Der Fall Oskar Panizza : Ein deutscher Dichter im Gefängnis : Eine Dokumentation 3926175605


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Der Fall Oskar Panizza : Ein deutscher Dichter im Gefängnis : Eine Dokumentation
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Der Fall Oskar Panizza Ein deutscher Dichter im Gefängnis

Eine Dokumentation Herausgegeben von Knut Boeser

EDITION HENTRICH

Der Fall Oskar Panizza Ein deutscher Dichter im Gefängnis Eine Dokumentation Herausgeber Knut Boeser Mitarbeit Hubert Bäuerle

EDmON HENTRICH

Umschlagbild und Seite 196 Vanitas

Öl auf Kupfer, 21 x 17 cm 18. Jahrhundert Unbekannter Maler

© 1989 Edition Hentrich Berlin Reihe Deutsche Vergangenheit Band 37 Alle Rechte sind Vorbehalten

Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages Edition Hentrich Berlin Wir danken den Verlagen Rowohlt und Luchterhand für die Abdruckerlaubnis der Beiträge

Herstellung Druckhaus Hentrich Berlin ISBN 3-926175-60-5 1. Auflage 1989 Printed in Germany

Titelseite der dritten Auflage, 1897

OSKAR PANIZZA DIE SELBSTBIOGRAPHIE * Oskar Panizza, Schriftsteller, geboren 12.11. 1853 in Bad Kissingen, stammt aus belasteter Familie. Onkel litt an partiellem religiösem Wahnsinn und starb nach 15jährigem Irrenhausaufenthalt in der Irren-Abt. des Würzburger Juliusspitals. Ein anderer Onkel begieng in jugendlichem Alter Selbstmord. Eine Tante starb an Schlaganfall, eine andere Tante noch am Leben, ist psychisch sonderbar, teils gemacht geistreich, teils schwachsinnig. Alle diese Verwandtschaftsgrade beziehen sich auf die mütterliche Seite. Die Mutter noch am Leben jähzornig, energisch, starke Willensperson, fast männliche Intelligenz. Vater starb an Typhus, war von italienischer Abstammung, leidenschaftlich, ausschweifend, jähzornig und gewandter Weltmann, schlechter Haushalter. Von den Geschwistern des Pazienten sind die zwei jüngeren, wie Pazient selbst in früheren Jahren melancholischen Zufällen ausgesetzt gewesen. Jüngere Schwester begieng zweimal Selbstmordver­ such (vielleicht kompliziert mit Hysterie). In der ganzen Familie besteht prävalie­ rende Geistestätigkeit mit Neigung zur Diskussion religiöser Fragen. Mutter und Pazient schriftstellern. Pazient litt an den üblichen Kinderkrankheiten, Masern, Keuchhusten, lernte sehr schwer lesen, zeigte keine Begabung, hatte bei seinen Geschwistern den Beinamen »der Dumme«, kam auf dem Gymnasium schwer vorwärts, war bei fruchtloser, üppiger Phantasie und steter In-sich-Versunkenheit unfähig, die Notwendigkeit einer geregelten, systematischen Vorbereitung für einen Lebensberuf zu begreifen, wandte sich vorübergehend der Musik zu und absolvierte endlich in vorgerückten Jahren, 24Jahre alt, das humanistische Gymnasium Schweinfurt. Während seiner Masernerkrankung hatte er mit circa 12 Jahren einen leichten somnambulen Anfall: er verließ bei Tag in unbewußtem Zustand das Bett, lief im Krankenzimmer umher und wurde schließlich betend vor seinem Bette kniend gefunden und aus seinem Trans gerettet. Wandte sich nach absolviertem Gymnasium mit großer Liebe und Eifer dem medizinischen Studium zu, wurde Coassistent bei Ziemßen; arbeitete unter demselben auf dem klinischen Institut, promovierte 1880 mit summa cum laude und erhielt noch in demselben Jahre Aprobazzion. Als Student infizirte er sich mit Lues, die, obwohl lege artis Jahre hindurch behandelt, noch heute in Form eines mächtigen gemma an der rechten tibia manifest ist und jeder noch so energischen Behandlung durch Jodkali spottet. Nach Absolvierung seiner militärischen Dienstpflicht als Unter­ arzt im Militärlazaret und Ernennung zum Assistenzarzt II. Classe der Reserve ging Pazient, von Ziemßen mit zahlreichen Empfehlungen versehen, nach Paris, besuchte aber nur wenig Spitäler, sondern wante sich dem Studium der französi­ schen Literatur, besonders der dramatischen, zu, für die ihn die Kenntnis der fran­ zösischen Sprache, die im Elternhause in Folge hugenottischer Abkunft der Mut­ * Wir haben uns grundsätzlich an die Originalschreibweise der Autoren gehalten.

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ter stets gepflegt wurde, besonders geeignet machte. Imjahre 1882 nach München zurückgekehrt, trat er als IV. Assistenzarzt in die Oberbairische Kreis-Irrenanstalt unter Gudden ein und servirte daselbst, inzwischen zum IV. (?) Assistenzarzt vor­ gerückt, während zweier Jahre. Beeinträchtigung seiner Gesundheit und wissen­ schaftliche und andere Differenzen mit seinem Schef ließen ihn 1884 diese Stelle aufgeben, und er wante sich nun, abgesehen von kleinen vorübergehenden medi­ zinischen Dienstleistungen als prakt. Arzt, definitiv der Literatur zu, die seit Paris nicht mehr aus dem Auge verloren war. Teils unter Nachwirkung einer in der Irrenanstalt aufgetretenen gertrütischen Depression, die fast ein Jahr anhielt, ent­ stand das lirische Gedichtbuch »Düstre Lieder« (Leipzig 1885), das unter Heineschem Einfluß steht. Durch diese literarische Entlastung wesentlich gehoben und erfrischt, besuchte er noch im gleichen Jahre England, welchem Besuch eine in­ tensive Beschäftigung mit der englischen Sprache und Literatur unter Mrs. Callway vorausgegangen war und woselbst er ein volles Jahr auf dem British Museum sich literarisch beschäftigte. Als Frucht dieses Aufenthaltes entstanden »Londoner Lieder« (Leipzig 1887). Im Herbst 1886, nach vorübergehendem Aufenthalt in Berlin, Rückkehr nach München, 1888 erschien »Legendäres und Fabelhaftes«, Gedichte, zum Teil die Frucht der Beschäftigung mit den altenglischen Balladen. In den folgenden Jahren Erlernung und Studjum der italjenischen Sprache und Literatur unter Sgra Luccioli in München, da intensive Beschäftigung mit fremden Sprachen und literarische Produktzjon als das beste Ableitungsmittel für allerlei psichopatische Anwandlungen sich herausstellte. Wiederholte Reisen nach Italien. Vom Jahre 1890 an erschienen in Folge Bekanntschaft mit M. G. Conrad eine Reihe von teils wissenschaftlichen, teils literarischen und künstlerischen Aufsätzen in der » Gesellschaft«, deren Begründer und Leiter M. G. Conrad war. Imjahre 1899 waren schon »Dämmerungsstücke«, eine Sammlung fantastischer Novellen, die teilweise unter dem Einfluß des amerikanischen Novellisten Edgar Poe stehen, erschienen. Durch M. G. Conrad in die »Gesellschaft für modernes Leben« in München einge­ führt, hielt Pazient daselbst einige Vorträge, unter Anderem »Schenie und Wahn­ sinn« (München, Pößl 1891), die die Aufmerksamkeit der Behörden, die Feind­ schaft der ultramontanen Presse: »Sozialdemokraten im Frack« und Remonstrazzionen des Landwehr-Bezirks-Kommandos zur Folge hatten. Von letzterem Kommando zum Austritt aus der »Gesellschaft für modernes Leben« aufgefor­ dert, weigerte sich Pazient und wurde in Folge dessen aus seinem Militär-Verhält­ nis, in dem er inzwischen zum Assistenzarzt I. Classe vorgerückt war, mit »schlich­ tem Abschied« entlassen. Ein Aufsatz des Pazienten »Das Verbrechen in Tavistock Square« (eine englische Erinnerung) im »Sammelbuch der Münchner Moderne« (München, Plößl, 1891) führte zu einer Erhebung der gerichtlichen Anklage wegen »Vergehens gegen die Sittlichkeit«, die aber von der Strafkammer des Amtsgerichts München I einge­ stellt wurde. Imjahre 1892 erschien ein Tragi-Humoristikum »aus dem Tagebuch eines Hundes«, illustriert von Choberg in Leipzig. Im folgenden Jahr »Visjonen«, eine Novellensammlung, wieder zum Teil im fantastischen Stil und Auffassung Edgar Poe’s. 1893 erschien »Die unbefleckte Empfängnis der Päpste« (Zürich,

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Schabelitz), ein in anscheinend serjösestem Stil durchgeführter teologischer Ver­ such, das von Pius IX. im Jahr 1894 proklamierte Dogma der unbefleckten Emp­ fängnis derJungfrau Maria auf die Päpste auszudehnen mit allen embriologischen, antropologischen und teologischen Konsequenzen, die Pazient nach dem Titel­ blatt aus dem Spanischen übersetzt hatte. Diese Schrift wurde in Folge Denunzjation in Stuttgart gerichtlich beschlagnahmt und im sogen, objectiven Verfahren für das ganze Deutsche Reich verboten. Heftige Kritiken von Seite der katolischen wie protestantischen kirchlichen Presse sowie öffentliche Warnungen vor Ankauf schlossen sich an. Im Jahre 1894 erschien »Der teutsche Michel und der römische Papst« mit Vorwort von M.G. Conrad, worin die gravamina Deutschlands gegen Rom in Tesenform tendenzjös, aber auf Grund geschichtlicher Nachricht und unter ausgiebiger Quellenangabe, zusammengefaßt waren. Dieses Werk wurde 1895 ebenfalls in objectivem Verfahren, d.h. nach Ablauf der zur Erhebung der Anklage und strafrechtlichen Verfolgung abgelaufenen Zeit, beschlagnahmt. 1894 erschien außerdem »die Himmelstragödie das Liebeskonzil« (Zürich, Schabeliz), in dem, unter Benützung eines Ulrich von Hutten’schen Zitats, das Erscheinen der Sifilis in Italien zu Ende des XV. Jahrhunderts, als in Folge des lasterhaften Trei­ bens am päpstlichen Hofe unter Alexander VI. erfolgt, in Form eines mittelalterli­ chen Misterjums unter moderner Beleuchtung durchgeführt ward. Dieses Buch­ drama brachte den Pazienten im Frühjahr 1895 vor die (!) Münchner Afisen, wo er nach § 166 R.-Str.-G.-B. zu ljahr Gefängnis verurteilt wurde, ein Urteil, das bald darauf das Reichsgericht in Leipzig bestätigte. Patient verbüßte seine Strafe im Gefängnis zu Amberg, woselbst auf nachträgliche Geltendmachung des Einwurfs des Verteidigers auf Geisteskrankheit (ohne Befragen des Gefangenen) eine sum­ marische Untersuchung desselben quoad psychen intactam erfolgte - »Sind Sie geisteskrank?« - »Nein.« -, die zu einem negativen Resultat führte. Nach verbüß­ ter Strafe verabschiedete sich Pazient von München mit der kleinen Broschüre »Abschied von München« (Zürich 1896), die Beschlagnahmung und steckbrief­ liche Verfolgung des inzwischen nach Zürich übersiedelten Verfassers zur Folge hatte. Noch im gleichen Herbst veröffentlichte Pazient die sittengeschichtliche Studje »Die bayrischen Haberfeldtreiben« (Berlin, S. Fischer), in welcher auf Wunsch des ängstlich gewordenen Verlegers einige Stellen des Textes wie auch einige Verse der im Original mitgeteilten »Haberer-Protokolle«, die wenige Jahre vorher vom Pazienten in einem Aufsatz der »Neuen Rundschau« (im gleichen Ver­ lage) anstandslos veröffentlicht worden waren, durch Punkte in dem bereits druckfertigen Saz ersetzt wurden. Pazient hatte inzwischen das bayrische Indigenat aufgegeben, in der Absicht, nach zweijährigem Aufenthalt in Zürich das schweizerische Bürgerrecht zu erwerben. Im folgenden Jahre gründete Pazjent, da nun auch Schabelitz in Zürich Schwierig­ keiten machte, seinen eigenen Verlag unter dem Titel der gleichzeitig gegründeten Zeitschrift »Züricher Diskussionen« und veröffentlichte die im Gefängnis zu Amberg entstandenen »Dialoge im Geiste Huttens«, in denen die Besprechung öffentlicher Zustände in dem frischen und unschenirten Stil der Streitschriften zu Beginn des XVI.Jahrhunderts versucht ward. Im folgenden Frühjahr 1898 schrieb

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Pazjent die politische Satire »Psichopatia criminalis« (Zürich, Verlag Zür. Diskus­ sionen) über die Verfolgungswut der deutschen Staatsanwälte, unter Aufstellung einer eigenen politischen Geisteskrankheit, die das deutsche Publikum ergriffen habe, versiflirt ward. (Falsche Satzstellung!) Ihr folgte das auf rein historische(n!) Studjen aufgebaute Drama »Nero« (Zürich 1898). Im gleichen Spätherbst wurde Pazjent angeblich wegen Verkehrs mit einer puella publica, die just das 15. Jahr erreicht hatte - in der Schweiz ist der geschlechtliche Verkehr mit Mädchen unter 15Jahren unter Strafe gestellt, außerdem war durch Volksbeschluß die Duldung der Prostituzzion im Kanton Zürich aufgehoben - polizeilich ausgewiesen, als »Schmutziges Subject« in schweizerischen Blättern gebrandmarkt, und ihm auf der Züricher Polizei-Direktion auf erhobene Beschwerde gleichzeitig eröffnet, daß mit dieser Ausweisung aus dem Kanton Zürich seine Ausweisung aus der gesammten Schweiz identisch sei. Pazjent antwortete auf diesen Gewaltakt in der nächsten Nummer der Zürischer Diskussionen unter ofner, rückhaltlosester Aufdeckung des Sachverhalts, der die eigene Person und ihren begangenen Fehl ohne Weiteres blossteilte, gleichzeitig aber auf die höchste Stelle in Berlin hinwies, deren Einfluß­ nahme Pazjent bei dem ganzen Verfahren verspürt zu haben glaubte. In Paris, wohin Pazjent inzwischen verzogen war, wurden die Züricher Diskussionen trotz ihres jetzt widersprechenden lokalen Titels in verschärfter Tonart, besonders auf politischem Gebiet, fortgesetzt, und um Weihnachten des folgenden Jahres erfolgte als Frucht zurückgezogensten Lebens und unter Verwertung der frische­ sten, besten und unmittelbarsten Eindrücke der französischen Hauptstadt, die Gedichtsammlung »Parisjana«, in der der persönliche Widersacher des Verfassers, Wilhelm II., zum öffentlichen Feind der Menschheit und ihrer Kultur hingestellt, und wobei Gedankenfolge und Ausdrucksform an Schärfe bis zur äußersten ästhe­ tisch zuläßigen Grenze ausgenützt wurden. Die Schrift wurde, wie vorauszuse­ hen, in Deutschland beschlagnahmt, gegen den Verfasser erneuter Steckbrief erlas­ sen, gleichzeitig aber, was nicht vorauszusehen war, das in Deutschland hypotekarisch festgelegte Vermögen desselben unter der geschraubtesten Motivirung - der­ selbe habe die Flucht ergriffen - konfiszirt. Pazjent sah sich nach einjährigem Aus­ harren in der peinlichsten Lage gezwungen, sich demjenigen Gerichte, welches den Steckbrief erlassen, München, auszuliefern - April 1901 - wurde hier in Haft genommen, nach 4 Monaten zufolge Beschlußes der Strafkammer auf 6 Wochen in die oberbairische Kreis-Irrenanstalt behufs Untersuchung seines Geisteszustan­ des übergeführt, und dann in einigen Wochen nach Rücklieferung ins Gefängnis ohne jede Bekanntgabe eines gerichtlichen Beschlußes in Freiheit gesetzt. Nach Zeitungsnotizen und einer mündlichen, nicht weiter kontrollirbaren Aussage des I. Staatsanwaltes am Amtsgerichte München I, Freiherrn von Sartor, an eine Pri­ vatperson war das Verfahren gegen den Pazjenten zufolge Gutachtens des Ober­ arztes der Münchner Kreis-Irrenanstalt Dr. Ungemach wegen Geisteskrankheit eingestellt worden. Pazjent veröffentlichte, nach Paris zurückgekehrt, noch einige Nummern Züricher Diskussionen (bis Nr. 32) und stellte dann, seit November 1901, zwar nicht seine schriftstellerische, aber, mangels eines Druckers, seine publi­ zistische Tätigkeit ein. - Im November 1903 begannen gegen den Pazjenten, der in

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absolutester Zurückgezogenheit lebte, eine Reihe von Schikanen, die bei der Umfänglichkeit der Qurazjonen (querela?) auf das Zusammenwirken einer grö­ ßeren Anzahl von Detektivs schließen ließen. Und da das französische Gouverne­ ment dem Pazjenten, wenn nicht sichtliches Wolwollen, in keinem Fall irgend­ welche Feindseligkeit bewiesen hatte, so konnte nur an ausländische Detektivs gedacht werden, respective an eine im Ausland gegebene ordre, durch an Ort und Stelle geworbene französische Privat-Detektivs dem Pazjenten das Leben in Paris zu verleiden. Da derselbe, wie bereits erwähnt, seit 2 Jahren nichts mehr publizirt hatte, so mußte mit der Möglichkeit gerechnet werden, daß von anderer Seite, die den Ansichten des Pazjenten mehr weniger (!) freundlich gegenüber stand, dessen Manuscripte heimlich überwacht, vielleicht kopirt und, soweit sie den Ansichten der neuen Partei entsprachen, schließlich publizirt wurden, am Ende gar unter Benützung von Titel, Firma, Druck und Papier der eingegangenen Züricher Dis­ kussionen. Nur so waren die neuen Feindseligkeiten gegen den Pazjenten, den man an gewisser Stellejedenfalls für den Autor und verantwortlichen Herausgeber der suponirten Publikationen hielt, zu erklären. Denn daß die 2 Jahre vorher in München erfolgte Irren-Erklärung für ernst zu nehmen sei - so daß jedwelcher, freundlich oder feindlich ihm gegenüberstehende politische Partei sich gehütet hätte, sich um dessen Manuscripte zu bemühen - daran dacht Pazjent um so weni­ ger, als auch in seiner Umgebung weder Franzosen noch Ausländer im Entfernte­ sten daran dachten, ihn nicht für völlig geistig gesund zu erachten. Die Schikanen aber bestanden im Wesentlichen, unter Umgehung von Kleinigkeiten, wie Aus­ löschen des Herdfeuers, Verstopfung des Kamins, Abschneiden des Wassers, Beschädigung der Wohnungsschlösser (! !) in rafmirten, auf peinlichste Verletzung des Nervensistems berechneten Pfeiferein, Molestirungen mit allen möglichen die Gehörsnerven empfindlichst treffenden Instrumenten, die teils von einem Haus vis-à-vis in der rue des Abbesses, teils auf der Straße, ja sogar stellenweise im Wald von Montmorency, wohin Pazjent regelmäßigjeden Sonntag sich begab, auf denselben einwirkten. Daß es sich hier um keine Gehörstäuschungen handelte, ergab der ein­ fache Umstand, daß das Pfeifen in dem Augenblick verstummte, in dem Pazjent die Ohren zuhielt, was sicher nicht der Fall gewesen wäre, wenn dasselbe zerebra­ len Ursprungs gewesen wäre. Auch wurden jene Pfeifereien, die Pazjent als gegen sich gerichtet ansah, später in München, wo dieselben fortdauerten, von einwurfs­ freien Zeugen, Ludwig Scharf und Comtesse zu Reventlow, bestätigt und nur hin­ sichtlich ihrer Bedeutung einigemale in Zweifel gezogen. Aber in Betreff dieser letzteren war an eine Misdeutung nach 3/4jährigem Dulden und Ausharren kaum noch zu denken. - Neben diesen mit voller Zielsicherheit ausgeführten Angriffen schien eine kleinere, weniger gefährliche, sicher nur in unmittelbarster Umgebung und in untergeordneten Händen von Concierges oder femmes de chambre sich abspielende Operation zu gehen (Satzbildung!) - eine Operation, der wol kein alternder Junggeselle entgeht - die der Verheiratung des Pazjenten. Sobald der­ selbe die Bewegung erkannte, fertigte er die lokalen Klatschbasen kurz ab und schrieb dann gelegentlich seiner in München lebenden Mutter, deren Verbindung mit gewissen Pariser Kreisen immerhin nicht ganz unmöglich war, daß bei der der-

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zeitigen finanziellen Lage ihres Sohnes an eine Verehelichung gar nicht zu denken, derselbe auch weder Lust noch Zeit zu einer Ehe habe, am allerwenigsten, sollten die mitgeteilten Pfeifereien und sonstigen Schikanen am Ende mit diesem Projekt in Verbindung stehen, was ihm fast unmöglich erscheine, derselbe sich durch solch infame Mittel zur Wahl einer Ehegesponsin werde zwingen lassen. Auf dies hin erloschen die Eheintriguen, während die andern Molestirungen ihren Fortgang nahmen. Da die ersteren später in München, und zwar in groteskester und skurril­ ster Form wieder ans Tageslicht traten, so darf nicht übergangen werden, daß Pazjent die schwerwiegendsten Gründe gegen Eingebung einer Ehe aus Schonungs­ und Schicklichkeitsgründen im Briefe an seine Mutter verschwiegen hatte. Die immerhin nicht gering zu nehmende Belastung von mütterlicher Seite, die noch immer manifeste Lues in Form einergemma an der tihia dextra würden es heute, wo man gesetzlich den Geisteskranken, Ftisikern und Sifilitischen das Eingehen der Ehe zu verbieten vorgeschlagen hat, als ein Verbrechen, gar von Seite eines Arztes, erscheinen lassen, frivoler Weise eine dekrepite Descendez zu erzeugen. Es kommt hinzu, daß Pazjent zur Ausübung seiner literarischen Tätigkeit den weitaus größ­ ten Teil des Tages in absolutester Einsamkeit und Abgeschlossenheit, bei guter Witterung auf ausgedehnten einsamen Spaziergängen, verbringen muß, Gewohn­ heiten, die sich immerhin mit einer Ehe nicht vertragen. Und sollten selbst die Pro­ dukte dieses literarischen Schaffens vom Publikum und Kritik geringst angeschla­ gen werden, für den Pazjenten sind sie nicht der Ausdruck einer Laune oder einer Willkür, sondern absolute Notwendigkeit behufs Entlastung des Gehirns. Er muß also den sicheren Weg gehen und behufs Aufrechterhaltung des psichischen Gleichgewichts im alten, erprobten Geleise weiter schreiten, und nicht Fantasmen nachjagen, die andern vielleicht höchst zweckmäßig, dem, den es angeht, aber als eine Gefährdung seiner Gesundheit erscheinen. Nach mehr denn halbjähriger Fortdauer der oben geschilderten Molestirungen, die den Pazjenten schließlich auf seine Wohnung konzentrirten und mitten im Sommer auf die so notwendige Bewegung in frischer Luft verzichten ließen, ent­ schloß sich derselbe, nachdem durch die intensive Beschäftigung mit wißenschaftlichen Arbeiten nicht die nötige Ablenkung erzielten, ziemlich plötzlich zur Abreise, und verlies am 23. Juni mit dem Abend-Schnellzug vom Lyoner Bahnhof aus Paris und kam über Dijon am folgenden Mittag in Lausanne (Schweiz) an. Zu seiner größten Verwunderung waren auch in Lausanne die Pfeifereien, wenn auch nicht entfernt in dem Mase, zu vernehmen. Es ergab sich daraus der zwingende Schluß, daß Paris nicht der einzige Herd der Feindseligkeit gegen den Pazjenten war. Was nun der eigentliche Grund dieser Manifestazionen war, blieb demselben verborgen. Derselbe erholte sich am Genfer See und in den umliegenden Wäldern, woselbst er, im Gegensatz zu Paris, niemals belästigt wurde, wesentlich, reiste aber nach 8 Tagen, da der Versuch, eine bescheidene Landwohnung zu finden, fehl­ schlug, über Bern, Zürich, Lindau nach München ab. Da hier ebenfalls die Molesti­ rungen begannen, so präsentirte sich derselbe in der Kreisirrenanstalt München mit der Bitte um Aufnahme, um sich und Andern den Beweis zu liefern, daß er sich in seiner Auffaßung, daß es sich um äußere, planmäßige Feindseligkeiten gegen

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seine Person handle, nicht getäuscht habe; wurde aber angeblich wegen Ueberfüllung abgewiesen. Er lies sich von Direktor Vokke bereden, in die Privat-Irrenanstalt Neu-Friedenheim einzutreten. Doch führte die Erkenntnis, daß er hier in nicht miszuverstehender Weise schikanirt wurde, zu einer scharfen Auseinander­ setzung mit dem Direktor Dr. Rehm, im Verlauf welcher der letztere den Pazjenten aufforderte, die Anstalt zu verlassen. Pazjent mietete sich darauf in der Feilitzschstraße 59/IL rechts in einem bescheidenen Zimmer ein, abwartend, was kommen werde. Während des nun folgenden 1/4Jahres, Juli bis Oktober, mied Pazjent vollständig die Stadt, ging fleißig im Engi. Garten und den umliegenden Gebieten spazieren, besuchte mit Eintritt der ungünstigen Jahreszeit am Vormit­ tag die Staatsbibliothek, hielt sich aber in Uebrigen vollständig reservirt und pasiv, unter Erkenntnis, daß ein Wechsel seiner äußeren Situazzion nur durch seine Gegner, wie von ihm selbst, (?) herbeigeführt werden könne. Seine auf der Reise und in München entstandenen literarischen Arbeiten in Prosa wie gebundener Form, die nicht wenig umfangreich sind, würden, wenn Pazjent sich nicht sehr täuscht, bei keinem literarischen oder psichjatrischen Sachverständigen die Mei­ nung krankhafter Expektorazjonen hervorrufen. Eine Verschärfung der Lage war insofern eingetreten, als jetzt im Gegensatz zu Lausanne und selbst zu Paris, auch Nachts schwere Belästigungen durch weittragende Pfeifen und Flöten metalli­ schen Charakters und intensivster Beleidigung des Gehörorgans erfolgten. Nach­ dem schon in Paris einmal, einmal in Lausanne und einmal in Neufriedenheim Selbstmordneigung aufgetreten, (!) erfolgte am 9. October in einem raptus von Ver­ zweiflung und Hofnungslosigkeit (!) nach rascher Niederschrift eines Testaments der Beginn der Ausführung einer Selbstmord-Absicht durch Erhängen an einer einsam gelegenen Stelle des englischen Gartens. Doch Mutlosigkeit lies im letzten Moment den entscheidenden Sprung von dem bereits erkletterten Baum mislingen und mit tiefster Beschämung kehrte Pazjent, der 24 Stunden keine Nahrung zu sich genommen, in seine Wohnung zurück. Am 19. October griff Pazjent zu einem letzten im Verhältnis zu dem bereits voraufgegangenen, lächerlich dum­ men, aber vielleicht in seinen Konsequenzen doch wirksamen Mittel. N ach dem er an diesem Tag bereits sechsmal auf seinem Weg in die Staatsbibliothek und dann auf seinem einsamen Spaziergang durch Oberföhring und Umgebung, in nicht miszudeutender Weise angepfiffen worden war, ging er nach Hause, kleidete sich bis aufs Hemd aus, benutzte die milde Witterung und lief Nachmittag um 5 Uhr im Hemd durch die Sterneck-Maria-Josefa-Straße in die Leopoldstraße, in der Absicht, abgefaßt und auf Geisteskrankheit verdächtig in eine öffentliche Anstalt gebracht und dort von Sachverständigen untersucht zu werden: so das erreichend, was er 3 Monate vorher in der oberbairischen Kreisirrenanstalt vergeblich erstrebt hatte. Der Coup gelang. Ergriffen und in ein nächstes Haus geführt, gab er dem herbeieilenden Schendarm einen falschen Namen, Ludwig Fromman, Stenograf aus Würzburg, an. Es wurde ein Sanitätswagen requirirt und Pazjent auf die Poli­ zei gebracht, wo derselbe nach kurzem Examen durch den Herrn Bezirksarzt, auf die Irrenstation des städtischen Krankenhauses I/J überführt wurde. (17. Nov. 1904)

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fragen:

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Dr. Oskar Panizza geb. 12. Novemb. 1853 in Bad Kissingen daselbst erf. Sohn des Karl P. u. Mathilde geb. Speeth, protest. ledig, Schriftsteller, noch nicht vorbestraft, be­ sitze Vermögen, diente beim Militär als Assi­ stenzarzt I. Classe, nun verabschiedet.

Zur Sache. Ich bekenne mich als den Verfasser der vorliegenden Druckschrift: »Das Lie­ beskonzil«. Ich habe die­ selbe im Frühjahr 1893 verfaßt u. dann alsbald dem Verleger Schabelitz in Zürich in Verlag gegeben. Ich habe nicht nur kein Honorarfür die Schrift bekommen, sondern habe auch auf eigene Kosten den Umschlag mit der darauf befindlichen Illu­ stration hier drucken las­ sen und dafür etwa 180 M

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aufgewendet. Die Schrift erschien im Oktober 1894 im Druck u. wird, wie ich nicht bestreiten will, auch im Inlande zur Verbreitung gelangt sein. Daß objektiv in einzelnen Stellen der Schrift eine Lästerung oder Beschimpfung der göttlichen Dreieinigkeit zu finden ist, u. darin auch eine Beschimpfung von Einrichtungen der christlichen Kirchen, wie z. B. des Mariencultus zu erblicken ist, will ich nicht bestreiten. Ich will auch nicht in Abrede stellen, daß eine Person, welche auf dem Boden des christ­ lichen Glaubens steht, beim Lesen des Buches an dem Inhalte desselben

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d. h. in der darin objektiv gelegenen Gotteslästerung Aergerniß nimmt, oder vielmehr Argerniß neh­ men kann. Dagegen behaupte ich, daß mir in subjektiver Hinsicht bei Verabfassung der Schrift eine Beschimp­ fung der Religion u. dgl. völlig ferne lag. Mir war es in meiner Eigenschaft als Arzt und Schriftsteller darum zu thun, die Ent­ stehung der Lustseuche in drastischer Weise zu schil­ dern. Diesen drastischen Charakter gab ich den sämtlichen darin als Han­ delnde aufgefiihrten Per­ sonen u. stellte auch die ganze Handlung in der gleichen Weise dar. Bei Verabfassung der Schrift waren für mich maßge­ bend: ein Mal die histori­ sche Thatsache,

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daß die Lustseuche Ende des XE. Jahrhunderts zuerst in Neapel im Lager des französischen Königs Karl VIII auftrat, zu einer Zeit als Papst Alexander VI seine üppi­ ge Hofhaltung in Rom führte, u. im Gegensatz hierzu Savonarola in Flo­ renz gegen den Luxus predigte, sodann der Um­ stand, daß Ulrich von Hutten in Widerspiegelung der Anschauung sei­ ner Zeit die Lustseuche als ein von Gott verhäng­ tes Zuchtmittel bezeich­ nete. Aus letzterem

Grunde gelangte ich zur Darstellung der Vorgänge im Himmel, welche sonst aujierhalb meiner künst­ lerischen Absicht gelegen wäre. Was ich über die Üppig­ keit des päpstlichen Hofes vorbrachte, beruht auf dem Tagebuch

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3f- &■ ** z3von Burchard, welches ich aufSeite 25 der Brochure als Quelle angegeben habe. Im Einzelnen auf Vorhalt bezüglicher Stellen:

a. auf Vorhalt, daß auf Seite 1, 6, 8, 9,10,11,12, 14,18, 21, 22, 38, 40, 42, 43, 44 u. 47 der Brochure Gott Vater als gebrechli­ cher, hinfälliger und kin­ dischgewordener Greis dargestellt sei: Mir schwebte der Gedan­ ke vor, daß sich die heuti­ ge Generation, u. zwar so­ wohl in gebildeten Krei­ sen, als in den unteren Schichten der Bevölke­ rung mehr u. mehr von dem christlichen Glauben abwendet, ich wollte den Satz »die Götter werden alt«, in drastischer Weise dadurch darstellen, daß ich Gott Vater selbst als einen gebrechlichen Greis schilderte.

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Daß hierin eine Läste­ runggelegen ist, erscheint mir unbestreitbar. Ich wollte nur meine Zeit in Beziehung auf Glau­ bens-Anschauung schil­ dern. b. Auf Vorhalt der Stellen aufSeite 10 u. 12: /: Cherubim als Anto­ nius:/ Ich wollte nur darstellen, daß Gott von einem hüb­ schen Engel begleitet sei, ähnlich wie nach der antiken Sage, Zeus von Ganymed. Der Gedanke, den Cherubim als Lust­ knaben oder dgl. zu schil­ dern, lag mirfern. c. AufVorhalt der Stelle Seite 18, /: heiliger Geist .7 Diese Darstellung erfolgte aus meiner Verlegenheit, weil es mir so wenig wie Anderen möglich ist ein Bild des

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heiligen Geistes zu geben, d. Auf Vorhalt, daß Christus aufSeite 17,18, 19, 22,39, 40, 42, 43, 44,47 als eine lächerliche Er­ scheinung u. eine läppi­ sche Person geschildert sei: Bei der Darstellung Chri­ sti als einer ohnmächti­ gen, schwindsüchtigen Person wollte ich die Depossedirung Christi durch den Marien-Cultus in der katholischen Kirche dar­ stellen. Nach der Lehre der christ­ katholischen Kirche ist die Christus-Verehrung hinter den Marien-Cul­ tus weit zurückgetreten, da in erster Linie die Anrufung derJungfrau Maria steht. Christus er­ scheint z. B. nach der Lehre von Lignosi u. Pro­ fessor Oswald in Trier als ohnmächtig gegenüber der allmächtigen

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Jungfrau Maria. e. Auf Vorhalt daß auf Seite 22, 45, 49, 22 eine Verspottung des Abend­ mahls u. des ErlöserGlaubens: Hier brachte ich den pes­ simistischen Gedanken zum Ausdruck, daß es ei­ nem Menschen, der viel­ leicht schuldlos von der Syphilis befallen wird u. dies als ein göttliches Strafmittel erachtet, schwer wird, noch an eine Erlösung durch Gott zu glauben. f. Auf Vorhalt, daß die Jungfrau Maria aufSeite 15,19,20, 41, 43, 44, 65, 66, 68, 69 als eine eitle, gefallsüchtige Person, wel­ che überdies jeder weib­

lichen Schamhaftigkeit haar ist, dargestellt u. auf Seite 39, 41, 45, 46 als Freundin des Teufels be­ zeichnet wird:

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Wenn ich den Gedanken, daß die Lustseuche vom Himmel gesandt sei, zum Ausdruck bringen wollte, so mußte ich die Person im Himmel auch unge­ niert über sexuelle Vor­ gänge reden lassen; dieses ließ ich gerade die heilige Maria thun, weil sie aus einer menschlichen Per­ son, die ihr Kind geboren hatte, allmälig nach der kirchlichen Lehre zu einer allmächtigen Göttin ge­ worden war. Mir schwebte dabei die Erinnerung der Schriften von Jesuiten vor, in wel­ chen mehrfach derJung­ frau Maria der Charakter einer erotischen Person ge­ geben ist und in welchen auch erotische Bilder ge­ wählt sind. Diese Schrif­ ten habe ich in meinem jüngst erschienenen Buch: »Der deutsche Michl u.

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der römische Pabst in dem Abschnitt Maria zahl­ reich angeführt. Ich habe, was ich noch allgemein bemerke, in der Brochure: »Das Liebes­ konzil« religiöse Einrich­ tungen satyrisch behan­ delt u. war deshalb ge­ zwungen, gewisse Über­ treibungen und sogar Ver­ spottungen zu begehen. Beweis-Anträge habe ich zur Untersuchung nicht zu stellen. v.g. u.

Dr. Oskar Panizza Dem Angeschuldigten wird eröffnet, daß die Vor­ untersuchung gegen ihn geschlossen ist.

Dr. Oskar Panizza Coon. Trautner Schöffl Vermög Zeugn. Strafregister für Panizza erholt

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1. Die Voruntersuchung wird geschlossen. Angeschuldigter ist hiervon be­ reits verständigt. II. Acten Herrn Staatsan­ walt Dr. Haimann vorzu­ legen. 17. Januar 1895. Trautner

München, 5. Februar 1895 i-) 0 Es kam mir zur Kenntniß, daß 1.) die Buch­ händler Ackermann hier Maximilianstr. u. Franz Graw Perusastr. bestäti­ gen können, daji die in Rede stehende Druck­ schrift »Das Liebeskon­ zil« hierorts sehr starke Verbreitung fand u. unter Anderen 2. ) der Schriftsteller Hein­ rich Steinitzer hier, Amalientor 83/1 sich in sei­ nen religiösen Gejühlen (? ? ?) Schrift enthaltenen Gotteslästerungen (?) ver­ letzt fühlte. 3. ) Zum Herrn Untersu­ chungsrichterfür den süd­ westlichen Bezirk mit dem rep. Antrag die Vor­ untersuchung wieder auf­ zunehmen u. vorbez. (?) Zeugen zu vernehmen. Marten II. Sta (Staatsanwalt)

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Meine Verteidigung in Sachen »Das Liebeskonzil«1 vor dem königlichen Landgerichte München I. 30. April 1895.

»Der Gottesbegriff gefälscht; der Moralbegriff gefälscht!« Nietzsche, Antichrist

Meine Herren Geschwornen! Als Nicht-Jurist kann ich mich zu der Formfrage, zu der Frage hinsichtlich Zuständigkeit eines deutschen Gerichtshofes in diesem Falle nicht äußern. Wie ich aus Privatäußerungen namhafter Juristen weiß, sind kompe­ tente Beurteiler in dieser Sache von zu einander durchaus kontradiktorischer Ansicht; da es sich um Ungültigmachung eines ganz klaren Paragraphen des deut­ schen Reichsstrafgesetzbuches handelt, wonach eine im Auslande begangene und dort nicht strafbare Handlung auch im Inland nicht verfolgt werden kann. Sich nach dieser Richtung zu äußern, wird Sache meines Verteidigers sein. Ich kann mich nur nach der rein menschlichen Seite zu dem Fall äußern. Und da Sie, meine Herren, ebenfalls Nicht-Juristen, ebenfalls die rein menschliche Seite des Falles beurteilen sollen, so glaube ich, daß wir hinsichtlich des Ausgangspunktes unserer Erwägungen nicht zu weit von einander abstehen dürften und uns bald verständi­ gen werden. Ich glaube nun, ich werde Sie am besten über meine Absicht bei Abfassung der vor­ liegenden Schrift aufklären, wenn ich Ihnen kurz erzähle, wie ich zu dem Vorwurf gekommen bin. Sie wissen, meine Herren, daß Ende des fünfzehnten Jahrhunderts in Italien, und später auch in Deutschland, eine Krankheit epidemisch auftrat, die die furchtbar­ sten Zerstörungen am menschlichen Körper verursachte, die, wie es scheint, ursprünglich nicht auf geschlechtlichem Wege sich fortpflanzte, später aber fast ausschließlich durch sexuelle Vermischung ihre Verbreitung fand, die alle Stände, Hoch und Nieder, ergriff, und die man die »Lustseuche« nannte. Man wußte nicht, woher sie kam. Der Eindruck auf die Gemüter war ein gewaltiger. Die Chroniken damaliger Zeit sind voll von entsetzlichen Schilderungen über die Verheerungen geistiger wie körperlicher Art. Ein Heilmittel gab es nicht, und fliehen konnte man auch nicht. Es war in gewissem Sinne schlimmer als beim »schwarzen Tod«. Dort kannte man den Gang der Seuche und konnte in nicht verseuchte Länder entflie­ hen. Aber hier trat die Krankheit fast überall gleichzeitig auf. Und wie es zu gehen pflegt, wenn man keine diesseitige Ursache kennt, konstruiert man einejenseitige. Und so glaubten denn die damaligen Völker, die »Lustseuche« sei ein göttliches Strafgericht. Und da sie die Beziehungen der Krankheit zum geschlechtlichen Ver­ kehr doch bald herausgefunden hatten, so konstruierten sie sich die Sache so, daß sie sagten: das göttliche Strafgericht erfolge wegen der sinnlichen Ausschweifun­ gen und geschlechtlichen Exzesse der Menschen. Daher der Name »Lust-Seuche«. Und so finden wir bei einem Chronisten, einer der prominentesten Persönlichkei-

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ten damaliger Zeit, einem Kampf-Schriftsteller und Dichter, der selbst ein Buch über die »Lustseuche« geschrieben, bei Ulrich von Hutten, aus demjahr 1519 die fol­ gende Stelle: »Es ist got gesellig gewesen, in unsern tagen kranckheiten zu senden, die unsern vorfaren unbekant seint gewesen. Da bey haben gesagt die der heiligen geschrift obligen, das die blätteren uß gotz zorn kumen seint, und got damit unsere bösen berden straffe und peynige.«2 - Ich habe diese Stelle als Motto dem Buch vorangesetzt, um gleich darauf hinzuweisen, um was es mir zu thun war: daß es mir nicht auf gotteslästerliche Dinge und Unflätigkeiten ankam, sondern auf das Erfassen der eigentümlichen Situation, in der sich die Menschen damals befanden, einer Situation, die mir, als früherem Arzt, natürlich besonders nahe lag. Nun erwägen Sie, meine Herren, daß jemand, der von dieser Stelle ausgeht, und der auch sonst den Verlauf dieser schrecklichen Krankheit aus der damaligen Zeit kennt, bei dem Versuch, sich historisch zu orientieren, auf die merkwürdige Thatsache trifft, daß derjenige Hof, an dem die weitaus stärksten geschlechtlichen Exzesse begangen wurden, der päpstliche war; und daß diejenige Persönlichkeit, die sich den tollsten Orgien in geradezu unglaublicher Weise hingab, der Papst Alexander UI. war; und dies, obwohl wenige Miljen von ihm entfernt, in Florenz, ein Bußprediger vom Range Savonarolas lebte, der ihn auf sein Lasterleben Tag für Tag aufmerksam machte. Erwägen Sie ferner, daß dieser Papst, der, wie alle seines Geschlechts, von seiner Göttlichkeit ganz erfüllt ist, sich »Sohn Gottes«, »Stellver­ treter Christi«, »Gott auf Erden« nennt, »der mit Gott im Himmel direkte Bezie­ hungen unterhält«, sich nicht scheut, Kardinalsstellen an Weiberlieferanten aus­ zuteilen, öffentlich in Rom drei Maitressen zu unterhalten, und schließlich Savonarola, um den unbequemen Prediger, der eine Kardinalsstelle ausgeschlagen hatte, los zu werden, aufhängen zu lassen. Und dies, während die entsetzliche Krankheit in ganz Italien wütet, von der das Volk, die Gelehrten, die Theologen behaupten, daß sie von »Gottes Zorn« verhängt sei, verhängt sei aus Strafe für die Unkeuschheit der Menschen. Und auf dem Stuhl Petri sitzt als Papst, als Ober­ haupt der Christenheit, das nach römischer Lehre »direkte Befehle von Gott emp­ fängt«, ein Mensch, der der schlimmste dieser Exzedenten ist, auf den nur das Wort »Unkeuschheit« anzuwenden fast lächerlich klingt.3 Rücken Sie diesen ganzen Stoff in unsere heutige von Skeptizismus und Unglauben erfüllte Zeit. Lassen Sie dieses Zusammentreffen von historischen Momenten als künstlerischen Vorwurf in die Hände eines modernen Menschen fallen, der - vielleicht zu seinem Unglück - zur Satire veranlagt ist, und dann frage ich Sie, meine Herren, wie würden Sie die Drei-Einigkeit geschildert haben, und was für eine Vorstellung hätten Sie sich von den Gottheiten im Himmel gemacht, die unter solchen Umständen die »Lust­ seuche« als Strafe für die Menschheit auf Erden schickten? Ich möchte aber auch noch eine Untersuchung anderer Art anstellen. Es hat, meine Herrn, zu allen Zeiten und bei allen Völkern nicht an Versuchen gefehlt, das Göttliche in den Bereich der Kunst zu ziehen und es darzustellen. Und da wir, auch bei Darstellung des Höchsten und Erhabenen, immer auf die täglichen Bilder unserer Umgebung angewiesen sind - da wir doch über unsere Erfahrung nicht hinaus können -, so haben alle Maler und Dichter und Bildhauer stets die Modelle

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Alexander VI. (1492-1503), ein Papst aus dem Hause Borgia, betrachtet auj dem Bildausschnitt eine Darstellung der Muttergottes, zu der eine seiner Mätressen Modell gestanden haben soll.

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Bartolomeo da Venezia, Lucrezia Borgia, 1. Hälfte 16. Jahrhundert

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für ihre Darstellung des Göttlichen auf Erden gesucht. Dürer hat aus seinen Madonnen deutsche Blondinen gemacht und Murillo feurige Spanierinnen. Dante hat in seinem großen erhabenen Epos seine transcendentalen Reiche ebenso mit Italienern gefüllt, wie die französischen Mysterienspiele ihre Teufel mit gallischem Temperament begabten. Und da, wojemand einmal versuchte, das Göttliche unter Verzicht auf alle sinnlichen Formen darzustellen, wie Klopstock, da blieb er in lauter abstrakten Gedanken-Formen und in der rein sprachlichen Wirkung stecken. Nun aber, meine Herren, werden Sie mir nicht widersprechen, wenn ich sage: Die Satire ist eine ebenso berechtigte Kunstform wie jede andere, der Pathos so berech­ tigt wie das Melos, der Gang auf dem soccus so berechtigt, wie der Schritt auf dem hohen Kothurn. Und wenn jemand eine Satire, eine göttliche Satire, eine göttliche Komödie schreiben will, so ist er eben, wie jeder andere Künstler, auf menschliche Vorbilder angewiesen. Er muß die kleinen, grotesken Züge, die er an Menschen beobachtet, auf das Göttliche übertragen. Nun glaube ich Ihnen schon oben genü­ gend dargelegt zu haben, ein wie eminent satirischer Stoff der Ausbruch der Lust­ seuche im Abendland, bei dem gleichzeitigen Verhalten des Papstes und dem Urteil der Zeitgenossen hinsichtlich der Ursachen des göttlichen Strafgerichts war; wie der Rückschlag von der päpstlichen Aufführung auf die Auffassung des Göttlichen unvermeidlich war. Und dann, meine Herrn, werden Sie sich nicht mehr wundern, wenn die Schilderung des Göttlichen im »Liebeskonzil« so aus­ gefallen ist, wie es thatsächlich der Fall. Obwohl ich zugeben will, daß die Farben stark aufgetragen sind. - Nun werden Sie mir, meine Herrn, vielleicht entgegnen: Die Darstellung des Erhabenen im Göttlichen ist eben erlaubt, die Darstellung des Komischen im Göttlichen verboten. Das geb’ ich zu. Aber Sie, meine Herrn, wer­ den mir andrerseits zugeben, daß das kein Standpunkt für einen Künstler ist. Wenn dieser Standpunkt stets eingehalten worden wäre, dann wäre überhaupt nie eine Satire geschrieben worden. Weder auf Götter noch auf Menschen. Denn die Sati­ ren auf Menschen wurden meist noch viel empfindlicher bestraft, als die auf Göt­ ter. Die »Göttergespräche« des Lucian wären dann ebenso wenig geschrieben wor­ den, wie die Lustspiele des Aristophanes. Der Engländer Wright hätte dann seine »Geschichte der Karikatur« so wenig abfassen können, wie der Deutsche Flögel seine » Geschichte des Groteskkomischen«. Nun ist aber die Satire und die vis comica stets eines der mächtigsten Förderungsmittel auf geistigem Gebiet gewesen. Ich erinnere Sie nur an den weitragenden Einfluß Rabelais’in Frankreich im Zeitalter der Reformation, dessen witzige Allüren geradezu den heutigen geistigen Charak­ ter der Franzosen vorgebildet haben, und dessen unglaublich rücksichtslose Angriffe auf das Göttliche sogar mit königlichem Privileg gedruckt wurden. Oder an die kühnen Angriffe der deutschen Satiriker zur Zeit Fischarts und Reuchlins. - Sie werden mir vielleicht weiter entgegnen, meine Herren: Jeder Künstler muß eben in seinem Land die Konsequenzen der Gesetze hinsichtlich seines künstlerischen Schaffens tragen. Gewiß, meine Herren, deswegen bin ich ja hier vor Ihnen erschienen. Aber Sie, meine Herrn, werden mir vielleicht zugeben, daß die Satire eine in der menschlichen Natur begründete Anlage ist und nicht ausgemerzt wer­ den kann.

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Meine Herren! Unsere heutige Zeit ist der Darstellung des Erhabenen im Göttli­ chen nicht günstig. Kein Mensch malt heute mehr z. B. so kolossale religiöse Bil­ der, wie Heß und Cornelius. Unsere Zeit ist mehr der Skepsis und der Kritik zuge­ wandt. Viele Leute möchten darin einen Rückschritt erkennen. Aber das war frü­ her nicht anders. Die christliche Religion hat wiederholt Zeiten der äußersten Skepsis und des tiefsten Unglaubens durchgemacht. Und besonders dann, wenn von kirchlicher Seite die übertriebensten Ansprüche an die Herzen und Geldbeutel der Menschen gestellt wurden, regte sich in den Reihen der Gebildeten der Wider­ spruch und die Satire. Eine solche Zeit war z. B. im ersten Drittel .des achtzehnten Jahrhunderts in England zur Zeit der Gründung der Methodistengemeinden. Und der Künstler, der diese Zeit mit der rücksichtslosen Satire verfolgte, war der eng­ lische Karikaturist William Hogarth. Ich zeige Ihnen hier einen seiner berühmte­ sten Kupferstiche, der unter dem Titel Credulity, superstition andfanaticism, » Leicht­ gläubigkeit, Aberglaube und Fanatismus« erschien. Die Scene stellt das Innere einer Kirche dar. Es ist gerade Gottesdienst. Und während unten bei den Andächti­ gen - gleichsam, als wollte der Künstler die Gedanken der Menschen aus ihrem Innern heraustreten lassen - alle möglichen sinnlichen und wollüstigen Greuel und Anspielungen hin und her gehen, werden oben von der Kanzel herab die kirchlichen Gnadenmittel in der groteskesten Weise verhöhnt. Und doch sagt unser Lichtenberg in seinen berühmten Erklärungen der Hogarthschen Kupfer­ stiche: »Herr Walpole sagt von diesem Blatt unseres großen Künstlers, daß es an tie­ fer und nützlicher Satyre das größte sey, was sein Griffel je hervorgebracht habe. Wenn auch dieses Lob etwas übertrieben seyn sollte, so scheint es doch, daß es unter allen Hogarthischen Blättern dasjenige ist, welches am ersten verdiente, unter jede Haustafel gestochen zu werden. Der Anblick weckt Schauder und Entsetzen. Und doch ist hier alles wahr.«4 Die verkleinerte Abbildung, welche ich Ihnen hier herumreiche, und die einen vorzüglichen Abdruck darstellt, ist zufällig hier in München hergestellt und verlegt. - Meine Herren, es ist mir nicht bekannt, daß jemals ein Hogarthscher Kupferstich konfisziert worden wäre. Aber, meine Herren, wie zahm sind immer noch die Engländer gegen unsere west­ lichen Nachbarn, die frivolen Franzosen, wenn es sich um religiöse Satiren han­ delt. Die französische Revolution war wieder einer jener Zeitabschnitte, in dem sich der Hohn auf das Göttliche besonders hervorwagte. Eine lange Dauer des Freidenkertums war direkt vorhergegangen, und die Abneigung gegen Geistlich­ keit und Christentum hatte sich in dem Vaterlande Voltaires während der Revolu­ tion geradezu bis zur Idiosynkrasie gegen alle geoffenbarte Religion gesteigert; gegen eine Religion, die nicht hatte verhindern können, daß das Volk auf der einen Seite tyrannisiert wurde, auf der andern Seite vollständig verarmte. Damals ent­ stand das Wort »Écrasez l’infâme!« »L’infäme«, das war das Christentum. Der Aus­ druck stammt übrigens von Friedrich dem Großen (aus seinem Briefwechsel mit Vol­ taire). Um jene Zeit, meine Herren, im Jahr 1799, erschien von einem der ersten Poeten Frankreichs, dem Voltaire den Namen des »französischen Tibull« beilegte, von Parny, eines der frivolsten Gedichte, diejemals geschrieben wurden: »La Guerre des dieux«, welches ungeheures Aufsehen in Frankreich machte und mit einem

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William Hogarth - Herumstreichende Komödiantinnen, die sich in einer Scheune ankleiden

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Sturm des Beifalls empfangen wurde. Er wurde erst dreißig Jahre nach seinem Erscheinen konfisziert, und zwar während der französischen Reaktionsperiode. Trotzdem wurde es bis zum heutigen Tage wiederholt aufgelegt und ist überall in Frankreich, wie auch aus unseren besseren deutschen Buchläden zu beziehen. Gegen dieses Gedicht, meine Herren, muß sich »Das Liebeskonzil« wirklich ver­ kriechen. Was an diesem Werk so frivol ist, ist der Umstand, daß man nirgends recht den Zweck einsieht, weshalb die göttlichen Personen so unglaublich lächer­ lich gemacht werden. Und hier, meine Herren, finde ich vor allem den Unter­ schied zwischen Parny und dem Buch, welches heute Ihrem ästhetischen Urteil unterbreitet wird. Ich glaube, im »Liebeskonzil« ist die künstlerische Behandlung durchaus im Stoff begründet und die krasse Darstellung liegt im Problem selbst beschlossen. Denn die Lustseuche war etwas Fürchterliches im damaligen Italien. Und Gott hatte sie als Strafe geschickt, während der Stellvertreter Gottes der denk­ bar schlimmste Wüstling war, den die Weltgeschichte kennt. Bei Parny ist es rein äußerliche Gedankenarbeit, frivoler Uebermut und gallische Witzelei. Gegen Parny, meine Herren, ich spreche es ruhig aus, darf ich mich noch moralisch geberden. Die Götter des Olymp - um den Inhalt kurz anzudeuten - sitzen schmausend und guter Dinge bei einander, als Merkur, der Götterbote, hereinstürmt und mel­ det: es sei eben ein neues Göttergeschlecht im Anzuge. Großer Schrecken und Ent­ rüstung. Man beratschlagt, was zu thun sei. Minerva, die Göttin der Klugheit, bemerkt, es sei doch wahrscheinlich, daß das alte Göttergeschlecht den Menschen täglich wertloser und überflüssiger erscheine. Sie fürchte sich vor Jesus. Darauf Jupiter: (Meine Herrn, ich muß hier um Entschuldigung bitten, wenn ich Ihnen einige sehr kräftige Stellen vorlese; aber es gehört das in den Rahmen des kleinen litterarisch-historischen Vortrags, den ich Sie bitte mitanzuhören.)

»... Fi donc! Ce pauvre diable, »Fils d’un pigeon, nourri dans une étable »Et mort en croix, serait dieu?... »Le plaisant dieu!...«

Nun wird Merkur nochmals fortgeschickt, um nachzusehen, wie sich die Sache verhalte. Er kehrt auch bald zurück und meldet: Ja, in der That, was da im Begriff sei, in den Himmel heraufzusteigen, seien wirklich Götter. Aufs neue Wut und Verzweiflung. Während aber die andern die verschiedenartigsten Vorschläge machen, man solle den neuen Göttern entgegen gehen und sie zum Himmel hin­ auswerfen u. a., macht Jupiter gute Miene zum bösen Spiel, schickt ihnen einen Boten entgegen und lädt sie - echt französisch - zum Diner ein. Nun kommen die christlichen Gottheiten mit ihrem Gefolge von Heiligen allmählich heran und speisen bei den olympischen Göttern. Die Drei-Einigkeit wird symbolisiert durch einen gebrechlichen Alten, der ein Bäh-Lämmchen auf dem Schoß, einen Tauber auf der Schulter hat. Das Bäh-Lämmchen schreit, der Tauber gurrt, und der Alte will eine Rede halten; er bringt aber nichts heraus, lacht verlegen und setzt sich endlich zu Tisch!

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»Une heure après les conviés arrivent. »Etaient-ils trois, ou bien n’étaient-ils qu’un? »Trois en un seul; vous comprenez, j’espère? »Figurez-vous un vénérable père, »Au front serein, à l’air un peu commun, »Ni beau ni laid, assez vert pour son âge, »Et bien assis sur le dos d’un nuage. »Blanche est sa barbe; un cercle radieux »S’arrondissait sur sa tête penchée: »Un tajfetas de la couleur des deux »Formait sa robe: à l’épaule attachée, »Elle descend en plis nombreux et longs, »Et flotte encor par-delà ses talons. »De son bras droit à son bras gauche vole »Certain pigeon coiffé d’une auréole, »Qui de sa plume étalant la blancheur, »Se rengorgeait de l’air d’un orateur. »Sur ses genoux un bel agneau repose, »Qui bien lavé, bien frais, bien délicat, »Portant au cou ruban couleur de rose, »De l’auréole emprunte aussi l’éclat. »Ainsi parut le triple personnage. »En rougissant la Vierge le suivait, »Et sur les dieux accourus au passage »Son œil modeste à peine se levait. »D’anges, de saints, une brillante escorte »Ferme la marche, et s’arrête à la porte.

»L’Olympien à ses hôtes nouveaux »De compliment adresse quelques mots »Froids et polis. Le vénérable Sire »Veut riposter, ne trouve rien à dire, »S’incline, rit, et se place au banquet. »L’agneau bêla d’une façon gentille. »Mais le pigeon, l’esprit de la famille, »Ouvre le bec, et son divin fausset »A ces payens psalmodie un cantique »Allégorique, hébraïque et mystique. »Tandis qu’il parle, avec étonnement »On se regarde; un murmure équivoque, »Un rire malin que chaque mot provoque, »Mal étouffe circule sourdement. »Le Saint-Esprit, qui pourtant n’est pas bête, »Rougit, se trouble, et tout court il s’arrête.

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»De longs >bravoe/-Illustrators Niste mit Zeichnun­ gen geschmückt. Und in der Scene, die ich Ihnen vorgeführt habe, erblicken Sie hier den Luzifer in der Tracht eines schwäbischen Dorfschulzen mit Stulpenstie­ feln, großen Silber-Knöpfen und mächtigen, hinten am Rücken zusammengebun­ denen Flügeln. Michael mit großem Raupenhelm auf dem Kopf, in der Uniform eines Napoleonischen Grenadiers. Gott Interim Lehnstuhl mit geblümtem Schlaf­ rock, die nackten Füße in losen Schlappen, am Kopf eine Schlafhaube mit Sternen­ kranz. Hinten im Fauteuil ist das sogenannte »Auge Gottes«, das bekannte Symbol der Drei-Einigkeit, eingelassen. Neben dem Fauteuil ein Spucknapf. Sie sehen, meine Herrn, Humor und Satire sind zwei Dinge in der menschlichen Natur, die nicht ausgerottet werden können, und sie haben auch auf religiösem Gebiet ebenso ihre Berechtigung wie Erhebung und Begeisterung. Und glauben Sie, daß gerade heute die Zeiten danach angethan sind, um nach die­ ser Richtung eine strengere Zensur eintreten zu lassen? Meine Herren, es ist jetzt

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ein halbes Jahrhundert, daß von David Friedrich Strauß das »Leben Jesu« erschienen ist. Sie Alle wissen, wie dieses Buch, das in die Kreise aller Gebildeten gedrungen ist, sozusagen der Ausgangspunkt einer religiösen Skepsis in Deutschland geworden ist. Und aus heutiger Zeit brauche ich Ihnen bloß den Namen Harnack zu nennen, dessen Schrift, »Das apostolische Glaubensbekenntnis«, in der er die Lehre von der übernatürlichen Geburt Christi als unhistorisch zurückweist, in einem halben Hundert von Auflagen durch alle Kreise verbreitet ist. Wenn ich auch, meine Herrn, hier vielleicht vorzugsweise vor einem Kreis von Katholiken spreche, so werden Sie mir, als Protestanten, doch gestatten, diejenigen Momente hier anzu­ führen, welche meine Handlung in etwas anderem Lichte erscheinen lassen, als sie vielleicht in den Augen eines Katholiken erscheinen dürfte. Sie wissen Alle, so gut wie ich, daß es im Deutschen Reich heute dutzende von protestantischen Pfarrern gibt, die suspendiert sind, weil sie es mit ihrem Gewissen nicht vereinigen können, die Taufformel so zu sprechen, wie sie aus früherer Zeit überliefert ist, und laut wel­ cher Christus auf übernatürlichem Wege entstanden gedacht ist. Und Hunderte anderer Pastoren pochen an die Thüren der Synoden und bitten um Abhülfe und Konzessionen an unsere glaubensarme Generation. Glauben Sie, meine Herrn, daß eine solche Zeit geeignet ist, um eine religiöse Satire, wie sie früher auch geschrie­ ben wurde, gerade heute vor den Richterstuhl zu citieren? Meine Herren, ich appelliere aber auch an Ihre freiheitlichen Empfindungen im Hinblick auf das Land, in dem das Buch erschienen ist. Das Buch ist gar nicht in Deutschland erschienen. Es ist in der Schweiz erschienen. Es hat jeder deutsche Autor einmal etwas auf dem Herzen, was er nicht in Deutschland drucken lassen kann, und er geht dann ins Ausland. Die englischen Chirurgen, die eine Vivisek­ tion machen wollen, gehen nach Frankreich, weil die Vivisektion in England ver­ boten ist, und kehren nach geschehener Arbeit in ihr Vaterland zurück.Es fällt aber keinem englischen Gericht ein, sie deshalb zu verfolgen. Denn es handelt sich um eine im Ausland begangene, dort straflose Handlung. Wenn Sie nun ein Buch, das im Ausland gedruckt ist, weil es im Inland mit den Gesetzen in Konflikt geraten könnte, so behandeln, als wäre es im Inland gedruckt, so kehren Sie damit die In­ tention des Verfassers in ihr Gegenteil um und schädigen ihn in einem Punkt, in dem er gar nicht in der Lage war, sich zu schützen, d. h. Sie fügen ihm eine Unge­ rechtigkeit zu. Ich appelliere, meine Herren, in dieser Richtung an das natürliche, Ihnen innewohnende Gerechtigkeitsgefühl und bitte um Freisprechung.

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Anmerkungen 1 Die hier folgende Verteidigungsrede wurde nicht in allen Stücken und nicht stets wörtlich so gehalten, wie sie hier steht und wie sie vorher niedergeschrieben wurde. Die Art der Verhandlung, die vormittags auf das Verhör des Präsidenten, Nachmittags auf die Rede des Staatsanwalts antworten hieß, zwang auch die Verteidigung, ihre Argumente zu teilen. Und das Ganze am Schluß noch einmal und im Zusammenhang vorzutragen, war angesichts der Haltung der Geschwornen eine aussichts­ lose Sache. So blieb die Stelle über Parny ganz weg. Anderes, Extemporiertes, wurde umgekehrt hier nicht später eingefügt. Aber dem Sinne nach entspricht das im Schwurgerichtssaal Vorgebrachte der hier mitgeteilten Rede.

2 Ulrichen von Hutten, eins teutschen Ritters, von den Franzosen oder blätteren. 1529. - Hutten’s Schriften, herausgegeben von Böcking, Leipzig 1859-69. Bd.V, Seite 399-401. 3 Ich habe in der Scene, wo ich eine der üblichen Abend-Unterhaltungen des Papstes schildere, nackte Jünglinge auftreten lassen, die vor dem Papst und seinen Damen Ringkämpfe ausführen, wobei der Sieger eine der anwesenden nackten Courtisanen empfängt, mit der er hinter der Scene ver­ schwindet. Aber der historische Bericht ist viel, viel schlimmer. Ich milderte die Scene, nicht mit Rück­ sicht auf die Päpste oder das Empfinden der Katholiken, sondern aus künstlerischer Rücksicht; weil ich immer das Theater vor Augen hatte, weil ich immer an die Möglichkeit einer Aufführung dachte; und weil die obige Scene unter gewissen Kautelen wenigstens in ihrer Aufführbarkeit denkbar wäre. Die wirkliche Scene, wie sie nach historischen Berichten überliefert ist, wäre auch in einem Buch­ drama eine unmögliche Sache. Sie lautet nach dem Bericht des päpstlichen Ceremonienmeisters Burchard, der von den Depeschen der in Rom weilenden Gesandten bestätigt wird, folgendermaßen: »In sero (dominica, ultima mensis octobris, vigilia omnium sanctorum) - 31. Oktober 1501 - fecerunt cenam cum duce Valentinense in camera sua, in palatio apostólico, quinquaginta meretrices honeste, cortegiane nuncupate, que post cenam coreaverunt cum servitoribus et aliis ibidem existentibus, primo in vestibus suis; deinde nude. Post cenam positafuerunt candelabra communia mense in candelis ardentibus per terram, etprojecta ante candelabro per terram castanee quas meretrices ipse super manibus et pedibus nude, candelabra pertranscentes, colligebant, Papa, duce et G. Lucretia, sorore sua presentibus et aspicientibus. Tandem expósita dona ultima, diploides de sérico, paria caligarum, bireta et alia pro illis qui pluries dictas meretrices carnaliter agnoscerent; quefuerunt ibidem in aula publice carnaliter tractate arbitriopresentium, dona distribuía victoribus.« (Burchardi Diarium [1483-1506] ed. L. Thuasne. Tom. III. p. 167. Paris 1885): »Am Abend (des 31. Oktobers, Vorabend von Aller-Heiligen) speisten fünfzig ange­

sehene Huren, Courtisanen genannt, beim Herzog von Valentinois (Cäsar Borgia, der Sohn des Pap­ stes) in dessen Zimmer im päpstlichen Palast, und tanzten nach der Mahlzeit mit der Dienerschaft und anderen dabei Anwesenden; erst in Kleidern, später nackt. Nach beendigter Mahlzeit wurden die brennenden Kandelaber der Tafel auf den Boden gestellt und Kastanien unter die Kandelaber gewor­ fen, von wo sie die nackten Mädchen, zwischen den Leuchtern hindurchschlüpfend, mit Händen und Füßen haschten. Der Papst, der Herzog und seine Schwester, Donna Lukrezia waren anwesend und sahen zu. Zuletzt wurden Preise ausgesetzt, seidene Anzüge, Fußbekleidungen, Kappen u. drgl. für jene, die am öftesten mit den genannten Mädchen sich fleischlich zu vermischen vermöchten. Diese wurden dann in der angegebenen Weise vor den Zuschauern und nach dem Ermessen der Anwesen­ den geschlechtlich hergenommen und die Preise an die Sieger verteilt.« - Die Sache war durchaus etwas Gewöhnliches. Denn der venezianische Gesandte Giustiani berichtet untern 30. Dezember 1502 nach Hause: »Gestern speiste ich bei Seiner Heiligkeit im Palast und blieb bis zum frühen Morgen bei den Unterhaltungen, die die regelmäßigen Zerstreuungen des Papstes bilden, und an denen Frauen­ zimmer teilnehmen, ohne die sich der Pontifex keine Feste denken kann. Jeden Abend läßt er Mäd­ chen bei sich tanzen und gibt Feste ähnlicher Art, wobei Courtisanen figurieren.« (Yriarte, Ch., Les Borgias. Paris 1889. Tom. II. p. 40). G. C. Lichtenberg’s Erklärung der Hogarthischen Kupferstiche. Elfte Lieferung. Göttingen 1809. pag.55. -

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»Ich bin der Papst. »Anonymerfranzösischer Holzschnitt aus dem 16. Jahrhundertgegen den lasterhaften Papst Alexander VI.

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AUS DEM SACHVERSTÄNDIGEN-GUTACHTEN DES DR. MICHAEL GEORG CONRAD Hoher Gerichtshof! Man hat mir die Frage vorgelegt, ob ich das Buch »Liebeskon­ zil« für ein Kunstwerk oder eine gotteslästerliche tendenziöse Schrift halte. Ich halte es für ein Kunstwerk, schon aus dem nächsten und einleuchtendsten Grunde, weil es von einem Künstler herrührt und in einer der strengsten poetischen For­ men, der dramatischen, abgefaßt ist. Diese dramatische Form, auf ein Buch ange­ wendet, das wohl nie zur Bühnenaufführung gelangt, also ausschließlich zum Lesen bestimmt ist, gilt in den Kreisen der Verständigen zugleich als die unpopu­ lärste, unvolkstümlichste Form, was schon dadurch erhärtet wird, daß von allen schöngeistigen Werken in der deutschen Lesewelt keins weniger Anklang und Käufer findet, als das Buchdrama, wie Ihnen, meine Herren, jeder Buchhändler bestätigen wird. Es ist auch vorhin durch die buchhändlerische Zeugenaussage festgestellt worden, daß das Panizzasche Buch »Liebeskonzil« so gut wie keinen Absatz gefunden hat. Denn ein oder anderthalb Dutzend Käufer stellen keinen Absatz dar. Wer aber eine wirksame tendenziöse Schrift schreiben und verbreiten wollte, wird sicher keine Form wählen, die im vorhinein die Verbreitung beschränkt, ja, bei dem heutigen Geschmack unseres gebildeten Publikums, die Verbreitung nahezu vollständig ausschließt. Ich bin überzeugt, daß die Herren, die berufen sind, hier als Geschworene über das angeklagte Buch zu urteilen, dasselbe bis zu dieser Stunde noch gar nicht zu Gesicht bekommen hatten und erst aus der Anklage von seinem Vorhandensein erfuhren. Nicht einmal aus der Tagespresse war etwas darüber zu erfahren, denn die wenigen Besprechungen, die bisjetzt über das »Liebeskonzil« in den vier oder fünf Monaten seit seinem Erscheinen ver­ öffentlicht worden sind, standen ausschließlich in wenig verbreiteten litterarischen Fachzeitschriften. Das angeklagte Buch ist aber nach meiner Schätzung nicht bloß seiner Form, son­ dern ganz wesentlich seinem Inhalt und der Technik seines Vortrages nach ein Kunstwerk, bei dem der Gedanke an eine einseitige Tendenz vollständig in den Hintergrund tritt, wenigstens bei wirklichen gebildeten Kunstliebhabern. Der Dichter hat in seinem Werke sich jener Kunstmittel bedient undjener besonderen technischen Weisen, die wir heute als die verfeinertsten und zugleich radikalsten »modernen« zu bezeichnen gewohnt sind. Mit diesen Mitteln wird eine Eindring­ lichkeit und Anschaulichkeit erzielt ganz unvergleichlicher Art. Zugleich aber auch ergibt sich aus dieser Kunstweise eine Lebenswahrheit von so intensiver Wir­ kung oder, mit einem geläufigen Schlagwort ausgedrückt, ein so unerbittlicher Naturalismus, daß der gewöhnliche, unvorbereitete Leser, der in himmelblauen Idealismen und wonnigen Phantastereien zu schwelgen liebt, mit dem Panizzaschen Drama »Liebeskonzil« nichts anzufangen wissen wird. Hier will ich gleich aussprechen, daß nach meiner persönlichen Empfindung in der Kunstweise Paniz­ zas zuweilen ein Element sich bemerkbar zu machen scheint, das ans Perverse,

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Krankhafte streift. Daraus erkläre ich mir das Barocke, Geschmacklose, Derb-Gro­ teske, womit namentlich der erste Akt dieses Dramas reich durchsetzt ist. Ich bin aber nicht in der Lage, diese mir persönlich widerlichen Geschmacklosigkeiten als angebliche Gotteslästerungen zu empfinden. Denn wenn die Geschmacklosigkei­ ten, die sich auf religiöse Vorstellungen und Figuren beziehen, immer gleich Got­ teslästerungen wären, so müßte die volkstümliche kirchliche Kunst, namentlich in katholischen und besonders in romanischen Ländern, von Gotteslästerungen wimmeln. Was für Scheußlichkeiten habe ich nicht schon in den zahllosen Höl­ len- und Fegefeuerbildern, in den Kreuzigungsdarstellungen u. s.w. gesehen, womit man in katholischen Ortschaften die Wände der Kirchen und Friedhöfe in frommer Naivität schmückt. Nicht zu reden von den Heilanden am Kreuz, denen man in Italien und Spanien echtes Menschenhaar auf den Kopf klebt oder deren Wundmale man mit echtem Blut hingeschmiert hat. Und in der Auswahl der Physiognomieen waren diese Heiligenmaler und Hergottschnitzer auch nicht pein­ lich, denn die erste beste konfiszierte, polizeiwidrig häßliche Visage war ihnen tür ihren Hergott oder ihren Christus gut genug. Hat manjemals eine Gotteslästerung darin erblickt? Oder eine Herabwürdigung der Jungfrau Maria darin, daß man sie in den Kirchen von Rom oder Neapel wie eine eitle Modenpuppe kleidet, Finger und Ohren mit Ringen, die Arme mit Braceletten schmückt? Neben den Madon­ nen von Rafael gibt es bekanntlich auch ganz andere, die an Heiligkeit alles zu wünschen übrig lassen. Aber es ist noch keinem guten Katholiken eingefallen, daran Anstoß zu nehmen. Wenn gar noch einem Christusbild das Haar oder der Bart wächst, so ist ihm das kein gotteslästerlicher Skandal oder Humbug, sondern ein erstaunliches Wunder. »Gott ist ein Geist«, lehrt die Bibel. Wird dieser Geist vermenschlicht und verpersönlicht, so wird sich in diesem Bilde immer der jeweilige Geschmack der Men­ schen aussprechen. »In seinen Göttern malt sich der Mensch.« Es gibt keinen Lehr­ satz der Kirche, der vorschreibt, so und so hat man sich Gott, oder Jesus, oder Maria, oder den Teufel vorzustellen, mit einem solchen Kopf, solchen Augen, sol­ cher Körperbeschaffenheit, solcher Haarfarbe, solchem Ausdruck u.s.w. Hier herrscht absolute Wahlfreiheit. Die Bibelausleger beziehen eine Stelle im alten Testament auf Christus, da heißt es: »Er hatte weder Gestalt noch Schönheit.« Also ist es bibelgemäß, sich Christus häßlich vorzustellen. Wer will nun die Grenze zie­ hen und sagen, hier ist erlaubte Vermenschlichung, dort beginnt die Gottesläste­ rung? Ganz streng genommen, müßte, da Gott nach der Bibellehre »Geist« ist,jede Verbildlichung verpönt werden. Aber von dieser sublimen Auffassung ist niemand weiter entfernt, als die Kirche und ihre Vertreter selbst. Somit kann die Kirche und wer sonst kirchliche oder religiöse Interessen vertritt, niemand verwehren, sich Gott jung oder alt, robust oder gebrechlich u.s.w. vorzustellen. In der Vision des Dichters gewinnt der traditionelle Himmel und was darin vor­ geht, eine Gestalt, die sich also recht eigentlich jeder Diskussion entzieht. Der Dichter hat es so gesehen, wie er’s sehen mußte, aus einem künstlerischen Zwang seiner schöpferischen Phantasie heraus, und damit Punktum. Man kann seine Vision annehmen oder ablehnen, aber man kann sie nicht polizeilich abwandeln,

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man kann sie nicht strafen. Das Forum, vor dem sich Dichter und Künstler einzig zu verantworten haben, ist die ästhetische Kritik. Die Frage kann nicht auf theolo­ gischen, sondern allein auf künstlerischen Wert oder Unwert gerichtet sein. Und die Frage so gestellt, hat Panizza mit seinem »Liebeskonzil« eines der stärksten und bedeutendsten Kunstwerke der modernen Dramenlitteratur geschaffen, ja, an der Schwierigkeit des Themas gemessen, vielleicht das allerbedeutendste der letzten Jahre. Als Arzt, Naturforscher, Seelenkundiger und satirischer Dichter hat Panizza einen Stoff angepackt, dem vielleicht kein zweiter unserer modernen Schriftsteller und sicher keiner unserer älteren Herren vom poetischen Fach sich gewachsen gefühlt hätte, und mit genialer Kühnheit, mit verblüffender Energie und Folge­ richtigkeit hat er ihn gestaltet. Und da der Stoff seines »Liebeskonzils« ein histori­ scherist, so hat er ihn mit der ganzen kritischen Ehrfurchtslosigkeit und unerbittli­ chen Schärfe behandelt, welche ein Hauptkennzeichen moderner Geschichtsauf­ fassung ist. Wie der moderne Historiker, so steht auch der moderne Dramatiker jenseits aller Wehleidigkeit, jenseits aller unmännlichen Rücksichtnehmerei auf die Sentimentalitäten und Duseleien der großen Masse. Und diese im Sinne der Wissenschaft und Kunst allein richtige und unanfechtbare Stellung des Histori­ kers und Dichters wird von gewissen Leuten natürlich als Brutalität und Roheit empfunden, sobald ein ihnen als traditionell geheiligt geltender Stoff ins Spiel kommt, wie im »Liebeskonzil« der christliche Himmel und das römische Papst­ tum zur Zeit, da ein Ausbund aller Laster und Verbrechen auf dem Stuhle Petri saß, der Kirchenstaat und seine Nachbarländer der Schauplatz zügelloser Ausschwei­ fung waren und die mörderische Lustseuche zum Ausbruch kam. Und das ist nun das Problem, das sich Panizza, nach meiner Auffassung, in seinem »Lipbeskonzil« zum Vorwurfe nahm: Wie ist in einem großen Zeitbilde auf histo­ risch treuer Grundlage mit Verwertung des volkstümlichen Götter- und Teufels­ glaubens der Eintritt der Lustseuche in die europäische Kulturwelt (historisch be­ glaubigtes Datum Frühling 1495) phantastisch anschaulich zu machen und aus dem Geiste jener Zeit heraus zu erklären? Und wie jeder echte, große Dichter hat Panizza dies in einer Vision in Eins gesehen, in einem fabelhaften Zusammenwir­ ken von Erde, Himmel und Hölle, im Sinne der mittelalterlich-papistischen Welt­ anschauung, und mit den überlegenen Mitteln moderner Dramen-Technik hat er diese Vision gestaltet. Die Modernität des Ausdrucksmittels allein schon mußte bewirken, daß die Scenen im Himmel einen starken Stich ins Satirische bekamen, und der echt deutsche, unrömische und unpapistische Geist des gelehrten, kritikund schaffensgewaltigen Dichters führte absichtslos, rein unbewußt dahin, daß die Scenen im Vatikan mit einer zerschmetternden Wucht gearbeitet sind. Einzel­ nes, wie die Schilderung der dämonischen Erzeugung der Trägerin der Lustseuche, ist von überwältigender Größe, und selbst im Episodischen stoßen wir auf Züge, wie wir sie nur in den genialsten Dichtwerken anzutreffen gewohnt sind. Die Personen im Himmel sind dabei nicht zum Besten weggekommen. Allein wenn die irdische Stellvertretung der Dreifaltigkeit im Vatikan eine notorisch so scheußliche ist, wie unter dem Papst Alexander VI., so muß das auf die Schätzung des Himmels zurückwirken. Wie der Knecht, so der Herr. Ein Scheusal, wie der

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Gottesvertreter Borgia, verträgt keinen reinen, majestätischen Himmel, und umgekehrt. Aber ist das die Schuld des Dichters? Ist der Dichter straffällig, wenn er psychologisch und historisch logisch und ehrlich ist? Summa: Panizzas »Liebeskonzil« ist ein Kunstwerk, und es wäre Herabwürdi­ gung, in ihm eine tendenziöse Lästerschrift erblicken zu wollen. Wenn aber außer­ halb der Kunstabsicht des Verfassers doch noch eine besondere moralische Ten­ denz festgestellt werden soll, so könnte dieselbe objektiv nur mit dem Hinweis auf das Widmungsblatt des Buches begründet werden: »Dem Andenken Huttens.« Hutten, der herrliche deutsche Fackelschwinger und Geistesstreiter, der ritterliche Vorkämpfer jener Helden, die uns das glänzende Zeitalter der Reformation schu­ fen, er erlag dem tragischen Geschicke, als eines der ersten Opferjener furchtbaren, geheimnisvollen Krankheit aus dem Welschlande zu fallen. Wenn ein freier Deut­ scher und moderner Dichter dem Andenken seines Landsmannes und Geistesver­ wandten Ulrich von Hutten eine würdige Weihegabe spenden will, so thut er’s nicht in rührseligen oder didaktischen Versen, sondern in einem dramatischen Kunstwerk von so geistesgewaltiger und seelenbefreiender Kraft, daß alle davon erschüttert werden, die auf der Menschheit Höhen wandeln, und daß selbst der Stellvertreter Gottes auf Erden einen Ruck davon verspürt: Und das »Liebeskon­ zil« von Panizza ist eine solche würdige Weihegabe, denn es ist, wie ich mich nach­ zuweisen bemüht habe, trotz einzelner ästhetischer Makel, ein echtes, deutsches, modernes Kunstwerk. -

Zeichnung Oskar Panizza

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DAS URTEIL Nachdem der Präsident des Schwurgerichts im Laufe der Verhandlung darauf auf­ merksam gemacht hatte, daß, für den Fall der Angeschuldigte der Verbreitung des Buches in Deutschland nicht schuldig zu erachten sei, die ganze Anklage wegen Gotteslästerung von selbst wegfalle, da es sich dann um ein im Ausland begange­ nes, dort strafloses und nach § 4, Z. 3 des deutschen Reichsstrafgesetzbuches auch im Inland nicht verfolgbares Vergehen handle, stellte der Verteidiger, Herr Dr. Kugelmann, den Antrag, den Geschwornen die Nebenfrage vorzulegen: ob der Verfasser der Verbreitung des Buches in Deutschland schuldig sei. Dieser Antrag, dem sich der Staatsanwalt, Freiherr von Sartor, widersetzte, wurde vom Gerichtshof abgelehnt mit der Motivierung: die Nebenfrage, oder Vorfrage, nach der Schuld des Angeklagten hinsichtlich Verbreitung des Buches in Deutschland werde in der Hauptfrage, ob schuldig der Gotteslästerung, enthalten sein. Die dann an die Geschwornen gerichtete Frage lautete: »Ist der Angeklagte Dr. Oskar Panizza schuldig, in der von ihm im Frühjahr 1893 verfaßten, in Zürich bei dem Verlagsmagazin J. Schabelitz im Oktober 1894 her­ ausgegebenen und sodann in München, Leipzig und an anderen Orten des deut­ schen Reiches zur Verbreitung gelangten Druckschrift >Das Liebeskonzil, eine Himmelstragödie in fünf Aufzügem, dadurch, daß er öffentlich in beschimpfen­ den Aeußerungen Gott lästerte, Aergernis gegeben und öffentliche Einrichtungen und Gebräuche der christlichen Kirchen, insbesondere der katholischen Kirche, beschimpft zu haben?«

Wortlaut des Urteils: »Im Namen Seiner Majestät des Königs von Bayern erkennt das Schwurgericht bei dem k. Landgerichte München I in Sachen gegen den Schriftsteller Dr. Oskar Panizza von Kissingen wegen Vergehens wider die Religion, verübt durch die Presse, zu Recht: 1. Dr. Oskar Panizza wird wegen eines Vergehens wider die Religion, verübt durch die Presse, in eine Gefängnisstrafe von einemJahre sowie zur Tragung der Kosten des Strafverfahrens und der Strafvollstreckung verurteilt. 2. Die vorhandenen Exemplare der Druckschrift »Das Liebeskonzil« von Dr. Oskar Panizza sowie die zu ihrer Herstellung bestimmten Platten und For­ men sind unbrauchbar zu machen. 3. Gegen den Angeklagten wird Haftbefehl erlassen.

Gründe. Das k. Landgericht München I hat unterm 20. März 1895 gegen den Schriftsteller Dr. Oskar Panizza von Kissingen wegen eines Vergehens wider die Religion, ver­ übt durch die Presse, aufEröffnung des Hauptverfahrens vor dem Schwurgerichte erkannt. Infolgedessen kam die Sache heute zur öffentlichen Verhandlung.

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Nach Begründung der Anklage durch den k. Staatsanwalt trugen der Rechts­ anwalt Dr. Kugelmann und der Angeklagte die Verteidigung vor. Den Geschwornen wurde die anliegende Frage zur Beantwortung vorgelegt. Die Erklärung der Geschwornen lautete auf die gestellte Frage: Ja, mit mehr als 7 Stimmen. Der k. Staatsanwalt stellte den Antrag auf Gefängnisstrafe von ljahr 6 Monaten, Unbrauchbarmachung der vorhandenen Exemplare der Druckschrift, sowie der zu ihrer Herstellung bestimmten Platten und Formen, Erlassung eines Haftbe­ fehls, Kostentragung. Der Verteidiger beantragte eine Gefängnisstrafe von einem Monate. Die richterliche Würdigung des erfolgten Schuldausspruches hat ergeben, daß nach § 166 R. St. G. B., §§ 2,20,21 Reichs-Preß-Gesetz vom 7. Mai 1874 die in der Frage bezeichnete Handlung als ein Vergehen wider die Religion, verübt durch die Presse, sich darstellt. Die Strafe war in Gemäßheit der §§ 166,16 des R. St. G. B. auszumessen und kam als straferschwerend in Betracht, daß der Inhalt des betreffenden Preßproduktes geeignet ist, die religiösen und sittlichen Gefühle Anderer auf das Tiefste zu verlet­ zen, daß ferner die Auslassungen in der Schrift nicht mit schriftstellerischer Frei­ heit entschuldigt werden können, vielmehr diese in ungemessener Weise miß­ braucht ist. Als strafmindernd hingegen war zu berücksichtigen, daß bei dem abstoßenden Inhalte des Preßerzeugnisses dasselbe wohl bei Anständigen Zurückweisung und daher wenig Verbreitung gefunden haben wird. Hienach erschien die oben ausgesprochene Strafe als entsprechend. Nachdem mit Rücksicht auf die ausgesprochene Strafe und die persönlichen Ver­ hältnisse des Angeklagten derselbe als fluchtverdächtig erscheint, war gegen den­ selben Haftbefehl zu erlassen. (§§112, 124 St. P. O.) Nachdem der gesamte Inhalt des von dem Angeklagten verfaßten Preßproduktes strafbar ist, war nach § 41, Abs. 1 und 2 R. St. G. B. auszusprechen, daß alle Exem­ plare desselben sowie die zu seiner Herstellung bestimmten Platten und Formen unbrauchbar zu machen seien. Als zur Strafe verurteilt, waren dem Angeklagten die Kosten des Strafverfahrens und der Strafvollstreckung zu überbürden nach §§ 496, 497 St. P. O. Alles in Anwendung der vorangeführten Gesetzesstellen. Also geurteilt und verkündet in öffentlicher Sitzung des Schwurgerichts bei dem k. Landgerichte München I, am 30. April 1895, nachmittags 7 Uhr, wobei zugegen waren: der k. Oberlandesgerichtsrat Quante, Vorsitzender, die k. Landgerichtsräte Freiherr von Dobeneck und Ziegler, Beisitzer, der k. II. Staatsanwalt Freiherr von Sartor, der k. Sekretär Pasquay als Gerichtsschreiber. gez. Quante, Dobeneck, Ziegler

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MAXIMILIAN HARDEN AUF DER ANKLAGEBANK Royer-Collard, der als Parlamentsadvokat zuerst die Grundsätze der Girondisten bekannt hatte und der später der Restauration der Bourbonen ein eifriger und geschickter Vorkämpfer geworden war, hielt in den letzten Tagen des Jahres 1817 eine Rede, in der er die Einführung von Volksgerichten als die unentbehrliche Vor­ bedingung für die zu erstrebende Freiheit der Presse bezeichnete. Der Gedanken­ gang des Redners war einfach und menschenverständig; er sagte: »Die Gewalten werden, wie die Individuen, durch Neigung, Sitten und natürlichen Trieb zur Willkür verleitet; der Lärm ist ihnen lästig, die Bewegung beunruhigt sie, der Tadel schmeckt ihnen bitter; die Freiheit der Presse, vor der sie verantwortlich sind, erscheint ihnen als Feind, und da sie die Unbequemlichkeiten stärker als die Vor­ theile dieser Freiheit empfinden, so muß man befürchten, daß sie die Grenzen des Erlaubten immer mehr verengen werden. Um inmitten so unbestimmter und schwankender Definitionen seine Meinung frei aussprechen zu können, dazu braucht man nicht Richter, sondern Schiedsrichter; und Schiedsrichter findet man nur in derjury, deren Sprüche in England Landesurtheile,judicia per patriam, heißen. Ich stelle deshalb das unumstößliche Prinzip auf, daß es keine geschützte Freiheit der Presse giebt, geben kann, wenn sie nicht auf der völligen Unabhängigkeit der Jury beruht.« Royer-Collard vertrat in der Kammer der Restauration - einer neidenswerth reichen Kammer, wo neben dem ersten Casimir-Périer der General Foy und Benjamin Constant saßen - die philosophische Schule und er wurde als ein unpraktischer Doktrinär häufig belächelt. Er unterschied sich in seinen politischen Anschauungen auch wirklich nicht allzu sehr von unseren Liberalen, die nach zusammengelesenen allgemeinen Grundsätzen, ohne Rücksicht auf seine beson­ dere Individualität, den verfeinerten Organismus einer Volkheit leiten und lenken wollen. Aber diese alten Liberalen erschöpfen sich nicht in der Sorge um das Wohl­ ergehen des mobilen Kapitals und der satten Großstadtbewohner; sie fanden Ehre darin und höchsten Ruhm, die Hüter des Rechtes zu sein und gegen die Willkür Mächtiger die Schwachen zu schützen. Das ist seit den Tagen des jubilirenden Caprivismus anders geworden; unsere Liberalen von heute - oder mindestens ihre Führer - sind auch in den Rechtsfragen längst schon Prositwütheriche geworden, sie rühren sich kaum noch, wenn zu Ungunsten ihrer Gegner dem Recht eineBeugung oder Verletzung droht, und sie haben der Scham so munter entsagt, daß ihnen die Richtersprüche gegen Andersgläubige fast immer zu mild und zu gelind erscheinen. Der Unklugheit ihres Beginnens sind sie sich nicht bewußt; sie leben von der Hand in den Mund und schienen lange ganz vergessen zu haben, daß selbst der große Caprivi eines Tages wieder in die Versenkung verschwinden und dann auch für sie die Zeit der politischen Prozesse zurückkehren konnte. Jedenfalls muß man auf die Unterstützung der liberalen Doktrinäre heutzutage verzichten, wenn es gilt, die Tradition Royer-Collards und seiner Genossen aufzunehmen.

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Welcher Lärm hätte sich wohl erhoben, wenn unter Bismarck in der Norddeut­ schen Allgemeinen Zeitung ein großer Unbekannter sich erfrecht hätte, auf die Unabhängigkeit der Richter eine schmähliche Pression zu versuchen? Vier Jahre nach seinem Rücktritt haben wir dieses Schauspiel erlebt: in dem vom dem Ertrag des Guanohandels gespeisten Blatte ist den preußischen Richtern in harter Rüge­ rede vorgehalten worden, daß sie die Beamtenbeleidigung, die ausnahmelos mit Gefängniß zu strafen sei, »zumeist nur da, wo der angegriffene Beamte selbst zu den Richtern zählt«, mit der genügenden Strenge zu ahnden pflegen. Noch ist mit keinem wirklich bindenden Wort gesagt worden, daß der Kanzler des Reiches und - namentlich - der preußische Justizminister jede Gemeinschaft mit dem Schand­ artikel des Guanoblattes ablehnen, noch ist wegen der in diesem Artikel enthalte­ nen bewußten Verleumdung des Richterstandes von keinem Staatsanwalt die Anklage erhoben worden. Ein Anderes aber ist über allen Zweifel hinaus festge­ stellt worden: »man« ist nicht nur unzufrieden damit, daß die Richter die fürchter­ liche That der Kanzler Beleidigung nur mit großen Geldbußen und nicht mit Gefängniß bis zu zweiJahren bestrafen, nein: »man« hat auch an einem Richter, der in einem politischen Prozeß den auf ihn vielleicht gesetzten Erwartungen nicht entsprochen hatte, bereits sein Müthchen gekühlt. Wer dieses geheimnis­ volle »Man« ist, läßt sich nur auf dem Wege des Indizienbeweises ergründen; unter Bismarck würde es über die Person des Attentäters keinen Zweifel geben und das Gezeter über eine schamlose Korruption würde bis zu den Wolken erschallen. Am siebenten April 1893 hatte der Herausgeber der »Zukunft« vor der ersten Straf­ kammer des Landgerichtes I zu Berlin sich wegen einer angeblich begangenen Majestätsbeleidigung zu verantworten. Die Beleidigung sollte in dem Aufsatze »Monarchen-Erziehung« begangen sein; der Staatsanwalt mochte aber dem Gericht der Anklage selbst nicht recht trauen, denn er versuchte, sie durch einen anderen, viel früher erschienenen Artikel, »König Phaeton«, besser zu stützen. Beide Artikel wurden vor Gericht verlesen und danach wurde der Angeklagte frei­ gesprochen. Das verkündete Urtheil enthielt wichtige und werthvolle Stellen; es wurde darin gesagt: »In dem Artikel findet man eine Reihe unzweifelhafter Wahr­ heiten. Die Ehrfurcht vor einem Fürsten zeigt sich nicht darin, daß man ihm byzantinisch zu Füßen liegt und ihm schmeichelt, sondern die wahre und echte Ehrfurcht vor dem Monarchen besteht darin, daß man auch ihm gegenüber die Wahrheit hochhält, vorausgesetzt, daß man ihr keine Strafbare Form giebt. Wenn in dem Artikel gesagt wird, ein König müsse auf Thron sich erst selbst erziehen, so ist Dies eine Wahrheit, die nicht in verletzende Form gekleidet ist. Wenn man von der erhabenen Person des Kaisers absieht und die Gelehrtenwelt, die Richter u. s. w. betrachtet, so muß man sagen, daß z. B. die Erziehung des Richters doch erst beginnt, wenn er in die Praxis hineingreift. Die theoretische Vorbildung eines Königs ist gewiß gut und nützlich, aber sie allein macht ihn doch noch nicht zum Herrscher. Die Erziehung gerade auf einem so hervorragenden Posten dauert fort durchs Leben, und wenn der Angeklagte Dies ausführte, so ist er dabei getragen worden von großer Ehrfurcht gegen den Kaiser. Der junge Kaiser, in seiner Thatkraft, seinem Elan, mit seinem mächtigen und guten Willen, glaubte, mit seinen

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Reformen rasch vorwärts gehen zu können; und wenn in dem Artikel gesagt ist: er habe wahrscheinlich geglaubt, in kürzerer Frist durchdringen zu können, so liegt darin wohl eine Wahrheit, aber keine Beleidigung. Der Angeklagte vertritt den Grundgedanken, daß, wiejeder nach Vollkommenheit trachtende Mensch nie auf­ hören dürfe, an sich selbst zu arbeiten und zu erziehen, so auchjeder Monarch mit seiner Thronbesteigung sich diesem Werke der Selbsterziehung widmen müsse und daß so viele Byzantiner, gefällige Fälscher, welche diesen Selbsterziehungs­ prozeß durch Mangel an Aufrichtigkeit und Absperrung der Wahrheit vom Throne hindern oder erschweren, weder für den Monarchen noch für die Allge­ meinheit Gutes wirken... Daß der erste Theil dieses Artikels nicht mit Beziehung auf den Deutschen Kaiser geschrieben ist, ergiebt sich auch aus dem Umstande, daß im zweiten Theile mit voller Offenheit die Person Seiner Majestät des Deut­ schen Kaisers genannt ist. Auch in den Ausführungen dieses Theiles aber kann eine Verletzung der Ehre Seiner Majestät nicht gefunden werden, denn es ist nicht behauptet - wie die Staatsanwaltschaft annimmt -, daß es dem Kaiser an dem Wil­ len oder der Fähigkeit, sich selbst zu erziehen, mangele, sondern nur, daß ihm die Selbsterziehung und das Vorwärtsschreiten erschwert werde. Die Annahme, daß der Angeklagte in versteckter Weise Se. Majestät den Kaiser haben treffen wollen, erscheint um so weniger zulässig, als der Artikel von monarchischen Gedanken durchdrungen ist... Der Angeklagte war daher freizusprechen und die Kosten des Verfahrens waren der Staatskasse aufzuerlegen.« Dieses Urtheil war vom Landgerichtsdirektor Schmidt in öffentlicher Sitzung ver­ kündet und an erster Stelle unterzeichnet worden. Acht Tage, bevor der Herausge­ ber der »Zukunft« wegen einer angeblichen, wieder auf zwei künstlich zusam­ mengekoppelte Artikel gestützten Caprivi-Beleidigung vor der selben Strafkam­ mer zu erscheinen hatte, trat Herr Alexander Schmidt von dem Vorsitz dieser Kammer und von jeder strafrichterlichen Thätigkeit zurück und er bat zehn Tage später um seinen Abschied. Da bald bekannt wurde, daß Herr Schmidt über die »Nackenschläge« geklagt hatte, die ihm der gegen Harden geführte Prozeß zuge­ zogen habe, so wurde natürlich auch bald davon gemurmelt, der muthige Richter sei »gemaßregelt« worden; und als später die Fehde um Herrn Brausewetter ent­ brannte, brachte ein Korrespondent der Münchener Allgemeinen Zeitung das Gerücht in die Oeffentlichkeit. Darauf erschien in der Norddeutschen ein gesperrt gedrucktes Dementi, in dem erklärt wurde, die Versetzung des Herrn Schmidt an eine Zivilkammer sei auf dem gesetzlich vorgeschriebenen Wege, durch die Ent­ scheidung des aus dem Landgerichtspräsidenten, den Direktoren und dem ältesten Rath bestehenden Kollegiums, erfolgt und auf diese Entscheidung stehe der Justiz­ verwaltung »ein maßgebender Einfluß« nicht zu; die Beweggründe der im Dezember 1893 getroffenen Entscheidung entzögen sich selbstverständlich der öffentlichen Kenntniß; das bereits am siebenten April 1893 ergangene Urtheil in der Strafsache gegen den Schriftsteller Harden sei aber nicht der Beweggrund gewesen. Durch die Zusammenstellung dieser beiden Daten sollte vielleicht der Schein erregt werden, als könnte zwei durch neun Monate getrennte Vorgänge nicht in einer ursächlichen Verbindung stehen; dann mußte der Verfasser der

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Sperrnotiz seine Leser für ungewöhnlich dumm halten, denn vor dem Dezember, Daß weiß jeder Eingeweihte, gab es überhaupt keine Gelegenheit, Herrn Schmidt zu beseitigen, und bei dieser ersten Gelegenheit ist er beseitigt worden, - und zwar nicht, wie der Notizfabrikant keck behauptet, durch einen Beschluß des zur Ent­ scheidung berufenen Kollegiums. Dieser Theil der anscheinend »hochoffiziösen« Erklärung steht in schroffem Widerspruch zu den Thatsachen, deren genaue Kenntniß wir einer Darstellung des Herrn Schmidt verdanken. Als die hoffentlich nur scheinbar hochoffiziöse Erklärung - oder Verdunkelung ins Norddeutsche Allgemeine Leben trat, hielten einige Freisinnskämpen es für angezeigt, wieder einmal das Vaterland zu erretten und schnöde Verdächtigungen der gebietenden Herren abzuwehren. In der Vossischen Zeitung, die zum Lob des neuen und neuesten Kurses und zu läppischen Verleumdungen des Herrn Miquel immer weißes Papier frei hält, erschien ein Artikel, in dem gesagt wurde, die Verset­ zung eines Strafrichters in eine Civilkammer sei die alltäglichste Sache von der Welt und Herr Schmidt müsse einen Ueberfluß an Empfindlichkeit oder Privat­ vermögen besitzen, um sich dadurch zum Abschiede drängen zu lassen. Gegen die­ sen Artikel kehrte sich die Berichtigung des Herrn Schmidt, die in der Vossischen Zeitung unter der milderen Form einer Erklärung abgedruckt wurde. Herr Schmidt stellte darin Folgendes fest: seine Enthebung vom Vorsitz einer Straf­ kammer und seine unfreiwillige Versetzung in eine Civilkammer ist im Schoße des Kollegiums angeregt, von diesem aber abgelehnt worden; die Motive dieser »Anre­ gung«, die ganz außerhalb der Person des Richters lagen, haben Schmidt dann ver­ anlaßt, seinen Abschied nachzusuchen, und er ist »in eine recht wenig günstige Lebenslage« gelangt. Gegen die Behauptung eines Zusammenhanges zwischen dem Versuch einer unfreiwilligen Amtsenthebung und dem Prozeß Harden hat Herr Schmidt sich mit keiner Silbe gewandt. Schon daraus konnte jeder nicht absichtlich Verblendete den wahren Sachverhalt erkennen; den größten Theil der biederen berliner Presse hat Das aber nicht gehindert, frisch und froh fortzufäl­ schen, und nirgends hat man die Frage gehört, wie es denn kommt, daß auf Kosten des Deutschen Reiches in scheinbar hochoffiziösen Notizen glatt und schlank die Unwahrheit verkündet wird. Dieser Zustand wird nachgerade langweilig. Wenn die liberalen Mannesseelen die großen Grundsätze ihrer doktrinären, aber achtbaren Ahnen heute um ein Billiges geben, so ist Das ihre Sache, und wenn sie einer unpopulären und unproduktiven Regirung Schuhputzerdienste leisten, so kann man auch dieses herzige Vergnügen ihnen gönnen. Wir Anderen aber haben es allgemach satt, als Antwort auf ernste Beschuldigungen Pistolengeknatter (Fall Polstorff) und unkontrolirbares offiziö­ ses Gefasel (Fall Schmidt) hinnehmen zu sollen. Uns kann es, bei der Unsicherheit der Rechtsprechung, jeden Tag begegnen, daß wir uns von irgend einem Gerichts­ höfe wegen irgend eines angeblichen politischen Vergehens verantworten müssen; und wenn wir für die Unabhängigkeit der Richter eintreten, dann wird sogar das Reichsgericht uns nicht bestreiten können, daß wir in Wahrnehmung berechtigter und höchst individueller Interessen handeln. Ist diese Unabhängigkeit noch in dem wünschenswerthen und nothwendigen Umfange gesichert? ... Bei einer sol­

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chen Frage vergeht der Spaß und auch die Lust an künstlerischer Form schwindet; nichts bleibt übrig als das bittere Bedauern darüber, daß die Frage überhaupt gestellt werden mußte und konnte. Es mag zweifelhaft sein, ob das von Royer-Collard empfohlene Mittel unter allen Umständen günstig wirken würde. Im Allgemeinen hat man mit den Laiengerich­ ten nicht solche Erfahrungen gemacht, daß man zu jeder bunt Zusammengewür­ feltenjury ein blindes Vertrauen haben könnte, und bei politischen Prozessen wäre in einer Zeit sozialer Zerklüftung, namentlich in großen Städten, außerdem immer mit der Gefahr zu rechnen, daß unter den Geschworenen eine Partei dominirt, die alle öffentlichen Vorgänge nur durch die fraktionell gefärbte Brille kennen gelernt hat. Derjetzt geltende Zustand ist - wenn es endlich gelingt, den vagen Begriff der formalen Beleidigung so präzis zu fassen, daß auch der Laie ihn verstehen und sich nach ihm richten kann - nicht unerträglich; er wird es erst in dem Augenblick, wo die heute so gern citirte öffentliche Meinung Grund hat, an der Unabhängigkeit der Richter zu zweifeln. Der Landgerichtsdirektor Schmidt hat ein Urtheil ver­ kündet, daß der freien Kritik weite Schranken setzt; bei der nächsten Vertheilung der Geschäfte hat der Präsident des Landgerichtes I die Versetzung Schmidts in eine Civilkammer »angeregt«, das Kollegium hat aber diese ganz ungewöhnliche Anregung einer unfreiwilligen Versetzung abgelehnt; trotzdem hat Herr Schmidt, in dem Gefühle, lästig geworden zu sein, und durch ganz bestimmte Aeußerungen veranlaßt, sich moralisch verpflichtet geglaubt, seinen Abschied zu nehmen und in einem bedrängten Privatleben nothdürftig sich einzurichten. Diese Thatsachen sind erweislich wahr und es ist ein Irrthum - oder es besteht die Absicht, den Thatbestand zu verdunkeln -, wenn immer wieder behauptet wird, die Entfernung Schmidts hänge nicht mit dem Majestätprozeß gegen Harden zusammen. Herr Schmidt hat nicht die allergeringste Veranlassung, irgend Etwas an den Vorgängen zu beschönigen oder zu vertuschen, und es ist durchaus nicht anzunehmen, daß die Veröffentlichung der Angelegenheit ihm unwillkommen ist. Er hat als Richter mannhaft und muthig seine Pflicht erfüllt; und man darf nicht daran zweifeln, daß der Landgerichtsdirektor a. D., wenn es nöthig werden sollte, an der Stelle, wo er einst Recht sprach, künftig auch als Zeuge für das Recht und die Wahrheit auftre­ ten wird.

Dieses Bruchstück eines vor fast fünfJahren geschriebenen Artikels habe ich hier abgedruckt, um zu zeigen, mit welchen Empfindungen ich am letzten Oktober­ tage nach Moabit fuhr, wo ich mich wegen vier angeblich begangener Majestätbe­ leidigungen verantworten sollte. Man darf nicht etwa glauben, daß der Fall Schmidt da draußen schon vergessen ist; die Diener und Boten sogar sprechen noch heute mit scheuem Bedauern von dem Schicksal des allgemein beliebten Direktors und in den Urtheilsprognosen, die in den Korridoren und im Anwältezimmer von klugen oder fürwitzigen Männern gewagt wurden, kehrte immer die Wendung wieder: »Ja, wenn die Sache mit dem alten Schmidt nicht passirt

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wäre,...!« »Dann würde ich freigesprochen, meinen Sie«, lautet stets meine Ant­ wort; und ich fügte jedesmal hinzu: »Nun, ich muß trotzdem freigesprochen wer­ den, denn ich bin unschuldig und hoffe, meine Unschuld so bündig beweisen zu können, daß kein gewissenhafter Richter den Muth haben wird, mich zu verurtheilen.« Das sagte ich nicht ins Blaue hinein; vorragende Männer, Juristen und Politiker, hatten die Artikel, auf die sich die Anklage stützte, mit gründlicher Auf­ merksamkeit mehr als einmal gelesen und keine Spur einer Majestätbeleidigung darin gefunden; von den pièces der résistance, »Pudel-Majestät« und »An den Kaiser«, hatte Bismarck, der sie noch las und lobte, gesagt, es sei ein Glück, daß solche Wahrheiten im Deutschen Reich irgendwo ausgesprochen würden: wie sollte ich da an die Möglichkeit einer Verurtheilung glauben? Und doch hatte die Erinne­ rung an den Mann, der, weil er mich freisprach, aus dem Dienst geärgert wurde, mich durch die unruhvollen Wochen vor der Hauptversammlung begleitet. Für ihn hatte sich unter Juristen und Publizisten, obwohl über sein trauriges Geschick nirgends ein Zweifel bestand und besteht, keine einzige Stimme erhoben; und von der Ehrung, die ihn vielleicht erfreut hätte, kann ich erst heute erzählen. Bismarck ist tot, noch aber leben vernehmbare Zeugen des Vorganges: als ich fünf Tage nach dem Freispruch neben dem Gutsherrn von Friedrichsruh beim Frühstück saß, erhob er das mit edlem Forster gefüllte Glas und sagte: Je bois à la santé du nommé Schmidt!Er that es, weil nach seiner Ansicht dieser Mann richtig die Raumesweite bezeichnet hatte, die der monarchischen Kritik heutzutage im Interesse des Rei­ ches gewahrt bleiben muß, und ich erzähle die kleine Geschichte, weil einem Manne, der für seine Ueberzeugung gelitten hat, die ihm wahrscheinlich werth­ volle Anerkennung nicht vorenthalten darf. Meinen fünf Richtern, von denen einer bei dem Urtheil über die »Monarchen-Erziehung« mitgewirkt hatte, habe ich sie nicht erzählt; es schien mir nicht anständig, den Fall Schmidt auch nur mit einer Silbe zu streifen. Aber der Geist des entamteten Landgerichtsdirektors ging während der Prozeßwoche in dem rothen Kriminalpalast um, überall wurde von ihm geraunt und geredet und sein Schatten verdunkelte sogar die straffe Gestalt des Oberstaatsanwaltes am Kammergericht, der mit dem ihm untergebenen Ver­ treter der Anklage noch im Sitzungssaal eifrig konferirte. Ists da ein Wunder, wenn der Angeklagte des Mannes gedachte, auf dessen Platz nun ein jüngerer Direktor saß? Von dem in Spötterreden jedem Verurtheilten zugestandenen Recht, acht Tage lang aus vollem Hals auf seine Richter zu schimpfen, habe ich bisher keinen Gebrauch gemacht, werde ich auch künftig keinen Gebrauch machen. Ich kann über den Landgerichtsdirektor Felisch und seine Beisitzer nicht klagen; sie waren vom ersten bis zum letzten Tage höflich und rücksichtvoll, beschränkten mich in meiner Vertheidigung nicht, liehen, so schien mir, verständig klingenden Gründen ihr Ohr, und wenn die Ungeduld der Ermüdeten sich einmal regte, dann galt sie nicht mir, - und erst recht nicht dem Justizrath August Munckel, der die Güte gehabt hatte, mit seiner Autorität, seinem sicheren forensischen Takt und seinem immer, auch in der schärfsten Zuspitzung, liebenswürdigen Witz einem politi­ schen Gegner als Plaideur Hilfe zu leisten. Unsere Beweisanträge hielten sich streng in den von der Staatsanwaltschaft gewiesenen Bahnen, ich unterdrückte die

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mehr oder minder schönen Reden, dich ich in langen schlaflosen Nächten seit dem Juni so oft in die Kissen gestammelt hatte, und sagte nur das unerläßlich Schei­ nende, wir verschleppten die Verhandlung nicht um eine Minute und gaben des­ halb nie zu Konflikten oder unwilligen Regungen Anlaß. Aeußerlich vollzog sich Alles glatt und in den besten Formen; und dieBetrachtungen, die sich mir über das Wesen unserer Strafprozeßführung aufdrängten, will ich in ruhigerer Stunde zu schildern versuchen. Keinen Augenblick habe ich die ehrliche Absicht der fünf Herren bezweifelt, das Recht zu finden und gerecht zu urtheilen. Ob sie aber sämmtlich in meiner Sache auch völlig unbefangen sein konnten? Bewußt wären sie sicher nicht um Haaresbreite vom festen Rechtsboden gewichen und keine Gunsthoffnung, keine Furcht vor künftiger Kränkung hätte sie zum Wanken oder Schwanken gebracht. Aber die feinsten psychischen Vorgänge spielen sich unter der Bewußtseinsschwelle ab. Gerade der begabte, von seiner Berufspflicht und deren Bedeutsamkeit ganz erfüllte Beamte wird nach einer Erweiterung seiner Wirkenssphäre streben. Der Landrichter will Rath, der Rath Direktor, der Direk­ tor Präsident werden, - nicht aus Streberei, auch gewiß nicht nur, um in eine höhere Gehaltsklasse aufzurücken, sondern, weil an diesen Zielen die Möglichkeit freierer Bethätigung winkt. Hat sich in einer den »Gewalten«, nach Royer-Collards Wort, oder, wie man heute lieber sagt, den »maßgebenden Stellen« wichtigen Sache an einem weithin sichtbaren Beispiel nun einmal gezeigt, daß einem Richter der Ausdruck seiner Ueberzeugung verdacht werden kann, dann ist damit schon ein Druck auf die geistige Freiheit aller mit ähnlichen Sachen beschäftigten Rich­ ter geübt. Und wenn vor so prädisponirten Richtern der Angeklagte steht, der ihrem Kollegen einst Unheil gebracht hat, dann kann eine nicht ins helle Bewußt­ sein dringende Autosuggestion sehr leicht von vorn herein die Stimmung trüben. Der Angeklagte ist politisch höchst »mißliebig«; daß seine Verurtheilung gewünscht wird, lehrt schon der von der Anklagebehörde aufgewandte Apparat, der in solchem Umfange noch nie erschaut ward. Der Direktor, der ihm 1893 den Freispruch verkündete, ist aus dem Amt geärgert worden; der Richter, der bei dem unbequemen Urtheil mitwirkte, ist noch immer Landgerichtsrath; und der Wunsch, aus der Kammer zu scheiden, vor die der Mißliebige gestellt werden muß, ist, wie sich beweisen ließe, schon im Jahre 1894 von Landgerichtsräthen geäußert worden. Wäre es nicht menschlich, dem Psychologen nicht leicht verständlich, wenn solche Erwägungen des Wesens Tiefe stimmten? Keiner der fünf Herren wird sich gesagt haben: »Wir müssen den Harden verurtheilen«; in jedem von ihnen aber, auch Dessen bin ich gewiß, lebte das latente Gefühl: »Wenn wir den Harden noch einmal freisprechen, wird es uns furchtbar verübelt, die Staatsan­ waltschaft berichtet über uns an das Justizministerium, - und wer weiß, was bei der neuen Geschäftevertheilung im Dezember geschieht!« Mit so belasteten Vor­ stellungen traten sie an die umständliche Sache heran. Ich möchte nicht mißverstanden sein: hätte ich den Verdacht, die Herren könnten bewußt ihr Urtheil gefärbt haben, dann würde ich nicht zögern, ihn auszuspre­ chen. Er ist keine Sekunde lang in mir aufgekommen. Aber ich kann mich auch nach der Beurtheilung nicht von der Gewohnheit lösen, eine Katze eine Katze zu

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nennen und auszusprechen, »was ist«. Die Legende von der Unabhängigkeit der Richter klingtja sehr schön; gewiß: sie sind unabsetzbar, aber sie können geärgert, bei Beförderungen übergangen und zu ewiger Beisitzerqual verdammt werden. Die berühmte öffentliche Meinung könnte helfen und aus der liberalen Halbheit ein Ganzes machen, ein unerschütterliches Bollwerk forensischer Freiheit; wo aber war im Fall Schmidt die Stimme dieser öffentlichen Meinung? Wer interessirt sich heutzutage bei uns denn überhaupt für juristische Fragen, wenn es sich nicht um sensationelle Hintertreppengeschichten handelt? Der kaum für die Bericht­ erstatter ausreichende Raum, der in unseren Gerichtssälen dem »Publikum« gewährt ist, giebt auf diese Frage die deutliche Antwort. Die deutsche Presse zetert, weil Herr Alfred Dreyfus, der Preußenfresser, in einem Landesverrathsprozeß, der in jedem Staat unter Ausschluß der Oeffentlichkeit geführt worden wäre, heim­ lich abgeurtheilt worden ist, aber sie hat - von vereinzelten Stimmen abgesehen, die meist aus dem sozialdemokratischen Lager kommen - natürlich keine Zeit, sich darum zu kümmern, ob im Deutschen Reich ein Schriftsteller hinter verschlosse­ nen Thüren nach dreitägigem Inquisitorium mit einer sechs Monate währenden Einsperrung bestraft wird, weil er in literarisch anständigen Formen zu sagen gewagt hat, was mindestens neun Zehntel des Volkes denken und was auf allen Bierbänken, in allen Amtsstuben sogar täglich beseufzt, bespöttelt und bezischelt wird. Weil ich diese öffentliche Meinung, die nur durch private Faulheiten mög­ lich wurde, eben so wie die unsichtbare Macht der Autosuggestion seit manchem Jahr kenne, weil der Fall Schmidt mir einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen hat und weil ich in einem von keiner öffentlichen Beachtung gespornten und geschützten, von keiner öffentlichen Kritik und Kontrolle geleiteten Richter­ stande die Kraft und den Muth zu übermenschlicher Leistung nicht zu finden hof­ fen durfte: deshalb gab ich, trotz dem unentwurzelbaren Bewußtsein meiner Unschuld und guten Absicht, die Sache vom ersten Augenblick an verloren... Das am vierten November gefällte Urtheil, das eine sechsmonatige Festungstrafe über mich verhängt, halte ich in allen drei Punkten für objektiv ungerecht und für unvermeidbar mit den von der selben ersten Strafkammer des berliner Landgerich­ tes I im April 1893 verkündeten Grundsätzen, die mir, dem damals Freigesproche­ nen, Richtung und Grenzen weisen mußten. Ich werde jedes gesetzliche Mittel anwenden, um dieses Urtheil zu beseitigen, und werde überzeugt sein, damit im eigensten Interesse des deutschen Richterstandes und der deutschen Publizistik zu handeln. Denn - darüber wollen wir uns nicht täuschen -: erhält dieses Urtheil Rechtskraft, dann ist es mit jeder ernsten und ehrlichen publizistischen Thätigkeit auf politi­ schem Gebiet im deutschen Norden wenigstens vorbei. Ich sage, eine Aeußerung des Kaisers habe deutlich bewiesen, daß die Bosheit ihm mit Unrecht manchmal eine Neigung zuschrieb, die einer tieferen Region entstamme, - und werde bestraft, weil ich eine Ansicht »weiterverbreitet« haben soll, die nach der Auffas­ sung des Gerichtshofes für den Kaiser beleidigend wäre und die ich, weil ich sie zwar nicht für beleidigend, aber - für politisch schädlich halte, als in erfreulichster Weise widerlegt bezeichnet hatte. Ich erwähne die Möglichkeit, die nach meiner

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Ueberzeugung unhaltbare Beschlagnahme des Artikels »Pudel-Majestät« könne die Staatsanwaltschaft zu argen Mißgriffen verleiten; der inkriminirte Artikel wird, weil er, wie festgestellt wird, nicht die winzigste Spur einer Beleidigung ent­ hält, nach fast fünf Monaten freigegeben, die Anklagebehörde hat mich also nach der Ansicht des Gerichtshofes grundlos geschädigt und bedrängt, - aber ich werde wegen angeblicher Beleidigung des Oberstaatsanwaltes Drescher bestraft, den ich nicht genannt, an den ich bei der Ausmalung kühnster Möglichkeiten gar nicht gedacht hatte. Aus einer politischen Stimmung entsteht mir nach Bismarcks Tode eine kleine Dorfgeschichte, »Großvaters Uhr«, in der erzählt wird, wie ein Bauer durch strenge Zucht, zähe Arbeit und Pünktlichkeit seine Wirthschaft in die Höhe bringt, wie der Wunder heischende Aberglaube der Dorfbewohner sich an eine alte Wanduhr klammert und ihr, nicht dem stillen und emsigen Wirken des getreuen Haushalters, das Gedeihen der Arbeit danken zu müssen wähnt, wie der Erbe des Alten sich an dem Aberglauben ärgert, die unmoderne Uhr in die Rum­ pelkammer schickt und auch später, als er sie, um seine mürrischen Leute froher zu stimmen, mit bunten Gewinden bekränzt, das längst wohl verrostete Werk nicht wieder gehen läßt. Wenn man, wie es der Ankläger wünscht, diese Vorgänge ganz einfach auf das Verhältnis zweier Hohenzollernkaiser zu Bismarck überträgt, dann hat man den folgenden »Sinn«: der alte Kaiser hat Alles selbst gemacht, Bismarcks Leistung war nicht beträchtlicher als die einer Dutzenduhr, die der Besitzer zur bestimmten Stunde aufzieht und reinigt, an des Kanzlers Gestalt aber heftete sich ein thörichter Aberglaube und Wilhelm der Erste ließ mild lächelnd den Wahn walten. Daß diese Deutung von mir nicht gewünscht oder gar beabsichtigt gewe­ sen sein konnte, daß sie Allem widerspräche, was ich je über Bismarcks Verhältniß zu seinem alten Herrn gesagt habe, hat auch der Gerichtshof erkannt und als fest­ gestellt betrachtet. Einerlei: paßt nicht der erste Theil, so paßt vielleicht doch der zweite, - und ich werde mit fünf Monaten bestraft, weil ich dem jungen Bauern, der als mit väterlicher Unrast belastet geschildert wird, Wesenszüge gegeben habe, die nach der völlig subjektiven, völlig unbegründeten Auffassung des Gerichtsho­ fes auf den regirenden Kaiser bezogen werden müssen. Der Sinn der kleinen Geschichte verträgt also die Deutung nicht, die zu einer »Identifizirung« der erdichteten mit toten und lebenden Personen nöthig wäre; thut nichts: an einer Stelle, sagen, ohne den Schatten eines Beweises, vier oder fünf Richter, habe ich dennoch »identifizirt« und muß diesen Frevel hinter Schloß und Riegel büßen. Den fünf Herren ist jede literarische Thätigkeit, die nicht für Fachzeitschriften geübt wird, ist der Zustand von der Befruchtung bis zum mählichen Werden eines lebendigen Werkes fremd und es kann mir deshalb nicht gelingen, ihnen zu erklä­ ren, daß ich einen Bauern reden, handeln und von Gesinde und Nachbarn beurtheilen lassen muß, wie ein bäuerliches Milieu es gebieterisch verlangt, und daß ich ein elender Stümper wäre, wenn ich einen Bauern so sprechen, handeln und beurtheilen ließe wie den Kaiser eines großen, modernen Reiches. Kein einziger von allen mir bekannten Juristen hielt es für möglich, daß dieser bescheidene novelli­ stische Versuch mir eine Strafe eintragen könne, allen schien dieser Theil der Anklage unhaltbar; meinen fünf Richtern schienen fünf Monate Festung eine

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angemessene Sühne für diesen Streifzug in ein sonst fremdes Gebiet, der nur eine neue Form für die alte Wahrheit finden sollte, daß man in einer dumpfsinnigen Gesellschaft ungestraft auch die Macht des Aberglaubens nicht gering schätzen darf. Was wäre aus Straußens Julian und aus Abels Theodat geworden, die wirklich »Identifizirungen« beabsichtigten, wenn wir es in Preußen vor Achtundvierzig schon so herrlich weit wie heute gebracht hätten? Was geschähe mit den Herren Fulda und Philippi, den Verfassern der auf fast allen deutschen Hofbühnen gespiel­ ten Dramen »Der Talisman« und »Das Erbe«, wenn ihnen mit dem selben löbli­ chen Eifer wie mir Herz und Nieren geprüft würden? Aber ich vergesse: diese Her­ ren sind eben nicht »mißliebig« und werden deshalb gar nicht erst angeklagt. Auch der Verfasser des » Caligula« wird nicht vor den Richter gestellt. Von mir aber wer­ den drei Tage lang in geheimer Sitzung ungefähr vierzig Artikel vorgelesen, die ich im Laufe von sieben Jahren in verschiedener Stimmung geschrieben habe und von denen kein einziger auch nur inkriminirt worden ist; sie sollten meine »Tendenz illustrieren«. Ich verpflichte mich, mit Hilfe dieser allerliebsten Methode gegen den Redakteur jedes Blattes eine Anklage zu begründen, und nehme dabei weder die Norddeutsche Allgemeine noch die Kölnische Zeitung, sondern höchstens den Reichsanzeiger und das Kleine Journal aus... Die voll und ganz liberale Presse der Reichshauptstadt sollte sie von ihrem Haßgefühl gegen mich nicht verblenden las­ sen; sie hat den Fall Schmidt totgeschwiegen und findet jetzt über das Dreitage­ werk kein armes Wort. Hier aber handelt es sich nicht um die gleichgiltige Person, sondern um die sehr ernste und sehr wichtige Sache; es kann auch einmal anders kommen: selbst den großen Grafen Caprivi hat eines Tages ja ein Liebenbergwind weggeweht. Mich mögen die guten Leute beschimpfen; was liegt an mir? Das gegen mich verhängte Urtheil aber sollten sie mit allen erreichbaren Waffen bekämpfen; wenn es in Leipzig bestätigt wird und Rechtskraft erlangt, ist für einen ernsten politischen Publizisten im Deutschen Reich künftig kein Raum. ... Ich bin müde und schließe für heute. Während des Prozesses und nach der Urtheilsverkündung habe ich ein paar hundert Briefe, sehr viele Telegramme und Blumengrüße erhalten, die mir beweisen, daß außerhalb des Holzpapierbereiches die Bedeutung der Sache empfunden worden ist. Ich kann nicht jedem Einzelnen danken und muß mich darauf beschränken, hier meiner dankbaren Freude Aus­ druck zu geben. Freundliche Sympathiebeweise können uns allein aber nicht zu besseren Zuständen helfen. Drei Tage lang saß ich auf der Anklagebank; es ist Zeit, daß dieser unbehagliche Sitz jetzt den Trägern und Schützern der wichtigsten Rechtsinstitutionen eingeräumt wird.

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OSKAR PANIZZA EIN JAHR GEFÄNGNIS

MEIN TAGEBUCH AUS AMBERG Auszüge (1895)

Wen hassen sie am meisten? Den, der zerbricht ihre Tafeln der Werte, den Brecher, den Verbrecher. Das aber ist der Schaffende. Nietzsche »Weiter! Marsch! Vorwärts! Spenzer anziehen! Da ’naus! Als vorwärts! Dort ’nüber! Nicht hinfallen (ich stürze mit den nägelbeschlagenen Schuhen auf die steinerne Stiege)! Vorwärts! Weiter! Da ’naus! Halt! Stehenbleiben! Daher! Vor­ wärts! Marsch! Da ’rein!« - mit diesen und ähnlichen im brutalsten Kasernenjar­ gon vorgebrachten Schimpf-Advertissements werde ich die ersten Tage zwei-, drei­ mal aus der Zellenabteilung hinüber zum Direktor oder Assessor zitiert. Dort, im Büro, entschiedene Höflichkeit, ausgesprochenes Wohlwollen. Die Einzelheiten des Verfahrens gegen mich, Beschäftigung, Kost, Spazierengehen und dergleichen werden in Form des Parlamentierens, nicht des Kommandos durchgenommen. Ich werde per »Sie« angesprochen. Und alles geht bei beiderseitigem aufrichtigem Willen glatt. Kaum ist die Türe hier geschlossen, empfängt mich wieder der baye­ rische Höllenhund mit: »Marsch! Daher! Vorwärts! Was hat’s denn ’geben? Was bist denn? E Doktor? Was für’n Doktor? Der Medizin? Wieviel hast denn? AJahr? Z’wegen was denn? Weg’n an Buch? Weiter! Marsch! Vorwärts! Was treibst denn! Was hast denn da für Bücher kriegt? Gelt, du studierst Täologie? Bist a Dichter? Marsch! Weiter! Vorwärts! Da ’naus! Nicht hinfallen! Dort ’nüber!...« - ein fürch­ terlicher Schlag, als bräche die ganze Hölle zusammen: meine Zelle ist zugesperrt, und ich bin - Gott sei Dank! - wieder allein.

Der Mond kommt heraus. Wie eine überreife Pomeranze schwebt er dort am Rand der Berge, gelb, brünstig, vollgeladen, angstvoll wie ein schwangeres Weib. Diesen Weltkörper konntet ihr uns nicht nehmen, diesen Blick in die Ewigkeit, diese kolossale Projektion unserer Seele. Ich erkenne plötzlich die Welt wieder und ihren Zusammenhang und sehe, daß aller Kummer hier nur der Ausdruck einer niede­ ren, gedrückten, ummauerten Zuchthausbetrachtung ist. Ja, aber, sapperlot, warum wird er nicht mit Tüchern verhängt? Sind das schlechte Psychologen! Der einzige Blick macht ja den Gefangenen federfrei! - Das ginge doch nicht. Der Mond bewegt sich doch. - Ja, aber mit ein paar schwarzen Tüchern ließe sich doch das erreichen. Sapperlot, die Phase ist doch ganz kurz, mit ein bis zwei Meter schwarzer Serge entziehe ich dem Bewohner dieser Zelle den ganzen Mondlauf. Es sind aber doch fast 40 Zellen auf der ganzen Seite. - Ei nun, man schiebt eben dann die Tücher an einem aufgehängten Strick hin und her. - Dazu wäre aber doch

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wieder ein eigener Mann nötig. - Nun, so gut einer nachts herumgeht, um zu sehen, ob sich keiner aufgehängt hat, kann er doch auch diese Mondtücher schie­ ben. - Es geht doch nicht, es sind doch noch andere Gefängnisgebäulichkeiten da, die man auch den Mond nicht sehen lassen dürfte. - Gut, man macht es eben drau­ ßen am Feld, mit einer einzigen Stellage. - Das käme doch ziemlich teuer. Das viele Tuch! - Ach, man verwendet die Chorröcke der Geistlichen oder das Umhüllungs­ tuch vom Schaffot. - Und dann, der Mond steigt doch in den folgenden Nächten höher. - Ei nun, man schiebt eben dann die ganze Vorrichtung hinauf. - Das wäre doch eine ganz komplizierte Geschichte. Es müßte auch feuerfest und sturmsicher gebaut sein für die schlechten Zeiten und müßte astronomisch konstruiert sein, um die Mondphasen ganz zu treffen und sicher zu verhüllen. Dann die Bedie­ nungsmannschaft. Es würde ein förmliches Observatorium. Was das den Staat kosten würde! - Ja, das ist richtig, es hapert am Geld. - Welche Pracht! Welches Entzücken! Guter Mond, du gehst so stille Durch die Abendwolken hin.

Ich bin frei! Ich bin glücklich! - Nein, daß der Staat diese Marter außer acht lassen konnte!

Aus den Beschreibungen der Nordpolexpeditionen wissen wir, welch’ eigentüm­ liche Erscheinungen in bestimmten Breitengraden beim Atmen eintreten; wie klirrend dort der Hauch den Reisenden aus dem Munde strömt, einer weißen Wolke gleich; wie gefährlich das Schneuzen, Abwischen des Mundes und derglei­ chen wird, da hier sogleich die Gefahr des Zusammenfrierens mit der Haut, mit der Lippe, mit dem Gesicht entsteht, und wie ein ganz bestimmtes Verhalten, eine förmliche Instruktion an die Reisenden, nötig wird, um sie vor unangenehmen Folgen zu bewahren. Das ist am Nordpol. Aber es gibt Länder, wo viel merkwürdigere Dinge mit dem Hauch des Mundes vor sich gehen, wo auch der Atem gefriert, aber in ganz anderer Weise. Mancher möchte meinen, daß diese Länder im Fabelland liegen. Als ein echter Deutscher träume ich hie und da im Gefängnis. Und da passieren dann ganz merkwürdige Dinge. Da schien es mir neulich, ich befände mich in einer großen nördlichen Stadt, etwa Hamburg oder Stockholm. Es war sehr kalt, und die Leute huschten mit Fäustlingen und Pelzkappen lautlos durch die Straßen. Die Laternen waren angezündet, obwohl es Tag war. Der Nebel hing wie schmut­ zige Vorhänge in der Luft. Die Bewohner dieser Stadt, das war mir sofort klar, waren auf ihr Klima sehr wohl eingerichtet. Sie atmeten durch die Nase, wo die Luft nicht plötzlich, sondern vorgewärmt in Kontakt mit der Außenwelt tritt. Und sie hielten sich feine Taschentücher vor den Mund, damit von hier keine direkte Luft ausströme. Aber andere, so sah ich, atmeten kühn und offenherzig durch den Mund. Und sofort bildete sich in dieser nördlichen Region ein harter

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gefrorener Stab an ihren Lippen. Kaum war aber dies geschehen, als von hinten ein Schutzmann erschien, den Betreffenden an seinen Lippenauswuchs packte und mit sich fortführte. »Komm herzu und siehe, was mit ihm geschehen wird«, sagte der Traumgott zu mir. Ich eilte rasch hinter den beiden drein, zumal auch alle anderen, die Nasenatmer dieser Stadt, kopfschüttelnd und verwundert stehengeblieben waren und uns nachsahen. Bald kam ich an einen Platz, wo viele Dutzende dieser Mundatmer an ihrem gefrorenen Lippenauswuchs herbeigeführt wurden. Viel Volk umstand mit leisem, flüsterndem Nasenatmen, zornigen Blicken und klopfenden Schläfen diesen fabelhaften Aufzug. Alles, die Gefangenen und viel Volk, strömte in einen großen Saal. Dort wurden die armen Missetäter einzeln den Richtern vorgeführt und erhielten, je nach der Qualität ihres Mundatmens, der in deutlich gefrorener Gestalt vorlag, schwere Strafen: sechs Monate, zehn Monate, ein Jahr, ein Jahr sechs Monate, zweiJahre, dreijahre, bis hinauf zu achtjahren Gefängnis. Ja, selbst aus den Wirtshäusern schleppte man die Armen herbei, die dort in einem unbe­ wachten Augenblick zwischen Lippe und Kelchesrand etwas Atemluft durch den Mund hatten entströmen lassen. Und auch aus den Reihen der gaffenden Zu­ schauer riß man diejenigen heraus, die über das Atmen ihrer Mitmenschen geat­ met hatten, wobei sich sofort der kalte, gefrorene Auswuchs an der Lippe, wenn auch in verjüngtem Maßstab, bildete. »Was ist das?« rief ich, mich an den Traumgott wendend, »wo sind wir?« »Erkennst Du’s nicht?« antwortete dieser, »wir sind hier in der Region der Majestätsbeleidi­ gung. Die vorsichtigen Leute atmen hier durch die Nase. Die Gedanken, die durch die Nase strömen, geben keinen Laut und können nicht gefaßt werden. Wir sind im Land der Gedankennichtverlautbarung. Gedanken, die durch den Mund strö­ men, erzeugen ein klapperndes Geräusch, weil sie hier mit dem Kehlkopf, mit Zäh­ nen, Zunge und Lippen in Berührung kommen. Und in dieser Region gefriert diese Form des Atmens und wird eine Handhabe, an der man den Betroffenen vor dem Strafrichter und ins Gefängnis führt. Nimm dich in acht: auch die Verlautba­ rung über das Atmen, das Atmen über die bereits begangene Maj estätsbeleidigung, führt hier ins Gefängnis.« »Das Abstraktum der Majestätsbeleidigung?« rief ich voll Schmerz und erwachte - - und befand mich im Gefängnis. Zwei literarische Notizen. Als einer der Beamten meine Bücher sortierte, legte er fünf Bände auf einem Pack zusammen - ich glaubte schon, selbe würden mir nicht verabfolgt werden. Dann nahm er sie in die Hand und sagte, indem er mir sie mit einigem Schmunzeln übergab: »Diese fünf Werke, von denen ich glaube, daß sie einer allgemeinen, höheren Geistesrichtung entsprechen, werden Sie weder jetzt irgendwo in Amberg treffen, noch dürften sie früher zu irgendeinem Zeitpunkt hier gewesen sein, noch werden Sie selbe in alle Zukunft - auch wenn die Stadt unter eine andere Regierung käme - jemals antreffen. Diese geistigen Ströme rau­ schen an unserer Stadt vorbei.« Ich war sehr begierig, welche Werke der Beamte ausgewählt haben mochte. In meiner Zelle angekommen, betrachtete ich sie sofort. Es war ein Band von Carlyle, der die »Lectures on Heroes« enthielt; es war

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Dostojewskis »Raskolnikow«; ferner Benjamin Kidd: »Soziale Evolution«, William James: »Principles of Psychology« und Stirner: »Der Einzige und sein Eigentum.« - Amberg ist eine Stadt von über 20 000 Einwohnern mit Gymnasium und Garnison - rein katholisch. Die hiesigen protestantischen Gefangenen erhalten durch Vermitllung ihres Geist­ lichen auf Wunsch, gegen Entgelt eines minimalen Beitrags ihres Arbeitslohns, jede Woche ihre Zeitung. Dieses Blatt bringt neben erbaulichen und belletristi­ schen Betrachtungen die hauptsächlichsten politischen Mitteilungen, so daß, wenn zum Beispiel ein Krieg zwischen Deutschland und Frankreich ausbräche, die protestantischen Gefangenen die Hauptschlachten, Bewegungen der Armeen und Proklamationen erführen. Und die katholischen Gefangenen? Erhalten nichts. Gar nichts? Gar nichts! So daß wenn ein Katholik nach zehnjähriger Anwe­ senheit von hier fortkommt, er ein weltfremder Mensch geworden ist. Ich bemerke, daß es sich hier nicht etwa um eine Stellungnahme gegenüber dem ame­ rikanischen Gefängnis-System handelt, welches zum Beispiel in dem großen New Yorker Gefängnis Sing-Sing die Gefangenen systematisch mit Lektüre überschüt­ tet - derartig frische Luft braucht, bis sie über den Ozean nach Deutschland kommt, über ein Jahrhundert, dann wird sie erst diskutiert - nein, es handelt sich einfach um das im Protestantismus steckende Bildungsprinzip, um die Aufklärung gegenüber dem im Katholizismus steckenden quietistischen Prinzip, dem Prinzip der Unwissenheit. Und die hiesigen katholischen Gefangenen erhalten gar nichts zum Lesen? Sie erhalten wie die Protestanten ihre Bibel, Katechismus, Gesang­ buch und außerdem ein kleines Gebetbüchlein, in dem ihnen gegen soundso oft­ maliges Herleiern von stupiden Gebeten an die Brüste der Maria Nachlaß von soundso viel hundert Jahren Fegefeuerstrafen - leider keiner zeitlichen Strafen versprochen wird. Ich bitte dich, Leser, denke dir die Situation - so ein armer Kerl in seiner schmalen Zelle mit diesem geistigen Gehalt allein gelassen. Wenn ein Historiker in hundert Jahren nichts weiter wie diese Notiz hätte, müßte er auf der Karte von Deutschland die Verteilung der Intelligenz einfach unter Zuhilfenahme der Religionsverteilung mit Farbe kreidig anstreichen können. Ich war heute beim Abendmahl. Nun, ich muß sagen, ich glaube jetzt auch, daß der Mensch aus zwei Dritteln Magen, ein Drittel Imagination und ein Sechzehntel Geist besteht. Obwohl ich nicht ein Gleichgültiger, sondern ein ausgesprochener Feind des Christentums bin, hat mich der Vorgang mächtig erschüttert. Gerade unter diesen leinenkittelnen Sträflingen, die, wie nur irgend die Insassen der Fran­ keschen Waisenhäuser in Halle, ihren Abendmahlschoral sangen. Wie gezähmte Hektoren knieten sie dort auf ihren Abendmahlschemeln, diese Propagandisten der Tat in fremden Hosentaschen, und zeigten vorne die Zähne, hinten die eisenbe­ schlagenen Schuhe. »Nehmet hin und esset, dies ist mein Leib, der für euch gege­ ben wird. Nehmet hin und trinket, dies ist mein Blut, das für euch vergossen wird.« Ist das keine passende Feierlichkeit für Galgenstricke und Wegelagerer? Nehmet! Nehmet! Nehmet und esset! Nehmet und trinket! Mehr wollen sie ja nicht! Das tun sieja auch! Eine prächtige Symbolik, die diese Leute sehr gut verste­ hen. Es war ein mächtiger Eindruck. Der Zugang war fakultativ. Ich ging erstens,

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weil ich dem Pfarrer eine Freude machen wollte, der mich mit vieler Liebenswür­ digkeit behandelt; zweitens, weil ich mir eine Freude machen wollte, indem ich die Sensation genießen wollte. Ich habe es nicht bereut. Es war großartig. Und der Wein war gut. Ein Schluck Wein in dieser Einöde von Grießsuppen, Hafergrütze und Brennmehl. »O Lamm Gottes unschuldig, am Stamm des Kreuzes geschlachtet, allzeit gefunden duldig, wiewohl du wardst verachtet: all Sünd’ hast du getragen, sonst müßten wir verzagen. Gib uns den Frieden, o Jesu!«

Denke dir, Leser, zu diesen larmoyanten Versen einen dumpfen Zellenraum als Annex einer Kirche, durch Gitter gegen diese verschlossen, ausgetüncht mit Mör­ tel, der den Gesichtern eine graue, ungesunde Farbe gibt. Und in dieser Zelle ein Dutzend Häftlinge mit blöden, zerfressenen Gesichtern, in graue Leinenkittel gekleidet, die dumpf, monoton, zwangsmäßig, ohne Orgelbegleitung die obige Strophe aus dem Jahr 1526 zu einer quälenden, schleppenden Melodie aus dem Jahr 1542 singen, ohne Rhythmus - da die Melodie keinen hat, ohne Gefühl - da die ewig gleichen Wiederholungen nur stumpfe Todesahnungen wecken, ohne Tonfall - da die ersterbende Tragik nur Gewinsel und mitleidiges Glucksen erlaubt. Und du hast, Leser, einen Begriff, was hier im Gefängnis das Gemüt für Eindrücke empfängt. Wer hat diese metzgermäßige, blutige Auffassung des Überirdischen in die Gefühlswelt der Menschen eingeführt? Wer hat diese Schlachthausgerüche und Tierabstechungen als Symbole für Erbarmen und Mitleid den Menschen vor­ gezaubert?! Geschlachtete Lämmer! Für wen? Für mich? Für meine Sünden? Meine Sünden mache ich mit mir aus und stehe der Gesellschaft Rechenschaft. Und diese Henkersgesänge, diese behaglichen Abschlachtungen von Lämmern und Menschen, mit Weihrauchduft und Rosmarin gewürzt, sollen nicht verrohend auf euer Gemüt wirken? Tierschutzverein, ich rufe dich um Hilfe gegen diese Anpreisungen von Metzgerleistungen gegen arme Tiere! Seid ihr deshalb so grau­ sam gegen die armen Leute, die armen Säugetiere, Arbeiter genannt? Weil ihr seit 2000Jahren soviel Blut getrunken? Herr Gott in deinem Reich! Nie, nie ist mir das Christentum so erbärmlich, so hilflos, so miserabel vorgekommen wie heute mor­ gen, als ich die armen Gefangenen diese Verse mit vertrocknetem Pathos singen hörte. Die Kost ist ungenügend. Kübel voll Suppe werden hingestellt, in denen sich keine entsprechende Nahrung befindet, deren Zusammensetzung den Verdauungsorga­ nen nicht gemäß ist oder deren Geruch und äußerliche Präsentation den Empfän­ ger zurückschaudern läßt. Nach Buchbinderpapp riechen die meisten Suppen. Und es gibt nur Suppen. Die Qual des Würgens ist unsäglich. Infolgedessen sehen

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die meisten Gefangenen aus, als kämen sie aus Särgen. Nur einen wirklich gutge­ nährten sah ich, und der war in der Küche beschäftigt. Ich weiß doch nichts davon, daß ein Urteil lautet: ein Jahr Gefängnis mit Gewichtsverlust des Körpers um drei­ ßig Pfund oder bis man die Rippen sieht. Schlauerweise wird auch nie ein Gefange­ ner gewogen, weder beim Eintritt noch beim Austritt. So fällt die Kontrolle weg, und mit der Kontrolle die Verantwortung. Einmal im Jahr kommt der Regierungs­ referent. Aber was kann innerhalb eines Jahres geschehen? Krummschließen, Kuttentragen und wochenlanger Dunkelarrest tun das ihre. Auf den Schanzen, so sagte mir einer der Beamten, kommen Dinge vor, wo sie Grausen empfänden. »Aber man wird sich hüten, Sie, einen Mann der Feder, dorthin einen Blick tun zu lassen.« Dutzende von Briefen wurden an Abgeordnete, besonders an Vollmar, geschrieben. Alle wurden zurückgehalten. Stirbt einer, kommt er auf die Anato­ mie. Fidelio gibt es keinen mehr, aber Florestane gibt es immer noch. Es ist alles gesetzlich. Es ist nichts gegen das Gesetz. Die Verordnungen stützen alles. Ich wüßte nicht gegen einen der Beamten einen speziellen Vorwurf anzubringen. Es ist das System, was ich verdamme. Der Staat ist verpflichtet, den Gefangenen in gleicher körperlicher und geistiger Verfassung der Welt zurückzugeben, wie er ihn erhielt. Koste es, was es wolle. Nur den Verlust der Freiheit darf er ausüben. Aber wo lebte der Minister, der auch nur die Empfindung für das besäße, um was es sich handelt? Das einzige wäre, daß man sich hinter die Anatomie-Professoren stellte, daß die einen einmütigen Protest an den Kultusminister richteten gegen den uner­ hörten Zustand der Abmagerung, in dem die Zuchthaus- und Gefängnisleichen bei ihnen abgeliefert werden und der nicht einmal eine ordentliche Präparation der Muskeln gestattet. Leider, leider ist mit dieser Abmagerung ein großer Übelstand verbunden: die Psyche wird präponderierend in einer Weise, die gefahrdrohend wird. Was bei der Askese überhaupt, was bei all den Hexen, Besenreitern und Somnambulen eintrat, die meist durch Armut und Nahrungsmangel heruntergekommene Mädchen aus dem Volke waren, das tritt auch hier ein: die Psyche wird hell, schlüpfrig, sie gleitet durch, sie wird transzendental, sie wird transluzent; die Widerstände eines gesät­ tigten, konsistenten Gehirns fallen weg. Die Schranken fallen und eine Tätigkeit auf eigene Kosten beginnt. So rächt sich, was die Gesamtheit an dem einzelnen ver­ bricht. Die Gesamtheit ist dafür verantwortlich, wenn der einzelne, wenn ganze Volksklassen dem Verhungern nahe kommen. Und der einzelne oder eine arme Visionärin rächt sich, indem sie die Gesamtheit psychisch vergiftet und geträum­ ten Sabbatspuk für reale Tatsachen ausgibt.

Strafvollstreckungsgefängnis heißt man im offiziellen Jargon unsere Anstalt. Der Staat hat keine Ahnung, was er damit sagt: Strafe voll Streckung, die Strafe voll strecken. Der Ausdruck kommt aus der Zeit der Tortur und der körperlichen Stra­ fen. Der Richter befahl, die ausgesprochene Strafe am Körper ganz strecken, das heißt den Körper ad maximum strecken, bis Sehnen und Bänder krachen. Heute wird nicht mehr der Körper gestreckt, sondern die Seele wird gestreckt, bis sie kracht, das heißt bis sie verblödet oder vermatscht ist. Die Folge war unausbleib-

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lieh, nachdem es für schimpflich galt, Körper schmerzlich zu berühren. Weil die Seele nicht direkt schreit, sondern langsam wie der Frosch, den man im Glas hält, sich mit einer grünen Haut überzieht und schließlich verstummt, hielt man dies für vornehmer. Aber ich fürchte, die Menschheit hat einen schlechten Tausch gemacht. Und die Durchstechung der Seele ist ein schlimmeres Ereignis als die Daumenschrauben und Rutenstreiche. Nach dem Gesetz der Retaliation muß den Täter dasselbe treffen, was er verübt hat. Wer den anderen ersticht, soll wieder ermordet werden. Obwohl dies psychologisch ganz falsch ist, hat es doch einen gewissen Grad von Vernünftigkeit für sich. Daß manjemanden, der ein kriminelles Buch schreibt, wozu er ein halbesjahr braucht, ein halbesjahr lang einen Schmerz erleiden läßt, hat ebenfalls ein großes Maß von Vernünftigkeit für sich, weil hier die Zeit gegen Zeit steht. Aber daß man jemand, der einen anderen im Affekt ersticht, lebenslänglich Schmerz erleiden läßt, das ist absolut pervers. Und gerade das ist die Glorie unserer heutigen Strafrechtspflege. Für die Meditation und Seelentätigkeit einer Sekunde jemandes Seele 60 bis 70 Jahre, bis zu seinem Tode, einen dumpfen Schmerz erleben lassen und ihm die Hoffnung, das einzige Agens der geknickten und zerschmetterten Seele, auslöschen, ist eine so furchtbare Handlung, daß alle Torturen und Hexenverbrennungen, Flechtungen und Olsiedungen, die doch über eine halbe Stunde kaum hinausgehen, dagegen verschwinden. Ich rede hier nicht von der Staatsräson und den Forderungen einer einheitlichen Strafrechtspflege, sondern ich rede von der Anwendung eines Vernunftsprinzips. Das Umsetzen in geistige Werte, die brutale Handlung in soundso vielejahre See­ lenverbitterung umrechnen, ist in obigem Fall, wo Todesstrafe in lebenslängliches Zuchthaus umgewandelt wird, auf die höchste Spitze getrieben. Seelenmißhand­ lung von einem Monat oder einem Jahr wird Einheitsmaß und alles, was vor­ kommt, dahin umgerechnet. Dieses Umsetzen in geistige Werte, von materiellen Handlungen in ein geistiges Äquivalent, ist eigentlich ein altes katholisches Prin­ zip. Hundert oder fünfhundert Geißelhiebe waren gleich soundso viele Jahre Fegefeuerpein, und Herunterschnurren der sämtlichen Psalmen brachte soundso viel Erlösung von Jenseitsqualen, mit obligatem Geißelschlag aber mehr, und mit einem stachligen Panzer am Leib noch mehr. Je mehr materielle Schmerzen hier, j e mehr geistige Freuden dort. Die Leute brachten Tausende von gewonnenen Fege­ feuerjahren zusammen. Und der gute Dominikus Loricatus aus dem 11. Jahrhun­ dert könnte davon erzählen. Dann kam Luther und sagte: Willst du die Seligkeit, etwas Geistiges, erlangen, mußt du etwas Geistiges tun: glauben. Die Werke sind nichts nutz. Das neue Prinzip schlug wie ein Funken durch die Welt. Und hundert Jahre später lehrte Descartes: Das Reich der Geister, des Gedachten, und das Reich des Materiellen, des Ausgedehnten, haben überhaupt nichts miteinander zu tun, sie sind auf ewig getrennt. Vom Vernunftsstandpunkt aus muß also das Prinzip, für eine Augenblickshandlung das geistige Leiden eines ganzen Lebens als Buße treten zu lassen, ein furchtbares genannt werden. Es ist vom Standpunkt des Naturrechts aus wie für jede einfache Überlegung geradezu sinnlos, borniert. Und es repräsen­ tiert in der Tat nichts anderes als eine abstrakte, juristische Buchstabenüberlegung, die sich von der Natur und ihrer Betrachtung grundsätzlich abgewandt hat.

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Als zweiter Einwand gegen die unmäßigen, über fünf Jahre hinausgehenden Zuchthausstrafen erweist sich die Tatsache der Veränderung der Psyche, worauf ich schon zu sprechen gekommen bin. Die Seele eines jugendlichen Gefangenen verändert sich schon nach Monaten, geschweige nach Jahren, geschweige nach Jahrzehnten. Wie kann man einen Menschen, der mit 20 Jahren einen Mord begangen und 15 Jahre Zuchthaus erhalten, mit 35 Jahren noch für eine so vergan­ gene Tat verantwortlich machen? Schon nach 5 Jahren ist er ein ganz anderer geworden. Einem jungen Menschen von 20 Jahren aber für eine Augenblicks­ leistung - prämeditierter Mord - eine Mortifikation von etwa 60 Jahren - lebens­ längliche Zuchthausstrafe - aufzuerlegen, ist ein so furchtbarer Gedanke, daß man zum Heil der Menschheit sagen kann, daß er überhaupt nicht das Resultat eines Gedankens ist, sondern die Anwendung eines rein mechanischen Zahlenbegriffs. Oder er stammt aus einer Zeit, in der man glaubte, das Leben begänne überhaupt erst nach dem Tode. - Ich bin wohl kein Jurist? Nein! Hier liegt ja eben der Vorteil. Das konnte ich nicht gleich beschreiben, wie ich zum erstenmal hinunter in den Spazierhof kam und dort in einem engen, eingepferchten Raum - auf der einen Seite das Zellengebäude, auf der anderen eine hohe Palisadenwand - mit einer Herde eingefangener Gorillas, dehen man Leinenkittel angezogen hatte, rundum im Kreise tripp-trapp Karussel laufen sollte. Man war mit mir gnädig und gestattet mir, statt der Karussellbahn einen Radius zu begehen. Auf und ab, hin und wieder. Trotz meines sonst sehr geweckten anthropologischen Interesses konnte ich es wochenlang nicht übers Herz bringen, diese Visagen auf ihre wissenschaftlichen Indizes zu prüfen. Nur auf die Schatten wagte ich zunächst meine Neugier zu rich­ ten, die mich hier umgaukelten.

»Rundum herum im Kreise, Die tanzten einen Kettentanz Und heulten diese Weise: Geduld, Geduld, wenn’s Herz auch bricht, Mit Gott im Himmel hadre nicht.« Da war ein Preuße. Ein schlanker, hochgeschossener Bursch mit schöner Stirn. Der einzig anständige Mensch. Alles übrige kurzköpfiges, heimtückisches, kelti­ sches Gesindel, ohne Wagemut auf der Stirne, mit kleinen hinterlistigen Äuglein, den Kopf eingezogen zwischen den Schultern, riesenmäßige bajuwarische Buckel - ein Igelgeschlecht, wo das Köpfchen, gerade noch, an einem Ende erscheint, Hamster, die im Dreck wühlen, Erdenwürmer, die nichts mit dem Himmel zu tun haben, unfähig der Resignation, unfähig der Spekulation. Alles ist rasiert. Alle Her­ zensfalten treten hier deutlich zu Tage. Alles ist geschoren. Die Intelligenzen kom­ men hier zum Vorschein. Alles trägt den gleichen Drillichanzug. Es ist wie am Jüngsten Tage. Jeder kommt mit seinen paar Knochen und seinem Sterbehemd und die guten und bösen Taten, das Schuldbuch, das Buch des Lebens, liegt oben beim Direktor im ersten Stock. Der hat drei Monate Fegefeuer, der sechs Monate,

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jener ein Jahr, ein anderer ein Jahr sechs Monate, und wieder ein anderer gar zehn Jahre. Und keine Maria hilft. Kein Rosenkranz, kein Weihwasser, keine Lichter, keine Seelenmessen. Diejenigen, die Bärte tragen, sind schon erlöst oder werden demnächst erlöst. Geheime Zeichen werden ausgetauscht, es wird geschnalzt, ge­ pfiffen, grimassiert, gekratzt und gespuckt. Es ist die Gorillasprache. Und alles dreht sich um eine läppische, dumm-knifflige Art, den Aufseher zu ärgern, oder um eine Prise Tabak. So schnalzt und faucht dieser Kreis der Verdammten um mich her. Gott! Was ist denn das? Was ist denn das für ein Schatten mit dem krummen Bein da? Diese verzwickte Silhouette? Gott, das bist ja du! Du bistja auch ein Gorilla. Im Leinenkittel. Und sieh nur, wie die anderen herüberfletschen. Die haben dich längst erkannt! Um Gottes willen ruhig! Ruhig! Wir sind hier auf der zoologischen Station. Es ist hier eine Art Urzustand der Menschheit. Und der dort mit seinen gewichsten Stiefeln und enganliegenden Beinkleidern und dem Uniformrock? Ruhig! Ruhig! Das ist Adam. Wir sind hier im Paradies. Er zählt gerade die Tiere und gibt ihnen Namen. Wir sind nach dem Sündenfall. Und man trägt Kleider aus Bast.

Dies hier ist eine Rasse sui generis. Ein Maulwurfs- und Rattengeschlecht, welches den Boden der Gesellschaft unterminiert, Löcher gräbt, alle Wurzeln des Gedei­ hens abfrißt, jeder Kultur widerstrebt, jeden Bildungsstand verneint, von dem Wert des Gesetzes nichts weiß und nichts wissen will, sich im Geheimen die Hände drückt und kabbalistische Zeichen und Gesten macht - eine verschworene Gesell­ schaft, die nicht nach Politik, Landesfarben oder Sprache, sondern von Gefängnis zu Gefängnis, von Zuchthaus zu Zuchthaus, von Strafanstalt zu Strafanstalt rech­ net und spekuliert. Lese ich die verschiedenen Definitionen der Sozialdemokraten, wie sie in konservativen Blättern jetzt gerade erscheinen, so muß ich sagen: hier, hier in Amberg und in anderen Detentionsanstalten, da leben eure Sozialdemokra­ ten, wie ihr sie euch denkt, das sind die Umstürzler, das sind die Feinde von Gesetz und Ordnung, von denen ihr immer sprecht, die nie zu versöhnenden Feindejeder Kultur. Nehme ich dagegen die Partei-Sozialdemokraten, die politisch organisier­ ten Arbeiter, wie wir sie in ihren öffentlichen Versammlungen sehen, so komme ich unweigerlich zu dem Schluß, daß eben sie den hiesigen Menschen gegenüber, mit denen sie doch vielfach den gleichen Ständen angehören, ein enormes Bil­ dungselement repräsentieren. Gerade unsere Parteileute mit ihrer kühnen Gedan­ kenarbeit im hellen Tageslicht, mit ihrer Zucht, mit ihrer oratorischen Erziehung, mit ihren Lehrkursen und ihrer Bildungsverbreitung, mit ihren Büchern und Pressen, mit ihren Entbehrungen und ihrem Eintreten für Ideale, die die heutige Generation nicht mehr erreichen wird, mit ihrer Sparsamkeit und ihren Unter­ stützungskassen, mit ihren Entscheidungen in den letzten und höchsten Fragen der Kunst, Philosophie und Literatur und nicht zuletzt mit ihrer strikten Beobach­ tung der Gesetze, besonders der Gesetze, die die Gesellschaft garantieren - gerade sie, gerade die Hunderttausende von Angehörigen der niederen Stände, die diese enorme Zucht haben und über sich ergehen lassen, sie sind die Erhalter, und die

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Leute, die ich hier um mich sehe, das sind die bildungslosen, bildungsunfähigen Umstürzler.

Die Stimmung der hiesigen Gefangenen und ihr Verkehr mit dem Direktor und den Beamten war mir lange Zeit ein Rätsel. Die meisten, wenigstens die den Bauernkreisen entstammenden Häftlinge betrachten ihren Aufenthalt keineswegs als Sühne, sie würden eine moralische Erörterung im Hinblick auf Schuld und Sühne gar nicht verstehen, sie sehen ihren Aufenthalt lediglich als ein zufälliges Unglück an in einer Sache, in der das gesamte Volk (der Bauern) auf ihrer Seite steht. Daher ihr teils humoristischer, teils höhnischer Verkehr mit dem Direktor, den sie duzen und dem einen Schabernack anzutun ihre höchste Freude ist. Man sieht hier das Grundelement des Volkes, der ganzen Nation, nämlich die großen Instinkte, die berechtigte Selbstsucht, die berechtigte Selbstverteidigung und der­ gleichen, was alles in jedem, auch dem Gebildetsten lebt, zum Ausdruck kommen. Man erlebt die Freude über einen gelungenen Anschlag, an einer brutalen Hand­ lung und dergleichen. Selbst die Aufseher, die denselben ländlichen Kreisen ent­ stammen, können sich dem nicht entschlagen und sympathisieren bei Erzählung der Gaunerstücke mit ihren Gefangenen. Ja, selbst dieBeamten und besonders der Direktor muß, wenn er nicht den ganzen Tag mit Zwangsmitteln vorgehen will, was auf die Dauer ganz unhaltbar wäre, auf diese heiter gestimmte Lebensauffas­ sung der Sträflinge eingehen, deren unsichtbarer Untergrund die Zufälligkeit aller Geschehnisse im Leben ist und die jenen eigentümlichen Diskurs und Verkehr erzeugt, der dem Neuling ganz unerklärbar ist. Ein Mensch wie ich gilt hier als Kopfjäger, als einer, der einen Sparren hat, als »Professor«. Die Aufseher können nicht den Ton finden, mit mir zu reden. Und auch den Beamten bin ich ungelegen, weil sie einen neuen Modus des Verkehrs erfinden müssen. Der Protestantismus kann die revolutionäre Grundlage, auf der er sich entwickelt hat, auch in seinen Kirchenliedern nicht verbergen. Wo, in welcher Religion und welchem Lande, kann man solche Heerrufe hören wie im Luthertum: »Auf, Christenmensch, auf, auf zum Streit! Auf, auf zum Überwinden! In dieser Welt, in dieser Zeit ist keine Ruh’ zu finden. Wer nicht will streiten, trägt die Kron’ des ew’gen Lebens nicht davon.«

Hier ist kein Quietismus, keine Beschaulichkeit. Obwohl den Dichter (Johannes Scheffler, 1624-1677) ein ganzes Jahrhundert von der eigentlichen Reformations­ zeit trennt, hört man doch noch die heftigen Kampfesrufe, mit denen sich Deutschland unter dem gesteigerten Interesse der umwohnenden Nationen der blutigen, blutaussaugenden geistigen Umklammerung des Welschtums im Den­ ken und Fühlen zu erwehren sucht. Zwar wird immer der Teufel genannt, die

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Hölle, der Antichrist. Aber das Volk verstand längst dieses Quiproquo. Der Teufel, das war der rasierte Kardinal in Rom. Wie mögen zu den Weihrauchschwaden und kastrierten Gesängen in der Sixtina die trampelmarschartigen Kriegsrufe der Deut­ schen geklungen haben, als sie im Sacco di Roma unter Frundsberg 1527 in Rom einzogen?! »Gedenke, daß du zu der Fahne deines Feldherrn hast geschworen, denk ferner, daß du als ein Mann zum Streit bist auserkoren, ja denke, daß ohne Streit und Sieg nie keiner zum Triumph aufstieg.«

Und wie eine transparente Erscheinung, wie ein christliches Walhalla wird der überirdische Lohn verkündet:

»Wer überwindet, der soll dort in weißen Kleidern gehen; Sein guter Name soll sofort im Buch des Lebens stehen...« Wie Berserker singen diese Leinenkittelgesellen, die Gefangenen, mit einer Wut, als wären sie bei La Rochelle dabei gewesen. Eine mächtige Melodie unterstützt den kolossalen Trampelmarsch. Zwar kratzt es vielfach in den von Brennsuppe angebröselten Kehlen. Aber die Fuchtigkeit des Bauernorgans und der Anblick dieser Gestalten, dieser unter Drillich infamierten Menschenleiber, überwältigt alles, läßt alles dröhnen und erzittern. Und plötzlich, so scheint mir, sehe ich durch diese bajuwarisch-keltischen Schädel das glühende sozialdemokratische Hirn liegen. Und brausend stürzt es heraus, wie zur Zeit des Bauernkrieges. Und Mistgabeln und Dreschflegel hochgeschwungen. Nicht ans Luthertum, an die Gegenwart denken sie, indem sie das protestierende Lied des Protestantismus singen:

»So streit’ denn wohl, streit’ keck und kühn, daß du mögst überwinden; streng an die Kräfte, Mut und Sinn, daß du dies gut mögst finden. Wer will nicht streiten um die Kron’, bleibt ewiglich in Spott und Hohn.« Ein Trupp Soldaten zieht draußen vorbei. Der ganze Zellenbau fängt leise zu zit­ tern an, und von draußen erschallt ein heiteres, lebensfreudiges, festgefügtes Sol­ datenlied. Ein hübsches Intermezzo. Der Aufseher kommt herein und untersucht meine Stimmung. Wie es mir gefallen habe? Ich lobe es, und er, jetzt ganz Soldat,

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ganz in Erinnerung an schöne Zeiten, da er selbst da draußen vorbei gezogen (er ist hier in Garnison gestanden), erzählt weiter, daß es eine langjährige Übung sei, beim Vorbeimarsch vor dem Gefängnis kräftig mit Gesang einzusetzen: »Wenn mer ans Gefängnis kommen sind, da hat’s immer g’heißen: jetzt fest singen!« Warum? Er zuckt mit den Achseln. Er weiß es nicht. Er weiß es sehr wohl. Er kann aber dem Gedanken nicht Ausdruck geben. Die Leute, die da draußen vorbeizie­ hen, Leute aus dem Volk, aus dem Bauernstand, meist arme Teufel, wissen sehr wohl, daß es ihresgleichen, ihr Stand ist, der hier gefangen sitzt. Sie haben das sichere Empfinden dafür, daß sie nicht die Herren im Lande sind, sondern die Unterdrückten, daß sie nicht die Gesetze machen, sondern daß selbe auf sie ange­ wendet werden. Sie haben ein tief innerliches Pariagefühl und wissen sehr genau, daß sie, sie mögen anfangen, was sie wollen, als Besitzlose in den Maschen der gegen sie geschmiedeten Gesetze hängen bleiben müssen. Und deshalb haben sie Sympathie mit den Eingeschlossenen. Und deshalb singen sie. Worauf eigentlich der psychische Schmerz des Gefängnisses beruht, scheint mir noch nicht eruiert. Ich kann mich nicht erinnern, etwas darüber gelesen zu haben. Silvio Pellico gibt nur die äußere Beschreibung seines morosen Daseins mit den ewigen mitleidheischenden Klagen des Gefangenseins überhaupt. Dostojewski dringt tief ein in die Verhältnisse von Menschen und Gegenständen (»Aufzeich­ nungen aus einem Totenhaus«). Aber diese Verhältnisse um ihn waren zu kraß, um feinere psychologische Beobachtungen zuzulasssen; er hatte es mehr mit Haut­ wunden als mit Seelenwunden zu tun. Und Schubart und Bunyan wurden religiös, gläubig. Glücklich, wer das kann. Ich vermag hier stundenlang, tagelang über meinen Büchern und Gedanken zu sitzen, vermisse nichts, bin in meiner Einsamkeit wie draußen glücklich. Aber dann kommt ein Moment, wenn ich müde gearbeitet bin, wo ich atmen will, gei­ stig aufatmen will, Horizonte sehen will und dann - ersticke ich. Und dieser Moment ist gräßlich. Dann fallen die Zellwände staubig über meine Seele zusam­ men und erdrücken sie. Ein Stückchen im Gehirn, wenn ich mich so ausdrücken darf, schmilzt, und die Funktion ist erloschen. Das nächste Mal wird dieser bren­ nende Durst weniger entzündlich auftreten, es wird nur ein mäßiges Jucken sein. Und hier liegt das Moment der Verblödung. Ein Mensch, bei dem die Sehnsucht gelöscht ist, gedämpft ist - nach zehn Jahren etwa-, ist ethisch und geistig fertig. Ein Zustand, den der Gesetzgeber allerdings nicht will, der aber unvermeidlich ist. Und hier ist es, wo der rasende B eifall der Menge einsetzt. Ich rede vom politischen, idealistischen Verbrecher. Geben wir uns darüber keiner Täuschung hin: Was die Menge sehen will, ist Blut, Zertreten des Herzens, den zuckenden Muskel. Anderes läßt sie nicht gelten. Das wäre ein unerträglicher Zustand, daß jemand sich kühn mit seinem Ideengang über alle Gesetze und Schranken hinwegsetzte und dann heil herumliefe und sich sehen ließe. Er würde bald der tödlichsten Lächerlichkeit verfallen. Statt unsterblich zu werden, würde er sterben, während er noch lebt. Ohne Marter kein Savonarola. Ohne Holzstoß kein Hus. Hus reitet von Konstanz mit dem freien Geleite des Kaisers nach Hause, und der Mann ist genauso wichtig

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wie die übrigen 500 Schreier auf dem Konzil. Das heißt: ein Sandkorn in einem Haufen. Bei Hieronymus von Prag merkt man deutlich den Moment, wo er schwankte und wo er endlich mit kühnem Griff nach dem Lorbeer langte. Nur die eminente, absolute Todesgefahr oder der drohende schwarze Kerker wie bei Luther und bei Schiller vermögen die Marter selbst zu ersetzen. Warum ist Goethe bei aller Genialität immer in unserer Erinnerung von einem schwabbelnden Dunst fade duftenden Teegeruchs eingehüllt und fehlt ihm die blutige Gloriole, die Schil­ lern um die Schläfe leuchtet? Weil er nie gewagt, nie sein Leben eingesetzt.

Zeichnung Oskar Panizza

pour Gambetta! Delcassé 1906

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OSKAR PANIZZA VORWORT ZUR DRITTEN AUFLAGE DES LIEBESKONZILS Der Verfasser ist hinsichtlich dieser dritten Auflage wenige Worte der Aufklärung schuldig. Das Publikum wird sich vielleicht schon gewundert haben, daß diese Dichtung, die doch vom Staatsanwalt konfisziert ist, immer und immer wieder in der Oeffentlichkeit erscheint. Es wird sich gewiß schon gedacht haben, daß der Dichter verrückt sei. Dem ist aber nicht so. Das Publikum hat eben gar keine Ahnung von den Umständen, unter denen der Dichter produziert und den Inhalt seiner Inspiration vor die Oeffentlichkeit bringt. Es kennt eben nicht jenes Klein­ od, welches er allein besitzt, und das ihn befähigt, unabhängig von allen sonst etwa in Betracht kommenden Faktoren, nur seiner Inspiration zu folgen und nur sie ganz und voll zum Ausdruck zu bringen: das Gottesgnaden tum der Dichter. Das Gottesgnadentum mit seinen schweren Pflichten, seinen niemals endenden, stets andauernden Mühen und Arbeiten, mit seiner furchtbaren Verantwortung vor Gott allein, von der kein Mensch, kein Staatsanwalt, kein Abgeordnetenhaus, kein Volk den Dichter entbinden kann. Es ist dies das Kleinod, welches zwar auch schon früher mehr oder weniger bekannt war, aber doch erst in jüngster Zeit von den Dichtern in voller Klarheit erfaßt und auch dem Volke verständlich gemacht wurde. Es wird also gut sein, wenn das Publikum, der Reichstag, die Minister, die Fürsten, der Kaiser, der Staatsanwalt unsere Dichtungen als das hinnehmen, was sie sind, eine von Gott gewollte Sache, und nicht lang fragen und nörgeln. Zürich,

den 4. September 1897.

Hochachtungsvoll

Oskar Panizza Dichter von Gottes Gnaden.

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KURT TUCHOLSKY PANIZZA Die Zensur ist fort. Es ist nicht zu merken: die Zeitungen erscheinen in derselben Tonart wie vor ihrem Fall, das Einerseits-Andrerseits, das Erwägen nach beiden Sei­ ten, das zage Streicheln ist geblieben. Man hätte meinen sollen, daß nach dem Sturz des Zensors die Luft im Kessel mit einem Knall durch die Ventile puffen würde aber es war offenbar keine drin. Dem Bürger ist noch nicht wohl in der Freiheit. Er wackelt hin, er wackelt her, als wie ein alter Zottelbär. Und seine Theater? Ja, da bringen sie nun »Die Büchse der Pandora« und eine bisher verbotene Groteske und den »Sohn« und »Hans im Schnakenloch« - aber wie das so mit dem exorzierten Teufel ist: fein sauber gebügelt, im Frack und im hellen Licht der Lüster ist er längst nicht so pompös grauslig wie damals im Flackerschein der Kellerlampen. Und eine leise Enttäuschung wird wach: Das ist alles? Die Zensur hat eine wunderschöne Reklame gemacht und ein unnützes Aufsehen dazu. Denn das Gehirn der Zenso­ ren, soweit von einem solchen die Rede sein kann, ist nicht ganz das unsre. Weil wir denn aber einmal bei den verbotenen Stücken sind: wie wäre es, ihr führ­ tet nun doch einmal das »Liebeskonzil« von Oskar Panizza auf? Dramatis personae sind der liebe Gott, als welchen Pallenberg zu spielen hätte, und sein Sohn und die Mutter Maria, und dazu der Teufel und seine Erfindung: die Syphilis. Nun ist dieses heitere Schäferspiel nicht jedermanns Sache, und man soll gewiß die Gefühle, und zumal die religiösen, seiner Mitbürger schonen. Aber es wäre eine Anmaßung der Mitbürger, zu verlangen, wir sollten im selben Tempo fühlen wie sie und im selben Rhythmus leben wie sie. Ihr Lachen ist nicht unser Lachen, und ihr Schmalz­ pathos ist uns keines. Aber das »Liebeskonzil«? Panizza wurde wegen seines grandiosen Dramas zu anderthalbjahren Gefängnis verdonnert, die er abgesessen hat. Das Stück ist etwas sehr Seltenes: nämlich die wirkliche Gotteslästerung. Er hat Gott gelästert, aber aus einer tiefen Liebe zu jenem andern Ding heraus, das die Besten aller Zeiten im Herzen trugen, und das keinen Namen hat. Die Buchausgabe des Dramas ist heute selten genug, es gibt nur die alte verbotene Originalausgabe und einen Privatdruck mit Bildern von Kubin; sonst verkümmert das Stück wie fast alles andere, was Panizza geschrieben hat, unter dem Urheberunrecht, das in diesem Falle einer alten bigotten Verwandten gestattet, diese Feuerströme in der Lavendelkommode zu halten. Das Drama behandelt also die Erfindung der Syphilis durch den Teufel auf Wunsch des Lieben Gottes, der die Menschen ad suam maiorem gloriam ihre Abhängigkeit fühlen lassen will. Es gibt Stellen in dem Stück, gegen die Wedekind wie eine brave »Gartenlaube« wirkt. Traut sich keiner der Herren Theaterdirektoren? Es müßte ein Abend sein, bei dem der selige Wedekind Pate stünde, der Wedekind von anno 1890, der alte, schwef­ lige, lachende. Und damit sich keiner beleidigt fühle: druckt eine kurze Einführung zu dem Stück

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und macht eine geschlossene Vorstellung! Es ist ja auch nichts für Kinder und Kappsteine. Denn wir wollen diese ruchlose Satire nicht hinterher ästhetisch beschönigt haben: der Dichter habe es nicht so schlimm gemeint, in Wirklichkeit sei er Ehrenmitglied der Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankhei­ ten ... Gott bewahre! Panizza hats gewagt. Wer wagts noch? Wir wollen wieder einmal aus dem Theater gehen: im Innersten geschüttelt, zwi­ schen Grauen und Komik hin und her geschleudert und zutiefst von dem Bewußt­ sein erfüllt, daß es eine pathetische Affenkomödie ist hienieden. Was übrigens diesen Oskar Panizza angeht, so hat er dem Münchner Dichterkreise angehört, dessen damaliger Mittelpunkt, Michael Georg Conrad, heute ein alter Mann ist, der nicht mehr ahnen läßt, was da einst unter seiner Obhut gärte. Der politische Wille dieser Münchner war - wie hätte es in dem wilhelminischen Deutschland auch anders sein können! - viel zu eingeengt, und eine Verbindung mit der praktisch arbeitenden Sozialdemokratie, die die Literaten wieder geistig hätte befruchten können, war kaum vorhanden. So blieb alles ästhetische Geste, was doch befeuernde politische Kraft hätte sein müssen, um wirken zu können, und verebbte schließlich in Bürgerbohème. Ähnlich wie in Friedrichshagen. Aber wie in Friedrichshagen Gerhart Hauptmann Kreis Kreis sein ließ und selber einer wurde, so ragte über die Münchner der unglückliche Oskar Panizza weit hervor. Er hat noch hassen können, wie heute nur Heinrich Mann haßt. Er hat sein Land geliebt und die verabscheut, die es zu einem Kasernenhof und zu einer Tretmühle gemacht haben, derweil sie selbst nicht mitzutun brauchten: denn für sie galten keine Gesetze. Vorschriften gelten nie für die, die sie gemacht haben. Aus einem Versbüchlein Panizzas, »Parisiana« geheißen, pflücke ich einige bunte Blüten, die heut noch nicht verwelkt sind, und die der heben Mama Germania ins schwarz-weiß-rote Glas zu stellen mir eine besondere Freude ist. Es sind erstaunlich prophetische Verse in dem Buch. So dieser:

Denn Blut wird fließen, Blut soll fließen mit Worten werdet Ihr nicht quitt soll neu Gedankensaat euch sprießen, wills Einen, der am Kreuze litt, und wollt Ihr neue Bünde schließen, bedarfs des Bluts dazu als Kitt.

Aber der Prophet kehrte sein Gesicht nicht nur in die Zukunft, sondern sah auch in die Gegenwart, und sein Blick von Paris nach Berlin herüber war schärfer als der mancher Braven im Lande. Prallen Romanen und von ihnen beeinflußte Geister mit den schlechten Seiten des Deutschtums zusammen, so gibt es immer denselben Klang; und wenn er den Deutschen nicht lieblich in den Ohren klingt, wessen Schuld mag das sein? Heinrich Mann haben wir hier neulich betrachtet; in einem sonst mäßigen Tendenzwerk von Maurice Barrés: »In deutschen Heeresdiensten« steht: »Ein deutscher Soldat sieht immer wie ein geprügelter Hund aus«, und: »In dem dritten Saale bemerkten wir den großen Tisch, wo sich allabendlich die Offi­

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ziere einfanden. Meine Kameraden waren überzeugt, daß ein Lokal, welches Hauptleute und Leutnants besuchten, dadurch ein vornehmer Ort wurde; wenn sie ihre Vorgesetzten auch nur aus der Ferne betrachteten, schien ihre Kleinheit einen Anteil an dieser Größe zu haben.« So Panizza in Versen. Sein Haß schäumt wie jeder gute Haß weit über die Ufer; es ist die maßlose Verbit­ terung eines Mannes, der in der Welt gesehen hat, daß eine solche Unterdrückung wie die der Deutschen nirgends sonst möglich wäre, und das nicht etwa, weil die Unterdrücker fehlten, sondern weil es keinen gibt, der sie sich gefallen ließe. Es heißt einmal: »Ein Volk, das im Lakaientume sich wohl fühlt als geborner Knecht.« Das hat ihn so maßlos gewurmt und bohrend und quälend an ihm gefressen, daß das Volk seiner Fürsten wert war, und er sah mit haßgeschärftem Blick die groteske Außenseite und das Herz. Die Außenseite:

Der Männerchor - o wie phantastisch der schwarzgefrackte Männerbauch, wie glasig-schön und wie bombastisch das aufgeschlag’ne Männeraug’, vielleicht ein bißchen päderastisch der weiblichen Tenöre Hauch ... So singt denn, wie die Redwitz sangen, und zeigt, was Ihr vielstimmig wert, mit Flöten zähmt man wilde Schlangen, zähmt Ihr mit Singen euer Pferd. Denn eigentlich, bei Licht betrachtet, was Deutsche, ist denn eure Lust? Materie habt Ihr stets verachtet, Ihr schwärmt nur, wenn in eurer Brust eine riesiges Empfinden nachtet, das zu Musik wird unbewußt. Ließt Ihr euch nicht absichtlich treten von euern Fürsten Tag und Nacht, und hat aus euern Schmerzensnöten dann einen Männerchor gemacht?

Das Herz: Ihr meint: von Siebzig, Einundsiebzig wär das ’ne heitere Vision das Siegen, das vererbt sich, gibt sich, so weg vom Vater auf den Sohn, und auch das Einkassieren übt sich von Gold Milliarde und Million? Nun, übt euch fleißig nur im Hoffen, doch sagt es hier nicht allzulaut!

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Was mich betrifft, so wünscht’ ich offen, Ihr würdet ordentlich gehaut, gleichviel von wem, von welchem Feinde. Eu’r Untergehn ist unser Sieg die große, geistige Gemeinde, sie kennt nur einen einz’gen Krieg... Der Haß Panizzas gegen das Haupt des deutschen Unheils war so groß wie die Liebe zu seinem Volk, und was ihm damals den Scheiterhaufen eingetragen hätte, ist heute kaum mehr wert als ein bejahendes Achselzucken:

Wo bist Du, Deutschland? O, in deinen Tannen der dunkle und geheime Flüsterwind, in dem du deine Seele auszuspannen gewohnt, der so freundlich und so lind, er rauscht nicht mehr - die Geister all entrannen vor einem Nordwind eisig und geschwind... Du Büffelherde, trotzig-ungelenke, die durch die Wälder raset mit Gestank, folgst heute einem einz’gen Stier zur Tränke, und dieser eine Stier ist geisteskrank.

Und als Mahnung und Aufschrei klingt durch die ungestüm polternden und hol­ pernden Verse (wie schön hat diese Ottave rime Liliencron gehandhabt!) die Auf­ forderung an seine Deutschen: Tut etwas! Seid aktiv und tut etwas! Er glaubt nicht recht daran; er sagt, die Marseillaise würde in Deutschland erst ertönen, die Gen­ darmen würden erst präsentieren und Volk und Heer befreit sein: Wenn einmal auf die Schlösser springen und in der Spree fließt roter Wein, dann wird man solche Lieder singen, dann hört man solche Melodeien!

Und sein Traum ist, die Deutschen würden eines Tages so viel Verstand bekom­ men, die Bataillone nicht nur zu Schirm und Schutz vor die Fürsten aufzupflan­ zen, sondern zu ganz etwas anderm: Herr Moltke brauchte einst die Phase: »Das Heer ist gegen Deutsche da, man säubert damit von der Straße die Menschen, die dem Schloß zu nah’ gewagt sich« - beim Champagnerglase fand seine Rede viel Hurrah! Doch irrt euch nicht, Ihr lieben Kinder

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der Gasse, denn kommt einst die Uhr, macht gegen Kronen und Cylinder Ihr Front, und sagt: Choc en retour! Und weil wir heute nicht mehr und noch nicht wieder - denn wir kennen unsre Pappenheimer - zensurpflichtig sind, deshalb sollten diese Klänge hier ertönen, aus denen noch einmal aufsteigt, was sich dieses Volk Jahrzehnte lang hat bieten lassen. Die Revolution vom neunten November war keine: um eine etwas erregt verlaufene Statutenänderung wird heute etwas reichlich viel Spektakel gemacht. Eingeschlagene Fenster und eingeschlagene Köpfe besagen gar nichts für einen Umsturz: aber es besagt wohl etwas, den Mut zu haben, das Alte herunterzurei­ ßen, daß es kracht und dann - dann erst! - etwas Neues aufzubauen. Manches, was 1899 frisch klang, ist heute ein wenig veraltetjung aber wie je sei unser Haß gegen die Pickelhauben und ihre Schützer, deren Väter und deren Söhne. Wir gedenken des tapfern Oskar Panizza und grüßen die gefallenen Helden der deutschen November-Unruhen! Wird sich der Traum eines glücklich erwachten Deutschland einmal verwirklichen? 7919

Zeichnung Oskar Panizza

pour Gambetta sans faute! das istThoth/der ibisköpfige/Schreiber am/egiptischen/Totengericht

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J> cacJte £ Puis (tus "e temps' enfin tnftn > ~ ' thofe . ont __ .n auonJ it'f , OOJ Tout ehanpe et rioftre Die a fipeu ae auree, -fien tvnirneneent a leiure o/t commence es mourir

Le Miroir de la vie et de la mort (17. Jahrhundert), Musée Carnavalet, Paris

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KRITISCHE STIMMEN ZUM FALL PANIZZA OTTO JULIUS BIERBAUM (in einem Brief an den Verfasser, vom 17. Novem­ ber 1894): »... Dass Sie in diesem Ihrem letzten Buch Gottvatern so künstlerisch misshandeln, das wundert mich beinahe, da Sie gerne das Künstlerische hintan set­ zen. Das »Liebeskonzil« ist Ihre geschlossenste, künstlerisch abgerundetste Arbeit. Wenn Siej etzt bei der Stange bleiben einesteils (was diese ganze Seite Ihres Talentes anlangt), und wenn Sie andernteils nun endlich den im Grunde ziemlich gleichgül­ tigen Vatikanerich beiseite lassen wollen, um Ihr Augenmerk auf weitere (aber dabei uns nähere) Kreise zu richten, so dürfen wir in Ihnen unsern Aristophanes erhoffen. Aber Sie müssen äusser Landes gehn, denn jetzt werden Sie eingesperrt.« ERNST KREOWSKI in »Der Gesellschafter« (Hamburg) No. 7,1895: »... Wir müssen den Verfasser ob solcher Verirrung tief bedauern ...« DR M. G. CONRAD in der »Gesellschaft«, Januarheft 1895: »... Damit die Frommen im Lande avisiert sind! Der grosse Heucheltanz der sittlichen Der­ wische wird ja wohl bald losgehen. Besprechung versparen wir uns, bis nach der Komödie die kritische Tugend sich tüchtig erbrochen hat...« JULIUS SCHAUMBERGER (München) (persönliche Mitteilung an den Ver­ fasser): »... Die ersten Scenen im Himmel sind direktes Irrenhaus...« FRANZ SERVAES in »Neue deutsche Rundschau«, Februar-Heft 1895: »Ein seltsamer Kunde ist Panizza. Die »Lust am Stinken« ist wohl bei niemandem heut­ zutage so ausgebildet als bei ihm. Aber es ist mehr der derbe Cynismus des Medizi­ ners und der Uebermut des Fantasten als Zola’s ästhetisch-sachliches Pflicht­ bewusstsein, was ihm diese sonderbare Vorliebe eingibt. Panizza stinkt mit Geist und Humor - freilich nicht immer, oft auch lediglich aus teutonisch-bärenhafter Hinterbackigkeit, wofür er sich gewisslich auf den Vorgang Luthers nicht ungern berufen wird. Seine im Zürcher Verlags-Magazin (also ausserhalb der »Reichs­ grenzen«) erschienene »Himmelstragödie«, das »Liebeskonzil«, ist eine ziemlich unausgegohrne Mischung von banausischem Spöttertum und dämonischem Witz. Seinen röchelnden und spuckenden lieben Gott hätte ich ihm gerne geschenkt - den Alten hat uns Bierbaum mit weit liebenswerterem Humor auf die Beine gestellt - aber für seinen Teufel mache ich ihm mein Kompliment. Wenn der die Speisekarte seiner Liebchen durchblättert und schliesslich bei Salome, der Tochter der Herodias, Halt macht, um mit ihr eine Tochter zu zeugen, die sich »Lues« nennt, und die auf Gottes Befehl die sündige Menschheit heimsuchen soll... da regt sich echter Sanatismus, bekanntlich eine Marke, nach der man heut­ zutage Verlangen trägt.« ANNA CROISSANT-RUST (in einem Brief an den Verfasser, vom 19. Novem­ ber 1894): »... Sie sollen’s wissen: Ihr »Liebeskonzil« ist das Bedeutendste, was Sie bisher geschaffen. Ein Ding in einem Wurf, von solcher Kraft und künstlerischer Einheit, strotzend von herrlichen Bildern und unflätiger Keckheit... Wenn man das doch sehen könnte! Wahrhaftig, ich gäbe viel darum; Geld, Schauspieler, Dekorationen haben! ...«

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»ALLGEMEINE ZEITUNG«, München, vom 12.Januar 1895: »Von der k. Staatsanwaltschaft ist das im Verlage von J. Schabelitz in Zürich erschienene, viel­ besprochene Buch des Schriftstellers Dr. Panizza, »Das Liebeskonzil«, mit Beschlag belegt worden.« ELSE ERDMANN (Braunschweig) (aus einem Brief an den Verfasser vom 12. Februar 1895): »... Die gewaltige Wirkung Ihres Werkes, welches Vielen neue Erkenntnis erschlossen hat, lässt sich durch einen Akt der Barbarei nicht mehr aus der Welt schaffen...« »NEUES MÜNCHENER TAGBLATT« vom 29. April 1895. Der bekannte Schriftsteller Panizza hat sich am 30. April vor dem hiesigen Schwurgerichte wegen nicht weniger als 93 Verbrechen wider die Religion zu verantworten. Diese Verbrechen wur­ den in einem Buch Panizzas, »Das Liebeskonzil«, gefunden, in welchem das katho­ lische Dogma verspottet wird. Dr. Panizza konnte bis jetzt keinen Rechtsanwalt finden, der die Verteidigung übernehmen will. DR. SIGL IM »BAYERISCHEN VATERLAND« vom 30. April 1895. ... Der Angeklagte soll bis zuletzt gar keinen Verteidiger haben finden können; so viel hei­ ligen Respekt vor der Religion haben unsere frommen Anwälte! Wir wünschen dem Presssünder, der sonst ein ganz liebenswürdiger »guter Kerl« ist, eine fröh­ liche Freisprechung, auf dass er sich bekehre und lebe! Denn mit dem Einsperren allein bekehrt man keinen. »NEUES MÜNCHENER TAGBLATT« vom 1. Mai 1895. ... Da sich aber der schreiblustige Schriftsteller einbildet, er sei zum allermindesten ein Ulrich von Hutten, stöberte er in alten Schmökern umher, um sich neue »Stoffe« herauszu­ stöbern. Er fand in einem verschimmelten Schweinsleder die Aufzeichnung, dass im 15. Jahrhundert die Lustseuche grassierte, und dass das Volk die schreckliche Krankheit als ein Strafgericht Gottes für die Verderbtheit der Menschen ansah. Panizza sagte sich nicht, wie die historische Forschung ergab, dass die Seuche von französischen Söldnerscharen in Italien eingeschleppt und verbreitet wurde, son­ dern er meinte, wie er gar nicht anders in seiner Art oder vielmehr Unart meinen kann, dass die römischen Päpste und besonders Alexander VI. das Elend verschul­ deten, weil vielfach behauptet wird, am päpstlichen Hofe habe während des 15.Jahrhunderts die grösste Ueppigkeit und Lasterhaftigkeit geherrscht. Die sublime Idee begeisterte ihn zu einem neuen Werke; sofort ergriff er seine schmut­ zige Feder und sudelte die fünfaktige Himmelstragödie »Das Liebeskonzil«, welche sich darstellt als eine ununterbrochene Kette von Gotteslästerungen der allergrässlichsten Art. Wir hätten annehmen müssen, der »Dichter« dieses ordinä­ ren, auf den Frevelmut verkommener Geister berechneten und zugestutzten Machwerkes sässe in irgend einem Irrenhause, wenn wir ihn nicht heute im Gerichtssaal gesehen hätten. Die Oeffentlichkeit wurde ausgeschlossen, weil die Oeffentlichkeit thatsächlich aufs schwerste beleidigt würde, wollte man ihr all den Schmutz auftischen, der zur Sprache kam. Mit unglaublicher Raffiniertheit ver­ stand es der Verfasser, in seinem »Liebeskonzil«, für das er natürlich keinen deut­ schen Verleger fand, so dass es in einem bekannten schweizerischen Zotenmagazin das Licht der Welt erblickte, Gott Vater und Sohn, diejungfrau Maria und die Hei-

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ligen zu lästern und in den Kot zu ziehen. Offenbar leidet er äusser an der Tollwut in der Vernichtung alles Göttlichen und Heiligen auch noch an Grössenwahn, denn ganz naiv und unbefangen äussert er auf die schonenden und ernsten Vor­ halte des Vorsitzenden, dass er seine Lustseuchenidee zu einem künstlerischen Pro­ blem ausgebildet, dass er eine Satire auf die päpstliche Geschichte des 15. Jahrhun­ derts geschrieben habe. In Wirklichkeit aber hat er ohne Witz und Geist gearbei­ tet, mit einer Geschmacklosigkeit, die kaum noch von solchen Zeitgenossen gou­ tiert werden kann, welche sich in Gotteslästerungen gefallen. - Das »künstlerische Problem« Panizzas besteht darin, dass er die Lustseuche auf die behauptete Aus­ schweifung und Ueppigkeit am päpstlichen Hofe zurückführt, und in einer ganz gewaltsam an den Haaren herbeigezogenen, im Himmel sich abspielenden Hand­ lung als Strafgericht Gottes entstehen lässt. Dabei führt er Gott selbst als solch’ abscheuliche Karrikatur vor, dass man kaum begreifen kann, wie er noch Worte zu seiner Rechtfertigung findet. Er beruft sich auf Ulrich von Hutten, Erasmus von Rotterdam, Reuchlin, Fischart und behauptet, er habe nichts anderes gethan, als die turbulenten Geister der Reformationszeit, womit er ganz entschieden sich im Irrtum befindet, denn nirgends lässt sich bei den Humanisten der Reforma­ tionszeit nachweisen, dass sie die Person Gottes angriffen, beschimpften und lästerten. Wie wenig Panizza von der katholischen Kirche und ihren Einrichtun­ gen versteht, obwohl er sich in seinen ungeheuerlichen Schriften gleichsam zum Richter über dieselbe aufwirft, beweisen seine naiven Behauptungen: »Der Papst empfängt direkte Befehle von Gott, er nennt sich den Sohn Gottes, Stellvertreter Christi; der Papst und Gottheit sind eins nach der Lehre der Kirche; wie kann ich denn den Papst noch angreifen, ohne Gott anzugreifen? Wenn ich aber den Papst Alexander VI. angreifen darf, so muss ich doch wohl auch Gott so darstellen dür­ fen, wie der Papst war. Wenn ich Gott als strafenden, ernsten Richter anführe, so wird mein Buch ernsthaft, ich will aber eine Satire schreiben. Ich wollte lediglich den Gottesbegriff angreifen, den die katholische Kirche im 15. Jahrhundert hatte. Uebrigens wird der ungebildete Leser das Buch unverstanden und deshalb ungele­ sen beiseite legen und sich sagen: Ich verstehe nichts, der Verfasser wird sich schon etwas gedacht haben.« - Panizza ist unverfroren genug, sein fürchterliches Pro­ dukt mit Byrons »Kain« in Parallele zu setzen, offenbar auch ein Argument für sei­ nen Grössenwahn; ferner zieht er eine Reihe von Werken an, sogar Volksbücher, welche angeblich die Vorbilder seiner gotteslästerlichen »Satiren« waren. - Die furchtbaren Gotteslästerungen des Angeklagten, d.h. dessen ganze »Dichtung«, kamen zur Verlesung und lassen sich unmöglich wiedergeben; dagegen darf behauptet werden, dass niemals unter Christen gleich frevelhaft und grässlich die Gottheit und alles Heilige in den Kot gezogen wurde. - Schriftsteller Dr. Conrad, auch ein Moderner, äusserte sich als Sachverständiger: »Das >Liebeskonzil< Paniz­ zas ist ein hervorragendes Kunstwerk ganz einziger Art, vielleicht das bedeu­ tendste der modernen Litteratur, von genialer Komposition. Einige Geschmacklo­ sigkeiten im ersten Akt dürften freilich den unkünstlerischen Leser abschrecken; aber beim Weiterlesen werden dieselben überwunden und es ergreift einen künst­ lerisches Empfinden.« - In schärfster Weise vertrat der kgl. II. Staatsanwalt, Frei­

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herr von Sartor, die Anklage, und nachdem er den Geschwornen den entsetzlichen Inhalt des inkriminierten Werkes genau zergliedert und seine ganze Abscheulich­ keit illustriert hatte, sprach er dem Angeklagten seine Entrüstung aus. - Der Vertei­ diger, Dr. Kugelmann, unterliess es, den Inhalt des Buches rechtfertigen zu wollen. Er beschränkte sich lediglich auf formelle Entschuldigungsgründe für seinen Klienten. - Die Geschwornen schlossen sichjedoch den Ausführungen des Staats­ anwalts an, welcher gemeint hatte: Gottlob haben wir noch ein Gesetz in Deutsch­ land, nach welchem die Gotteslästerung bestraft werden kann. Wenn die Moder­ nen Schmutz brauen wollen, so sollen sie es innerhalb ihrer vier Wände thun und ihn nicht in die Oeffentlichkeit tragen. - Der Wahlspruch sprach den Angeklagten schuldig, dass er öffentlich Aergernis erregte, Gott lästerte und die kirchlichen Einrichtungen der Katholiken beschimpfte. - Der Staatsanwalt bean­ tragte mit Rücksicht auf die Schwere des Verbrechens gegen Panizza eine Gefängnis­ strafe von einem Jahr sechs Monate, sowie Erlassung eines Haftbefehls; denn Panizza habe gesagt, in der Schweiz könne ein freier Schriftsteller noch etwas schreiben, und es bestehe die Gefahr, dass er seine Feder in jenes freie Land trage, um nicht mehr zurückzukehren. Panizza wurde zu einer Gefängnisstraje von einem Jahr verurteilt, Haftbefehl wurde gegen ihn erlassen.« MÜNDLICHE AEUSSERUNG EINES GESCHWORNEN GEGEN EINEN MÜNCHNER JOURNALISTEN WÄHREND DER VERHANDLUNG: »Wenn der Hund in Niederbayern verhandelt würde, der käm’ nicht lebendig vom Platz.« MÜNDLICHE AEUSSERUNG DES DIREKTORS DER STAATSBIBLIO­ THEK, DR LAUBMANN IN MÜNCHEN, GEGEN DR KUGELMANN, RECHTSANWÄLTIN MÜNCHEN: »In 300Jahren wird man so wenig begrei­ fen, dass man in unsern Tagen jemand wegen eines Buches ins Gefängnis schickte, als wir heute begreifen, dass man vor 300Jahren jemanden wegen eines Buches verbrannte.« »KÖLNISCHEZEITUNG«vom2. Mai 1895: »Der Schrifsteller Dr. OskarPanizza ist wegen Vergehens gegen den § 166 des Strafgesetzbuches (Gotteslästerung und Beschimpfung einer Kirche) zu einem Jahr Gefängnis verurteilt worden. Es han­ delt sich um ein Trauerspiel, »Das Liebeskonzil«, das Panizza bei Schabelitz in Zürich erscheinen liess. Die »Voss Ztg.« schreibt darüber: »Das Stück beschäftigt sich mit dem grössten Scheusal, das jemals den päpstlichen Stuhl geschändet hat, mit Papst Alexander VI, dem ehrenwerten Vater der ehrenwerten Sprösslinge Cesar und Lucrezia Borgia. Wir kennen das Stück nicht und vermögen deshalb nicht zu beurteilen, ob der Verfasser bei einzelnen Ausdrücken das übliche Mass überschritten hat. Immerhin ist aber Panizza ein Schriftsteller, der mit Witz und Geist eine grosse Kenntnis der Geschichte und Dogmatik des Katholizismus ver­ einigt. Um eine niedrige Schmähschrift kann es sich, soweit wir nach andern uns bekannten Schriften Panizzas zu urteilen vermögen, nicht handeln; ein scharfes Wort gegen ultramontanen Unfug trauen wir dem Verfasser allerdings zu. Nach einer Meldung der »Frankfurter Zeitung« erklärte übrigens der Staatsanwalt, dass sich trotz seiner Nachforschungen in München niemand gefunden habe, der sich

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über das »Liebeskonzil« entrüstet hätte; da kam aus Leipzig eine polizeiliche Mel­ dung über eine dortige Entrüstung. Dort hätte ein Buchhändler einem Polizei­ wachtmeister ein Buch unaufgeschnitten gegeben, der es las und einen Polizeirat fragte, ob man sich darüber nicht entrüsten müsste. Dieser las es auch und ent­ rüstete sich gleichfalls. In München wurden nur fünfzehn Exemplare abgesetzt. Schrifsteller Dr. Conrad als litterarischer Sachverständiger erklärte, das Buch ent­ halte einige Geschmacklosigkeiten, sei aber ein hervorragendes, wenn nicht das hervorragendste litterarische Erzeugnis der letzten Jahre. Der Verteidiger machte geltend, Panizza habe geglaubt, das Buch werde in Deutschland nicht vertrieben werden können. Ueber die Erklärung, die Panizza vor dem Schwurgericht abgab, wird aus München, 30. April, geschrieben: Dr. Panizza erklärt, er habe die Entste­ hung der Lustseuche als künstlerisches Problem behandeln wollen und die Gott­ heit mit hineingezogen, weil die damalige Bevölkerung die Seuche als ein Straf­ gericht Gottes betrachtet habe. Am Hofe des Papstes Alexander VI. habe ein Leben nie gesehener Ueppigkeit und Ausschweifung geherrscht. Nun sei der Papst der Stellvertreter Gottes auf Erden, und empfange nach den Lehren der römischen Kirche direkte Befehle von Gott. Die Gottheit durch das Papstglas Alexanders VI. besehen zu lassen, sei daher der Zweck dieses Buchdramas gewesen, das er sich gestellt habe, und das auch andere Satiriker der damaligen Zeit, wie Erasmus von Rotterdam u. a., behandelt hätten. Er habe die Gottheit so dargestellt, wie sie Ende des 15.Jahrhunderts jedem Satiriker habe erscheinen müssen. Die Farben seien ja stark aufgetragen, der Grundgedanke sei indes künstlerisch und satirisch richtig, jede mala fides ihm völlig fremd gewesen. Er gibt zu, dass einzelne Schilderungen Gotteslästerungen enthalten, bestreitet indes, dass er den in guten Menschen lebenden Gottesbegriff habe angreifen wollen; er habe vielmehr nur den Gottes­ begriff der christlichen Kirche von damals angegriffen. - Nicht unerwähnt wollen wir lassen, dass der Gerichtsvorsitzende dem Schriftsteller eine Belehrung geben zu müssen glaubte, wie er es hätte anfangen sollen, das künstlerische Problem ohne Erregung von Aergernis zu lösen. - Dass sein Buchdrama ein solches im eigent­ lichen Sinne des Wortes hervorrufe, auch bei den weniger Gebildeten, bestreitet Dr. Panizza entschieden. - Bei jenem Urteil, das auf Grund des heute gültigen § 166 gefällt wird, fragt man sich, wozu das Centrum eigentlich noch eine Ver­ schärfung dieses Paragraphen nötig habe. Wir hoffen, dass dieses Urteil nicht bloss der ultramontanen Umsturzvorlage den letzten Stoss gibt, sondern dass es auch dazu mithilft, die Bewegung gegen den § 166 zu verstärken.« »VOSSISCHE ZEITUNG «, Berlin, 2. Mai 1895. Die Freiheit der Kunst. Ein Spitz­ bube, der silberne Löffel gestohlen hat, ein Wucherer, der dutzenden Personen wirtschaftlich den Hals abgeschnitten hat, ein Strolch, der Spiegelscheiben ein­ schlägt, kommt mit kurzer Freiheitsstrafe davon, wenn er bis dahin unbescholten war. Ein Dichter aber, der ein satirisches Trauerspiel veröffentlichte und bei einem Leipziger Polizeiwachtmeister und einem Münchener Gerichtshof Anstoss erregte, ist auf ein volles Jahr in das Gefängnis geschickt worden. Wir haben das Urteil gegen Dr. Panizza mitgeteilt; wir können nicht einmal sagen, dass wir über­ rascht sind. Aber wir können uns auch nicht wundern, dass die Socialdemokratie

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immer mehr Anhang in gebildeten Kreisen findet, wenn solche Urteile gesprochen werden »von Rechts wegen«. - Panizza hat eine Reihe geistvoller Satiren ver­ öffentlicht, die freilich weder dem Staatsanwalt noch den Ultramontanen immer Vergnügen bereitet haben mögen, es sei denn, dass sie Scherz verstehen und Witz würdigen. Der Dichter ist von übermütiger Laune erfüllt, es braust und gährt noch in ihm, und der Becher schäumt oft über. Aber der Most verspricht einen guten Wein. Und da wird der Mann der Feder eingesperrt wie ein ehrloser Wechsel­ fälscher oder Brandstifter, weil er das Papsttum angegriffen oder gar den lieben Gott beschimpft haben soll. Der Einbruch in religiöse Gefühle wird strenger geahndet als vielleicht der Einbruch in einen Goldwarenladen. Und da wundert man sich, dass Herr Rintelen seine Anträge stellt? Oder ist die Verwunderung viel­ leicht doch berechtigt, weil seine Anträge überflüssig erscheinen? - Es ist nur gut, dass es heute in deutschen Landen keinen Luther, keinen Hutten, keinen Voltaire gibt. Denn sie kämen angesichts des § 166 des Strafgesetzbuches aus dem Gefäng­ nis nur heraus, um sofort wieder eingesperrt zu werden. Und das wäre um so begreiflicher, als ihre Schriften in viel weitere Kreise drangen, als die Panizzas. In ganz München, der frommen Stadt, sind fünfzehn Exemplare des verbrecheri­ schen »Liebeskonzil« abgesetzt worden. Dass die Bauern im oberbayerischen Hochlande moderne Dramen lesen und von ihnen vergiftet werden, ist nicht füg­ lich anzunehmen, und ein feister Prior wird sie lesen können, ohne an seiner Seele Schaden zu nehmen. Musste es da sein, dass der Dichter ein Jahr Gefängnis erhielt und sofort verhaftet wurde? - Die Geschwornen haben nur pflichtmässig zu fra­ gen, ob nach ihrer gewissenhaften Ueberzeugung der Angeklagte den § 166 über­ treten habe. Sie haben den Paragraphen nicht gemacht. Sie haben auch über das Strafmass nicht zu befinden. Schon im Jahre 1888 haben unter der Führung des Gymnasialdirektors Oskar Jäger über 30,000 evangelische Männer den Reichstag ersucht, diese Strafbestimmung abzuschaffen. Dieser Wunsch ist neuerdings wie­ derholt worden. Hat doch das Reichsgericht entschieden, dass auch der Trierer ungenähte Rock durch den §166 geschützt sei. Nachdem die Geschwornen die Schuldfrage bejaht hatten, blieb dem Gerichtshof nur die Verurteilung übrig. Aber dass der Staatsanwalt anderthalb Jahre Gefängnis beantragte und dieBerufsrichter auf ein Jahr erkannten, das wird man, wenigstens im Auslande, kaum verstehen. Wir stehen weder politisch noch litterarisch auf dem Standpunkt Panizzas. Aber dass man einen Dichter wegen eines Trauerspiels, mag es noch so anfechtbar sein, wie einen gemeinen Verbrecher auf ein Jahr hinter Schloss und Riegel bringt, das scheint uns eine Härte, wie sie weder nötig noch nützlich ist. Der Dichter wird seine Strafe abbüssen, und was dann? Dann geht er vermutlich in das Ausland, wo die Freiheit nicht eine Kerkerblume ist, und rächt sich durch um so leidenschaftli­ chere Angriffe auf das Reich und findet viel mehr Beachtung, hat viel mehr Erfolg, als ohne seine Verurteilung möglich gewesen wäre. Muss das sein? Muss man ein frisches, junges, grosses Talent, selbst wenn man annimmt, dass es auf Abwege geraten ist, durch solche Mittel - auf schlimmere Abwege drängen? - Vielleicht ist die Hoffnung nicht ungerechtfertigt, dass die Verwendung angesehener deutscher Dichter für ihren Bruder in Apoll nicht fruchtlos sein werde. Ernst von Wilden-

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bruch veröffentlicht eben jetzt eine ergreifende Legende in der »Deutschen Rund­ schau«. Es ist eine Erzählung aus der Geschichte der Christen unter Nero. Die Christianer verehren das verachtete Kreuz: »Davor knieeten sie, das beteten sie an. Man hätte es für übertrieben halten sollen - aber es war wirklich so. Gab es eine schnödere Verhöhnung aller sittlichen Ueberlieferung und eine dreistere Aufleh­ nung gegen die bestehende Weltordnung?« Der Dichter redet nichts von dem Umsturzgesetz, nichts von dem § 166. Aber vielleicht redet er ein Wort zu Gunsten Panizzas, dessen verbrecherisches Schauspiel ein anderer Dichter an der Gerichts­ stätte »ein Kunstwerk ersten Ranges, vielleicht das bedeutendste der modernen dramatischen Litteratur« genannt hat. »FRÄNKISCHER KURIER«, Nürnberg, 5. Mai 1895. Die Verurteilung des Schriftstellers Dr. Panizza in München zu einem Jahr Gefängnis macht überall starkes Aufsehen. Ob eine Verurteilung nötig war, können wir nicht beurteilen, da wir die Schrift nicht kennen; aber aufjeden Fall ist die Strafe eine ganz auffällig hohe, die keine höhere sein könnte, wenn wir bereits unter der Fuchtel des Umsturzgesetzes ständen. Für das Jahr Gefängnis hätte Dr. Panizza fast einen Menschen mit tödlichem Ausgange körperlich verletzen können. Die »Vossische Zeitung« begleitet den Fall mit folgenden treffenden Ausführungen (folgt Abruck des obigen Artikels der »Vossischen Zeitung«). »VORWÄRTS«, Berlin, 5. Mai 1895. Heinrich Heine macht in seinen Feuilletons über Shakespeare die Bemerkung: zwei Dinge hätten ihn vonjeher verdrossen und verwundert. Wie kämen die schachernden Frankfurter nur zu ihrem Goethe und wie die Allerwelthandelsleute von Engländern zu einer so herrlichen Dichter­ gestalt, wie der Shakespeares? Was Heine, den freien, den schönheitsfreudigen Mann an den Briten am meisten geärgert haben mochte, das war der kleinlich prüde Sinn, die starre Konvention der englischen » Gesellschaft« und ihre tückische Heuchelei, die jede offenherzige Natur grausam verfolgte und mit Bannflüchen belegte. Wer allzu menschlich fehlte, wer vom äusserlich Korrekten nur einen Schritt breit abwich, der hatte unter dem wütenden Hass der allzeit Korrekten böse zu leiden, wie Lord Byrons Lebensschicksal beweist. Und in dieser Welt durfte eine so grandios offenherzige Natur aufwachsen, wie Shakespeare war, ein Bekenner nackter Wahrheit, der auf die heimlichsten Dinge, mit denen mensch­ liche Eitelkeit, menschliche Schwäche sich zu umhüllen lieben, ohne jede ängst­ liche Scheu mit naivem Genie hinwies? - Wenn man gleich von der machtvollen englischen Renaissancezeit absieht, in der es einem Shakespeare zu leben vergönnt war, so bleibt noch immer eine starke Einseitigkeit in dem Urteil Heines übrig. So hämisch der Lästersinn der guten englischen Gesellschaft sich auch offenbart, so widerwärtig er sich gegen allejene äussert, deren Privatleben sich nicht streng im Geleise erhält: Eines haben die britischen Herrschaften immer im Ansehen gehal­ ten: sie verdammten den Mann, der nach ihren beschränkten socialen Anschauun­ gen ein Frevler war, aber sie respektierten sein Talent, seinen Geist. Sie entrüsteten sich über die Lebensanschauungen freier und allzu freier Geister, aber sie massen nicht mit dem Mass eines Polizei-Wachtmeisters, der den Sünder und zugleich sein sündhaftes Werk in brennendem Eifer unschädlich machen möchte. - In London

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und in München wurden in den jüngsten Tagen zwei Prozesse gegen Litteraten verhandelt. Sie haben nichts mit einander gemein, und doch gestatten sie einen charakteristischen Einblick in englische und deutsche Anschauungsweise, so weit es den Geist eines Werkes betrifft. Es handelt sich in London um die schmutzige oder kranke Person Oskar Wildes, des vielgenannten Dichters, in München um ein Buch des Schriftstellers Oskar Panizza. Die Skandalgeschichte, deren trauriger Held der geckenhafte, eitle und perverse Oskar Wilde geworden ist, der seit Jahren in den Strassen Londons schon durch auffällig phantastische Zierbengeltracht Aufsehen zu machen verstand, hat in den »besten Kreisen der Londoner Gesell­ schaft« grosses Aergernis erregt. Je tieferjemand selber in derTartüfferie steckt, um so wilder pflegt er um sich zu hauen; und so geschah es denn, dass man vor die Richter in dem Prozess Wilde trat und darauf drängte, Oskar Wildes Bücher auf ihre Lasterhaftigkeit oder auf ihren »perversen Inhalt« hin zu prüfen. Die Richter, die auch in England selbstverständlich in den Anschauungskreisen der herrrschenden Mächte sich bewegen, wiesen aber dieses Drängen zurück. Sie leugneten nicht etwa, dass die Arbeiten Wildes nach Pech und Schwefel riechen und nach Sünde schmecken, sie gaben ihre volle Gemeinsamkeit mit allen Anständigen des Landes zu, allein sie begründeten ihre abwehrende Haltung gegen j ene Späher, die aus den Schriften Wildes Beweisstücke für seine Frevel herbeischleppen wollten. Sie wie­ sen auf gewisse englische Schriftsteller im 17. und 18. Jahrhundert hin und mein­ ten, der Inhalt ihrer Werke sei so sittenlos, so abscheulich, dass man keinem anstän­ digen Menschen die Lektüre dieser Bücher zumuten dürfe; aber was habe das mit dem Leben dieser Roman- oder Bühnendichter zu schaffen; und manche dieser Schriften seien trotzdem wertvolle und angesehene Kulturdenkmäler. - Oskar Panizza in München gehört zum jüngeren Schriftstellergeschlecht. Er ist niemals lüstern nach Sensation aufgetreten, hat bescheiden gearbeitet und bescheiden gelebt. Er hat die bürgerliche Ruhe höchstens dadurch gestört, dass er für Verbrei­ tung moderner Ideen in Kunst und Literatur eintrat. Er hat nicht nach den Ehren eines grossstädtischen Spektakelhelden gegeizt und mit Verirrungen, die nur pathologisch zu erklären sind, hat er niemals geprahlt, wie der »Verbrecher« Oskar Wilde. Selbst Freund Sigl vom »Bayerischen Vaterland«, der sonst Wutanfälle zu bekommen pflegt und puterrot im Gesichte wird, wenn von Kunst und Litteratur der Modernen die Rede ist, muss ihm das Zeugnis ausstellen, er sei ein »guter Kerl«, und diesen »guten Kerl« hat man auf ein Jahr ins Gefängnis gesteckt und wegen Fluchtverdachts sofort verhaftet. Eines Dramas wegen, an dessen Aufführung auf lebendiger Bühne der Autor niemals hatte denken können! Wenn es ihm nicht um künstlerischen Ernst zu thun gewesen wäre, wenn er ein frivoler Spekulant wäre, hätte er da nicht eher der Kindelbrei-Litteratur oder dem Bühnengenre, das Lüsternheit mit Sentimentalität vermengt, den Vorzug gegeben? Hier blüht doch noch einzig materieller Gewinn. Wenn es ihn gereizt hat, ein tragikomisch-welt­ geschichtliches Scheusal, wie weiland den Papst Alexander VI., in den Mittelpunkt eines Dramas zu rücken, wenn ihn also ein Problem beschäftigt hat, an das nur starke Kraft sich wagen darf und das bei der gegenwärtigen ängstlichen deutschen Philisterhaftigkeit keinen Lohn, keinen Dank versprach, so müsste man doch zu

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mindest dem Autor kein frivoles Wollen vorwerfen. Der Staatsanwalt hat auch lange in München nach einem Manne gesucht, der sich ehrlich über den gefährli­ chen Verbrecher Panizza empört hätte. Ueber B ücher geraten aber die Münchener nicht leicht in cholerischen Groll; und so blieb nichts übrig, als die nötige Empö­ rung aus Sachsen sich zu verschreiben; aus dem Lande, dessen Vereinsgesetz nicht das einzige »Juwel« des Staates ist, wie Graf Hohenthal meinte. Es gibt dort noch anderejuwele. In Sachsen also war der Polizeiwachtmeister gefunden, dessen Seele tief ergrimmt war über den gottlosen Lästerer Panizza; und nun, da man wusste, wie fromme Gemüter durch das ruchlose Buch Panizzas verwundet werden konn­ ten, ging man mit heiligem Eifer ans Verurteilen. Der Schelm muss büssen und wenn seine künstlerischen Absichten noch so ernsthaft gemeint waren. - Das macht den Unterschied aus, von dem hier ausgegangen war. Der englische Straf­ richter respektiert das besondere geistige Leben im Kunstwerk, in der litterarischen Arbeit, und wäre es ihm nach seiner ganzen Erziehung, nach seinen Anstandsbegriffen zehnmal zuwider. Und wenn eine prüde oder bigotte Gesell­ schaft ihm zuruft: »Steinige den Frevler!« - seine Nachgiebigkeit gegen diese Gesellschaft reicht nicht so weit, um ihn selbst bei einer so unsympathischen Per­ sönlichkeit, wie Oskar Wilde ist, zu einer andern Aechtung zu bewegen als der, die von der Gemeinschaft der stets Korrekten und Honorablen geübt wird. Wenn bei uns irgend ein Sünder für seine litterarische, nicht seine persönliche Lasterhaftig­ keit gefasst werden soll, da horcht man gespannt in Stadt und Land herum, ob nicht doch eine Wachtmeisterseele Beunruhigung empfunden hätte. - Wo solche Beispiele so beredsam sprechen, wo man so zärtlich Rücksicht übt, auf dass ja kei­ ner Wachtmeistermoral zu nahe getreten würde, was braucht es da noch so schwe­ ren Geschützes, wie der famosen Umsturzvorlage, um derentwillen in dieser Woche der Kampf neu entfesselt werden soll? Man konfisziert Maifestblätter des Proletariats, um sie nach dem Fest, nach gerichtlichen Beschlüssen wieder freizu­ geben. Ein Bösewicht, wer Uebles dabei dächte und nicht erkennen wollte, dass die Massregel der Polizei gewissermassen wohlwollender Vorsorge entsprungen sei. Am ersten Mai ist ohnedies die Stimmung gehoben. Warum dann durch pathe­ tische Illustrationen, anfeuernde Aufsätze das Blut noch mehr in Wallung brin­ gen? Wenn ohnedies die Wachtmeisterauffassung Trumpf ist im Lande, wozu sie übertrumpfen wollen? OTTO JULIUS BIERBAUM in einer wegen der drohenden Gerichtsverhand­ lung von zwei Zeitschriften zurückgewiesenen Besprechung. Frühjahr 1895. Der konfiszierlichste aller lebenden deutschen Schriftsteller ist ohne Zweifel Oskar Panizza in München. Sein Lieblingssport ist es, dem Staatsanwalt auf die Hühneraugen zu treten, um zu erkunden, wie weit es dieser Funktionär in der Erduldung von Schmerzen zu bringen vermag. Aber, merkwürdig: während seine Anklage-Eminenz in der Regel so kitzlich ist, dass sie den leisesten Fingerspitzen­ stoss peinlich fühlt und unverzüglich darauf reagiert mit prompt erhobener Anklage, - dem kühnen Oskar gelingt es nicht, sie aus der contenance (er würde schreiben: kongtenangs) zu bringen. Es ist wie mit den Brennesseln: greift einer zage hinein, streift einer nur leise daran, so brennen sie höchst fatal, packt aber

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einer mit derber Faust fest in das Gestachel, thun sie nicht im mindesten weh. Ich muss gestehen, dass Panizza’s Sport mir etwas spleening vorkommt. Er macht auf mich den Eindruck wie der des wunderlichen Engländers, der sich ängstlich drei Stunden lang unter einen Balkon stellte, von dem er wusste, daß er nicht fest sei und sicher einmal herunterstürzen würde. Nur, dass ich den Engländer eher verstehe als Panizza. Der Engländer war ein Mensch, der müssig gehen musste, weil er mit seinen vierundzwanzig freien Stunden nichts Anderes anzufangen ver­ mochte; Panizza aber ist ein starkes schriftstellerisches Talent, einer der originell­ sten, phantasievollsten Köpfe, die wir in Deutschland haben, dabei ein ausser­ ordentlich fleissiger Mensch, der ganz gewiss dieses lebensgefährliches Sportes mit Staatsanwalts Hühneraugen nicht bedarf, um sich die Zeit zu vertreiben. Also ist es wohl mehr Sport? Es ist also Ernst, und es liegt ihm an der Sache und nicht am Staatsanwalt? Was aber ist die Sache? - Seine Heiligkeit, der Papst. Auf den hat er’s abgesehen, als wäre er einer der zornigen protestantischen Kanzel­ polterer »wider den Ende-Christ in Rom« zur Zeit der reformatorischen Sturmflut in Deutschland. Aber wir schreiben doch 1894, und die Handjuckt uns doch wohl von ganz anderen Schmerzen, und unsere Gedanken schwärmen doch wohl auf etwas weiterem Plane, als zwischen Rom und Wittenberg. So berührt denn das ganze Sturmgerenne Panizza’s gegen den Vatikan etwas atavi­ stisch, und seine papstmörderischen Bücher können für uns keinen andern als einen Kuriositätswert haben, es sei denn, dass ihnen ein künstlerischer Wert inne­ wohnte. Seither war aber gerade in Panizzas Werken dieser Art der Kunstwert gering, und Panizza selbst hat mit ihnen wohl auch keine Kunstwerke schaffen wollen. Anders liegt die Sache bei dem dritten, soeben bei Schabelitz in Zürich erschienenen Buche gleicher Tendenz, bei dem »Liebeskonzil«, einer »Himmelstragödie in fünf Auf­ zügen«. Dieses Werk gibt sich als Dichtung und ist eine. Freilich von sonderer Art. Moritz Carrière, so fürcht’ ich, hätte sie nicht als Poesie anerkannt. Man muss einen sehr weiten Sprung rückwärts machen, um auf Ver­ wandtes zu stossen. Es ist ein Sprung, der in zwei Absätzen bis auf Aristophanes führt. Der erste Absatz bringt uns in die Mitte der Stürmer und Dränger der vorigenjahrhundertwende, zu jenen Brauseköpfen, die unter dem Rousseau-Rufe, »retour­ nons à la nature«, das Ziel einer kraftherrlichen Deutschheit erstürmen wollten und an deren Art der Beginn unserer jüngstdeutschen Literaturbewegung erinnert, die dann, soweit sie sich zu »Richtungen« anschwemmte, ganz entgegengesetzte Wesenszüge angenommen hat. Die Sprache in Panizza’s »Liebeskonzil« erinnert nicht selten an die ekstatische Phraseologie der Klingerund Lenz, die die Superlative Übersuperlativ und doch ihren Lieblingstrumpf ausspielt, indem sie sich von den höchsten Höhen plötzlich klatschend in die tiefste Realität herablässt. Auch in der inneren Art liegt vieles von jenem deutschen Sturm und Drang. Alle Perspektiven laufen in die Ewigkeit, und in solchen Perspektiven hat nur das Ucberlebensgrosse

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Platz. Und ist ein Misthaufen dabei vonnöten, so türmt auch er sich überlebens­ gross. Der zweite Absatz bringt uns unter die Leute vom Schlage RabelaisFischart, die den Grobianismus kunstfähig machten und denen der derbste Stoff just der liebste war, daraus ein Ding der Kunst zu kneten. An die gigantische Unge­ niertheit dieser Zwei ragt Panizza, so unerhört für unsere Zeit auch seine Gewagt­ heiten sind, nicht heran, wie er denn schliesslich neben Aristophanes gar sich bei­ nahe fromm ausnimmt. An unserer Verschämlichkeit gemessen, ist diese Fröm­ migkeit freilich schon teuflische Frechheit wieder, und ich scheue mich fast, nur andeutungsweise den Inhalt dieser Himmelstragödie wiederzugeben. Sie ist nach dem Titelblatt auf das Jahr 1895 datiert und dies nicht bloss aus der bekannten Gepflogenheit des Buchhandels, der bei Veröffentlichungen im Winter vorzudatieren pflegt. Denn sie ist eine Art umgekehrter Jubiläumsdichtung. Siehe die Zeitbestimmung der Handlung: »Frühling 1495, das erste historisch beglau­ bigte Datum vom Ausbruch der Lustseuche...« Die Handlung aber selbst... ich bin in Verlegenheit... Ich mag es drehen und wen­ den, wie ich will, - ich habe nicht die Courage, sie nachzuerzählen. Denn, wie ich es auch immer thäte, es bliebe doch nur der nackte, böse Inhalt, alles dessen entklei­ det, was ihn künstlerisch umgibt und dadurch auch für den erträglich macht, der ihn selbst abscheulich nennt. Nur soviel sei gesagt: es wird in phantastischerWeise die Entstehung der Lues geschildert. Es mag schwer begreiflich erscheinen, dass ein solcher Stoff dichterische Behand­ lung vertragen soll. Aber es kommt nur darauf an, was man unter Dichtung

Wer ist der grössere Dichter: der selige Redwitz, der »Amarauth« schrieb und dem die Comtessen ein Denkmal errichtet haben, oder der Prophet Hesekiel, um dessentwillen manche fromme Mütter die Bibel in den Giftschrank schliessen? Wo ist die grössere künstlerische Kraft: bei Fräulein Bürstenbinder, die die »Gartenlaube« versorgt, oder bei Aristophanes, der die »Thesmophoriozousen« schuf? Kein Zwei­ fel: der Amaranth-Redwitz und Fräulein Bürstenbinder sind beide unvergleich­ lich viel anständiger als der Prophet Hesekiel und der Cyniker Aristophanes, aber die Kunst steht jenseits von Anstand und Shocking, die Kunst ist immoralistisch durch und durch. Anderwärts, in Frankreich etwa, ist es nicht nötig, diese Wahr­ heit zu betonen, in Deutschland aber muss man sie immer und immer wieder dem Publikum zurufen, das bei uns gar zu gerne ein Kunstwerk bloss auf den Stoff hin ansieht. Bei einem Werke, wie Panizzas »Liebeskonzil«, wird von allen Seiten der Ruf »Wozu?« ertönen. Wozu Himmel, Erd’ und Hölle, Gott, Teufel und Papst mobili­ sieren, um schliesslich die Erschaffung der Syphilis darzustellen!? Was hat all’ dies Aufgebot von Witz und Phantasie und Leidenschaft und Bildkraft und schliesslich auch Mist für einen Zweck? Wird das »Liebeskonzil« den Papst stürzen? Wird es den Glauben an Gott und Christus und Maria erschüttern? Wird es nicht vielmehr die Gläubigen, wenn überhaupt ein solch »teufliches« Buch in ihre Hände gelangt, erst recht in heiligem Zorne zusammenscharen? Und dann: wen kann diese unheimliche Häufung von Cynismus und blasphemischen Verwegenheiten er­ freuen? Muss sie nicht lediglich verletzen? Ist das Ganze nicht ein Attentat? 115

Aber mit demselben Rechte könnte man fragen: Wozu Himmel, Erd’ und Hölle, Gott, Teufel, Papst und Kaiser mobilisieren, um schliesslich nur den Rahmen zur Verführungsgeschichte einer deutschen Jungfrau namens Gretchen zu schaffen? Welchen Zweck hat das Riesengebäude des »Faust«? Werden die verliebten Männer dadurch moralischer, die verliebten Mädchen - vorsichtiger? Hat» Faust« dadurch die »Menschen gebessert und bekehrt«? Ist die Phalanx der Wortgläubigen nicht vielmehr heute geschlossener, übermütiger, kräftiger, als sie es zu Goethes Zeiten war? Und dann: welches Aergernis hat dieses »Gottlose Gedicht des vaterlandslo­ sen Heiden Goethe, des Erzvaters aller Liberalen und Atheisten« nicht allen From­ men gegeben? Muss es nichtjede sittliche Person verletzen? Ist es nicht im Grunde ein Attentat? Ich will wahrhaftig das »Liebeskonzil« nicht mit dem »Faust« vergleichen, aber so viel ist gewiss, dass man jene unkünstlerischen Fragen gegen jedes Kunstwerk auf­ werfen kann. Mutatis mutandis auch gegen jedes »moralinsaure« und fromme Kunstwerk. Ich empfinde das flache Gefrömmel in der Kunst und die seichte Sitte­ lei als Attentat auf mein freieres und höheres Empfinden, und ich fühle mich sehr verletzt, wenn man mir mit den Mitteln der Kunst atavistische Zumutungen stellt; aber wenn es mit wirklicher Kunst geschieht, so lasse ich mich nicht abhalten, diese zu geniessen und dankbar zu verehren. In manchem Münster nistete die Taube, Vor der Legende bog die Welt das Knie, Des Mittelalters frommer Köhlerglaube, Ich weiss es wohl, auch er war Poesie sagt Arno Holz in der prächtigen Widmungsepistel zu seinem noch längst nicht genug geschätzten »Buche der Zeit«. Nein: die Frage nach dem Zwecke in der Kunst sollte keiner mehr stellen, der etwas darauf hält, ohne an Krücken zu gehen. Die Theologie in der Kunst ist genau so sehr ein rückständiger Rest aus überwundenen Zeiten, wie sie es in der Philosophie ist. Wer sich auf diesem alten, eingesunkenen Grossvaterstuhle niederlässt, kommt logisch dahin, alle Poesie auf Didaktik zurückzuführen. Es gibt Menschen, die die Blütenblätter der roten Rosen abkochen, den Absud mit Vitriol und Grünspan vermischen, und so eine schwarze Tinte erzielen. Diese Leute könnten mit demselben Rechte behaupten, der Zweck der roten Rosen liege in der Tintenfabrikation, wie die Zwecksucher der Kunst einen Zweck der Kunst etwa im Moralischen oder in sonst einer Tendenz aufstellen. Jeder nach seinem Geschmack. Der eine freut sich ohne praktische Nebengedanken der roten Rosen, und der andere kocht Tinte daraus: der eine freut sich unmittelbar herzlich der Kunst und ihrer Gebilde, und der andere stopft sie in den Katechismus. Himmel, wer packt mich da an der Gurgel! Was sind das für grimmig triumphie­ rende Augen vor mir! »Haben wir dich doch! Jetzt hast du dich festgerannt! Wie? Ist deine unmittelbar herzliche Freude an der Kunst nicht auch ein Zweck? Heiterling, der du bist, Elender!«

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Sitz’ ich wirklich fest auf der Klippe des Heiterling-Zwecks? Ich glaube nicht, dass das eine Klippe ist. Denn dies scheint mir selbstverständlich und nur sophistisch bestreitbar zu sein, dass in der That der Zweck der Kunst innewohnt, künstlerische Freude zu bereiten. Denn dieser Zweck, die Lebensenergie zu steigern, will sagen: Freude zu machen, wohnt aller Lebensbethätigung inne, und was diesen Zweck nicht hat, ist Krank­ heit. Gerade dieser einzige, selbstverständliche Zweck aber, dieser, Selbstzweck der Kunst, schliesst jene sekundäre Zweckmässigkeit aus, oder er wird zum Mindesten geschädigt, wenn sie sich beimischt. Das reinste Kunstwerk ist das, aus dem die ungetrübte schöpferische Freude einer grossen Persönlichkeit herausstrahlt, das uns wenigstens einen Abglanz der Schöp­ ferwonnen geniessen lässt, unter denen es erzeugt worden ist. Vor einem ganz gros­ sen Werke rufen wir nicht bloss aus: welch ein Werk! sondern auch: welch ein Mensch! Wohin bin ich geraten! Vom »Liebeskonzil« auf das beliebteste Gesellschaftsspiel der deutschen Kunsttheoretiker, das Frag- und Antwortspiel vom Zweck in der Kunst. Reissen wir uns eiligst davon los! Den Schlussatz meiner Ausführungen aber auf den Dichter des »Liebeskonzils« angewandt, ist zu sagen: einen grossen Menschen sehen wir hinter diesem Werke nicht, vielmehr einen in mehr als einem Sinne beschränkten. Aber es ist ein ausser­ gewöhnlich interessanter Mensch und ein aussergewöhnlich origineller Künstler. Will man aber einen haben, der ein ähnliches Thema, das Thema vom gestorbenen Gott, als grosser Mensch und souveräner Künstler behandelt hat, so ragt vor uns der Schöpfer des »Anti-Christ« auf: Friedrich Nietzsche. Wie aber sagte doch Goethe in zweiten »Fetzen« seines »Ewigen Juden«? Dieser ganz Grosse, der objektiv sogar im Sturm und Drange war, sprach also: Der grösste Mensch bleibt stets ein Menschenkind, Die grössten Köpfe sind das nur, was andre sind. Allein das merkt: sie sind es umgekehrt, Sie wollen nicht mit andern Erdentröpfen Auf ihren Füssen gehn - sie gehn auf ihren Köpfen: Verachten, was ein jeder ehrt Und was gemeinen Sinn empört, Das ehren unbefangne Weisen; Doch brachten sie’s nicht allzuweit: Ihr non plus ultra jeder Zeit War, Gott zu lästern und den Dreck zu preisen. »BAYRISCHER KURIER« vom 14.Januar 1897.« »Antichristliche Pamphletisten«: Es ist ein grosser Unterschied zwischen dem, wenn auch satirischen, Gegner einer Sache und einem Pamphletisten. Den ersteren wird man immerhin ernst neh­ men und sogar achten müssen, den letzteren vergleicht man am besten mit dem

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lichtscheuen Brandstifter, der im Dunkel der Nacht sein gemeingefährliches Handwerk treibt. Das Christenthum hat beide Arten von Widersachern kennen gelernt - schon in sehr früher Zeit. Der heidnische Philosoph Celsus ist der namhafteste litterarische Gegner der Kirche aus ältester Zeit, keineswegs der einzige. Seine Auslassungen, denen christ­ liche Autoren nichts schuldig blieben, spiegeln zum grössten Teil die boshaften Ver­ leumdungen und Anklagen wider, welche nach jüdischen Quellen im Munde der Menge kursierten. Es sind dieselben Vorwürfe darunter, welche die modernen Gegner ins Feld führen gegen die übernatürliche Geburt des Herrn, gegen seine göttliche Natur, gegen seine Auferstehung und Himmelfahrt - und diese alten Waffen beweisen durch ihre Existenz schon, wie - verrostet die Waffen der neuzeitlichen Feinde sind. Dazwischen hinein scheut sich der gelehrte Philosoph freilich nicht, auch die albernsten Ammenmärchen wider die alten Christen aufzutischen, Märchen, die, wie z. B. die Onolatrie (Eselsanbetung) und das Verzehren eines Kindes beim Lie­ besmahl, ungefähr so ernstlich geglaubt wurden, wie etwa leider viele leichtgläu­ bige Katholiken an die Unterschrift des Teufels Bitru glaubten, die Herr Leo Taxil erfunden hat. Indessen gleichen auch hierin dem spottreichen Heiden seine modernen Kollegen, die allerhand lächerliche Fabeln,die blinder Hass erdichtet hat, in ihre Pamphlete hereinziehen. Und wenn daher auch Celsus es nicht ganz an rein logischen Einwürfen und wissenschaftlichen Gegensätzen fehlen liess und in diesem Sinne mit Renan und Strauss verwandt ist - aber nur in diesem -, so muss er doch, weil er in den niedrigsten Sumpf offenkundiger Verleumdungen geriet, in die Reihe niederträchtiger Pamphletisten gestellt werden. In einer ganz anderen Beziehung ist der KaiserJulian Apostata als Satiriker aufzufas­ sen. Er hat nicht wie Celsus im Christentum eine Lächerlichkeit gesehen, er sah in ihm von seinem Standpunkt als Freidenker aus eine Dummheit und Gefahr. Er sprach und schrieb satirisch, aber als er die grösste Satire schaffen, als er der Fratze des römisch-griechischen Heidentums edlere christliche Züge aufsetzen wollte, da gebot ihm der verhasste Nazaräer Einhalt. Von Julian bis heute war es der satirischen Gegner des Christentums eine Legion. Sie sind sich im Material, in der Absicht, im Tone ziemlich gleich geblieben. Für die ernste Forschung oder ernstzunehmende Antikritik des Christentums haben sie so viel wie nichts geleistet: wohl aber haben sie unheilvoll gewirkt und Tausende von christustreuen Herzen verführt, und sie konnten das, weil das menschliche Herz eben einem Kahne gleicht, der von den vier Winden sich treiben lässt. Ein Blick auf die Litteratur der Gegenwart zeigt uns die Schar der Gegner in vollem Ansturm wider die auf dem Felsen ragende Kirche. Wir dürfen nicht leugnen, dass es zur Hälfte die moderne Wissenschaft ist, die das Heer der Feinde bildet und die gottentfremdet wie sie ist - konsequent zur Gottentfremdung führen muss. Aber zur andern Hälfte ist es die mehr oder minder berufene »schöngeistige« Litteratur, welche den Krieg gegen jede Offenbarungsreligion aufgenommen hat. Wir gehen zwar durchaus nicht zu weit, wenn wir die gesamte »moderne«, realistische und naturalistische Litteratur als offenbarungsfeindlich bezeichnen - und es wird

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kaum einen angesehenen Schriftsteller dieser Tendenz geben, der uns hierin wider­ spricht; allein wir sprechen auch solchen Publikationen, wofern sie anständige Gegnerschaft bewahren, das Existenzrecht und künstlerischen, ja sogar sittlichen Wert nicht ab, weil wir wissen, dass der Unglaube aus innerem Zwang und ohne bösen Willen nicht unsittlich zu sein braucht. Ganz entschieden aber unsittlich sind jene Schriften, deren Zweck die Verächtlichmachung der heiligsten Ueberzeugung des Gegners, die Verhöhnung der katholischen Dogmen, die Beschimpfung der kirchlichen Institutionen ist. Nicht die Gegnerschaft als solche nennen wir gemein, sondern den Geist, der sie leitet, die Mittel, welche sie anwendet, die Sprache, die sie im Munde führt und die Absicht, die sie verfolgt. Es sind in unserer deutschen zeitgenössischen Litteratur gewiss nicht die talentlose­ sten Geister, die das Kampfmittel des Pamphlets anwenden. Wer das Gegenteil behauptet, betrügt sich selbst. Das ist aber gerade ein Zeichen unserer Zeit, dass die Talente sehr oft zuchtlos heranwachsen und - unzüchtig sich offenbaren. Wir lasen vor etwa zwei Jahren eine Epistel »in rebus amoris« von Schaf, die, auf die Person des Papstes Alexander VI. unglückseligen Angedenkens rekurrierend, schon um ihrer Form willen uns den cynischen Inhalt bedauern liess. Und wenn in der gerichtli­ chen Verhandlung wider Oskar Panizza ein bedeutender Schriftsteller wie M. G. Conrad das berüchtigte »Liebeskonzil« in gewissem Sinne als ein »Kunstwerk« bezeichnete, so braucht dies keineswegs zu verwundern: es kann eine litterarische Arbeit sehr wohl die formalen Regeln der Aesthetik beobachten und doch für uns abscheulich sein. Die Teufelsfratze dieser Kunst durchschaut man nicht so leicht. Weit mehr als für den Gottesglauben, für unser Christentum scheint uns jedoch das Treiben der »antichristlichen Pamphletisten« gefährlich für den - guten Geschmack. Und das wahrhaftig hat uns weit mehr als der infernalische Kirchen­ hass der Herren verwundert: dass solche Schriftsteller ihre Gemeinde in jenen Kreisen suchen und finden, die angeblich einen — guten Geschmack haben. Es stinkt - aber nicht nur bei diesen modernen Celsianern, sondern leider auch recht sehr bei den »modernen« Christen!

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THEODOR FONTANE BRIEFE AN MAXIMILIAN HARDEN Berlin, 22. Juli 1895

Es ist mir außerordentlich erfreulich, daß ich Ihnen einmal zu Wunsch und Willen sein kann, wiewohl ich im ersten Augenblick - weil ich dachte, es könne sich um Verse handeln (nach welcher Seite hin ich, vor zehn Jahren bereits, meine Pflicht und Schuldigkeit getan habe) - wieder einen kleinen Schreck kriegte. Bald aber beruhigte ich mich. Also bestens akzeptiert. Es werden übrigens nur wenige Seiten werden, drei, vier, was auch genug ist. Bei seinem Kunsttum werde ich mich nicht lange aufhalten, aber einiges über den Menschen sagen. Als solcher ist er vielleicht noch größer, wie als Maler. Ein ganz grandioser kleiner Knopp. Ich habe die Nummer der »Zukunft« vom 6. und 13. Juli gelesen und mich an vie­ lem erfreut (Harden ist zu sehr Harden), nicht zum wenigsten an Ihren »Berliner Sommernächten«. Ich freue mich immer, wenn den Berlinern gesagt wird, wie tief stehend, wie elend hier alles ist, was einem unter dem Namen »Vergnügen« vor­ gesetzt wird. Berliner Kellner, Berliner »Fräuleins« (lauter gänzlich unmotivierte Komtessen) und Berliner Blumenmädchen, die Stelzfüße sowohl wie die Thürin­ gerinnen (unverfälschtes Weddingblut) können einem die Menschheit verleiden. K. Frenzei ließ vor vielen Jahren mal drucken: »Alles was in Berlin als >berlinisch< oder nun jetzt gar als >italienisch< an einen herantritt, ist vorher durch irgendein Fach der Niedrigkeit gegangen.« Unser Nationalheiliger ist derEckensteher Nante. Noch eins. Ich habe da vor ein paar Tagen das Buch von Oskar Panizza gelesen » Das Liebeskon­ zil«, woraufhin er zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde. Lesen Sie’s und wenn Sie können, schreiben Sie darüber; es ist sehr schwer (polizeischwierig) aber sehr lohnend. Es ist ein ganz bedeutendes Buch und » ein Jahr Gefängnis« sagt gar nichts. Entweder mußte ihm ein Scheiterhaufen oder ein Denkmal errichtet werden. Unser Publikum müßte endlich lernen, daß der Unglauben auch seine Helden und Märtyrer hat.

Berlin, 27. Juli 1895

Heute schon ein Wort in der Panizza-Sache. Die ganze Welt - das ist die Macht des Überkommenen - steckt in dem Vorurteil, daß der Glauben etwas Hohes und der Unglauben etwas Niederes sei. Wer sich zu Gott und zur Unsterblichkeit seiner eigenen werten Seele bekennt, ist ein »Edelster« od. dgl., wer da nicht mitmacht, ist ein Lump, reif für Lex Heintze. Mit diesem furchtbaren Unsinn muß gebrochen werden. Ich persönlich kenne keinen Menschen, habe auch nie einen gekannt, der den Eindruck eines Vollgläubigen auf mich gemacht hätte. Neunundneunzig ste­ hen ebenso, der Hunderste möchte es bestreiten, kommt aber nicht weit damit. So

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stellt es wirklich. Und dabei Forderungen an unser Gemüt, als lebten wir noch zur Zeit der Kreuzzüge. Läuft es so still hin, so schadet es nichts, kommen aber die Pro­ vokationen, an denen kein Mangel ist, so haben wir, als Antwort darauf, Panizza. Hohn war immer eine berechtigte Form geistiger Kriegsführung. Berlin, 8. August 1895

Ja, Panizza. B eiläufig ein Name, den man j etzt gar nicht mehr los wird: Panizza der erschossene, Panizza der »eingespunnte« und Panizza im British Museum, wenn er noch lebt. Über den » unter Schloß und Riegel« zu schreiben, wäre mir ein Vergnügen, aber ich müßte zu diesem Behufe nicht 7 5 sein und etwas mehr vom Weltreformator in mir verspüren. Davon bin ich aber weit ab, habe sogar eine Abneigung gegen die ganze Gruppe, wie z.B. auch gegen die Missionare, die Weltreformatoren kleinen Stils sind. Wenn mal wieder zehn gemordet werden, so tun mir die armen Kerle furcht­ bar leid, denn ich bin nicht für Mord und nicht für Gemordetwerden, aber von Prin­ zip wegen kann ich sie nicht bedauern. Ich finde es bloß anmaßlich, wenn ein Schu­ sterssohn aus Herrnhut 400 Millionen Chinesen bekehren will. Panizzas Buch hat seine Berechtigung in der zum unerbittlichen Dogma erhobe­ nen Legende. Wer mir zumutet, daß ich die Zeugungsgeschichte Christi glauben soll, wer von mir verlangt, daß ich mir den Himmel in Übereinstimmung mit den präraphaelitischen Malern ausgestalten soll: Gott in der Mitte, links Maria, rechts Christus, Heiliger Geist im Hintergrund als Strahlensonne, zu Füßen ein Apostel­ kranz, dann ein Kranz von Propheten, dann eine Girlande von Heiligen, - wer mir das zumutet, der zwingt mich zu Panizza hinüber, oder läßt mich wenigstens sagen: »Wie ’s in den Wald hineinschallt, so schallt es auch wieder heraus.«

THEODOR LESSING EINMAL UND NIE WIEDER Auszug Als ich durch Reden bei den Dichtern eingeführt wurde, berieten sie gerade, was unternommen werden solle zu Gunsten eines Gefährten, der in schlimme Lage geraten war. Er hieß Oskar Panizza, war Sohn eines Hotelbesitzers in Bad Kissingen und hatte sich mißliebig gemacht durch eine die Kirche verspottende Komödie »Das Liebeskonzil«, welche der Staatsanwalt Freiherr von Sartor wegen Gottes­ lästerung unter Anklage stellte, worauf das Schwurgericht den Dichter zu einem Jahr Gefängnis verurteilte. Die Krokodile redeten auf mich ein. Panizza sei Medizi­ ner wie ich, Assistent unseres edlen Lehrers Grahey, und ich habe doppelt Anlaß, mich kollegial zu bewähren. Und so in derselben Nacht, trunken von Wein, Ehr­ geiz und Zorn, setzte ich mich nieder und schrieb in wildem Furioso eine Verteidi­ gungsschrift, ohne das verurteilte Stück überhaupt zu kennen. (Ich kenne es bis heute nicht.) Ich lieferte einen höchst allgemeinen und höchst arroganten »Weck-

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ruf an die Menschheit«. Der Begriff »Gotteslästerung« sei sinnlos; jedenfalls unan­ wendbar bei Werken der Kunst, denn Witz, Satire, Ironie müßten unumschränkt schalten dürfen wie die Fantasie. Fragen der Dichtung gehören nicht vor bürger­ liche Gerichte. - Ein junger Buchhändler, namens Max Wohlfahrt, nahm den Ser­ mon in Verlag; in wenigen Tagen war die Schrift vergriffen. Der beleidigte Staatsan­ walt ließ bei der alten Rauh Haussuchung veranstalten; die Polizei konfiszierte meine Gedichte und die Klopfoffenbarungen der verstorbenen Söhne, und ich stand unter geheimer Aufsicht als des Atheismus oder Kommunismus oder sonst eines -ismus verdächtig. Aber dank dieses Ereignisses kamen nun Anerbieten und Anfragen und ohne das gewollt und bedacht zu haben, schwamm ich plötzlich im frischen Wasser der Literatur. Ade Studium und Medizin! Weltunerfahren und wir­ kungswillig ließ ich Hans Merian in der »Gesellschaft« »BeschaulicheBriefe eines Münchner Eremiten« drucken und übernahm für den Zeitungsverleger Doktor Haas allerlei Buch- undTheaterkritik. - Alsbald machte ich auch dieBekanntschaft von FranzjosefBrakl, Operettentenor des Theaters am Gärtnerplatz; der hatte eine Dramenagentur, genannt» Drei-Masken-Verlag«. Der muntere Mann las » Christus und Venus« und ließ das Drama drucken; dem folgte bald ein zweites Drama » Recht des Lebens« und die Lustspiele »Nation« und »Nur nicht lügen«. Aber auch die Dramen und Lustspiele brachten Enttäuschungen, so daß bald der Antrieb er­ lahmte, diese Arbeit für das Theater fortzusetzen, obwohl ich auch künftig stets mit dem Theater in Verbindung blieb. Man darf indes nicht glauben, daß diese Miß­ erfolge völlig unverdient waren, denn es fehlte mir zwar nicht an Gaben, wohl aber an Maß und Form, wie denn wohl nur wenig so schwer um Gestalt und Grenze haben ringen müssen; bis weit über das Schwabenalter hinaus geriet ich immer neu in das Chaos. - Als der arme Panizza aus dem Gefängnis Amberg entlassen wurde, kam ich zu ihm in nähere Beziehung; aber nun zeigte sich Verlorenheit. Er zerrüt­ tete seinen starken Verstand durch wahllose Neigung zur Mystik und seinen gesun­ den Leib durch wahllosen Umgang mit abenteuerlichen Existenzen. In seiner Wohnung an der Nußbaumallee herrschte ein toller Betrieb .Jedesjunge Mädchen, das ohne Bleibe und Heim war, wurde bei Panizza aufgenommen und jeder junge Literat ohne Zukunft und Zucht konnte bei ihm seinen seelischen Mist abladen. Schließlich kam es dahin, daß der kluge, überlegene Irrenarzt, unfähig sich bürger­ lich zu disziplinieren, selbst um Aufnahme in eine Irrenanstalt bat. Aber zu der Zeit, wo ich ihn kannte, war er weder krank noch irre. Er flüchtete in die Krankheit und starb als unheilbar Verwirrter.

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THOMAS MANN DAS LIEBESKONZIL Man weiß, daß neulich Herr Dr. Oskar Panizza bei Gelegenheit seiner sogenannten Himmelstragödie »Das Liebeskonzil«, die nur so ungefähr neunzig kleine Gottes­ lästerungen aufzuweisen hatte, vom königlichen Landgericht München I zu einem Jahre Gefängniß verurtheilt worden ist, und man soll nun auch wissen, daß dieser Dichter, ebenfalls bei Schabelitz in Zürich, die Vertheidigungsrede hat erscheinen las­ sen, die er damals vor Gericht gehalten hat. - Es ist natürlich, daß, als das Urtheil ge­ fällt war, die voll und ganz Modernen des Landes wieder einmal nicht genug des Hohns wußten über den deutschen Staatsanwalt an sich, der seine modern-dichtkünstlerische Unbildung aufs Neue fürchterlich bewiesen hatte. Es ist ferner natür­ lich, daß Panizza selbst in seiner Vertheidigungrede den künstlerischen Standpunkt ebenso wenig verläßt, wie Dr. Conrad, dessen sachverständiges Gutachten der freundl. Leser für 60 Pf. mit in den Kauf bekommt. Aber es war, ist und bleibt bei allen derartigen Prozessen zu bedenken, daß das Gericht andere Interessen zu ver­ treten hat, als die künstlerischen; praktischere Interessen, die Dr. Conrad, der doch wohl für gewöhnlich mehr Politiker als Künstler ist, im Stillen und Geheimen gewiß nicht hat außer Acht lassen können. Aber er ist auch Künstler, und deshalb scheut er sich bei allem Wohlwollen nicht, von »mir persönlich widerlichen Geschmacklosigkeiten« zu reden, die das »Liebeskonzil« in Massen enthält. Was gilt es? Sollten diese vom Künstler sogenannten »Geschmacklosigkeiten« nicht diesel­ ben 90 oder 93 Fälle sein, die der Staatsanwalt »Gotteslästerungen« nennt? Kann man dann nicht auch vom künstlerischen Standpunkt aus mit der Verurtheilung einverstanden sein? Oder sind wirklich die Leute, die in der Kunst ein bischen guten Geschmack noch immer verlangen, nichts als zurückgebliebene Banausen?

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MAX KRELL DAS HABERFELDTREIBEN An einem Abend in der Torggelstube sagte Frank Wedekind: »Ich habe gestern Panizza besucht. Es geht ihm ausgezeichnet. Er ist der vernünftigste Mensch auf dieser Erde. Und er arbeitet!« Alle horchten auf. Keiner von uns kannte Panizza persönlich, aberjeder wußte, wer das war. Alle Städte haben ihre Gespenster, die im Hintergrund weiter wirken, nachdem ihre Bedeutung erloschen ist, vitale Leute noch, von denen man sich ein Auftrumpfen erwarten darf. Vielleicht aber bleiben sie für immer stumm und nur eine Legende in der Erinnerung einiger Zeitgenossen. Die wenigen kurzen Sätze Wedekinds wirkten: einmal weil der Name Panizza in München verpönt war, zweitens weil man eine gute Gesundheit bezweifelte, drit­ tens weil man sich nicht vorstellen konnte, was er etwa täte. Oskar Panizza war ein Dichter gewesen, an dem alles Salz und Pfeffer war. Aber keine Literaturgeschichte hatte sich seinen Namen gemerkt. Er hätte seinen Platz in einem Kapitel der ChroniqueScandaleuse finden müsssen, und dieses Kapitel wollte niemand schreiben. Er hatte Vorjahren zwei schwere Sünden auf sich geladen, die ihm die Öffentlichkeit nie vergab. Er hatte ein Dramen-Pamphlet geschrieben, das sein Motiv aus religiösen Bereichen gewählt hatte. Es spielte im Himmel, aber in einem liederlichen Himmel. Und München war eine zwar liberale, aber in kirch­ lichen Belangen empfindliche Stadt. Im Erzbischöflichen Palais mußte man das Pamphlet ex offizio lesen, der Kardinal schäumte Zorn, und er forderte von den zivilen Behörden eine strenge Bestrafung. Aber das war leichter gefordert als erwirkt. Die Schrift war in einem Schweizer Verlag erschienen, der sich als Verkün­ der avanguardistischer Literatur einen Namen gemacht hatte. Von Bayern aus konnte erjuristisch nicht belangt werden. Man konnte nurjagd auf eingeschleppte Exemplare machen. Dann beging Panizza die zweite Sünde. Er schrieb eine ebenfalls mit Pfeffer und Salz angemachte kulturhistorische Studie, gegen die vom moralischen Standpunkt aus nichts eingewandt werden konnte. Aber sie brachte die bayerische Volksseele zum Kochen: »Das Haberfeldtreiben.« Im Mittelalter wurde der barbarische Brauch des Haberfeldtreibens in den ober­ bayerischen Dörfern geübt. Panizza wies nach, daß er durchaus nicht abgestorben sei, vielmehr in der Umgegend des frommen Passionsdorfes Oberammergau zu Zeiten noch recht kräftig befolgt werde. Er bestand in einer Art Teufelsaustreibung. Wenn ein Bauer sich gegen den ungeschriebenen Ehrenkodex der Landbevölke­ rung vergangen hatte, es zum Beispiel mit dem Steuerzahlen trotziger Weise genauer nahm als seine Nachbarn, überhaupt dauernd aus der Reihe tanzte, auch wenn er ein Eheversprechen trotz genossenen Vorschusses einzuhalten sich wei­ gerte, verabredeten sich die Bauernburschen zum Haberfeldtreiben. In einer Faschingsnacht schleppten sie Holz und Reisig rund um seine Hütte. Schlag Zwölf, also zu Beginn der Geisterstunde warfen sie den Brand hinein.

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Flammte dann der Feuerkreis lichterloh, wurde der Schläfer mit karnevalistischen Getöse, durch Gehämmer auf Bottiche und Pfannen, aus demBett gescheucht. Die Burschen standen mit Mistgabeln und Dreschflegeln bereit, den aus dem Qualm herausstürzenden Mann unerbittlich zu empfangen oder in die Lohe zurückzu­ jagen; was selten ohne Totschlag abging. Hinterher war es niemand gewesen genau so wie bei den Taten der Mafia in Sizilien. Panizza war der alten Sitte mit wissenschaftlicher Gründlichkeit nachgegangen, er hatte aber auch nicht gezögert, als eine Art von Kanibalismus anzuprangen, was man allenfalls den Wilden auf Borneo nachsagen durfte, nicht aber den Angehöri­ gen einer angeblich zivilisierten, zum mindesten christlichen Nation. Die Tatsache solcher Exzesse war nicht zu leugnen. Nicht zu verzeihen aber war, daß man mit dem Finger darauf hinwies und eine ehrenwerte Bauernschaft bloßstellte. Die Volksseele kochte, sie kochte so heftig, wie nicht einmal bei der Anklage wegen des religiösen Dramenpamphlets. Pläne grausamer Rache wurden gegen Panizza geschmiedet. Bauernburschen stiegen aus den Bergen herab nach München, den »tollen Hund« auf offener Straße niederzuschlagen. Nur mit Mühe und Not ent­ kam er mehrere Male einem Attentat. Die Gerichte beschäftigten sich mit ihm. Da gegen die wissenschaftliche Sachlich­ keit seiner Studie nichts einzu wenden war, mußten die Behörden sich dazu beque­ men, den sichtbar gewordenen Bauernskandal zu unterbinden. Aber Panizza war deshalb seines Lebens nicht sicherer geworden, er wurde ein gehetztes Wild, bis ihm die Sache zu bunt wurde. Er gab der Polizei bewußt Anlaß, gegen ihn einzu­ schreiten und sich selber Ruhe zu verschaffen. An einem schönen warmen Sommertag spazierte er mit nichts, aber auch gar nichts bekleidet, die prächtige Ludwigstraße hinab, zu einer Stunde, in der dort die fried­ lichen Bürger lustwandelten. Oder sind ein Zylinder und ein zierliches Bambus­ röckchen eine ausreichende Bekleidung? Geschrei und gespreizte Finger vor den Augen, Flucht der Lustwandelnden. Ein Krankenwagen brachte den nackten Mann zur Polizei, wo der Arzt beschleunigt Paranoia feststellte. DieZeitungen schwiegen sich aus, und Panizza verschwand. Er wurde sanft in ein Sanatorium außerhalb der Stadt gedrängt, es bedurfte keines großen Zwanges, er fügte sich mit Vergnügen und blieb dort, ohneje wieder Zeichen von Verrücktheit von sich zu geben. Unter Platanen saß er an einem Marmortischchen, er pflegte Blumen mit gärtnerischer Kennerschaft, las viel, und manchmal schrieb er. Dieses Leben führte er an die drei­ ßig Jahre. Obwohl man ihm die Freiheit anbot, verließ er den Garten nie wieder. Als Wedekind, der einzige Bekannte aus seiner Vergangenheit, ihn besuchte, zeigte er ihm, woran er arbeitete: er übersetzte Aristophanes ins Deutsche, und er verwikkelte den Gast in erstaunliche Diskussionen über das dramaturgische Handwerk. Wedekind fand die Fassungen hervorragend, er zeigte Abschnitte davon den Graecisten der Universität, die gestanden: einfach genial. Diese Texte sind später ebenso verschwunden wie die früheren Veröffentlichungen Panizzas, die von der Polizei, soweit sie erreichbar waren, eingestampft wurden. Verweht. Antiquare haben Treibjagden veranstaltet. Tauchte ein Exemplar auf, so wurden Preise geboten, die nicht einmal ein früher Hölderlindruck erzielt hat.

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LION FEUCHTWANGER ERFOLG Drei Jahre Geschichte einer Provinz (Auszug) Kaspar Pröckl hatte, seitdem er um die Internierung des Malers Landholzer wußte, ab und zu an weit verbreitete Schauergeschichten denken müssen, die davon er­ zählten, wie Leute aller Art bei völliger Gesundheit von Interessierten in Irrenhäu­ sern festgehalten würden. Insbesondere war er nicht losgekommen von einem in München hartnäckig kolportierten Gerücht, daß der antiklerikale, im Irrenhaus verstorbene Panizza, ein sehr begabter, dem offiziellen Bayern mißliebiger Dichter, zu Unrecht interniert gewesen sei. Jetzt, als Dr. Dietzenbrunn Kaspar Pröckl das Manifest des Malers Landholzer überreichte, das die Unterschrift trug »Fritz Eugen Brendel, Statthalter Gottes und der Eisenbahn zu Wasser und zu Lande«, konnte Pröckl nicht mehr zweifeln, daß die Internierung des Mannes mit gutem Grund erfolgt war.

MAX HALBE JAHRHUNDERTWENDE Geschichte meines Lebens (Auszug) Oskar Panizza wohnte im Gasthaus zur Überfahrt in Egern. Dies war schon seit einigen Jahren sein sommerliches Hauptquartier. Es war erst zehn Monate her, seit ich hier, im September 1892, zum letztenmal mit ihm zusammengesessen hatte, im Begriff, eine vierzehntägige Fußwanderung nach dem Gardasee anzutreten. Damals war meine »Jugend« noch unausgeführt, die Aussicht auf literarischen Ruhm und Erfolg noch in weiter Ferne gewesen. Fast über Nacht hatte sich das geändert; der unbekannte Autor hatte sich einen Namen gemacht. Es war nicht so ganz sicher, wie Panizza sich dazu stellen würde. Nicht daß Neid in einem niedrigen und gewöhnlichen Sinne für den merkwürdig kantigen, ja schroffen Mann kenn­ zeichnend gewesen wäre; aber es war doch im tiefsten Untergrund seines Wesens ein brennender literarischer Ehrgeiz, ein von innen her immer von neuem sich selbst schürendes Feuer, das ihm keine Ruhe ließ und ihn langsam zerfraß. Er konnte in solchen Stunden - es waren ihrer nicht wenige und sie nahmen zu sehr ungerecht werden; ungerecht auch gegen sich selbst, indem er plötzlich und unvermutet sein eigenes Schaffen wie mit einem allzu scharfen Messer zerlegte und sezierte, ungerechter noch gegen andere, denn warum hätte er diese schonen sollen, da er doch sich selbst nicht schonte? Er hatte mir (merkwürdig genug für ihn!) schon von Anbeginn unserer Bekanntschaft vorausgesagt, daß ich berufen sei, mei­ nen Weg zu machen. Trotzdem waren mir vor dieser ersten Wiederbegegnung Zweifel gekommen, ob ihm seine Prophetengabe so recht Freude gemacht hatte. Aber ich hatte mich getäuscht. Der fränkische Querkopf und Dickschädel, der er war, blieb mit der ihm eigenen Konsequenz auf der einmal eingeschlagenen Linie

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und beglückwünschte mich mit einem bemerkenswerten Grad von Wärme zu dem errungenen Erfolg. Hatte er es mir nicht immer vorausgesagt? Solche Leute wie ich kamen zu etwas! Solche Leute wie er blieben im Dunkel und gingen zugrunde! Ich verstand sehr wohl, daß er dies von der Höhe seines Selbstbewußtseins zu mir her­ unter sagte: daß in der Anerkennung auch schon eine Verurteilung lag; aber ich nahm es ihm nicht weiter übel. Denn ich glaubte ihn gut genug zu kennen, um mir eine Vorstellung davon zu machen, wie hart seine ehrgeizige Seele schon das bloße Zugeständnis ankommen mußte, daß ein anderer Erfolg hatte. Dazu kam, daß ich ihn als Dichter, als Lyriker wie als Erzähler barock-phantasti­ scher Novellen, hoch schätzte. Und er fühlte, daß dies nicht nur ein Lippenbekennt­ nis, sondern eine von Herzen kommende Anerkennung seiner dichterischen Eigenartwar. Dies stolze, verschlossene Herz dürstete nach Lob, nachBeifall, Ruhm, wie der Verschmachtende nach dem rettenden Trunk. Und noch immer und immer wollten sie sich nicht einstellen, Beifall und Ruhm. Der vierzigjährige Mann sah das mit verbissener Leidenschaft erstrebte Ziel seines Lebens ferner und ferner entwei­ chen. Er mußte hinter ihm her, sei es auf dichterischem Pfade, sei es auf dem des Streiters, des Bekenners entgegen den feindlichen Gewalten der Zeit. Er mußte es einzuholen suchen, koste es, was es wolle; koste es ihn auch sein Leben oder seinen Verstand. Er hat mir schon damals in vertrauten Augenblicken bekannt, daß es da oben bei ihm nicht ganz richtig sei und einmal ein schlimmes Ende nehmen werde. Aber das waren dazumal erst Momente. In den andern, den stärkeren, den siegesund selbstgewissen Stunden besaß ihn sein Dämon ganz und zwang ihn, hetzte ihn zu dem großen, dem unerhörten Werk, mit dem er alle andern bezwingen wollte. Eben um diese Zeit und auf eben diesem Tegernseer Boden entstand sein »Liebes­ konzil«, das ihm zwei Jahre später eine Gefängnisstrafe eintragen und der Anfang von seinem Ende werden sollte. Oskar Panizza stammte aus einer vermögenden Kissinger Hotelierfamilie. Mate­ rielle Sorgen waren ihm erspart gewesen. Frei und ledig aller Fesseln, auch der eheli­ chen - er war Junggeselle geblieben -, hatte er die ärztliche Laufbahn eingeschla­ gen, war Schüler aller damaligen medizinischen Kapazitäten in München und anderswo geworden, wenn ich nicht irre, auch in Oxford und Cambridge, hatte lange Jahre als Assistent in der Münchner psychiatrischen Klinik gearbeitet und sich schließlich als Irrenarzt niedergelassen. Es scheint mir nach allem, was er mir selbst gesagt hat und was ich als Beobachter über ihn weiß, keinem Zweifel zu unterliegen, daß grade diese irrenärztliche Tätigkeit verhängnisvoll für Panizza gewesen ist und nicht wenig zu seinem späteren Sturz ins Geistig-Bodenlose beige­ tragen hat. Es war einer von den nicht seltenen Fällen geistiger Ansteckung durch die behandelte Materie, vielleicht auch nur von Übertragung pathologischer Keime durch die Patienten auf den Arzt, was ja nicht ganz das Gleiche ist, indem jene mehr eine Infektion auf theoretischem Wege, diese eine solche durch die Praxis darstellt. Panizza war Mediziner, war Irrenarzt mit Lust und Liebe und nicht nur im Neben­ beruf. Sein ganzes Wesen war davon durchdrungen, wieja auch sein Dichtertum fast alles was er geschaffen hat - Zeugnis dafür ablegt. Aber die eigentlich treibende

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und richtunggebende Pulsader dieses wirren und irren Lebens war doch eben sein Dichtertum, dem er seine Seele verschrieben hatte, wie Faust dem Teufel die seinige. Denn in Panizzas Schaffen und Dichten war nichts von dem göttlichen Licht, das dem Schöpfungsprozeß innewohnt, nichts Befreihendes, Erhebendes, Erleuch­ tendes, Erlösendes. Es war vielmehr ein Ringen mit allen Dämonen der Besessen­ heit, mit den Fratzen und Gespenstern der Unterwelt - seiner eigenen Unterwelt -, mit Hölle und Teufel in der eigenen Gruft. Es war kein Zufall, daß ihm Goethe in tiefster Seele zuwider war wie dem Urian das Vaterunser. Zu diesem fränkischen Gastwirtssohn und Abkömmling eines alten aus Frankreich oder Italien vertriebe­ nen hugenottischen Geschlechts rumorte etwas vom Tier der Apokalypse, vom Antichrist, den er auch im persönlichen Verkehr oft im Munde zu führen pflegte, aber bezeichnenderweise nicht in Verbindung mit sich selbst, sondern immer nur mit den andern, mit den Gegnern: vor allem mit den Päpsten und der katholischen Kirche. Wir haben über dieses Thema oft miteinander gestritten, damals im Bannkreis der Tegernseer Klostertürme, in der Schattenkühle des Bräustübels, und nachmals noch oft in München. Denn so wie Panizza auf seinem Standpunkt eines fanati­ schen Hugenottentums beharrte, ebenso vertrat ich ihm gegenüber einen mir durch Blut und Erziehung überkommenen, wenn auch im Glauben vielleicht nicht sehr taktfesten Katholizismus. Papstgeschichte warja schon seit langem mein Son­ dergebiet; ich hatte meine Doktorenarbeit daraus entnommen. Die großen Gestal­ ten auf Petri Stuhl hatten von Jugend an meine Phantasie beschäftigt; nicht dem Glaubensdogma zuliebe oder weil ich ihrem weltlichen Machtanspruch angehan­ gen hätte (ich wäre im Mittelalter Ghibelline nicht Welse gewesen), sondern weil diese schier unendliche Folge von greisen oder noch jugendlichen Charakterköp­ fen unter der päpstlichen Tiara mich durch den gleichbleibenden Stempel einer ungeheuren Tradition dichterisch-ästhetisch anzog. Ich hatte aus diesem Gefühl heraus schon früh sogar ein Verständnis für solche vor dem Richterstuhl der Geschichte abgeurteilten Erscheinungen gehabt, wie Rodrigo Borgia - Papst Alexander VI. - es war. Und hier stieß ich nun aufs heftigste mit Panizza zusammen. Denn eben diesen Alexander VI. hatte er sich als »Helden« seines neuen dramatischen Entwurfs, des »Liebeskonzils«, erwählt, nicht etwa um einen dramatischen Helden im üblichen Sinne daraus zu machen, sondern weil er in ihm die Verkörperüng seiner schreckhafen Albdruckträume: weil er den leibhafti­ gen Antichrist in ihm erblickte. Und vielleicht lag grade hier - wer ermißt die Abgründe der Seele? - das eigentliche tertium comparationis zwischen Alexander VI. und Panizza, so paradox der Vergleich klingen mag, nämlich daß in ihnen beiden ein Stück Antichrist im biblischen Sinne Fleisch geworden war; und der springende Punkt, an dem sich der Zeugungsfunke der Dichtung entzündete, war eben der, daß den beiden Naturen, dem blutig-grandiosen Borgia aus der Renaissancezeit und dem barock-überheizten Dichter des fin de siècle, eine Art von Wesensver­ wandtschaft eignete, die den Späteren unwiderstehlich zu dem Früheren hinzog, wenn auch nur um ein Zerrbild aus ihm zu machen und ein abschreckendes Beispiel für die Nachwelt aufzustellen.

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Schon in jenen Rottacher Frühlingstagen des Jahres 1893 gewann ich den Ein­ druck, daß Panizza entschlossen war, für die Verwirklichung seiner ehrgeizigen dichterischen Träumejeden menschlichen Preis zu zahlen - sei es auch den der Mär­ tyrerkrone. Ich schloß aus seinen Andeutungen, daß er es mehr und mehr aufgab, auf einen normalen, üblichen Wege das Ziel seiner Wünsche, den erträumten Dich­ terruhm, zu erreichen. Sein klarer, eiskalter Verstand - eine merkwürdige Zugabe dieses barocken Gehirns - sagte ihm wohl mit Recht, daß seine natürlichen dichte­ rischen Mittel schwerlich ausreichen würden, die Aufmerksamkeit, geschweige denn die Bewunderung eines künstlerisch, dichterisch ganz so anders gerichteten, eines naturalistischen Zeitalters auf sich zu lenken. Aber wenn es so nicht ging, wenn dichterische Mittel versagten, warum sollte es nicht mit außerdichterischen gelingen? Wenn der Verfasser die Schranken des Dichterischen durchbrach und mit seiner Lanze gegen die religiösen Gefühle einer großen Glaubensgemeinschaft anrannte, sie verwundete, sie tödlich verletzte und dann dem Gegenstoß einer feind­ lichen Übermacht erlag: wenn also der Dichter zum Märtyrer seiner Überzeugung wurde, mußte da nicht diesem die Krone des Lebens zufallen, die jenem vielleicht versagt blieb? Der Dichter als Märtyrer. Der Märtyrer als Dichter. Wo war da noch ein Unterschied? Warum hätte die Rechnung nicht stimmen sollen? Zwei Jahre später, an einem schwermütig düsteren Frühlingstage, sollte Panizza im Münchner Justizpalast die Antwort auf diese Frage erhalten, sollte die Probe auf sein Lebens­ exempel gemacht werden. Sie ist tragisch augegangen. Tragischer noch als die vielen andern tragischen Lebensläufe, die mein Weg gekreuzt hat. Denn sie sollte im Gefängnis und viele Jahre nachher im Irrenhaus endigen. Von all dem zeichneten sich injenen Rottacher undTegernseer Frühlingstagen erst schwache früheste Umrisse im Dämmerlicht des Morgigen ab. Ich erinnere mich, daß das menschliche und dichterische Problem Oskar Panizzas mir schon früh allerlei zu denken gegeben hat. Seine Zukunft ist mir bereits damals nicht ganz geheuer erschienen. Im übrigen empfand ich derlei natürlich nur wie man fliegende Wolkenschatten an einem sonst heitern Himmel und über einer sommerlichen Landschaft empfindet: als schnell vorübergehende Verdüsterungen, die dem wie­ dererscheinenden Licht doppelten Glanz verliehen. Ich hatte überdies auch genug mit mir selbst zu tun. Mein Versschwank - ich weiß nicht, ob er schon damals seinen Titel »Der Amerikafahrer« trug - näherte sich jetzt mit raschen Schritten dem Abschluß. Ich hatte zwei fertige Akte im Koffer. Vor sechs Monaten, zu Weihnach­ ten 1892, hatte ich sie in Friedenau in Angriff genommen und grade noch kurz vor der Jugendpremiere unter Dach und Fach gebracht. In eben diese Zeit war die Annahme der »Jugend« an Lautenburgs Residenztheater, war das Fieber des War­ tens gefallen, das Hangen und Bangen, ob der Verheißung auch die Tat folgen werde. Welch ein leidenschaftliches Auf und Ab in Hoffen und Fürchten, in Über­ schwang, Verzweiflungjäher Erfüllung, zaghaft tastender Siegesfreude und flakkernder Nervenzerrüttung war das gewesen! Was hatte ich nicht an wilden Gefühlskontrasten und an einem unerhörten Schicksalswechsel in diesen Monaten erlebt, während ich - wie um das Kunterbunt der Kontraste vollständig zu machen - immer weiter an meinen Knittelreimen gehämmert und gebosselt hatte! Aber war

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es nicht vielleicht geradejenes ganz handwerkliche, ganz artistische Hingegeben­ sein an die dichterische Kleinarbeit, was diese gesamte berstenwollende Gefühls­ welt wie ein unsichtbarer Reifen zusammengehalten und vor der Explosion be­ wahrt hatte? Wenn ich heute aufjenes seelische und geistige Chaos zurückblicke, so wird es mir zur Gewißheit, daß »Der Amerikafahrer«, mag das kritische Urteil über ihn lauten wie es wolle, mir in einem beinahe wörtlich zu nehmenden Sinne das Leben gerettet hat.

VICTOR GOLDSCHMIDT OSCAR PANIZZA: DAS LIEBESKONZIL Als vor einigen Jahren die Zeitungen berichteten, der Dichter Oscar Panizza sei im Irrenhause verschieden, da wußten wir, die im dritten Lebensjahrzehnt stehen, kaum, wer das eigentlich gewesen sei. Die Älteren erzählten, im Anfang der neun­ zigerJahre sei dieser Mann berühmt gewesen als der skrupelloseste Pamphletist des katholischen Gottesgedankens, als genialer Satiriker, als Dichter des Liebeskonzils. Für dieses Werk habe man ihn in München zu einem Jahre Gefängnis verurteilt. Viel mehr wußte niemand von ihm zu sagen. Und die Literaturgelehrten gar beschwiegen diesen Mann mit Konsequenz und Charakter. Kurzejahre noch und kein Lied, kein Heldenbuch wird seinen Namen melden; hält es doch heute schon schwer, eins seiner Bücher käuflich zu erwerben. Und doch verdient sein Liebeskonzil nicht, vergessen zu werden. Es ist nach vielen Richtungen hin recht interessant, und vielleicht wäre es heute, da die Staatsan­ wälte etwas gelernt haben und die Literatur so lang wie möglich in Ruhe lassen, für irgendeinen rührigen Verlag kein schlechtes Unternehmen, dieses merkwürdige Buch neu herauszugeben. Das Liebeskonzil, eine Himmeltragödie in fünf Aufzügen. Dem Andenken Huttens, Zeit 1496, das erste historisch beglaubigte Datum des Ausbruchs der Lustseuche. Eine Zueignung, ein Vorspiel auf dem Theater. Also eine absichtliche äußere An­ näherung an den Faust. Die Zueignung, in Goetheschen Stanzen, erklärt, daß die Zeit der Minister vorbei sei, das Volk habe das Wort. »Wir wollen heute schreien, rufen, klagen, und unsere Seele tiefsten Jammer sagen.« Das Vorspiel travestiert ebenfalls das Goethesche.» Poet ist der, der volle Häuser dichtet,« meint der gemüt­ volle Direktor. Beide Teile sind herzlich unbedeutend und von einer prätenziösen Arroganz, die, da noch nichts geleistet, ärgerlich wirkt. Aber sie entsprach dem lite­ rarischen Geiste jener Zeit, da die jungen Pseudoprinzen aus Genieland gern und viel Kredit begehrten. Erster Aufzug im Himmel. Einige Engel bereiten Gottes Thron, der etwas ins Wackeln geraten ist, zum Empfange der Höchsten vor. Gott-Vater wird von einer großen Schar Engeln und Cherubin in den großen Audienzsaal hineingeleitet. Der Ewige ist »ein Greis im höchsten Lebensalter mit silberweißen Haaren, ebenso Bart, hellblauen wässerigen Glotzaugen, tränengefüllten Augensäcken, gebeugten Hauptes, kyphotischen Rückgrates, hustend und brustrasselnd, schwerfällig tap­

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pend und nach vorn geneigt.« Was nun kommt, ist nicht gut zu beschreiben, die Lektüre ist nur nervenfesten Leuten zu empfehlen. Keine Ekelhaftigkeit, die an einem alten kranken Menschen denkbar ist, wird einem erspart. Wie Gott-Vater endlich sprechen kann, bejammert er seine Ohnmacht, seine Unfähigkeit zu schaf­ fen. (Die Sonne steht still, weil er vergessen hat, sie aufzuziehen.) Ein geflügelter Bote erscheint und berichtet, aus Italien kommend, Reizendes vom Hofe Alexan­ der VI. des Papstes Rodrigo Borgia, und vom König Karl von Frankreich, der gerade Neapel erobert hat und in diesem größten aller Babel wundervolle Orgien inszeniert. Gott-Vater ist außer sich, will die Welt mit einem Schlage zerschmet­ tern, erinnert sich aber rechtzeitig, daß er keine neue mehr schaffen kann und beruft ein Konzil der Himmelsgewaltigen zusammen, um die Strafe für die sündi­ gen Menschen zu beraten. Es erscheint sofort Maria, kokett und etwas spinös, aus­ schließlich mit der Herrichtung ihrer Toilette unter Benutzung eines kleinen Spie­ gels, sowie mit Selbstbesprengung durch wohlriechendes Wasser beschäftigt. »Ein weiches Geflüster schalkhafter augenschmeißender Amoretten macht sich um ihr (?) vernehmbar.« Sowie sie auf ihrem Throne sitzt, verbreitet sich ein Raunen unter den Engeln »Der Mann kommt, der Mann!« Christus erscheint, in seinem Gefolge Apostel, Märtyrer, Maria Magdalena, Klageweiber. Er ist in weißem Talar mit übergeschlagenem Purpurmantel, als König der Juden mit gestreckten nach vorn übereinandergeschlagenen Armen (Ecce homo Stellung). Er begibt sich, gleichgültig von Gott-Vater beobachtet und gänzlich von Maria ignoriert, auf einem Thron, der die primitive Gestalt eines jüdischen Lehrstuhles hat. Gott-Vater fragt, ob alle versammelt sind. Im nächsten Augenblick »fährt ein feuriger Streifen pfeifend wie eine Rakete oben am Gewölbe quer durch den Saal, in der Ferne klir­ rend verhallend: der heilige Geist!« Nun berichtet Gott-Vater über die Ausschwei­ fungen in Rom und Neapel, noch einmal will er die Menschen zerschmettern, wird aber daran erinnert, daß morgen Ostern sei und er die schönste Gelegenheit habe, von oben her die bewußten Ausschweifungen genau zu betrachten, wofür sich besonders Maria höchst interessiert zeigt. Gott-Vater ist einverstanden: »Bringt uns die Räucherbecken und Kohlenpfannen und erzeugt in uns Allwissen­ heit und Allgegenwärtigkeit.« Dampfwolken verbreiten sich; und die Gottheiten betrachten nun, was im zweiten Aufzuge dargestellt ist. Dieser zweite Aufzug gibt das Osterfest am Hofe des Papstes Alexanders VI. Ich kann mich hier kurz fassen. Es ist eine Dramatisierung der Memoiren des Buchardus, Zeremonienmeisters des Papstes. Der Dichter gibt diese Quelle selbst an. Außerdem aber ist er etwas von Gobineau beeinflußt - was er nicht sagt. Er ver­ sucht die Orgien dadurch möglichst ruchlos darzustellen, daß er sie neben der Kirche spielen und die Orgel in die berühmten Liebeskämpfe (nackte Männer und Frauen) hineintönen läßt. Viel Glück hat er dabei nicht gehabt: alles Dämonische, wahrhaft Orgiastische fehlt hier. Offenbar legt er selbst nur wenig Wert auf diesen Akt, den er mehr als Zwischenspiel betrachtet wissen will. Der dritte Aufzug wieder im Himmel. Ein vertrauliches Kabinett in Blau. GottVater, Maria, Christus und der Teufel. Dieser steht in »enganliegendem schwarzem Anzug, in seinem Benehmen an einen feineren Juden erinnernd«, vor den sitzen­

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den Himmelsherrschern. Die bitten ihn, eine Strafe für die verruchte Menschheit zu erfinden. Sie soll gestraft werden damit, womit sie gesündigt hat. Der Teufel meint, »man müßte die Sekretion beim Geschlechtsakt vergiften!« Darauf Maria: »Ach, wie das? Das wird interessant!« (Rückt auf ihrem Stuhle zurecht.) Nach län­ gerer Beratung einigt man sich darauf, es müsse ein Etwas sein, das die Menschen, ohne es zu ahnen, im höchsten Glücksrausche mitbekämen, das den Leib verekele und vergifte und die Seele verderbe - aber eben diese Seele muß erlösungsbedürftig und erlösungsfähig bleiben. »Lüstern und zerstörend zugleich - will mal mit Herodias reden!« meint der Teufel. Und empfiehlt sich. Nun folgt eine wirklich geniale Dichtung, um derentwillen allein Panizza nicht vergessen werden darf. Der Teufel steigt in seine Behausung hinab, auf einer schlechten, mehrfach ausgebesserten Holzstiege. Seine Wohnung ist ein finsterer, kellerartiger Raum mit einem aus Binsen zugerichteten Lager im Vordergründe. Man glaubt, in einem ausgetrockneten Brunnen zu sein. Der Teufel legt zunächst sein Visitengewand ab und hüllt sich in einen alten Flaus aus Tierfellen. Und hält nun seinen großen Monolog, der interessantesten einer, die der Teufel in einem deutschen Dramaje gehalten halt. Beneidet erst die Großen oben im Himmel, die tun dürfen, was sie wollen und nett zu ihm sind, wenn sie ihn brauchen, ihn nach vollbrachter Leistung aber mit einem Pfui Deifel wieder fortjagen. Aber: »Und doch bist du mehr! Steckst mitten in der Welt und in deinem Kopfe stecken die Gedanken der Erde. Die Arbeit sind deine Ahnen, deine Ahnen proj izierst du in die Zukunft! Arbeit! Arbeit!« Und nun übersinnt er den eben erhaltenen Auftrag, und kommt zu dem Schlüsse: ein Gift muß es sein, das die Menschen zunächst nicht merken. Das Gift muß aus ihm, dem Teufel selber kommen, denn was wäre giftiger als er? Erst muß es organisch abgeschwächt und dann in einer lebenden Person ver­ wirklicht werden. Diese Person muß ein Weib sein! Und dieses Weib muß schön sein, und der Teufel sein Vater! »Sapristi! Kommen wir auch einmal zum Zeugen.« »Und wenn das Kunstwerk fertig ist, was krieg ich dafür?« Wahrhaft bescheiden sind zunächst seine Wünsche: die Stiege in seiner Höhle muß ihn Gott-Vater gründlich reparieren. Teppiche will er haben, und - in langsamer Klimax steigen seine Begierden. Seine Bücher muß Gott drucken lassen (wenn jemand denkt und darf seine Gedanken nicht mehr anderen mitteilen - das ist die gräßlichste aller Fol­ tern), Graf will er werden, ein paar Orden haben, mindestens in die niedrigste Klasse der Engel aufgenommen werden - ein paar Goldborden an seinen Rock, ein Herzogskragen - da - »es hat mich, es kommt! Der Ekel, er hat mich, Pfui! Pfui! Ekel, Ekel! Verdammte Sauce!« Er macht Würgebewegungen, schleppt sich zu sei­ nem Lager, windet sich dort in Krämpfen. Während er sich langsam beruhigt, hebt sich die Hinterwand der Höhle, ein unendliches Totenfeld wird sichtbar, auf ihm eine schier unfaßbare Zahl von Weibern in Leibesgestalt, die einen hockend, die anderen hingestreckt. Tiefe Stille. Der Teufel betrachtet sie: »Ihr seid mir voraus­ geeilt, meine guten Gedanken! Welche von diesen wähle ich mir aus als Mutter für mein glorioses Geschöpf? Schön! Verführerisch! Sinnlich! Giftig! Hirn und Adern verbrennend! Ahnungslos! Tollpatschig! Grausam! Berechnungslos! Seelen­ schmutzig! Naiv!« Und nun ruft er die großen Liebesheldinnen der Weltge-

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schichte auf. Zuerst Helena, die Gattin des Menelaus. Sogleich wird sie als »armes dummes Ding« wieder schlafen geschickt. Phryne von Athen »ließest den Dingen ihren Lauf? Geh, du harmloses Kind, du bist unschuldig!« Heloise, Äbtissin von Paraclet, Geliebte des Pfaffen Abelard, - aus reiner Liebe beging sie ihre phantasti­ schen Scheußlichkeiten - fort mit ihr. Agrippina, Mutter, Gemahlin und Mörderin von Kaisern - sie ist eine scharmante Person, aber der Herr der Hölle vermißt bei ihr den eigentlich künstlerischen Impuls - alles war Ehrgeiz: schlaf sanft! Aber nun: Salome, schönejunge Tänzerin, komm zu mir! Und in ihr findet er, was er sucht. »Das Blut (des Johanneshauptes) netzte deine Finger? Das kitzelte dich? (Lebhafte Bejahung.) Den abgeschnittenen Kopf, den hattest du gern? (Deutliche Bejahung.) Kind, du bist mein Fall! Du sollst die Ahnin eines grandiosen Geschlechtes werden! Morgen darfst du schon zu deinen Schwestern zurückkeh­ ren! Unser heißes Temperament läßt Schaffen und Entstehen sich in unglaublich kurzer Zeit vollenden! Komm, mein Kind, komm!« Die Szene verdunkelt sich ganz, in der Ferne hört man noch einen gellenden weiblichen Schrei — Im vierten Aufzug wohnt Maria im Himmel einer Religionsstunde tiroler Kinder bei. Eine unendlich komische Szene: die Kinder, von einem vollständig verhunger­ ten Lehrer geleitet, plärren wie die Grammophone ihren Katechismus herunter und reagieren auf den kleinsten stichwortartigen Laut, den Maria von sich gibt, gleich mit der ganzen Litanei. Angeödet läßt sich Maria von einem größeren Engel Boccacio vorlesen, auch das langweilt sie: »Ja, kriegen die zwei sich noch immer nicht?« Da erscheint Das Weib, das vom Teufel und Salome soeben gezeugte, in wunderba­ rer höllischer Schönheit. Alles steht erst wie geblendet, dann fährt Maria auf sie los: »Woher kommst du? Bist du eine Heilige? Willst du mir Konkurrenz machen? Mit welchem Rechte?« Der Teufel tritt ein und stellt vor » Gnädige Frau: meine Toch­ ter!« Maria ist entzückt von der reinen Schönheit und kann sich gar nicht von ihr trennen. »Und dieses keusche Entzücken, sagst du, sollte Menschen vergiften und verderben?« O ja. Und nun entwirft der Teufel ein wahrhaft grausiges Bild des Menschen, der von der Lues gepackt wurde. Ich mag es hier nicht wiedergeben, aber ich versichere, daß es zu dem Furchtbarsten an Zynismus gehört, was ich je gelesen habe. »Und die Seele gehört dann euch.« Maria ekelts: »Schafft mir das Weib fort - mein Sohn soll nicht herein - darf nicht herein -« Der Teufel bittet demütig um Erfüllung seiner Wünsche (seine Stiege und Gedankenfreiheit). Wird schnell und unmutig abgefertigt und entfernt sich mit einem schweren Seufzer. Maria jedoch starrt mit offenem Munde dem Weibe nach. Der letzte Aufzug endlich spielt in der Privatkapelle des Papstes. Alle seine Ver­ wandten und Getreuen sind anwesend, um die Messe zu hören. Die erlauchte Gesellschaft achtet wenig auf die Litanei und vertreibt sich die Zeit auf alle mög­ liche Weise. Eben als der Priester den Schluß der Messe verkündigt hat, tritt das Weib ein. Der Papst sieht sie, die Nepoten desgleichen. Alles drängt auf sie zu, ein Aufruhr droht. Sie wird ergriffen und an den Papst herangebracht; unter Gekreisch und Gejohle drängt die Gruppe zur Tür hinaus, ein wüstes Getümmel hinter sich lassend.

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Schlußszene. Straße vor dem päpstlichen Palast. Das Weib tritt leise heraus, über­ nächtig und abgeschlagen, in den Ohren und am Halse reichen Brillantschmuck. Scheu und vorsichtig schaut sie sich um. Da bricht der Teufel, der bis dahin ungese­ hen hinter einer Dachrinne stand, hastig hervor und raunt ihr gebieterisch zu: »Jetzt zu den Kardinälen! Dann zu den Erzbischöfen, Gesandten, italienischen und fremden! Zum Camerlengo, zu den Nepoten, Bischöfen! Dann durch alle Klöster durch! Dann zu dem übrige'n Menschenpack! Tummele dich und halte die Rang­ ordnung ein!« Damit fällt zum letzten Male der Vorhang. Man wird aus dieser Inhaltsangabe ohne weiteres begreifen, daß als Publikum die­ ses Dramas weder Pastoren noch Staatsanwälte gedacht sind. Es gab dann auch eine gewaltige Entrüstung; die hinter dem Werke abgedruckten Urteile beweisen, wieviel Staub der Autor aufwirbelt. Ich glaube, das war ihm nicht unangenehm. Er gehörte nicht zu den Stillen im Lande; er war eine demonstrative Natur in der Art derer um den jungen Victor Hugo, denen das epater les bourgeois höchste Wonne und künstlerisches Ziel war. Dem Ästhetiker aber gebührt es, fern von jeder Ten­ denz ruhig abzuschätzen, was an literarischen Werten in diesem Drama liegt. Die Vermenschlichung von Gottheiten in satirischer Absicht ist nicht neu; einer der ältesten Meister auf diesem Gebiete ist bis heute nicht erreicht: Lucian. Er tat es in fröhlicher Absicht. Die alten Götter lebten ja nicht mehr recht zu seiner Zeit, einen eigentlichen Glauben gab es unter seinen Lesern ganz gewiß nicht. Diesen philosophischen Skeptikern, diesen mit letzter Kultur durchsetzten Dekadenten mag es viel Freude gemacht haben, allzu menschliche Sünden ins Gottmaß gereckt zu sehen. Denn nie vergißt Lucian, daß er von Göttern handelt: Groß ist, was sie tun, ihre Sünden, ihre Gemeinheiten, ihre Witze, groß und in aller Menschlichkeit hoheitsvoll. Das 17., zum Teil auch das 18. Jahrhundert lebte fast in der Vermenschlichung der antiken Götter, ohne daß etwas anderes als Langeweile dabei heraussah. Ein Deut­ scher aber darf als Vorläufer Panizzas gelten: Gottfried August Bürger, in dessen »Europa« das erstemal in Deutschland wundervoll respektlose Frechheit Götter höchst ruppig-menschlich darstellten; aus Freude am Ruppig-Gemeinen, wie es in der unglücklichen, zynisch-sinnlichen Natur Bürgers lag. Ein Gott, der wie irgend ein Hirtenjunge auf freiem Felde sein Mädel hernimmt und sich dabei von minder großen Göttern etliches zugucken und zurufen läßt - Lucian hat so etwas nicht gemacht. Hier aber setzt Panizza ein. Auch ihm ist es eine Hauptfreude, Götter menschlich zu sehen, oder christlicher gesprochen, Strahlenkränze abzureißen und höhnisch grinsend herumzureichen. Nur ist seine Freude nicht ästhetisch, wie sie es bei Bür­ ger war (denn auch die Freude am Hyperdimensional-Gemeinen kann durchaus ästhetisch sein). Bei ihm ists, glaub ich, schließlich ein Racheakt. Er mag psychisch, ja vielleicht ganz materiell an den christlichen Gottheiten gelitten haben. Erbost hat ihn jene ekelhafte Mundreligiosität, die unter der Herrschaft des Zentrums in deutschen Landen so vielfach einriß, und Zweck war ihm, alle Gläubigen, vor allem aber die Pfaffen, aufs Schwerste zu verletzen.

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Natürlich mußte das den ästhetischen Wert seiner Leistungen trüben. Denn ein freier, Gottes voller Humor kann sich nie in einer Seele entfalten, die den giftigen Bodensatz häßlicher Erfahrung nicht abzuführen verstand. Man vergleiche mit Panizza etwa Busch. Der war frei von allem Bösen, und sein heiliger Antonius ist eine unserer prachtvollsten satirischen Dichtungen geworden, weil keine Rache mehr in des Dichters Seele lag, weil er lachen gelernt hatte, ehe er schrieb. Panizza feixt. Und macht aus Gott-Vater dank seiner medizinischen Kenntnisse einen eklen Greis im letzten Stadium der Altersschwäche. Und höhnt und höhnt die Gläubigen: so sähe euer Gott aus, wäre er wirklich! Und doch entstand aus dieser verbitterten ungeklärten Stimmung eine Art infer­ nalischen Humors, dem man ästhetischen Wert trotz aller Tendenz nicht abspre­ chen mag. So die sexuelle Sphäre im Himmel. Diese Maria, die offenbar in der Ewigkeit nachholen will, was ihr auf Erden versagt blieb und nichts lieber hat, als durch Worte oder Gebärden ihren Sexus kitzeln zu lassen. Die Schar der Engel, die, wenn der offenbar tuberkulös gedachte Christus erscheint, sofort »der Mann, der Mann!« flüstert, stöhnt, ächzt. Das ist eine gewaltige erdfrohe Satire, die sich aus­ richtet an einer einheitlichen, vielleicht nicht direkt empfangenen, aber gut aus­ gebauten Vision. Alle diese Gottheiten bleiben ganz menschlich gesehen, wie es der Autor von Anfang an gewollt hat, und so entsteht eine künstlerisch erfreuende Einheit der Atmosphäre. Und doch gings Panizza wie allen vorigen, wie es Milton, wie es Klopstock, ich möchte fast zu sagen wagen, wie es Goethe gegangen ist: das Höllische gelang ihm besser als das Himmlische (trotzdem sein Himmlisches ja ein ganz Irdisches ist). Sein Teufel ist wirklich ein Prachtsubjekt, sein Schöpfer muß ein starker Dichter sein. Natürlich auch hier kein Satan, wie ihn die Bibel, wie ihn Milton sich vor­ stellt, sondern ein wirklich menschlicher armer Teufel - nach Panizzas bockbeini­ gem Willen die sympathischste Erscheinung in der Weltregierung. Er kann schaf­ fen, was die Anderen eben nicht mehr können. Er denkt die Gedanken der Erde - er allein ist irdisch und doch unsterblich. Er vermag die Toten für seine Zwecke leben­ dig zu machen. Schauerlich groß ist die Szene, in der Satan die Weiber vom Toten­ feld hervorruft. Hier ist es Panizza gelungen, eine acherontische Atmosphäre der Unterwelt zu schaffen, wie sie noch keiner vor ihm geschaut hat. Und gerade hier deckt er stärkste Menschlichkeiten auf. Eine ganz kurze meisterlich knappe Seelenanalyse der großen Amourösen aller Zeiten. Ob nicht manche der vielen »perversen« Liebesdramen der letzten Jahre ihre Quelle in dieser Szene haben? Es ist nicht anzunehmen, daß Oscar Wilde diese Szene gekannt hat; aber ist nicht hier das erstemal seit Heine die Salome-Herodias so gesehen, wie wir sie jetzt dank Wilde und Sudermann zu sehen gewohnt sind (Flaubert kommt hier nicht in Betracht, seine wundervolle Novelle ist ja in Deutschland noch immer fast unbe­ kannt). Hier tritt zum ersten Male in deutscher Dichtung die naive Lebensseligkeit des Weibes vor uns, dessen stärkstes es ist, ihre Instinkte glatt ohne moralische Rücksicht zu leben. Uber die äußere Technik des Werkes darf ich mich kurz fassen. Ich meine, der Autor hat an die Aufführbarkeit nie gedacht, sie also auch nicht gewollt. Möglich,

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daß dem die vielen Unfertigkeiten zuzuschreiben sind, die den Ästheten abstoßen werden. Kunst im höchsten, also technisch-architektonischen Sinne gibt es hier nicht. Panizza hat wohl nie den Sinn dafür gehabt. Zu wild war die Kämpfernatur in ihm, die alles zum Losschlagen gegen das benutzen wollte, was ihm mittelalter­ lich dunkel erschien. Den Wert einer Tradition zu begreifen, war er nie imstande. Seine anderen - mir leider nur zum Teil bekannten - Bücher beweisen es ebenfalls. Ein Mensch mit genialen Anlagen, der es nicht verstand, künstlerische Klarheit in sein schöpferisches Treiben zu bringen, dem der Kampf um nächste Dinge alles war und der das Wesen gestaltender Kunst deshalb nie erfassen konnte. Ein Mann mit ungeheurem Haß, dem er Entladung in vitriolscharfer Satire zu schaffen suchte und den wohl auch dieser Haß schließlich dahin gebracht hat, wo sich vor wenigen Jahren das Dunkel für ewig über ihm geschlossen hat. Goldschmidt, Victor: Seiende und Werdende. Versuche von V G. Leipzig, Xenien-Verlag 1912.

Zeichnung Oskar Panizza

pour Gambetta sans faute das ist der verteufelte Thoth/der die armen Seelen abfängt, und/ im Fluge durch die Lüfte führt.

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OSKAR PANIZZX

deutsche Thesen GEGEN DEN PAPST UND SEINE DUNKEL MÄNNER Titelseite der Ausgabe im Nordland-Verlag, 1940. Ursprünglicher Titel: Der teutsche Michel und der römische Papst.

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OSKAR PANIZZA SCHANDE UND WOLLUST Läge Rom in deutschen Landen Die Christenheit unirde zuschanden

Die erste große Säuberung, die Reformation des im Papsttum konzentrierten, verbuhlten und verschacherten Christentums, auf die die nordländische Christenheit seit Jahrhunderten hin gedrängt hatte, die aber von Rom nicht ausgehen konnte, ging schließlich von Deutschland aus. Die nackte und simple Frage, die wir uns heute stellen, ist nun einfach die: Ist die Machtstellung und die Selbstbewußtheit Deutschlands groß genug, ist das deutsche und nordische Empfinden der zur Zeit von der päpstlichen Religion noch abhängigen Kreise Deutschlands mächtig genug, und ist das wahre religiöse Empfinden bei uns heute noch an und für sich tief genug, um sich von historisch gewordenen Religions-Pächtern, wie die römi­ schen Kardinäle und ihr römisches Oberhaupt, der Papst, von ihren schwülen Sumpf-Dogmas Malaria-vergifteter Sensualität und lächerlichen Selbst-Vergöttlichungs-Versuchen loszumachen, die Weiterentwicklung der christlichen Religion auch in katholischer Richtung deutschen Männern zu überlassen, und sich solcherart politisch wie ethisch auf eigene, nationale Füße zu stellen? Wir begreifen, daß man zur Zeit der italienischen Renaissance, der höchsten Blüte, die dieses Blatt hervorgebracht, Klassiker und Philologen aus Italien bezog, daß die ganze Architektur dieses Landes, diese Bewegung in sinlichen Formen für uns mustergültig, daß das ganze Abendland der italienischen Malerei zu Dank ver­ pflichtet, daß die deutsche Oper in Italien ihre Wiege hatte; ebenso wie wir begrei­ fen, daß wir heute noch Orangen und Feigen und Vanille aus Italien beziehen; nur eines will mir nicht zu Kopf: daß man ethische Forderungen, moralische Grund­ sätze und Formulierungen der christlichen Religion heute noch aus dem Ausland beziehen soll. Daß das Land der Kunst die Bereitungsstätte für unsere moralischen Anschauun­ gen in christlicher Form war, darin liegt es, daß man heute unter den meisten Gebildeten christliche Übung, wenigstens im Bereich der katholischen Kirche, für etwas Niedriges und Verächtliches ansieht. Der Jesuitismus ist ein spanisches Produkt. Und wenn wir spanische Geschichte und Kultur uns vor Augen halten, so finden wir, daß Pflanzen und Boden zueinan­ der stimmen. Aber, daß nach Kant und seinem kategorischen Imperativ noch Jesuitische Denk-Mechanik bei uns Eingang finden soll, das begreifen wir nicht. Mit jener Sicherheit, wie sie Blut, Abstammung, Temperament, Rassenangehörig­ keit und Umgebung verleihen, haben Päpste und Kardinäle, nicht nur zurZeit der Renaissance, sondern auch in Avignon, in der byzantinischen Periode, unter den deutschen Kaisern, zur Zeit der Reformation und bis auf den heutigen Tag das Christentum wie sinnlich-südländische Menschen gehandhabt, es schlüpfrig aus­ gestaltet, mit dem rohesten Aberglauben vollgepropft; oder es merkantil aus­ gebeutet, zu hierarchisch-politischen Zwecken benutzt; die eigene Familie damit

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fundiert; in allen dogmatischen oder äußerlich-kirchlichen Fragen eine rein per­ sönliche Note »das Interesse des päpstlichen Stuhls« beigemischt, und für die mechanisch sich gestaltende Moral der romanischen Völker ein bequemes Ruhe­ bett daraus gezimmert; allen Korrektur-Versuchen, sei es eines Savonarola, oder Wickliff, eines Huß oder Luther, die höhnischste Verachtung, »sittliche« Ent­ rüstung oder brutale Gewalt entgegengesetzt, und, wie echte Feiglinge, immer abgewartet, was kommt, nie selbständig eingegriffen, und schließlichjenenTypus des katholischen Priesters erzeugt, wie er in Italien, Spanien und Frankreich als ver­ ächtliche, unehrliche Menschen-Sorte vom Volk angesehen wird. Man muß sich die Laufbahn eines Mannes, wie Alexander’s VI., gegenwärtig hal­ ten, der durchaus keine Ausnahme, sondern nur der Typus, und zwar der selbstver­ ständliche Typus des katholischen geistlichen Würdenträgers seiner Zeit ist. Die Borgias kommen aus Spanien, und einer der ihren, Alonza deBorgia, war schon als Kallixtus III. auf dem päpstlichen Thron. Dadurch wird es Alexander, dem späte­ ren Papst, als Rodrigo Borgia recht, ins Kardinals-Kollegium zu kommen. Der genossene Bildungsgang spielt gar keine Rolle. Die höchsten Würden sind Fami­ lienbesitz. Eine schöne Schwester ist wichtiger, als vieljähriges Universitäts-Stu­ dium. Er wird mit fünfundzwanzig Jahren Kardinal; im folgenden Jahr schon Vize-Kanzler der Kirche, von einer unbekannten Mutter hat er zwei uneheliche Kinder, die in seiner Nähe erzogen werden; er lebt mit einer schönen Römerin, Vanozza, von der er fünf Kinder hat, darunter die in der politischen Geschichte jener Zeit bekannten Lukrezia und Cäsar Borgia: moralische Scheusale, sonst hübsch, gefällig, gebildet, sogar »fromm«, im ganzen selbstverständliche Erschei­ nungen in diesem Umkreis katholischer Religion. Als Kardinal in Siena wird Alex­ ander besonders dadurch bekannt, daß er im Verein mit anderen Prälaten und geist­ lichen Würdenträgern nächtliche, schlüpfrig-perverse Bälle und Soireen mit den vornehmen Frauen und Mädchen der Stadt abhält unter ausdrücklichem Aus­ schluß von deren Gatten, Vätern oder männlichen Verwandten. Und Pius II., der derzeitige Papst, der selbst aus Siena ist, hat davon Kenntnis. Mit sieben Jahren erhält der inzwischen legitimierte Kardinalssohn Cäsar von Six­ tus IV. die Einkünfte des Kanonikus von Varacia, einjahr darauf das Benefiziat von Xativa, und mit neun Jahren wird er kirchlicher Schatzmeister von Cartagena. Mit zwölfJahren ist er Protonotar des apostolischen Stuhls. Als 15jähriger Student in Pisa wird Cäsar von Innocenz VIII. (das ist schon der dritte Papst in diesen Beför­ derungen) zum Bischof von Pampeluna ernannt, und einjahr später, 1492, kauft sein Vater Rodrigo Borgia, Vizekanzler der Kirche, gegen bar, gegen Versprechun­ gen, Ernennungen, einige Paläste, einige große Einkünfte, sich selbst die PapstWürde und wird Alexander VI. »Jeder Sieg, jeder Raub, jede Ketzer-Exkommunikation, jede Privatrache, jede Erwerbung im Namen der Kirche war für ihn Gelegenheit besonderer Gunstbe­ zeugungen an seine Kinder in Form von Würden, Belehnungen, Zuwendungen, Schenkungen.« Einmal Papst, richtet sich Alexander VI. im Vatikan mit seiner großen Familie gemächlich ein; seinen Sohn Cäsar macht er im folgenden Jahr, mit siebzehnjah-

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ren, zum Kardinal; seine Tochter Lukrezia wandert aus den Händen eines fürstli­ chen Gatten in die des andern, je nachdem die politische Konstellation dies ver­ langt, wobei der je vorhergehende mit Gewalt weichen muß, oder wie der Fürst von Bisceglie, vom eigenen Schwager ermordet wird. Vanozza, die Maitresse Alex­ anders, diejetzt alt geworden, erhält ein eigenes Witwen-Palais. Die nochjüngeren Kinder werden bei einer Kusine des Papstes, Adriana Mila, erzogen. In deren Hause kommt der Papst auch mit seiner zweiten Maitresse, der sehr jugendlichen Julia Farnese, regelmäßig zusammen. Deren Bruder, Alexander Farnese, der sie über­ wachte, hatte man zum Kardinal gemacht, weshalb ihm das Volk den Beinamen »Cardinale della Gonella«, »Unterrock-Kardinal«, gab (was aber nicht hindert, daß er 1534 als Paul III. den päpstlichen Stuhl besteigt;) sie selbst hatte man pro forma mit dem Sohn ihrer Pflegerin, jener Adriana Mila, in deren Haus sie wohnte, mit Orsini, verheiratet, der aber außerhalb Roms auf dem Lande lebte; und ihr, der Julia Farnese selbst, hatten die Römer, wegen ihrer Beziehungen zum Stellvertre­ ter Christi, den Namen »Sposa del cristo«, »Braut Christi«, beigelegt. Von dieser Julia bekam Alexander VI. noch zwei Kinder, für die er sich als Vater eintragen läßt, und deren eines, Laura, ein späterer Papst, Julius II., glücklich sein muß, für die Hand seines Neffen, Nikolas von Rovero, zu gewinnen. Und während dieser Zeit hatte der fanatisch-visionäre Asket Savonarola in Florenz einen förmlichen Sittlichkeits-Staat eingerichtet, und auch das Laster-Leben Alex­ ander VI. offen getadelt. Alexander VI. bot ihm, ihn einschätzend wie einen andern geistlichen Würdenträger, 1495, die Kardinalswürde. Savonarola schlug aus und griff den Papst noch heftiger an. Zwei Jahre später traf ihn der Bannfluch. Und 1498 wurde er aufBefehl des Papstes als Ketzer, Schismatiker, Ruhestörerund Volksverführer gehenkt. Indessen hatte Alexander VI. seine besondere Art, sich zu amüsieren, aus Siena mit in den Vatikan verpflanzt. Ein Deutscher, Burckhardt, war sein Zeremonienmei­ ster und aus seinem »Diarium« erfuhr die ahnungslose Nachwelt die Einzelheiten der merkwürdigen Beschäftigungen dieses »Sohn Gottes«. Die kirchlichen Zere­ monien waren durchaus Nebensache, und wenn sich der Pontifex beteiligte, dann saßen die Damen und seine Kinder scherzend und lachend vorne im Priesterchor, so daß selbst das Publikum oft laut zu murren anfing. Abends amüsierte sich dann der Papst im Kreis seiner Familie mit den öffentlichen Dirnen der Stadt. »Jeden Tag« - berichtet das »Diarium« - »läßt der Papst Mädchen bei sich tanzen,oder gibt andere Feste, an denen Mädchen sich beteiligen. Cäsar und Lukrezia wohnten einem dieser Feste am 27. Oktober 1501 bei, obwohl letztere sich am 15. September mit dem Herzog Alfons von Este verheiratet hatte. Nach dem Abendessen, an dem der Pontifex teilnahm, ließ man etwa fünfzig Kurtisanen herein, die mit der Die­ nerschaft oder den Eingeladenen tanzten; anfangs bekleidet, ziehen sie sich später vollständig aus; man stellt auf den Boden große Kandelaber, welche die Festivität beleuchten; der Papst, sein Sohn, der Herzog, und seine Tochter Lukrezia werfen Kastanien unter sie, und belustigen sich, wie diese Armen hin und her fahren, haschen und sich raufen. Endlich hat der Pontifex ein anderes Spiel als Krone dieser Belustigungen ersonnen: Liebeskämpfe, bei denen der Kräftigste als Sieger - abge­

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sehen vom Besitz des betreffenden Mädchens - noch mit hübschen Preisen bedacht wird.« Am 4. November 1501 berichtet der florentinische Gesandte Franzesko Pepi seiner Republik: »An diesem Tag Aller Heiligen und Aller Seelen kam der Papst weder in St. Peter, noch in die Kapelle, weil er den Schnupfen hatte, was ihn nicht hinderte, die N acht vom Sonntag, die N acht von Allerheiligen, bis um zwölf Uhr beim Her­ zog (seinem Sohn Cäsar) zuzubringen, der Kourtisanen und öffentliche Mädchen hatte kommen lassen, mit denen sie sich in Tanz und Scherz die ganze Nacht ver­ trieben.« Und Augustinus Vespucci schreibt am 16. Juli des gleichen Jahres an Machiavelli: »Ich muß noch einer Nachricht gedenken, die hier im Umlauf ist, daß sich nämlich der Papst auf seinem Landsitz, wo er gewöhnlich seine MädchenOrgien abhält, jeden Abend fünfundzwanzig und mehr Frauenzimmer zwischen Ave Maria und ein Uhr in der Früh gruppenweise von einem Unbekannten in den Palast bringen läßt; es sollen sich sehr schöne darunter finden.« Eines seiner Haupt-Vergnügen war auch - wieBurckhardts »Diarium« berichtet mit seiner Tochter Lukrezia von den Fenstern des Vatikans aus in einen der Höfe hinabzuschauen, wo Reitknechte Hengste und rossige Stuten aufeinander hetzen mußten. Wir haben hier nicht nötig, die weiteren politischen Unternehmungen dieses Pap­ stes, die meist das Glück und die Zukunft seiner Kinder betreffen, noch die Mordund Greueltaten seines Sohnes, die sich in der eigenen Familie und mit Wissen des Papstes abspielen, zu schildern. Sein frivoles Wort über die »Sünden der Deut­ schen«, die sein Sohn in einer Nacht verspielt hatte, steht an anderer Stelle. Im August 1503, wenige Tage, nachdem der Papst mit seinem Sohn bei dem reichen Kardinal Adriano de Corneto auf dessen Weinberg gespeist hatte, erkrankten beide, Vater und Sohn, und der Papst starb wenige Tage darauf. Es ist bezeichnend für die Borgia, daß sofort das Gerücht entstand - nicht der Kardinal Adriano habe den Papst - sondern der Papst den Kardinal Adriano vergiften wollen, um dessen Güter einzuziehen; - was der damaligen Kirchenpraxis entsprach - und der Kardi­ nal von seinem Koch unterrichtet, sei zuvorgekommen, und habe dem Papst, wie dessen Sohne, nach den einen - vergifteten Wein, nach den andern - vergiftetes Konfekt gereicht. An dieser Meinung hielten dann die Historiker bis zum heutigen Tage fest. Noch Ranke glaubt daran, und stützt sich auf einen Bericht aus der Chronik Sanutos, der voller Unwahrscheinlichkeiten ist. Gregorovius läßt die Frage unentschieden. - Bezeichnend aber für den Charakter des Papsttums ist die Äußerung Cäsar Borgias, der, - sein Vorleben in Betracht gezogen - im Hinblick auf die Ansichreißung der päpstlichen Würde, später die Äußerung zu Machiavelli machte: »Ich hatte alle Fälle beim Ableben meines Vaters vorgesehen, nur den nicht, daß ich selbst zu der Zeit todkrank darniederliegen würde.« - Todkrank hatte er noch die Geistesgegenwart, den Kirchenschatz im Betrag von dreihun­ derttausend Goldgulden, wie Burckhardt erzählt, an sich zu reißen, und damit durch einen unterirdischen Gang den Vatikan in der Richtung zur Engelsburg zu verlassen. Gehen die Ansichten über die Vergiftung des Papstes auseinander, so sind diejeni­

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gen über den Charakter Alexanders VI. ziemlich einstimmig. Guicciardini, der berühmte Staatsmann und Geschichtsschreiber des lö.Jahrhunderts, schreibt: »Den Hauptgrund seiner Erhebung auf den päpstlichen Stuhl verdankt er einem um jene Zeit gerade aufgekommenen Verfahren, indem er nämlich teils durch bares Geld, teils gegen Versprechen von Ämtern und geistlichen Pfründen, die er in ungeheurer Menge zu vergeben hatte, die Stimmen der meisten Kardinäle öffent­ lich kaufte.« Die Römer machten auf ihn den Vers: »Alexander verkaufte (im Ablaß) Kreuze, Altäre und Christus; mit Recht kann er sie verkaufen; er hat sieja vorher gekauft.« Über seinen Tod schreibt Guicciardini: »Er starb den 18. August (1503). Seine Leiche, die schwarz, aufgebläht und gänzlich entstellt die offenkundigen Zeichen der Vergiftung an sich trug, wurde nach päpstlichem Ritus begraben. Daß Gift die Ursache des Todes gewesen, war die allgemeine Meinung. Man wußte nämlich, daß der Papst selbst samt seinem Sohn die Gewohnheit hatten, mit Gift nicht nur seine Feinde aus Gründen der Rache oder aus Furcht aus dem Wege zu räumen, sondern auch Kardinäle und Höflinge, die sich in nichts vergangen hatten, deren Reichtum aber in der Seele des Papstes die Gier nach dessen Besitz entfacht hatte. Dies war auch bei dem Kardinal von St. Angelo der Fall, der bei einer Einladung auf seinem eigenen Weinberg aus dem Weg geräumt werden sollte. Der Papst, der bei großer Hitze zuerst erschien, trank nichtsahnend von jenem bereitgestellten ver­ gifteten Wein, der für den Kardinal bestimmt war, und so starb an eigenem Gift jenes Untier, das durch maßlosen Ehrgeiz, schändliche Untreue, entsetzliche Grausamkeit, ungeheuerliche Wollust, nie erhörten Geiz und durch rücksichtslo­ sen Handel mit geweihten und profanen Dingen den gesamten Erdkreis vergiftet hatte.« Und an anderer Stelle: »Seine Laster überwogen um ein Ungeheuerliches seine Tugenden; seine Sitten, die denkbar obszönsten; keine Ehrlichkeit, keine Scham, keine Wahrheit, keine Treue, keine Religion, unersättliche Habsucht, unbändiger Ehrgeiz, eine mehr denn barbarische Grausamkeit, und ein rastloses Streben, seine Kinder, deren er einen Haufen hatte, in glänzende Verhältnisse zu bringen.« Dabei war Alexander VI. durchaus keine monströse Erscheinung in damaliger Zeit. Er war nur der Typus in seltener Vollendung. Wie schon oben Guicciardini sagt: die Käuflichkeit der päpstlichen Würde war die Regel; das Hinwegräumen unliebsamer Personen durch Gift die Regel; und was die Kinderzahl anbetrifft, so hatte der Vorgänger Alexander’s, Innozenz VIII. Kinder, die er ebenso, wie Alexan­ der, in Anwesenheit des ganzen Vatikans unter großen Festlichkeiten vermählte. Der Nachfolger Alexander’s, der achtzehnjährige Pius III., hatte zwölf Söhne und Töchter, und nur sein rascher Tod hinderte ihn, sie am päpstlichen Hof gut zu ver­ sorgen. »Alle Päpste« - sagt Yriarte - »seit 1400 bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts waren im Besitz einer zahlreichen Familie, die Frucht ihrer Zerstreuungen mit Kurtisanen und den vornehmen Damen der römischen Gesellschaft; es gilt als außerordentliche Ehre, sich mit ihren Töchtern zu verheiraten und ihre Söhne knüpfen königliche Verbindungen.« Es klingt fast zum Totlachen, wenn man das folgende liest: »Am gleichen Tage, da

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Alexander VI. seiner Tochter Lukrezia 1501 einen neuen Gatten gab, berief er das heilige Kollegium, um über die Verbesserung der Sitten in den Klöstern zu berat­ schlagen.« Kurz vorher unter Pius II. muß der Geistlichkeit in Rom verboten wer­ den, »Spiel- und Hurenhäuser zu unterhalten, und daraus ihren Profit zu ziehen.« Und das »Diarium« Burckhardt’s berichtet aus damaliger Zeit: »Die gesamte Geistlichkeit läßt sich nichts angelegener sein, als sich eine Familie zu gründen. Und vom Höchsten zum Niedersten haben denn auch alle unter der äußeren Form der Ehe Konkubinen, und zwar öffentlich. Diese Verderbnis erstreckt sich bis auf die Mönche und Ordensbrüder, so daß faktisch fast alle Klöster der Stadt Hurenhäuser sind.« Von welcher anderen Seite aber man auch das Sittenleben jener Rasse, oder jener Kardinäle untersuchen möge, die durch eine unglückliche geographische oder historische Anordnung dazu berufen sein sollen, uns Deutschen die Lehren des Christentums zu interpretieren, überall stoßen wir auf die Merkmalejener Degenereszenz, die Romanen- und Germanentum in ihren transzendentalen Anschauungen grundsätzlich voneinander scheidet, überall aufjene rohe, sinnfäl­ lige Verweltlichung des Göttlichen, der bis zum Fetischismus reicht. Schon die Messe mit ihrem orientalischen Putz und die von InnocenzIII. 1215 dogmatisierte Transsubstantiations-Lehre ist eine post-evangelische sinnfällige Zubereitung der rein übersinnlichen Christuslehre für eine mit rohen Anschauun­ gen operierende Masse unter orientalischem Einfluß. »Die Messe, was ist das doch anders, denn ein eitels Beschwören und Verzaubern, da Brot und Wein, so doch leblose, stumme Kreaturen sind, durch Kraft der Pfaf­ fen Atem und der fünf Wort in Fleisch und Blut verändert werden? Also dass es öffentlich erscheinet, dass all ihr Gottesdienst und Zeremonien voll Beschwörung, Abgötterei, Aufrichtung und Anbetung der Bilder, und voll allerlei Menschenge­ bot und eigen Gutdünken sein«, - erkannte schon Fischart. Blödsinniges, deutsches Volk, zu Tausenden liegt Ihr vor einer glitzernden, allein dort stehenden Monstranz, und betet dort auf des Papstes Befehl das Produkt irgend eines, vielleicht schlecht-gewaschenen Bäckerjungens an. Denn, Hand aufs Herz! Wie viele von Euch glauben, daß eine hinter einem Glas steckende runde, milchige Scheibe aus Mehl und Wasser ein Stück Fleisch jenes ums Jahr Dreißig von den Römern hingerichteten Christus enthalte? Es handelt sich hier gar nicht um die Abendmahls-Lehre oder das Sakrament der Eucharistie. Es handelt sich darum, daß eine Oblate hinter einem Glas aufgestellt wird und dem Volk gesagt wird: das ist Euer Gott. Betet ihn an! - Mehr taten die Feuer- und Stein-Anbeter auch nicht. - Es handelt sich darum, daß eine Holz-Statue, die die Madonna darstellt, und vor der täglich Hunderte betend dort knien, deren hölzerne Arme und Hände mit Votiv-Geschenken vollgepfropft sind, in Ita­ lien vom Papst, in Deutschland, wie im Jahr 1892 in Kevelaer, auf Befehl des Pap­ stes gekrönt wird, womit dem Volk gesagt wird: dieses Holzbild ist Euer Gott. Die alten Deutschen, die eine blühende Eichel als Symbol des kräftigen Lebens verehr­ ten, standen unvergleichbar höher. - Oder wenn in einer Kapelle des Bamberger Doms neben einem Nagel vom Kreuz Christi die Worte stehen: »Heiliger Nagel,

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bitt’ für uns!« - - »Jede wahre Religion«, sagt Leibniz, »ist Verehrung des unsicht­ baren Gottes.« Dies aber ist Fetischismus. Bände werden von den römischen Rechtsverdrehern verschmiert, was zu gesche­ hen habe, wenn eine Mücke in den Abendmahls-Kelch fällt; ob selbe konsekriert zum Fleisch und Blut Christi geworden, und, für alle Fälle, am besten zu verzehren sei. Im Jahr 1548 fraß eine Maus in der Marienkirche zu Paris eine konsekrierte Hostie. Die Geistlichkeit, voller Schrecken, ließ den Altar abbrechen und den ganzen Fuß­ boden ausheben, um das hungrige Tierlein, respektive ihren verzehrten Gott, zu ergreifen; fanden es aber nicht. »Zur Versöhnung des Gottes - geht der Bericht weiter (man glaubt im Livius zu lesen) - wurden Prozessionen veranstaltet, und ein wundertätiges Marienbild an den Ort der Tat gebracht.« - So geht es, wenn man sich einen Gott aus Holz oder Pappe macht; er kann einem gestohlen oder gefressen werden. Anfang der siebzigerJahre wurde in München ein junger Gymnasiast relegiert, also von der Möglichkeit des Weiterstudierens in seinem Land für immer aus­ geschlossen, weil er beim Kommunizieren die Hostie statt in den Mund in die Westentasche gesteckt hatte. Ist dieser junge Mensch, der vielleicht einen guten Kopf hatte, nicht mehr wert, als ein Millionstel Partikel Eures Gottes aus Pappe? Ich kenne einen Fall, wo ein Priester das von einem Geisteskranken, der die Sterbe­ sakramente erhalten hatte, Erbrochene aufaß, weil nach seiner Meinung die Hostie noch nicht verdaut sein konnte. - Ist das Verehrung des unsichtbaren Gottes? Zur Statuenliebe in der katholischen Kirche schreibt Victor Hehn in seinen bekannten »Reisebildern« aus Genzano in der römischen Kampagna vom 18. Oktober 1839: »Abends wohnte ich noch einer Litanei in der Kirche bei. Das hohe und weite Gebäude war von einzelnen sparsamen Lampen geisterhaft beleuchtet, die das dichte Dunkel mehr streiften, als durchdrangen. Dazu plärrten die Priester, und immer dieselbe fürchterliche Formel. Eine Schar Kinder, deren Unterricht darin besteht, sangen ihnen nach. Arme junge Seelen! Schon so früh entstellt! Ein hölzerner Christus am Kreuz ward über einen Stuhl gelegt undjeder Knabe mußte ihn von Kopf bis zu den Füßen mit Küssen bedecken. Selbst die Erwachsenen, die Männer im Weibergewand, knieten am Ende nieder und taten dasselbe. Wahrlich, wären wir selbst nicht auch vom zarten Alter daran gewöhnt, so daß wir nichts mehr fühlen, wir würden glauben, Narren des Irrenhauses zu sehen.« Aber denselben hölzernen Götzendienst können wir heute noch jedes Jahr am Karfreitag in Deutschland beobachten, wo eben die päpstliche Religion Geltung hat, in München, Mainz, am Rhein, in Würzburg. Auch dort küssen Hunderte und Tausende die dort am Boden liegenden hölzernen Kruzifixe. Die Leute tun es mit der stumpfsinnigen Gewohnheit, die dem römischen Katholiken eigen ist; sie sind brav und ehrlich dabei; glauben wirklich ein gutes Werk zu verrichten, und nur wenige werden syphilitisch. »Ihr habt nun oft von mir gehört, dass ich gepredigt habe wider die närrischen Gesetz des Papstes. Unter anderm hat er verboten, dass kein Weib soll das Tuch

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waschen, darauf der Leichnam Christi sei gehandelt worden (Altartuch), und wenns gleich auch eine reine geweihte Nonne wäre, es sei denn, dass es ein Pfaff oder Mönch zuvor gewaschen habe. Auch wenn ein Laie den Leib Christi oder den Kelch mit blossen Händen anrührete, dem müsste man die Finger beschneiden, oder mit einem Ziegelstein die Haut abreiben; und was der närrischen Gesetze mehr sind unter dem Papsttum: darüber ihnen (sich) die Papisten mehr Gewissen gemacht haben, denn über ihre Hurerei und Gotteslästerung, die so öffentlich wider Gott und so hell am Tage sind gewesen, dass auch die Kinder auf Gassen davon gesungen haben«, so geißelte Luther die päpstlichen Laster! Das ganze Religionswesen zieht aus dem Innern des Menschen hinaus in die Peri­ pherie. Nicht Deine innere Heiligkeit ist es, sondern die Heiligkeit des MetallGefäßes; nicht Sauberkeit Deines Herzens, sondern heilige Sauberkeit des Altar­ tuches; die runde Scheibe der Hostie ist die Heilstatsache schlechthin geworden. Diese komplette Versinnbildlichung und Veräußerlichung des ursprünglich Transszendentalen, die Hinausprojizierung der Herzens-Vorgänge in weißen und gelben Altar-Zierrat, und das Verrücken der Seele in die Epidermis, ist rein orienta­ lisch, der absolute Gegensatz zum nordischen Empfinden. Unnötig zu sagen: undeutscher, als undeutsch. Und noch etwas: Der Priester, was ursprünglich jeder in der Gemeinde sein sollte, wird hier immer mehr abgesondert, verheiligt, mit besonderem Blut und Fleisch begabt, denn er kann nicht beflecken. Die Entwicklung, die der Papst vom römi­ schen Pfarrer zum Provinzial-Bischof, zum Stellvertreter Christi, zum »unfehlba­ ren Mitwisser der göttlichen Geheimnisse«, zum »Sohn Gottes« durchgemacht hat, macht jeder Priester für sich durch: er wird zum Herrgöttchen. Er spricht am Altar in einer fremden Sprache; er steht über dem Gesetz; nur mit Hilfe des Teufels kann er beleidigt werden; er allein kann die heiligen Gegenstände, in denen für ihn das ganze Christentum steckt, unbeschadet berühren. Kommt ein Laie daran, so kann er, obwohl von Haus aus schmutzig, die Gegenstände zwar nicht beflecken; dazu sind sie zu heilig; aber er selbst würde heilig; das darf nicht sein; wegen des Abstands zum Priester. Und nun kommt das kostbare Charakteristikum: die Fin­ gerspitzen werden ihm abgeschnitten, oder doch mit Ziegelsteinen abgerieben. Es wird nicht etwa untersucht, ob er wenigstens bei lauterer Gesinnung Kelch oder Altartuch berührt. Nein, er darf nicht heilig werden, und die geheiligte Schrift muß schleunigst abgerieben werden. In diesem Ziegelstaub steckt der gesamte Katholizismus. Ist aber der Priester so heilig, so entfernt von Laien in die Nähe von Gott gerückt, so kann ihn auch nichts beflecken, und menschliche Handlungen können ihm nichts anhaben. Schon bei Gerson, bei Gelegenheit der Zölibatsfrage, lernten wir die dogmatische Konstruktion der Priester-Konkubine kennen, die wohl lässige, leicht tilgbare Sünden mit sich bringt, aber weder Priester-Weihe noch Keusch­ heits-Gelübde zerstört. Nun steht der Priester überhaupt erhaben über den Men­ schen da, und für den jungen Altar-Gott ist nun freie Bahn für allerlei Hantierung geschaffen. Und nun begreifen wir, daß Geistliche unter Alexander VI. die Einkünfte von

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Spielhäusern und Bordellen bezogen, daß die Klöster Bordelle genannt werden; daß Sixtus IV. in Rom öffentliche Huren-Häuser errichtet und daraus ein jährli­ ches Einkommen von vierzigtausend Goldgulden bezieht; daß Päpste und Kardinäle mit den Frauen und Mädchen ihrer Residenz unter Ausschluß sonstiger Män­ ner gemeine Feste der Ausschweifung feiern, oder sich Gruppen von Prostituierten in den Palast bringen lassen, daß sie den blöden abendländischen Völkern ihre Sün­ den gegen Geld abnehmen, und dieses Sünden-Geld ihrer Schwester schenken, oder im Spiel vertun; daß man schöne Schwestern gegen Kardinalstellen ein­ tauscht, für die dummen Deutschen, die »Bestien«, neue Sünden konstruiert, und Fastengebote und Ehehindernis stipuliert, die einen selbst nichts angehen; und daß man als Papst im Purpurkleide und mit der dreifachen Krone auf dem Haupt, wie sein Gesetzbuch sagt, »supra Jus, contra Jus, extra Jus, Deus in terris«, über dem Gesetz, gegen das Gesetz, außerhalb des Gesetzes, als ein Gott über der Menschheit schwebt. »Gleisst schön von Pracht und Reverenz, Der Welt Verderb und Pestilenz, Schwatzt viel von Fasten, auch Andacht, Ihm säuberst fette Tage schafft. Verkauft Fuchsschwänz, kurz, lang und breit, Das Volk um’s Geld und Hab geseit. Derhalb Er Judas-Beutel schlecht An seinem Halse führet recht, Dazu ein’n langen Rosenkranz, Hat fleissig Acht auf seine Schanz, Nachdem die Welt töricht und blind Ihm folget samt der Menschen Kind. So führt er sie auf losen Sand, Gibt ihn’n für’s Geld ein’n grossen Quant, Schafft Platten, Kappen, holzen Schuh, Nächtlich Geschrei im Chor ohn Ruh, Reich Opfer bei der Toten Pein, Geweihte Rosen, Öl und Wein, Annaten und Vigilien, Gross Ablass samt dem Requiem, Geschmückt’ Altär’, auch wächsene Licht, Monstranzen, heimlich Ohren-Bicht, Kirchen, Kapell, gross’ Klöster reich, Weihwasser, Salz, das Kraut zugleich, Palmen und Kelch, das Osterfeuer, Geschmierte Kreuz’ an hoher Mäuer, Bringt alles Geld und ist fast teuer, Die Hölle samt dem Fegefeuer; Hat auch dabei seine Creaturen, Tragen rote Hüte mit langen Schnuren,

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Ein Teil lang Haar, ein Teil beschoren, Ha’n Kleider als gemeine Toren, Von schwarz, grün, weiss, auch himmelblau, scheckigt und bunt, rot, gelb und grau, Werden wie Dieb’ gebunden auch, Ha’n dicke Hälse und fetten Bauch, Müssen nicht reden, sind ganz stumm, Beugen den Schalk grad und krumm. Dazu hat er auch Jägerhund Mit Krämerei zu aller Stund, Verkaufen, Messen, Eigenwerk Auf dass sich mehr’ sein Reich und stärk’, Ein Teil schlemmen und gehen in Saus, Halten glatt’ Pferd und Huren aus. Er hat auch eigene Henkersknecht’, Das Krumm’ bewegen sich gerad und schlecht, Als Curtisan, diebisch Fiskal Procurator, Official, Fürwahr ein seltsam Hofgesind, Desgleichen man bei Pluto nicht find’t, Zu locken hieher auf dieser Erd Die Menschen auf seinen Vogelherd«, - lautet ein Spottlied um 1549. Zu dem Charakter sündlosen Erhabenseins der Päpste und ihrer Priester über menschliche Sitte und Satzungen gehörten auch ihre voluptuösen Beziehungen zum gleichen Geschlecht, Sodomiterei, wie man es damals nannte, Päderastie, wie man es heute nennt, eine Sache, so selbstverständlich im Bereich päpstlicher Reli­ gionsübung, daß das Volk nurmehr schlechte Witze darüber macht. In Deutsch­ land nannte man es »Welsche Hochzeit«. Schon Damiani im 11. Jahrhundert war der Sache so kundig, daß er die verschiedenen Methoden dieser unsauberen Übung in seinem » Über gomorrhianus« in ein förmliches System bringen konnte, worüber Alexander II. aber nur lachte.-

»Sollt ich, die sodomitisch sind, der welschen Hochzeit grausam Schänd erzählen, ihr würdet alle samt ein’n Gräuel han, erschrecken drob«,

- rief 1546 der deutsche Richter J. Schradin aus Reutlingen. »Nit allein hat man zu Rom Unkeuschheit für ein Regierern menschlichs Lebens, sonder auch legen die Romanisten ihren Sinn daruff, wie sie in mancherley Gestalt, und uff seltzame Art, auch wünderlich Weyss, und wie vor nie gehört Unkeusch­

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heit pflegen, damit sie auch den Kaiser Tiberius übertreffen. In der Summ davon zu reden, schlechter Gestalt und gewöhnlicher Weyss Unkeutschheit treiben verach­ ten sie und heissen es Baurenwerk. Dann zu Rom thut man ding, der wir uns hier zu reden schämen«, schrieb Hutten.

»Wann man die Buchstaben verkehrt, Ist Roma Amor, das heisst Lieb, Die Lieb steht in verkehrtem Trieb: Denn Rom pflegt allezeit der Knaben Ist gnug, man sollts verstanden haben«,

- heißt es in einem alten Flugblatt.

Julius II. schändete zwei junge, französische, adlige Knaben, die erziehungshalber von der Königin Anna von Frankreich nach Italien geschickt worden waren. Julius III. machte einen jungen sechzehnjährigen Menschen Innocenz, einen sei­ ner Lieblingsknaben, zum Kardinal, und wurde deshalb von den Römern als »Jupi­ ter, der mit Ganymed spielt«, herumgezogen. - Und der Sohn Pauls III., Ludovico, notzüchtigte sogar den jungen, schönen Bischof von Faenza, worüber dieser aus Scham und Kränkung starb, während der Papst es nur für »jugendliche Unent­ haltsamkeit« erklärte, und seinen Sohn absolvierte. Dieser Paul III. selbst schändet schon als Legat unter Julius II. eine adlige junge Dame in Ancona, und muß flüchten, überläßt gegen einen Kardinalshut seine Schwester Julia Farnese Alexander VI., und hat selbst Verkehr mit der eigenen zweiten, jüngeren Schwester, und seiner Base Laura Farnese. In ganz Deutschland wußte man die Schande. In einem imjahr 1537 erschienenen Pasquille heißt es: »Deutscher: Wahrlich, Du malest mir in dem heiligen Vater einen wahren Taugenichts. - Pasquill: Das wirst Du erst sagen, wenn Du hörest, wie er (Paul III.) zuerst zum Kardinal gekommen und dann wie er Papst geworden ist. Man sagt, er habe eine sehr schöne Schwester gehabt, dajulius der zweite Papst gewesen ist. Diese hat Alexander heftig lieb gehabt, und da er nicht gewusst, wie er sie sollte zu sich bringen, um seine Unkeuschheit mit ihr zu treiben, hat er diesen jetzigen Papst Paul vermocht, seine Schwester ihm zuzuführen. Dafür hat er ihn zum Kardinal gemacht. Also sagt man, und die Römer sagen es selbst. - Deutscher: So wäre er besser zum Hurenwirt, als zum Papst! Wer sollte denn einem solchen verzweifelten Bösewicht glauben, und auf solchen vermeinten Concilium (zu Mantua) erscheinen, der mit solchen schalen Fratzen umgeht, in dem keine Treue und kein Glaube zu hoffen ist.« »Denn also pflegten die Päpst von gar schändlichem Mutwillen und abscheulicher Unkeuschheit zu brennen, dass sie denen Bischofs- und Kardinals-Hüt verheissen, die ihnen ihre Schwestern oder das noch greulicher zu sagen ist, ihre jungen Brü­ der zum Schänden zuführen. Mit diesen Künsten pflegen ihrer viel gar feiste Pfründen zu erjagen. Und ist, wie Agrippa (von Nettesheym) sagt, kein anderer näherer Weg dazu.«

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Und von dem Verkehr Pauls III. mit den Huren in Rom, deren amtliche Schätzung unter seinem Nachfolger Julius III. vierzigtausend ergeben hatte, heißt es, daß er ihnen »Zins forderte; an Gulden silberne und andere Müntz, darnach sie schön gewesen, haben sie geben müssen. Dieselbigen werden vom Bapst in grossen Ehren gehalten, die küssen des Bapstes Füss, die halten mit dem Bapst freundlich Gespräch, die haben mit dem Bapst Tag und Nacht Gemeinschaft.« Sixtus IV. (1471-1484), der zuerst Staatsbordelle in Rom errichtete, ließ jeden Geistlichen die jährliche Konkubinen-Taxe von einem Dukaten zahlen, auch wenn er keine Konkubine hatte; andererseits wies er die Einnahmen von einer bestimmten Anzahl Huren anderen Geistlichen als Pfründe an; so daß Agrippa von Nettesheym mitteilt, die Einnahmen eines geistlichen Würdenträgers hätten ungefähr so gelautet: »er hat zweiBenefizien, ein Curat mit zwanzig Dukaten, ein Priorat mit vierzig Dukaten, und drei Huren im Bordell.« Die Einnahmen aus den Staatsbordellen werden aufjährlich achtzigtausend Du­ katen geschätzt; dies erscheint begreiflich, wenn wir lesen, daß allein der eine Sohn Sixtus’ IV, Peter, wie Machiavelli erzählt, für seine Mittagstafel oft zwanzigtau­ send Florenen ausgab, und in den zwei Jahren seines Kardinalats zweihunderttau­ send Dukaten durchbrachte. Die Summe kirchlicher Greuel und geistlicher Knabenschändung deckt eine paro­ distische Beschreibung eines »Konklaves römischer Huren« auf, worin selbe beschließen und fordern, daß auf das Halten von Pagen und jungen Knaben bei den Kardinälen eine hohe Taxe gelegt werde; denn solange einer dieser Herrn männlichen Geruch in seiner Umgebung spüre, nehme er nichts anderes an; und der wachsende Verkehr der Geistlichen mit Kammerdienern, Aufwärtern, Barbie­ ren, und Ladenschwengels schädige sie, die Huren, in ihrem Gewerbe auf das Schwerste. - Das war das Ende des eigensinnigen Versuchs Gregor’s VII. hinsicht­ lich der Ehelosigkeit der Priester, daß man diese, gar in Italien, in Scheusäligkeiten hineintrieb, die sie zu einer neuen, psychopathischen, homosexuellen Rasse machte, so daß man später aus hygienischen Gründen froh gewesen wäre, wenn die Herrn in Lila oder der Gott in Purpur ein Weib angerührt hätten. »Wie gefällt es Dir aber, daß man zu Rom handelt mit dreierlei Kauf-Schatz: Christo, geistlichen Lehen und Weibern?« - »Wollt Gott allein mit Weibern, und gingen nit oft aus der Natur«, sagte Hutten. »Und welche verdammte Bösewichter wollen alle Welt bereden, daß sie der Kir­ chen Häupt, Mutter aller Kirchen und Meister des Glaubens sein, so man sie doch an ihren Werken in aller Welt erkennet; nämlich, daß sie bei gesunder Vernunft so öffentlich rasend und tolle sind worden, daß sie nicht wissen, ob sie Mann oder Weib sind, oder bleiben wollen; sich nicht schämen doch vor dem weiblichen Geschlecht, da ihre Mutter, Schwester, Muhmen unter sind, die solchs von ihnen hören und sehen müssen mit großen Schmerzen. Ei pfui euch Sodomiten-Päpste, Kardinäl’ und was ihr seid im römischen Hofe, dass ihr euch nicht fürchtet vor dem Pflaster, darauf ihr reitet, dass euch verschlingen möchte«, sagte Luther. Die Päpstinjohanna, die durch Betrug und List im 9. Jahrhundert den päpstlichen Thron bestiegen, und, nach mancherlei Schande und Wollust, auf demselben ein

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Kind geboren hat, so daß der päpstliche Stuhl zum Gebärstuhl wurde, diese Erzäh­ lung, die uns überliefert ist, war sicherlich nur eine Fabel; aber es war charakteri­ stisch, daß so etwas auf Männer erfunden werden konnte; es war vor- wie nachbe­ deutend für das eigentümlich wollüstige Leben der Päpste, für die Verweibsung dieser rasierten Leute in Weiberstoffen und Goldhauben, und bezeichnend für die besondere Art ihres psychischen Gebärens, die dem Weib gegenüber das Gefühl als Mann verloren haben, und über die »Menstruation« und »Milch« der MariaBände und Dogmen fabrizieren, als wäre es ihre eigene Sache. »Ein weibisch Volk, eine weiche Schar, ohn Herz, ohn Mut, ohn Tugend gar, da seind wir überstritten von. Im Herzen tut mir weh der Hohn«,

- klagte Hutten. »Lasset die Kleinen zu mir kommen, und wehret ihnen nicht!« Matth. 19,14. - Das habt ihr Papisten so verstanden, daß ihr bis auf Clemens XIV. jährlich ca. viertau­ send Knaben kastriertet, sie wie Indianer behandeltet und an ihren Qualitäten des Verschnittenseins euch vergnügt. Von den Jesuiten stammt der Spruch aus der Zeit der Gegen-Reformation: sie woll­ ten umjeden Preis die gesamte christliche Welt wieder dem Papst unterwerfen: »ac si cadaver esset« - »und wenn er ein Kadaver wäre.« »Kadaver« für den Papst und aus dem Munde derjesuiten ist kein schlechtes Beiwort: stagnierend wie ein Leich­ nam und stinkend wie ein verfaulendes Aas. Charakteristisch für den weibischen Charakter des päpstlichen Hofes ist - im Bedürfnisfalle - ihre Vorliebe für Gift - für andere. Während sonst beim Südländer rasch das Messer blitzt, und der »Bravo«, der seinen Dolch gegen Bezahlung jeder­ mann zur Verfügung stellt, zur typischen Figur geworden war, gebrauchen die Päpste das lautlose, schleichende, von hinten anfallende Gift - die feige Umbrin­ gungsart, aktiv wie passiv, und die regelmäßige bei dem des Muts entbehrenden Weib. Es geht in der Geschichte nur unter dem Namen: Kirchengift. Die Industrie war vollständig ausgebildet und in den Händen empirisch-chemisch-geübter Leute; nicht nur das, sondern auch die Praxis der Gegen-Gifte - man mußte sich doch selbst vorsehen - wurde mit großer Sicherheit geübt. Die schwierige Forde­ rung an ein solches ahnungslos wirkendes Toxikon war: geschmacklos, geruchlos, und farblos. Meist wird von einem weißen Pulver gesprochen, welches man dem Gebäck oder Wein beimischte. Von diesem erhielt wahrscheinlich jener türkische Prinz Dschem, der Bruder und Nebenbuhler des Sultans, den Alexander VI. im Gewahrsam hatte, und wie seine Korrespondenz mit BajesidIL ergibt, für drei­ hunderttausend Goldgulden aus dem Wege zu räumen versprach. Als Karl VIII. von Frankreich Rom besetzte, beeilte sich Alexander, und lieferte Dschem dem französischen König derartig aus, daß er vier Wochen später in des letzteren Lager vor Neapel starb. - Auch Burckhardt spricht von dem »Gift der Borgia«, dessen Wirkung auf bestimmte Termine berechnet werden konnte. Und der zuverlässige

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päpstliche Geschichtsschreiber, Onofrio Panvini, weiß allein von vier vergifteten Kardinälen zu berichten (Orsini, Ferrari, Michiel und sogar ein Verwandter der Borgia, Giovanni Borgia), die auf Rechnung Alexanders VI. und seines Sohnes Cesare kommen. - Das Volk war in Rom mit den Leichensymptomen nach solcher Vergiftung, auch wenn das Siechtum sich längere Zeit hinzog, vollständig vertraut. Berüchtigter und gefährlicher noch war das »aqua tofana«, dessen Erfindung dem Ende des 17. Jahrhunderts angehört. Es ist nach Santo Domingo eine wasserhelle, absolut geschmack- und geruch-freie Flüssigkeit, die in Neapel zuerst hergestellt wurde, und nach der Aussage eines neapolitanischen Arztes Kantharidin und Opium, nach Garelli, der die Kriminal-Akten der 1720 in Neapel hingerichteten Giftmischerin Tofana kannte, als Hauptbestandteil Arsenige Säure enthalten haben soll. Es war kein plötzlich wirkendes Gift, wie unsere modernen toxischen Alkaloide, sondern mußte lange, oft Wochen fort gegeben werden, was bei seiner Schmacklosigkeit leicht gewagt werden konnte. Meist wurde es in Früchte instilliert, wie in Feigen, deren intensiver, reichwürziger Geschmack allerdings auch schmeckende Stoffe wie Opium zuzudecken imstande war. Mit dieser seiner Lieb­ lingsfrucht soll Ganganelli, als Papst Clemens XIV, der durch Aufhebung des Jesuiten-Ordens sich zahlreiche und rücksichtslose Feinde gemacht hatte, nach übereinstimmenden Berichten, und nach seiner eigenen Aussage auf dem Kran­ kenlager, vergiftet worden sein. Er starb nach sechsmonatigem Dahinsiechen in vollständiger Erschöpfung. Haare und Nägel fielen bei der Leiche ab; sogar die Glieder sollen sich gelöst haben. Das Gesicht mußte bei der Ausstellung verdeckt werden. In einer so giftgeübten Stadt wie Rom hatte natürlich jeder in gefährlicher wie exponierter Stellung für sein Leben zu sorgen. Und so vergifteten nicht nur Päpste, sondern sie wurden auch vergiftet; nach der Schätzung Höniger’s allein einund­ zwanzig. Es kam eben darauf an, wer zuerst kam; wer zuerst von dem Anschläge des Gegners erfuhr, und dann den Spieß umdrehte, wie in dem Fall des Kardinal Hadrian. Es erscheint fraglich, ob Kaiser Heinrich VIL, der wegen seines Zuges nach Neapel vom Papst mit dem Bannfluch belegt war und in Buon-Convento, wo er schon krank von einem Dominikaner-Mönch das Abendmahl erhalten hatte, starb, durch eine Hostie, wie man damals und später glaubte, vergiftet werden konnte, die Deutschen stürzten nach dem Kloster und stachen die Mönche nieder. - Ent­ weder muß damals das »Brot«, das man beim Kommunizieren reichte, größer gewesen sein, als die heutige Oblate, die knapp imstande wäre, die nötige toxische Gabe unserer jetzigen stärksten Alkoloide aufzunehmen, oder der Kaiser mußte am Geschmack und der sofortigen Wirkung den Vergiftungs-Versuch merken, womit allerdings stimmt, daß ihm sein Arzt riet, durch ein Brechmittel sich von der Hostie wieder zu befreien, wozu aber der Kaiser zu fromm war. »Drei Dinge« - sagt Hutten - »braucht man nicht nach Rom zu bringen: Alter­ tümer, zerstörte Mauern und - Gift.« Von den Gift-reichenden Päpsten hat sich das französische Sprichwort erhalten: »Qui mange du Pape en meurt«: »Wer vom Papst ißt, stirbt.« -

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Eine andere Zerstörung, die sich vom ersten Moment ihrer Erscheinung an an die Ferse der Päpste und Kardinale heftete, ist die Syphilis. Bartholomäus Montagana, Professor zu Padua, einer der ersten Schriftsteller über die Lustseuche, wurde zuerst durch die Verbreitung dieser Krankheit unter der höchsten Geistlichkeit Ita­ liens zur Abfassung seiner Schrift veranlaßt. Die Krankheit hatte damals einen sehr heftigen, zerstörenden Charakter; und entsetzlich ist die Beschreibung des Lei­ dens, die er von einzelnen Geistlichen gibt. Pinctor, Leibarzt Alexander’s VI., beschreibt die langwierige Heilung der Lust­ seuche bei diesem Papst und kommt dabei auf die Ausschweifungen des ganzen päpstlichen Hofes zu sprechen. Der Kardinalbischof von Segoria, der als Magister domus sacrii Palatii die Aufsicht über die Bordelle in Rom führte, starb an der Krankheit. Kaspar Torella, ein anderer Leibarzt Alexander’s VI., und Kardinal, gibt dem Papste und dem gesamten päpstlichen Hof die für die damaligen Sitten und medizini­ schen Anschauungen bezeichnende Vorschrift: unzüchtige Handlungen nicht morgens nach der Messe, sondern nachmittags nach geschehener Verdauung, und ja nicht mit suspekten Weibern vorzunehmen! Von Julius II. sagt sein Leibarzt: »Eine Schande ist es zu sagen, daß kein Teil seines Körpers nicht mit dem Zeichen einer ungeheuerlichen und scheußlichen Wollust bedeckt gewesen wäre.« Er konnte am Karfreitag, wie sein Zeremonienmeister Grassis mitteilt, niemand zum üblichen Fußkuß zulassen, weil sein Fuß durch Syphilis fast zerstört war! Und Leo’s X. Wahl soll, wie Bayle erzählt, dadurch beschleunigt worden sein, daß seine brandigen Wunden,» die er sich in den Kämpfen mit der Venus geholt«, einen solchen pestilenzialischen Geruch im Konklave verbreiteten, daß die Kardinäle sich beeilten die Wahl zu vollziehen, umsomehr, als die Arzte ihnen sagten, Leo könne nicht mehr lange leben, und es werde also bald wieder Papstwahl sein. »Denn jedermann jetzt sehen mag, Ihr greulich Tun, und ist am Tag Ihr Gestank und Französischer Leib Mit welchem sie gross Schalkheit treib’, Weil man ihr’ Greuel noch nicht sehen Könnt’, nun man aber tut’s ausspähen, Dass sie so greulich sind verwundt im Teufelsleben ganz ungesund...« - heißt es in einem »Fliegenden Blatt«. Wo der Schaden ist, da stellt sich auch der Spott ein: Aus der Zeit der Dunkelmänner-Briefe stammt ein satirisches französisches Gedicht, welches einem hohen Geistlichen in den Mund gelegt ist, dessen Nase durch die Syphilis zerstört und bald abgenommen werden soll. Er hält eine ergreifende Ansprache an diese Nase, nennt sie Kardinal, Spiegel aller Gelehrsamkeit, die sich niemals auf Häresieen ein­ gelassen habe, wahres Fundament der Kirche, wert, kanonisiert zu werden, und hofft, sie werde im späteren Leben noch römischer Papst werden.

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Viele, die nach Rom zogen, um sich Ablaß und Sündenvergebung zu holen, kamen mit der Syphilis zurück: »Ihr habt so lang getragen hin, viel Geld und Gut aus Deutschem Land, herwider bracht all Laster Schänd, die zu zählen mit nicht ziemt«, - sagt Hutten. Die Deutschen nannten das neue, epidemisch um sich greifende Leiden »franzö­ sische Krankheit« oder die »Franzosen« und zweifellos hat die Übertragung auch von französischer Seite aus stattgefunden; doch früher scheint dieselbe von Italien her durch die geistlichen Geschäftsreisenden erfolgt zu sein:

»Und haben bracht in unser Land, das vor den Deutschen unbekannt, da habens uns beflecket mit. Wer war der erst, dazu je riet, dass man ein Römisch Weis’ annähm? Je mehr ich sag, je mehr ich schäm«, - sagt Hutten weiter. Der italienische Dichter und Arzt Fracastoro, der unter Leo X. lebte, widmete sein großes lateinisches Gedicht: »Syphilis, oder die Gallische Krankheit« dem Sekretär dieses Papstes, Cardinal Bembo. Wir erfahren aus demselben, daß man damals schon den Gebrauch des Quecksilbers kannte, dessen heilende Wirkung Fraca­ storo bei seinen hohen Würdenträgern nicht genug zu schätzen weiß. Fracastoro mußte später sogar die hohen geistlichen Herrn auf das Konzil nach Trient gelei­ ten. Auf diese Konzilien kamen die Päpste und Kardinäle mit ganzen Scharen von Huren und Knaben. Auf dem Konstanzer Konzil (1414-1418) »waren offen gemein Frauen durch die ganz Stadt hinweg, in Frauenhäusern, Ställen und Win­ keln ab siebenhundert (on die heimlichen).« - Ein anderer Chronist zählt im gan­ zen fünfzehnhundert, und meldet, daß eine dieser »Frauen« sich achthundert Gul­ den auf diesem Konzil verdient habe; (nach heutigem Geldwert ca. sechzigtausend Mark; das Konzil dauerte fünf Jahre.) Und auf das Tridentiner Konzil kam eine römische Kurtisane mit einem Gefolge von dreißig Personen. »Nun hat man neue Märe in dem Lande vernommen, seit das Konzilium gen Konstanz ist kommen; die Dirnen sind gemelich und sind auch worden wacker und rieh. Die schwäbischen Mägde, die sind einfältig gewesen,

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nun hat man also die letzen in wohl gelesen, dass sie die Künste treiben recht; sie kumment eben Herren und Knecht. Die fremde Sprach hat sich zu uns gemischet, etlich hat den ihren da erwischet. Dukaten, Nobeln und Kron wollen die schwäbischen Dirnen von den Gästen hon. Der Papst ist zu deutschen Landen kommen, das haben die hübschen Frauen wohl vernommen, wie sich die Geschieht ergangen hat, das schaffen alles die Kurtisant, denn die Pfennig haben sie in der Hand. Die hübschen Frauen sind geringer geworden, des hat mein Herr, der Bischof um sie geworben. »Seid willkommen, Herr Kurtisan!

Wollt ihr einen Gulden geben, so will ich mit euch schlafen gan’ Wenn sie des Abends auf der Gassen laufen so schreien die Knaben... den Spott müssen wir Armen von ihnen han’, das schaffen alles die Kurtisan, wenn sie viel Geld han, darum mögen wir ihnen nit beistan!«, - heißt es in einem alten Spottlied.

Die katholische Kirche sagt immer, man müsse sie als Ganzes nehmen; nicht ein Dogma glauben, und das andere zurückweisen. - Einverstanden! Auch wir wollen die römisch-katholische Kirche als Ganzes nehmen. Wenn aber heute die deut­ schen Katholiken auf ihren Versammlungen singen: »Den Gruß laßt erschallen Zum Ewigen Rom, Zum Herzen, das uns allen Schlägt in Sanct Peters Dom Leo, Leo, ...« usw.

so bezweifeln wir, ob sie die ganze Geschichte der Päpste kennen. »O Fürsten, merket mich gar schon, dahin werd Ihr’s nit bringen, dass Dütschland werd unterthon, dem Papst sein Lied zu singen;

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das geschieht nit mehr, kein Papst noch Herr den Tag wird nit erleben, dass Dütschland kam Euch in die Hand und um den Papst werd geben«,

sang man damals in Deutschland.

OSKAR PANIZZA MARIA Groß ist die Diana der Epheser (Apostelgeschichte 19, 24)

Keine christliche Göttin - die Drei-Einigkeit nicht ausgeschlossen - hat eine so rasche und glänzende Siegeslaufbahn genommen, wie die Maria. - Was habt Ihr, Papisten, nicht alles aus dieser simplen Jüdin gemacht? - An ihr herumgezerrt, sie geputzt, geziert, behangen, parfümiert, bis aus ihr die große Herrscherin im Him­ mel, die nicht zu umgehende Mittlerin, der große Unterrock der katholischen Kirche wurde, unter dem Euch so wohl ist?! Eure Religion ist eine Unterrock-Reli­ gion !Die Geschichte begann auf dem Konzil in Ephesus imjahre 431. Dieses nannte sie »Gottesgebärerin«, während der Patriarch von Konstantinopel, Nestorius, ein klu­ ger und besonnener Mann, sie »Menschengebärerin«, im besten Fall »Christusgebärerin« nennen wollte. In der Religion geht es wie im Wahnsinn: der Tollste hat Recht! Der Vernünftige muß unterliegen. Es handelt sich nur darum, glücklich den Instinkt der Masse vorzuriechen.» Gottesgebärerin« ward diejüdin auf diesem Konzil. Und gleich hier schloß sich der hübsche, hierarchische Zug an, daß sofort erklärt wurde: »Wenn einer Maria nicht als Gottesgebärerin annimmt, der ist getrennt von der Gottheit!« Es ist dasselbe Schema, welches auch später beibehal­ ten blieb! Und nun gibt es bald keine Grenzen mehr. Unbeßeckte Taube wird siejetzt genannt, Kleinod der Welt, unauslöschliche Lampe, Gefäß des Unefaßlichen, wegen welcher die Engel Reigen tanzen, die Erzengel aufspringen, furchtbare Hymnen austönend, der Festplatz des Erlösungsvertrags, das Brautgemach, die einzige Brücke Gottes zu den Menschen, derfrucht­ bare Webstuhl der Heilveranstaltung, auf welchem auf unsagbare Weise das Kleid der Vereini­ gunggewoben wurde, dessen Weber der heilige Geist, die Spinnerin die überschattende Kraft, die Wolle das alte Vließ des Adam, der Einschlag das unbeßeckte Fleisch derJungfrau, die Weberlade die Gnade des Boten Gabriel. Wir befinden uns im Orient. Freilich! Aber die katholische Kirche befand sich stets im Orient. Ihre schwülstigen Gebärakte und

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brünstigen Sinnlichkeiten, mit denen sie die einfachen Christus-Lehren ausstaf­ fierte, sind alles orientalische Arbeit. Orientalen waren ihre Liguori, ihre Sanchez, ihre Excobar, ihre Perrone, Malou und Pius IX. Treffliche Leute für ihre Kreise, für ihre Religion, für ihre Völker, die Welschen. Aber nicht für uns Deutsche. SeitJahr­ hunderten wehren wir uns gegen diese wollüstigen Lehren, die im Vatikan fabri­ ziert werden. Besonders gegen die Schlüpfrigkeiten im Marien-Kultus. Unser nor­ discher Sinn ist zu einfach und zu empfindlich für diese Sorte Religion. Und die Päpste wollen nicht begreifen, daß wir diesem pornografischen Kultus keinen Geschmack abgewinnen können. So wenig wir begreifen, daß man in den Händen fast jedes welschen Priesters gemeine Fotografien findet. Eines Tages werden sie es aber begreifen müssen. Die Nationen werden auch auf diesem Gebiet reinliche Scheidung vornehmen müssen. Höre ich stundenlang und tausendfach die folgende unartikulierte Weise, rhyth­ misch, nicht dem Sinn, sondern der Bequemlichkeit nach, von deutschen Frauen betont: »Gägrüsst saist Du Maria, Du best voller Gnaden, der Härr ist mit Dir, Du best gebenedaiet unter den Waibern, und gebenedaiet ist die Frucht Daines Laibes, Jesus Christus, Amen. Heilige Maria, Mutter Gottes, bett’ für uns arme Sünder, jetzt und in där Stunde des Abstärbens, Amen.« - so wendet sich in mir das Geblüt, und ich schaudere über den Einfluss, welcher aus braven Menschen solche Puppen und Pagoden machen konnte. Diese einfache Jüdin, die wiejede andere in Schmerzen ihr Kind geboren hat, habt Ihr mit dem Rosenöl Eurer extravaganten orientalischen Phantasie übergossen, und uns im Norden so unerträglich gemacht. Denn wir verachten penetrante Gerüche. Dieses Weib, welches Ihr wie eine Boudoir-Königin geschminkt, geziert und behängt habt, stieg zuletzt in Eurer wahnsinnigen, von sexuellen Bei­ mischungen nicht freien Verehrung bis über Gottes Thron hinaus, wurde, »Mittel­ punkt des Weltalls«, Mittelpunkt der christlichen Religion. Wären Papst und Pfaf­ fen, wie einmal vorgeschlagen worden ist, vor Beginn ihrer Amtstätigkeit in Kon­ sequenz ihrer Gelübde kastriert worden, es wäre nicht so weit gekommen: Eine simple Jüdin an Stelle der Figur eines Christus getreten, eine x-beliebige an Stelle des Lehrers der Menschheit, und als »Erlöserin«, als »Sündenvergeberin«, die Euch »von ihrem Fleisch zu essen«, »aus ihren Brüsten zu saugen« gibt, - das ist das Resultat Eurer Jahrhunderte langen schmutzigen Arbeit, Papisten!Ich hätte nichts dagegen, wenn Ihr die Jüdin außer zum »Mittelpunkt der Erde«, zur »Ergänzung der Drei-Einigkeit«, zur »Mit-Erlöserin« und was Ihr ihr sonst noch angedichtet habt, endgültig zur Haupt-Gottheit des Christentums erhebt, wie es jetzt im Zuge ist, so daß sie die Sünden vergibt und uns den Himmel auf­ macht. Statt dessen hat sie nur - geboren. Das haben die meisten übrigen Weiber auch. Ein Verdienst, recht groß, aber nicht groß genug, um zur Universalgöttin erhoben zu werden. Wie die Sachejetzt liegt, habt Ihr sie zur göttlichen Puppe gemacht, mit Gold und Firlefanz behängt, ihr ein Lächeln angelogen, Schwerter und Schmerzen ange­ dichtet, und sie mitsamt ihren Schmerzen so verzuckert, daß das Gericht, außer für welsche Weiber, gar nicht mehr zu genießen ist.

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Abraham Janssens: Allegorie der Wollust

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Unbekannter toskanischer Meister: Lukretia

Hubert Goltzius: Die Unbeständigkeit ►

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Parmigianino: Madonna della Rosa, zwischen 1527 und 1531

◄ Parmigianino: Madonna con eolio lungo, um 1535

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Maerten van Heemskerck: Der heilige Lukas malt die Madonna

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Pellegrino Tibaldi: Heilige Familie

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Batholomäus Spranger: Venus und Amor

Grabmal des Luigi Pastorini (1902), von G. Navone, Cimitero di Staglieno ►

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Maria mit dem Kind. sog. Diptychon von Melun, zwischen 1450 und 1453

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Clément Marot: Die schöne Brust

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Trophime Bigot:Der Heilige Sebastian, von der Heiligen Irene gepflegt (17. Jh.) Musée des Beaux-Arts, Bourdeaux (Ausschnitt).

Georg Petel: Ecce Homo, 1627-32 ►

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Michelangelo Buonarroti: Pieta, 1498-1500

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Gian Lorenzo Bernini: Die heilige Therese

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In der großen römischen Götter-Familie: Gott-Vater, Gott-Sohn, der heilige Geist, Maria, die heilige Anna und der Papst, sieht man sofort, aus der Summe der Bei­ namen, aus den nach allen Seiten hin sich erstreckenden Beziehungen, wer eigent­ lich der Mittelpunkt des Systems, von welcher Richtung die meisten Strahlen aus­ gehen. Nur mit Grauen zitieren wir die folgenden Ehrentitel, die auf die merkwür­ digen polytheistischen, blutschänderischen Beziehungen dieser katholischen Familie ein sattsames Licht werfen: Die heilige Anna ist Großmutter Gottes, Mutter der Maria, Schwiegermutter des heiligen Geistes.-Maria: Tochter Gott Vaters, Tochter der heiligen Anna, Gemahlin Gott Vaters, Tochter der Drei-Einigkeit, Mutter des Sohnes, Schwester des heiligen Geistes, Braut des heiligen Geistes, Gemahlin des heiligen Geistes, Vertraute der DreiEinigkeit, Monstranz der Drei-Einigkeit, substantiell mit der Trinität vereinigt, die vierte Per­ son der Drei-Einigkeit. - Gott Vater: Vater des Sohnes, Vater der Maria, Gemahl der Maria. Christus kommt mit zwei Beiworten weg: Sohn Gottes, Sohn der Maria. - Der Papst: Stellvertreter Christi, Gott auf Erden, Vize-Gott, kennt die Mysterien Gottes, bespricht sich familiär mit Christus,öffnet den Himmel, ist der Sohn Gottes, aufErden allgegenwärtig.-Wir meinen, die Deutschen sollten mit diesem Rattenkönig von Verwandtschaften nichts zu tun haben, und Hände und Gewissen rein erhalten. Wer in diesem göttlichen Bilderkreis die eigentliche Göttin ist, darüber kann wohl kein Zweifel bestehen. Und bald sorgten Spekulation, Sinnlichkeit, Phantasie und zölibatisches Denken dafür, ihr aus der katholischen Kirche ein bequemes Bett zu zimmern. Die schönsten Kirchen wurden ihr gebaut, die Hauptaltäre ihr geweiht, ihre Statue überall vorne hin gestellt, und eine eigene Gebetsformel und ein eige­ nes Gebets-Werkzeug für sie erfunden, der Rosenkranz. Ein Weib begnügt sich nicht mit der stillen Verehrung ihrer Anbeter; es mußte viel, fortwährend und laut gebetet werden; 150 Ave-Maria’s enthält ihr Gebets-Werkzeug; und jedes Ave bringt nach der Verordnung Benedict’sXIII. hundert Tage Ablaß. Das war eine lustige, bequeme, süße und sinnliche Religion. »Was soll man dann allhie sagen von dem großen Geschmück in den Kirchen, der von Gold, Silber, Perlen, Edelsteinen und allerlei Geschmeide zusammengebettelt ist? Von den köstlichen Gemälden darinnen, von den Bildern und Tafeln, die unaussprechlich viel gekostet haben. In dem allen spüre ich gar keine Andacht, kann auch nicht denken, wie etwas Gutes von solchem Gezier kommen möge. Denn keine Buhlerin mag sich üppiger oder unschamhafter bekleiden oder zieren, alsjetzund die Mutter Gottes, St. Barbara, Katharina und andere Heiligen.« - So heißt es im »neuen Karsthans« aus der Zeit Huttens. Ritterorden werden zu ihrer Ehre gestiftet; Erzbruderschaften gegründet, die sich nur mit ihrer Person und der Rosenkranzarbeit beschäftigen, sie besiegt die Saraze­ nen in Palästina, die Mauren in Portugal; baut die Kirche zu Chartres; heilt alle Kranken, Lahmen, Taubstummen; ihr Wohnhaus wird von den Engeln aus Palä­ stina nach Loretto in Italien getragen, und ist dort der Anlaß zum Zusammenströ­ men großer Geldsummen; der heilige Franziskus gründet ihr zu Ehren den sog. Portiunkula-Ablaß, der erste Fall des Sündenvergebens durch sie, an einem bestimmten Ort und gegen Bezahlung; sie macht unfruchtbare Weiber fruchtbar; der Ritter, der zu ihr hält, gewinnt die Schlacht und die Geliebte; einzelne Orden, ◄ Lelio Orsi: Kreuz-Labyrinth

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wie die Franziskaner, ergeben sich ganz ihrem Dienst; andere Orden, wie den Jesuitenorden, gründet sie; Urban IV. stiftet den Orden der »Miliz der Jungfrau«; drei italienische Edelleute den Orden der »Miliz der unbefleckten Empfängnis«; andere Orden, die sich ihren Dogmen oder ihrer göttlichen Verehrung entgegen­ stellen, wie die Dominikaner, verfolgt sie mit heftigem Zorn; sie besiegt die Eng­ länder gegen die Franzosen; hunderte ihrer Bilder wirken auf wundertätige Weise, verdrehen die Augen oder schwitzen Blut; sie erscheint in zahllosen Visionen, unterhält mit einzelnen Heiligen und Asketen familiären Verkehr, wird im ganzen Abendland auf Bäumen, Wiesen, bei Quellen, in der Luft sichtbar; Mann, Weib und Kind tragen ihre Medaille; und diese Medaille heilt die schwersten Krankhei­ ten wie Aussatz, Pest, Hundswut - und Protestantismus. Die Sorbonne in Paris ernennt niemanden zum Doktor, der nicht vorher einen Revers zugunsten ihrer unbefleckten Empfängnis unterzeichnet hat. Kaum aber hattet Ihr Eure Göttin spekulativ sichergestellt, und ihr als »Mittlerin zwischen Gott und Menschen« die Stelle Christi in den Herzen Eurer Anhänger angewiesen, so stürzten sich die Jesuiten, diese Maulwürfe in der katholischen Kirche, auf den jungfräulichen Leib ihrer Auserwählten und durchschnüffelten, durchbohrten, durchsaugten und durchrochen ihn, wie Ratten ihr Kellernest, bis jede Faser von ihr dogmatisch-sensualistisch verwertet war. Den ganzen Leib der Maria habt Ihr, wie Anatomen die Leiche zur besonderen Erklärung, in Regio­ nen eingeteilt, und bis auf den Unterleib keine vergessen; und jede derselben besonderer Verehrung überwiesen; mit ihren Sekreten schlüpfrig-symbolischen Unfug getrieben und alles als »Offenbarungen Gottes« der staunenden Welt ver­ kündigt. Solcher Dreck paßte für die geilen Welschen, die auch die Religion nicht ohne haut-gout genießen können; es war aber kein Gericht für die gesunden Deut­ schen. Schon bei dem Mönch Damiani im 11. Jahrhundert, dem zelotischen Helfershelfer von fünf Päpsten, finden wir die deutliche Absicht der katholischen Kirche, durch brutalste Vorführung der Geschlechtsvorgänge bei der Geburt das Interesse der Gläubigen für die Maria zu erwecken. So sagt er u.a.: »Gott selbst sei durch die Schönheit der Maria in sinnlicher Liebe zu ihr entbrannt, und solcherweise die Befruchtung der Maria zustande gekommen; sie fühlte den in ihre Eingeweide hineingefallenen Gott und dessen in der Enge des jungfräulichen Bauches einge­ schlossene Majestät.« Der Dominikaner Alanus de Rupe erzählt »eines Tages sei die Jungfrau Maria in seine Zelle gekommen, habe aus ihrem Herzen einen Fingerring geflochten und sich mit demselben ihm verlobt; sich auch von ihm küssen lassen, und ihre Brüste ihm zum Berühren und daran zu saugen hingereicht; nicht anders, als wie es zwi­ schen Braut und Bräutigam geschieht«!! Was ist das aber alles gegen die Leistungen der Jesuiten: Einer dieser Schlecker lehrte: Maria gebe den mit dem Teufel Ringenden von dem süßen Inhalt ihrer Brüste zu kosten! In München wurden von den Jesuiten 1559 in der Michaeliskirche »allerley Haar­ büschel« der Maria, ihr Schleier und ein Stück ihres Kammes gezeigt, und eigene

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Andachten für diese Gegenstände eingerichtet. - »Praecellus Uterus« - »Aus­ gezeichnete Gebärmutter« - beginnt der Jesuit Pontan einen Triumphgesang auf die verschiedenen Körperteile der Maria unter Hervorsuchung solcher, die mit dem Geschlechtsleben zu tun haben; ein Poem, das, auch nur lateinisch, hier mit­ zuteilen, zu anstößig sein dürfte. Wir schreiben das Jahr 1764. Während solches in München als höchste Leistung katholischer Frömmigkeit und jesuitischer Fingerfertigkeit produziert wurde, dichtete Klopstock als Ausdruck tiefster Verinnerlichung protestantischer Fröm­ migkeit hoch im Norden an seinem »Messias«. So hatte sich damals Deutsch und Katholisch geschieden. Ich frage Dich, Leser, auf welcher Seite war damals der deutsche Geist? Und wenn die Antwort hierauf nicht zweifelhaft sein kann, so frage ich weiter: Kann jemals Deutsch und Katholisch in alle Zukunft hin sich decken? Doch wir müssen im Dreck, d. h. in der katholischen Mariologie, weiterfahren. Etwa um die gleiche Zeit, etwas vorher, läßt sich der Jesuit Suarez in eine langwie­ rige Untersuchung ein, ob Maria Christus mit oder ohne Nachgeburt auf die Welt gebracht habe; und entscheidet sich für letzteres. Ohne einen Kursus in Frauenkrankheiten durchgemacht zu haben, dürfte es für einen Professor der Dogmatik in einem Priesterseminar heute kaum mehr möglich sein, in dieser Materie das Wort zu ergreifen. Bände werden darüber verschmiert, ob die Erzeugung der Maria durch ihre Eltern Anna und Joachim mit oder ohne Wollust-Empfindung einhergegangen sei. Und Maria d’Agreda bestätigt in ihrer »Biographie« der Mutter Gottes, die diese ihr selbst in die Feder diktiert habe: »die heilige Anna und der heilige Joachim hätten keine sexuelle Lust empfunden, der Erzengel Gabriel habe ihre, der Maria, unbefleckte Empfängnis ihrer Mutter, der heiligen Anna, vorher angezeigt; sie habe dann an einem Sonntag stattgefunden, und Anna und Joachim hätten sozusagen auf Befehl des Engels gehandelt«. Bei Maria selbst, sagt Oswald, muß unterschieden werden: Maria als Mensch, und Maria als Weib; als Weib war Maria fleckenlos; als Mensch mit Sünden behaftet. Ferner: Die Sündlosigkeit der Seele, wie sie die Taufe bringt, sagt Oswald, muß genau unterschieden werden von der Begierlichkeit, die im Fleisch steckt; nur um die erstere handelt es sich bei der unbefleckten Empfängnis Mariä; von letzterer war sie zwar auch frei; aber unterschieden müssen beide doch werden. - Genau muß schließlich unterschieden werden zwischen der rein fleischlichen Sinnlich­ keit, dem sexuellen Verlangen, und dem nur auf Erzeugung von Nachkommen­ schaft hinzielenden Begehren. Die erstere hatte Maria überhaupt nicht; die zweite wohl; sie wurde aber ausgelöscht; hatte sie also auch nicht. Trotzdem müssen beide unterschieden werden. Nun bei den Herrn Geistlichen ist es jedenfalls umgekehrt: bei ihrem Verkehr mit ihren Beichtkindern (s. u. »Zölibat«) sind sie jedenfalls von der Absicht auf Nach­ kommenschaft frei; während die Sinnlichkeit - ich schätze - vorhanden ist. Doch wir müssen weiter in unserem Gebär-Kursus: Die »jungfräuliche Empfäng­ nis« wird weiterhin auf fünf Seiten abgehandelt: a) Mariens Leib ist bei der Überschattung durch den heiligen Geist von außen nicht beschädigt worden: »das Sie-

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gel der Jungfrauschaft an ihrem Fleisch ist nicht verletzt worden.« - b) »wir müs­ sen die jungfräuliche Empfängnis als einen Vorgang im Innern des leiblichen Organismus betrachten«; dabei hören wir die erstaunliche Tatsache, »daß Maria bei der Empfängnis nicht das gemeine, unsaubere Menstruationsblut verwendete, sondern statt dessen das reinste, lauterste Herzensblut. - c) »die Überschattung durch den heiligen Geist ging ohnejede lüsterne Regung vor sich; aber ein körper­ liches Gefühl hatte Maria doch; eine geistige Ekstase, ein Verschlungensein des Fleisches durch den Geist.« Hm! Nach der »Empfängnis« die »Schwangerschaft«. Wir erfahren: »Die inneren Gefäße ihres heiligen Leibes sind nicht verletzt, zerrissen, gequetscht oder durch­ brochen worden; da nun diejungfräulichen Organe ohnejede Verletzung das Got­ teskind fassen konnten, so muß ein gegenseitiges Durchdringen des Fleisches Christi und des jungfräulichen angenommen werden, d. h. daß beider Leib in der­ selben Raumstätte anwesend waren«. Ich begreife nur nicht, warum der liebe Gott, statt die anatomischen und physiologischen Einrichtungen des menschlichen Kör­ pers so fürchterlich zu mißhandeln, der Maria nicht lieber das Christuskind hinten am Kragen oder vorne beim Fürtuch herausgezogen hat. Ähnlich wie Minerva fix und fertig aus dem Kopf Jupiters heraussprang. Wie seid Ihr aber auch mit den drei Personen der Drei-Einigkeit umgegangen! Hier ist es wirklich schwer, keine Satire zu schreiben: Den »heiligen Geist«, überall habt Ihr ihn beseitigt, niemals ist er »komplett« (Nicolas); er ist zwar der »Bräutigam der Maria« (Liguori), sogar der »Gemahl der Maria« (Nicolas); trotzdem darf er nicht zur Ausübung seiner Rechte schreiten, denn »er ist nicht das Prinzip einer persönlichen Zeugung« (Nicolas); er darf nur »überschatten«, oder, »in Maria wohnen«, trotzdem muß er »operieren« (Laforet); und erst durch diese »Opera­ tion« wird er, der heilige Geist, »in der Jungfrau Maria und durch sie komplett« (Nicolas). Die Wirkung dieser »Operation« ist die Befruchtung Maria’s; aber nicht er ist der Erzeuger dieser Frucht, sondern Gott; denn er, der heilige Geist, ist nur der »Repräsentant des zeugenden Prinzips« (Nicolas). - Kein Wunder, wenn ein so beschaffener heiliger Geist, der nie komplett, sondern nur halb ist, und erst von Maria in seiner Vollständigkeit abhängig ist, eines Tages ganz verschwindet. Nicht viel besser habt Ihr’s mit Christus gemacht. Ihn, den Mittelpunkt der christ­ lichen Lehre, habt Ihr dogmatisch zur Puppe degradiert, nur um Maria, Euren gro­ ßen Unterrock, zu steifen und zu stärken: Nicht, weil er Christus, sondern weil er der »Sohn der Maria« ist, wird er verherrlicht: »Von Maria nimmt der Sohn Gottes diese wunderbare Verherrlichung an, die glorreicher ist denn die als Sohn Gottes« (Nicolas). - »Christus wurde nicht der Sohn Maria’s, um in die Welt zu kommen, sondern er kam in die Welt, um der Sohn Maria’s zu sein«!!! (Nicolas). Infolgedes­ sen besitzt sie »Autorität« über ihn (Nicolas) Sie »weist ihm gegenüber auf ihre Verdienste hin« (Oswald) Sie ist »das wahre Bindemittel des Diesseits mit dem Jen­ seits«, »im eigentlichen Sinn die Mittlerin«, »sie ist uns die Nächste«, »alle Gnaden, welche vom Himmel auf die Erde herniedersteigen, gehen durch ihre Hände« (Oswald) und »ist als Erlöserin der Menschheit ihrem Sohne gleich«. Nicht anders seid Ihr mit dem alten Herr-Gott umgesprungen: »Maria verleiht

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Gott Vater eine unendliche Größe, die Er nicht in der Welt hatte, indem sie ihm sei­ nen Sohn unterwirft: und in diesem Sinn erhöht und vervollständigt seine Maje­ stät um den ganzen Unterschied des Wertes« (Nicolas); »Gott ist zu Pflichten Maria gegenüber gezwungen« (Guillou). Und Nicolas fügt hinzu: »Wir sagen hier nichts, was ein Katholik, ein Christ, ein Protestant sogar, nicht unterschreiben dürfte«. Und jetzt, lieber Leser, lies einmal eines der ersten drei Evangelien, in denen doch Alles steht, was wir über Maria wissen, und dann erwäge die große Schwindel­ fabrik der Päpste. Aus der Vergessenheit habt Ihr diese einfache Jüdin hervorge­ zerrt, sie aufgeschmückt und aufgeputzt, und sie vergrößert, und zuletzt aus ihr den großen Unterrock der katholischen Kirche gemacht, unter dem Ihr Euch alle gläubig versammelt, und dann freilich nichts anderes als Unterrocks-Dogmen und Gebär-Vorgänge erblickt und konstruiert. Nun, und die Wirkung ist nicht ausgeblieben. Was Ihr wolltet habt Ihr heut erreicht. Maria ist die Göttin des Christentums. Wer etwas braucht, kommt zu ihr. »Auf ihr, sagt Pius IX., beruht unsere einzige Hoffnung«. Nur auf Gebete zur Maria ist Ablaß und Sünden-Vergebung ausgeschrieben; Sünden-Vergebung auf 30 Jahre, 25 Jahre, 15 Jahre, lOJahre, 7 Jahre, 60 Tage und auf Lebenszeit; je nach Ort und Zahl der Gebetsleistungen. Die Religion ist verweibst. Die Männer lachen. Als das Unfehlbarkeitsdogma im Anzug war, und einige Männer in München und sonstwo revoltierten, sagte man ihnen: Habt Ihr die »unbefleckte Emp­ fängnis« geglaubt, könnt Ihr das auch noch glauben! Damit war der Gipfelpunkt der Verweibsung des Göttlichen, der Hysterischmachung des Himmels gekenn­ zeichnet. Gebetet wird nur noch von den Weibern. Und auch hier meist nur von den alten. Und von diesen gegen Bezahlung. Auf den Friedhöfen der großen katholischen Städte stehen diese verwelkten Gestalten am Aller-Seelen-Tag, wie die Klage­ weiber zu Zeiten der Römer, und plärren und kauen mit den eingefallenen Kiefern ihre Tausende von Ave-Maria’s gegen wenige Groschen herunter; während ihre Auftraggeber, die vornehmen Herren und Damen, die Nachkommen der in den Gräbern Ruhenden zu Hause auf dem Sofa liegen und die Zeitung lesen, zu emp­ findlich, um diesen verweibsten Kultus mitzumachen; zu stolz, um den großen Unterrock im Himmel für die Ruhe der Seelen ihrer Vorfahren im Fegfeuer anzu­ flehen. Das Beten ist wie das Tapezieren ein Geschäft geworden, welches in den Händen einzelner, eben dazu Befähigter, ruht. In Tirol kauft man die Gunst der Maria wie Wurscht und Käs. Wer selbst nicht Lust oder Zeit hat, zu beten, läßt es durch andere verrichten: »Ein Vaterunser mit Ave-Maria kostet drei Kreuzer; ein Rosen­ kranz, bestehend aus sechs Vaterunsern und 60 Ave-Marias, kostet zwanzig Kreu­ zer; eine lauretanische Litanei mit den dazu gehörigen Gebeten zehn Kreuzer; ein >Gelobt seijesus Christush wird als Draufgabe dazu getan. Höher im Preis steht ein Rutschen auf den Knien um den Altar, oder gar ein ausgestrecktes Liegen in Kreu­ zesform auf dem kalten Steinpflaster.« Die dogmatisch-wissenschaftliche Form für diesen Unterrocks-Kultus lautet:

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»Wir verehren Maria hyperdulisch, widmen ihr einen spezifisch hohem Kult, weil sie Mutter Gottes und als solche Repräsentantin ihres Geschlechtes ist. Ihr Ver­ dienst ist ein wesentlicher Beitrag zur Erlösung der Menschheit. Auch ist der himmlische Instanzenzug für das Gebet vollkommen klar. Christus ist Mittler. Maria auch Mittlerin als Christmutter. Christus vermittelt bei Gott und Maria ver­ mittelt beim Sohne. Diese beiden Instanzen sind wesentlich. Die Heiligen sind nur Mittler durchaus im sekundären Sinn. Sie können bei ihrem Einschreiten der Gott­ heit nur Verdienste vorhalten, und zu unsern Gunsten geltend machen, die nicht so recht ihr Eigen sind. Maria bei ihrer Advokatie hält aber von ihrem Eigenen dem Sohne vor, sie verweiset auf ihre verdienstliche Muttertätigkeit: sie weist auf ihre Brüste und Zitzen hin.« Man beachte die merkantile Sprache! Immer ist es das kaufmännische System der Leistung und der Gegenleistung, welches durch die gesamte katholische Auffas­ sung, durch ihre Ablaß-Lehre wie Pönitenz-Taxen geht, und dessen Schema lautet: Ich habe das und das getan, gebetet, gewallfahrt’, was bekomm’ ich dafür? Es ist das Zwei-Kreuzer-System für ein Ave-Maria in Tirol, das sich bis in ihre besten dogma­ tischen Köpfe und bis in den katholischen Himmel fortsetzt; auch dort verkehren die Gottheiten wie Kaufleute: Maria weist auf ihre Brüste hin als auf eine Leistung; sie präsentiert sie wie einen Wechsel; und Christus muß honorieren. Man mag Heide oder Türke sein, an Christus glauben oder nicht, jeder weiß, glaube ich, soviel, daß Christi Lehre in ihrem ursprünglichen, naiven Ausdruck das Gegenteil davon war: Gnade auch ohne Verdienst; Mitleid auch wojede Gegenleistung gänz­ lich ausgeschlossen ist. In meiner Heimat, bei Würzburg, einem der gesegnetsten Landstriche unseres Vaterlandes, liegt hart am Main ein kleiner Hügel mit Namen »Käppele«. Ich weiß nicht mehr, wie viel hundert Stufen dort hinaufführen; es ist ein prächtiger Aus­ sichtspunkt; an den Geländen wächst köstlicher Wein und das ganze Land rings­ um ist ein Eden an Üppigkeit und Wohlgeruch. - Auf diesem »Käppele« findet die gemeinste Form weiblicher Prostitution statt, die mir je in meinem Leben vor­ gekommen ist. - Kann die Polizei keine Abhilfe treffen? - Die Polizei kümmert sich gar nicht darum, weil sie sich in kirchliche Dinge nicht mischt. - Kann die Kirche keine Abhilfe treffen? - Die Kirche unterstützt den fabelhaften Vorgang; und derselbe ist ihr Werk. - Es war an einem Sonntag-Vormittag und die Sonne ver­ goldete die dem Herbst entgegenreifenden Weinhügel. Ich hatte einige der gewiß über hundert Stufen betragenden Serpentinen hinter mir, als ich bei einer Biegung des Wegs einen dick zusammengepferchten Haufen junger Mädchen, es waren meist Bauerndirnen, gebückt und knieend die blanken Steinstufen langsam, eine nach der anderen, hinaufrutschen sah. Gleichzeitig schlug ein unverständliches Summen an mein Ohr, welches das Resultat einer mit fabelhafter Schnelligkeit produzierten Zungenfertigkeit war. Näher kommend bemerkte ich, wie jedes der Mädchen auf jeder Steinstufe längere Zeit sich aufhielt; und aus dem Lippen­ schnurren erkannte ich, - obwohl mit dem örtlichen Dialekt genügend vertraut, nur einige Laute, wie »Marrea« oder Komplexe wie »Stunde des Abstärbens«, oder »där Du ihn getragen hast«; mit solch unerhörter Geschwindigkeit entstürzte das

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Silbenmeer den jungen Lippen. - Bald war mir klar, daß der Aufenthalt aufjeder Stufe nicht der Zeit nach, sondern der Lippenarbeit nach sich berechnete, da immer nach einer ganz gestimmten Phrase mit entsprechendem Tonfall das Hinauf-Rutschen auf eine nächsthöhere Steinstufe stattfand. - Ich wußte doch ganz genau aus meinem Reisehandbuch, daß da oben, auf dem Gipfel des Berges, kein indisches Götzenbild stand, auch kein afrikanischer König sich dort eingefunden hatte, dem man sich von einer halben Stunde entfernt schon knierutschend so näherte. Nein, es war keine Ehrfurchtsleistung; das erkannte ich sehr wohl. Es war eine, wie soll ich sagen - Schnelligkeitsleistung, eine Massenbewältigung von Sil­ ben, wobei jedoch der Körper vorwärts zu kommen trachtete. - In der Hand hiel­ ten die Mädchen alle Zählketten, eine Art Kerbholz, welches aber biegsam war, und die Stufen oder Skalen in Form von Kügelchen auf einer Schnur aufgereiht trug. Nicht nach einer bestimmten Zeit, sondern nach einem bestimmten SilbenQuantum rollte an der Holzschnur eine Kugel ab, und mehrere Kugeln entspra­ chen einer Steinstufe. Ich kam jetzt der Lösung näher; in der Erregung findet man plötzlich Worte und Ausdrücke, auf die man bei ruhiger Gemütslage nicht gekom­ men wäre; und ich war fast gelähmt und sprachlos vor Bestürzung, als ich die letzte Gruppe dieser Derwische eingeholt hatte; und mein Inneres arbeitete wie ein fotografischer Schnellapparat, um alles, was sich mir darbot, aufzunehmen. Aber ich hatte es jetzt: Es war ein Wettrennen mit dem Maul, welches durch den kleinen Holzapparat in der Hand kontrolliert, und durch Übertragung auf die Kniee äußerlich-räumlich ausgeführt wurde. Die Mädchen schwitzten wie Renn­ buben oder abgehetzte Pferde; aber der Körper blieb ruhig, da er beim besten Wil­ len zum Vorwärtskommen nicht beitragen konnte, und die Entscheidung einzig in den Kiefern lag, von deren Gelenkigkeit eben alles abhing. - Ich gebrauchte oben das Wort »Derwische«; bemerke aber hier, daß ich solche orientalischen GebetsGymnastiker nie gesehen; nur aus Beschreibungen wußte ich, daß dort ebenfalls die physische Leistung entscheidend ist; die dort allerdings nicht um ihrer selbst willen, sondern zur Erzeugung einer Art mit Berauschung einhergehenden Betäu­ bung, also eines physischen Endstadiums halber, betrieben wird. - Wertvoll war hier, daß die bei der Arbeit nicht beteiligten Sinnesorgane, wie die Augen, die Ohren, soweit es die Konzentration gestattete, sich anderweitig beschäftigen konnten. Und so betrachteten diese Mädchen während ihrer heftigen Arbeit zum Teil ruhig die Gegend, oder hörten, was um sie her vorging. Ja, einzelne tauschten ausdrucksvolle Mienen und lächelnde Gebärden mit den Fußgängern nebenher aus. - Ich eilte vorwärts; traf auf dem Ziel Nähergekommene; wie es der enormen physischen Leistung entsprach, viele waren ermattet; manchen lief der Schweiß in Strömen herunter. Noch höhere Gruppen hatte eine Angst vor dem Fertigwerden erfaßt, die unheimlich wirkte. Das Weiße des Auges trat bei einigen heraus; viele gurgelten und stöhnten die letzten Perioden, und auf der letzten Stufe angekom­ men, stürzten etliche wie erschöpft zu Boden. Schon auf dem Heraufweg hatte ich, meine Neugier nicht bezähmend, eines der Mädchen gefragt, was die Zeremo­ nie bedeute; erhielt aber statt aller Antwort nur einen vielsagenden, ängstlichen Blick; natürlich, wie konnte sie mir antworten, da ja eben Zunge und Lippen in

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fürchterlicher Tätigkeit begriffen waren; ebenso gut konnte ich einen Jockei wäh­ rend des Rennens fragen, wie viel Uhr es sei. - Oben selbst angelangt traf ich einen, wie es schien, einfachen Landmann, aufrechtstehend. Ich frug ihn mit dem Aus­ druck des tiefsten Entsetzens, was das zu bedeuten habe, und ob es sich bei den Heraufrutschenden um die weiblichen, ungefährlichen Kranken einer Irrenanstalt handle. - Der Mann schluckte einigemal hinunter, bevor er mir antwortete, und sagte dann sehr ruhig, fast ernst mit skandiertem Hochdeutsch: »Das - geschieht zur - Verehrung - Gottes!« - Er meinte die Marienkirche, die auf der Höhe gebaut ist. Wenn ich mich heute dieser Szenen erinnere, und von Scham und Mitleid gepei­ nigt mir vorsage, daß es deutsche, fränkische Mädchen sind, die es nicht besser wis­ sen, die auf den Wink eines Papstes, der uns soviel angeht, wie der Sultan von Siam, diese grauenhaften Exerzitien ausführen, dann steht mir der Verstand still, und ich will nicht begreifen, daß Deutschland Deutschland ist. -

Zeichnung Oskar Panizza

Eine Erynnis A Oberlaender 1906

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AUSSAGEN DER ÄRZTE ÜBER PANIZZAS GEISTESKRANKHEIT Das Entmündigungsverfahren des Amtsgerichts München I vom 28. März 1905, dem auch Professor Dr. Gudden und Oberarzt Dr. Ungemach mit zwei schriftlich abgegebe­ nen Gutachten beiwohnten, gibt im Protokoll die ganze Krankheitsgeschichte: »Im August 1895 anläßlich eines Gnadengesuchs habe schon der prakt. Arzt Dr. Paul Ostermaier auf Grund seines langjährigen Umgangs mit Panizza ein Zeugnis aus­ gestellt: »daß P. psychisch hochgradig krankhaft veranlagt sei und für alle seine Reden und Handlungen nicht zur Verantwortunggezogen werden könne«. Desgleichen gab der Hofstabsarzt Dr. Nobiling zu dem Gnadengesuch das Gutachten ab: »daß P. in hohem Grade erblich belastet sei und schon seit vielen Jahren eine geistig unfreie Persön­ lichkeit sei«. Der damalige Gefängnisarzt in Amberg Dr. Schmelcher stimmte jedoch diesen beiden Gutachten nicht bei und P. mußte seine volle Strafzeit ver­ büßen. Im Jahre 1900, als Panizza wegen Majestätsbeleidigung des Kaisers durch die »Parisiana« abermals in Untersuchungshaft war, wiederholte Dr. Ostermaier seine obige Behauptung, und als daraufhin P. in die Kreisirrenanstalt verbracht wurde, lautete deren Gutachten: »P. leidet an systematischen Verfolgungs- und Förde­ rungsideen, die hauptsächlich auf kombinatorischem Wege entstanden sind und denen er völlig kritiklos und unbelehrbargegenübersteht; infolge diesergeistigen ErkrankungParanoia - ist sein ganzes Denken, Fühlen und Handeln krankhaft beeinflußt.« Dann lau­ tet das Protokoll weiter: »Das Entmündigungsverfahren hat nun dargetan, daß sich der nach den erwähnten Gutachten bereits im Jahre 1895 vorhanden gewesene krankhafte Geisteszustand des Panizza nicht bloß erhalten, sondern dauernd ver­ schlechtert hat. Sein Lebensgang macht es schon für den Laien verständlich, wie sich der erblich belastete, krankhaft veranlagte Mann immer mehr in seine Verfol­ gungswahnideen - deren hauptsächlichste die ist, daß ihn der Deutsche Kaiser oder wenigstens eine in dessen Diensten stehende politische Polizei verfolge - ver­ rennen konnte, so sehr, daß ihm eine Rückkehr zu einer vernunftgemäßen Kritik seiner Schicksale unmöglich wurde.« Nach der Aussage des Zeugen L. Scharf datiert das Erwachen des Gedankens in Panizza, er werde im Gegensatz zu anderen Menschen besonders verfolgt, schon in das Jahr 1896, als Panizza angeblich wegen seiner Zugehörigkeit zur Gesellschaft der Modernen als Reservearzt den schlichten Abschied erhielt. Die Verurteilung wegen des Liebeskonzils zu ljahr Gefängnis erschien dem »Atheisten« Panizza, der offensichtlich ein Gefühl dafür, wie sehr er damit die religiösen und sittlichen Gefühle anderer verletzt hatte, nicht besaß, als exorbitant hoch und er erkannte in dieser Bestra­ fung die Folge eines gerade gegen ihn gerichteten Verfolgungssystems. In dieser Stimmung nahm er nach Verbüßung seiner Strafe seine Entlassung aus dem deut­ schen Reichsverband und wandte sich nach Zürich. Dortselbst wurde er wegen unsittlicher Handlungen, begangen an einemjungen Mädchen, ausgewiesen, nicht weil er nach Züricher Gesetz eine strafbare Handlung begangen, sondern als lästigerAusländer auf administrativem Wege. Dies war für ihn neuerdings eine Bestärkung in seinem Wahn, daß die Züricher Polizei aus politischer Gefälligkeit für einen Höheren ihn

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verfolge, obwohl er ja etwas Strafbares nicht begangen habe. In Nr. 12 seiner Züri­ cher Diskussionen 1898 schildert er den Hergang und fordert »den großen Unbe­ kannten auf, der ihn in Wirklichkeit aus Zürich ausgewiesen habe, sich zu nen­ nen« (den deutschen Kaiser). Von Paris aus verfaßte er die Parisiana, über deren maßlose Sprache sich selbst seine literarischen Freunde abfällig äußerten, und Schriftsteller, wie Dr. Conrad, schon die Frage aufwarfen, ob man es noch mit einem gesunden Hirn zu tun habe. Auch die Beschlagnahme seines Vermögens in Deutschland, die ihn, den Mittel­ losen, zwang, sich dem Gericht zu stellen, faßte er als eine besonders für ihn erfun­ dene Maßregel auf. Die persönliche Einvernahme Panizzas durch den Richter ergab, daß Panizza ein hochintelligenter Mensch von umfassendem Wissen ist, mit dem man sich, wie auch Zeuge Scharf bekundete, lange unterhalten kann, ohne dessen geistige Erkrankung wahrzunehmen; es ist für den Laien, als ob ein Stück der Psyche desselben erkrankt sei, bei dessen Berührung man erst seine geistige Abnormität wahrnimmt. Panizza, zuerst mißtrauisch, erzählt dann doch »in fließender, gewandter Rede« seine am 17. November 1904 geschriebene Krankheitsgeschichte, in die er nur als neu eingefügt hatte, daß der Kaiser tot sei und ein Figurant ihn vertrete, und daß der Reichskanzler Bülow mit dem französischen Minister Delcassé einen Handel zu Ungunsten Panizzas abgeschlossen hätte. Professor Gudden sagt dann in seinem umfangreichen Gutachten: »Dr. Panizza hat durch sein Verhalten in den letzten Jahren zur Evidenz bewiesen, daß er in sei­ nem ganzen Tun und Treiben von systematisierten Wahnvorstellungen der Verfol­ gung geleitet ist, daß er infolge der Wahnvorstellungen wiederholt seinen Wohn­ sitz änderte, seine Lebensweise zu der eines heimatlosen, abgehetzten Flüchtlings gestaltete, der kaum noch zu essen wagte, injedermann seinen Feind erblickte, alle Vorgänge in krankhaftem Sinne auffaßte und verarbeitete. Es ergebe sich, daß Panizza in kei­ ner Sache, weder in eigener noch in fremder, imstande sei, ein Urteil abzugeben oder eine Verfügung zu treffen, die nicht von seinen Wahnvorstellungen beeinflußt wäre, und daß er im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches geisteskrank sei. Zu dem gleichen Resultate gelangt der Sachverständige Dr. Ungemach in einem ebenso umfangreichen Gutachten, wonach Panizza seit vielen Jahren an chronischer Verrücktheit leidet. Hofrat Dr. Würzburger, in dessen Nervenheilanstalt »Herzogshöhe« bei Bayreuth der Patient am 5. Februar 1905 mit seinem Einverständnis gebracht worden war, war der gleichen Ansicht wie seine Kollegen, und als einmal ein Erlanger Professor, der die Anstalt zu visitieren hatte, den Patienten fragte, was ihm fehle, antwortete er: »Ich habe Halluzinationen.« Als aber der Professor weiter fragte: »Was ist denn das?«, brach Panizza ab mit den Worten: »Das können Sie in jedem Lehrbuch lesen.« Umsonst hatte er gegen seine Entmündigung protestiert, nachdem er doch vorher dem Gericht geschrieben, er halte es, weil er seine Situation nicht übersehen könne, für eher in der Lage, die für ihn heilsamste Entscheidung zu treffen. Er hielt sich zu gleicher Zeit für geistig gesund und geistig krank, je nachdem ihm die Gedanken kamen.

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AUS DEN SCHRIFTEN VON PANIZZAS MUTTER Um Panizzas zerrissenen Charakter zu verstehen, ist es nicht nur angebracht, ihn selbst und seine Ärzte zu hören, sondern auch seine Familie. - Seine Mutter sagte einmal zu mir: Oskar kann ein Teufel und ein Engel sein. Sein Blut war ein ganz internationales: vor allem ein hugenottisches und italienisches, gemischt mit deut­ schem. Die Ehe seiner Eltern enthielt die denkbar größten Gegensätze: der Vater bigott römisch-katholisch - die Mutter streng biblisch-pietistisch-evangelisch; der Vater leichtsinnig und ausschweifend - die Mutter streng gewissenhaft, häuslich, keusch und züchtig; der Vater ein schlechter Geschäftsmann und kalter Egoist die Mutter voll aufopfernder Pflichttreue und Liebe, eine gute Geschäftsfrau; der Vater ein Genußmensch ohne Sinn für Höheres, ein listiger, verschlagener Welt­ mann - die Mutter mit einem Herzen, reich an Poesie und Romantik ihrer Zeit und stets im Streben nach Wahrheit und Ausbreitung des Reiches Gottes, ein aus­ gesprochenes Gotteskind. Öfters schrieb Oskar in seinen Briefen an die Mutter, die auch schriftstellerte, daß er ihr sein Bestes verdanke, während sein laszives Wesen eine böse väterliche Erbschaft war. Die Mutter erzählt in ihren zwei Bänden ungedruckter Memoiren - aus denen ich schöpfen durfte - und in ihren »Drei Brautgeschichten« (1895 bei Weinberger, Kissingen, 3. Aufl., S. 08-83), daß sie von einem adeligen Hugenottengeschlechte deMeslere abstammte, das 1685 nach Sonneberg in Sachsen floh und dort den bür­ gerlichen Namen Mechthold annahm. Und das ritterlich kämpfende, Leben, Hab und Gut für das Evangelium einsetzende, wie hochherzig geistreiche Element in der Schreiberin spricht ganz für die Hugenottin. Von zwei Brüdern Mechthold, die sich in Coburg niederließen, ehelichte einer die Elisabeth Krug und hinterließ sie als Witwe mit drei Kindern. Von diesen ehelichte Maria im Oktober 1809 den katholischen Großkaufmann Speeth, einen Sohn des Hoforganisten des Kurfür­ sten Karl Theodor. Ein Vertrag über evangelische Kindererziehung bestand, aber als die Familie mit vier Kindern nach Würzburg übergesiedelt war, ließ der Vater zwei weitere Kinder katholisch taufen. So wurde die Mutter Oskars, das Hugenot­ tenkind Mathilde Panizza, geboren den 8. November 1821, katholisch getauft. Noch schickte es die Mutter ein Jahr lang in die evangelische Volksschule, aber dann wurde sie gezwungen, es in die katholische Ursulinerinnen-Klosterschule zu schicken. Zwei Monate vor der endlichen Entscheidung, der ersten katholischen Kommunion, am 10. Februar 1833, starb der Vater, und zu ihrer großen Freude und auf Betreiben ihres Bruders Ferdinand und des Onkels Peter Speeth, des berühmten Würzburger Architekten, durfte nun Mathilde mit den übrigen Geschwistern evangelisch werden. Sie war ein schönes Mädchen und im höchsten Alter noch eine schöne Frau. Am 6. Januar 1844 mit dreiundzwanzigjahren lernte sie bei einem Konzert den Vater Oskars, Karl Panizza, geb. am 30. September 1808 als Sohn des Kaufmanns Leopold Panizza in Würzburg, kennen. Dieser stammte von einer Fischerfamilie aus Bellagio am Comersee ab; ursprünglich nur wandernder Seidenstoffhändler, hatte er in Würzburg ein festes Geschäft angefangen und eine tüchtige Geschäftsfrau an der Würzburgerin Schulz erheiratet, die ihm vierzehn

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Kinder schenkte, von denen sieben erwachsen wurden, und die mit fünfundacht­ zig Jahren 1879 in München starb, so daß Oskar noch als Arzt ihren Tod und ihr Begräbnis in einem langen Bericht an seine Mutter kundgab. Der Großvater Leo­ pold war aber schon 1833 gestorben und die Großmutter hatte die vielen Kinder allein erziehen müssen, von denen Karl das jüngste war. Er war ein Tunichtgut, im »Landsberger Hof« in Frankfurt und in Vevey in der Schweiz erlernte er das Hotel­ gewerbe und war 1844 Pächter des Kurhauses in Kreuznach, als er »in kolossaler Leidenschaft« um die Hand von Mathilde anhielt. Oskar schildert seinen Vater, bei dessen Tod er jedoch erst zwei Jahre alt war, wohl nach der Tradition der Mutter und Verwandten: »Er war Lebemann im besten Sinne, tätig, umsichtig, repräsen­ tierend, Lärm und Aussehen erregend, gefallsüchtig, renommierend; alles in gro­ ßem Stil betreibend, nach außen plänereich, Erfolg suchend und prahlend; Admi­ nistrator, aber nicht Ökonom; stark sinnlich, sehr eifersüchtig, verschwenderisch, wohlwollend, umgänglich, aber auch reizbar, oft bis zum Jähzorn aufbrausend, um sich bald zu besänftigen, weder Raucher noch Trinker, aber Spieler.« Eine Eigenschaft hat jedoch Oskar bei seinem Vater übersehen: Er, der »Weltmann«, war im innersten Herzen bigott katholisch und verschlagen, sonst hätte er nicht seiner Braut das römische Joch auferlegt, das der »Hugenottin« die Ehe von vorn­ herein zur steten Qual machte. Denn, so schreibt sie, »erst ganz kurz vor der Hoch­ zeit« rückte er mit der Forderung katholischer Kindererziehung heraus und es drohte die Auflösung des Verhältnisses, wenn die Familien zuletzt sich nicht dahin geeinigt hätten: wird das erste Kind ein Knabe, so werden alle Kinder katholisch, ist es aber ein Mädchen, alle Kinder evangelisch. Aber nach Abschluß dieses Fami­ lienkontraktes führte der listige Bräutigam auf einem »Spaziergange« die ahnungslose Braut auf das katholische Pfarramt, wo schon das Protokoll zur Unterschrift bereit lag und ihr die Hölle so heiß gemacht wurde, daß sie wider ihren Willen die katholische Kindererziehung unterschrieb. »Tief unglücklich kam sie - sie schreibt in der dritten Person wie Oskar - nach Hause und - den Hochzeitstag, 17. April 1844, übergeht sie - für die junge Frau gingen die furcht­ barsten Stunden an.« Das erste Kind war ein Mädchen, aber trotzdem mußten nun alle Kinder katholisch werden. Die am 3. Juni 1846 erstgeborene Maria starb von allen Geschwistern zuletzt am 16. Mai 1925 in München. Sie war in Kreuznach geboren und hinterließ als Witwe des Hotelbesitzers Collard in Kissingen Kinder und Enkel. Die Eltern hatten 1847 das Wilhelmsbad gepachtet und kauften 1850 den »Russischen Hof« in Kissingen an. Das zweite Kind Felix, geb. 18. März 1848, wurde ein Hotelier in Hongkong und starb ohne Nachkommen am 6. März 1908 in Auerbach in Hessen. Felix war ein tüchtiger Geschäftsmann und Oskars Drama vom »guten Kerl« ist ein Reflex des Charakters dieser beiden Brüder. Am 15. Februar 1852 ist Karl geboren, zuerst Kaufmann, dann studierter Jurist, gestor­ ben als Amtsgerichtsrat in Kiel am 29. August 1916 mit Hinterlassung von fünf Kindern. Am 12. November 1853 wurde zu Kissingen Oskar geboren. Nach seiner Geburt wurde die Mutter todkrank. Ein Traum - denn sie hielt nichts für Zufall »daß sie nicht in die geschaute Grube fallen werde«, hielt sie trotz der Verzweiflung der Ihrigen aufrecht bis zur Wiedergenesung. Als letztes Kind wurde Ida geboren

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am 7.Juni 1855. Ihre Freude an diesen beidenjüngsten Kindern hat die Mutter Seite 5-12 ihrer »Drei Brautgeschichten« in liebenswürdiger wie auch phantastischer Weise ausgesprochen, und »bei Oskars Taufe ging es so hoch her wie bei keinem ihrer Kinder«. Zwei katholische Geistliche, Pfarrverweser Dietz, taufend, und Landgeistlicher Kuhn als Vizepate für den abwesenden Schwager Leopold Panizza und der evangelische Ortsgeistliche waren zugegen. Oskar und Ida waren katho­ lisch getauft und hatten beide den schwersten Lebensgang. Ida erblindete in ihrem zwanzigsten Lebensjahre, als sie sich als Sängerin ausgebildet hatte, an einer bösar­ tigen, geerbten Augenkrankheit und starb am 20. Dezember 1922 in Erfurt, war aber stets in treuer Schwesterliebe ihrem Bruder Oskar zugetan. Frühzeitig, am 26. November 1855, starb Oskars Vater, der Quälgeist der Familie. Der zweijährige Oskar hatte ihm nie auch nur ein Händchen geben wollen. Doch segnete und bekreuzte auf dem Sterbebette der Vater seine Kinder, küßte auch zuletzt die Kleinsten, aber sein Segen war unfruchtbar, denn es fehlte das Vorbild. Nur ein langes Unrecht machte dieser Vater auf seinem Sterbebette wieder gut: er gab die fünf Kinder, von denen das älteste neun Jahre, dasj üngste ein halbesJahr alt war, dem Glauben der Mutter zurück, welche allein imstande war, sie mit größter Aufopferung zu erziehen. Drei Zeugen: der Arzt, der katholische und der evange­ lische Geistliche, vernahmen dieses Zugeständnis, an dessen Ausführung die Mut­ ter sogleich heranging. Aber nun brach die »kolossale Anfeindung« der katholi­ schen Kirche los. Frau Panizza, schreibt die Mutter von sich, mußte mit ihren Kin­ dern unbemerkt Kissingen verlassen und brachte sie im Preußischen zu verschwie­ genen Leuten, wo es allen Nachforschungen der katholischen Kirche nicht gelang, sie ausfindig zu machen. Man drohte ihr mit Gefängnis, (!) sie blieb aber standhaft und konnte auch ihres Gesundheitszustandes wegen nicht verhaftet werden. Sie reiste nach München, um vor dem Könige einen Fußfall zu tun, wurde aber nicht vorgelassen. Nur nach vielen Drangsalen und verlornen Prozessen wurde ihr end­ lich vom König die Erlaubnis zuteil, ihre Kinder evangelisch erziehen zu lassen. Sie brachte ihre Kinder ein Jahr vor der Konfirmation in das pietistische Institut unter Pfarrer Staudt nach Kornthal in Württemberg; so kam es, daß auch Oskar 1863 dort für das Gymnasium vorbereitet und 1868 dort konfirmiert wurde. Die Erzie­ hungsmethode war gut und herzlich, und Oskar erinnerte sich nicht ungern an jene Zeit. »Das Studium machte ihm Mühe,« schreibt die Mutter, »er war noch sehr lang ein träumerischer Knabe. Der Ernst des Lebens und die Tragweite des fleißigen Lernens lagen ihm ferne. Bei seiner Konfirmation zog (!) er den Spruch 2. Cor. 12,9: »Meine Kraft ist den Schwachen mächtig.« Im Herbste brachte ihn die Mutter auf das Schweinfurter Gymnasium unter Rektor Olschläger. Er war im Griechischen besser als im Latein, kam aber doch in die dritte Klasse der Latein­ schule und hatte dieselbe 1870 absolviert. Sein Hausherr, Buchhändler Giegler, hatte ihn bisher überwacht und im Lernen und Klavierspiel angehalten. Oskar wünschte nach München auf das Gymnasium zu kommen und man hoffte, daß er im Pfarrhause des Onkel Franz und der Mutter Schwester Maria, die keine Kinder hatte, in strenger Zucht wäre, die schon Giegler für notwendig hielt. Aber die Großstadt war nichts für den träumerisch genußsüchtigen, nun schon siebzehn

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Jahre alten jungen Menschen. Schon im ersten Jahre war er so verbummelt, daß er eine Nachprüfung für die II. Gymnasialklasse machen sollte. Er erklärte seiner Mutter, daß er nun Kaufmann werden wolle und daß er nicht zu einem Geistlichen tauge, wie seine Mutter gern gesehen hätte. Aber die energische Mutter ließ ihn aus letzterem Grunde das Studium nicht aufgeben, er mußte die Nachprüfung machen und sie ging mit ihm den Winter über nach München, wo ihm die Profes­ soren Schönherr und Wollmuth nebenbei den besten Musikunterricht gaben. Als dieses zweite Gymnasialjahr um war, wollte er ganz zur Musik gehen und sagte zur Mutter, »mit neunzehn Jahren müsse man doch wissen, zu welchem Berufe man Lust hat«. Er drohte in München nur zu bummeln, wenn man ihn weiter zum Gymnasium zwinge. Da er sich aber in München schämte, mit kleinen Knaben in der Handelsschule zu sitzen, ließ ihn die Mutter Privatunterricht in Französisch, Stenographie und kaufmännischem Rechnen nehmen, auch das Konservatorium für Musik besuchen, wo er Sänger werden wollte. Als aber die Mutter sah, daß in allen diesen Dingen nichts zu erreichen war, nahm sie ihn im Frühjahr 1873 mit nach Kissingen, daß er da im Hotel helfen sollte. Aber er machte nur den genialen Bummler, sagte zur Schwester, daß er die Mutter hasse, welches Wort dieselbe »wie eine Todesanzeige« ihres Kindes auffaßte, und er war ungebärdig in Worten und Werken, daß ihn seine Mutter zu seinem Bruder Karl in das Bankgeschäft Bloch in Nürnberg tat, wo er aber auch sich schlecht führte, bis er dann wieder zurück auf das Konservatorium in München durfte. Indessen kam seine Militärzeit, die ihm gesund war, aber an der er so schwer trug, daß er am liebsten desertiert wäre, wenn ihn seine Mutter nicht auf die schweren Folgen aufmerksam gemacht hätte. Sein Hauptmann sagte einmal zu ihm: »Sie sind mir undurchdringlich, ich weiß nicht, wie ich mit Ihnen dran bin.« Seiner Mutter gegenüber hatte er jedoch Reue gezeigt und ein schwerer Choleraanfall im Herbste 1874 hatte ihn ernster gemacht. Nach seiner Militärzeit durfte er weiter Musik studieren, und Perfall gab ihm sehr gute Noten. Auch besuchte er nebenbei philosophische Vorlesungen an der Universität als Gast, erkannte aber bald, wie der Mangel eines Gymnasialabsolutoriums ihm überall im Wege stand. Er wollte es nachholen und bereitete sich durch Privatunterricht für die letzte Gymnasialklasse in Schweinfurt vor, in die er auch eintreten und glücklich mit vierundzwanzig Jahren absolvieren durfte.Jetzt studierte er eifrig Medizin und machte seinen Dokter summa cum laude. Dann ging er noch auf ein halbes Jahr nach Paris, angeblich um Spitäler zu besuchen, in Wirk­ lichkeit um französische Literatur zu studieren, zu der es ihn hinzog. Sein erster poetischer Versuch war ein Gedicht zum fünfzigsten Geburtstag seiner Mutter, darin deren Kämpfe und Durchhilfen gefeiert sind. Nach seiner Rückkehr von Paris scheint nun sein Entschluß, Literat und Künstler zu werden, festzustehen, denn er übte den ärztlichen Beruf nur nebenbei aus. Er hatte der Mutter, die ihr Geschäft in Kissingen an andre Hände übergab, eine Jahresrente von sechstausend Mark abgenötigt, worüber dieselbe sehr erzürnt war, aber er konnte nun sorglos seinen Reisen und dem Schriftstellertum frönen und versöhnte sich durch einen Brief am 20. April 1884 wieder mit der Mutter. Nach einer Reise nach London und Forschungen im Britischen Museum nach altnordischen Balladen kamen bis zum

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Jahre 1889 erst die »Düsteren Lieder«, dann die »Londoner Lieder« und 1889 bei A. Unflad in Leipzig die Gedichte »Legendäres und Fabelhaftes« heraus. Vom Jahre 1890 an gehörte er zur »Modernen Gesellschaft« des Schriftstellers Conrad, und man wollte in ihm einen zweiten Voltaire erwarten. Aber ich kann nur unter­ schreiben, was Hannes Ruch in der Einleitung zu den »Visionen der Dämmerung« (1914, 3. Bd., 3. Aufl., bei Georg Müller, Leipzig) über Panizza geschrieben hat: es fehlte hier »der große Wurf« und die gesunde Weltanschauung. Sein Weg ging durch Dämmerung und Phantasterei. Schon die Mutter Panizza hätte durch ihre »Drei Brautgeschichten« und ihre religiösen Schriften einen Platz unter den Phan­ tasten verdient, doch wurde sie durch eine streng bibelgläubige Gesinnung vor allzu Ausschweifendem bewahrt. Die Schriften der mit fünfundsechzigJahren pri­ vatisierenden Mutter erschienen gleichzeitig mit denen des Sohnes: 1886 (bei Grei­ ner u. Pfeiffer, Stuttgart) »Der Reichsplan Gottes mit den Menschen« unter ihrem Pseudonym »Siona«. Da heißt es z.B. S.10 der Inhaltsangabe: Analog mit den römischen Feldherren wird Deutschland nach Thess. 2,7 die aufhaltende Macht genannt, die als solche bleiben wird, bis der Antichrist als Welteroberer seine Herr­ schaft antreten darf. Beide werden in Beziehung gesetzt zu den zwei Sagen vom Kyffhäuserberge (Barbarossa) und Untersberg (Karl der Große); erstere ist erfüllt, die zweite harrt noch der Erfüllung bis gegen Ende des zwanzigsten Jahrhunderts(!). Ferner erschienen von Siona bei Fr.Weinberger, Bad Kissingen: 1895 »Drei Brautgeschichten und Sonne, stehe still« (96 S., 3. Aufl.), das liebenswürdigste und phantastischste ihrer Bücher. 1902 »Jesus im Epos« schildert auf 106 Seiten in gebundener Form die Wiederbringung der Menschheit durch den Kampf Jesu. Dann: »Die sieben Gleichnisse des Herrn (Matth. 13), eine Weissagung auf die Geschichte der Kirche; - »Die Wege Gottes«, Roman - »Das versunkene Schloß«, romantisches Märchen aus Tirol (Allegorie) - und 1910 als letzte Arbeit: »Wie dünket euch um Christus?« (München, Druck v. F. P. Erlacher, 45 S.). Solche Schriften haben oft wenig Kunstwert, gleichwohl sollte eine Literaturgeschichte sie nicht einfach übergehen, denn sie sind »Zeichen der Zeit« und hatten viel mehr Leser als die Kunstsachen. Als der Weltkrieg ausbrach, wurde Siona zur Prophetin und weissagte: »daß wir diesen Krieg verlieren müssen, weil das Volk Gottes nach Ezech. 38 u. 39 und Offenb, 20,8-9 zuerst dem Gog und Magog unterliegen muß, ehe Gottes Verehrung allgemein wird.« Auch legte sie ihr Geld als vorsichtige Geschäftsfrau in serbischen Papieren an. Im zweiundneunzigsten Lebensjahre schrieb sie noch ein geistliches Testament für ihren Sohn Oskar, im vierundneun­ zigsten starb sie am 13. August 1915 in München, Veterinärstr. 11/0, und wurde am 16. August, nachmittags fünf Uhr, im Erbbegräbnis zu Kissingen von mir beerdigt. Dr. Panizza im Gefängnis und im Irrenhaus. Panizza mußte, weil sein Beinleiden ihn für das Zellengefängnis in Nürnberg unzulässig machte, sein Jahr Strafzeit wegen des »Liebeskonzils« in Amberg verbüßen. Als ich ihn 1895 bei seiner Einlieferung zum erstenmal sah, stand er vor dem Schreibtische des bigotten Direktors und demonstrierte mit Mund und Hand demselben vor, daß er nicht die Kirche ange­ griffen habe, sondern es ihm nur notwendig schien: die Weltkugel und Weltge­ schichte auch einmal herumzudrehen und von einer andern Seite zu betrachten.

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Diese geniale Spiegelfechterei nahm ihm der gutmütige Vorgesetzte nicht weiter übel und brachte ihn in einer Zelle des Zellenbaues unter, wo er zur Aussicht wenig, zur Einsicht reiche Gelegenheit hatte, denn er brauchte nur literarisch sich mit seinen Büchern zu beschäftigen, wie er wollte. Er verfaßte im Gefängnis die Dialoge im Geist Huttens, durchstöberte Herrnhuter Gesangbücher, die Mystik des Novalis und was ihm gerade schmeckte. Im Zellenhofe ging er täglich eine Stunde spazieren, zwischen einer Runde von fünfzig Zellengenossen, die vor ihm vorbei zirkulierten, seines kranken Beines wegen langsam auf und ab schreitend. Die Gefängniskost - »die Schwarzbrotklöße schmeckten ihm wie ein nasses Handtuch« - konnte er vertragen und empfahl dieselbe einmal scherzend seinem Bruder Felix, welcher ihn besuchte und seines Magenleidens wegen nur reizlose Kost genießen sollte. Das Bier, das er hätte haben können, schlug er aus. Er vermiß­ te nur die Spaziergänge in freier Natur, hielt aber in Geduld aus wie ein Märtyrer seiner Sache und sein Betragen war tadellos. Für irrsinnig wollte er nicht gelten, und doch war er es, wie die Arzte Ostermaier und Nobiling behauptet hatten. Bei längerem Umgang und als ich seine Schriften gelesen hatte, fiel mir sein Seelenzu­ stand auf. Aus seiner Schrift »Illusionismus«, auch schon 1895 erschienen, erkannte ich, daß er jeder gesunden Weltanschauung entsagt und dem Faß den Boden ausgeschlagen hatte. Er unterschied nicht zwischen krankhaften Halluzi­ nationen, die er doch selbst hatte und die als unwahr von der eigenen Person aus­ gehen, und zwischen wahren Halluzinationen, wenn man so sagen darf, oder Per­ zeptionen welche nur von dem Kantischen »Ding an sich« also einem äußeren Reize kommen und uns zwingen, in Raum und Zeit eine wirkliche Welt zu denken. Er huldigte dem Solipsismus Stirners und hielt die Seele für einen Dämon des Brahma, welcher sich selbst im Kampf mit seiner Welt wütend vernichtet. Da galt kein Kant und kein Goethe, keine objektive Welt mehr, es gab nur reine Halluzina­ tion, ein phantastisches Delirium. Aus dieser Weltanschauung heraus läßt sich eine Gesellschaft »für modernes Leben« und auch ein Panizza nur erklären. Kein Wun­ der, wenn er über Seelendepressionen klagte, die er aber bei jedem Literaten zu sehen meinte. Auch fiel es mir auf, daß er in Briefen äußerst grob gegen Leute sein konnte, die ihm nur Gutes getan hatten. Er verschloß seine Seele, aber für mich war er anormal. Er besuchte jeden Gottesdienst und ging selbst zur Beichte und Kom­ munion - was suchte er da? Den Frieden, »den die Welt nicht geben kann«? Selbst Phantast, konnte er doch bei anderen die Phantasterei nicht leiden. Als ihm Conrad seine »purpurne Finsternis« zuschickte, eine gute Satire auf die Gleichheit der Menschen »unter der Erde«, wies er das Buch als unverständlich ab und ließ sich den Vorwurf »Esel« mit Wohlbehagen gefallen. Große Freude machte es ihm, daß Meßthaler in München »den guten Kerl« auf die Bühne brachte und er dafür tau­ send Mark Honorar erhielt. So glaubte er nun als Dramatiker auf höchster Höhe angelangt zu sein. Am 7. August 1896 war das volle Strafjahr abgelaufen. Panizza bat mich vor seiner Abreise noch, ihn vor das ausgezeichnete Lutherbild von Cranach (1525, im Besitze der Familie Sperl) zu führen. Da nicht jeder Gefangene nach seiner Entlas­ sung solchen Wunsch hat, führte ich ihn dahin, zog mir aber dadurch eine grobe

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Beleidigung durch die Familie zu, aus der ich mir nichts machte. Panizza blieb nicht lange bei seinen Freunden in München, er schrieb einen groben, gedruckten Abschied an die Münchener und reist am 15. Oktober 1896 nach Zürich und schrieb mir von da am 26. November einen langen Brief über meine literarischen Arbeiten. Seine Ausweisung aus Zürich ist oben erzählt. Am 6. November 1900 erhielt ich seinen letzten Brief aus Paris. Im März 1900 war schon sein Vermögen in Deutschland, neuerlicher Schriften wegen, beschlagnahmt worden. Ein Jahr lang noch konnte er sich durch die Seinen über Wasser halten, dann kehrte er anfangs Mai 1901 nach Deutschland zurück und stellte sich zur Untersuchungshaft, um sein Vermögen zu retten. Nach sechs Wochen in der Psychiatrischen Klinik war seine Unzurechnungsfähigkeit festgestellt, er konnte straflos am 28. August mit den nötigen Mitteln München wieder verlassen und kehrte nach Paris zurück, wo er im Juni 1903 sogar von der Schwester Ida Geld verlangte, um eine Villa zu kau­ fen; aber die kundige Mutter wehrte der Ida ab. Am 21. Mai 1904 kam der erste alar­ mierende Brief und am 29. Mai schon der zweite an die Mutter über das oben erzählte gräßliche Auspfeifen durch die Polizei. Die Mutter riet zur Nervenheil­ anstalt Boll und schickte ihre Enkelin Mathilde Collard nach Paris, den Onkel heimzuholen. Derselbe wohnte jetzt nicht mehr rue des abessesl3, sondern Mont­ martre in einem geringen Hause im vierten Stock, ließ aber seine Nichte gar nicht vor, sie mußte unverrichteter Dinge abreisen. Bald darauf reiste er über Lausanne, wo er auch das Pfeifen hörte, nach München, mietete sich ein, besuchte Tante Franz und wollte auch die vierundachtzigjährige Mutter besuchen, die ihn aber nicht annahm, weil sie von seinem Anblick einen Schlaganfall befürchtete. Das Weitere ist aus obiger Krankheitsgeschichte bekannt. Ich selbst vernahm die Dinge erst, als im Oktober 1907 die Familie an mich mit dem Ersuchen herantrat, Oskar unter den günstigsten Bedingungen in mein Haus aufzunehmen, was aber von mir gewissenlos gewesen wäre, denn nach seinen eigenen Aufzeichnungen war der Patient schon im Jahre 1905 so geisteszerrüttet, daß ich ihn nicht hätte über­ wachen können. Das sah die Familie auch ein und übertrug mir nur nach dem Tode des Felix Panizza im März 1908 dessen Gegenvormundschaft. So hatte ich nun die Pflicht, den Kranken leiblich und geistig zu überwachen und zu versorgen im Verein mit dem Vormunde Justizrat Popp in München, der das Vermögen ver­ waltete. Ich kam meiner Pflicht um so lieber nach, als mich Oskar beim ersten Wiedersehen als alten Freund begrüßt, und seine Rede: »Ich bin nun im Irrenhaus« mich tief ergriffen hatte. Doch wußte ich auch, daß er den Trost des Evangeliums gern hörte, und veranstaltetejeden Monat und öfter bei ihm Predigtgottesdienste, denen auch manche Wärter und Patienten beiwohnten, wobei Oskar fröhlich die Choräle mitsang und »mit seinem besseren Ich« andächtig mitbetete. Sindja diese Kranken oft wie Kinder, die in sich den göttlichen Antrieb zur Religion am meisten verspüren. Als ich im Oktober 1915 in den Ruhestand trat, erwählte ich Bayreuth zum Ruhesitz, um meinem Mündel besser dienen zu können, und seine Hand­ küsse nach den Andachten waren mir der schönste Lohn. Freilich die Krankheit schritt weiter, die Halluzinationen wuchsen und störten, lateinische und grie­ chische Klassiker verstand der Patient nicht mehr, die vielen Diarien, die er schrieb

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aus Bibel und Welt, wurden immer verwirrter, lasziver und hörten in den letzten Jahren ganz auf. Er hatte noch ein Werk schreiben wollen: »Die Geburtsstunde Gottes, ein mitologischer Ziklus im Sinne des Sonnen und Mondlaufes«, aber das Wissen dieses Alleswissers wurde in seinen Tagebüchern zu einem Hexenbräu von Bibel, Mythe, Sagen, Geistern, Pornokratie, Philosophie, Wagner, Mord und Tot­ schlag in deutscher, englischer, französischer und italienischer Sprache. Bis zum Weltkrieg las er täglich das französische »Journal« und sprach bei Halluzinationen nur französisch. Den Weltkrieg verstand er nicht mehr. Er sprach mit den Ärzten gar nicht oder schimpfte nur über sie. Mit den Pflegern sprach er wenig, mit den Patienten nach Laune. In der Umgebung der hoffnungslos Kranken fühlte er sich wohler als bei den Heilbaren. Er war menschenscheu, nahm fremde Besucher und sogar Geschwister nicht gern an. Ein einziges Mal fuhr er mit mir nach der Eremi­ tage und fütterte dort das Pferd mit dem mitgebrachten Zuckerwerk: »er sei gei­ steskrank, das müsse er tun«. Einen Spaziergang nach Moosing wiederholte er nicht. Der Tod seiner Mutter und des Bruders Felix berührte ihn nicht. Das Katho­ lischwerden seiner Schwester Ida auf Veranlassung von Pfarrer Kneipp verlachte er. Aber wie könnte ich die Hunderte von Eigenheiten und Aufregungen eines sol­ chen Kranken schildern? Bald mußte das Zimmer möbliert, bald unmöbliert sein, das Essen bald vor der Türe, bald auf dem Tische stehen. Fenster wurden einge­ schlagen, wenn es an frischer Luft fehlte, die neuesten Bücher zerrissen, wenn ihr Inhalt nicht behagte. Zugesandte Leckerbissen wurden an die Kranken verteilt, Patienten erteilte er ärztlichen Rat, Wäsche flickte er selbst und so weiter. Endlich am 28. September 1921 in einer Herbstnacht machte ein in wenigen Tagen wieder­ holter Schlaganfall seinem Leben ein Ende. Er konnte nicht mehr sprechen, als ich ihm betend beistand, aber die eine ungelähmte Hand winkte mir noch dankend den Abschiedsgruß nach. Am 30. September nur im Beisein des Anstaltspersonals wurde er von mir auf dem städtischen Friedhof nachmittags beerdigt. Ich pflanzte auf seinem Grab eine kleine Zypresse, denn er hatte ein kleines Gedicht auf sein Grab verfaßt, dessen vol­ len Inhalt ich leider nicht mehr besitze: »Pflanzt auf mein Grab die bittere Zypresse, die Rose nicht, denn bitter war das Leben mir.« Ich hoffe auch, daß ihm noch ein kleiner Gedenkstein gesetzt werden wird, »dem Genie und Wahnsinn«. Zum Schlüsse gebe ich noch zwei Gedichte, welche der Verstorbene 1904 und 1909 in seinen Diarien schrieb. Unter das von 1904 am Beginn seines Aufenthaltes im Irrenhaus verfaßte schrieb er das Pseudonym: A. Ditmar; das zweite Gedicht von 1909 enthält, obwohl der Schreiber damals schon so hochgradig verwirrt war, daß er schrieb: »Jesus hat Johannes d.T. enthauptet«, eine merkwürdig getreue Darstel­ lung seiner irrsinnigen Genossen.

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Oskar Panizza, ca. 1902

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OSKAR PANIZZA

EIN POET, DER UMSUNST (!) GELEBT HAT (1904) Es lag die Welt vor ihm mit hundert Wegen, Merkur wies ihm sein rotes Gold von Fern, Der stolze Vater Ordensstern und Degen, Die fromme Mutter pries den Dienst des Herrn; Ihm aber war, als sah er leuchtend schweben Ein hohes Weib in märchenhaftem Glanz Und glückverheißend zu den Wolken heben: Ein Saitenspiel und einen Lorbeerkranz. Und schnell entschlossen wandte er den Rücken Dem Ruhm der Kirche und Fortunas Gunst, Brach hinter sich entzwei die letzten Brücken: »Dein bin ich - rief er - vielgeliebte Kunst.« Und nun nach Jahren, kennst du ihn noch wieder, Den Mann, der ernst und traurig vor dir steht? Ihn schmückt kein Kranz, verklungen sind die Lieder, Die einst er sang - vergessener Poet. Wohl war ihm hie und da ein Lied gelungen, Doch was in tiefster Seele jauchzt und klagt, •Zu künden so, daß jedes Herz bezwungen, Blieb unerreichbar, ewig ihm versagt. Nun ist er alt und krank, es rast das Fieber In seinem Blut, die bleiche Wange glüht, Und vor des Kranken innerm Aug vorüber Sein langes, trostlos langes Leben zieht. Da sieht er plötzlich wieder fernher schweben Das hohe Weib - gehüllt in Trauerflor, Es senkt den Blick und seine Hände heben Statt Lorbeer heut den Totenkranz empor. Fluch dir, so ruft er, die auf falschen Bahnen, Ein täuschend Irrlicht, meine Seele zog, Die mich verführt mit trügerischem Ahnen, Und einst so süß mein töricht Herz belog; Mit falschem Locken sangest du mir Lieder, Dem Knaben einst und sprachst von Ruhm und Glanz, Doch als Erfüllung kehrst zum Mann du wieder Und bringst mir nichts als - einen Totenkranz. O Dämon, Trugbild, - all mein Tun und Ringen Vergebens war’s - durch dich verführt, verlockt, Verflucht mein Dasein, Dichten, Träumen, Singen; -

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Ich hab umsunst (!) gelebt - der Atem stockt. Schon rührt der Tod ihn an, vom bleichen Munde Der Lebenshauch in seinem Geist entschwebt, Und spottend ruft das Echo in der Runde Kein liebes Wort ihm nach: »Umsunst gelebt.«

DIE GEHEIME KRANKHEIT (1909) Mit Blicken an den Boden hingeheftet So schreiten sie wohl über Gartensand, Der eine voll-, der andre halbentkräftet, Mit blauen Ringen um den Augenrand; Es sind recht viele matt und scheu, entsaftet Und suchen Heilung hier im fremden Land. Sie haben alle wohl das gleiche Leiden, Und zahlen alle gleich viel an Pension, Und tuen alle füglich sich bescheiden, Und essen auch vom Arzt den gleichen Hohn. Sie haben alle schwer wohl schon gelitten Und Lebensüberdruß gehabt und Müh’ Im heißen Kampf durchs Leben auch gestritten Schlaflos gewesen Nachts bis in der Früh, Gehirnkrankheit gehabt bei bösen Sitten, Dazu dolores osteocopie. (Knochenschmerzen.) Wenn einer nur im Kreise sich einfände Und spräch’ zu diesem oder jenem: Du! Zu jenem, diesem, wo gerad er stände Leis flüsternd: Du, geh fort und suche Ruh!

(Nachschrift) Sie tuen, in dem Himmel oben, Als hätt’ der liebe Gott sie lieb; Doch ist das Schicksal erst gewoben, Heißt’s: Lump und Galgenstrick und Dieb.

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HEINER MÜLLER PANIZZA ODER DIE EINHEIT DEUTSCHLANDS Ich erinnere mich: mein erstes Bedürfnis nach der Lektüre von Panizzas DIA­ LOGE IM GEISTE HUTTENS war, dasBuch auf die Tischkante zu schlagen und vom dem Staub zu befrein, den es einmal aufgewirbelt und der sich auf den Texten abgelagert hat, als der Wirbel nachließ, weil ihm kein Sturm zu Hilfe kam, der aus der Zukunft weht, wie im Fall der größeren Nietzsche und Kafka. Panizza gehört nicht zu den Engeln der Verzweiflung, deren Himmel der Abgrund von morgen ist; er bleibt Fußgänger, seine bevorzugte Kampfweise der Clinch, der Watschentanz die Technik seiner Dialoge. Das klingt abwertend; es wertet die Gegenstände seiner Polemik ab, Panizza hat wie Lessing bessere Gegner verdient, wen interessiert der Pastor Goeze oder Gottsched, wen die Dreieinigkeit, München, oder das deutsche Volk. Mit dem Unsichtbaren in Panizzas Dialog zwischen dem Materialisten und dem Spiritualisten verhält es sich inzwischen vielleicht genau so. WENN ICH NICHT AN DAS UNSICHT­ BARE GLAUBTE - AN EINEN URSÄCHLICHEN ZUSAMMENHANG DES REIN PSICHISCHEN, DES NICHT-VERLAUTBAR-WERDENDEN, DES HINUNTERGESCHLUCKTEN MIT DER FISISCHEN WELT DES SCHLAGENS UND GESCHLAGEN-WERDENS, DES RINGENS UND KÄMPFENS, WENN ICH NICHT WÜSSTE, DASS DAS, WAS WIR IN DEN LETZTEN ZEHN JAHREN HEIMLICH GELITTEN HABEN, IRGENDWOAUFGESCHRIEBENIST’UNDINIRGENDEINERFORM UMGEMODELTINDIESERSICHTBARENWELTWIEDERALS KAMPF UND RACHE ZUM VORSCHEIN KOMMT, DANN HIELTE ICH DAS LEBEN NICHT MEHR FÜR LEBENSWERT UND MÜSSTE VERZWEI­ FELN AN DEUTSCHLAND. Panizzas Unglück ist das des Propheten, der zu früh vorausgesagt hat: das Kind wird in den Brunnen fallen, wenn nicht.. .Jetzt liegt das Kind im Brunnen, man hat sich damit abgefunden, es schreit nicht mehr, treibt keinen Unfug, ist gut aufgehoben, wo es liegt, Wirtschaft, Horatio, Wirt­ schaft, und die Prognose jetzt nachzulesen, 80 Jahre später, in Panizzas Dialog ÜBER DIE DEUTSCHEN, ist nicht ohne Peinlichkeit. Panizza als früher Ana­ tom einer GESELLSCHAFT OHNE HOFFNUNG, deren Stabilität schon in ihren Gründerjahren gerade auf der Hoffnungslosigkeit beruht (.. .WAS WOL­ LEN SIE VON HAUSKNECHTEN? MIT HAUSKNECHTEN HÄLT MAN DEN HOF SAUBER. ABER DEN HOF SELBST ERRINGT DER HAUS­ KNECHT NIE!), hat den Vorteil des ersten Blicks. In einem Pabstfilm, dessen Handlung im Ersten Weltkrieg spielt, sah ich zum ersten Mal das mechanische Töten: ein Infanterieangriff aus der Sicht des Mannes hinter dem Maschinen­ gewehr, der das Gewimmel der Strichmännchen AUSRADIERT, bevor sie menschliche Gestalt annehmen, und so die Landschaft der Schlacht in ein Stilleben zurückverwandelt. Der Vorgang hat die Unschuld des Kindspiels. Ich habe das so schlagend nicht wieder gesehn. Mit derEnt-Larvung der Bundesrepublik zumTra-

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ditionsstaat, legitimiert durch die ODRADEK-Funktion der Extremisten, (DIE SORGE DES HAUSVATERS, eine Funktion, die vor 100 Jahren mit den Sozial­ demokraten, dann mit den Kommunisten, daneben immer mit den Intellektuellen besetzt war) ist das Kontinuum wieder sichtbar geworden: die Bundesrepublik als Rechtsnachfolger des Deutschen Reichs. Eine historisch kurze Zeit lang schien durch die Entgleisung des Faschismus der Zusammenhang dem Blick entzogen. Inzwischen hat sich herausgestellt, daß der Exzeß den Gang der Geschäfte eher befördert hat: der Initiator des Wirtschaftswunders heißt nicht Erhard, sondern Hitler, und es ist schnöder Undank, wenn die deutsche Industrie ihm kein Denkmal setzt. Oskar Panizza ist ein Opfer der deutschen Einheit, kein REICH wollte ihn haben. Einigung ist Ausschließung, Panizza gehört zu den Ausgeschlossenen, ein Spaltpilz und Nestbeschmutzer, Gotteslästerer und Staatsfeind in der Tradition einer Gegenkultur der HALB VERRÜCKTEN Ketzer. Der Ehrenname PINSCHER, der ihnen in der Bundesrepublik verliehen wurde, steht ihm zu. Ich denke, daß Baudrillard recht hat, wenn er den Sieg des Terrorismus in der permanenten Störung des Sinnzusammenhangs der bourgeoisen Gesell­ schaft sieht. Gegen den Terror des COMMON SENSE schreibt die Gegengewalt in den vergifteten Himmel die Kontur einer neuen Vernunft jenseits der Ökono­ mie. Panizza ist ein Terrorist; wer kein Deutscher werden will, sollte ihn lesen.

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ROLF WINAU AMORS VERGIFTETE PFEILE Die Lektionen der Syphilis

Die Anfänge »Singen will ich heut und sagen, Wie einst durch des Schicksals Mächte Jener Same ward gesäet Einer Krankheit, die gar seltsam Ferne Zeiten nie gesehen Aber heute ganz Europa, Asien, das ferne Libyen, Hat durchwütet; wie die Seuche Ihren Namen hat empfangen Durch die Gallier, die damals Schreckenvollen Krieges Folge Latium damit beglückten.«

So beginnt das Gedicht, das der gelehrte Arzt und Humanist Girolamo Fracastoro (1483 -1553) 1530 in Verona erscheinen ließ * und das den Titel trägt: Syphilidis sive tnorbi gallici libri tres (Drei Bücher von der Syphilis oder der gallischen Krankheit). Was hatte es mit dieser neuen, noch nie gesehenen Krankheit auf sich? Plötzlich und ohne jede Vorwarnung war sie im Jahr 1495 in und um Neapel herum auf­ getreten, hatte sich wie anderthalb Jahrhunderte zuvor die Pest in Windeseile über ganz Europa verbreitet, und kaum jemand schien vor ihr sicher zu sein. Karl VIII. (1470 -1498), der junge französische König, suchte seine Erbansprüche auf Neapel mit einem Kriegszug durchzusetzen. Im Frühjahr 1494 zog er mit mehr als 30 000 Mann von Lyon aus durch Italien nach Süden. Dem Söldnerheer gehörten Schweizer, Niederländer, Franzosen und Spanier an. Wie üblich folgte dem Heer ein riesiger Troß von Marketenderinnen und Soldatendirnen. Der ange­ griffene König Ferdinand von Neapel beschloß daraufhin, ebenfalls ein Söldner­ heer anzuwerben. Auch in ihm fanden sich viele Spanier. Sie waren es, die offen­ sichtlich den Keim der neuen Krankheit in sich trugen,jenen Keim, den die Matro­ sen des Kolumbus bei ihrer Rückfahrt mitgebracht hatten und der schon in Spa­ nien zum Aufflackern der neuen Krankheit geführt hatte. Im Februar 1495 zog das Heer Karls in Neapel ein, die Verteidiger hatten sich in das Castel Nuovo und das Castel dell’ Uovo zurückgezogen, wo sie sich drei Wochen lang verteidigten, ehe sie sich schließlich ergaben und mit dem Heerhaufen Karls vereinigten. Achtzig Tage lang wurde in Neapel ein rauschendes Fest gefeiert, dann zog Karl es vor, Neapel zu verlassen und wieder nach Norden zu ziehen; immer mehr Söldner verließen sein Heer. Zwischen Februar und Mai ergriff die Krank­ heit nicht nur die Heere, nicht nur die Dirnen, sondern auch die Bevölkerung Nea­ pels und anderer italienischer Städte. In einer Chronik von Florenz heißt es: »Es wird nicht unangemessen sein, der neuen Krankheit zu gedenken, welche in diesen

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Zeiten nach Italien kam, und die man französische Krätze nennt. Sie verbreitet sich nach allen Teilen der Welt, verursacht heftige Schmerzen, dauert acht bis zehn Monate, verbreitet sich im Laufe eines Jahres über den ganzen Körper nach Art einer schweren Krätze und unter einem pockenähnlichen Ausschlag, ist mit einem üblen Geruch, Verderbnis und Entstellung des davon ergriffenen Körpers verbun­ den.« Die Syphilis war bei ihrem ersten Auftreten in Europa also keine diskrete Krankheit, sondern äußerte sich als schwerste Allgemeinerkrankung. Die zeitliche Übereinstimmung und die Verweise zeitgenössischer Autoren lassen heute keinen Zweifel mehr daran, daß die Syphilis eine für Europa neue Krankheit war, die aller Wahrscheinlichkeit nach aus Amerika eingeschleppt worden ist. Daß die Europäer auf diese Krankheit so sehr viel heftiger reagierten als die Amerikaner, macht deutlich, daß sie hier auf jungfräulichen Boden fiel.

Die Ausbreitung Nur so ist auch die schnelle epidemische Ausbreitung über ganz Europa zu verste­ hen. Schon von Zeitgenossen wird der Zusammenhang zwischen dem Auftreten der Seuche und dem Auftauchen der Landsknechte gesehen. In Frankreich breitete sie sich in zweiJahren bis 1497 über das ganze Land aus, in derselben Zeit erreichte sie auch die Schweiz und Deutschland. In einer Frankfurter Chronik heißt es: »Anno 1496 tempore estatis et verne ist eyn ongehort grusslich und erschrockenlich krankheyt under die menschen von den walen kommen, die walen haben sie krieget von den franczosen und wyrt diss krankheyt genennt mall franczoss.« In Hamburg ist die Seuche zum ersten Mal im Jahr 1498 erwähnt. Die Ausbreitungs­ geschwindigkeit war vor allem entlang der großen Flüsse sehr hoch, so wanderte die Syphilis im Rheingraben in einer Woche durchschnittlich 50 km weiter. Diese präzisen Angaben lassen sich deshalb machen, weil kein Chronist jener Zeit es ver­ säumte, den ersten Fall in seiner Stadt zu beschreiben - ein weiterer Hinweis darauf, daß die Krankheit in der Tat neu und bis dahin unbekannt war. Gleichzeitig wie in Deutschland erschien die Syphilis auch in den Niederlanden und in Däne­ mark, nur wenig später in England und Schottland, gleichzeitig in den Balkanlän­ dern, in Ungarn, Polen und Rußland. Von Europa aus erreichte die Krankheit auch den Norden Afrikas, vor allem aber Asien, wo sie um die Jahrhundertwende in Indien und China und wenig später in Japan nachgewiesen ist. Der Name Die Krankheit war bei ihrem ersten Auftreten in Europa so unbekannt, daß sie kei­ nen eigenen Namen hatte. Allein aus den ersten hundertjahren ihrer Existenz sind 450 verschiedene Bezeichnungen bekannt, von denen mehr als die Hälfte aus den ersten zehn Jahren stammt. Die Namen lassen sich in fünf Hauptgruppen auftei­ len: Eine erste Gruppe umfaßt die, die das äußere Erscheinungsbild beschreiben. Hierher gehören Namen wie Elephantiasis, Morbus pustulatus, Papulae, Lepra venerea und ähnliche. Dabei wird deutlich, daß man bekannte Krankheitsbilder benutzt, um die Seuche zu beschreiben, sich jedoch im klaren ist, daß es sich um eine Geschlechtskrankheit handelt, wie der häufige Zusatz »venerea« deutlich

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macht. Eine zweite Gruppe von Namen nimmt Bezug auf die vornehmlich befalle­ nen Körperteile: Pustulae obscoenae, Pudendagra, Pestis inguinalis, Mentulagra. Wie bei der Pest haben auch bei der Syphilis Heilige der Krankheit ihren Namen gegeben, die als besonders hilfskräftig angesehen wurden. Zu ihnen gehörten Hiob, Rochus, Fiacrus und Evagricus. Die vierte Gruppe geht deutlich auf die ver­ meintlichen Ursachen der Krankheit ein: Lues venerea, Lues aphrodisiaca, Luxus, Morbus catholicus, Peregrinus morbus. Die fünfte Gruppe ist die interessanteste, denn sie benennt die Krankheit nach ihrem angeblichen Vaterland, und anhand dieser Benennungen läßt sich die Wanderung der Syphilis durch Europa rekon­ struieren: In Italien spricht man vom Mal francese, vom Morbus gallicus, von der Lues celtica; die Franzosen hingegen nennen sie Mal de Naples, Mal napolitain. In Spanien heißt sie Mal frances, in Portugal Morbus Castilanus, Mal francez, aber auch Mal de Naples. Im Fernen Osten wird häufig auf Portugal als Ursprungsland Bezug genommen, während sie in Afrika als Frankenseuche den Franzosen ange­ lastet wird. In den deutschsprachigen Ländern sind Namen wie Gallische Krank­ heit, Mal franzos, verkürzt die Franzosen, am gebräuchlichsten, daneben taucht auch Neapel in der Benennung auf, und es gibt den Ausdruck Lues bavarica. Eng­ land benennt Frankreich und Spanien gleichermaßen als Ausgangsland: French Pox und Spanish Pox, in Schottland existiert aber auch der Name Englische Krank­ heit, die Norweger wiederum sprachen von der Schottischen Krankheit. Und während die Polen mit ihren Bezeichnungen den Ausgangsort der Krankheit nach Frankreich und Neapel legten, gab es in Rußland den Begriff Polnische Krankheit. In Iwan Blochs großer Untersuchung aus dem Jahre 1901 reicht die Aufzählung der Namen über 18 eng bedruckte Spalten! Der heute benutzte Name Syphilis freilich ist in den ersten Jahrzehnten ebenso wenig benutzt worden wie die ebenfalls gebräuchliche Bezeichnung Lues. Hierbei handelt es sich um eine Verkürzung aus dem früher gebräuchlichen Lues venerea, wobei Lues nichts anderes als Seuche bedeutet. Schwieriger zu erklären ist der heute gebräuchliche Name, der sich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts durchsetzte. Dazu müssen wir zu dem eingangs zitierten Gedicht des Girolamo Fracastoro zurückkehren. Im Titel hatte er das neue Wort verwendet und die Krankheit nach dem Helden seiner Erzählung genannt: so wie die Geschichte des Aeneas die Aeneis ist, so ist die Geschichte des Syphilus die Syphilis. Fracastoro schildert im dritten Buch die Fahrt eines Entdeckers in die neue Welt. Dort töten die Seefahrer die heiligen Vögel des Sonnengottes, und einer von diesen prophezeit ihnen vor seinem Tod: »Bald wird kommen der Tag, Wo entstellen wird Euch Seuche, Die Euch zwingt in diesem Walde, Dessen heiliges Asyl Übermütig Ihr verletzt habt, Heilung suchen. Denn Apollo Wird Euch zur Verzweiflung treiben, Bis den Frevel Ihr bereut.«

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Stich von Agostino de’Musi (Italien, 1518), Bibliothèque nationale, Paris

◄ Hans Baldung Grien: Der galante Tod

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Ligier Richier: Skelett am Grabmal des René de Chalons

in St.-Pierre in Bar-le-Duc, nach 1544

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Grabmedaillon von Thomas de Marchant et dAnsembourg und seiner Gattin Anne Marie deNeufonge,

gestorben 1728 und 1734, Kirche von Tuntange, Luxemburg.

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Auf einem Fest für den Sonnengott sehen die Seefahrer nicht nur von der Krank­ heit gezeichnete Menschen, sie erfahren auch die Geschichte dieser Krankheit: Der Hirte Syphilus, ergrimmt über die Hitze der Sonne, die ihn tagtäglich plagt, fällt vom Kult des Sonnengottes ab, erklärt seinen König zum neuen Gott und führt das ganze Volk zu diesem neuen Kult. Diesen Frevel bestrafte der Sonnengott, »Der da alles sieht und höret, Da empört sich seine Seele. Feindlich lenkt er seine Strahlen, Die durch Schärfe sind vergiftet. Pesthauch jetzt ergreift die Erde, Pesthauch auch die Flut des Meeres, Und verpestet wird die Luft selbst Durch noch nie gesehene Krankheit. Den, der vom vergossenen Blute Seinem Könige die Opfer Brachte auf den Bergaltären, Syphilus packt sie als ersten. Schlimm wird ihm der Leib zerfressen Von gar garstigen Geschwüren, Schmerzend reißt es in den Gliedern, Seine Nächte flieht der Schlaf. Und nach ihm benennt die Menschheit Heute noch die gleiche Seuche, Es empfängt von ihm die Krankheit Nun den Namen: Syphilis.«

Den Namen Syphilus dürfte der Humanist Fracastoro der antiken Mythologie entlehnt haben. Bei Ovid heißt der zweite Sohn der Niobe Sipylus. Er hat wohl für den amerikanischen Hirten Pate gestanden.

Die Ätiologie Wenn sich auch viele zeitgenössische Autoren darüber einig waren, daß die Krank­ heit aus Amerika eingeschleppt worden sei, so verlangten doch Arzte und Laien nach einer Erklärung, warum die Krankheit ausgerechnet zu dieser Zeit Europa heimsuchte, und ob dahinter nicht doch mehr als nur der blinde Zufall stehe. So entstanden bald Theorien, die auf diese Frage eine Antwort zu geben suchten. Am meisten verbreitet war wohl die astrologische Theorie. Sie entsprach einem mit­ telalterlichen Verständnis von der Welt, in dem Mikrokosmos und Makrokosmos aufeinander bezogen waren, eine Auffassung, die bei den Alchimisten und vor allem bei Paracelsus in ein großartiges Gebäude der Welt- und Krankheitssicht ein­ gehen sollte. Besondere Konstellationen der Gestirne mußten danach einen unheilvollen Einfluß auf die Menschen haben. So sah man in der großen Konjunk­ tion des Saturn und des Jupiter am 25. November 1484 im Zeichen des Skorpions und im Hause des Mars - einem Ereignis, das nur rund alle 500Jahre eintritt - den astralen Ursprung der Krankheit, zehn Jahre vor ihrem irdischen Ausbruch.

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»Und wieder meinen dann die Sternendeuter: Saturn und Mars sind dieser Seuche Quell, Saturn ist heißer Leidenschaft Bereiter, Und Mars regiert an der geheimen Stell’. Drum sollen wir, wenn wir die Liebe pflegen, wohl achten auf der beiden Sterne Stand;

Damit Saturn nicht komme uns entgegen, Wenn unser Sinn der Venus zugewandt. Woher das alles? frage nur die Sterne, Sie haben uns die Lüfte inficiert So kam das Gift zu uns aus weiter Ferne Und hat uns unsern Körper altcriert. Wir waren freilich lange schon empfänglich Für solchen bösen Einfluß des Gestirns, Dies weiter zu erklären ist bedenklich Und übersteigt die Kräfte meines Hirns.«

So dichtete 1870 R. Finkenstein in seiner Geschichte der Syphilis ein zeitgenössi­ sches Gedicht von Francisco Lopez de Villalobos nach und verstärkte aus seinem naturwissenschaftlich aufgeklärten Geist die beim Autor vorhandene leichte Iro­ nie ganz bedenklich. Auch Fracastoro hatte dem astrologischen Ursprung der Krankheit viele Zeilen seines Gedichts gewidmet. Neben der astrologischen Theorie gab es eine zweite, die mit ebensoviel Vehemenz vertreten wurde: die theologische. Im Mittelpunkt dieser Theorie steht die Auffas­ sung, daß Krankheiten von Gott zur Strafe oder zur Prüfung gesandt werden. Was lag näher, als bei einer Krankheit, die vornehmlich und zuerst die Geschlechtsteile befiel und deren Zusammenhang mit dem Geschlechtsverkehr man sehr früh erkannte, an eine Strafe für Verfehlungen auf sexuellem Gebiet zu denken? Die Syphilis galt als Strafe für die Unzucht. Diese These wurde bis ins 20. Jahrhundert immer wieder vertreten; aber die Definitionen, was denn Unzucht sei, änderten sich. Dem einen war sie der außereheliche Verkehr, dem anderen die Promiskuität, wieder anderen die Polyandrie der Dirnen; die nächsten sahen die Syphilis als Strafe für übermäßigen Beischlaf, selbst unter Eheleuten, andere schuldigten die Sodomie mit ihren verschiedensten Formen an. Diese theologische Theorie wurde nicht nur von Priestern, sondern im gleichen Maße auch von Ärzten herangezo­ gen, und immer wieder führten sie »Beweise« für ihre Richtigkeit an. Aber auch hier regte sich früher Widerstand: »Einige beziehen die Ursache dieser Krankheit auf Gott, der diese Krankheit geschickt habe, da er will, daß die Menschen die Sünde der Unzucht vermeiden. Deswegen verband er mit dem Beischlaf solche Gefahren, daß manche diese Krankheit die göttliche genannt haben. Und warum, wenn Gott gegen die Unzucht losgefahren ist, warum ist er nicht gegen die Wucherer, Wegelagerer, Räuber und Mör­ der, die doch viel grausigere Missetaten begehen, als die, die den Beischlaf ausübten. Denn der Geschlechtsgenuß ist fürJedermann eine natürliche Sache... Laßt uns also wie Hippokrates in seinem Buch über die heilige Krankheit sagen, daß diese Krankheit nicht heiliger sei als alle anderen.« (Anto­ nius M.Brassavola, De morbo gallico, 1556)

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Nach den Vorstellungen der hippokratischen Medizin, die um die Wende zur Neu­ zeit das medizinische Denken noch beherrschte, mußte die Syphilis, wie alle ande­ ren Krankheiten, aus einer Störung der Säfte hervorgehen. Für jeden Menschen konstituierten die vier Körpersäfte Blut, Schleim, Galle und Schwarze Galle in einerje eigenen Mischung die Gesundheit. Wurde aus dieser Eukrasie eine Dyskrasie, war das Verhältnis der Säfte zueinander gestört, war einer der Säfte im Über­ maß oder in zu geringer Menge vorhanden, dann war der Mensch krank. Ein Übermaß an Schwarzer Galle, jenem hypothetischen vierten Saft, wurde für die Syphilis verantwortlich gemacht. Und schließlich gab es auch schon in den frühen Jahren der Syphilisforschung die Vorstellung, daß die Krankheit durch einen spezifischen Krankheitserreger, durch ein Kontagium hervorgerufen würde. Wieder war es Girolamo Fracastoro, der diese Vorstellung als erster zur Diskussion stellte. 1546 erschien seine Schrift De Contagionibus et contagiosis morbis et eorum curatione libri tres (Drei Bücher von den Kontagien, den ansteckenden Krankheiten und deren Behandlung). Sie ist die erste moderne Erklärung der Lehre von den Infektionen. Nicht unkörperliche Mias­ men, wie die Humoralpathologie sie forderte, macht Fracastoro für diese Krank­ heiten verantwortlich, sondern einen konkreten Krankheitssamen, der auf dreier­ lei Weise von einem Menschen auf den anderen übertragen werden könne: durch direkten Kontakt, per Distanz durch Tröpfcheninfektion, und durch den »Zun­ der«, durch Krankheitssamen tragende Gegenstände, vor allem Kleider und Wäsche. In seine Überlegungen bezog Fracastoro nicht nur die Pest, sondern auch die Syphilis ein. Aber seine Vorstellungen kamen um Jahrhunderte zu früh.

Die Therapie Anfangs standen die Ärzte der neuen Krankheit hilflos gegenüber, wenn sie sich überhaupt mit ihr beschäftigten, denn da sie sich zunächst auf der Haut manife­ stierte, gehörte sie streng genommen zu den Krankheiten, für die nicht der akade­ misch gebildete Arzt, sondern der Chirurg zuständig war - sie war eine äußere, keine innere Krankheit. Dann besann man sich aufjenes Mittel, das schon von der Antike an, besonders aber durch die Vorstellung der arabischen Medizin, Eingang in die Therapie der Hautkrankheiten gefunden hatte: das Quecksilber. Als Queck­ silbersalbe wurde es bei einer Reihe von Hautkrankheiten angewandt, außerdem als Sublimatlösung für Waschungen. Jetzt wurde es auch zur Kur der neuen Krankheit benutzt. Eine Quecksilberschmierkur gliederte sich in drei Teile. Den Anfang bildete eine fünftägige Vorbereitungskur mit Abfühfmitteln und Bädern, die den Körper aufnahmebereit für das Quecksilber machen sollten. Dann folgte die eigentliche Schmierkur, bei der die Quecksilbersalbe bis zu 40 Tage lang stets an verschiedenen Stellen des Körpers, vor allem aber an Beinen und Armen aufgetra­ gen wurde. Dabei wurde der Patient aufgefordert, die Kur so lange durchzuhalten, bis die Zähne schmerzten; übermäßiger Speichelfluß wurde als Zeichen der Hei­ lung im humoralpathologischen Sinne gedeutet. Ohne es zu wissen, ging man so bis über die Grenzen einer Quecksilbervergiftung hinaus. Schließlich wurde eine

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Schwitzkur empfohlen. Ähnlich wie im Speichel sollte im Schweiß die schädi­ gende Materie aus dem Körper entfernt werden. Ulrich von Hutten hat eine solche qualvolle Tortur elfmal erfolglos durchgemacht. 1519 schrieb er: »Aus drei- oder vierlei oder mehr von diesen Medikamenten verfertigten sie eine Salbe und schmierten damit Arm- und Beingelenke ein. Die Kranken wurden in eine Hitzstub eingeschlossen, die ununterbrochen und sehr stark geheizt wurde, die einen 20, die anderen 30Tage lang, einige auch noch länger... Da floß durch Rachen und Mund die Krankheit ab mit einem so gewaltigen Schaden, daß die Zähne herausfielen. Das Zahnfleisch schwoll an, die Zähne wackelten, der Spei­ chel floß ohne Unterlaß aus dem Mund. Diese Art der Kur war so hart, daß die mei­ sten lieber sterben, als auf solche Weise kuriert sein wollten.« Noch gefährlicher als die Schmierkuren waren die Räucherungen mit Zinnober. Dabei wurde der Kranke in ein Zelt oder ein Faß oder ein extra zu diesem Zwecke errichtetes kleines Häuschen gesetzt - wenn er Glück hatte, dann schaute sein Kopf heraus -, und in einem Kohlenbecken wurde der Zinnober verdampft. Auch diese Prozedur wurde so lange wiederholt, bis sich der gewünschte Speichelfluß einstellte. Die Quecksilberbehandlung blieb trotz des Schadens, den sie anrichtete, für Jahr­ hunderte die beherrschende Syphilistherapie, der nichts Vergleichbares an die Seite gestellt werden konnte. Als in Berlin das nicht genutzte Pesthaus 1727 zur Charité umgebaut wurde, da richtete man bald auch eine Station für Syphiliskranke ein; die Zimmer tragen auf einem zeitgenössischen Plan die Bezeichnung Salivationsstuben. Aber von Anfang an gab es neben den Merkurialisten, die alles Heil vom Quecksilber erwarteten, auch die Antimerkurialisten. Und es gab ein anderes Heil­ mittel, als Wundermedikament gepriesen, von Ulrich von Hutten nach den ver­ geblichen Quecksilberkuren hoch gelobt, das Guajakholz. Als Heiliges Holz, als Wunderbaum, als Hoffnung der Menschen, als Ruhm der Neuen Welt wurde es gepriesen. So wie die Syphilis aus der Neuen Welt kam, so sollte auch das Heilmit­ tel aus Amerika kommen. Ähnlich wie beim Quecksilber war die Guajakkur dra­ stisch. 40 Tage lang wurden die Kranken ins Bett gesteckt, mußten schwitzen, wur­ den mit Bädern und Abführmitteln traktiert und mußten morgens, mittags und abends große Mengen der Guajakabkochung trinken. Das Geschäft mit dem importierten Holz, auf das die Fugger ein Monopol hatten, blühte für einige Jahr­ zehnte. Aber schnell zeigte sich, daß auch das Guajak kein wirkungsvolles Heil­ mittel war, es sei nur wundertätig für den Säckel der Fugger, spottete Paracelsus.

Prophylaxe Wirkungsvoller, so merkte man bald, war wohl eine gezielte Prophylaxe. Dabei sind zwei Stränge zu unterscheiden, auf der einen Seite die obrigkeitlichen Gebote und Verbote, bzw. die Forderungen nach solchen, auf der anderen Seite ärztliche Anweisungen zur persönlichen Hygenie. Von 1496 an gibt es die ersten gesetzlichen Regelungen, so in Nürnberg, wo den Badern geboten wird, Menschen, die an der neuen Krankheit leiden, nicht in ihr

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Bad zu lassen, und ihr chirurgisches Gerät, das sie beim Besuch von Syphiliskran­ ken benutzen, nicht weiter zu gebrauchen. Dies war sicher wirkungsvoller als die Pilulae praeservantes, die auch Kaiser Maximilian gebrauchte, wirkungsvoller auch als Fürbitten und Gebete. Schon 1497 hatte man, ebenfalls in Nürnberg, versucht, die »fremden Kranken an den Franzosen« nicht in die Stadt zu lassen, ein Unterfangen, das von Anfang an zum Scheitern verurteilt war. Aber schon bald werden drastischere Maßnahmen gefordert: »Daß in den Städten Dirnen und andere Frauen durch eine Matrone untersucht werden, und die als angesteckt Befundenen in einem eigenen Haus oder Hospital zurückbehalten werden sollen, solange bis sie durch dazu bestellte Arzte kuriert seien - auf diese Weise könnten sie die grausame Krankheit beseiti­ gen.« Hier wird geradezu eine Gesundheitsbehörde mit weitreichenden Befugnis­ sen gefordert, deren Vorgehen freilich durch die Beschränkung auf die Frauen ebenso sinnlos wie diskriminierend erscheint. Isolierung für Syphiliskranke hat es danach immer wieder gegeben, vor allem in den Reichsstädten. Der Erfolg dieser Maßnahme war gleich Null. Aber es gab auch drastischere Vorschläge. Bei Erasmus von Rotterdam ist folgender Dialog zu lesen: »- Also sollen nur die Luetischen einander heiraten? - Wenn mir gestattet würde, was eigentlich Sache des Staates ist, so würde ich sie wohl verbinden, die Verbundenen dann aber verbrennen. - Wäre es nicht milder, sie nur zu kastrieren und dann auszuweisen? - Milder wohl, aber nicht sicherer. Denn nicht nur auf diese Weise wird die Krank­ heit übertragen, sondern auch durch Küsse, durch Berührungen, durch gemeinsa­ men Trunk. - Man müßte ein Gesetz erlassen, das gemeinsame Trinkgefäße verbietet, außer­ dem dürften nur Eheleute sich im gleichen Bett vereinen, die Sitte des Begrü­ ßungskusses müßte verschwinden.« Keiner dieser drastischen Vorschläge wurde je verwirklicht, sie zeigen aber, daß solche Gedanken denkbar waren. Es ist kein Wunder, daß auch wortgewaltige Prediger sich der Sache annahmen. Jacob Wimpfeling sah die Möglichkeit, gegen die Dirnen zu wettern: »Fürchte und fliehe die Dirnen! Fürchte sie, daß nicht Lepra, nicht gallische Krankheit dich beflecke. O wie viele Jünglinge, wie viele Männer haben sich durch feile Dirnen das Leiden Frankreichs zugezogen.« Die Furcht vor Krankheit wird hier zur Stär­ kung der Moral ins Feld geführt. Und es verwundert schon nicht mehr, daß die Schuld für die Krankheit den Frauen gegeben wird. Dabei gehörten nicht wenige von Wimpfelings Amtsbrüdern zu den ersten und bevorzugten Opfern der Syphi­ lis. 1497 wird zum ersten Mal die Vermeidung der Ansteckung durch direkten Kon­ takt gefordert: »Hauptsächlich aber vermeide man den Verkehr mit pustolösen Frauen, aber auch mit gesunden, denen kurz vorher ein pustolöser Mann beige­ wohnt hat; denn schon ist durch Erfahrung bekannt, daß der einem Pustolösen Nachfolgende frisch angesteckt wird.« Nicht die Theorie, sondern die auf Beob­ achtung gegründete Erfahrung führte zu den ersten konsequenten Forderungen.

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Aber auch persönliche Hygienemaßnahmen werden empfohlen, so das Waschen des Penis nach dem Beischlaf mit lauwarmem Wein, das Auswaschen der Scheide mit lauwarmem Wasser oder Wein, oder bestimmte Leinenlappen, mit einer ganz bestimmten Tinktur getränkt und vor dem Verkehr um den Penis gebunden. Solche Streifen sollte jeder Mann, so empfiehlt der ärztliche Autor, im Geldbeutel oder in der Hosentasche stets bei sich haben. Auch die Zinnoberräucherung nach dem Geschlechtsakt gilt als Prophylaktikum.

Konsequenzen Auf zwei Folgen der Syphilis soll hier hingewiesen werden: auf den Verfall der Badekultur und die völlige Änderung der Sexualmoral und der Lebensgewohnhei­ ten der Bevölkerung. Das Bad spielte in der mittelalterlichen Kultur eine große Rolle. Es war nicht nur Ort der Reinigung, sondern auch der medizinischen Versorgung, und es war gleichzeitig Kommunikationszentrum, in dem man sich traf, Geschäfte tätigte, Familienfeiern wie Hochzeit und Kindtaufe beschloß. Zwar gab es auch getrennte Bäder für Männer und Frauen, aber häufig badete man gemeinsam im gleichen Zuber, über den ein Brett gelegt wurde für Speise und Trank. Man badete gemein­ sam nackt, und manche Anordnung eines besorgten Magistrats ist zu finden, die wenigstens für den Weg zum Bad eine angemessene Bedeckung der Blößen for­ derte. Auch in offenen Gewässern und in Heilbädern badeten Männer und Frauen nackt und in aller Öffentlichkeit miteinander. Diese Unbefangenheit wird in einer Vielzahl von bildlichen Darstellungen ebenso dokumentiert wie in der Literatur. Und oftmals wiederholte Erlasse und Verbote von Magistraten und der Kirche bezeugen, daß man an der alten Gewohnheit lange festhielt. Poggio beschreibt in seinen Briefen das Badeleben in Baden bei Zürich so: »Im Wasser speisen sie, oft auf gemeinsame Kosten, ein geschmückter Tisch schwimmt auf dem Wasser, und auch Männer pflegen teilzunehmen. Wir sind in dem Hause, in dem wir badeten, einmal zu einem solchen Fest geladen worden. Ich habe meinen Beitrag bezahlt, wollte aber nicht teilnehmen, nicht aus Schamge­ fühl, das für Feigheit oder Unbildung gehalten wird, sondern weil ich die Sprache nicht verstand. Aber zwei meiner Gesellen sind in das Bad gegangen, mit großer Herzensheiterkeit, haben mitgetan, mitgetrunken, mitgespeist... Ich sah von der Galerie aus alles, die Sitten, die Gewohnheiten, die Freiheit und die Ungebunden­ heit der Lebensart. Es ist merkwürdig zu sehen, in welcher Unschuld sie leben.« Im selben Brief heißt es: »Keiner argwöhnt etwas Unschickliches.« Und wie soll man die Unterhaltung von Sol und Phaeton in Ulrich von Huttens Gesprächsbüchlein bewerten? Beschreibt sie die Wirklichkeit, oder ist es schierer Sarkasmus? »Phaeton: Dort sehe ich einige nackend, Frauen und Männer vermischt, miteinan­ der baden; ich glaube, daß das ohne Schaden für ihre Zucht und Ehre nicht zugeht. Sol: Ohne Schaden.

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Phaeton: Ich sehe sie sich doch küssen. Sol: Freilich. Phaeton: Und sich freundlich umfassen. Sol: Ja, sie pflegen auch beieinander zu schlafen. Phaeton: Vielleicht haben sie die Gesetze Platons angenommen und halten ihre Weiber gemeinschaftlich. Sol: Nicht gemeinschaftlich, sondern darin zeigt sich ihr Vertrauen.« Die Bäder aber waren auch der Ort, an denen sich eine bestimmte Art der Prostitu­ tion, die Badeprostitution, ansiedelte. Hieraus allerdings eine Trennung der Bäder in moralisch einwandfreie und solche, die unseren Saunaclubs gleichen, zu kon­ struieren, geht an der historischen Wirklichkeit vorbei. Wir machen uns von der Unbefangenheit der Sexualmoral des späten Mittelalters heutzutage kaum die rechte Vorstellung, tragen wir doch noch immer das Bild vom »finsteren Mittelalter« mit uns herum. Aber aus der medizinischen und auch einem Teil der theolo­ gischen Literatur ergibt sich ein ganz anderes Bild: der Besuch des Frauenhauses galt als normal, die Dirnen spielten eine festumrissene Rolle in der Gesellschaft. Das Mittelalter folgte noch immer der augustinischen Meinung, daß die Prostitu­ tion eine bestimmte Funktion in der christlichen Gesellschaft habe, da sie einem Uberhandnehmen der Sittenlosigkeit vorbeuge. Es sei besser, daß ein Mann eine Dirne besuche, als daß er außereheliche Beziehungen mit einer verheirateten oder gar unverheirateten Frau unterhalte. Die Prostitution erscheint als Schutz gegen Unzucht und Ehebruch. So wurden die Dirnen zu einem eigenen, wenn auch mindergeachteten Stand; ihr Tun galt nicht als Unzucht, wie ein Gesetz Friedrichs II. von Hohenstaufen belegt: »Eine Frau, die ihren Körper für Geld feil­ bietet, ist nicht der Unzucht anzuklagen. Wir verbieten jegliche Gewalttat gegen sie, untersagen ihr aber, unter ehrbaren Frauen zu wohnen.« Seit dem 12. Jahrhundert gab es in zunehmendem Maße Bordelle - Frauenhäuser, die nicht nur von Privatpersonen, sondern auch von den Städten, von weltlichen und geistlichen Fürsten betrieben wurden. Der Besuch des Frauenhauses war etwas völlig Normales, zumal in einer Gesellschaft, die über eine große Anzahl dauernd oder auf Zeit zölibatär lebender Männer verfügte. Unterdrückung des Geschlechtsverkehrs hingegen galt als krankmachend. In der schon mehrfach angeführten Humoralpathologie war die Ausscheidung von Körpersäften für die Aufrechterhaltung der Gesundheit von großer Wichtigkeit. Die mittelalterlichen Arzte kennen neben dem männlichen auch den weiblichen Samen, der beim Koi­ tus aus der Gebärmutter in die Scheide entleert wird. Kommt es nicht in regelmäßi­ gen Abständen zum Koitus, so hilft der Körper sich zunächst damit, daß er die angestauten Säfte ausscheidet, beim Mann durch Pollutionen, bei der Frau durch Ausfluß. Dies aber ist nur ein Hilfsmechanismus, auf die Dauer muß die Zurück­ haltung zu schweren Erkrankungen führen. Eine ganze Reihe von Krankheitser­ scheinungen werden auf solche Störungen zurückgeführt, unter ihnen die Melan­ cholie und die Hysterie. Angezeigte Therapie war primär der Koitus, der ja bei bei­ den Geschlechtern die notwendige Entleerung bringen sollte. Unverheiratete Mädchen oder Witwen erhielten nicht selten den ärztlichen Rat, bald zu heiraten.

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Schien dies nicht realisierbar, so wurde eine Behandlung empfohlen, die in Einrei­ bungen der Vulva und der Scheide mit Öl durch eine Hebamme oder durch die Patienten selbst bestehen sollte, mit dem Ziel, einen Samenerguß herbeizuführen. Es handelt sich hier also eindeutig um die ärztliche Verordnung der Onanie der Frau. Dem Manne wurde ebenfalls die Onanie, weit häufiger jedoch die Ausfüh­ rung des Koitus empfohlen. Für ihn konnte der Besuch des Frauenhauses durch­ aus auf ärztlichen Rat erfolgen. So nimmt es nicht wunder, daß man Gefangenen Zeit und Geld zur Verfügung stellte, damit sie ins Frauenhaus gehen konnten. Der Besuch des Frauenhauses mußte nicht in Heimlichkeit, sondern konnte in aller Offenheit geschehen. 1414 beleuchtete die Stadt Bern, als Kaiser Sigismund Gast in ihren Mauern war, die Frauenhäuser und zahlte für Kaiser und Gefolge den Besuch dortselbst. Dafür bedankte sich der Kaiser öffentlich beim Berner Stadtma­ gistrat. Ein Abgeordneter der Stadt Frankfurt führte bei seinem Besuch in Köln auch den Besuch des Frauenhauses auf seiner Spesenliste auf, in Straßburg schrieb ein ehrlicher Beamter, der die vom Frauenhaus zu zahlenden Gelder eintreiben sollte: »Hab a gebickt, thut 30Pfennig.« All das wurde in wenigenJahren anders. Im Gefolge der Syphilis verfielen Bordelle und Bäder: »Wer den einen Fuß im Frauenhaus hat, hat den anderen im Hospital«, wurde zum Sprichwort. Aber nicht nur Institutionen verfielen. Ein ganzes Lebens­ gefühl wandelte sich, wie Schopenhauer erkannte: »Die venerische Krankheit erstreckt ihren Einfluß viel weiter als es auf den ersten Blick erscheinen mag, indem derselbe keineswegs ein bloß physischer, sondern auch ein moralischer ist. Seitdem Amors Köcher auch vergiftete Pfeile führt, ist in das Verhältnis der Geschlechter zueinander ein fremdartiges, feindseliges, ja teufli­ sches Element gekommen, infolge wovon ein finsteres und furchtsames Miß­ trauen es durchzieht, und der mittelbare Einfluß einer solchen Änderung in der Grundfeste aller menschlichen Gesellschaft erstreckt sich mehr oder weniger auch auf die übrigen geselligen Verhältnisse.«

Syphilis im 20. Jahrhundert Die Therapie der Syphilis blieb erfolglos bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts. Unter dem Eindruck des Erfolges der Serumtherapie gegen die Diphtherie ver­ suchte man, auch für die Syphilis eine Serumtherapie zu entwickeln. Die Arbeiten von Albert Neisser, der ein solches Serum an jungen Prostituierten zu entwickeln suchte, die nichts von diesen Versuchen wußten, haben letztendlich dazu geführt, daß zum ersten Mal über den Versuch am Menschen und dessen ethische Bewer­ tung nachgedacht wurde. 1905, also sehr spät, wurde die Spirochaeta Pallida als Erreger der Syphilis entdeckt, und als Schaudinn und Hoffmann ihre Entdeckung vortrugen, hat ein berühmter Berliner Professor die Sitzung mit den Worten geschlossen: » Damit schließe ich die heutige Sitzung bis zur nächsten Entdeckung des Syphiliserregers.« Aber die Syphilis war auch die erste Krankheit, die man ätio­ logisch therapieren konnte. Paul Ehrlich entwickelte zusammen mit Hata ein Mit-

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tel, das Salvarsan, die magische Kugel, die zu suchen er sein ganzes Leben bemüht gewesen war. Obwohl damit zum ersten Mal ein wirksames Medikament gefunden war, ging die Durchseuchung mit der Syphilis nur langsam zurück. Nicht nur wegen seiner Nebenwirkungen führte das Salvarsan zu Diskussionen, sondern man warf Ehrlich auch vor, er würde dem lieben Gott ins Handwerk pfuschen und die Strafe für sexuelle Verfehlungen mit seinem Salvarsan beiseitigen. Es zeigte sich, daß allein die Entdeckung eines wirksamen Mittels nicht ausreichte, um eine Krankheit wie die Syphilis in den Griff zu bekommen. Schon 1902 war die Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten in Deutschland von dem damaligen Berliner Dermatologen Blaschko gegründet worden, und noch in der Weimarer Zeit hat diese Gesellschaft eine ganz entscheidende Rolle gespielt. Nicht deswegen, weil sie Therapie trieb, sondern weil sie ein ganz anderes Konzept verfolgte: Aufklärung über Sexualität und über Geschlechtskrankheiten stellte sie an die erste Stelle. In Berlin war in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts die Sexualwissenschaft begründet worden. Sexualwissenschaft und die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten wurden zu einem öffentlichen Thema. Auf drei Wegen versuchte man die Geschlechtskrankheiten zu bekämpfen: durch die Ver­ änderung des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten, durch eine nachgehende Fürsorge und durch eine umfassende, sehr drastische Aufklärungs­ kampagne. Vor allem Georg Löwenstein hat die Aufklärung über die Geschlechts­ krankheiten in Berlin vorangetrieben. Als Stadtarzt hielt er in Schulen und Betrie­ ben, in wissenschaftlichen und politischen Versammlungen seine Aufklärungsvor­ träge. 1929 schrieb er: »Zu fordern sind das Verbot aller reglementierungsähnlichen Kollektivmaßnah­ men, Abstellung der Entscheidung stets auf die individuellen Bedürfnisse des Ein­ zelfalles, Ersatz der mit Zwang verbundenen Kollektivmaßnahmen durch die Methode vorbeugender und nachgehender Gesundheitsfürsorge und schließlich Gesundheitsaufklärung über die Krankheit und zwar nicht da, wo Interessierte sowieso hinkommen, sondern in den Gesellenvereinen, in den Gewerkschaftsver­ sammlungen, in den Schulen.« Aufklärung war das Mittel, das zu einem Erfolg in der Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten führte.

Anmerkung

* Ich zitiere Fracastoros Gedicht nach der deutschen Übersetzung von Ernst Alfred Seckendorf aus dem Jahre 1930, die erst 1960 von Walther Schönfeld herausgegeben wurde. Seckendorf, einjüdischer Dermatologe in Fürth, der bedeutende Beiträge zur Syphilisforschung geliefert hat, wurde 1938 auf­ grund der Nürnberger Gesetze zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt, 1942 in das Straflager Rottgau/ Dieburg verlegt und ist dort unter nicht geklärten Umständen zu Tode gekommen. Das Amtsgericht Fürth hat am 20.4.1950 fälschlicherweise den 31.12.1941 als Zeitpunkt des Todes festgesetzt. Dem Andenken Ernst Alfred Seckendorfs ist dieser Beitrag gewidmet. (Kursbuch Nr. 94, November 1988)

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KONSTANTIN WECKER

SEI BRAV, LILLY Und draußen war der Himmel doch so blau Es roch nach Sommer, Tanz und Spiel Und doch, ich weiß es ganz genau Daß ich in eine tiefe Kälte fiel Sei brav Lilly, Das geht vorbei Es tut nicht weh, Lilly Das muß so sein Sei brav, Lilly Tu was er will Laß sein, Lilly Halte still So viele Sommer stehen mir noch offen Ich dummes Lamm war zu geduldig Das hab ich nun vom Beten und vom Hoffen: Mir ist der Himmel noch ein Leben schuldig

Konstantin Wecker schrieb diese Gedichte für die Aufführung DAS LIEBESKONZILimSchiller-TheaterBerlin (Premiere31.12.1988,RegieFranzMarijnen).

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GOTT/CHERUBIM

Gott Vater

Oh - bin so alt, werd immer älter Oh - mir ist kalt, werd immer kälter Könnt ich nur sterben irgendwann Gäb meine ganze Seele dran - oh, oh, oh, oh

Cherubim:

Wer soll den armen Gott noch lieben Bin nur noch ich zum Trost geblieben Glaub fast am Ende, ganz allein Werd seine letzte Stütze sein - oh, oh, oh, oh

Gott Vater:

Oh - bin so alt, werd immer älter Mir ist so kalt, werd immer kälter Könnt ich nur sterben irgendwann Gäb meine ganze Schöpfung dran

Cherubim:

Wer soll den armen Gott noch lieben Bin nur noch ich zum Trost geblieben Und würd er sich auf Wolken betten den armen Mann kann keiner retten

Gott Vater:

Oh - meine Haare so gelichtet

Cherubim:

Ach welcher Gott könnt Dich erhören

Gott Vater:

Und meine Füße ganz vergichtet

Cherubim:

Wen kann der Herrgott schon beschwören

Gott Vater:

Könnt ich (er) nur sterben irgendwann

Cherubim:

Gäb meine (seine) ganze Schöpfung dran Könnt ich (er) nur sterben irgendwann Gäb meine (seine) ganze Schöpfung dran

Cherubim:

Ach welcher Gott könnt Dich erhören

Gott Vater:

Oh - meine Haare so gelichtet

Cherubim:

Wen kann der Herrgott schon beschwören

Gott Vater:

Und meine Füße ganz vergichtet

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Gott Vater:

Glaub fast am Ende, ich (er) allein

Cherubim:

Werd meine (wird seine) letzte Stütze sein Werd seine ganze Stütze sein Werd seine ganze Stütze sein

MEPHISTO Ich bin das Böse: wenn ich nicht wär Dann hättens die Guten verteufelt schwer Auch wenns nicht gefällt, ich bin sehr wichtig Denn nur durch mich liegt ihr immer richtig Mal bin ich schwarz, mal bin ich weiß Ich wechsle die Farben auf Geheiß Stets bin ich die andere Ideologie Das Weib für Ihn, der Mann für Sie

Heute noch heilig, morgen verbrannt Ich hab euer Spiel schon lange erkannt Ihr habt euer Leid doch selber bestellt: Nur die Gerechten vernichten die Welt!

Ich steh gerade für alle Verrückten Die Andersdenker, die Umgeknickten Egal aus welchem Stoff ich gemacht Wenns mich nicht gäbe, hättet ihr mich erdacht

Ich bin euch deshalb so suspekt Weil ich, in eurer Seele versteckt Das bin, was ihr euch heimlich erfleht und euch doch niemals zugesteht.

Szenenbilder aus DAS LIEBESKONZIL, Inszenierung Franz Marijnen, 1989, Seiten 216/217.

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MARIA VERRÜCKT NACH SÜNDE Ich bin ganz verrückt nach der Sünde Mich kann nur die Hölle befrein Verflucht alle besseren Gründe Einmal will ich schuldig sein Wie kann den Himmel begreifen Wer sich nie verlor in der Welt Die Frucht muß auch erst reifen Bevor sie süß wird und fällt

Ich bin so versessen aufs Leben Ich bin zu allem bereit Und müßt ich dem Teufel mich geben: Ich pfeif auf die Jungfräulichkeit Ich spür so ein Kribbeln, ein Ziehen Da ist etwas, was mich bewegt Wie könnt ich den Teufel fliehen Wenn er mich so erregt Verflogen die Chimären Es hebt sich der Jungfrau Brust: Sollt ich noch einmal gebären Dann gewährt mir auch vorher die Lust!

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VANITAS! VANITATUM VANITAS! Gott Vater:

Die Herrlichkeit auf Erden muß Rauch und Asche werden, nichts mehr bleibt bestehn.

Der Gott, den wir erdachten, die Götter, die uns machten, werden auch vergehn. Alle:

Vanitas! Vanitatum Vanitas!

Gott Vater:

Jetzt hoffen wir und beten, zum Treten angetreten und zittern vor der Nacht. Verliern uns in Chimären, vergessen uns zu wehren und kuschen vor der Macht.

Alle:

Vanitas! Vanitatum Vanitas!

Gott Vater:

Wir werden hier auf Erden so schnell nicht göttlich werden, den Himmel nicht verstehn, solang uns immer wieder die Götter, streng und bieder aus unserm Hirn erstehn.

Alle:

Hostiam puram Hostiam sanctam Hostiam immaculatam

Lüstern, zerstörend, wollüstig, giftig, verlockend und grausam, gemein und listig, schleichend, verderblich, noch dazu erblich, Pein muß es bringen, den Körper verschlingen.

Vanitas!

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KNUTBOESER PANIZZA UND RUSHDIE Vom gefährlichen Leben der Schriftsteller in moralischen Zeiten. Es ist wie aus dem Witzbuch: der Psychiater, der ins Irrenhaus kommt. Oskar Panizza, nachdem er von der Schule verwiesen worden war, machte später das Abi­ tur, dann das Examen mit summa cum laude als Mediziner und arbeitet zwei Jahre als Nervenarzt in der Münchener Kreis-Irrenanstalt, die er aus gesundheitlichen Gründen - er selbst nannte seine Krankheit: gemütische Depression - und wegen einiger Auseinandersetzungen mit seinem Vorgesetzten verließ. Mehr als die Medi­ zin aber interessierte ihn ohnehin die Schriftstellerei. Er bekam bald durch den Schriftsteller Michael Georg Conrad Kontakt zu der »Gesellschaft für modernes Leben«. Dort hielt Panizza einige Vorträge, darunter den über »Genie und Wahn­ sinn«. Sein Vater hatte auf dem Totenbett die Mutter davon entbunden, den Sohn Oskar katholisch erziehen zu lassen. Das gab viele Schwierigkeiten, sogar Prozesse, so daß die Mutter mit dem Sohn aus dem süddeutschen Bad Kissingen ins Preu­ ßische hatte ziehen müssen, um den üblen Nachstellungen zu entgehen. Panizza, als Protestant dann erzogen - er lebte später, als er in München ins Gymnasium ging, im Pfarrhaus seines Onkels und die Mutter wollte gern, daß er Pfarrer wird kannte keinen größeren Feind als den Papst und die katholische Kirche. Bevor er das Stück, Das Liebeskonzil, das ihn berühmt machte, schrieb, hatte er einige Aufsätze und Polemiken veröffentlicht, die allesamt schon skandalträchtig waren. Die unbeßeckte Empfängnis der Päpste erschien 1893 in Zürich. Panizza hatte den fiktiven Bru­ der Martin zu ihrem Autor erklärt. Er selber zeichnete als Übersetzer. Die Schrift wurde beschlagnahmt und für das Deutsche Reich verboten. Auch das nächste Buch Der teutsche Michel und der römische Papst, das ein Jahr später erschien, wurde beschlagnahmt. Dann, imjahre 1894, erschien, ebenfalls in Zürich, Das Liebeskonzil, dessentwegen er wegen »Vergehens wider die Religion« zu einem Jahr Gefängnis verurteilt wurde, was ihm breiteste Aufmerksamkeit, insbesondere unter seinen schriftstellerischen Kollegen, einbrachte. Er büßte die Strafe in Amberg ab, schrieb dort die Dialoge im Geiste Huttens. Er ging nach Zürich, dann nach Paris und kam im Jahre 1901 nach München zurück, um sich dort dem Gericht zu stellen. Nach vier­ monatiger Haft wurde er in die oberbayerische Kreisirrenanstalt eingeliefert. Im Gutachten heißt es: Panizza leidet an systematischen Lerfolgungs- und Förderungsideen, denen er völlig hilflos und unbelehrbar gegenübersteht. Mit seinem Einverständnis wurde Panizza in die Nervenheilanstalt Herzoghöhe beiBayreuth verlegt. Die Mutter ließ ihn entmündigen. Bis zu seinem Tode am 28. September 1921 lebte Panizza in der Nervenklink. Wer sich genauer informieren möchte, über sein Leben, über sein Werk und über seine Stellung im Kreise der Münchener Modernen, wer mehr wis­ sen will über die literarische und philosophische Tradition, die er mit seiner schrift­ stellerischen Arbeit fortsetzen wollte, sollte unbedingt das Buch von Michael Bauer lesen: Oskar Panizza - Ein literarisches Porträt, Literatur als Kunst, Eine Schriften-

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reihe herausgegeben von Walter Hollerer im Carl Hanser Verlag, München 1984. Das Liebes­ konzil ist neuerdings wieder, aus Anlaß der Premiere des Stückes im Berliner Schil­ ler-Theater, im Luchterhand Literaturverlag veröffentlicht worden. Die anderen Schriften erscheinen nach und nach im Matthes & Seitz Verlag. Kurz nachdem wir die Premiere am Schiller-Theater herausgebracht haben (Regie Franz Marijnen, Musik Konstantin Wecker), erließ der Ayatholla Khomeini den Befehl, den Autor Rushdie zu töten, da der sich in seinem Roman Satanische Verse gegen die Religion vergangen habe und deshalb mit dem Tode zu bestrafen sei. Oskar Panizza wurde zwar nicht mit dem Tode bestraft, er hatte nur sein Leben in einer Nervenheilanstalt zu verbringen. Einer der Geschworenen, die über sein Schicksal zu urteilen hatten, sagte aber einem Münchener Journalisten: »Wenn der Hund in Niederbayern verhandelt würde, der kam’ nicht lebendig vom Platz.« Die Empörung, daß der Schrifsteller Rushdie wegen seines Romans Satanische Verse getötet werden soll, ist weltweit. Europäische und amerikanische Intellektuelle und Schriftsteller haben protestiert. Sie haben die Meinungsfreiheit verteidigt und ver­ langt, daß niemand seiner Meinung, auch seiner veröffentlichten Meinung wegen, Schaden an Leib und Seele nehmen dürfe. Yaak Karsunke hat in einer Rede inBerlin den Befehl Rushdie zu töten mit den Befehlen der Nazis verglichen, die in den drei­ ßiger Jahren die Werke mißliebiger Schriftsteller ins Feuer warfen und sie selbst, wenn sie nicht rechtzeitig das Land verließen und in die Emigration gingen, in Gefängnisse und Konzentrationslager einsperrten, wo sie häufig ermordet wurden. Der Befehl aus Teheran, Rushdie zu ermorden, weil er gegen die Gesetze des Islam verstoßen habe, ist, in jedem Fall aus der Sicht der aufgeklärten Amerikaner und Europäer, selbst ein Verbrechen, so wie es die Verordnungen der Nationalsozialisten waren, auf deren Geheiß hin Millionen Menschen ihrer Religion, ihrer Weltan­ schauung wegen getötet wurden. Und natürlich ein ebensolches Verbrechen, wie es ein Verbrechen war, als im Mittelalter die Inquisition wütete und mit perverser, sadistischer Phantasie Tausende und Tausende auf brutalste Weise folterte und ermordete, weil sie, vermeintlich oder offenkundig, der dogmatischen Ansicht der Kirche widersprachen. Beweise, wenn es denn keine gab, wurden durch Foltern erpreßt. Widerstanden die Delinquenten der Folter, wurden sie in der Regel den­ noch getötet, denn in Wirklichkeit bedurfte es keiner Beweise. Das Wort des Inqui­ sitors hatte absolutes Gewicht. Sein Urteil war Gottesurteil. Dagegen gab es keinen Einspruch, keine Instanz, die sich der Armen hätte erbarmen können, da es gegen Gottes Urteil keine Revision gab. So damals in Europa, so heute im Iran. Und damals schon, im Mittelalter wie auch bei den Nationalsozialisten, beschränkte sich die Verfügungsgewalt nicht auf das eigene Land. Kommandos waren unterwegs und töteten aus dem Hinterhalt. Diese Vorgehensweise beschränkte sich aber nicht nur auf die Inquisition im Mittelalter und auf die Nationalsozialisten. Kommandos waren nicht nur da unterwegs und töteten aus dem Hinterhalt. Stalin ließ Trotzky in Mexiko töten, serbische und palästinische Terroristen sind unter­ wegs und töten politische Gegner. Oppositionelle haben schon immer ihr Leben riskiert, wenn ihre Gegner religiöse oder politische Diktatoren waren. Geheim­ dienste aller Länder wandern auf Geheiß ihrer Regierungen auf dunklen Pfaden

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und töten. Es wird viel gemordet in dieser Welt, sehr viel auch im politischen oder religiösen Namen. Meistens aber geschieht das heimlich im Verborgenen, ohne daß man genau wüßte, auch wenn man häufig ahnen kann, wer denn die Auftraggeber und Täter sind, da in der Regel darauf geachtet wird, daß am Tatort keine Spuren bleiben, die Rückschlüsse liefern könnten, wer denn die Verantwortlichen sind. Alle wissen, daß Staaten Mordaufträge vergeben, wenn sie sich bedroht fühlen. Das wird allgemein billigend in Kauf genommen. Hier aber - im Falle Rushdie - ist die Empörung allgemein, und das mag damit zu tun haben, daß selten ein Todesurteil öffentlich ausgesprochen wird, wie es Khomeini im Falle Rushdie tat. Selten bekennt sich ein Staatsoberhaupt. Und die Ursache der allgemeinen Empörung mag zunächst darin liegen, daß selten zuvor mit solcher Frechheit ein bestimmtes, zivilisatorisch definiertes staatsmännisches Selbstverständnis, das Autorität wie selbstverständlich immer mit Moral gleichsetzt, von einem Staatsoberhaupt mißachtet wurde. Es ist Khomeini piepegal, wie sich nach unserem Verständnis Staatsmänner, zumindest öffentlich, zu verhalten haben. Überhaupt ist ihm vieler­ lei piepegal. Er anerkennt die religiösen und moralischen Werte außerhalb des Islam nicht. Toleranz ist nicht seine Sache. Die Ringparabel, mit der Lessing seinen Nathan die Toleranz unter den verschiedenen Religionen predigen läßt, dürfte er nur lächerlich finden, lächerlich, weil Toleranz für ihn ein Zeichen von Erwei­ chung, Auflösung und Verrat ist. Verrat deshalb, weil der Glaube an die alleinselig­ machende Religion aufgegeben wurde. Ich kann nur andere Götter neben dem meinen akzeptieren, wenn ich, bewußt oder unbewußt, im Glauben an den einen meinen - schon schwach geworden, vielleicht sogar schon irre geworden bin. Der Rechtgläubige, der Starkgläubige kann keine anderen Götter neben dem seinen dulden. Wenn der Rechtgläubige aber keine anderen Götter neben dem seinen dul­ den kann, wie kann er dann Andersgläubige neben sich dulden? Im Mittelalter war die Antwort einfach. Gar nicht. Und der europäische Kolonialismus war ja auch von Anfang an ein wirtschaftlicher und ein religiöser. Die Idee der Mission hat zur Voraussetzung, die Andersgläubigen zu dem einen allseligmachenden, nämlich eigenen Gott zu bekehren - und in schlimmen Zeiten heißt das, daß man sie, falls sie sich nicht bekehren lassen wollen, tötet. Der Missionsgedanke gehört wie selbstver­ ständlich zu unserem Glauben - und ist für uns deshalb vielleicht so selbstverständ­ lich, weil wir ja alle missioniert und bekehrt wurden. Wir selber haben unsere eigene, dunkle, dumpfe germanische Religion mit ihrem wotanischen Donner­ theater, keineswegs immer freiwillig, geopfert und sind Christen geworden. Und was vor langer Zeit uns angetan wurde, daß wir überwältigt wurden, häufig mit Gewalt, haben wir dann in der Folge doch allzugern auch anderen zugefügt. Wir haben ihnen ihre Identität genommen, ihre Tradition, ihre Rituale und Zeichen, so wie uns vor langer, langer Zeit Tradition, Rituale und Zeichen genommen wurden. Das hat nicht nur unsere Wirtschaft gestärkt, sondern auch unsere Vorstellung von unserer Identität. Wir setzen Zeichen unserer Allmacht. Über viele Jahrhunderte hindurch sind wir ausgezogen und haben als Rechtgläubige das Christentum in die Welt exportiert, häufig sehr gewalttätig und blutig. Dabei haben wir auch in Kauf genommen, daß auf bildlichen Darstellungen der Heiligengeschichten die Gesich­

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ter unseres frommen Heldentheaters plötzlich afrikanisch-schwarz, asiatisch-gelb oder lateinamerikanisch-braun wurden. Das hat uns zwar befremdet, aber nicht wirklich gestört, weil im N amen unseres einen Gottes, die Welt nach unseren Wün­ schen, und die waren von Anfang an religiös und wirtschaftlich zugleich, organi­ siert werden konnte. Inzwischen sind wir - die Aufklärung hat da einige Arbeit geleistet - vernünftiger geworden. Wir erobern die Welt subtiler. Mit Exporten, Krediten, Technologien, Popmusik und lifestyle - und für den Notfall, falls es wider Erwarten doch Widerstand geben sollte, haben wir in den Arsenalen genügend Bomben in Reserve - und genügend Stellvertreter, die sich treu und vertrauensvoll unserer Interessen annehmen, damit wir uns - um Gottes Willen - die Finger nicht selber schmutzig machen müssen. Wir könnten ganz zufrieden sein, wenn uns unsere Vernunft, mit deren Hilfe wir uns mühevoll aus der dunklen, dämonischen, mittelalterlichen Enge befreit haben, nicht selber - und mehr und mehr kommen wir darauf - neue Probleme gebracht hätte. Zu viel geht schief, zuviel gerät aus der Kontrolle, zuviel wird zerstört - und langsam müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß die Spesen für den technologischen Fortschritt zu hoch sind, weil wir uns mit der Natur, die wir systematisch zerstören, systematisch selber ausrotten. Adorno und Horkheimer haben das in ihrer Dialektik der Aufklärung alles beschrieben, bis auf ein kleines Detail, nämlich: die schon unheimliche Geschwindigkeit, mit der der Zerstörungsprozeß voranschreitet und die Welt sich zugrunde richtet, die konnten sie damals nicht erahnen. Inzwischen sind wir mit unserer Vernunft, mit ihrer Klugheit,ja gar nicht mehr so glücklich. Im Verlauf der vielen Jahre der Aufklärung hat sie alle metaphysischen Systeme als Lüge und Gaukelwerk durchschaut. Jetzt ist die Welt, zumindet für den aufgeklärten Verstand, gottlos - und wir sind allein mit uns. Dennoch - und daran kommt auch der aufgeklärte Verstand nicht vorbei, gibt es ein metaphysisches Bedürfnis. Es gibt die Sehnsucht nach Erlösung und es gibt vor allem das Bedürfnis nach Sinnzusammenhang. Den können wir nicht aus uns stiften. Was uns gelingt, ist tatsächlich sehr irdisch. Wir können uns fortzeugen, ohne zu wissen: wozu, weil das Leben allein noch keinen Wert in sich birgt. Und unsere Versuche, transzen­ denzlos, ohne Gott, Werte zu etablieren, die Moral etablieren könnten, die für alle gelten, sind eher rührend und hilflos. Man sehe sich doch einmal an, wie verzweifelt sich die Grundwertekommissionen aller Parteien in der Bundesrepublik abmühen, einen gesellschaftlichen Konsens zu schaffen, der ein moralisches Zusammenleben garantieren könnte. Überhaupt: wenn man sich auch nur ein bißchen in der Geschichte der Philosophie umsieht, muß die Vernunft erschrecken. Denn was sie sich in der Neuzeit eitel zugute hält - daß sie die metaphysischen Systeme mit ihren transzendental verordneten Gesetzen, endlich als Lügengespinst durchschaut hat, daß sie sich befreit hat aus absurden Zwangssystemen und mündig geworden ist, das alles wußten die Alten längst. Platon zum Beispiel. Der war schon so aufgeklärt wie wir, erkannte aber klug, daß die Aufklärung den Menschen in einen orientie­ rungslosen Wertpluralismus treiben würde mit der Konsequenz, daß das gesell­ schaftliche Zusammenleben unmöglich würde, weil den vielen Ansprüchen der Vielen nicht durch ein übergeordnetes allgemeingeltendes Gesetz Einhalt geboten

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werden könnte. Also hat Platon, als er die Götter als Proj ektion unserer Phantasmen durchschaut hatte, genau auf diese Projektion spekuliert. Er führte die Götter rigo­ ros wieder ein, schrieb die alten Göttergeschichten um, zensierte sie, damit die den neuen Ansprüchen genügen konnten. So zum Beispiel strich er aus der Mythologie all die Geschichten, in denen die Götter sich wollüstig miteinander vermischten, weil er der Ansicht war, solche Geschichten könnten die leicht verführbaren Men­ schen zur schlechten Nachahmung inspirieren. Das heißt: Platon setzte aus Ver­ nunftgründen auf die Götter, von denen er dann, wie er es ihnen zuvor zugeschrie­ ben hatte, Gesetz und Ordnung, Moral und Werte als absolute Werte zurück­ bekam, denen die vielen, weil es jajetzt Gotteswille und damit absolute Forderung war, unbedingt, ohne daran zweifeln zu dürfen, folgen mußten. Platon setzte ratio­ nal auf die Irrationalität, vernünftig auf die Unvernunft, durchaus mit diesseitigem Interesse auf das Jenseits, das er entsprechend seiner Vorstellung vom Diesseits aus­ malte. Die politischen und sozialen Konsequenzen kann man bei ihm auch schon nachlesen. Er, wie alle ihm nachfolgenden Utopisten - sei es Thomas Morus oder Campanella - konnten sich den glücklichen Staat und das glückliche Gemeinwe­ sen, in dem glückliche Bürger leben können sollen - nur als Polizeistaat vorstellen, in dem das Leben streng kontrolliert undjede Verfehlung gegen das Gesetz rigoros bestraft wird. Unsere utopischen Wunschstaaten waren alle Terrorstaaten. Das muß man im Hinterkopf haben, wenn man von der Warte unserer Vernunft urteilt und einen wie Khomeini verurteilt. Dazu muß man sich erinnern, daß der Islam, anders als immer wieder behauptet wird, ja seine Epoche der Aufklärung auch schon gehabt hat. Es istja nicht so, wie häufig unterstellt wird, daß der Islam, weil er die jüngste der großen Religionen ist, sozusagen naturgemäß phasenver­ schoben jetzt sein Mittelalter durchmache - so wie wir das unsere durchgemacht haben. Erinnern wir uns doch nur kurz daran, daß die gesamte klassische, grie­ chische Philosophie über lange, lange Zeitabschnitte verloren war und für uns geret­ tet wurde von arabischen Philosophen und erst durch sie über Afrika und Spanien wieder zu uns zurückkam. Ohne die Araber wäre die Hochblüte des klassischen europäischen Denkens in dunkle Vergessenheit geraten. Al Kindi z. B., geboren im Jahre 800 in Basra war Mathematiker und Astronom und Philosoph. Er war der erste arabische Denker, der die Werke des Aristoteles ins Arabische übersetzte und die aristotelisch-neuplatonische Philosophie mit dem Islam verbinden wollte. Was er wollte war: die Grundgedanken des Korans von der Allmacht Gottes mit dem Postulat der menschlichen Willensfreiheit in Einklang zu bringen, er wollte eine Verbindung von Vernunft und Offenbarung schaffen - und ging damit folge­ richtig den Weg weiter, den vor ihm Platon und Aristoteles beschritten hatten. 200 Jahre später, im 10. Jahrhundert, ging in Bagdad der Philosoph Al Fabri soweit, der Vernunft vor der Offenbarung den Vorrang einzuräumen. Und Ibn Sina gestand der intuitiven Erkenntnis höheren Rang als der methaphysischen zu. Da waren sie in der Phase ihrer Aufklärung und erlitten schon die Folgen der Dialektik der Auf­ klärung. Dagegen setzte sich Al-Ghasali, der bedeutendste Theologe des Islam, zur Wehr. Er lehnte die Idee einer außergöttlich-ewigen Materie strikt ab und wandte sich vehement gegen die Auffassung, die Welt sei eine Emmanation aus Gott.

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Durch strenge religiöse Übungen und Pflichten versuchte er, den spekulativen und mystischen Tendenzen der Philosophen, durch die er das sinnvoll geordnete Zusammenleben gefährdet sah, Einhalt zu gebieten. Im Osten ging damals der Stern der Aufklärer unter. Nur im Westen konnte sich der strenggläubige Al-Ghasali nicht durchsetzen. Ibn Ruschd lieferte in enger Verindung mit der jüdischen Philosophie scharfsinnige Kommentare zu Aristoteles und hielt am Primat der Ver­ nunft fest - und beeinflußte damit dieEntwicklung des neuzeitlichen europäischen Denkens nachhaltig. Was hat das alles mit Khomeini zu tun, der den Schrifsteller Rushdie töten lassen will? Plötzlich schickt sich einer an, so wie wir damals, mit genau formulierten reli­ giösen Vorstellungen die Welt zu erobern. Nennt uns feige, ausgedörrt, schwach, verlogen, unmoralisch, korrupt, mit einem Wort: ungläubig. Und will seine Rechtgläubigkeit entschlossen, auch mit Waffengewalt, mit Brutalität und Terror nach innen wie nach außen, durchsetzen. Das mag uns erschrecken, dürfte uns aber, wenn wir unsere eigene Geschichte anschauen, nicht befremden. Die Frage ist: können wir das verurteilen? Die Antwort ist einfach: Natürlich können,ja, wir müssen das sogar verurteilen, doch wir müssen wissen, daß die Kriterien unserer Urteile nur unsere Kriterien sind, die einem Mann wie Khomeini lächerlich und läppisch erscheinen müssen. Das heißt: es gibt keine Möglichkeiten der rationalen Argumentation mehr. Es gibt Unzugänglichkeiten auf beiden Seiten - und aller­ dings Fakten, nach unserem Verständnis von Moral und Politik barbarische, bru­ tale, verbrecherische Fakten. Nur: Khomeini interessiert unsere Einschätzung nicht. Und wir müssen wissen, wenn wir der Sache Einhalt gebieten wollen, müs­ sen wir selber zu dem einen bewährten Mittel zurückgreifen, das schon immer komplexe, komplizierte, unlösbare Konflikte gelöst hat: die Gewalt. Wir selber müßten gewalttätig werden, um diese Gewalttätigkeit zu beenden. Maßstab für die Moral unseres Vorgehens ist in dem Fall, da wir nicht so töricht sein werden und uns selber auf das Podest der ideologischen Dogmatik begeben werden, die Statistik. Wieviele Opfer kostet das, um wieviele mögliche Opfer vor dem sicheren Tod, vor Folter und Demütigung zu bewahren. Von wirtschaftlichen Interessen, die die Überlegungen nachhaltig beeinflussen, möchte ich in diesem Zusammenhang gar nicht sprechen. Nun ist es aber so, daß viele Millionen Menschen mit Khomeinis Lesart des Islam einverstanden sind. Daß ihr metaphysisches Bedürfnis ein Ziel gefunden hat, von dem her sie ihren Sinn erfahren. Und wenn Rushdie in seinem Buch Satanische Verse Kritik am Islam übt, und den verantwortlich macht für die Verbrechen der Mullahs, dann tut er das aus einem Blickwinkel von außen, der nicht der der sich Rechtgläu­ big nennenden ist - und er trifft sie im Zentrum ihres Selbstverständnisses, das ihnen ihr Leben erst wert macht. Das kann er natürlich tun, muß aber wissen, daß er sich in Gefahr begibt, in der er, einem deutschen Sprichwort zufolge, umkommt. Er hat sein individuelles Recht auf Meinungsäußerung gegen das allgemeine Recht einer Gemeinschaft gesetzt, die in dem, was er kritisiert, ihr Selbstverständnis fin­ det. Hier steht subjektives Recht gegen allgemeines Recht. Und die Frage ist, ob das allgemeine nicht über dem subjektiven steht? Natürlich, das wissen wir aus unserer

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Geschichte, gibt es nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht zum Widerstand, wenn das allgemeine Recht verbrecherisch ist. Dann muß das Subjekt versuchen, Widerstand zu leisten, damit dem Terror ein Ende gemacht wird. Aber wir wissen ebenso, wie gefährlich das ist, weil ja ein jeder auch für krause, verworrenen Ziele subjektiv sein Recht beanspruchen kann. Kant hat sich - wie übrigens fast alle Phi­ losophen, die sich mit dem Recht auf Widerstand beschäftigt haben, sehr zurück­ haltend geäußert. Er verbietet sogar jede Revolte, jede Revolution, weil er eben das allgemeine über das subjektive Recht setzt. Und er akzeptiert die Revolution nur, wenn sie sozusagen spontan von vielen - und damit schon wieder als allgemein mit allgemeinem Recht - durchgeführt wird. Wenn sie aber erfolgreich ist, müssen sich alle ihren neuen Gesetzen unterordnen. Rushdie muß gewußt haben, daß er sich, wenn er sich auf sein subjektives Recht beruft, auf ein gefährliches Pflaster begibt. Er hat das in Kauf genommen. Seine Ver­ teidiger sagen, das darf nicht in Kauf genommen werden. Wer seine Meinung sagt, darf - und so steht es in unserem Grundgesetz - dererwegen nicht verfolgt und schon gar nicht getötet werden. Also ist unsere Kritik an Khomeini und unser Widerstand gegen sein Terrorsystem richtig. Und dennoch, so einsichtig das auch ist, geht die Sache nicht restlos auf. Wer im Mittelalter Kritik an der Inquisition hätte üben wollen, der hätte das tun müssen, indem er die perversen Machtgelüste der Kirche beschrieben hätte, nicht aber in dem er die religiösen Grundlagen des christlichen Glaubens beschrieben hätte, weil der zwar die Ausgeburt des perversen Schreckens legitimieren sollte, nicht aber ursächlich dafür hätte verantwortlich gemacht werden können. Wer die Greuel des Stalinismus beschreibt und verurteilt, kann das nicht tun, indem er - wie es zum Beispiel die sogenannten »Neuen Philosophen« in Frankreich getan haben - den gesamten Marxismus-Leninismus als Theorie kritisiert und verantwortlich macht für die Exzesse der stalinistischen Gewaltherrschaft. Wer Khomeini kritisieren will, soll das tun. Er muß dann aber politisch gegen ihn und nicht religiös gegen Moham­ med argumentieren. Sicherlich wird er einige Ausflüge in die Psychopathologie des Gewaltherrschers unternehmen müssen, und sicherlich werden die Erkenntnisse der Massenpsychologie herangezogen werden müssen, um das Phänomen seiner Anziehungskraft auf die Massen zu beschreiben. Aber so wie Khomeinis Wirkun­ gen eminent politisch sind, so müssen sie auch - wenn man nicht sein Religionsver­ ständnis als Religionswissenschaftler oder Andersgläubiger kritisieren will - poli­ tisch beschrieben werden. Rushdie, für dessen freie Meinungsäußerungen plädiert wird, hat Stellung bezogen. Aber er hat Politik mit Religion verwechselt, hat den islamischen Sack geschlagen, und den fundamentalistischen Esel gemeint. Er hat die vielleicht perverse Auslegung des Islam mit dem Islam in eins gesetzt, indem er nicht Khomeini sondern Mohammed kritisiert hat. Natürlich ist sein Anliegen politisch. Und so ist er von Khomeini ja auch verstanden und benutzt worden. Rushdie ist für. Khomeini politisches Kapital. In der politischen Auseinanderset­ zung ist Gewalt an der Tagesordnung. Das muß man beklagen, natürlich, doch es wäre naiv, wenn man glaubte, man könne dringend nötige politische Auseinander­ setzungen führen, und sich gleichzeitig, indem man sich auf religiöse oder poe­

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tische Metaphern zurückzieht, der wirklichen politischen Auseinandersetzung entziehen. Es ist schon richtig, es gibt Situationen, wo Schrifsteller verklausuliert metaphorisch schreiben müssen. In diesem Falle aber wäre das offene Visier mög­ lich und nötig. Die Auseinandersetzung, die Khomeini provoziert, findet nicht im Feuilleton, sondern auf Schlachtfeldern, auf militärischen, ökonomischen und ideologischen statt, und, wenn man sie kommentieren will, dann im Ressort Poli­ tik, in dem sich allerdings Schriftsteller zu Wort melden müssen, auch mit Roma­ nen, Stücken und Essays. Panizza war da klarer, eindeutiger und politischer. Er griff nicht die Religion an, sondern den Mißbrauch, den die Kirche mit dem religiösen Bedürfnis der Gläubi­ gen betrieben hat. Er kritisiert weder das religiöse Bedürfnis, noch kritisiert er die religiösen Vorstellungen der Gläubigen. Er geht nicht in blasphemischer Absicht gegen die christliche Bilderwelt vor, sondern in satirischer gegen den Mißbrauch dieser Bilderwelt durch die Kirche als politischer Instanz, die schamlos zu bestimm­ ten Zeiten auf das metaphysischeBedürfnis der Mitglieder der Gemeinde spekuliert und ihre Angst und Furcht und Rechtgläubigkeit schamlos ausgenutzt hat. Seine Polemik richtet sich nicht gegen den christlichen Glauben. Er war viel zu auf­ geklärt, als daß er nicht gewußt hätte, daß man weder mit Vernunftargumenten noch mit satirischem Spaß der Gläubigkeit beikommen könne. Außerdem sah er überhaupt keine Veranlassung dazu, das zu tun, weil er das religiöse Bedürfnis respektierte und akzeptierte. Sehr wohl aber sah er eine Veranlassung, mit all seiner Verstandeskraft, seinem Witz und seiner satirischen Polemik Perversion, Miß­ brauch, Anmaßung, Verlogenheit und Betrug der weltlichen Institution Kirche, die sich mit dem heiligen Mäntelchen tarnt, zu geißeln. Er beschreibt die Verbre­ cher, die Mörder, die Lüstlinge und Strolche, die unter dem Schutz der Kirche, in ihrem Namen mit ihrem Wissen und ihrer Billigung, ihr Unwesen trieben. In sei­ ner Verteidigungsrede geht er genau darauf ein, wenn er den Geschworenen mit­ teilt, daß es ihm nicht aufgotteslästerliche Dinge und Unßätigkeiten ankam.Er sagt: Ich habe die christlichen Götter herabgewürdigt, und habe sie mit voller Absichtlichkeit herabgewürdigt, weil ich sie im Spiegel des 15. Jahrhunderts sah; weil ich sie durch das Papstglas Alexanders VI anschaute. Unsere Vorstellungen, meine Herren, überdas Göttliche sindja in unserem Denken beschlossen. Was da droben über uns in Wirklichkeit vor sich geht, das wissen Sieja so wenig wie ich. Sind unsere Vorstellungen über das Göttliche erhaben, so sind sie eben in unserem Denken erhaben; und sind sie lächerlich, so sind sie in unserem Denken lächerlich. Kommt nunjemand, wieso ein liederlicher Papst, und ändert unsere Vorstellungen überdas Göttliche aus erhabenen zu lächerlichen um, so ist das ein Prozeß, der in unserem Denken vor sich geht, und hat mit dem, was wirklich über uns im Raume besteht, mit dem Transzendentalen, nichts zu tun. Wenn ich das Göttliche angriff, so griffich damit nichtjenen überirdischen Funken an, der im Herzen einesje­ den Menschen schlummert, sondern ich griffdas Göttliche an, das in den Händen Alexanders VI. eine Fratze geworden war. Panizza hat sehr genau unterschieden zwischen Politik und Religion. Sein Interesse und seine phantasievolle, scharfsinnige Polemik richtet sich ausdrücklich gegen die politische Macht der Kirche - und deshalb wurde er bestraft. Er hatte den direkten Weg gewählt. Ziel seines Spottes, seiner Agression und Wut, seines ganzen Denkens war es, seine Leser den politischen Machtmiß-

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brauch vorzuführen. Und viele seiner Leser folgten ihm dahin. Theodor Fontane schrieb am 8. August 1895 an Maximilian Harden:... Panizzas Buch hat seine Berechti­ gung in der zum unerbitterlichen Dogma erhobenen Legende. Wer mir zumutet, daß ich die Zeu­ gungsgeschichte Christi glauben soll, wer von mir verlangt, daß ich mir den Himmel in Überein­ stimmung mit den präraphaelitischen Malern ausgestalten soll: Gott in der Mitte, links Maria, rechts Christus, Heiliger Geist im Hintergrund als Strahlensonne, zu Füßen ein Apostelkreuz, dann ein Kranz von Propheten, dann eine Girlande von Heiligen, - wer mir das zumutet, der zwingt mich zu Panizza hinüber, oder läßt mich wenigstens sagen: »Wie’s in den Wald hinein­ schallt, so schallt es auch wieder heraus.« 1983 verweigerte Bundesinnenminister Zimmermann die Auszahlung der letzten Rate an den Filmemacher Herbert Achternbusch für seinen Film Das Gespenst. Unter anderem sagte er in seiner Begründung: Ich bin als Bundesinnenminister auchfür die Probleme unserer religiös bestimmten Bevölkerungsgruppen zuständig... Es geht hierbei nicht um eine Beurteilung von Kunst odergar um Zensur,sondern darum, daß ein Film nicht aus öffentlichen Mitteln gefördert werden daß dergegen das religiöse Empfinden eines Großteils der deutschen Bevölkerung gerichtet ist. Rushdies Buch ist zweifellos auch gegen das religiöse Empfinden eines Großteils der islamischen Bevölkerung gerichtet; nicht gegen deren religiöses Bedürfnis, son­ dern gegen den religiösen Irrweg, den sie, als sie Khomeini folgten, beschritten hat. Und deshalb ist weitaus interessanter noch als die Figur Khomeini die Tatsache, daß einer wie er eine so große Anhängerschaft findet. Dies ist ein Hinweis darauf, wie groß das metaphysischeBedürfnis der Menschen ist, wie groß die Sehnsucht ist, mit sicheren Werten und Urteilen zu leben, geborgen zu sein im festen Bündnis, das durch klare Ordnungsstrukturen gekennzeichnet ist. Da gibt es keine Unsicherheit mehr. Hier ist alles Gewißheit. Es gibt kein Zweifel und kein Schwanken, es gibt das Dogma, und dieses Dogma ist vielen soviel wert, daß die Gläubigen dafür leichten Herzens nicht nur das Leben anderer sondern auch ihr eigenes Leben hingeben, weil das Versprechen auf Erlösung so vielversprechend und verlockend ist. Der Fundamentalismus ist die radikale Antwort auf die allgemeine Sinnkrise. Unsere Zivilisation, die ihren Wert im Fortschritt sieht, bekommt plötzlich aus einer Ecke Konkurrenz, aus der keine Bedrohung mehr erwartet wurde. Das Zeit­ alter der Ideologie, so haben wir das gelernt, sei vorbei. Das ist offensichtlich ein Irr­ tum. Die Welt reideologisiert sich in erschreckendem Ausmaß allerorten - nicht nur im Iran - und wird zwangsläufig intoleranter und gefährlich, weil es keine rationale Auseinandersetzung mehr gibt. Das Dogma will keinen Dialog und keine Verständigung. Darauf müssen wir eine Antwort finden, damit die neue Irrationali­ tät nicht, weil sie sich metaphysisch - transzendental tarnt, zum Rattenfänger wird und uns zu Ratten macht, die gehorsam folgen. Deren Ende ist auch nur allzube­ kannt.

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BIBLIOGRAPHIE Feuchtwanger, Lion: Erfolg. Drei jahre Geschichte einer Provinz. Berlin: Kiepen­ heuer 1930 Fontane, Theodor: Briefe an Maximilian Har­ den. - In: Merkur 10 (1956) H. 11 vom November 1956 Goldschmidt, Victor: Seiende und Werdende. (Versuche von V. G.) Leipzig: Xenien 1912 Halbe, Max:Jahrhundertwende. Geschichte meines Lebens 1893-1914. Danzig: Kasemann 1935 Harden, Maximilian: »Auf der Anklagebank«. In: Die Zukunft 7 (1898) Nr. 7 vom 12. Dezember 1898 Krell, Max: Das alles gab es einmal. Frankfurt/M.: Scheffler 1961 Lessing, Theodor: Der Fall Panizza. Eine kri­ tische Betrachtung über Gotteslästerung und künstlerische Dinge vor Schwurgerichten. München: Wohlfahrt 1895 Lessing, Theodor: Einmal und nie wieder. Lebenserinnerungen. Gesammelte Schriften, Bd.l, Prag 1935 Lippert, Friedrich u. Stobbe, Horst (Hg.): In memoriam Oskar Panizza. München: Stobbe 1926 Mann, Thomas: »Das Liebeskonzil« - In: Das Zwanzigste Jahrhundert 5 (1895), April bis September 1895 Müller, Heiner: Panizza oder die Einheit Deutschlands. - In: Oskar Panizza: Dialoge im Geiste Huttens. München: Matthes & Seitz 1979

Panizza, Oskar: Das Liebeskonzil. Eine Him­ melstragödie in fünf Aufzügen. Dritte, durchgesehene und vermehrte Auflage. Zürich: Schabelitz 1897 Panizza, Oskar: Ein Jahr Gefängnis. Mein Tage­ buch aus Amberg. - In: Oskar Panizza: Das Liebeskonzil und andere Schriften. Neuwied a. Rhein/Berlin: Luchterhand 1964 Panizza, Oskar: Meine Verteidigung in Sachen »Das Liebeskonzil«. Nebst dem Sachverständigen-Gutachten des Dr. M. G. Conrad und dem Urteil des k. Landgerichts München I. Zürich: Schabelitz 1895 Panizza, Oskar: Deutsche Thesen gegen den Papst und seine Dunkelmänner. Berlin: Nordland 1940 (Eigentlich: Der teutsche Michel und der römische Papst. Altes und Neues aus dem Kampfe des Teutschtums gegen römischwälsche Überlistung und Bevormundung in 666 Tesen und Zitaten. Leipzig: Friedrich 1894) Winau, Rolf: »Amors vergiftete Pfeile. Die Lek­ tionen der Syphilis.« - In: Kursbuch Nr. 94 vom November 1988 Wrobel, Ignaz (d.i. Kurt Tucholsky): »Panizza« - In: Die Weltbühne 15 (1919) Nr. 38 vom 11.9.1919

Fotos Seiten 216/217 Anneliese Heuer

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INHALTSVERZEICHNIS Oskar Panizza: Die Selbstbiographie

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Theodor Lessing: Der Fall Panizza

15

Verhör vor dem königl. bayerischen Landgericht

39

Oskar Panizza: Meine Verteidigung in Sachen »Das Liebeskonzil«

51

Michael Georg Conrad: Aus dem Sachverständigen-Gutachten

69

Das Urteil

73

Maximilian Harden: Auf der Anklagebank

75

Oskar Panizza: Ein Jahr Gefängnis

85

Oskar Panizza: Vorwort zur dritten Auflage des Liebeskonzils

98

Kurt Tucholsky: Panizza

99

Kritische Stimmen zum Fall Panizza

105

Theodor Fontane: Briefe an Maximilian Harden

120

Theodor Lessing: Einmal und nie wieder

121

Thomas Mann: Das Liebeskonzil

123

Max Krell: Das Haberfeldtreiben

124

Lion Feuchtwanger: Erfolg. Drei Jahre Geschichte einer Provinz

126

Max Halbe: Jahrhundertwende. Geschichte meines Lebens

126

Victor Goldschmidt: Oscar Panizza - Das Liebeskonzil

130

Oskar Panizza: Schande und Wollust

138

Oskar Panizza: Maria

155

Aussagen der Arzte über Panizzas Geisteskrankheit

181

Aus den Schriften von Panizzas Mutter

183

Oskar Panizza: Ein Poet, der umsunst gelebt hat

192

Oskar Panizza: Die geheime Krankheit

193

Heiner Müller: Panizza oder die Einheit Deutschlands

194

Rolf Winau: Amors vergiftete Pfeile

197

Konstantin Wecker: Gedichte zum »Liebeskonzil« in Berlin

213

Knut Boeser: Panizza und Rushdie

220

Bibliographie

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Inhaltsverzeichnis

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Im Jahre 1893 schrieb der Psychiater Dr. Oskar Panizza sein »LIE­ BESKONZIL, eine himmlische Tragödie in vier Aufzügen«, eine radikale Satire aufdie sittliche Verkommenheit der Kirche mit hef­ tigen Angriffen auf das Papsttum. Panizza gehörte zum Kreis der Münchner Modernen, hatte einige Erzählungen in der Nachfolge E.T. A. Hoffmanns und Poes und einige Aufsätze über »Genie und Wahnsinn« veröffentlicht. Das »Liebeskonzil« wurde in der Schweiz veröffentlicht, doch in München wurde Panizza angeklagt und zu einemjahr Gefängnis verurteilt. Prominente Kollegen wie Tucholsky, Bierbaum, Conrad und Fontane setzten sich für ihn ein. Er aber mußte seine Gefängnisstrafe abbüßen - obwohl das Gericht erst auf besondere Bitte um Amtshilfe zwei Kollegen von der Poli­ zei in Leipzig fand, die an diesem Stück dermaßen Anstoß nahmen, daß sie Anzeige wegen Blasphemie gegen den Schriftsteller erho­ ben. Panizza ist inzwischen eine Legende. Nach und nach erschei­ nen erst heute seine Werke - und man sieht, daß er zu den bedeuten­ den, scharfzüngigen, radikalen deutschen Schriftstellern um die Jahrhundertwende zählt, den zu entdecken allerhöchste Zeit ist. In diesem B uch wird der FALL PANIZZA dokumentiert. Seine Vertei­ digungsrede, die Anklage, das Gutachten, das Urteil mit Begrün­ dung, sein von ihm selbst verfaßter, später allerdings korrigierter Lebenslauf, Kritiken, all das, was den FALL PANIZZA zu einem juristischen und politischen Skandal machte, wird zum erstenmal nach vielen Jahren wieder veröffentlicht. Daneben enthält das Buch einen Beitrag von Heiner Müller, Auf­ führungsfotos der Inszenierung am Berliner Schiller-Theater und die Texte der eigens für diese Aufführung von Konstantin Wecker komponierten Songs.'

Kurt Tucholsky über Oskar Panizza: »Der frechste, kühnste, der geistreichste und revolutionärste Prophet seines Landes.«

ISBN 3-926175-60-5

EDITION HENTRICH BERLIN