchung verschiedener Buch­ handlungen kann lediglich der Verkauf von 23 Exemplaren belegt werden. Preis für diese Erkenntnis sind auch nach damaligen Kriterien rechtswidrige Durchsuchungen von Buchhandlungen in München, Augsburg, Schweinfurt, Würzburg, Leipzig und Berlin, in deren Verlauf Ladeneinrichtungen zerstört wurden. Da wurden Schreibtische erbrochen, Dokumente vernichtet und persönliche Beziehungen durch haltlose Verdächtigungen via bezahlte Spitzel ruiniert: Deutschland, ein Land im Herbst.

Das von Max Halbe initiierte "Intime Theater” veranstaltet mit Strindbergs "Gläubigem* seine erste Aufführung in einem privaten Salon.

31. Mai Aufführung von Büchners "Leonce und Lena” im "Intimen Theater”. Panizza gehört gemeinsam mit Max Halbe, Julius Schaumberger, Georg Schaumberg, Ludwig Scharf und Josef Ruederer zum Gründungskomittee dieses Litera­ turtheaters der Münchner Boheme.

27. Juni

Unter der Leitung von v. Sartor wird ein Nebenverfahren gegen Panizza eröffnet unter dem Vorwurf, er habe bei einer Hausdurchsuchung 48 Exem­ plare der Himmelstragödie der Polizei entzogen und verbreitet. Anlaß jener Hausdurchsuchung war jedoch "Der teutsche Michel und der römische Papst” gewesen; die pflichttreuen Beamten hatten die aufgefundenen Exem­ plare der Himmelstragödie zwar notiert, nicht jedoch konfisziert, da ihnen hierzu kein Befehl vorlag. Als die Polizei mit neuer Weisung durch die Staatsanwaltschaft in Panizzas Wohnung in der Kaiserstrasse 63/1 zurück­ kehrt, hatte der Dichter bereits ein Buchpaket an Ludwig Scharf übersandt. Das Verfahren wird eingestellt, nachdem Panizza nachdrücklich behauptete, er habe Scharf die Bücher nur übergeben, damit dieser sie an den Schweizer Verleger retourniere.

- 29 I. Juli

Mit der Begründung, Panizza habe selbst zugegeben, das ” Liebeskonzil * auch in Deutschland verbreitet sehen zu wollen, lehnt der 1. Strafsenat des Reichsgerichts in Leipzig den Revisionsantrag für das Hauptverfahren ab. August

Panizza stößt auf ein Zeitungsinserat, in dem eine Zürcher Villa zum Ver­ kauf angeboten wird und erwägt den Erwerb.

8. August Panizza tritt seine Haftstrafe im Gefängnis von Amberg an und lernt den Gefängnisgeistlichen; Herrn Dekan Friedrich Lippert kennen. Mit Lippert diskutiert er über religiöse Fragen und nimmt des "Szenenwechsels” halber am Gottesdienst teil. Lippert befördert zu dieser Zeit noch einen Teil der Briefe Panizzas in die Freiheit; beschließt jedoch aufgrund seiner christlichen Charakterformung, einen wesentlichen Teil der Post an Mathilde Panizza oder die Staatsanwaltschaft auszuliefem.

Der noch weitgehend unbekannte Doctor philosophiae Thomas Mann äußert sich ohne das »Liebeskonzil« gelesen zu haben, ganz offenbar aus purem Opportunismus in der Zeitschrift "Das Zwanzigste Jahrhundert”2 zur Verur­ teilung Panizzas wg. der Himmelstragödie mit den Worten: "Kann man dann nicht auch vom künstlerischen Standpunkt aus mit der Verurtheilung ein­ verstanden sein? Oder sind wirklich die Leute, die in der Kunst ein bischen guten Geschmack noch immer verlangen, nichts als zurückgebliebene Banau­ sen?" In seiner Argumentation bezieht sich Mann nirgendwo auf den Text des Stückes, sondern ausschließlich auf Panizzas "Meine Verteidigung in Sachen »Das Liebeskonzil« und tritt in Gegenposition zu Theodor Lessing3 für die Verfolgung blasphemischer Literatur durch die Justizbehörden ein. 30. August Kugelmann richtet ein Gnadengesuch an den Bayerischen Prinzregenten, eine aus allen Betrachtungsperspektiven der Welt bemerkenswerte Gestalt. Die Begründung lautet auf Geisteskrankheit Panizzas. Das Gnadengesuch wird offenbar gegen den Willen Panizzas gestellt, der lediglich einen zweimonati­ gen Strafaufschub erreichen will. Als die Umwandlung der Haftstrafe in Festungshaft abgelehnt wird, schließt sich Panizza dem Gesuch Kugelmanns persönlich an und gibt zu, das »Liebeskonzil« in unzurechnungsfähigem Geisteszustände verfaßt zu haben.

II. Oktober Panizzas Einakter "Ein guter Kerl” wird in Leipzig uraufgeführt.

- 30 22. November

Der Direktor des Amberger Gefängnisses bestätigt Panizza für dessen Gna­ dengesuch in einem Schreiben an von Sartor einwandfreie Führung. Panizza arbeitet an den "Dialogen im Geiste Huttens”, am "Abschied von München" und verschiedenen Artikeln und Rezensionen, die unter Pseudonym erschei­ nen. Panizza wird in Franz Brümmers "Lexikon der deutschen Dichter und Pro­ saisten des neunzehnten Jahrhunderts* mit den Worten zitiert, Schreiben sei für ihn Selbsttherapie; eine Äußerung, die er nach Aussage Lipperts 1904 vor den Ärzten wiederholt, die ihn in die Psychiatrie verweisen werden: trauriges Beispiel für die Festschreibung der Welt. Wichtige Publikationen:

Die deutschen Symbolisten Le Magazine International

Bayreuth und die Homosexualität. Eine Erwägung Die deutschen Symbolisten

Das menschliche Him... Der Illusionismus und Die Rettung der Persönlichkeit.

Katholische Irrenbehandlung Meine Verteidigung in Sachen "Das Liebeskonzil". Nebst dem Sachverständi­ gen Gutachten des Dr. M. G. Conrad und dem Urteil des k. Land­ gerichts München I.

18% Panizza ist Mitarbeiter an der Zeitschrift "Mephisto. Wochen-Rundschau über das gesammte Münchener Theaterleben”. Er beginnt mit der Modifika­ tion seiner frühen antisemitischen Ansichten; die Publikation von "Der Klassizismus und das Eindringen des Variete. Eine Studie über zeitgenössi­ schen Geschmack” ist bahnbrechend, Panizza verteidigt Heinrich Heine ge­ gen das "großdeutsche Maulheldentum”.

16. Januar In bester Christentradition findet eine Bücherverbrennung statt, der alle von der Staatsgewalt aufgefundenen Exemplare der Himmelstragödie zum Opfer fallen. Das Nebenverfahren gegen Panizza wird daraufhin eingestellt.

3. Mai Für Michael Georg Conrads Wechsel in die Politik wird seine enge Bekannt­ schaft mit Panizza zum Problemfaktor. Die Amberger Volks-Zeitung wirft ihm im eigenen Wahlkreis seine Verteidigung der Himmelstragödie vor.

- 31 8. August Panizza wird aus der Haft entlassen, Wedekind und andere Freunde holen ihn vom Bahnhof ab, seine Wohnung ist von Besuch erfüllt.

22. August

Nach einem Gespräch mit Ludwig Scharf trifft Panizza die Entscheidung zur Übersiedlung nach Zürich. Die Gothaer Literaturdebatte um die Frage, was Kunst sei und dürfe, nimmt die Form eines Tribunals an gegen die moderne, engagierte Kunst. Konsens besteht zwischen Wilhelm II. und der Mehrheit der Arbeiterschaft über Form und Inhalt dessen, was als Kunst gilt. Wilhelms Diktum, was Kunst sei, bestimme er, wird verbreitete Sichtweise und ist ein Ausbeuter und Ausgebeutete verbindendes Element.

15. September Panizza beauftragt die Anwälte Wilhelm und Friedrich Rosenthal, Antrag auf Aufgabe der bayerischen Staatsbürgerschaft zu vertreten.

seinen

14. Oktober

Panizza verabschiedet sich von seiner Mutter.

16. Oktober Panizza verläßt München in Richtung Zürich.

26. Oktober Da Panizza den Behörden einen Betrag von 5.92 Mk schuldig ist, erfolgt die Entlassung aus der bayerischen Staatsbürgerschaft erst nach Begleichung zu diesem Datum.

28. November Panizza beantragt eine Aufenthaltsgenehmigung für Zürich. Wichtige Vertfientildnmgm:

Die gelbe Kroete Die geisteskranken Psychiater

Neues aus dem Hexenkessel der Wahnsinns-Fanatiker Das Fronleichnamsfest Mefisto auf Reisen

- 32 Das Liebeskonzil. Eine Himmels-Tragödie in fünf Aufzügen. Zweite, durch eine Zueignung und ein Vorspiel vermehrte Auflage Mefisto Ein guter Kerl. Tragische Szene in 1 Akt Abschied von München. Ein Handschlag, (im Impressum: 1897) Der Klassizismus und das Eindringen des Variété*. Eine Studie über zeitge­ nössischen Geschmack

1897 Panizza ist ab 1897 bis 1901 Herausgeber und Hauptautor der "Zürcher Diskussionen"4.

17. Februar Panizzas Aufenthaltsgenehmigung wird gegen Kaution von 1200 Mk erteilt, gilt bis zum 31. Dezember des Jahres und soll ab diesem Zeitpunkt jeweils ein weiteres Jahr verlängert werden können. Er nimmt sich eine Wohnung in Zürich Unterstraß, Tumerstrasse 32 in der Nähe des Grabes von Georg Büchner.

19. Februar Panizzas "wie kaum ein anderes Wesen auf der Welt geliebt(er)” Hund Puzzi stirbt. In seiner Isolation hatte Panizza dem Hund oft lange Zeit lang vorgelesen. Ab Ende April oder Anfiuig Mai versendet Panizza das "Einladungs-Zirku­ lar" zu themenbezogenen Diskussionsabenden in Zürich.

Ab Mitte Mai erscheinen die »Zürcher Diskussionen«, Flugblätter für das Gesamtgebiet des modernen Lebens. Die Mitarbeit Panizzas an der Zeit­ schrift "Die Gesellschaft" bricht abrupt ab, nachdem er 1896 noch 15 Bei­ träge für die Zeitschrift verfaßt hatte. Ursache sind unter Anderem Hono­ rarstreitigkeiten zwischen Panizza und dem Schriftleiter Hans Merian, aber auch die innere Entfremdung Panizzas von der Zeitschrift, die literarisch radikal, politisch aber moderat und opportunistisch ist. Die Honorarstreitig­ keiten beginnen bereits im Februar 1895, als Panizza sich weigert, einen Hauptartikel der Zeitschrift kostenlos zu schreiben. Trotz zwischenzeitlichen Einlenkens der Schriftleitung flammt der Honorarstreit um Der Klassizismus und das Eindringen des Variété. Eine Studie Uber zeitgenössischen Ge­ schmack wieder auf, da das vereinbarte Honorar von 3 MK pro Seite nicht gezahlt wird. Panizza prozessiert ab November gegen Merian wegen betrüge­ rischer Honorarhinterziehung, und gründet einen eigenen Verlag, der den gleichen Namen wie seine Zeitschrift trägt. Der Vertrieb durch Jakob Schabelitz wird diverser Schwierigkeiten halber aufgegeben. Panizza gerät, wenig geschäftstüchtig, rasch in Finanzierungsprobeme mit den ZD.

- 33 11. Dezember

Louis P. Betz äußert in der "Neuen Züricher Zeitung" den Verdacht, Paniz­ za sei Initiator, Herausgeber und einziges Publikum der Zürcher Diskußionen in einer Person und vermutet, daß die literarischen Diskussionsabende in Wirklichkeit nur in Panizzas Phantasie stattfänden. Wichtige Publikationen:

Der Fall Miss Vaughan Haberfeldtreiben. Ueber einen internationalen heidnisch-christlichen Kem in den "Haberfeldtreiben" Dialoge im Geiste Hutten's. Ueber die Deutschen. Ueber das Unsichtbare. Ueber die Stadt München. Ueber die Dreieinigkeit. Ein LiebesDialog

Die Haberfeldtreiben im bairischen Gebirge. Eine sittengeschichtliche Studie Die sexuelle Belastung der Psyche als Quelle künstlerischer Inspiration Leo Taxil und seine Puppen Das Liebeskonzil. Eine Himmels-Tragödie in fünf Aufzügen. Dritte, durch­ gesehene und vermehrte Auflage Literarische Diskußionsabende in Zürich ("Einladungs-Zirkular")

Die Krankheit Heine's (zur Hundertjährigen Wiederkehr des Geburtstags Heine's - 13ter Dezember 1797-)

1898 14. Oktober

Panizza bietet sein Stück "Nero" dem Königlichen Landestheater in Prag zur Aufführung an.

20. Oktober

Auf Antrag der kantonalen Polizeidirektion wird Panizza die Aufenthaltsge­ nehmigung für Zürich zum 1. Dezember entzogen, da er in einen Prozeß gegen das Ehepaar Rumpf verwickelt sei und dort eine "höchst verwerfliche Rolle" gespielt habe. 27. Oktober Panizza wird mit der Begründung, die 15-jährige Prostituierte Olga Rumpf mit in seine Wohnung genommen und nackt photographiert zu haben, durch den Regierungs-Rat des Kantons Zürich ausgewiesen. Panizza gibt zu, Olga Rumpf zu "medizinischen Zwecken* photographiert zu haben, das Aktbild ist im erhaltenen Teil des Nachlasses in München aufbewahrt. Panizza selbst geht davon aus, daß in Wirklichkeit politische Gründe für seine Ausweisung aus der Schweiz grundsätzlich seien, da die schweizerische

- 34 Staatsgewalt nach dem Attentat des Italieners Luccheni auf Elisabeth von Österreich am 10. September weltanschaulich auffallende Exilanten scharf observiert.

15. November Panizza verläßt Zürich.

21. November

Panizza erreicht mit einem Minimalbestand an Mobiliar, jedoch einer Biblio­ thek von ungefähr 10.000 Bänden Bestandsgröße Paris und folgt damit dem Vorbild zahlreicher Exilanten aus den Freiheitskämpfen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er bekennt sich offen zum Anarchismus "als einem Negationsprinzip", und bezieht eine Wohnung am Montmartre, Rue des Ab­ besses No 13, und solidarisiert sich mit dem Mörder der Elisabeth von Österreich. Die künftigen Sommer verbringt er, solange es seine finanziellen Möglichkeiten erlauben, am Stadtrand: Rue Sanssouci 17.

3. Dezember Auch Otto Julius Bierbaum hält die Zürcher Diskussionsabende in "Die Zeit” für eine Erfindung Panizzas. Kurz nach Weihnachten besuchen Ger­ traud Rostosky, Wedekind, Maximilian Dauthendey, Wolfgang Wanieck und Käthe Werckmeister Panizza in Paris und finden ihn in seltsamem Zustand vor. Gertraud Rostosky erinnert sich später an einen solchen Besuch bei Pa­ nizza, den sie gemeinsam mit Max Dauthendey und Maja Vogt erlebte. Pa­ nizza hatte die Einladung offenbar vergessen, "Panizza, der sich allmählich in die Lage schickte, fand, daß er uns bewirten müsse. Er verschwand, um einige Erfrischungen herbeizuholen. (...) Mit einem grauen Papiersack, der ihm bis an die Hüften reichte, und einer großen Flasche Kognak kam Pa­ nizza zurück und schenkte uns in verschiedenen grotesken Tontöpfen die Schnäpse ein. Den großen Sacke stellte er in unsere Mitte und erklärte uns: das die darin befindlichen Kekse sein Proviant für 5 Jahre wären. (...) Ehe er dann die Wohnung beleuchtete, zeigte er uns seine Räume: 5 Zimmer, sämtliche Bibliothek, die Einrichtung nur aus Bücherregalen bestehend. In der Ecke des letzten Zimmers ein ungemachtes Bett.”

Ende Dezember teilt Panizza seinem "Mäzen”, dem literarisch vor allem an Erotika interes­ sierten Freiherm Otto von Grote mit, die ZD seien aus Finanzgründen existenziell gefährdet. Grote bindet weitere finanzielle Unterstützung an die Bedingung, als Mitherausgeber geführt zu werden und redaktionellen Einfluß nehmen zu dürfen. Panizza lehnt ab.

- 35 Widitige Veröffentlichungen:

Christus in psicho-patologischer Beleuchtung Gräfin zu Reventlow

Aretino Die Kleidung der Frau ein erotisches Problem Der "norddeutsche Mäzen”...

Christus von einem Juden

Agnes Blannbekin eine östreichische Schwärmerin aus dem 13. Jahrhundert nach den Quellen Psichopatia criminalis

1899

5. Februar

Grote droht in einem Brief an Conrad damit, den deutschen Botschafter zu Paris, Graf Münster über einen Brief an Panizza zu informieren, den Grote selbst abgesandt hatte und der pornographischen Charakter besaß. Münster würde, so Grotes Spekulation, mit Sicherheit Panizzas erneute Ausweisung bewirken und den Dichter somit zu einem endgültig Heimatlosen machen.

11. Februar Grote warnt Michael Georg Conrad vor der Verbreitung anarchistischer Anschauungen durch die von ihm mitfinanzierten ZD.

Grundsätzliche Konflikte mit dem Nachfolger v. Schabelitzens treten auf. Panizza muß aus finanziellen Gründen die Auflage der ZD von ungefähr 400 Exemplaren auf ein unbekanntes Niveau herab senken. Die Zeitschrift erscheint zunehmend sporadisch, zum Teil erscheinen auch Mehrfachnummem. Sein Brieffreund Brupbacher veröffentlicht in seiner Zeitschrift "Die junge Schweiz” den Aufruf zur Gründung einer "Schweizerischen Antireaktio­ nären Gesellschaft” zum Abbau aller Vorurteile und für die Gleichstellung der Frau. Die Zeitschrift erscheint zwischen 1899 und 1900 in unregelmäßiger Folge in vier Ausgaben. Jacob Schabelitz, der Drucker der Zürcher Diskus­ sionen, stirbt. Sein Erbe, der Schwiegersohn H. Heggemacher, will Panizzas Schriften nicht verlegen. C. Speidel in Zürich wird Panizzas Kommissionär des Verlages der ZD. Offiziell druckt jedoch v. Schabelitz die ZD weiter.

- 36 1. Dezember

Panizza widmet die "Parisjana” dem mittlerweile stark national gesinnten Conrad. Conrad wendet sich in ausgeprägter Wut an den Herausgeber der ’Gesellschaft”, Ludwig Jacobowski, um mit Panizza "aufzuräumen”, da die "Parisjana” "undeutsch” seien und "Verbrechen an der Zivilisation”. Conrad setzt sich in Zukunft mehrfach polemisch mit dem einstigen Weggefährten Panizza auseinander und verliert an künstlerischem Niveau. Panizza wird nach der Veröffentlichung der "Verse aus Paris” steckbrieflich gesucht. Wichtige Publikationen:

Karl Ludwig Sand eine biografich-psichologische Darstellung Heine und Platen eine Revisjon ihrer literarischen Prozeßakten

Anarchisten Panizza Vreneli's Gärtli eine Zürcher Begebenheit

Juliane Dery und was sie gemordet

Tristan und Isolde in Paris Parisjana. Deutsche Verse aus Paris (im Impressum: Zürich)

Berlin Deutschland 1899 Der Papst

1900 8. Januar Grote läßt Panizza eine erneute Warnung zwecks Einschüchterung zukommen. Panizza verfaßt einen Geburtstagsbrief an Mathilde, der von der Polizei geöffnet und als ’anarchistischen Inhalts” klassifiziert wird.

23. Januar

In der (irrtümlichen) Annahme einer zum 30. Januar einsetzenden Verjährung fordert der Staatsanwalt das Landgericht auf, einen »Beschluß« gegen Panizza zu erlassen. In einem Pseudoverfahren beschließt das Gericht, Panizzas Aufenthaltsort eruieren zu lassen.

Die Polizeidirektion wird (wahrscheinlich) durch eine Rezension Conrads in der "Gesellschaft” auf die "Parisjana* aufmerksam gemacht.

- 37 27. Januar

Die Polizeidirektion informiert die Staatsanwaltschaft über die Existenz der »Parisjana«. 29. Januar v. Sartor erhebt Anklage gegen Panizza. 30. Januar Ein neuer Haftbefehl wird gegen ihn erlassen; der Dichter wird nunmehr international steckbrieflich gesucht. Erst Ende Januar

erfährt Panizza von Brupbachers neuer Zeitschrift ”Die Junge Schweiz” und begrüßt ’diese neue Stimme” aus vollem Herzen. Die in der Literatur vorzu­ findende Ansicht, Panizza sei Mitarbeiter dieses Organs gewesen, gehört zu den zahlreichen Legenden zu Leben und Werk. Im Februar hält M. G. Conrad vor dem "Akademisch-dramatischen Verein” in München einen Vortrag über Leben und Werk Panizzas, der ihm nun als höchst gefährlich für die Aufrechterhaltung von Moral und Ordnung erscheint.

28. Februar Staatsanwalt Kiefer beantragt die Konfiszierung des Vermögens Panizzas, da nach §§ 112/ 113 der Reichsstrafprozeßordnung Fluchtgefahr bestehe: der Dichter halte sich als Staatenloser im Ausland auf.

10. März

Der auf den Antrag Kiefers reibungslos folgende Gerichtsbeschluß über die Beschlagnahmung erweist sich als anfechtbar: das Verfahren wird umgehend eingestellt. Panizzas Vermögen bleibt jedoch eingezogen.

Ab etwa Mitte Mai ist J. Lehmann bereit, die ZD zu drucken, Panizza selbst übernimmt den Vertrieb. Panizza legt gegen die Beschlagnahmung seines Vermögens Be­ schwerde ein, die ohne Begründung sofort abgewiesen wird.

20. Mai Panizza schreibt an seinen Studienfreund Paul Ostermaier, die Affaire der Vermögensbeschlagnahme habe ihn so erschüttert, daß Freitod ihm manches­ mal als letzter Ausweg erscheine.

- 38 Anfang Juli Panizza erhebt eine Grundsatzbeschwerde gegen das Verfahren gegen ihn bei der Staatsanwaltschaft mit der zutreffenden Begründung, er sei weder von dem Prozeß, noch von dem Urteil gegen ihn irgend in Kenntnis gesetzt worden und er sei nunmehr mittellos, da er aufgrund seiner Lebensführung von seiner Familie keinerlei Unterstützung zu gewärtigen habe.

n. juii Panizzas "Eingabe" wird nicht als Beschwerde, sondern als Erklärung gewer­ tet und kommentarlos zu den Akten gelegt.

12. Juli Kiefer fordert Panizza auf, sich dem Gericht zu stellen.

24. Juli

Eine weitere Verfahrensbeschwerde Panizzas, die inhaltliche vor Formfragen stellt, wird vom Obersten Landesgericht wiederum ohne jede Begründung abgewiesen. 20. September

In einem Brief an Ostermaier äußert Panizza erneut Selbstmordgedanken. 8. Oktober

Panizza bittet Ostermaier darum, ihm eine Generalvollmacht auf seinen Anteil an einer Hypothek auf ein Haus am Odeonsplatz zu München aus­ stellen zu dürfen. Panizza hielt an diesem Haus einen 33%-Anteil, zu glei­ chen Teilen mit Ida und Felix. Panizzas Anteil belief sich auf 17.000 Mk. Ostermaier verhält sich als staatstreuer Kirchenchrist und verrät Panizza an die Staatsanwaltschaft, indem er sie auf dessen zusätzliches Vermögensein­ kommen aufmerksam macht, und damit die Grundlage für Panizzas endgültigen finanziellen Ruin legt.

Wichtige Publikationen: Tristan und Isolde in Paris

Das Schwein in poetischer, mitologischer und sittengeschichtlicher Beziehung

Zwei Gutenberg-Gedenk-Werke Eine Schleswig-Holstein'sche Venus

Mania anarchistica progressiva Brief aus Paris. Der Quatorze Juillet

Arthur Rimbaud Pariser Brief

- 39 -

1901 In München kursiert das Gerücht, Panizza habe sich erschossen. Während des ganzen Jahres und Teilen des Jahres 1902 arbeitet Panizza an verschie­ denen Skizzen zu einem Text ’Der Verbrecher, eine Apoteose’.

13. April Da er die Miete nicht mehr aufbringen kann, stellt sich Panizza der Staats­ anwaltschaft in München und wird noch am gleichen Tage in die Fronfeste am Anger verbracht und dort verhört. Panizza gibt die Majestätsbeleidigungen zu, und verteidigt sie als begründet, da Wilhelm II. seine Ausweisung aus Zürich zu verantworten habe.

15. April

Das Verfahren wird erneut eröffnet, die Vermögenskonfiszierung aufgehoben, da der gefährliche Denker nun in Deutschem Gewahrsam ist. 17. Mai Die Direktion der Justiz und Polizei des Kantons Zürich nimmt gegenüber der Staatsanwaltschaft am königlichen Landgericht München I Stellung zu den Gründen für Panizzas Ausweisung Ursächlich sei das Aktphoto der minderjährigen Prostiuierten Olga Rumpf gewesen, dessen Verbreitung jedoch nicht habe nachgewiesen werden können. Man habe den exzentrischen Aus­ länder mangels der Möglichkeit eines Strafverfahrens administrativ ausgewie­ sen. Das Schreiben endet mit dem Hinweis, ’zuverlässige Informanten’ seien der Ansicht, Panizza sei geistig anormal.

18. Mai Das Gericht erläßt Beschluß, die Gutachter aus dem Prozeß gegen das »Liebeskonzil« wieder heranzuziehen. Das bürgerliche Märchen von der Un­ parteilichkeit der Justiz erhält einen weiteren Rückschlag. Die Gutachter Paul Ostermaier und Alfred Nobiling halten Panizza für gestört. Nobiling hält die gesamte Familie für anormal, Gutachter Hofmann will sich kein endgültiges Urteil über den Kollegen Dr. Panizza bilden, stimmt jedoch der Einweisung in eine Anstalt zwecks Beobachtung zu. 7. Juni Panizza erklärt die Feststellung seiner Unzurechnungsfähigkeit stärkste Reklame.

für seine

22. Juni - 3. August

Panizza wird in der Münchner Kreisirrenanstalt, seinem früheren Wirkungsort als Assistent Guddens zwangsintemiert.

- 40 25. August Die 1. Strafkammer des Landgerichts München I beschließt in geheimer Sitzung, Panizza aufgrund einer kriminellen Psychose für unzurechnungsfähig zu erklären. Panizza erfährt am Abend vollkommen überraschend durch einen Aufseher von seiner sofortigen Entlassung und reist zwei Stunden später mit dem Zug nach Paris ab. Panizza äußert gegenüber Ungemach, er habe aus Angst vor erneuter Aus­ weisung seine Bibliothek und seinen Hausrat in Paris gar nicht erst ausge­ packt. Er durchlebt schwere psychische Krisen, und zeigt Zeichen von Ver­ folgungswahn gegenüber Wilhelm II., den er für einen Drahtzieher seines Schicksals hält. Wenn auch Wilhelm II. wohl kaum Panizzas Ausweisung persönlich wird bewirken haben wollen, so ist doch Panizzas Einschätzung, Wilhelm sei ein Feind der Menschheit und Kultur von immerwährender Gül­ tigkeit. Panizza leidet zunehmend unter Luftsingen, in dem er das Pfeifen kaiserlicher Agenten hört.

24. Oktober Gerichtsurteil zur Einziehung der "Parisjana."

Ab November

veröffentlicht Panizza nicht mehr, die letzte Ausgabe der ZD umfaßt fünf Nummern (28-32). 18. Dezember

Rede Wilhelms II., "Die wahre Kunst*, in der er behauptet: "Eine Kunst, die sich über die von Mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr, sie ist Fabrikarbeit”. Veröffentlichungen:

Pariser Brief (Wiedereröffnung der Comédie Française ; 29. December) Der Goldregen

1902 Panizza zieht sich zunehmend von der Öffentlichkeit zurück. Ab November etwa brechen die Geschäftsbeziehungen zwischen Panizza und Lehmann endgültig ab, er bricht zunehmend auch mit alten Freunden wie Ludwig Scharf und vergrößert seine Isolation selbst. Panizza, der im Exil seine Bibliothek nur in Kisten aufbewahrte, beschließt endlich, sie einzu­ richten. Panizza verfaßt bis 1904 noch zahlreiche Beiträge für seine nicht mehr erscheinende Zeitschrift und fühlt sich von Wilhelm II. und dessen Schergen zunehmend verfolgt.

- 41 -

1903 Panizza diagnostiziert bei sich selbst den Zerfall geordneter Bewußtseinszu­ sammenhänge und arbeitet in seiner Wohnung in der Rue des Abbesses 13 (bis 1904) an den unveröffentlichten »Imperjalja«, einer aus der internatio­ nalen Tagespresse kompilierten Aufstellung aller nur denkbaren Verbrechen, die nach Panizzas Einschätzung in direkte oder indirekte Verantwortlichkeit Wilhelms II. fallen sollten. Zuerst als verschollen geglaubt, wurde diese umfangreichste Arbeit Panizzas im März 1928 in München versteigert und befindet sich heute in der Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. In den Münchner Neuesten Nachrichten vom 24. März 1928 weiß ein Journalist zu berichten, ’die Monströsität des Hasses erfordert eine Monströsität des Verhaßten, und Panizza konstruiert sie sich unbekümmert um jede Wirklichkeit’.

1904 Ab Anfang des Jahres läßt sein Gesundheitszustand dramatisch nach, er friert -wie Proust- ständig und trägt in der Wohnung Handschuhe.

22. April Panizzas Tagebuchaufzeichnungen enden.

25. Mai Panizza schreibt einen Brief mit der Bitte um Hilfe an seine Mutter, da er verfolgt werde. Sie rät ihm zum Besuch einer Nervenheilanstalt.

26. Mai Panizza wird von Geruchshalluzinationen verfolgt.

29. Mai Panizza schreibt einen zweiten Hilfebrief, Mathilde entsendet daraufhin ihre Enkelin nach Paris. Als sie eingetroffen ist, läßt Panizza sie jedoch nicht in die Wohnung.

23. Juni Panizza verläßt Paris und fährt nach Lausanne in der Hoffnung, dort von seinen ’Molestirungen* frei zu werden. Von dieser Hoffnung enttäuscht, reist er nach München und bitte um Aufnahme in die Kreisirrenanstalt, die ihn aufgrund der fraglichen Finanzierung des Aufenthaltes ablehnt unter dem Vorwand der Überfüllung.

- 42 3. Juli

Panizza wendet sich an die Privatnervenklinik Neufriedenheim und wird wegen eines heftigen Streites mit dem Direktor verwiesen. 20. Juli

Panizza mietet sich nach dem Verweis aus der Klinik ein Zimmer in der Feilitzschstrasse 19/IIr in Schwabing und versucht ein zurückgezogenes Le­ ben zu führen; gerät jedoch bei Spaziergängen in heftige Händel mit Pas­ santen, die Strafanzeigen und polizeiliche Bespitzelung zur Folge haben. Er fühlt sich auch während der Nachtstunden durch hohe Töne verfolgt und pflegt nur noch mit Franziska zu Reventlow und wieder mit Ludwig Scharf Kontakte. Seine Wahnvorstellungen haben Wilhelm II, den er "der dumme Junge”, "der Stier", "das Pferd" nennt zum Hauptinhalt.

9. Oktober

Panizza setzt Selbstmordgedanken "wegen Mutlosigkeit" im letzten Augen­ blick nicht in die Tat um. 19. Oktober

Panizza will sich und anderen den Beweis liefern, daß er nicht unter Hallu­ zinationen leidet und provoziert eine Zwangseinweisung zwecks Untersu­ chung, indem er gegen 17 Uhr nur mit Unterhemd bekleidet von seinem Haus in der Feilitzschstrasse durch die Wemeckstrasse und die Maria-Josepha-Strasse hin zum Siegestor läuft. In der Leopoldstrasse verursacht er einen Menschenauflauf. Panizza verliert jeden Bezug zur ihn umgebenden "Realität" und erfindet sich eine neue Identität. So gibt er an, er befinde sich in der Irrenanstalt, habe während seines Ausganges im Englischen Garten seine Kleider abgelegt, und erklärt in der dritten Person von sich sprechend, er sei ein Stenograph aus Würzburg. Sein Name sei Ludwig Fromman und er kenne den Vermieter Hirschbiel nicht. Weiterhin, so Paniz­ za, sei "der Coup gelungen."

8. November Panizza wird in die Psychiatrische Klinik überwiesen, obwohl die Arzte Mathilde Panizza darauf hinweisen, daß ihr Sohn nicht geisteskrank sei, sondern nur gestört. Ida Panizza, Oskars einzige vertraute Verwandte bemüht sich darum, nicht den geldgierigen Josef Popp zum Vormund bestellen zu lassen; ihr Bemühen scheitert jedoch. Popp läßt umgehend die Bibliothek seines Mündels aus Paris holen und in eine Scheune bei Bad Kissingen bringen. Veröffentlichung: Die "unsittlichen" Gebrüder Grimm und die neue "Sittlichkeit" jüdisch-deut­ scher Verleger

- 43 25. Januar Panizza äußert gegenüber Gudden, Nietzsche habe nie existiert; dann: er sei ein Paralytiker gewesen, weshalb er den Zarathustra niemals habe schreiben können.

26. Januar Panizza behauptet in eigenwilliger Interpretation der Geschichte, Bismarck sei niemals gestorben, Zola sei nicht gestorben, Alexander III. lebe noch im­ mer.

27. Januar Panizza befürchtet, den Hals durchschnitten zu bekommen, als eine Kran­ kenschwester sich erkundigt, ob er rasiert werden wolle.

2. Februar

Gutachten Professor von Guddens über den Geisteszustand des Dr. Oskar Panizza. 5. Februar Panizza läßt sich in das Sanatorium Kurhaus Mainschloß bei Bayreuth, eine Kurklinik für Herz- und Kreislaufkrankheiten einweisen, um vor realen und vermuteten Repressionen geschützt zu sein.

28. März Panizza wird zum Opfer einer Herrschaftspsychiatrie, die alles was anders ist als die Norm, verfolgt. Er wird entmündigt, der literarische Nachlaß und das Vermögen fallen in die Hände seiner Angehörigen. Das Entmündigungs­ gutachten ist von Fritz Ungemach erstellt, Zweitgutachter ist v. Gudden jr. Ungemachs Gutachten folgt in weiten Teilen wortwörtlich dem Gutachten von 1901, ansonsten stützt sich das Gericht in seiner Entscheidung auf das Gutachten von 1895 und vertritt die Ansicht, Panizza sei bereits für einen Laien als geisteskrank erkennbar. Panizza verfaßt keine eigenen Texte mehr, übersetzt gelegentlich aus dem Lateinischen und verweigert Gespräche in deutscher Sprache. Wie aus einem Brief Mathilde Panizzas an Lippert vom 18.2.1913 hervorgeht, will sich Panizza das Leben nehmen.

1906 Die letzte datierte Aufzeichnung Panizzas vom 7. November vermeldet in Form einer Zeitungsmeldung die Hinrichtung Wilhelm II. und der Erbprinzessin Charlotte durch Erhängen. Charlotte habe ’Sau Panizza” gerufen, Wilhelm sei stumm gestorben.

- 44 -

1911 Der von Hanns Heinz Ewers herausgegebene "Führer durch die moderne Literatur” meldet Panizza als verstorben.

1912 Weihnachten überbringt Lippert an Panizza das "geistige Testament” seiner Mutter an ihn. Panizza weist die christliche Bigotterie seiner Mutter empört zurück.

1913 Ab Weihnachten verweigert Panizza jeden Kontakt mit Lippert, der das Vertrauen Panizzas häufig mißbraucht hatte, indem er Briefe seines Mündels nicht in die Freiheit schmuggelte, sondern Mathilde oder der staatlichen Gewalt auslieferte.

1914 Im Frühjahr bemühen sich Gustav Landauer und Kurt Tucholsky vergeblich um die Herausgabe einer Werkausgabe. Popp sendet dem Gegenvormund Panizzas, Lippert, ungedruckte Novellen zur Prüfung zwecks Aufnahme in den Band "Visionen der Dämmerung", der jedoch bei Erscheinen keinen einzigen zuvor ungedruckten Text enthält. Die Manuskripte sind unauffind­ bar. Hanns Heinz Ewers veröffentlicht eine "gereinigte* Fassung eines Teils von Panizzas Erzählungen mit einer Vorrede von Hannes Ruch (d.i. Richard Weinhöppel). 7. März Mathilde Panizza ordnet in einem Brief an Lippert eine drakonische Zensur der Werke Oskars an: "Besser diese Schriftstellerei komt in's Feuer als, daß Unheil für eine Seele gestiftet werde."

Ende Mai bitten Hugo Ball und Kiabund um Material für die bei Georg Müller projektierte Lyrik-Sammlung "Die Konfiszierten”. Der Band sollte ausschließlich Texte beschlagnahmter Autoren enthalten, so u.a. Blei, Dehmel, Kerr, Panizza, Schnitzler, Stemheim, Schmidtbonn, Thoma, Unruh, Wedekind.

- 45 -

1915 13. August Mathilde Panizza stirbt.

1918 Hermann Croissant bemüht sich im Auftrag Landauers und Tucholskys erneut um die Rechte an Panizzas Werk. Dessen Verwandte verbieten kate­ gorisch jede Freie Auswahl aus dem Werk.

1919 Lippert verkauft die Bibliothek Panizzas an den Münchner Antiquar Horst Stobbe für etwa 75.000 Mk gegen den ausdrücklich erklärten Willen des Dichters.

1921 28. September Panizza stirbt an den Folgen eines wiederholten apoplektischen Insults.

30.

September

Beisetzung auf dem Städtischen Friedhof Bayreuth in Anwesenheit von Lippert und Anstaltspersonal. Lippert pflanzt eine Zypresse, Panizzas selbstverfaßter Epilog in einem Gedicht hieß: "Pflanzt auf mein Grab die bittere Zypresse, die Rose nicht, denn bitter war das Leben mir”.

1922 20.

Dezember

Ida Panizza stirbt. Veröffentlichung:

Der Mucker

- 46 -

1923 16. Juni. Adolf Freydag übersendet an Lippert die Vollmachten der Erbengemein­ schaft, er sichert ihm 40.000 Mk zu und erwartet die "umgehende Zusen­ dung” der Manuskripte Panizzas, bei denen es sich wahrscheinlich um die heute verschollenen Tagebücher aus seinen letzten Lebensjahren sowie zahl­ reiche (ca. 40) ungedruckte literarische Arbeiten gehandelt haben wird.

Eine 2. Auflage der "Visionen der Dämmerung” erscheint (7.-11. Tausend) bei G. Müller in München. Panizzas Erben beginnen Jahrzehnte später einen Streit um angeblich von Müller nicht bezahlte Tantiemen.

1925 10. Juli

Die Erbengemeinschaft weigert sich, Panizza einen Grabstein errichten zu lassen.

1926 "In memoriam Oskar Panizza”, hrsg. von Horst Stobbe erscheint in Mün­ chen. Das Werk enthält zahlreiche falsche Angaben zu Panizzas Biographie sowie offenbar vorsätzliche Fälschungen, ist jedoch prägend für die gesamte Panizza-Forschung vor Düsterberg und Bauer. Lippert fälschte die Biogra­ phie Panizzas teils auf Wunsch Mathilde Panizzas, z.T. aus eigenen Moti­ ven. Mangels anderer Materialien und Quellen wird diese Sammlung für Jahrzehnte, bis in die jüngste Vergangenheit für eine verläßliche Quelle gehalten. Die Biographie von Stobbe/Lippert wird selbst in angesehenen Enzyklopädien und Konversationslexika als Referenz zu Panizzas Leben und Werk angegeben. Die "Selbstbiographie" Panizzas entsteht zwar von dessen eigener Hand, jedoch unter starkem Druck Lipperts und ist unter diesem Blickwinkel zu bewerten.

Veröffentlichung: Selbstbiographie

1927 8. November

Im »Münchner Beobachter«, dem täglichen Beiblatt zum »Völkischen Be­ obachter«, wird auf der zweiten Seite eine nationalsozialistische verfälschte Variante zu Leben und Werk Oskar Panizzas gedruckt, derzufolge er aus Heimweh nach Deutschland zurückgekehrt sei aus dem Exil. Aus dem anar­ chistischen Bohemien wird ein weinerlicher vaterlandsgläubiger guter Deut­ scher gemacht.

- 47 10.-16. November Im gleichen Blatt wird "Der operirte Jud'" abgedruckt.

1928 10. Januar Emil Ferdinand Tuchmann hält in Berlin einen Vortrag über Panizza und gründet wenig später mit Abraham Horodisch und dem Amtsgerichtsrat W. Michaelis die Panizza-Gesellschaft dortselbst.

1929 Die Erbengemeinschaft verhindert erneut unter Federführung des Juristen und Teilerben Adolf Freydag die Herausgabe des Nachlasses und wendet sich öffentlich gegen die Benennung Panizzas als eines Dichters.

2. August In der Literarischen Welt erscheint der Beitrag Tuchmanns "Die Erben Panizzas vereiteln die Herausgabe des Nachlasses”.

"Aussprüche”, scheint.

eine Veröffentlichung der Panizza-Gesellschaft,

Berlin,

er­

Tucholsky bemüht sich erneut um die Veröffentlichung des Nachlasses, die von der Erbengemeinschaft wiederum verhindert wird.

1933 Tuchmann, Mitgründer der Panizza-Gesellschaft, geht als Jude ins Exil nach Paris.

1940 Eggers veröffentlicht eine ideologisch bearbeitete Fassung der 1894 erschiene­ nen Studie "Der teutsche Michel und der römische Papst* u.d.T. "Deutsche Thesen gegen den Papst und seine Dunkelmänner". Panizza wird posthum zum nationalsozialistischen Schriftsteller umgedeutet.

- 48 -

1941 Martin Bormann läßt ca 1500 Exemplare der »Deutschen Thesen« an politi­ sche Leiter und Gliederungsführer verteilen, um eine Diskussion zu Konfes­ sionsfragen und Partei in Gang zu setzen.

1943 Eggers gibt "Oskar Panizza. Aus Werk und Leben” (Berlin) heraus. Durch einseitige Auswahl und kontextuelle Verschiebungen werden Biographica und literarische Aussagen im NS-Sinne dargestellt. Panizzas Willensstärke wird betont, der anarchistische Bohemien verschwiegen. Panizza, so Eggers, habe Juden, Engländer und Franzosen abgelehnt.

1947 Panizzas Grabstätte wird aufgehoben.

1952 Walter Mehrings "Verlorene Bibliothek” läßt Panizza endgültig zur Legen­ denfigur werden durch Veränderung biographischer Fakten. So flieht -wie bereits im Völkischen Beobachter 1927 zu lesen war- Panizza direkt nach seinem Prozeß in die Schweiz, das Urteil habe auch die Verbreitung unzüch­ tiger Schriften umfaßt, Panizza habe eine Zuchthausstrafe erhalten. Mehring ergänzt die Fama um den Dichter um die Beschlagnahmung der Ewerschen "Visionen der Dämmerung” und erfindet verschiedene neue Bekannte und Verwandte hinzu, bzw. datiert Bekanntschaften um. Mehring erfindet einen eigenen Besuch bei Panizza in der Irrenanstalt sowie einen Geistertitel, "Transvestitentum und Effeminismus im Messiaskult”, der sogar noch 1982 von Dietrich Kuhlbrodt in seinem Filmbuch zu Werner Schroeters ’Liebes­ konzil” (S. 151) übernommen wird.

1960 Die französische Übersetzung des »Liebeskonzils« von Jean Brejoux er­ scheint, mit einer Einleitung von André Breton bei Ed. Pauvert in Paris.

1962 Peter J. Petersen in Flensburg läßt das Liebeskonzil in Faksimile drucken. Aufgrund einer Strafanzeige des Kieler Kulturministeriums veranlaßt die Staatsanwaltschaft Flensburg eine Hausdurchsuchung wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften. Das Verfahren wird eingestellt.

- 49 -

1966 Faksimileausgabe in einer Auflage von 500 Exemplaren der Originalhand­ schrift von "Laokoon oder Uber die Grenzen der Metzgerei. Eine Schlangen­ studie”, hrsg. von Wilhelm Lukas Kristl.

1969 Im Theatre de Paris wird das Liebeskonzil durch Jorge Lavelli inszeniert uraufgeführt. Die Studiobühne der Universität München führt wenig später das Stück auf; der ASTA versagt ihr daraufhin die finanzielle Unterstüt­ zung.

1970 Oswald Wiener liest während einer Veranstaltung mit Rühm und Brus zu Kirchheim aus ”Psichopatia criminalis.”

1973 Im Emst-Deutsch-Theater in Hamburg wird das Liebeskonzil erstmalig in Deutschland professionell aufgeführt.

März

W2

Das Göttinger "Theater im OP* zeigt in zehn Vorstellungen eine kongeniale Inszenierung der Himmelstragödie durch Astrid Hickmann. Hickmann gelingt eine detailreiche, aktuelle Neuinterpretation. Die Regisseurin setzt das Pro­ jekt durch, obwohl die Inszenierung problematisch ist: so kündigt eine Darstellerin, weil sie Repressalien ihrer Freunde und Verwandten wegen der Mitwirkung in einem »blasphemischen Stück« befürchtet. Der Regisseurin wird Hundekot auf die Garderobe gelegt; aus der Kasse wird Geld gestoh­ len. Hickmanns Inszenierung wird in der bürgerlichen Presse mit spitzen Fingern gelobt (Göttinger Tageblatt, 18. März 1992; Hessisch-Niedersächsi­ sche Allgemeine Zeitung, 19. März 1992).

1993 Die seit 1920 geführte Diskussion darüber, ob in der Heimatstadt Panizzas eine Strasse nach dem einzig berühmten Sohn des elenden Provinznestes be­ nannt werden dürfe, versandet wieder einmal.

1994 Erscheinungsbeginn der ersten umfassenden Panizza-Edition.

- 50 Kapital

1) vgl. die Nähe von "kretin" und ’chretien", die sich die Sprache mit der ihr eigenen Kraft geschaffen hat. 2) 5.1895. Halbbd. 2.

3) Theodor Lessing: Der Fall Panizza. Eine kritische Betrachtung Uber Gotteslästerung und künstlerische Dinge vor Schwurgerichten. München 1895.

4) (23-24: Zürcher Diskußjonen) 5) Führer durch die moderne Literatur. Neue, vollständig durchgearb. Ausg. mit zahlr. Porträts in Photographiedruck. Berlin 1911; 36

- 51 -