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German Pages 480 Year 2017
Gabriele Weiß (Hg.) Kulturelle Bildung – Bildende Kultur
Pädagogik
Gabriele Weiß (Hg.)
Kulturelle Bildung – Bildende Kultur Schnittmengen von Bildung, Architektur und Kunst
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Inhalt Vorwort | 11 Kulturelle Bildung – ein Containerbegriff? Einleitung Gabriele Weiß | 13
Begriffliche Ver(un-)sicherungen Muss das sein? Zur Anthropologie der Kulturellen Bildung Johannes Bilstein/Jörg Zirfas | 29
Welcher Kulturbegriff für kulturelle Bildung? Wolfgang Bergem | 51
Zwischen ästhetischer Erfahrung und Reflexion Überlegungen zum Bildungspotenzial kultureller Bildung Stephanie Günther | 63
Reflexionen der Forschung zur Kulturellen Bildung Dimensionen und Grenzen des (Er-)Messens Stichwor te zur kulturellen Bildung Christiane Thompson | 75
Gelingensbedingungen Kultureller Bildung untersuchen – am Beispiel der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation des Landesprogramms »Jedem Kind seine Kunst« Simone Kosica | 89
Rhetorik – Bildung – Kultur Ein Vorschlag zur grundlagentheoretischen Veror tung Tobias Schmohl | 101
Bildende Kultur – Architektur Baukultur und ihre Vermittlung Hildegard Schröteler-von Brandt | 117
Baukulturelle Bildung Impulse für ein Bildungskonzept Stephanie C. Reiterer | 131
Passung durch Spiel RAUM – Reframing Learning Inklusion — Wie kann Architektur, die räumliche Lernumgebung den Umgang mit Heterogenität erleichtern? Ansätze und ein Pilotprojekt in der Phase 0 Andreas Hammon | 141
Kunst- und Kulturvermittlung in Museen Zugänge zur kulturellen Bildung im Museum – am Beispiel von ausstellungsbegleitenden Vermittlungsangeboten für Erwachsene Inga Specht | 163
Kinder, Kisten und Kulturen – transkulturelle Bildung in der Kunstvermittlung? Magdalena Eckes | 175
»Wie ich mit Primanern Gemälde der Casseler Galerie besprach« Schulische Kunstbetrachtung im wilhelminischen Kaiserreich am Beispiel Wilhelm Fechner Andreas Zeising | 185
Technische und ästhetische Sachlernprozesse im Museum als Ausgangspunkt kultureller Bildung für Grundschulkinder Swaantje Brill/Susanna May-Krämer/Andreas Nießeler/Bernd Wagner | 197
Schule und Unterricht Eine bildende Wirkung der Schule? Identitätsentwicklung und schulische Kultur Julia Lipkina | 211
Schwellen zur Schule Beiträge theaterpädagogischer Praxis für die Er forschung schulischer Bildungsprozesse David Unterhuber | 227
Bildung – Kultur und Öffentlichkeit Zur politischen Relevanz ›einheimischer Begriffe‹ am Beispiel einer Musikschule in der Provinz Henning Schluß/Verena Schluß | 239
Lehrerbildung Theaterkunst in der universitären Lehrerbildung Nathalie Heiligtag | 253
Fortbildung und kulturelle Schulentwicklung Empirische Befunde aus dem Landesprogramm KulturSchule Hessen Michael Retzar | 263
Islandpullis, Filzdecken mit roten Streifen, geometrische Kekse Zum Potential kreativer und künstlerischer Er findung von Vermittlungssituationen vor zeitgenössischer Kunst Anja Ciupka | 273
Außerschulische Lernorte Die Ästhetisierung der Wirklichkeit als Problematik schulischer und außerschulischer Bildung Ein Plädoyer für die Aufwer tung der Kunstpädagogik Alf Hellinger | 289
Bildung – Kultur – Schule Reisen mit und nach Hermann Lietz Annika Blichmann/Sebastian Engelmann | 301
Die kulturelle Dimension des Kirchenraumes in der Wahrnehmung von Schülerinnen und Schülern – eine qualitative Untersuchung Katharina Kindermann/Ulrich Riegel | 313
Pop(ulär)-Kulturelle Bildung Lost in Bildung Olaf Sanders | 327
»Lernen nicht, aber …« – Bildungsprozesse im Breaking Michael Rappe/Christine Stöger | 339
Transkulturelle Bildung im Musikvideo Kleidung als Transgression Nika Daryan/Birgit Althans | 355
Bildung im Supermarkt Eine pädagogische Lektüre von David Wagners Roman ›Vier Äpfel‹ André Schütte | 369
Kulturelle Bildung in Kontexten von Ethik, Politik und Kritik Kulturalisierungskritik als Gegenstand und Aufgabe rassismuskritischer Bildung Lisa Freieck/Tatjana Kasatschenko | 383
Jenseits von Formalästhetik, Stilgeschichte und Meisterschaftsgenealogien? Auf der Suche nach einer repräsentationskritischen Kunstvermittlung Katja Hoffmann | 397
Kultur und Bildung – eine herrschaftskritische Betrachtung mit den Cultural Studies Daniel Krenz-Dewe | 415
Werkzeug, Bild und Grab Hans Jonas’ Kulturanthropologie und ihre ethischen Implikationen Jürgen Nielsen-Sikora | 427
Mit Kultureller Bildung zur Teilhabe Anerkennung, Teilhabe und die Entwicklung des Selbstkonzeptes der Schüler*innen Pädagogische Leitmotive von Förderschullehrer*innen an Schulen mit dem Profilschwerpunkt Kulturelle Bildung Sigrun Mützlitz | 439
Teilhabe an Kultureller Bildung Bildungssprache als Leitvokabel im aktuellen bildungspolitischen und pädagogischen Diskurs Gesa Siebert-Ott | 449
UnVermittelt: Benachteiligungen als Herausforderung für die berufsbildungswissenschaftliche Forschung Ästhetische Zugänge an Berufskollegs? Katharina Gimbel | 461
Autoreninformationen | 473
Vorwort
Die Fakultät Bildung – Architektur – Künste der Universität Siegen praktiziert seit ihrer Gründung 2011 einen regen und produktiven interdisziplinären Austausch zwischen ihren Fachkulturen. Die Studierenden und Wissenschaftler1 der Fakultät entdecken und entwickeln dabei Themenfelder, welche die einzelnen Disziplinen durch vielfältige Blickwechsel inspirieren. Der vorliegende Band geht auf die fakultätsgemeinsame Tagung ›Kulturelle Bildung – Bildende Kultur‹ im April 2016 zurück. Mit ihm sollen einige Schnittmengen solcher Inspiration in ihrer Vielschichtigkeit dargestellt werden. Dabei wurde jedoch auch über die Grenzen der Fakultät und Disziplinen geblickt: Gäste aus anderen Fakultäten und Universitäten haben mit uns das Terrain des Themas erweitert. Schon die erste Tagung der Fakultät präsentierte in dem Band »Raum für Bildung« (2012) eines der aktuellsten Themenfelder. Auch in diesem zweiten Band sollen pädagogische, künstlerische, popkulturelle und architektonische Schlaglichter auf das Thema Kulturelle Bildung – Bildende Kultur geworfen werden. Der Schwerpunkt der Fakultät zum Themenfeld Inklusion entfaltet auch hier sein Potential – und das Motto der Universität Siegen Zukunft menschlich gestalten umrahmt alle Schnittmengen mit einem Ziel. Wir danken allen Teilnehmern an der Tagung für die spannenden Vorträge und Diskussionen, den Autorinnen und Autoren für die Ausformulierung ihrer Beiträge sowie den Helfern bei der Organisation. Unser Dank richtet sich an Frauke Hees, André Schütte, Katharina Miketta, Stephan Schmitz und Imke Nöll für die Hilfe bei der Manuskripterstellung sowie dem transcript Verlag für die gute Zusammenarbeit. Der Fakultät und der Universität danken wir für die Unterstützung der Tagung und des Bandes. Gabriele Weiß & Hildegard Schröteler-von Brandt (Dekanin der Fakultät Bildung, Architektur, Künste) 1 | Wenn von den einzelnen Autorinnen und Autoren nicht anders gehandhabt, ist mit der Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.
Kulturelle Bildung – ein Containerbegriff? Einleitung Gabriele Weiß
Es heißt, Kultur und Bildung seien Containerbegriffe (vgl. Fuchs/Liebau 2013: online). Kombiniert man sie zu Kultureller Bildung oder Bildender Kultur, entstehen noch größere Container. Doch bevor gefragt werden kann, ob Kulturelle Bildung ein Containerbegriff ist, muss geklärt werden, was mit ›Containerbegriff‹ gemeint ist. Dabei stellt sich heraus, dass dieser Begriff gar nicht so einfach zu zuordnen ist. Drei komplexe und sich überschneidende Eigenschaften können gefunden werden. Im Kontext der Diskursanalyse sind Containerbegriffe solche, die viele Attribute enthalten (grünes blatt 2016: online), mit denen sie assoziiert werden. Die einzelnen Merkmale müssen nicht gleichzeitig auftreten, es genügt, dass einige davon wahrgenommen werden, um die Assoziation oder Vorstellung auszulösen, dass es sich um das mit dem Containerbegriff zu bezeichnende Phänomen handelt. Die Internetzeitung »Grünes Blatt« verdeutlicht diese problematische Eigenschaft von Containerbegriffen am Beispiel »Liebe«: Dem Begriff »Liebe« werden u.a. Attribute wie Eifersucht, Sehnsucht, Romantik oder Erregung zugeschrieben. Problematisch wird es, wenn man meint, dass der Begriff für ein Phänomen zutreffend sei (»es ist Liebe«), und nun alle Attribute erfüllt wissen will. Wenn auf dem Container ›Liebe‹ steht, dann erwartet man das ganze Programm: Sehnsucht, Romantik, Eifersucht und Erregung. Wenn jemand nicht eifersüchtig ist, dann stimmt die Etikettierung nicht. Das verdeutlicht, dass Containerbegriffe im Gegensatz zu anderen Begriffen in einer erheblich höheren Gefahr stehen, bei ihrer Verwendung einen Streit über die Rechtmäßigkeit ihrer Bezeichnung herbeizuführen. Sie bestimmen ein Phänomen, bleiben aber mit der Bestimmung unklar, breit, abstrakt und somit wiederum unbestimmt. Was heißt das für den Containerbegriff »Kulturelle Bildung«? Kulturelle Bildung als Container enthält unzählige Attribute: Künstlerisches, Ästhetisches, Musikalisches, Poetisches, Kreatives, Schönes u.v.m. Problematisch wird das, wenn man meint, dass der Begriff zutreffend sei (»es ist Kulturelle Bildung«)
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und nun andere Attribute hervorkramt, die auch erfüllt sein müssten oder deren Gegenteil gerade nicht zutreffen dürfe. Das kann verengend und ausgrenzend wirken: Wenn etwas Kulturelle Bildung sein will, dann muss es um Kunst oder Künstlerisches gehen. Man könnte argumentieren: Wenn z.B. Musikunterricht Kulturelle Bildung ist, dann hat dort industriell hergestellte und massenhaft konsumierte Popmusik nichts zu suchen. Nun ist aber der Begriff »Ästhetische Bildung« gerade durch »Kulturelle Bildung« ersetzt worden, um die Phänomene der Alltags- und Populärkultur in den Container mit hineinzunehmen. Damit wirken Containerbegriffe nicht nur verengend, sondern auch vereinnahmend: Sie sind derartig dehnbar, dass alles unter sie fallen kann. Eine zweite problematische Eigenschaft in der Funktionsweise von Containerbegriffen identifiziert Ulrich Beck (vgl. Beck 1997) in ihrem politischen Gebrauch: In politischen Debatten funktionieren Containerbegriffe so, dass mit einer hohen Zustimmung zu rechnen ist, aber dennoch keine konkreten Versprechen gegeben werden. Damit sie so funktionieren, werden zwei Techniken angewandt: Komplexitätsreduktion und Erstarrung. Container-Begriffe werden so verwendet, als ob ihr eigentlich dynamischer und mehrdimensionaler Sachverhalt (Liebe, Bildung, Kultur) ein statischer und einfacher sei. Sie täuschen damit eindeutige Bestimmung, Statement und Commitment vor, ohne sich festzulegen. Das führt dazu, dass sie durch ihre universelle Einsetzbarkeit im Gebrauch hohl werden, bis sie ihren Inhalt gänzlich verlieren. Mit ihrer Hohlheit, aber äußerlichem Glanz lösen sie Zustimmung aus, ohne eine inhaltliche oder eindeutige Aussage gemacht zu haben. Wer für Kulturelle Bildung ist, wird heute kaum Ablehnung erhalten, aber was genau unter Kultureller Bildung zu verstehen ist und wie sie aussehen soll, ist noch mit keiner Forderung nach ihr und für alle, gesagt. Der Containerbegriff Kulturelle Bildung ist inflationär im Gebrauch und so gebräuchlich, dass er beliebig füllbar wird: Er kann alles und/oder auch nichts beinhalten. Er wird vielfach mit Erwartungen überladen und ist in seiner Zielformulierung zu wenig präzise, um kritisiert werden zu können. Eine dritte Eigenschaft von Containerbegriffen kommt ans Licht, wenn sie in wissenschaftlichen Kontexten zur Erkenntnisgewinnung und tieferen Verständnis beitragen sollen. »Containerbegriffe tragen nichts zur Erkenntnis bei, der einzig mögliche Erkenntnisgewinn liegt bei ihnen in einer Analyse ihrer Verwendung und der Rahmen [bzw. Kontext], in den sie gestellt werden« (Perchinig 2010: 18). Ein Containerbegriff öffnet sich für Erkenntnisse erst in einer Untersuchung seiner Verwendungsweisen, Begriffskombinationen, Kontexte und deren Assoziationen. Ein Containerbegriff funktioniert so, dass sich in ihm differente theoretische Fragmente mit verschiedenen politischen Forderungen mischen können. Und ein Containerbegriff in pädagogischem Kontext funktioniert so, dass sich differente bildungstheoretische Fragmente mit verschiedenen bildungspolitischen Forderungen mischen.
Kulturelle Bildung – ein Containerbegriff?
Um diese drei Eigenschaften von Containerbegriffen am Beispiel Kulturelle Bildung zu prüfen, soll im Folgenden der UNESCO »Leitfaden für Kulturelle Bildung« von 2006 herangezogen werden. Den Hintergrund für die Entstehung des Leitfadens bildet die Vision und »Einigkeit über die Bedeutung der kulturellen Bildung für den Auf bau einer kreativen und kulturbewussten Gesellschaft« (Leitfaden 2006: 3). Schon mit dieser Formulierung wird Kulturelle Bildung für die Gesellschaft in Dienst genommen. Das wird ausdrücklich formuliert: »Die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts verlangen zunehmend Arbeitskräfte, die kreativ, flexibel, anpassungsfähig und innovativ sind, und Bildungssysteme müssen sich auf Grund dieser wechselnden Bedingungen weiterentwickeln. Kulturelle Bildung stattet die Lernenden mit diesen Fähigkeiten aus, die es ihnen erlauben, sich auszudrücken, ihre Umgebung kritisch wahrzunehmen und aktiv an verschiedenen Aspekten des menschlichen Lebens teilzunehmen. Kulturelle Bildung ermöglicht es auch einem Staat die Humanressourcen hervorzubringen, die zum Erschließen seines wertvollen kulturellen Kapitals notwendig sind.« (Leitfaden 2006: 5)
Die Gesellschaften verlangten Arbeitskräfte – und Kulturelle Bildung statte diese Arbeitskräfte mit den nötigen Fähigkeiten aus. Hier wird Kulturelle Bildung nicht nur in den gesellschaftlichen, sondern auch ökonomischen Dienst genommen. Vor allem wird behauptet, dass dies die Aufgabe und Funktion von Kultureller Bildung ist, ›einem Staat die Humanressourcen‹ hervorzubringen – und dass Kulturelle Bildung dazu in der Lage sei. Völlig unverfänglich wird von »nachhaltige[n] kulturelle[n] (kreativen) Industrien und Unternehmen« (ebd.) gesprochen, von denen das Heil der Gesellschaften erwartet wird. Was passiert hier? Als hätte es Adornos Kritik und die Diskussion der 80iger Jahre um Ästhetische Bildung nie gegeben. Aber vielleicht hat es sie auch nur marginal in der Erziehungswissenschaft und in Deutschland gegeben. Sie wurde wissenschaftlich und nicht politisch geführt und sie wurde international nicht zur Kenntnis genommen. Der politische und bildungspolitische Hintergrund der Entstehung dieser Redeweisen ist teilweise auch in Deutschland rekonstruierbar: Die Gefahr einer Marginalisierung künstlerischer Fächer verschärfte sich zur Jahrtausendwende mit PISA: Einige Fächer wurden evaluiert, die anderen erscheinen fakultativ (vgl. Fuchs 2008: 9) als ein Luxus, den man sich in Zeiten des Sparens nicht leisten kann. Damit sie nicht an den Rand gedrängt und unter Sparzwängen sogar wegfallen, muss ihre Bedeutung gehoben werden und ihre unverzichtbare Relevanz verdeutlicht werden. Doch um die Bedeutung der Kulturellen Bildung zu heben und sie aus ihrem Luxusdasein zu befreien, bedarf es Begründungen und Legitimierungen. Legitimierungen fragen immer utilitaristisch nach
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dem größten Nutzen für möglichst viele und Begründungen müssen immer wissenschaftlich sein. Welche Wissenschaft dabei die höchste Legitimationskraft mit sich bringt, ist bezeichnend für unser zeitgemäßes wissenschaftliches Paradigma. Es ist nämlich nicht die Pädagogik und Erziehungswissenschaft, deren Ergebnisse der Kulturellen Bildung Bedeutung verleiht, sondern es sollten evidenzbasierte naturwissenschaftliche Argumente sein. »Die Ergebnisse der Neurowissenschaften legen nahe, dass das Denken erst durch die Schulung der Sinne in Gang kommt. Ohne Neuroplastizität keine Kreativität. Selbstbewußte starke Einzelne und Gruppen, die Verantwortung für sich selbst und ihre Umwelt übernehmen, sind ein Erfolgsgarant für eine gute Entwicklung der Gesellschaft. Deshalb ist kulturelle Bildung kein Zusatz-Luxus-Angebot.« (Merkel 2008: 6)
Um Kultureller Bildung Nützlichkeit zu bescheinigen, müssen als erstes ihre Wirkungen und deren Tranferleistungen bewiesen, zweitens muss ihre Qualität hervorgehoben, gefordert und gesichert, und drittens muss ihr Erfolg kontrolliert, evaluiert und zertifiziert werden. So stehen im Fokus der Forschung: Wirkungsforschung, Qualitätsmanagement und Audits, welche die Qualität zertifiziert. Die Vermessung der Kulturellen Bildung ist eine Vermessenheit, denn was da vermessen, gemanagt und akkreditiert werden soll – Kulturelle Bildung – wird nicht näher bestimmt. Dem UNESCO-Leitfaden für Kulturelle Bildung geht eine Gliederung voraus, in welcher der Hintergrund seiner Entstehung erläutert wird, es werden Ziele formuliert, Konzepte differenziert in Bereiche, Zugänge und Dimensionen Kultureller Bildung, Strategien für eine effektive Kulturelle Bildung werden erörtert, die Forschung wird thematisiert und Empfehlungen werden gegeben – was aber nun unter Kultureller Bildung verstanden wird, wird mit keinem Wort erwähnt. Der Container scheint beliebig befüllbar. Einer solchen Vereinnahmung gegenüber sollte sich Kulturelle Bildung widerständig zeigen. Denn mit der Brauchbarkeit von Kultureller Bildung für die Gesellschaft ist nur die eine Seite vom Doppelcharakter der Kultur (vgl. Adorno 1959: 94) bedient. Die pragmatische Seite Kultureller Bildung, in welcher Kultur als die Gestaltung des Lebens gedacht wird und Bildung gelingt, wenn man im Vorhandenen zurecht kommt, blendet die in elitären Verruf gekommene ästhetische Geistesbildung aus. Das Problem der anderen Seite, der Geisteskultur oder vormals sogenannten Hochkultur besteht darin, dass sie ihre Abgrenzung verloren hat. Adornos Kritik ist so heute nicht mehr möglich, weil die Differenz zwischen Hochkultur und populärer Kultur nicht mehr gezogen werden kann. Dennoch möchte ich mich seiner Kritik insofern anschließen, als die Seite der Kultur, die als pragmatische Gestaltung des Lebens gedacht wird, in der Gefahr steht, das Bestehende zu bejahen und in den Dienst
Kulturelle Bildung – ein Containerbegriff?
von gesellschaftlichen Interessen gestellt wird. Der Leitfaden für Kulturelle Bildung zeigt dies beispielhaft. Was aber ist das Problematische daran, wenn Kulturelle Bildung auf ihre Relevanz für die Gesellschaft bestimmt wird? Sie wird reduziert. Die Hineinführung in die Kultur ist nur eine Dimension – und es wird eine entscheidende Dimension bei der heutigen Thematisierung von Kultureller Bildung vergessen: das Herausfallen aus der Kultur. Alles, was im UNESCO Leitfaden für Kulturelle Bildung angeführt und vorgebracht wird, um die Bedeutung der Kulturellen Bildung zu erhöhen, fällt unter dasjenige Anliegen, was mit Mollenhauer »Ästhetische Alphabetisierung« (vgl. Mollenhauer 1990) genannt wird. Diese Form der Kulturellen Bildung befähigt zum rezeptiven wie produktiven Umgang mit symbolischen Artefakten in Kunst wie Lebenswelt. Kulturelle Bildung befähigt zur Teilhabe an Kultur. In unseren heutigen Bestrebungen, möglichst alle und jeden zu integrieren und Inklusion als selbstverständlich zu etablieren, wäre es höchst unzeitgemäß, von einer exkludierenden und exklusiven Ästhetischen Bildung zu sprechen, die einen nicht befähigt, teilnehmen zu können, sondern die einen den Boden unter den Füßen wegzieht und den Abgrund der Freiheit zeigt. Aber genau derartige ästhetische Erfahrungen mit Kunst machen Kulturelle Bildung zu einem Außeralltäglichen. Hierdurch schafft sie Distanz. Das Scheitern beim Versuch, den symbolischen Gehalt eines künstlerischen Artefaktes mit den gewohnten und selbstverständlichen Deutungsmustern zu verstehen, zeigt die Grenze des kulturell bestimmten Verstehens. Erst hier kommt ein Verständnis von Ästhetische Bildung zum Tragen, welches über den Bruch mit allen Formen der Gestaltung des Lebens die Kontingenz dieser symbolischen Formen zeigt. Erst über diesen Bruch erhält der sich Bildende »die Möglichkeit einer Distanz zur kulturellen Wirklichkeit« (Seel 1993: 48). Eine derartige Distanzierung von Lebenswirklichkeit oder Kultur durch ästhetische Erfahrungen passt weder in Road Maps noch lassen sich Ziele, Konzepte und Strategien zu ihrer Hervorbringung entwickeln. Wie Mollenhauer es provokativ, aber durchaus ernst gemeint formulierte: Eine solche Ästhetische Bildung ist Sperrgut für die Pädagogik – und Sperrgut muss »zerstückelt werden, damit es in die pädagogische Kiste passt« (Mollenhauer 1990: 484). Die Ästhetische Bildung ist zerstückelt worden und was von ihr in die pädagogische Kiste passt, wird heute Kulturelle Bildung genannt. Die andere Hälfte von Ästhetischer Bildung passt damit auch nicht in den Container namens ›Kulturelle Bildung‹. Vielleicht ist das ein versteckter Grund, warum »Kulturelle Bildung« als Terminus »Ästhetische Bildung« abgelöst hat. Denn es kann in einer distanzierenden Ästhetischen Bildung nicht die Rede von Kompetenzaneignung und -vermittlung sein und auch Wirkungsforschung und Qualitätsmanagement von Ästhetischer Bildung kommen an ihre Grenze.
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Der UNESCO Leitfaden für Kulturelle Bildung heißt im Englischen »Road Map for Arts Education«. Aus den ehemaligen deutschen Begriffen für eine Übersetzung von arts education wie »Kunsterziehung« und »Ästhetischer Bildung« wurde im Laufe der Zeit »Kulturelle Bildung« – ein Begriff, der weit gefasst auch die Populär- und Alltagskultur meint und in Richtung Wohn- und Lebensweise tendiert. Was passiert in dieser Verwandlung des klassischen Begriffs der »Ästhetischer Bildung« zu »Kultureller Bildung«? Das Attribut »kulturell« ist nur scheinbar eine Beifügung, welche Bildung näher bestimmen würde. Im Gegenteil: »Kultur« als ein noch viel weiterer Containerbegriff als »Bildung« potenziert die Unbestimmtheit. Ist einerseits eine Weite und Breite der Verständnisweise von Bildung, Kultur, Kultureller Bildung und Bildender Kultur erwünscht, so besteht andererseits die Gefahr einer Nivellierung. Wenn z.B. Kultur alle von Menschen handelnd veränderte Natur wäre, wie Arnold Gehlen (vgl. 1961) meinte, dann wäre auch Mathematik-Unterricht Kulturelle Bildung. Der Container wird so groß, dass Bildung und Kultur zusammenfallen. Damit ist Kulturelle Bildung ein Pleonasmus und es gibt keine Bildung, die nicht irgendwie kulturell ist. Eckard Liebau et al. finden eine präzise Formulierung für Kulturelle Bildung: In Kultureller Bildung werde »der Zusammenhang von Wahrnehmung, Ausdruck, Darstellung und Gestaltung der Welt vorrangig unter ästhetischen Gesichtspunkten in Rezeption und Produktion zum Gegenstand«, d.h. »(A) llgemeine Bildung im Medium der Künste« (Liebau et al. 2013: 13). Hier werden zur näheren Bestimmung von Kultureller Bildung die Wörter Künste und Ästhetik wieder eingeführt. Wenn man in der Definition an die Stelle von Kunst und Ästhetik wieder Kultur einsetzen würde, hätte man eine Definition für Bildung: In Bildung wird der Zusammenhang von Wahrnehmung, Ausdruck, Darstellung und Gestaltung der Welt unter kulturellen Gesichtspunkten in Rezeption und Produktion zum Gegenstand, d.h. Allgemeine Bildung im Medium der Kultur. Es scheint ein Spiel der Begriffe: Je nach Kombination und Betonung der zwei zur Rede stehenden Begriffe Bildung und Kultur werden ganze semantische Felder aufgerufen und verschoben. Die Kombination Kulturen der Bildung z.B. könnte schon nicht mehr dem Bereich der Ästhetik und Kunst angehören, sondern vielmehr wird die Schulpädagogik bis Didaktik sich angesprochen fühlen. »Kulturen der Bildung« hieß der 21. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft 2008 in Dresden. Dabei ging es um Lernkultur, Schulkultur, Institutionenkultur, Elitekultur, Gegenkultur, Lesekultur usw. Kulturen der Bildung ist ein Genitiv, wobei Bildung das Genitiv-Attribut ist, welches die Kulturen näher bestimmt. Der Genitiv lässt sich in genitivus subjektivus und genitivus objektivus unterscheiden. Alle gerade genannten Kombinationen wie Lernkultur und Schulkultur sind Formen des genitivus subjetivus von Kulturen der Bildung. (Am Beispiel: Lernkultur – Kultur des
Kulturelle Bildung – ein Containerbegriff?
Lernens. Wessen Kultur? Die des Lernens – Lernen ist das Subjekt, welches Kultur hervorbringt.) Im genitivus subjektivus von Kulturen der Bildung ist Bildung das bestimmende Subjekt, d.h. die Quelle der Handlung. Praktiken der Bildung bringen bestimmte Bildungskulturen hervor. Kultur ist das Objekt und wird gebildet. Im genitivus objektivus ist Bildung das Ziel der Handlung. Das GenitivAttribut Bildung ist das Objekt der Handlung. Bildung wird kultiviert, soll eine bestimmte Form/Kultur annehmen. Kulturen der Bildung meint dann die Frage, wie in differenten historischen und regionalen Bereichen Bildung praktiziert, d.h. wie sie gestaltet wird. Die Frage ist, ob mit der Umkehrung des Genitivs von Kulturen der Bildung in Bildung der Kulturen die gleichen Felder abgesteckt werden oder ob neue Terrains entstehen. Das war die Hypothese und der Ausgangspunkt für die Tagung an der Universität Siegen, welche dem Band zugrunde liegt: Dass bei der Umkehrung von Kulturen der Bildung und Bildung der Kulturen und deren Genitiv-Varianten, wie in einer Vierer-Matrix, nicht das Gleiche heraus kommt, weil Kultur und Bildung unterschiedlich gebraucht werden, d.h. sie verändern allein durch differente Konstellationen und Kombinationen ihren Gehalt. Mit dem Titel der Tagung und des Bandes »Kulturelle Bildung – Bildende Kultur« wollten wir ein Feld abstecken, ein Spielfeld, in welchem sich all unsere Disziplinen der Fakultät Bildung Architektur Künste verorten können. Jeder kann die Begriffskombination von Kultur und Bildung produktiv und spielerisch kombinieren. Dabei ergaben sich lose disziplinäre, thematische oder auch formale Felder, nach denen die Vorträge der Tagung gegliedert wurden, ohne den Anspruch einer feststehenden Systematik erheben zu wollen. Begriffliche Ver(un-)sicherungen waren gewollt und provoziert mit dem Titel »Kulturelle Bildung – Bildende Kultur«. Johannes Bilstein und Jörg Zirfas geben auf die Frage »Muss Kulturelle Bildung sein?« sechs mögliche Antworten aus der Perspektive der pädagogischen Anthropologie Kultureller Bildung. Daraufhin gehen die Autoren der Frage nach, was es heißen kann, mit kultureller Bildung »in Berührung« zu kommen, um von dort aus unter Rückbezug auf Bourdieu/Passeron deren Distinktionsfunktion zu problematisieren. Die Frage nach einem Verständnis von »Kultur« muss angesichts der gegenwärtigen Fluchtbewegung immer wieder neu gestellt werden. Wolfgang Bergem wirft einen genaueren Blick auf das Kulturverständnis vom 19. Jh. an bis in die Postmoderne und betont, dass eine Vorstellung von Kultur als einem
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pluralen, flüssigen und dynamischen Prozess treffender erscheint als eines organischen Ganzen. Bei der Konzeption von Programmen für Kultureller Bildung ist es entscheidend, welchen Bildungsbegriff man zugrunde legt, um die Bildungspotenziale auszuloten. Stephanie Günther plädiert in ihrem Beitrag für einen Bildungsbegriff, welcher die ästhetische Erfahrung und die damit ausgelöste Reflexion des Verhältnisses zu sich, den anderen und der Welt beinhaltet und somit die Teilnehmer stärker in den Vordergrund rücken als die Anbieter Kultureller Bildung. Reflexionen der Forschung zur Kulturellen Bildung zeigen die unterschiedlichen wissenschaftlichen Herangehensweisen und deren Probleme. Ausgehend von einer Bestimmung von Kultur als einem Ort der Befremdung über Selbst und Welt problematisiert Christiane Thompson einen allein kompetenzorientierten (»vermessenden«) Zugriff auf Kulturelle Bildung am Beispiel des Musikhörens. Auf diesem Kulturverständnis und seinen sozialtheoretischen Implikationen auf bauend, wird zum Schluss der Frage nach dem Wie des Erforschens Kultureller Bildungsprozesse nachgegangen. Simone Kosica fragt danach, wie die Qualität von Kultureller Bildung systematisiert werden kann und benennt vier evaluationsleitende Dimensionen, in denen sich die Ergebnisse von Studien einordnen lassen. Die bildende Dimension der Rhetorik, ob als Strategie der Überzeugung oder als Kunst der schönen Rede, liegt vor allem in dem Gebrauch der Rhetorik als Mittel kommunikativer Vermittlung. Ausgehend von einem derartigen Verständnis von Rhetorik, arbeitet Tobias Schmohl die spezifischen Bedeutungen Kultureller Bildung heraus. Bildende Kultur – Architektur bedarf einer Vermittlung um Teilhabe zu ermöglichen bei der baukulturellen Gestaltung von Städten wie schulischen Lern-Räumen. Inwiefern Baukultur wirkt und inwiefern in und mit ihr Vermittlungspraktiken ein baukulturelles Verständnis initiieren, erläutert Hildegard Schröteler-von Brandt anhand der zunehmenden Bedeutung des öffentlichen Diskurses über Städtebau und Architektur von Experten und Laien gleichermaßen. Auch Stephanie Reiterer geht es um eine Experten-Laien-Kommunikation, für die eine baukulturelle Diskursreife, d.h. die Fähigkeit der Wahrnehmung und Beschreibung von räumlichen Gegebenheiten, gegeben sein muss. Baukulturelle Bildung sollte möglichst breit in den Unterricht implementiert werden, zudem sie bei Umfragen auch auf ein hohes Interesse der Schülerinnen und Schüler stoße.
Kulturelle Bildung – ein Containerbegriff?
Andreas Hammon lotet die Schnittstellen von Lernen und Raum aus und verknüpft dabei Perspektiven von Architektur, Pädagogik und Schulentwicklung. Inklusion und Heterogenität fordern die Passung zwischen Lehr-LernProzessen und Raum-Strukturen heraus. Kunst- und Kulturvermittlung in Museen als Kulturelle Bildung eröffnet neue Perspektiven auf diese, aufgrund der Einbeziehung Erwachsener als Lerner. Interkulturelle Problematiken und historische Methodenreflexion verweisen aber auch auf die Kooperation zwischen Schule und Museum. Kulturelle Bildung im Museum, die sich an Erwachsene mit ausstellungsbegleitenden Vermittlungsangeboten wendet, wird von Inga Specht differenziert in Portale und Dimensionen, mit denen sich die vorhandenen Programme analysieren lassen. »Kultur-Kisten« ist die Metapher für einen klassifizierenden Umgang mit kulturellen Differenzen, welcher zum Scheitern verurteilt zu sein scheint. Magdalena Eckes zeigt mit ihrem Beispiel wie Kulturelle Bildung aussehen kann als Prozess der Kunstvermittlung. Um ein Beispiel von historischer Kunstvermittlung, die auf den ersten Blick recht offen und fortschrittlich klingt, sich aber bei genauerem Hinsehen als Disziplinierung militärischen Stils erweist, geht es in dem Beitrag von Andreas Zeising. Swaantje Brill, Susanna May-Krämer, Andreas Nießeler und Bernd Wagner stellen ihr Projekt in Kooperation mit Museum und Schule dar, in welchem die Kinder videographisch dokumentierte Lernerfahrungen machen, die über das Präsentieren von Objekten aus eigenem handelndem Umgang mit Sachen kommunikativ zum Ausdruck gebracht werden. Schule und Unterricht können als klassische Orte der Kulturellen Bildung Identitätsbildung ermöglichen und verhindern aufgrund der Schwellen und Zugänglichkeit zur und in der Schule. Schule als immer schon geltender Ort kultureller Bildung entwickelt auch eine bildende Kultur von Praktiken der Identitätsbildung. Julia Lipkina zeigt in ihrer Untersuchung, wie Jugendliche durch schulisch gegebene Kultur geprägt werden, aber auch reflektierendes und distanziertes Verhalten zu dieser prägenden Kultur zeigen. David Unterhuber stellt ein Projekt vor, in welchem Schülerinnen und Schüler nicht nur Beforschte, sondern gleichzeitig Forscher und Entdecker ihrer eigenen Erfahrung von Schwellen zu und in der Schule sind. So wie Schwellen metaphorisch und sinnlich-räumlich gemeint sein können, so teilen sich die ›Schwellen‹-Erfahrungen in sinnlich-leibliche und kognitive.
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Die Kulturelle Bildung von privaten Musikschulen seien Henning und Verena Schluß zufolge öffentlich. Zur Zeit der Aufklärung war Öffentlichkeit dann gegeben, wenn der Staat Zugänglichkeit sicherte. Heute kann das aber nicht heißen, dass alle nicht-staatlichen Schulen nicht öffentlich sind. Lehrerbildung gewinnt an Potenzial, wenn Kulturelle Bildung in der universitären Lehre einbezogen wird. Nathalie Heiligtag plädiert dafür, in der universitären Lehrerbildung die Bedeutung theatrale Bildung zu stärken und mit empirischer Forschung zu unterstützen, ohne Theaterkunst dabei einer Verzweckung zu unterziehen. KulturSchulen sind zertifizierte Schulen, welche ästhetische Zugänge in allen Fächern und ein Curriculum für kulturelle Praxis entwickeln und künstlerische Kooperationen verstetigen. Michael Retzar erläutert erste Ergebnisse aus der Begleitstudie zu KulturSchulen in Hessen. Mit einem neuen Raumverständnis versehen, schickt Anja Ciupka Studierende in einen Prozess künstlerisch-kreativer Erfindung von Vermittlungskonzeptionen, welche zeigen können, dass die Unbestimmtheit des Begriffspaars Kulturelle Bildung – Bildende Kultur ein Potenzial sein kann. Außerschulische Lernorte bieten Alternativen der Kulturellen Bildung, welche die schulischen Grenzen überschreiten. Vom Standpunkt einer Kritischen Pädagogik aus argumentiert Alf Hellinger gegen eine kommerzielle Ästhetik und deren Entfremdungsmechanismen. Unter Rückgriff auf einen reformpädagogischen Ansatz aus dem Bereich der Kunstpädagogik werden Alternativen Kultureller Bildung thematisiert. Annika Blichmann und Sebastian Engelmann zeigen die strukturellen Ähnlichkeiten von Bildungsprozessen und Reisen auf, z.B. Brüche und Dissonanzen. Anhand von Interviews mit Schülern und Schülerinnen einer HermannLietz-Schule, welche Reise- und Bildungserfahrungen schildern, wird die Bedeutung von Reisen für interkulturelle Bildung verdeutlicht. Katharina Kindermann und Ulrich Riegel stellen die Frage, ob der Kirchenraum als Kulturträger auch als ein solcher wahrgenommen wird. Mit der Differenzierung zwischen religiösen und kulturellen Praktiken wurden Grundschulschüler_innen befragt, wie ihnen Raum und Gegenstände gefallen haben. Pop(ulär)-Kulturelle Bildung ist heute ein neues Feld der Kulturellen Bildung, welches weder pragmatisch gesellschaftlichen Nutzen noch höhere Kunsterfahrung für sich beansprucht und dennoch beides bewirken kann.
Kulturelle Bildung – ein Containerbegriff?
Anhand der Qualitätsfernsehserie Lost zeigt Olaf Sanders, inwiefern uns die Serienkultur nötigt unsere Bildungsvorstellungen zu weiten. Dabei geht er auf die Bedeutung der Bilder und der Bewegungsbilder ein, streift die ästhetische Erfahrung und verrät, was das mit Mathematik zu tun hat. Michael Rappe und Christine Stöger loten kulturelle, ästhetische und ethische Dimensionen von Bildungsprozessen aus, indem sie auf die Mikrostruktur performativer Aneignungsprozesse beim ›Breaking‹ (einem Tanzstil der Hip-Hop-Kultur) verweisen. Um sich einer transkulturellen Bildung postfeministischer Ästhetik zu nähern, analysieren Nika Daryan und Birgit Althaus Fragmente kleidungspraktischer Genderinszenierung in Musikvideos. André Schütte erläutert die These, dass auch im Supermarkt Bildung möglich ist und illustriert dies anhand des Romans »Vier Äpfel« von David Wagner. Die Verknüpfung der aisthetischen Erfahrung der käuflichen Dinge mit biographischen Erinnerungen und exzessiven Zukunftsvisionen bilden beim Protagonisten des Romans ein Selbst- und Weltverhältnis, zu dem er sich noch einmal verhalten kann. Kulturelle Bildung in Kontexten von Ethik, Politik und Kritik zeigt sich widerständig gegenüber sie vereinehmende Verzweckung und wird gerade damit ethisch und politisch bedeutsam. Kultur verstanden als ein Diskurs, der in seiner Rhetorik immer Grenzen zieht und normative Setzungen beinhaltet, führt zu machtvollen Identitätskonstruktionen, welche von Lisa Freieck und Tatjana Kasatschenko dekonstruiert werden. Sie stellen dem einen Ansatz rassismuskritischer Bildung gegenüber, welcher die binäre Praxis des kulturellen Vergleichs hinter sich lässt. Katja Hoffmann betrachtet Schulbücher für den Kunstunterricht unter der Perspektive, dass in ihnen Wissensbestände kanonisiert werden. Dabei stellt sie fest, dass in den meisten Schulbüchern eine männliche und westlich-eurozentristische Kunstgeschichte präsentiert wird. Unter Rückgriff auf den Kulturbegriff im Kontext der Cultural Studies, stellt sich Daniel Krenz-Dewe folgende Frage: Inwieweit reflektieren die Teilnehmer und Veranstalter von Kultureller Bildung ihre eigenen Subjektpositionen und beziehen die jeweils Anderen so ein, dass diese auf ihre eigene gesellschaftliche Position aufmerksam werden können? Dass bildende Kultur immer unter einer anthropologischen und ethischen Perspektive gesehen werden muss und diese Dimensionen auch Ausdruck kultureller Bildung sein sollten, zeigt Jürgen Nielsen-Sikora unter Rückgriff auf das philosophische Werk von Hans Jonas.
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Gabriele Weiß
Mit Kultureller Bildung zur Teilhabe, so ein Slogan heutiger Inklusionsbestrebungen von Disability bis Fluchtmigration. Sigrun Mützlitz verdeutlicht in ihrem Beitrag die Einschätzung der Lehrerinnen und Lehrer an einer Förderschule mit dem Profilschwerpunkt kulturelle Bildung, dass es möglich ist, über künstlerische und kreative Aktivitäten das Selbstkonzept und die Anerkennung der Schülerinnen und Schüler zu steigern. Die Teilhabe an Kultureller Bildung erfolge laut Gesa Siebert-Ott in bedeutendem Maße über die Sprache des Lehrens und Lernens – die Bildungssprache, welche bei Schülerinnen und Schülern mit und ohne Migrationshintergrund einer besonderen Aufmerksamkeit bedürfe. Katharina Gimbel zeigt, wie an Berufsschulkollegs durch Kulturelle Bildung in Form von Mapping ein ästhetischer Zugang zur Lebenswelt von Zielgruppen (z.B. von Flüchtlingen) generiert werde, um Spracherwerb, Sozialraumorientierung und Berufswahlorientierung anzuregen.
L iter atur Adorno, Theodor (1959): Theorie der Halbbildung, in: Ders.: Gesammelte Schriften Bd. 8, Darmstadt 1998, S. 93-121. Beck, Ulrich (1997): Was ist Globalisierung? Frankfurt a.M. Fuchs, Max (2008): »Der UNESCO-Leitfaden zur kulturellen Bildung. Annäherungen und Überlegungen«, in: Deutsche UNESCO Kommission (Hg.), Kulturelle Bildung für Alle. Von Lissabon 2006 nach Seoul 2010, Bonn, S. 8-15. Fuchs, Max/Liebau, Eckart (2013): Kapiteleinführung: Mensch und Kultur, https://www.kubi-online.de, zugegriffen: 13.10.2016 Gehlen, Arnold (1961): Anthropologische Forschung, Reinbek. Grünes Blatt – Zeitung für Umweltschutz von unten. www.gruenes-blatt.de/ index.php/Begriff:Containerbegriff, zugegriffen: 13.10.2016 Leitfaden für Kulturelle Bildung der UNOSCO (2006): www.unesco.at/bil dung/kulturbildung_roadmap_de.pdf, zugegriffen: 14.10.2016. Liebau, Eckart/Jörissen, Benjamin/Hartmann, Sylke/Lohwasser, Diana/Werner, Felix/Klepacki, Leopold/Wagner, Ernst (2013): »Forschung zur kulturellen Bildung«, in: BMBF (Hg.), Perspektiven der Forschung zur kulturellen Bildung, Berlin. Merkel, Christine (2008): »Kulturelle Bildung für Alle – mit allen Sinnen«, in: Deutsche UNESCO Kommission (Hg.), Kulturelle Bildung für Alle. Von Lissabon 2006 nach Seoul 2010, Bonn, S. 6-7.
Kulturelle Bildung – ein Containerbegriff?
Mollenhauer, Klaus (1990): »Ästhetische Bildung zwischen Kritik und Selbstgewißheit«, in: Zeitschrift für Pädagogik 36 Jg. H4, S. 481-494. Perchinig, Bernhard 2010: »Migration, Integration und Staatsbürgerschaft – was taugen die Begriffe noch?«, in: Herbert Langthaler (Hg.), Integration in Österreich. Sozialwissenschaftliche Befunde, Innsbruck, S. 13-32. Seel, Martin (1993): Intensivierung und Distanzierung. Ästhetische Bildung markiert den Abstand von der Allgemeinbildung, in: Kunst+Unterricht, Heft 176, S. 48-49.
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Begriffliche Ver(un-)sicherungen
Muss das sein? Zur Anthropologie der Kulturellen Bildung Johannes Bilstein/Jörg Zirfas
M e taphorik der P flege , M e taphorik der A uswahl : K ulturelle B ildung Im Begriff der Kulturellen Bildung synthetisieren sich Diskurstraditionen der ästhetischen und der musischen Bildung. Was die Tradition der im engeren Sinne ästhetischen Bildung angeht, so ist auch unser heutiger Diskussionsstand immer noch von Friedrich Schillers »Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen« (Schiller 1994) geprägt. Dieser Text entspringt einerseits ganz direkt dem Freiheits-Pathos der europäischen Aufklärung und ist andererseits eng verbunden mit dem Schock über die Entwicklung der zunächst durchaus sympathisierend beobachteten Französischen Revolution. Schillers eigentliches Thema: »Freiheit« verschiebt sich unter dem Eindruck der großen Umwälzung in Frankreich hin zu »Schönheit«. Dass er sich also mit ästhetischer – und nicht etwa direkt politischer – Erziehung befasst, kann man durchaus als Ersatz- oder Ausweich-Bewegung verstehen, als Reflexion auf die Bedingungen der Möglichkeit, auf die erzieherisch-pädagogische Vorbereitung von Freiheit. Dazu ist der dem Menschen eigene »Spieltrieb« entscheidend. Er weist den Weg zur Freiheit, und die Kunst wird in dieser Konstruktion zum Hort, zur Garantin und zur Wegbereiterin der Freiheit. Deshalb ist sie wichtig, sehr wichtig. Sie ermöglicht es, das Uhrwerk des Staates in vollem Laufe – also ohne Revolution – zu reparieren, sie ist die Schwester, wenn nicht die Mutter der Freiheit (Rittelmeyer 2005: 147-222). Die Kunst und die Auseinandersetzung der Menschen mit den Künsten sind bei Schiller also durchaus politisch gemeint, sind denn auch in dieser Konstruktion utopisch befrachtet: Letztlich geht es um die Verbesserung der Welt (Ehrenspeck 1989: 113-177; Legler 2011: 77-99). Dieser ArgumentationsKontext führt zu der traditionellen Hochachtung der Künste in unserer Kultur; sie führt im Bereich des Erziehungssystems aber auch zu einer chronischen
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utopischen Überlastung. Den Vermittlern ästhetischer Bildung geht es immer ums Große Ganze, schlicht: um Alles (Bilstein 2007). Ungefähr um 1900 herum verschieben sich dann die Akzente. Da ist immer mehr von musischer Erziehung oder musischer Bildung die Rede, es entsteht eine ganze Reihe von Bewegungen, die sich um eine musische Bildung möglichst vieler Menschen bemühen. Das zentrale Argument ist dabei nicht Freiheit, sondern immer »Ganzheitlichkeit« und »Einheitlichkeit«. Gegen die zeitgenössischen Tendenzen zu Zersplitterung und funktionaler Differenzierung der Lebenswelt, zur professionellen und bürokratischen Zergliederung des modernen Daseins – unter dem man leidet – argumentieren Jugendbewegung und Reformpädagogik mit der Notwendigkeit, Einheit und Ganzheit wieder herzustellen (Götsch 1948), und zwar auf allen Ebenen – die Ganzheit des Menschen und die Ganzheit der Künste (Bilstein 2013). Man bezieht sich da auf den antiken Begriff der »musiké«, und damit ist die Einheit von Sprache, Dichtung, Musik und Tanz benannt; auf diese Weise entfaltet sich ein einheitliches Weltdeutungsmuster, das sich mehr oder weniger göttlicher Eingebung verdankt, also enthusiastischer Herkunft ist (Kluge 1973). Und so soll nun unter dem Etikett »musische Bildung« eine alle Kunstsparten umfassende Haltung vermittelt werden, die dann all die verloren gegangene Ganzheit wieder herstellen kann. Insofern ist das Konzept »musische Bildung« gerade im Vergleich mit dem Konzept »ästhetische Erziehung« eher auf Vergangenheiten bezogen: auf die Vergangenheit der Antike, als die Künste noch nicht geteilt waren und auf die vormoderne Lebenswelt einer noch nicht industrialisierten Gesellschaft, als die Menschen noch in vermeintlich einheitlichen Lebensformen zusammenlebten (Seidenfaden 1966 bes.: 71-77; Seidenfaden 1961; Ehrenforth 2005: 479-496). Dabei liegt der Akzent im Bereich der musischen Erziehung ganz besonders auf den schöpferischen Kräften des Menschen: Diese müssen geweckt und gefördert werden; sie können die Verzerrungen und Entfremdungen der sich industrialisierenden Moderne wieder heilen bzw. aufheben. Es geht also nicht so sehr – wie bei Schiller – um die spielerischen Potenzen, es geht nicht um Freiheit, sondern es geht vielmehr um die eruptiven, produktiven, innovativen, kreativen Fähigkeiten eines mit Schöpferkräften ausgestatteten Menschenwesens. Die musische Erziehung bezieht ihre utopischen Gehalte also eher aus dem Blick in die Vergangenheit und aus dem Vertrauen in die inneren Kräfte und Potenzen der Menschen als aus dem Wunsch, Gesellschaft und Welt zum Besseren zu verändern. Genau dies macht das Konzept »Musische Bildung« dann auch nach dem Zweiten Weltkrieg und nach dem Schock angesichts des Missbrauchs von Kunst und Kultur im Nationalsozialismus so besonders attraktiv. Mit dem Be-
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zug auf im Menschen liegende innere Fähigkeiten zu Kreativität und Schöpfertum bietet sich eine von allen politischen und gesellschaftlichen Korruptionen freie Welt des Schöpferischen und Musischen als unabhängige Bezugsebene an. Und genau an dieser Stelle formuliert sich dann in den 1960er Jahren zunehmend Kritik: musische Erziehung wird mehr und mehr als ungesellschaftlich, vergangenheitsorientiert und unpolitisch wahrgenommen (Möller 1967; Legler 2011 bes.: 241-265). Die dann entstehenden explizit zeitgenössischen Konzepte z.B. von visueller Kommunikation wollen demgegenüber den politisch-utopischen Gehalt der ästhetischen Erziehung wieder mehr in Geltung setzen. So entstehen an vielen Stellen zum Teil heftige Konkurrenzen zwischen der eher traditionalistisch-kulturkritisch ausgerichteten musischen Erziehung auf der einen Seite und der emanzipatorisch, an Fortschritt und Modernisierung orientierten ästhetischen Erziehung auf der anderen Seite (Legler 2011: 303-324; Ehrenforth 2005: 480-496). Dass in dieser Konkurrenz oft polemisch verkürzt argumentiert wird und dass dabei die sich ständig weiterentwickelnde Realität der Künste oft aus dem Blick gerät, führt immer wieder zu falschen und auf jeden Fall kontraproduktiven Frontstellungen. Hinzu kommt, dass in den wissenschaftlichen und politischen Diskursen der 1970er-Jahre sich unser Verständnis von Kultur ganz entscheidend verschiebt. Immer mehr kommen die alltäglichen kulturellen Ausdrucksformen in den Blick. Es setzt sich – dokumentiert z.B. in einer langfristig äußerst wirkungsvollen UNESCO-Erklärung von 1982 – ein erweiterter Kulturbegriff durch, der sich ganz umfassend auf alle Gestaltungsformen des menschlichen Lebens bezieht: »Kultur ist, wie wir leben« (Röbke 1992). Wenn man diesen erweiterten Kulturbegriff in die Bildungsdiskurse importiert, muss man vor allem genauer bestimmen, was »Kultur« ist und was nicht dazu gehört. Mit den Erweiterungen des Kulturbegriffes werden die mehr oder weniger offenen normativen Vorgaben sowohl der Konzepte ästhetischer wie auch musischer Bildung zunehmend problematisiert. Man will nun – das wird zu einer Art klassischem Beispiel – die Ästhetisierungsformen im Umkreis der Pop-Szene: die Musik, die Körper-Inszenierungen, die völlig neuen grafischen Genre-Konventionen, die sich dort immer weiter ausdifferenzieren, nicht mehr einfach als »Unkultur« oder »Barbarei« abtun, sondern man will dort grundsätzlich gleichwertige Ausdrucksformen einer durchaus gleichwertigen Kultur anerkennen (Hecken 2007a; Hecken 2007b). Die Frage ist dann natürlich: Wie kann man einen so erweiterten Kulturbegriff in den Handlungslogiken von Bildung und Erziehung berücksichtigen? (Rat für Kulturelle Bildung 2015) Hinzu kommt, dass am Ende der 1970er Jahre viele der politisch aktiven Protagonisten ästhetischer oder musischer Bildung zunehmend unglücklich
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darüber sind, dass sie auf politischer Ebene – z.B. bei der Ressourcen-Verteilung – immer wieder gegeneinander ausgespielt werden und so ein dringendes politisches, auch haushalts-politisches Bedürfnis herausbilden, jenseits dieser eingespielten Antagonismen das gemeinsame Anliegen gemeinsam zu befördern. Denn darin ist man sich ja eigentlich ganz einig: dass es wichtig und notwendig ist, Kinder und Jugendliche bei der Ausbildung von im weitesten Sinne künstlerischen Wahrnehmungs- und Gestaltungsfähigkeiten zu unterstützen. Es war diese sowohl inhaltlich – erweiterter Kulturbegriff – als auch politisch – Bedarf nach Bündelung von Initiativen – definierte Situation, in der sich dann langsam der Kompromiss-Begriff der kulturellen Bildung etablierte. Damit hatte man nun eine Sammel-Bezeichnung, unter der sich sowohl die utopisch motivierte ästhetische Erziehung als auch die eher enthusiastisch orientierte musische Bildung wiederfinden konnten; einen Ober-Begriff, der – einerseits – einen Bezug auf die überkommene Hochkultur weiterhin beinhaltet und doch auch – andererseits – Ästhetisierungsformen außerhalb dieser Traditionsmuster mit in den Blick nimmt. Wenn wir heute also von kultureller Bildung reden, dann bewegen wir uns in einem durchaus traditionellen Feld, das sich im Rahmen umfassender Diskurse verschoben und verändert hat und in dem inzwischen Verbindungen und Kompromiss-Linien denkbar geworden sind, die man sich vor 20 Jahren kaum hätte vorstellen können (vgl. Zirfas 2015). Gerade angesichts des Erfolgs dieses Sammelbegriffes ist es aber umso wichtiger, sich die Bedeutungstraditionen noch einmal genauer vor Augen zu führen, die insbesondere dem Begriff der Kultur anhaften. Unter Kultur lässt sich – im Sinne eines erweiterten Kulturbegriffs, der nicht mehr auf die Differenz von sogenannter niederer und höherer Kultur abhebt – die Gesamtheit von Lebensformen und mentalen Grundlagen einer Gruppe verstehen. Immer weiter schwingt jedoch im Begriff der Kultur der Imaginationsgehalt der Auswahl mit. Die Ausgangs-Textstelle von Cicero hebt in der Ackerbau-Metapher ausdrücklich darauf ab, dass man Unkraut und sonst wie unerwünschtes beseitigen und ausschließen muss, wenn man die richtige Pflege (cultura) des Ackers gewährleisten will. Und genauso soll das auch bei der Pflege der Seele geschehen. »Denn wie nicht alle Äcker Frucht tragen, die bebaut werden, … so bringen auch nicht alle Seelen die Frucht ihrer Bearbeitung. Und […]: wie ein Acker, auch wenn er fruchtbar ist, ohne Pflege keine Frucht tragen kann, so auch die Seele nicht ohne Belehrung. Jedes ist ohne das andere wirkungslos. Pflege der Seele ist aber die Philosophie: sie zieht die Laster mit der Wurzel aus, bereitet die Seelen dazu, die Saat zu empfangen, übergibt sie ihnen und säet – um so zu reden – was dann, wenn es ausgewachsen ist, die reichste Frucht bringt« (Cicero 1992, II, 13: 65; vgl. Rassem 1979; vgl. Thurn 1990: 10-16).
Muss das sein?
Ciceros Metaphorik der Pflege (cultura) ist insofern von Anbeginn an mit einer Metaphorik der Auswahl und des Ausmerzens und der Extraktion (»haec extrahit vitia radicitus«) verbunden. Dieser selektive Imaginationshintergrund von »Kultur« hat sich im Laufe der Begriffsgeschichte zeitweise stark in den Vordergrund geschoben – bis hin zu der unseligen Gegenüberstellung von deutscher »Kultur« gegen französische »Zivilisation« im 19. und 20. Jahrhundert (Bollenbeck 1996: 31-96). Gerade angesichts aktueller Neo-Konjunkturen kulturalistischer Deutungsmuster, die durchaus an die alten nationalistischen Motivstrukturen anknüpfen, gewinnt die kritische Reflexion des Kulturbegriffes auch und gerade in den wissenschaftlichen und theoretischen Diskussionen wieder zunehmend an Bedeutung (auslösend: Huntington 1996; Ericsen/Stjernfelt 2012; vgl. Sloterdijk 2014: 75-94).
P ädagogische A nthropologie der kulturellen B ildung : W arum das sein muss Alle bislang genannten Begrifflichkeiten der Kulturellen Bildung: Freiheit, Ganzheitlichkeit, Einheitlichkeit, das Musische, die Kultur und die Zivilisation – sie alle haben anthropologisch-pädagogische Implikationen, die man im Einzelnen noch herausarbeiten könnte (vgl. Zirfas 2004; Wulf/Zirfas 2014). Und diese anthropologisch-pädagogischen Aspekte haben wiederum, gerade auch in ihren implizitären Fassungen für die Kulturelle Bildung Deutungs-, Orientierungs-, Praxis- und Legitimierungsfunktionen – bis heute. Auch das müsste und könnte man im Einzelnen nachzeichnen (vgl. Bilstein 2014). Wir kehren jetzt allerdings den Blickwinkel um und fragen aus Sicht der Pädagogischen Anthropologie nach dem Sinn und Zweck Kultureller Bildung. Muss das alles sein: Freiheit, Ganzheitlichkeit, Einheit und vieles andere mehr? Warum braucht der Mensch kulturelle Bildung? Wir haben sechs Antworten darauf.
Kompensation Schon der Mythos des Sophisten Protagoras in Platons gleichnamigem Dialog (Platon 1984) bringt eine anthropologische Grundposition zum Ausdruck, die sich bis heute in den verschiedensten Formen erhalten hat: Nämlich die These, der Mensch sei ein Mängelwesen, dessen Kulturfähigkeit schon in seiner physischen Konstitution zu finden sei. Der Mensch mit seinen natürlichen Schwächen, seiner Instinktarmut und seinen Unangepasstheiten braucht Institutionen, Werkzeuge, Sitten, Technik und Künste, kurz: Kultur um die Talente zu kompensieren, die er von Natur aus nicht »mitbekommen« hat. Ungeachtet der
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Diskussionen darüber, ob und inwieweit es Menschen gerecht wird, sich als Mängelwesen zu verstehen, ob und inwieweit es Sinn macht, diese Mängel aus dem Blickwinkel einer anthropologischen Differenz zum Tier (oder zu Gott oder der Maschine) zu bestimmen oder ob und inwieweit es überhaupt gelingen kann, anthropologische Mängel pädagogisch kompensieren zu können, kann eine Kompensationstheorie der Kulturellen Bildung mehrere Positionen einnehmen: So kann man mit Arnold Gehlen (1904-1976) einer pessimistischen Anthropologie das Wort reden und die biologischen Mängel und das Chaos der Reizüberflutung durch spezifische Institutionen abzumildern suchen (Gehlen 1940). Dem Mängel- und Triebwesen Mensch wäre in diesem Sinne am besten durch Zucht, Ordnung und Stabilisierung zu helfen. Kulturelle Bildung wäre in diesem Sinne als Disziplinierung und Kanalisierung von Antriebsüberschüssen zu konzipieren. Betrachtet man eine solche pessimistische Anthropologie von der Seite der Ästhetischen Bildung, so kann man etwa Arthur Schopenhauer (1788-1860) folgen, der der Kulturellen Bildung eine lebensphilosophische Bedeutung gibt, da sie eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens bereithält (vgl. Zirfas 2016b). Vor allem mit seinem Konzept der Kontemplation entwickelt er eine Programmatik, die über die Kunsterziehungsbewegung und die Modelle der Musischen Erziehung bis in zeitgenössische kunstwissenschaftliche Hermeneutiken reicht. Dabei spielt vor allem die musikalische Bildung für ihn eine entscheidende Rolle, da diese in der Lage sein soll, das Wesen des Menschen und der Welt – den unendlichen metaphysisch gedachten Willen, der rast- und ruhelos nach Befriedigung strebt, ohne diese finden zu können – zugleich zum Ausdruck wie zur Aufhebung zu bringen. Insofern hat die Kulturelle Bildung teil an der Erlösung von einem pessimistisch verstandenen Leben. In diesem Blickwinkel bekommt der Besuch der Oper oder eine Jazzkonzertes doch eine sehr existentielle Bedeutung. Wir können aber auch mit Johann Gottfried Herder (1744-1803) von einer optimistischen Anthropologie sprechen, die die menschliche Bestimmung in der Freiheit und Vernunft sieht (Herder 1989). Für Herder ist der Mensch »der erste Freigelassene der Schöpfung«, dem man nicht mit Zucht und Disziplin, sondern mit Humanität und Autonomieentwicklung zu begegnen habe. Der Mensch ist zwar ein Mängelwesen, d.h. biologisch nicht festgelegt, doch er befindet sich als perfektionierbarer Mensch lediglich in einem Interimsstadium zwischen Mangel und Vollkommenheit. Bei Herder ist das Mängelwesen Mensch nicht nur Bedingung der Möglichkeit von Erziehung, sondern Bedingung der Möglichkeit der Progression der Menschengattung via Erziehung, d.h. Erziehung setzt an der anthropologischen Mängelhaftigkeit an und weil der Mensch nicht natürlich fixiert ist, kann dieser kulturell überformt werden, indem er sich mit Hilfe der Pädagogik im Hinblick auf Perfektion weiterbil-
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det. Kulturelle Bildung arbeitet insofern im Auftrag einer Humanisierung der Menschheit. Das ist Kompensation in wahrhaft globaler Perspektive.
Reproduktion In der Kompensationsthese klingt schon an, dass Kulturelle Bildung nicht nur die Funktion hat, anthropologische Mängel zu kompensieren, sondern auch die Funktion, den Bestand an kulturellem Wissen zu ermöglichen. Hierbei lassen sich drei Positionen unterscheiden: eine dezidiert anthropologische, eine generative und eine soziale. In der dezidiert anthropologischen Perspektive wird vom Menschen als tabula rasa ausgegangen. Die heute als widerlegt geltenden anthropologischen und erkenntnistheoretischen Theorien etwa von Aristoteles, Comenius, Locke und Condillac, die davon ausgingen, dass der Mensch wie Wachs sei, in das man seine pädagogischen Eindrücke hinterlassen könne, oder dass er wie ein weißes Blatt Papier sei, das es in ordentlichen pädagogischen Lettern zu beschriften gelte, bringen eine hohe pädagogische Verantwortung zum Ausdruck: Der Mensch wird mittels Eindrücken und Beschriftungen aller Art nicht nur perfektioniert, sondern eigentlich erst zum Menschen. Kulturelle Bildung wird hier zum kulturellen Gedächtnis, das den Menschen diejenigen Lerninhalte und Lerndispositionen bzw. die nichtgenetischen Tätigkeitsdispositionen (Sünkel) mit auf dem Weg gibt, die sie nicht qua Natur mitbringen In diesem Blickwinkel verfolgte auch die klassisch-neuhumanistische Periode, für die i.d.R. Wilhelm von Humboldt (1767-1835) Pate steht, die Perspektive einer Erneuerung der antiken klassischen Bildung unter modernen, individualistischen Vorzeichen; und die Romantik bezog sich, etwa bei Richard Wagner (1813-1883), auf ein mythologisch überhöhtes Deutschtum, das der Menschheit als Revitalisierungsprogramm verordnet wurde (vgl. Burghardt 2016; Zirfas 2016c). Die generative Perspektive ist z.B. mit den Namen Schleiermacher, Mollenhauer oder auch Tomasello verbunden. So soll die jüngere Generation nach Friedrich Schleiermacher (1768-1834) sich das von der älteren Generation vermittelte Wissen und Können so aneignen, dass sie in der Lage ist, nicht nur die wertvollen Traditionen aufzugreifen und aktuell kooperativ mit anderen Generationen zusammenzuarbeiten, sondern sie soll auch dahingehend kompetent sein, die zukünftige Entwicklung voranzutreiben (Schleiermacher 1957). Klaus Mollenhauer (1928-1988) hat dann wiederum herausgearbeitet, dass diese Generationenerziehung in der Moderne auf mehreren pädagogischen Grundvorgängen und -prinzipien auf baut (Mollenhauer 1994): Hierzu gehören die Legitimation der pädagogischen Maßnahmen gegenüber der nachkommenden Generation, das Präsentieren und Überliefern derjenigen Inhalte, die für die ältere Generation wichtig erscheinen, wozu vor allem das Vorleben
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eines als gut empfundenen Lebens gehört, das Repräsentieren, d.h. das Auswählen von Bestandteilen der Kultur, die man für die nachwachsende Generation nicht nur in der Gegenwart, sondern in der Zukunft als sinnvoll erachtet, sowie die Annahmen von Bildsamkeit und Selbsttätigkeit, d.h. die pädagogischanthropologische Unterstellungen, dass Menschen entwicklungsfähig und -willig sind und dass man sie zur Selbsttätigkeit auffordern müsse. Kulturelle Bildung hat hier vor allem Fortschritts- und Legitimationsfunktionen: Es zeigt, wie es weitergehen kann bzw. soll und es zeigt, warum es so und nicht anders weitergehen kann bzw. soll. Und nach den neuesten anthropologischen und lernpsychologischen Erkenntnissen, etwa von Michael Tomasello (geb. 1950), sind Kleinkinder schon bereits im Alter von ca. neun Monaten in der Lage, sich so auf einen anderen Menschen zu beziehen, dass sie nicht nur seine Körperbewegungen nachahmen, sondern auch die Intentionalität seiner Handlungen verstehen können; sie können Handlungen und Intentionalitäten auf andere Kontexte übertragen und dort selbsttätig vollziehen (Tomasello 2002). Kulturelle Bildung ist vor allem mimetische Aneignung, die durch die gemeinsame vom Lehrenden und Lernenden vollzogene Ausrichtung der Aufmerksamkeit auf etwas, sei es ein Gegenstand, eine Handlung oder ein Problem, zustande kommt. Die Aufmerksamkeit führt zum Verstehen der kommunikativen Absichten anderer Menschen, der Entwicklung von Perspektiven in der Verwendung sprachlicher Symbole und zur Fähigkeit zum Tausch sozialer Rollen. Kulturelle Bildung bedeutet dementsprechend Weitergabe von Bedeutungen durch fokussierte mimetische Wahrnehmungsbildung. Und schließlich kann man auch noch die sozial-reproduktive Funktion der kulturellen Bildung benennen. Als der entscheidende Prädikator für Leistungen und Kompetenzerwerb in der Schule erwies sich nicht der sozioökonomische und auch nicht der Migranten-Status, sondern das kulturelle Kapital i.S. Pierre Bourdieus (1930-2002). Dieses Kapital in seiner inkorporierten Form kann man sich nicht wie die anderen Kapitalsorten (ökonomisches, soziales oder auch: objektiviertes und institutionalisiertes Kulturkapital) einfach aneignen, sondern dieses Kapital braucht Zeit und es trägt wesentlich zur Reproduktion eines klassenspezifischen Habitus bei (Bourdieu 2001). Kulturelle Bildung trägt insofern zu sozialer Distinktion und zu kultureller Ungleichheit bei.
Reflexion Menschen brauchen aber auch kulturelle Bildung, um sich selbst zu verstehen und anders verstehen zu lernen. Menschen leben ihr Leben anthropologisch, das heißt mit bestimmten Vorstellungen davon, was menschliches Leben ausmacht, ausmachen kann und ausmachen soll. Menschen sind durch ihre
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Selbstverständnisse das, was sie sind; und sie sind durch ihre Selbstverständnisse auch – und wahrscheinlich als die einzigen Lebewesen in der Lage – sich selbst zu verändern. Ein entscheidender Ort, wo dieses Selbstverständnis etabliert, konserviert und diskutiert wird, ist die Kulturelle Bildung. Hier werden nicht nur explizit Menschenbilder verhandelt, sondern diese operiert auch – oftmals implizit – mit spezifischen anthropologischen (Vor-)Verständnissen vom Menschen: etwa dass der Mensch veränderbar, kreativ, neugierig, experimentell etc. sei. Auf die Bedeutung der Kulturellen Bildung für die anthropologische Reflexivität haben vor allem Kant und Hegel hingewiesen. So ist die ästhetische Lust nach Immanuel Kant (1724-1804) kein bloß sinnlicher Genuss, noch eine Lust, die sich der Übereinstimmung mit einer Regel oder einer kontemplativen Versenkung verdankt, sondern eine Lust der Reflexion (vgl. Zirfas 2014). Ästhetische Urteile heißen mithin so, weil sie dem Urteilenden selbst eine Erfahrung von Lust und Unlust ermöglichen und nicht, weil es sich um Urteile über Schönes, Erhabenes oder Kunst handelt; mit ihnen sind keine Eigenschaften von Gegenständen, sondern solche über Befindlichkeiten von Subjekten gemeint. Somit trägt die ästhetische Urteilskraft nichts zur Erkenntnis des Gegenstandes, sondern nur zur Beurteilung und Kritik des urteilenden Subjekts und seines Erkenntnisvermögens bei. Geschmacksurteile sind Gelegenheiten, über ihre Urheber in einen kritischen Diskurs einzutreten; sie geben mehr über den Urteilenden als über den Gegenstand des Urteilens preis. Denn am Geschmack beweist sich, ob jemand zu urteilen versteht. Kant unterstellt dabei etwas Erstaunliches, nämlich dass sich aus dem freien Zusammenspiel der Erkenntniskräfte, die an dem ästhetischen Urteil beteiligt sind – der sinnlichen Einbildungskraft und der vernünftigen Rationalität –, ein ästhetisches Urteil ergibt, das einen allgemeinen Mitteilungscharakter hat. Das ästhetische Spiel konstituiert zudem eine ästhetische Unentscheidbarkeit, insofern es keine abschließende Interpretation, sondern nur inkommensurable Verstehensperspektiven möglich macht. Damit wird eine prinzipiell unendliche Selbstreflexion und ein unendlicher Diskurs mit anderen in Gang gebracht, in dem man nicht über, aber für seinen Geschmack streiten kann. Die Paradoxie liegt wohl darin, dass erst die Einklammerung von Reflexivität im interessenlosen Wohlgefallen (eine Form der phänomenologischen Einstellung) die ästhetische Reflexivität in Gang bringt. Die ästhetische Erfahrung spielt mit dem Verstehen, ohne zu verstehen. Nur indem der Mensch nicht(s) erkennen will, kann er erkennen, dass er erkennen kann: Und das erlebt er als lustvoll. Kulturelle Bildung ist hier im Kern Bildung des Vergnügens, nicht des Verstehens. Auch nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) gründet das Bedürfnis nach Kunst und Kultur in einem Bedürfnis der Selbstreflexion: Menschen stellen die innere und äußere Welt dar, um daran sich selbst wieder zu erken-
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nen (vgl. Zirfas 2016a). Anders formuliert sind Kunst und Kultur Medien, die historisch und kulturell je andere Formen des menschlichen Selbstverständnisses und Selbstbewusstseins (re-)präsentieren. Kunst und Kultur haben somit nach Hegel in verschiedenen Gesellschaften in verschiedenen Zeitaltern auch verschiedene Funktionen. Stifteten sie in der Antike eine Gemeinschaft durch die Darstellung des Wahren und Guten in Form von göttlichen Gestalten und Szenerien, so müssen sie in der Moderne neben dem Anschauungsmaterial auch wissenschaftliche Erkenntnisse und Reflexionsebenen liefern, damit sie dem aktuellen Bedürfnis nach Rationalität und Vernunft gerecht wird. Kulturelle Bildung ist nach Hegel immer auch Selbstkritik der Bildung, die sich mit einer bzw. ihrer defizitären Wirklichkeit zufrieden gibt, die nur noch Mittel zum Zweck der Selbsthilfe oder der Durchsetzung egoistischer Interessen ist, statt sich auf den allgemeinen Standpunkt eines ästhetischen oder begrifflichen Denkens zu begeben. In diesem Sinne vermittelt Kulturelle Bildung nicht nur ein ästhetisches, sondern auch ein historisches, kulturelles, soziales und kritisches Bewusstsein. Und sie vermittelt, so kann man Hegel weiterdenken, ein kosmopolitisches Bewusstsein, denn die Öffnung gegenüber anderen (ästhetischen) Weltanschauungen kann man nicht nur diachron, sondern auch synchron, mit Blick auf andere Kulturen, praktizieren. Kulturelle Bildung ist kritische Bildung des Sinnes – im doppelten Sinne von Sinnlichkeit und Bedeutung – für Anderes, Gemeinschaftliches und Allgemeines und damit auch für das Selbst. Das Museum kann sich somit als ein paradigmatischer Ort entwickeln, an dem die Geschichte des menschlichen Selbstbewusstseins als Kunst historisch wie systematisch auf bereitet und für Bildung zur Verfügung gestellt wird. Hier werden die Bilder von historischen Zeugnissen und religiösen Kultgegenständen zu kulturellen Bildungsgütern. Kulturelle Bildung erscheint somit als eine kritische historische Bildung.
E xpression Durch die gesamte Diskussion um kulturelle Bildung zieht sich eine merkwürdige Zuständigkeits-Beschreibung: sie behandle und bearbeite das Gebiet der »ästhetisch-expressiven« Welterschließung. Ein Beispiel für viele: Die Definition des Rates für Kulturelle Bildung: »Unter Kultureller Bildung verstehen wir die ästhetisch-expressive Dimension der Bildung des Subjekts in kritischer Wechselbeziehung mit Gesellschaft und Natur. Die ästhetische Wahrnehmung von Selbst und Welt sowie die Gestaltung der eigenen Praxis im Lebenslauf, ihrer Sinnlichkeit und Leiblichkeit werden durch sie eröffnet und kultiviert. Ästhetische Wahrnehmung, Erfahrung und Praxis stellen einen Weltzugang eigener Art dar« (Rat für Kulturelle Bildung 2013: 15f.).
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Dabei wird dann regelmäßig auf Humboldt verwiesen – der habe vier Weisen des Weltzuganges unterschieden: historische, mathematische, linguistische und eben ästhetisch-expressive, und darin sei noch die Grundstruktur unserer heutigen Lehrpläne enthalten. Es lohnt sich, da etwas genauer hinzuschauen. Es ist Jürgen Baumert, der – unter ausdrücklichem Verweis auf Humboldt – diese Vierteilung immer wieder präsentiert und sie dann schließlich auch in die Legitimationstexte zu den PISA-Untersuchungen einführt (z.B. Baumert 2002). Dort spielen diese Modi der Weltbewältigung dann eine entscheidende Rolle, und für den Bereich des Ästhetischen ist immer die zusätzliche Qualifikation als »expressiv« angegeben. »Die klassische Bildungstheorie hat vier solcher Modi der Welterfahrung angeboten und als Kern ihrer Idee der allgemeinen Bildung und der für sie notwendigen »Kenntnisse« festgehalten: »historische«, »mathematische«, »linguistische« und »ästhetisch-expressive«. Man erkennt in diesen Modi der Welterfahrung die grundlegenden Dimensionen der historisch-gesellschaftlichen, mathematisch-naturwissenschaftlichen, mutter- und fremdsprachlichen sowie ästhetischen Bildung, wie sie die Grundstruktur des Lehrplans moderner Schulen bis heute bestimmen« (Klieme et al. 2007: 67).
Von dort aus ist die »ästhetisch-expressive« Funktion dann immer weiter verbreitet worden. Schaut man freilich bei Humboldt – im Königsberger bzw. im Rigaer Schulplan – genauer nach, dann werden da zwar tatsächlich verschiedene Unterrichtsgegenstände skizziert. »Der Schulunterricht theilt sich in linguistischen, historischen und mathematischen« (Humboldt 1979: 102). Von »ästhetisch-expressiv« freilich ist da nicht die Rede. Und umgekehrt: Auch in Humboldts Überlegungen zum Zeichenunterricht – ebenfalls von 1809 – kommen alle möglichen Begründungen vor: Es wird gefordert, dass der Schüler »sich des Zeichnens als einer Art von Sprache« zu bedienen lernen soll; es wird auch darüber geklagt, dass in den Schulen der Kunst- und Zeichenunterricht immer weiter als »nur zum Luxus der Erziehung gehörige Kunst« angesehen werde – an keiner Stelle jedoch ist von »ästhetisch-expressiv« die Rede (Humboldt 1903: 175). Die systematische Einordnung »ästhetisch-expressiv« ist also offensichtlich zugunsten einer späteren systematischen Komplettierung geschehen, geht aber über das immer wieder berufene Humboldt’sche Konzept selbst hinaus. Darüber hinaus ist die Bindung des Ästhetischen an die Expressivität aber auch kunsttheoretisch und kunstphilosophisch höchst problematisch. Denn: Wer soll denn da was ausdrücken? Schaut man auf die Humboldt’sche Bildungstheorie, die sich um die Zentral-Begriffe »Kraft« und »Individualität« herum organisiert, dann kann es bei der Auseinandersetzung von Kunst keineswegs um ein quasi-therapeutisches
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Ausdrücken irgendeines Inneren gehen; dafür sind die Eigendynamiken der Kunstwerke und die auch ihnen innewohnende Kraft für Humboldt allzu präsent. Zwar begreift er – siehe seine Auseinandersetzung mit Goethes »Hermann und Dorothea« – die genuine Leistung der Kunstwerke durchaus im Sinne einer Analogie zur sprachlichen Verständigung, aber auch da geht es keineswegs darum, Inneres auszudrücken (vgl. Bilstein 2001). »Expression« als besonderes Merkmal des Ästhetischen ist insofern nicht ohne weiteres auf Humboldt zurückzuführen. Und im Kontext der kunst-theoretischen Diskurse gilt diese Einschränkung erst recht: Zwar fungiert »Selbst-Expression« durchaus als wichtige Funktion von Kunst, aber sie steht keineswegs zentral. In unserem Verständnis von Kunst stehen jedoch – spätestens seit den romantischen Kunsttheorien – gerade diejenigen Elemente im Vordergrund, die jenseits des menschlichen Ausdrucks-Willens ihre Wirksamkeit entfalten. Auch wenn sich in der Geschichte der zeitgenössischen Kunst einzelne Vertreter und Epochen über den »Ausdruck« definieren (Expressionismus), so bleibt doch diese Position keineswegs unwidersprochen, markiert sie auch keineswegs den Hauptstrom der Kunsttheorie – auch und gerade vor dem Hintergrund der AutonomieDiskussionen, die sich durch die Kunst-Diskurse seit nunmehr mehr als 200 Jahren ziehen. Anthropologisch mag also Expression durchaus eine Leistung Kultureller Bildung sein – gerade wenn sich diese Bildung jedoch auf die Geschichte und Aktualität der Kunst-Diskurse bezieht, bleibt diese Leistung eine von vielen. Alle Konzepte, die gerade diese Funktion in den Vordergrund stellen, verraten den Kunstbezug kultureller Bildung an (psycho-)therapeutische Ambitionen (vgl. Bilstein 2011; Schwarte 2016).
Qualifikation Wenn man sich die Diskurse über Kulturelle Bildung anschaut, zeigen sich sehr schnell deutliche nationale Akzentuierungen. Während die deutschen Diskussionen immer weiter und immer noch von der idealistischen Tradition gekennzeichnet sind – letztlich läuft dann alles auf die Frage hinaus: »Was aber ist mit der Kunst?« – und während die lateinamerikanischen Diskurse weitgehend sozialpädagogisch motiviert sind – letztlich folgen sie der Frage: »Wie kann man Kinder z.B. aus dem Slums retten?« –, folgt die anglo-amerikanische Diskussion vor allem einer schlicht utilitaristischen Linie: »It’s about jobs!« Gerade in dieser Diskussionstradition wird Kunst eben nicht um der Kunst willen betrieben – und entsprechend wird denn auch Kulturelle Bildung nicht um ihrer selbst willen veranstaltet (Winner u.a. 2013). Und in der Tat: Kulturelle Bildung könnte ja vielleicht sehr nützlich sein und die generelle Brauchbarkeit der Menschen entscheidend erhöhen. Wer sich mit Kunst und Kultur auseinandersetzt, erwirbt Fähigkeiten und Fertig-
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keiten, die im Bereich curricular standardisierten Lernens nicht ohne Weiteres vermittelt werden können: Er lernt, sich auf Neues einzulassen; er lernt, gewohnte Wahrnehmungen und Handlungszusammenhänge infrage zu stellen; er lernt, sich selbst und die Welt jenseits etablierter und schablonierter Bewältigungsmuster zu erleben und zu gestalten usw. Insbesondere die anglo-amerikanische Diskussion – zum Beispiel Paul Collard – verweist immer wieder darauf, dass genau diese Fähigkeiten in sich immer mehr und immer schneller modernisierenden, post-industriellen Kulturen immer wichtiger werden (vgl. Collard 2006; Bamford 2010). Es ist undeutlich geworden, wie unsere Welt zukünftig aussehen wird, wir können nicht mehr genau erkennen, was die nachfolgenden Generationen eigentlich können und lernen sollen. Und umso wichtiger sind Meta-Qualifikationen; wir müssen den Jüngeren die Fähigkeit vermitteln, sich selbst Neues auszudenken; mit allem, was ihnen begegnet, innovativ und kreativ umzugehen. Dazu bieten die Künste ein unüberbietbar wirkungsvolles Trainingsfeld – und zwar gerade dann, wenn sie gemeinsam, im Verbund der Kulturellen Bildung also, wahrgenommen werden. Der Gewinn Kultureller Bildung besteht aus dieser Sicht darin, dass das allen Künsten Gemeinsame in den Blick gerät: das Hinterfragen, das Ausprobieren, das Herantasten an neue Lösungen. Die Qualifikationen, die hier erworben werden, lassen sich nur schwer quantifiziert messen, sind aber für die Einzelnen mit einem deutlichen Gewinn an Lebensmöglichkeiten verbunden. Große Teile der anglo-amerikanischen Transfer-Forschung verfolgen genau diese These: dass man bei und durch Kulturelle Bildung Vieles und Wichtiges lernen kann (Rittelmeyer 2012, bes.: 69-103). Freilich hat sich hier – etwa bei Andreas Reckwitz u.a. – vor allem in der Nachfolge der höchst ernüchternden und beunruhigenden Befunde von Luc Boltanski und Ève Chiapello (Boltanski/Chiapello 2003) deutliche Kritik artikuliert, die vor allem dahin geht, dass durch eine solche utilitaristische Legitimation von Kultureller Bildung gerade die kritischen und dysfunktionalen Funktionen dieser Bildung einkassiert bzw. ruiniert werden. Letztlich führt die damit verbundene Paradoxie: die Nützlichkeit des Unnützen, auf das anthropologische Kernproblem der Meta-Reflexivität zurück. Als Lebewesen sind wir Menschen so schlau, dass wir jede Strategie – z.B. die der Autonomie des Kunstwerkes – sehr schnell wieder durch eine Meta-Strategie überholen können. Gerade die Nicht-Nützlichkeit entwickelt dann in einer avancierten Gesellschaft, die sich über Kreativität und produktiviertes Querdenkertum definiert, den höchst raffinierten Nutzen (vgl. Bilstein 2007; Bilstein 2008).
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Irritation Im Zuge der modernen Säkularisationsbewegungen und seit der Entwicklung einer eigenen Kunst-Religion (Auerochs 2006) steht Kunst mehr und mehr für Kontingenz, für die Erfahrung also, dass es Unerwartetes, Unvorhersehbares gibt. Insofern ersetzt sie funktional an vielen Stellen den »unergründlichen Ratschluss Gottes«. Und immerhin dies ist ja allen Künsten gemeinsam: Dass da zum Schluss ein Werk – ein Musikstück, eine Statue, ein Bild, ein Gedicht – herauskommt, das vom Zeitpunkt seiner Fertigstellung an ein ganz eigenes Schicksal erleidet. Natürlich sind sie von Menschen gemacht, natürlich bestimmen Menschen, was mit ihnen, den Gemälden und Skulpturen, den Liedern und Romanen, den Sinfonien und Sonaten, den Tanz-Werken, geschieht. Dennoch aber bleibt – quasi übersummativ – ein Rest, den wir uns als autonom zu beschreiben angewöhnt haben. Kunstwerke entwickeln, dies unterstellen wir ihnen, ein eigenes Leben, richten sich auf je spezifische Weise an uns. Sie treten uns entgegen – vor allem mit Fragen. Zum Beispiel: Rilkes »Archaischer Torso Apollos«, ein Gedicht von 1908, beschreibt bis ins erotische Detail hinein die Skulptur eines schönen, wohl schlafenden Mannes: ein Gedicht also über eine Plastik, ein Kunstwerk über ein Kunstwerk. Beschrieben werden das Haupt, die Augen, die Brust, die Lenden, das Geschlecht dieses Schönen. Dann aber, zum Ende des Gedichtes, geschieht Unerhörtes: die Perspektive dreht sich um, der Betrachter – »Du« – wird unvermittelt angesprochen, und dies mit geradezu schockierender Direktheit: »Denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht: Du musst Dein Leben ändern« (Rilke 2000). Das hat er nun davon, der Betrachter des Kunstwerkes: Es schaut ihn an, richtet sich direkt an ihn, beunruhigt ihn und wirft alles durcheinander. Kunst, insbesondere ihre Werke: das ist in unseren säkularen Zeiten immer weiter auch eine Instanz existenzieller Infragestellung, ein Medium zur Thematisierung von Problemen, die sich alleine in dieser unserer Welt nicht lösen lassen. Die Werke der Kunst bringen Beunruhigungen und Fragen zur Sprache, die ansonsten in unseren säkularen Zeiten ihre institutionellen Orte weitgehend verloren haben. Kunst erschüttert unsere sicher geglaubten Weltdeutungs-Muster. Ein anderes Beispiel: In seinem Orchester-Satz »unanswered question« von 1906 thematisiert der US-amerikanische Komponist Charles Ives – eingebettet in eine amerikanische Version des Symbolismus – eine für menschliches Selbstverständnis genauso zentrale wie irritierende Fragenfolge: »Where do I come from, Where do I go?« (Burkholder 1972, bes.: 20-32; Musketaquid 1994, bes.: 17-52) Auf diese instrumental und nur instrumental formulierte Ausgangsfrage nach dem Ursprung menschlicher Existenz gibt es bei Ives keine
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Antwort. Die Frage muss vielmehr wieder und wieder – insgesamt sieben Mal – wiederholt werden und bleibt schließlich unbeantwortet offen. Auch dafür: für unsere vielen offenen Fragen, für das Nachdenken und Reden über die weiterwirkenden Fraglichkeiten und Beunruhigungen unserer Welt finden wir in der Kunst eine Metapher– wir haben keine Bessere.
Metaphysik der Berührung Es gibt eine Art Standard-Topos in Projekten der Kulturellen Bildung, der einem immer wieder begegnet: Jedes Kind soll einmal mit jeder Kunstform »in Berührung kommen«. Daraus ergeben sich dann organisatorische, curriculare und inhaltliche Konsequenzen – vor allem aber die Frage: Was ist denn eigentlich eine Berührung? Gemeint ist dann doch in der Regel eine Berührung im Sinne von existenzieller Irritation. Die soll dann also in Programme gegossen und curricular inszeniert werden. Das ist ein Problem. Hier lohnt es sich, noch einmal auf Wilhelm von Humboldt zurückgreifen: Der behandelt das Problem auf der Ebene der Sprache – bei der Frage also, wie man den sprachlichen Austausch zwischen Individuen erklären und verstehen könnte. Humboldt spricht an dieser Stelle immer von »Wechselwirkung«, und dabei kommen der Kunst und dem Bereich des Ästhetischen prominente Bedeutung zu: In den Kunstwerken – Humboldt hat da vor allem Skulptur und Dichtkunst vor Augen – realisiert sich die Wechselwirkung zwischen den Individuen, aber auch zwischen Individualität und Idealität am deutlichsten und am zugespitztesten, in der Kunst reflektieren sich Ich und Welt gegenseitig in einem unaufhörlichen Dialog. Dabei ist Sprache das erste und wichtigste Medium. Sie liefert die Voraussetzung aller menschlichen Sozialität, und damit auch die Grundlage und den Anknüpfungspunkt aller Bildung. Auf Selbsttätigkeit beruhend, vermittelt sie zwischen Individualität und Objektivität – ohne eine dieser beiden Grundqualitäten des menschlichen Geistes zu vernachlässigen. Sprache entwickelt sich »nur gesellschaftlich, und der Mensch versteht sich selbst nur, indem er die Verstehbarkeit seiner Worte an Andren versuchend geprüft hat. Denn die Objektivität wird gesteigert, wenn das selbstgebildete Wort aus fremdem Munde wiedertönt. Der Subjektivität aber wird nichts geraubt, […] ja auch sie wird verstärkt, da die in Sprache verwandelte Vorstellung nicht mehr ausschließend einem Subjekt angehört« (Humboldt 1907: 55f.; Menze 1988).
Das entscheidende Wort ist hier »wiedertönt«. Nicht als Organ der Verkündigung, der Information oder der rationalen Verständigung wird Sprache verstanden, sondern als spiegelndes Widertönen zwischen Subjekt und Welt, als ins Akustische übertragende Reflexion. Mit diesem Akzent auf dem »Wieder-
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tönen« als der Grundlage menschlichen Miteinanders wird deutlich, wie sich Humboldt die Sozialität und, genauer: die Genese der Sozialität seiner sich bildenden Menschen vorstellt: Als Wechselwirkung, als ständiges Hin und Her von innerer Gestaltung und Außenwirkung, als meta-pherein, als transfer. Es geht um die radikalisierte Arbeit an der eigenen Individualität in reflektierender, wiedertönender Wechselwirkung mit den anderen Menschen und der Welt. Der Stoff der Welt und die Gestalt des Geistes sollen sich durch das Widertönen einander immer mehr anähneln, sollen – anders formuliert – in einem mimetischen Prozess miteinander verschmelzen. Das zoon politikon Humboldts versucht, ein reflexives, visuell metaphorisiert: spiegelndes, akustisch metaphorisiert: widertönendes Verhältnis von Mensch und Welt zu modellieren, versucht damit auf anthropologischer Ebene Spannungen und Paradoxien der conditio humana mitzudenken, die in der Black-box eines subjektlosen Pragmatismus gerade vermieden werden sollen. Ein Problem aber bleibt: Das Widertönen heißt im Griechischen »kat-echesis« und liefert eine Grund-Metapher für Lehre und Lernen. Durch Wiederholung, durch Nach-Sagen und Nach-Sprechen, durch Nach-Lesen nähern sich die Menschen untereinander, nähern sich aber auch Mensch und Welt einander an. Der eine Laut, das eine Wort, der eine Lehrsatz wird vorgesprochen, dann wiederholt, und dabei entstehen Wissen, Gelehrsamkeit und Moralität. Das »katechein« benennt ein Widertönen, das man ganz entschieden ohne »ie« schreiben müsste: Widertönen, gegentönen ist damit gemeint. Noch im christlichen Katechismus liegt also die Imagination einer durchaus eigenständigen, selbsttätig Nuancen beisteuernden Wiederholung zugrunde, die dann auch eine durchaus eigengestalterische Mimesis zur Folge hat. Dem graecophilen Bildungsbürger Humboldt kann man durchaus unterstellen, dass er bei seiner Formulierung vom Wiedertönen, den Bedeutungshof von »katechein« im Hintergrund mitdenkt. Dialogisch entwickelt sich da in der Wiederholung ein Wechselgespräch, das dem Individuum ein variierendes Echo der Welt ermöglicht. Den Anfang legt Humboldt beim selbstgebildeten Wort, das aus fremdem Munde widertönt. Am Anfang also steht da die kraftvolle Eigentätigkeit, die dann zum Wechselverhältnis des verähnlichenden Echos führt. Und was von außen kommt, das ist keineswegs das barbarische Getöse des Sozialen, sondern die Welt-Wiederholung des eigenen Wortes. Keineswegs also geht es um Nachplappern oder stumpfe Wiederholung. Humboldts sich Bildende, das sind vielmehr Repetierende der Welt um sie herum, dialogisch tätige Katecheten, die in ein lehrend-liebendes Wechselverhältnis mit der Welt eintreten. Aus und durch diese sich Bildenden klingt nichts Fremdes: Nichts Höheres, Idealeres oder Schöneres, aus ihnen klingt kein vorgegebener Kanon heraus, sondern als Katecheten der Welt treten sie in einen kraftvollen Dialog mit allem, was ihnen entgegentritt. Diese Katecheten der Welt werden auf sich selbst wirken, indem
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sie auf das Große Ganze wirken, und sie werden auf das Große Ganze wirken, indem sie auf sich selbst wirken. Darin: In diesem Konzept einer liebend-mimetischen Anverwandlung von Subjekt und Welt wird das zoon politikon in einer Widersprüchlichkeit gedacht, deren utopischer Gehalt bis heute wirksam ist und die der metareflexiven Kompetenz der Gattung Mensch gerecht wird.
Kulturelle Bildung als Placebo? Aus einem anthropologischen Blickwinkel auf die dargestellten Funktionen und dem Topos der Berührung kann man wohl Jan Amos Comenius (15921670) und seinen Forderungen, alle Menschen mit allen Sachverhalten allumfassend zu bilden (omnes, omnia, omnino), im Sinne der Kulturellen Bildung nur zustimmen (Comenius 1993). Das bedeutet: Alle Menschen sollen sich mit und in allen kulturell bedeutsamen Sachverhalten, vor allem in und mit den Künsten, in qualitativ hochwertiger Form bilden (können). Von seinem Anspruch her dürfte sich diese comenianische Forderung cum grano salis in allen modernen Überlegungen zur Kulturellen Bildung wiederfinden lassen. Und sie finden sich auch und nicht zufällig in den bildungsdidaktischen Überlegungen von Wolfgang Klafki wieder, die auf Selbst- und Mitbestimmung sowie eine umfassende Bildung in allen anthropologischen Grunddimensionen setzt (Klafki 1996). Vor diesem Hintergrund kann man eine ganze Reihe kritischer Fragen formulieren: Kann man überhaupt Kulturelle Bildung für jeden Menschen in allen künstlerischen und kulturellen Feldern in einem umfassenden Sinne zur Verfügung stellen? Muss wirklich jeder mit allen kulturellen Praktiken und Semantiken in Berührung kommen? Reicht es aus, wenn er nur die Möglichkeit dazu hat? Oder geht es in diesen Debatten lediglich um kulturelle Chancengleichheit im Sinne einer umfassenden Anerkennung aller kultureller und ästhetischer Wertigkeiten in formalen und non-formalen Bildungssystemen? (vgl. Rat für Kulturelle Bildung 2014) Zunächst: Auch die Rede von einem (unbedingten) Anspruch auf ein kulturell-ästhetisches Bildungsminimum bleibt durchaus prekär, kann doch dieses Minimum kaum garantiert werden. Nicht jede »Berührung« führt auch unmittelbar zur Wechselwirkung von Ich und Welt. Und anderseits wäre (anthropologisch, bildungstheoretisch, kulturell, sozial?) zu klären, mit was man und wie in Berührung kommen soll (Kanon- und Kompetenzdebatte); denn die Schulen (aber auch die non-formalen Bildungsinstitutionen) werden nicht alle Künste und nicht alle in gleicher Weise fördern können. Zudem wollen wir an die habituellen Defizite in der Kulturellen Bildung erinnern. Denn nicht alle Schüler können im gleichen Ausmaß etwa an kultureller Bildung in der Schule partizipieren, weil die habituelle Passung zwischen
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Schüler- und Lehrerschaft nicht gegeben ist. Denn die Schule pflegt – und das belegen alle empirischen Untersuchungen einer qualitativen Bildungsforschung – eine spezifische Form der »Gleichbehandlung«, nämlich jene, die sich am Habitus der sozialen Mittelschicht orientiert (vgl. z.B. Bourdieu/ Passeron 1973). Um ein Wort von Bourdieu abzuwandeln: Man unterrichtet nur diejenigen, die schon kulturell partizipieren können. Diese unterrichtliche Gleichbehandlung aller kann deshalb als problematisch empfunden werden, weil sie nur einen speziellen Teil der Klasse, eben jenen der sozialen Mittelschicht, fördert. Soll man also schulische Didaktiken und Methoden entwickeln, die dem Habitus aller Schüler gerecht werden? Soll man schulischerseits andere – nicht mittelschichtfokussierte – Wissens- und Praxisformen stärker beachten und berücksichtigen? Oder soll man die Orientierung am Mittelschichthabitus beibehalten, der wiederum entscheidend für den Erfolg in den Feldern Beruf, Politik und Kultur zu sein scheint? D.h. wohl auch: Soll man sich mit der Selektionsfunktion von Schule einfach abfinden? Und damit auch indirekt eingestehen, dass manche Schülerinnen und Schüler einfach »zu wenige« oder »die falschen« kulturellen Kompetenzen haben? Oder muss man die Familien pädagogisch revolutionieren? Denn nicht nur für die Kulturelle Bildung gilt, holzschnittartig formuliert: Was man nicht in der Familie gelernt hat, das wird auch kaum außerhalb der Familie praktiziert. Ist Kulturelle Bildung in diesem Sinne nicht nur ein kulturelles oder soziales, sondern auch ein anthropologisches Placebo? Und das schlicht deshalb, weil sie kaum etwas zur Kompensation, Tradierung, Reflexion, Qualifikation, Expressivität und Irritation in bestimmten Gruppen beiträgt. Brauchen wir andere Inhalte und Formen kultureller Bildung?
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Die Folgen der gegenwärtigen weltweiten Fluchtbewegungen werden in Europa seit dem Spätsommer 2015 als Flüchtlingskrise wahrgenommen und politisch diskutiert, die verschiedene Facetten aufweist. So kann sie als Krise politischer Regierbarkeit und staatlicher Steuerungsfähigkeit, als Krise intergouvernementaler und supranationaler Kooperation im Rahmen der Europäischen Union, als Krise der Institutionen zwischenstaatlicher Konfliktregulierung, als Krise politischer Kommunikation oder auch als kulturelle Krise verstanden werden und hierin vor allem als Krise kultureller Identität. Als Rahmung dieses Beitrags soll die Flüchtlingskrise als Krise der kulturellen Fähigkeit ins Auge gefasst werden, die Wahrnehmung und den Entwurf personaler und kollektiver Identität mit der Tatsache der Einwanderung von Menschen in bisher ungewohnter Größenordnung sowie den Modi sozialen und kulturellen Kontakts mit ihnen und den Fragen nach Integration und Akkulturation der Migrantinnen und Migranten zu vereinbaren, und insoweit als Herausforderung kultureller Bildung. Kollektive Identitäten formen sich in der Reziprozität von Integration nach innen und Distinktion nach außen aus. So wie sich personale Identität durch die Definition der Beziehung zwischen der eigenen Person und anderen Individuen ausbildet, wird kollektive Identität durch die Bestimmung des Verhältnisses zwischen der zu identifizierenden In-group und den – realen oder behaupteten – Kennzeichen anderer Kollektive konstruiert, durch das Benennen von Unterschieden zu ihnen oder auch von Gemeinsamkeiten mit ihnen. Damit sind sowohl innere Homogenisierung im Rekurs auf Erinnerungen an eine gemeinsame Vergangenheit, auf gegenwärtige Wertüberzeugungen oder auch in die Zukunft weisende politische Ziele als auch Grenzziehung zu anderen Gemeinschaften grundlegend für die Herausbildung und Erhaltung kollektiver Identitäten. Dieses »normale« Distinktionspotential kollektiver Identitäten gerät jedoch zur gleichsam pathologischen und politisch prekären Freund-Feind-Schematisierung, wenn Abgrenzung und Ausgrenzung als ex negativo verlässlich
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funktionierende identitive Konstruktionsprinzipien die schwierigere Orientierung an selbstdefinierten Inhalten und Grundlagen, die eine In-group aus sich selbst heraus und nicht durch Differenz zu Out-groups begründen, als positive Identifikation zurückdrängen. Ein Eskalationspotential für gewaltförmige Konflikte bergen solche Feindbildprojektionen, wenn die Abwertung des Anderen die Anerkennung des Eigenen dominiert, da dieses Andere als Bedrohung des Eigenen perzipiert wird und dadurch zunächst zum Fremden und dann zum Feind sich wandelt (vgl. Bergem 2005: 88-115). Wenn man die gegenwärtige Flüchtlingskrise in Deutschland als Krise kultureller Identitäten perspektiviert, geht es um die Frage, wer dazu gehört und wer nicht, es geht um die Prozesse von Inklusion und Exklusion, um die Regeln und Überzeugungen, anhand derer über Einschluss und Ausschluss entschieden wird, es geht letztlich um die Frage Was ist deutsch? Diese Frage, was im Kern deutsche Identität ausmache, wurde in Deutschland zumindest seit der Erfindung der zählebigen Idee der Kulturnation zur Zeit der intellektuell-literarischen Konstituierung der deutschen Nation während der Befreiungskriege gegen das nachrevolutionäre Frankreich stets unter Rückgriff auf deutsche Kultur beantwortet. Die große Kontinuität der in Deutschland dem Phänomen Kultur zugeschriebenen Begründungs- und Erklärungskraft spiegelt sich in den seit Beginn des Jahrtausends immer wieder aufflackernden Debatten um den Begriff einer deutschen Leitkultur, der mittlerweile auch Eingang in die Grundsatzprogramme der beiden Unionsparteien gefunden hat (vgl. CDU 2007: 14, 21; CSU-Landesleitung 2007: 144) und zur idée-force der Diskussion um Zuwanderung und Eingliederung avancieren konnte. In diesem Kontext wurde und wird die semantische Extension des Terminus der Kultur bisweilen stark beansprucht, so dass über seine Intension immer weniger Verständigung hergestellt werden kann. Gerade in seiner inflationären Verwendung als Bezeichnung für alles Mögliche kann der Begriff leicht in die Gefahr geraten, als Catch-all-term seine Benennungskraft zu verlieren. Auch um die Kontroverse um Immigration und Integration oder auch Nicht-Integration der Migrantinnen und Migranten in ihren kulturellen Aspekten zu verstehen, sollen im Folgenden verschiedene Dimensionen des Verständnisses der Kultur eingehender betrachtet werden. Die Ideen der Französischen Revolution beförderten in Deutschland, nachdem sie mit Napoleons Truppen ins Land gedrungen und als die Werte des Kriegsgegners bekämpft worden waren, den Rekurs auf Kultur – und nicht auf staatliche Vergemeinschaftung oder eine politische Gründungsidee – als Grundlage der Nation. Sieben Jahre vor dem Ausbruch der Revolution in Frankreich betonte Johann Christoph Adelung die Bedeutung der Kulturgeschichte gegenüber »alle[n] übrige[n] Arten der Geschichte« und schrieb über sie: »Sie giebt zu einer jeden Geschichte von beträchtlichem Umfange das eigentliche Pragmatische her, weil die Ursachen, warum das Veränderliche eines sich
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selbst überlassenen Volkes gerade so und nicht anders erfolget ist, nirgends anders als aus der Cultur und ihrem Gange hergeleitet und erkläret werden kann.« (Adelung 1979: Blatt 2 der Vorrede) Der deutsche Sprachforscher und Philosoph der Aufklärung hätte gerne »für das Wort Cultur einen deutschen Ausdruck« verwendet, wusste jedoch keinen, »der dessen Begriff erschöpfte«, denn »Verfeinerung, Aufklärung, Entwickelung der Fähigkeiten, sagen alle etwas, aber nicht alles« (Adelung 1979: Blatt 5 der Vorrede). Er verbindet nun Kultur mit Gesellschaft, indem er Kultur der Natur entgegensetzt – »der wahre Stand der Natur ist Abwesenheit aller Cultur« – und Kultur definiert als den »Uebergang aus dem mehr sinnlichen und thierischen Zustande in enger verschlungene Verbindungen des gesellschaftlichen Lebens« (Adelung 1979: Blatt 3 der Vorrede). Diese Verknüpfung von Kultur und Gesellschaft bzw. mit der Vergesellschaftung der Menschen macht Kultur zu einem Thema auch der Sozialwissenschaften. Das Fahnenwort Kultur ist mittlerweile als ein Paradigma und Leitbegriff der Sozialwissenschaften an die Stelle des in früheren Jahrzehnten dominierenden Gesellschaftsbegriffs getreten. Die zunehmende Nachfrage nach Kultur als Erklärungsgröße für Politik und Gesellschaft hat ein wichtiges Motiv in dem vielfältig motivierten Bedürfnis nach Identifikation, das sich aus ganz unterschiedlichen Formen der Verunsicherung speisen kann, aktuell vor allem aus Gefühlen der Fremdheit und Angst im Kontakt mit den Folgen der Globalisierung, der Flucht und der Migration. Dem zunehmenden Bedürfnis nach Orientierung und Identifikation in einer vielen unübersichtlich erscheinenden Welt kommt der Begriff der Kultur mit seinem Assoziationsfeld von Sinn und Deutung entgegen. Im Zuge ihres akademischen wie öffentlichen Revivals wird Kultur zunehmend auch als ein einklagbares Recht verstanden, das nach der Durchsetzung der Rechte auf bürgerliche Freiheit, politische Teilhabe und soziale Wohlfahrt nunmehr Rechte auf kulturelle Identität begründe. In diese Richtung weisen die Versuche verschiedener Gruppen, mit Identitätspolitik Einfluss auf die Gestaltung gesellschaftlicher und staatlicher Verhältnisse zu nehmen. Die wissenschaftlichen Disziplinen, denen vorrangig Kompetenz im Erfassen und Verstehen der mit Kultur bezeichneten Phänomene zukommt wie Kulturphilosophie, -soziologie, -geschichte, -anthropologie und Ethnologie, weisen bei allen Unterschieden einen grundlegenden Konsens in der Auffassung von Kultur als einem symbolischen System, wie sie vor allem von Ernst Cassirer (1964; 1990) und Clifford Geertz (1973) entwickelt wurde. Unabhängig von theoretisch nicht zu klärenden Fragen wie etwa, ob Kultur Gesellschaften stabilisiert oder dynamisiert, sie integriert oder differenziert, betont dieses semiotische Verständnis von Kultur zunächst die Bedeutungskomponente sozialen Handelns und damit den gesellschaftlichen Bedarf an Deutung und Sinn, die Orientierung und Identifikation erst möglich machen. Max Weber führte
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1904 den Kulturbegriff als »Wertbegriff« ein und definierte Kultur als »ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens« (Weber 1988: 175, 180). In der Tradition der Weberschen Auffassung vom Menschen als »animal suspended in webs of significance he himself has spun« versteht Clifford Geertz die Untersuchung von Kultur als »not an experimental science in search of law but an interpretive one in search of meaning« (1973: 5). Kultur bringt demnach die menschliche Suche nach Bedeutung und Sinn zum Ausdruck. Dieses Sinnbedürfnis des Menschen versteht die Kulturanthropologie als ein Elementarbedürfnis; so könne der Mensch in einer Welt ohne Sinn gar nicht leben. Das Verständnis vom Menschen als einem Sinn suchenden und herstellenden Wesen, das erst über Sinn konkretisierende Symbole seinen Bezug zur Wirklichkeit herstellt, wurde am prägnantesten von Ernst Cassirer in den 1920er Jahren formuliert. In seiner Philosophie der symbolischen Formen präsentiert Cassirer sein Verständnis von Symbol als »das Ganze jener Phänomene […], in denen überhaupt eine wie immer geartete ›Sinnerfüllung‹ des Sinnlichen sich darstellt; – in denen ein Sinnliches, in der Art seines Daseins und So-Seins, sich zugleich als Besonderung und Verkörperung, als Manifestation und Inkarnation eines Sinnes darstellt« (1964, Bd. 3: 109). Der Einfluss von Cassirers Philosophie prägt auch Susanne Langers Verständnis von Symbolen, wenn sie Anfang der 1940er Jahre mit diesem Begriff »nicht Stellvertretung[en] ihrer Gegenstände, sondern Vehikel für die Vorstellung von Gegenständen« erfasst. Aus dieser Sicht sind nämlich »die Vorstellungen, nicht die Dinge, […] das, was Symbole direkt ›meinen‹«; aus dieser Sicht können Symbole »dazu bewegen, ihre Gegenstände sich vorzustellen« (Langer 1965: 69). Das Verständnis von Kultur als einem Set von Symbolen bindet Kultur an Kollektivität. Als zeichenhafte Konkretion eines Sinns sind Symbole an ihre Kommunizierbarkeit geknüpft; Kommunikation kann nur zwischen Individuen stattfinden; Kultur ist interaktiv und kommunikativ und somit eine Eigenschaft von Kollektiven, nicht von Individuen. Die unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen Ansätze stimmen in der Überzeugung überein, dass Kultur, indem sie sprachliche und nicht-sprachliche Kommunikation standardisiert, kollektive Gewohnheiten bezeichnet. Gegenüber dem in diesem Zusammenhang häufig verwendeten Begriff Konvention bevorzugt Klaus Hansen den Terminus Standardisierung, wenn er formuliert: »Kultur umfaßt Standardisierungen, die in Kollektiven gelten.« (2000: 39) Auch der britische Ethnologe Edward Burnett Tylor hob den gesellschaftlichen Charakter von Kultur hervor, als er 1871 definierte: »CULTURE or Civilization, taken in its wide ethnographic sense, is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acqired by man as a member of society.« (1871, Bd. 1: 1) Dieses kanonisch gewordene Verständnis von Kultur ist modern einerseits wegen der
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Thematisierung der Beziehung zwischen Kultur und Gesellschaft und andererseits aufgrund der weiten Fassung des Kulturbegriffs. Als heute nicht mehr zeitgemäß hingegen erscheinen der bloß additive Charakter der Definition sowie die zum Ausdruck gebrachte Vorstellung von Kultur als einer Ganzheit. An der Idee einer Ganzheitlichkeit hatte sich zwanzig Jahre vor Tylor bereits Gustav Friedrich Klemm orientiert und sie sogar personifiziert, als er 1851 der neu zu begründenden Disziplin die Aufgabe stellte, »die Menschheit der Natur gegenüber als ein Ganzes, als ein Individuum darzustellen« (1851: 168), und die Vorstellung von Kultur damit holistisch färbte. Für sein Verständnis vom Menschen prägte Ernst Cassirer den Begriff animal symbolicum. Damit steht die Fähigkeit im Zentrum der Vorstellung vom Menschen, die Welt als symbolisches Universum wahrzunehmen, in dieser Welt von Symbolen zu leben, zu denken und zu kommunizieren und selbst Symbole zu erzeugen. Dieses Menschenbild ist kein ausschließendes Gegenstück, sondern eine Erweiterung der traditionellen Auffassung vom Menschen als animal rationale, denn auch die Eigenschaft des Menschen, ein vernunftbegabtes Wesen zu sein, gehört aus dieser Sicht zum symbolischen Universum (vgl. Cassirer 1990: 51). Mit der Fähigkeit des Menschen zur symbolischen Form, wie sie sich in der Sprache, der Kunst, der Religion, im Mythos oder auch in Erkenntnis, Technik und Recht und in anderen symbolischen Formen äußert (vgl. Cassirer 1964), wird die Tiefe und Prägungskraft der symbolischen Dimension des menschlichen Bewussteins gegenüber dessen von Logik und Verstand bestimmter Dimension hervorgehoben. Das animal symbolicum lebt nicht solitär; im Blick auf das Verständnis der Bedeutung der Symbole, über die es mit der Welt in Beziehung tritt, besteht Übereinstimmung mit anderen. Der Mensch entwickelt, stiftet und trägt Kultur und wird von ihr geprägt nur im Rahmen der Gemeinschaften, an die er Bindungen empfindet, deren Annahmen über das Verständnis von Zeichen er mit anderen teilt. Das animal symbolicum kann weiterhin auch als animal commemorans begriffen werden. Als ein sich erinnerndes Wesen schöpft der Mensch symbolische Formen, die nicht nur den kommunikativen Austausch von Informationen ermöglichen, sondern die für relevant erachteten Informationen auch auf bewahren, um sie an die folgenden Generationen zu tradieren, deren Erinnerungen zu organisieren und dadurch Gemeinschaft zu kontinuieren. Mit einem semiotisch und mnestisch orientierten Verständnis kann Kultur als ein kommunikativ hergestelltes, standardisiertes, tradierbares und wandlungsfähiges, im Gedächtnis einer Gruppe gespeichertes Ensemble von Symbolen verstanden werden, das menschliche Ausdrucksformen und Handlungsweisen bedeutsam und verstehbar macht und dadurch Sinn konstituiert, Gemeinsamkeit codiert und Identität generiert. In diesem Kontext ist der Begriff Ensemble von Symbolen adäquater als die Termini Struktur oder System von Symbolen, die in Kulturdefinitionen oft Verwendung finden. Der Systembegriff
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evoziert nämlich die eher statische Vorstellung kausal zuzuordnender Funktionen und der Strukturbegriff suggeriert die Annahme geordneter Beziehungen von Teilen eines kohärenten Ganzen. Es ist jedoch zu bezweifeln, dass die unter Bedingungen der Kontingenz entstandenen, fluktuierenden, spannungsreichen und häufig widersprüchlichen Phänomene, die mit dem Kulturbegriff bezeichnet werden, mit solchen Kriterien wie Ordnung, Einheit und Ganzheit überhaupt zu erfassen sind. Das Verständnis von Kultur als einem organischen, festgefügten und einheitlichen Ganzen, die in Deutschland der Idee der Kulturnation zugrunde lag und heute dem Begriff einer deutschen Leitkultur zumindest partiell zugrunde liegt, ist dem Gegenstand nicht angemessen. Treffender ist hingegen die Vorstellung von Kultur als einem pluralen, flüssigen und dynamischen Prozess. Gleichwohl kommt auch diese Auffassung nicht ohne eine – wenigstens implizite – Bezugnahme auf die Annahme einer Kohärenz aus, die eine Kultur erst wahrnehmbar macht. Dieses Mindestmaß an Zusammenhang, das jedoch nicht erlaubt, Kultur zu substantialisieren, beschreibt Heinz Bude als kontingente Minimalkohärenz: »Kultur beginnt sich aufzulösen, sobald man anfängt, über ihre methodische Herstellung nachzudenken. […] Die Kategorie der Kultur verspricht die Vorstellung einer Einheit, die von vornherein vom Makel der Kontingenz gezeichnet ist.« (1999: 108f.) Die in Richtung starker gesellschaftlicher Integration und Kohäsion weisende Auffassung, einer bestimmten – national, religiös, ethnisch oder auf andere Weise abgrenzbaren – Gruppe sei eine spezifische Kultur in essentieller Ganzheit zu eigen, hat die Kulturanthropologie mittlerweile weitgehend revidiert. Auch die Kultursoziologie hat ihre lange Zeit vertretene, vor allem von Talcott Parsons geprägte Annahme, Kultur könne als zusammenhängendes System verbindlicher Ideen und Ideale eine reibungslose Integration und den Konsensus der Gesellschaft verbürgen, nunmehr verabschiedet und diese Sichtweise als »Mythos der kulturellen Integration« (Margaret Archer; zit.n. Müller 1994: 146) kritisiert. Damit kann auch die Vorstellung von einer unvermittelten und messbaren Funktionalität von Kultur für soziale, ökonomische und politische Prozesse verabschiedet werden. Die integrativen Wirkungen von Kultur als einer Art gesellschaftlichem Kitt sind nicht zu bestreiten, jedoch vollziehen sich diese Integrationsleistungen nicht frei von Spannungen, Konflikten und Widersprüchen. Daher greifen lineare Ableitungen sozialen und politischen Handelns aus dem kulturellen Werte- und Normensystem zu kurz. Clifford Geertz hat die komplexe und nie unmittelbar kausale Bedeutung von Kultur für Politik und Gesellschaft in seinem Essay Thick Description treffend zum Ausdruck gebracht: »culture is not a power, something to which social events, behaviors, institutions, or processes can be causally attributed; it is a context, something within which they can be intelligibly – that is, thickly – described.« (1973: 14) Die kausalen Beziehungen
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zwischen Kultur auf der einen Seite und Gesellschaft, Politik und Ökonomie auf der anderen bilden ein interdependentes, kaum zu entwirrendes Geflecht, in dem die Richtung der Einflussnahme jederzeit wechseln kann. Durch ihre Wandlungsfähigkeit entzieht sich Kultur gezielter Steuerung; die Dynamik eines Kulturwandels lässt sich kaum kontrollieren. Die semantische Breite des Kulturbegriffs gerät immer wieder ins Zentrum des Diskurses. Zur Zeit der Aufklärung umfasste der Begriff Kultur »die individuelle und die gesellschaftliche Tätigkeit, die Ökonomie und die Gesamtheit gesellschaftsbestimmter Verhaltensweisen« und war fast bedeutungsgleich mit Zivilisation, bevor er in einem »spezifisch deutschen Deutungsmuster« um 1800 eine semantische Umprägung erfuhr und sich dem Begriff Bildung assoziierte (vgl. Bollenbeck 1994: 93 und 96). Heute hat sich ein breiter Kulturbegriff, wie er sich seit Raymond Williams‹ Verständnis von culture als »a whole way of life, material, intellectual and spiritual« (1967: xvi): von England ausgehend zunehmend durchgesetzt hat, etabliert. Im Blick auf die akademische Ausdehnung des Definitionsbereichs von Kultur und einen ebenso expansiven Begriffsgebrauch in der öffentlichen Sprache zeigt es sich, dass die Feststellung eines ausufernden Gebrauchs des Kulturbegriffs ebenso alt ist wie die Mahnung zu einer schärferen Begriffsfassung, wie sie etwa Georg Burckhardt in der Geschichte des Kultur- und Bildungsproblemes aus dem Jahr 1922 formulierte: »Es hat wohl noch keine Zeit gegeben […], in der so viel von ›Kultur‹ geredet wurde und Fragen der Bildung so allgemein erörtert wurden, wie unsere Zeit. Aber so freigebig auch heute von der Kultur und einer Kultur gesprochen wird wie von einer selbstverständlichen und allbekannten Sache, wir können uns nicht verhehlen, daß wenig Klarheit und Übereinstimmung darüber herrscht, was das Wort ›Kultur‹ streng genommen bedeutet, wenn Journalisten, Redner, Literaten, Geschichtsschreiber und Pädagogen so vielfach dies Wort gebrauchen. Wir finden einen Mangel an gründlicher Besinnung darüber, was eigentlich alles unter Kultur zu verstehen sei, was im Inbegriff Kultur und Bildung beschlossen liegt.« (1922: 1)
In einer spezifischen Semantik konnte der Begriff der Kultur unter Anknüpfung an eine These Carl Schmitts, der zufolge gesellschaftliche Homogenität Voraussetzung der Existenz eines Volkes und einer wirklichen Demokratie sei (vgl. 1965: 228-234; 1969: 13f., 41), zum Fahnenwort einer Freund-FeindUnterscheidung werden, als das Thema der Zuwanderung und die Frage nach der gesellschaftlichen Integration der Zugewanderten die radikale Rechte in Frankreich in ähnlicher Weise mobilisierten wie in Deutschland. Als Wortführer der seit Ende der 1960er Jahre aktiven französischen Nouvelle Droite behauptet Alain de Benoist in seiner Konzeption des Ethnopluralismus nach der Devise »suum cuique« (1985: 15) eine nur sich selbst genügende Einzigartigkeit
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der ethnisch bestimmten Kultur jedes Volkes, folgert daraus die kulturelle Unvereinbarkeit der Ethnien und fordert deren globale Segregation nach territorialen Aspekten. Das Argument des Ethnopluralismus bringt Benoist dabei einerseits gegen ethnische Mischungen und kulturelle Fremdbestimmung in Stellung und andererseits gegen die universalistische Idee vorstaatlicher Menschenrechte. Zum einen wird das Selbstbestimmungsrecht der Völker auf eine »disposition instinctive« des Menschen zurückgeführt, sich mit denen zu identifizieren, die ihm ähneln, sowie auf einen auf diese Weise biologisch verwurzelten »impératif territorial«, der im Unterschied zu aggressiven und expansionistischen Tendenzen essentiell defensiv sei (de Benoist 1979: 134f.). Zum anderen leitet Benoist aus der an sich nicht zu bestreitenden Tatsache, dass der Mensch nicht bloß durch seine Gattungszugehörigkeit definiert, sondern »ein Kulturwesen« ist, eine Absage an die Idee angeborener, vor- und überstaatlich geltender, unveräußerlicher Menschenrechte ab. Neben Gemeinschaften wie Volk und Nation, aber auch der Gesellschaft und dem Staat als Trägern von Rechten habe der Einzelne zwar »auch Rechte«, jedoch lediglich »gemäß der historischen, ethnischen oder kulturellen Sphäre, der er angehört« (de Benoist 1988: 45, 47). Mit anderer Absicht, aber ähnlichem Ergebnis propagierten in den 1980er Jahren auch die Vertreter der Postmoderne unter dem Motto Anything goes ein Recht auf kulturelle Differenz. Das kulturanthropologisch formulierte Plädoyer für Toleranz und Nichteinmischung in »fremde« Kulturen war hier in der Annahme radikaler kultureller Diversität und Inkommensurabilität fundiert. Der Philosoph Wolfgang Welsch formulierte in dieser Zeit ein »Konzept der Differenz«, in dem er hervorhob, dass Pluralität normativ und faktisch zur »Grundverfassung der Gegenwart« sowie zur »heutige[n] Form der Vernunft« geworden sei. Er stellte eine »Pluralität von Lebensformen, Grundüberzeugungen, Kulturmodellen und Handlungsoptionen, deren Unterschiede unüberschreitbar« seien, fest und begrüßte den »fundamentalen Differenzcharakter« dieser pluralen Kulturmodelle und ihre »Unübersteiglichkeit« (1989: 254, 228, 233). In ähnlicher Diktion wie die Nouvelle Droite konstatierte Welsch die Tatsache »grundverschiedener Wertordnungen«, »von denen jede unhintergehbar [sei] und gleichermaßen verpflichtend erschein[e]« und sprach von »Eigenrechte[n], die es in ihrer Unterschiedlichkeit und Besonderheit anzuerkennen und zu wahren« gelte. In einer »Welt des Widerstreits« hätten die »Elementarität und Unübersteiglichkeit der Differenzen« die Pluralisierung radikalisiert, so dass kritisches Denken »heute den geschichtlichen Stand einschneidender Pluralität […] zur Basis haben« müsse (Welsch 1989: 229-241). Die prekäre Nähe zwischen der postmodernen Radikalisierung von Pluralität und der Fundamentalisierung kultureller Differenz hin zum kulturellen Rassismus der Ethnopluralisten ist nicht zu übersehen. Die Wahrnehmung der Nachbarschaft zu ethnozentristischen und xenophoben Positionen mag
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mit ein Motiv für eine Revision der postmodernen Auffassung einer radikalen Alterität zwischen Kulturen gewesen sein, die auf eine Milderung von Distinktionalität als Konstruktionsprinzip kultureller Identität setzt. Dieser Wandel von der Diagnose einer Unübersteigbarkeit der Differenzen zwischen Kulturen hin zur Propagierung einer Durchlässigkeit der Grenzen kann anhand der Arbeiten von Wolfgang Welsch nachgezeichnet werden. Im Gegensatz zu der zuvor vertretenen Kulturtheorie der Differenz lautet sein Credo in seinem in den 1990er Jahren entwickelten Konzept der Transkulturalität, das er vom klassischen Konzept der Einzelkulturen ebenso unterscheidet wie von den neueren Konzepten der Multikulturalität und der Interkulturalität: »Es gibt nicht nur kein strikt Fremdes, sondern auch kein strikt Eigenes mehr« (Welsch 1994: 158). Durch diesen Verlust der Trennschärfe zwischen eigener und fremder Kultur sei Authentizität nur noch Simulation für andere und Folklore. Die Forderung nach Trennung, Scheidung und Abdichtung möglichst authentisch bleibender Kulturen, nach unübersteigbaren Grenzen zwischen ihnen, lehnt Welsch nun als »kulturelle[n] Rassismus« ab (1994: 154). Mit seinem Begriff der Transkulturalität erfasst Welsch einen Mischungscharakter sowohl auf der Mikroebene eines Individuums als auch auf der Makroebene eines Kollektivs. Für das Verhältnis der Kulturen postuliert Welsch nun nicht mehr Ausgrenzung und Separation, sondern »Verflechtung, Durchmischung und Gemeinsamkeit«; anstelle von Isolierung und Konflikt stehen »Verstehen und Interaktion«. Die als »kulturelle Mischlinge« zunehmend transkulturell formierten Individuen seien gerade mit der Fähigkeit zum Übergang zur Ausbildung einer dauerhaften Identität in der Lage (Welsch 1995: 42-44). Die Spezifität konkreter Kulturen bleibe dabei durchaus gewahrt, aber durch den Einschluss von Elementen aus anderen Kulturen ergibt sich die Möglichkeit zu Anschlüssen und Verbindungen. Für kulturelle Identitäten beinhaltet die Idee der Transkulturalität die prinzipiell gegebene Möglichkeit zu kulturellem Austausch und damit zu Integration und Pazifizierung. Diese kulturelle Assimilation bedeutet nun für die einen die Chance zu fruchtbarer Innovation und Bereicherung, während für die anderen die Gefahr des Verlustes der bisherigen eigenen Identität im Vordergrund steht. Das Verständnis von Kultur, wie es hier im Anschluss an Wolfgang Welschs Begriff der Transkulturalität skizziert wurde und wie es auch den Konzepten hybrider Identität bei Stuart Hall, Homi Bhabha und Gayatri Spivak zugrunde liegt, ist für einen Kulturbegriff der kulturellen Bildung adäquat, die sich aktuell nur in zugespitzter Form, aber thematisch nicht neu vor die Herausforderungen der Bewältigung der Flüchtlingskrise und der Integration der Zugewanderten gestellt sieht. Im Blick sowohl auf interkulturelle Kontakte kollektiver Identitäten als auch auf transkulturelle Hybridbildungen personaler Identitäten scheint die Fähigkeit zur Ausbildung und Annahme multipler Identitäten unerlässlich zu sein.
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Hier liegt eine zentrale Voraussetzung, um die problematische Steigerungsanfälligkeit monistischer kollektiver Identitäten hin zu Freund-Feind-Schematisierungen einhegen zu können durch eine Konstellation der Konkurrenz oder der Komplementarität zwischen verschiedenen kollektiven Identitäten, zu denen ein Individuum Bindungen empfindet. Zumal in modernen Gesellschaften führt die Pluralität identitätsformativer Kategorien wie Generation, Milieu, Geschlecht oder Beruf, aber auch Religion, Nation und Ethnizität zu individuell komplexen und variablen Identifikationsprozessen. Eine in diesem Sinne multiple Identität ist eine facettenreiche, teilweise widerspruchsvolle und durchaus konflikthafte Kombination. Für liberal-demokratische Gesellschaften hingegen ist dieses System von checks and balances bei der Formation von Identität essentiell. Für eine gelingende Integrationspolitik einschließlich kultureller Bildung ist die Fähigkeit und Bereitschaft zur Ausbildung von in diesem Sinn verstandenen multiplen Identitäten Voraussetzung und Kennzeichen.
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Zwischen ästhetischer Erfahrung und Reflexion Überlegungen zum Bildungspotenzial kultureller Bildung Stephanie Günther
Mit Bildung und ihren Potenzialen sind zentrale Begriffe der Disziplin Erziehungswissenschaft benannt. Wovon ist nun aber die Rede, wenn von Bildungspotenzialen kultureller Bildung gesprochen wird? Wer spricht mit welchen Interessen über Bildungspotenziale? Mir scheint es lohnenswert in der Antwort auf diese Fragen drei Perspektiven zu unterscheiden: eine bildungspolitische, eine bildungspraktische und eine wissenschaftliche Perspektive. Aus bildungspolitischer Perspektive kann die Frage nach Bildungspotenzialen etwa als Frage nach der Nachhaltigkeit von Programmen zur kulturellen Bildung gestellt werden. Auch Fragen nach der Teilnehmerstruktur spielen hier eine Rolle, also etwa: wer nutzt welche Angebote kultureller Bildung und wer nicht? Man will wissen, ob Angebote kultureller Bildung dazu beitragen Menschen dauerhaft und langfristig eine Erweiterung gesellschaftlicher Teilhabe zu ermöglichen. Kulturelle Teilhabe und Partizipation sind Schlüsselbegriffe in vielen bildungspolitischen Dokumenten. Mit bildungspolitischen Programmen kultureller Bildung soll eine Umsetzung des Rechtes auf Bildung als Menschenrecht realisiert werden (vgl. Fuchs 2013). Erkenntnisse über Bildungspotenziale sind also bildungspolitisch notwendig, um die staatliche Förderung kultureller Bildung im Sinne des Gemeinwohls zu legitimieren. Auf Ebene der Bildungspraxis werden vielfältige Angebote kultureller Bildung konzipiert und durchgeführt. Die Frage nach Bildungspotenzialen interessiert hier zunächst als Frage nach der Qualität der realisierten Angebote. Hat das Theaterprojekt diejenigen Teilnehmenden erreicht, die erreicht werden sollten? War der Graffitiworkshop für alle Beteiligten ein Erfolg? Solche und ähnliche Fragen spielen für Menschen, die in der Praxis kultureller Bildung tätig sind eine wichtige Rolle. Erkenntnisse über Bildungspotenziale sind aus bildungspraktischer Perspektive notwendig, um das eigene Bildungsangebot
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im Verhältnis zu den Zielen der Einrichtung, des Trägers bzw. den Vermittlungsanliegen der Anbieter zu legitimieren. Erkenntnisse über Bildungspotenziale sind aus wissenschaftlicher Perspektive notwendig, um sich ein Bild bzw. ein Modell davon zu machen, wie kulturelle Bildung, z.B. als rezeptive und produktive Beschäftigung mit Kunst, verstanden werden kann, welche Effekte und Wirkungen sie hat, wie sie als Prozess verläuft usw. Es geht also um Theoriebildung als elementare Aufgabe von Wissenschaft und Forschung. Alle drei Perspektiven betreffen das Projekt »d.art« (Didaktik für Kunstund Kulturschaffende), in dessen Kontext die nachfolgenden Reflexionen zu Bildungspotenzialen stehen. Im Projekt d.art werden Künstler pädagogisch weitergebildet, damit sie qualitativ gehaltvolle Projekte kultureller Bildung mit Jugendlichen durchführen können. In bildungspolitischer Hinsicht soll kulturelle Bildung die Jugendlichen stark machen, in bildungspraktischer Hinsicht sollen Selbstbildungsprozesse unterstützt werden und in wissenschaftlicher Hinsicht stellt sich die Frage, wie kulturelle Bildung zu verstehen ist. Zu letzterem werden die Vorstellungen und Selbstverständnisse der Künstler auch in ihrer Entwicklung während der Weiterbildung untersucht (www.uni-potsdam. de/dart/index.html; Günther/Ludwig 2015). Die Frage nach Bildungspotenzialen wird als Frage nach der Qualität kultureller Bildung insbesondere in zwei Forschungslinien thematisiert. Das ist erstens die sogenannte Transferforschung, in der nach Effekten und Wirkungen kultureller Bildung mit Blick auf die Förderung kognitiver, emotionaler oder sozialer Kompetenzen der Teilnehmenden gefragt wird (für einen Überblick vgl. Rittelmeyer 2012). Die relativ isolierten Wirkungsdimensionen, die hier im Fokus stehen, sind jedoch für lebensweltliche Handlungssituationen, in denen sich Teilnehmende an Projekten kultureller Bildung ja immer befinden, nicht komplex genug und haben deshalb nur eine geringe Erklärungskraft, wenn es darum geht, die Wirkung kultureller Bildung zu verstehen. Denn die Qualität und Wirkung kultureller Bildung lässt sich weder allein am Input – d.h. an dem Grad der mit einem Angebot intendierten Qualität gemessen an definierten Qualitätsmaßstäben – noch am Output festmachen – also an der Qualität des Angebotes und den von den Teilnehmenden erworbenen Kompetenzen –, sondern vor allem am Prozess, d.h. am Verhältnis von Bildungsangebot einerseits und seiner Aneignung andererseits. Rittelmeyer schlägt deshalb vor, die Transferforschung auf ästhetische Erfahrungen im Bildungsprozess auszuweiten und dem Transferaspekt so eine prozessuale Perspektive zu geben (vgl. ebd.: 91). Dieser Vorschlag geht in Richtung einer zweiten Forschungslinie, die nicht nach Wirkungen und Effekten kultureller Bildung auf die Teilnehmenden fragt, sondern die Perspektive wechselt und die Lern- und Bildungsprozesse der Teilnehmenden bzw. die Aneignung des Angebotes durch die Teilnehmenden untersucht. Diese bislang noch schwach ausgeprägte Prozessperspektive
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in der empirischen Forschung zur kulturellen Bildung kann erweitert werden, wenn Bezüge zur erziehungswissenschaftlichen Bildungsprozessforschung hergestellt werden. Hier werden etwa die Veränderungen von Bedeutungshorizonten als transformative Bildungsprozesse untersucht (vgl. Koller 2011; Kleiner/Koller 2013; Günther/Ludwig 2015). Nohl etwa weist darauf hin, dass auch »expressiv-künstlerische Erfahrungen« (Nohl 2011: 912) für transformative Bildungsprozesse von Bedeutung sein können. Die Frage nach Bildungspotenzialen wird in den Diskursen der philosophischen Ästhetik, der Kunstphilosophie sowie der Erziehungswissenschaft gleichermaßen eng mit dem Begriff der ästhetischen Erfahrung bzw. ästhetischen Wahrnehmung verknüpft. Bei allen Kontroversen darüber, was nun genau eine ästhetische Erfahrung ist, wie sie sich von einer nicht-ästhetischen Erfahrung unterscheiden lässt, wann, wie und womit man eine ästhetische Erfahrung machen kann, lässt sich eines festhalten: Ästhetische Erfahrungen werden seit den Anfängen der Ästhetik als philosophischer Disziplin, wie sie von Baumgarten im 18.Jh. begründet wurde, als Weltzugang eigener Art im Spannungsverhältnis zwischen Rationalität und Emotionalität diskutiert. Dieses Spannungsverhältnis, das ich hier zwischen Rationalität als begreifendem Denken und Emotionalität als sinnlich Wahrgenommenem verstehe, lässt sich darüber hinaus thematisieren als Frage nach der Möglichkeit ästhetischer Erkenntnis oder als Frage nach dem Verhältnis von ästhetischer Erfahrung und Versprachlichung dieser Erfahrung (vgl. Brandstätter 2013). Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass es sich um ein Spannungsverhältnis handelt. Mir scheint es essenziell im Blick zu behalten, dass ein Ausspielen des Rationalen gegen das Emotionale – oder umgekehrt – für die Frage nach Bildungspotenzialen kultureller Bildung nicht weiterführend ist. Der Mensch ist immer beides: rational und emotional. Das wusste auch schon Schiller, der sich in seinen Briefen »Über die ästhetische Erziehung des Menschen« Gedanken zur sinnlich-vernünftigen Doppelnatur des Menschen macht: »denn solange er [der Mensch] nur empfindet, bleibt ihm seine Person oder seine absolute Existenz, und solange er nur denkt, bleibt ihm seine Existenz in der Zeit oder sein Zustand Geheimnis. Gäbe es aber Fälle, wo er diese doppelte Erfahrung zugleich machte, wo er sich zugleich seiner Freiheit bewusst würde, und sein Dasein empfände, wo er sich zugleich als Materie fühlte, und als Geist kennen lernte, so hätte er in diesen Fällen, und schlechterdings nur in diesen, eine vollständige Anschauung seiner Menschheit« (Schiller zit.n. Bender 2010: 62). Konzepte kultureller Bildung intendieren seit Friedrich Schiller den »verloren geglaubten Kontakt zwischen sinnlich-subjektiv Erfahrbarem und rational Begriffenem wiederherzustellen« (ebd.: 13). Überträgt man diesen Gedanken der sinnlich-vernünftigen Doppelnatur, der Ganzheitlichkeit des Menschen als widersprüchliche Einheit von Freisein und Gewordensein, von Materie und Geist, dann lässt sich m.E. von kultureller Bildung dann – und nur dann – sprechen,
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wenn eben jene doppelte Erfahrung, die ich mit Verweis auf Schiller erwähnt habe, möglich ist bzw. gemacht wird: ästhetische Erfahrung als Wahrnehmung und als Reflexion. Soweit ich den Diskurs um kulturelle Bildung überblicke, wird das Bildungspotenzial ästhetischer Erfahrung meist genau in diesem Dazwischen lokalisiert, im Dazwischen zwischen einerseits sinnlicher Wahrnehmung bzw. Erfahrung und andererseits der Reflexion dieser Erfahrung. Wenn Menschen etwas tun, das Wissenschaftler als ästhetische Erfahrung auf den Begriff zu bringen versuchen, dann verständigen sie sich mit sich selbst und mit anderen über bestimmte Ausschnitte der Welt, in der sie leben. Somit gehen ästhetische Erfahrungen nicht in einem Zustand reiner Selbstbezüglichkeit auf, sondern lassen sich eher als Zustand beschreiben, »in dem Gewohntes in anderen Umständen erscheint« (ebd.: 64). Und auch bei Otto finden wir diesen Gedanken, wenn er schreibt: »Ästhetische Erfahrung bezieht sich nicht auf Kunsterfahrung, sondern ist ein Modus, Welt und sich selbst im Verhältnis zur Welt und zur Weltsicht anderer zu erfahren.« (Otto 1994: 56) Was tun Menschen, wenn sie sich bilden? Sie reflektieren Handlungsproblematiken in ihrem Leben, sie befragen ihr Leben und versuchen Klarheit darüber zu bekommen, wo sie stehen. Wenn ich mich bilde, dann suche ich eine neue Verständigung mit mir. Bildung ist so gesehen Selbstverständigung. Das heißt auch, dass Bildung immer Selbstbildung ist, d.h. niemand kann gebildet werden. Jeder kann sich nur selbst bilden. Unter kultureller Bildung verstehe ich folglich all jene Tätigkeiten, in denen sich jemand mittels ästhetischer Erfahrung lernend mit sich selbst und mit seiner Welt auseinandersetzt. Bildung vollzieht sich hier im Medium der Kunst als eigensinnige Suchbewegung des Subjekts. Das Bildungspotenzial kultureller Bildung liegt also in der ästhetischen Erfahrung im Sinne einer Erfahrung und Reflexion des Verhältnisses von Selbst und Welt. Ich habe mich bis hierhin vorrangig von der Aneignungsseite her mit Fragen nach Bildungspotenzialen beschäftigt, d.h. ich habe aus der Perspektive Derjenigen gedacht, die an Projekten kultureller Bildung teilnehmen. Nun möchte ich die Perspektive wechseln und die Perspektive der Vermittlung kultureller Bildung in den Fokus rücken: Wie lässt sich aus der Perspektive der Anbieter kultureller Bildung, also derjenigen die wollen, dass sich Menschen die ihre Angebote nutzen bilden, über Bildungspotenziale nachdenken? Die Autorinnen und Autoren des 2015 vom Rat für Kultureller Bildung veröffentlichten Papiers, mit dem Titel »Zur Sache« stellen die »Sache«, also das zu Vermittelnde, ins Zentrum ihrer Argumentation bzgl. des Bildungspotenzials kultureller Bildung. Das ist eine klassisch didaktische Herangehensweise, die mit klassischen didaktischen Fragen verbunden ist: »Welcher Gegenstand hat welches Potenzial? Und wie vermittelt man was? […] Denn die ohnehin schwierige Frage ›Was soll gemacht werden?‹ ist immer verbunden mit der Frage nach dem ›Warum‹ und dem ›Von wem‹.« (Rat für Kulturelle Bildung 2015: 54)
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Diese Fragen machen deutlich, dass Vermittlung hier vorrangig als Leistung der Anbieter kultureller Bildung, der Lehrenden, gedacht ist. Sie sollen eine Vermittlung zwischen Sache bzw. Gegenstand und Teilnehmenden leisten. Die Autoren betonen aber auch, dass die Gegenstände Kultureller Bildung immer »in unmittelbarem Zusammenhang mit dem vermittelnden Prozess und der jeweiligen biographischen Ausgangslage und Vorerfahrung des sich bildenden Individuums« (Reinwand-Weiss in Rat für Kulturelle Bildung 2015: 12) zu verstehen sind. Dies wirft ein neues Licht auf die Frage, wer was warum vermittelt. Vermittlung lässt sich als Prozess des Ins-Verhältnis-Setzen subjektiver Bedeutungshorizonte modellieren, den Lernende und Lehrende gemeinsam vollziehen. »Im Vermittlungsprozess treffen die beiden Weltsichten des Lehrenden und des Lernenden mit dem Ziel der wechselseitigen Ausdifferenzierung/Verständigung aufeinander, ohne in der Regel identisch zu werden. […] Lernende und Lehrende haben differente Perspektiven auf den Gegenstand und die Situation. Erst aus dieser Differenz entsteht die Produktivität für den Vermittlungsprozess, denn ohne Differenz lässt sich nichts vermitteln.« (Ludwig/Rhim 2013: 87) Ich möchte an diesen Gedanken anschließen und ein Modell anbieten, mit dem ich im Folgenden über das Bildungspotenzial kultureller Bildung nachdenke (vgl. Ludwig 2012: 34ff): sich selbstverständigende Person im biographischen Kontext
sachlich-sozialer Gegenstand der Selbstverständigung
subjektive Wahrnehmungs- und Bedeutungshorizonte des Teilnehmers
künstlerisch-pädagogische und lebensweltliche Situation als Kontext und Bezugspunkt der Selbstverständigung
Vermittlung als Differenzbildungsprozess Lehrgegenstand
subjektive Wahrnehmungs- und Bedeutungshorizonte des Künstlers
künstlerisch-pädagogische und lebensweltliche Situation als Kontext der pädagogischen Interaktion
Künstler als lehrende Person mit Biographie und didaktischer Theorie
Abb. 1: Lern- und Vermittlungsdreieck in Anlehnung an Ludwig (2012: 34).
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Bildungsprozesse lassen sich als ein Dreiecksverhältnis sowohl aus Perspektive der Lehrenden, als auch aus Perspektive der Lernenden untersuchen, als Prozesse zwischen biographischem Selbstverständnis, dem Bildungsgegenstand und dem sozialen Kontext einschließlich seiner pädagogisch-didaktischen Strukturen. Anders als im klassischen didaktischen Dreieck aus Lehrendem, Lernendem und Gegenstand, arbeitet das Modell mit einem Doppeldreieck. Das hilft zu verdeutlichen, dass Lehren und Lernen zwei grundsätzlich verschiedene Prozesse sind. Nun, zum Abschluss meines Beitrages, werde ich einige Leitfragen entwickeln, anhand derer Angebote kultureller Bildung auf ihre Bildungspotenziale hin befragt werden können. In Projekten kultureller Bildung soll die alltägliche Lebenswelt der Teilnehmenden zum Gegenstand von Bildung gemacht werden – unterstützt durch die Kunst- und Kulturschaffenden. Bildungsprozesse sind Selbst- und Weltverständigungsprozesse. Sie verändern meine bestehenden Wahrnehmungs- und Bedeutungshorizonte, mit denen ich mich, andere und meine gesellschaftliche Lebenswelt betrachte und entsprechend handle. Es sollte auch deutlich geworden sein, dass Bildung, so wie sie hier verstanden wird, etwas anderes ist als Qualifikations- und Kompetenzvermittlung, wie sie z.B. in der Schule stattfindet. In der Schule geht es um die Vermittlung von im Vornhinein feststehenden Inhalten, es geht um gesellschaftliche Lernanforderungen. Das ist grundsätzlich erst einmal etwas anderes als individuelle Bildungsanliegen und -interessen. In Bildungsprozessen geht es um die Realisierung von je meinen Lebensinteressen und die Erweiterung meiner Handlungsfähigkeit. Damit ist nun auch ein erstes zentrales Kriterium benannt, anhand dessen über das Bildungspotenzial aus Anbietersicht nachgedacht werden kann. In Projekten kultureller Bildung müssen, folgt man meinen Überlegungen bis hierhin, die Lebens- und Bildungsinteressen der Teilnehmenden zur Sprache kommen und nicht die der Kunst- und Kulturschaffenden, die das Angebot planen und realisieren. Das, was für die Teilnehmenden fragwürdig ist, muss zum Bildungsgegenstand werden. Dass Kunst überhaupt ein Bildungspotenzial entfalten kann, steht und fällt also mit dem Verstehen des Standpunktes der Teilnehmenden: Es geht darum, ihre Anliegen im Kontext ihrer Lebenswelt zu verstehen. Generell besteht die Gefahr, dass es unter dem Deckmantel kultureller Bildung nicht um die Bildung der Teilnehmenden geht, also um ihre Selbstverständigung, sondern um fremdgesetzte Zwecke (des Lehrplans, des Künstlers, der Schule usw.). Kulturelle Bildung würde damit genau zum Gegenteil von Emanzipation und Mündigkeit beitragen. Die erste Leitfrage, anhand derer Angebote kultureller Bildung auf ihren Bildungsgehalt hin befragt werden können, lautet also: Wie wird die Lebenswelt, bzw. wie werden die Lebensinteressen der Teilnehmenden zum Thema gemacht? Wie wird das, was für die Teilnehmenden fragwürdig ist, zum Bildungsgegenstand? Die Qualität
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kultureller Bildung ist damit zugleich auch an die Reflexion der eigenen künstlerisch-pädagogischen Praktiken der Anbieter gebunden, um das Spannungsverhältnis zwischen den Bildungsinteressen der Teilnehmenden und eigenen Vermittlungsinteressen im Blick zu behalten. Ich komme zu einem zweiten Aspekt. Kulturelle Bildung fußt auf ästhetischer Erfahrung. Sie sensibilisiert die Wahrnehmung, um neue Denk- und Handlungsweisen zu eröffnen. Ziel ist eine andere Wahrnehmung der eigenen Lebenswelt fernab von alltäglichen Wahrnehmungsroutinen (vgl. Hilliger 2016). Ästhetische Erfahrungen ermöglichen einen Perspektivenwechsel und provozieren Brüche. Diejenigen Kunst- und Kulturschaffenden, die Angebote kultureller Bildung realisieren, sollen den Teilnehmenden dieser Angebote ästhetische Erfahrungen in ihrer eigenen Lebenswelt mithilfe künstlerischer Praktiken ermöglichen und so Selbstbildungsprozesse unterstützen. Damit ist nun eine zweite Leitfrage formuliert, anhand welcher über das Bildungspotenzial nachgedacht werden kann: Was können Teilnehmende in dem Projekt erleben und erfahren? Wie werden ästhetische Erfahrungen ermöglicht? Mithilfe welcher künstlerischen Praktiken (z.B. Verfremdung, Experiment, Spiel, Verlangsamung usw.) werden sie ermöglicht? Ich komme zu einer letzten Leitfrage. Andreas Reckwitz benennt als ein wesentliches Merkmal ästhetischer Erfahrung das kreative Handeln als regelüberschreitendes Handeln (vgl. Reckwitz 2015: 26). Auch bei Eckhart Liebau und Frank Jebe findet sich dieser Gedanke, wenn sie ästhetische Erfahrungen als insofern »freie« Erfahrungen charakterisieren, als dass diese über einen bloß instrumentalisierenden Umgang mit dem sinnlich Gegebenen hinausweisen (vgl. Liebau/Jebe 2016). Auch bei Kristin Westphal findet sich dieser Gedanke. Sie schreibt dem »Theater[spielen] als Übungs-Ort für abweichendes Verhalten« eine »bildende Wirkung« zu (vgl. Westphal 2012, 2014). Systematische Offenheit, Spiel, Unordnung, Chaos und Experimente: im Spiel ein anderer werden und dabei ein Stück weit mehr man selbst werden dadurch, dass man sich eine neue Handlungsmöglichkeit erarbeitet. Darin liegt das Bildungspotenzial grenzüberschreitenden Handelns. »Die experimentelle und grenzüberschreitende Struktur ästhetischer Praktiken bieten den Hintergrund für eine kritisch-selbstreflexive Öffnung für andere Weisen der Weltwahrnehmung, eine Öffnung, die der ästhetischen Praxis einen politischen Charakter geben kann.« (Reckwitz 2015: 29) Die Leitfrage, die sich aus diesen Überlegungen ergibt, lautet: Welche Grenzen können im Projekt von den Teilnehmenden ausgelotet und überschritten werden? Welche alltäglichen Wahrnehmungsweisen stehen zur Verhandlung? Wie werden die eigenen Wahrnehmungs- und Bedeutungshorizonte reflexiv zugänglich? Das kritische Potenzial kultureller Bildung liegt nicht zuletzt darin, dass sie die Kontingenz herrschender soziokultureller Formen bewusst macht, so Reckwitz (vgl. ebd.: 45). Indem ich durch künstlerische Verfahrensweisen die
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Perspektive ändere, kann mir das ›das muss so sein‹ erscheinen als ›das kann so sein‹, ›könnte aber auch anders sein‹. In diesem ›es könnte auch anders sein‹ liegt das Bildungspotenzial kultureller Bildung.
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Reflexionen der Forschung zur Kulturellen Bildung
Dimensionen und Grenzen des (Er-)Messens Stichworte zur kulturellen Bildung Christiane Thompson
Ausgangspunkt dieses Beitrags ist ein kleiner Bericht, der im Anschluss an eine schulische Behandlung von »Berichten« im Deutschunterricht einer vierten Klasse entstanden ist. Dort heißt es knapp und lapidar: »Am Dienstag, den 25.13.2080 fand eine Puddingparty statt. Sie fand in der Hosentaschenstraße statt.« In einem Satz wird im Minimalformat ein Ereignis mit Raum- und Zeitangabe festgehalten. Gegenüber der Ernsthaftigkeit, mit der im Unterricht die Textform des Berichts behandelt worden ist – vor allem Unfälle im Straßenverkehr und Straftaten dienten als Beispiele –, eignet dem vorliegenden Bericht ein geradezu spielerischer Charakter. Versetzt in eine Zukunft, die einen dreizehnten Monat zählt, wird auf ein Ereignis zurückgeblickt, dessen Lokalisierung in der »Hosentaschenstraße« einige Fragezeichen aufwirft, nicht zuletzt auch in Relation zum berichteten Ereignis einer Puddingparty. Das Beispiel dieses Berichts wirft die Frage nach der Bedeutung von kultureller Bildung auf, die ich weniger in einer cultural literacy sehe – verstanden als Fähigkeit, über ein kulturelles Ereignis sachlich und angemessen sprechen zu können. Das Nachdenken über kulturelle Bildung setzt vielmehr mit den Verfremdungen und kleinen Verrücktheiten des Berichts der Viertklässlerin ein, die ermöglichen, kulturelle Bildung als einen Spielraum zu begreifen, indem das Verhältnis zu kulturellen Artefakten und Verhaltensweisen bearbeitet wird und womöglich eine ironische Brechung erfährt. Eine solche Perspektive bewegt sich durchaus in Übereinstimmung mit den Traditionen ästhetischer Bildung. Friedrich Schiller hat im vierzehnten seiner Briefe zur ästhetischen Erziehung den Spieltrieb als jenen Trieb bestimmt, der Stoff- und Formtrieb des zerrissenen Menschen in einen produktiven Wechselbezug bringt (Schiller 2009: 58). Anders hat Michael Parmentier (2004) die Möglichkeiten und Grenzen ästhetischer Erfahrung oder Bildung bestimmt: Parmentier attestiert Kindern zwar die Fähigkeit zur Imagination in ihren Ausdrucksgestalten, charakterisiert diese insgesamt aber als »proto-
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ästhetisch«, da nach seiner Auffassung Kindern eine problematisierende und ironische Haltung zu den Gegenständen abgehe. Ohne an dieser Stelle diese sehr unterschiedlichen Bestimmungen ästhetischer Bildung oder Erfahrung eingehender diskutieren zu wollen – fordert der obige Bericht dennoch eine Auseinandersetzung mit Parmentier geradezu heraus –, soll im Folgenden gerade die (sich immer wieder aufschiebende) Verständigung darüber, was überhaupt als »kulturelle Bildung« verstanden werden kann, zum Ausgangspunkt ihrer Bestimmung gemacht werden. So gefasst stellt sich »kulturelle Bildung« nicht mehr als eine Sache der Fähigkeit dar, die bloß zu identifizieren wäre. Anliegen dieses Beitrags ist demgegenüber zu zeigen, inwiefern kulturelle Praxen Schauplätze darstellen, in denen die Frage nach der Kultur Verständigungen zu Selbst und Welt in Bewegung bringt. Über den genannten Kurzbericht zur Puddingparty ließe sich sehr viel schreiben, nicht nur im Horizont der Distanzierung schulischer Anforderung, sondern auch in dem weiteren Sinn, wie die kulturelle Praktik des Berichtschreibens die Teilnahme an einem Geschehen in einen Modus der Distanzierung versetzt. Wie der Bericht geschrieben ist und was im Horizont des phantasierten Ereignisses als ausgelassen vorgestellt werden kann, verlängert das Ereignis in seine möglich-unmögliche Berichterstattung, die an dieser Stelle nun zum Gegenstand wissenschaftlichen Nachdenkens wird. Im Folgenden soll der Intuition gefolgt werden, dass »kulturelle Bildung« nicht als Bewältigungs- und Vollendungserfahrung, sondern als Erfahrung einer eröffnenden Ambivalenz zu fassen ist. Dies ist verknüpft mit einer Problematisierung der zunehmenden Vermessung kultureller Bildung, wie sie sich im Zuge der Kompetenzorientierung vollzieht. Das Problem lässt sich gerade darin identifizieren, wie Bildungsprozesse im Paradigma der Kompetenz modelliert und damit dingfest gemacht werden. Im ersten Schritt der Argumentation wird exemplarisch an einem Kompetenzmodell das Problem der Operationalisierung und Messung aufgezeigt (1.). Dazu beziehe ich mich auf ein Modell aus dem Bereich der Musikwissenschaft bzw. der Musikpädagogik. Das in den letzten Jahren entwickelte und elaborierte Modell von Niessen et al., genauer ihre Überlegungen zu »Musik wahrnehmen und kontextualisieren«, wird dafür herangezogen. Im zweiten Schritt der Argumentation soll im Spannungsverhältnis zu dieser kompetenztheoretischen Herangehensweise und im Anschluss an den Einstieg ein Verständnis von Kultur skizziert werden, das diese als Grenzüberschreitung fasst (2.). Diese Bestimmung wird anhand der Diskussion einer Szene aus dem Dokumentarfilm »Louisa« expliziert. Der Text endet mit einem kurzen Ausblick, der das Forschen als/zur Sache der »kulturellen Bildung« reflektiert (3.).
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»K ulturelle B ildung « im Par adigma der K ompe tenz Seit ungefähr zehn Jahren hat der Begriff der kulturellen Bildung Konjunktur. Es spricht einiges dafür, dass der Aufstieg des Begriffs mit der öffentlichen Rolle der Kompetenzforschung in Verbindung steht; denn die Ergebnisse der PISA-Forschung sind seit nunmehr fünfzehn Jahren die Chiffre für die Problematisierung des deutschen Bildungssystems im Hinblick auf die Ermöglichung gesellschaftlicher Teilhabe. Und es ist eben dieser Aspekt von kultureller und gesellschaftlicher Teilhabe, der an erster Stelle zur begrifflichen Bestimmung und Bedeutung kultureller Bildung angeführt wird (vgl. Fuchs 2008). Das Schlagwort »Kultur« bzw. des »Kulturellen« führt verschiedene Versprechen mit sich: das Versprechen von Integration, eines »entwickelten« und »zivilisierten« Umgangs sowie eine hochkulturelle Ausrichtung, die als Wendung gegen die game und media culture gesetzt wird.1 Im Horizont dieser Bedeutungszuweisungen ist nicht verwunderlich, dass in den letzten Jahren vermehrt von der »kulturellen Bildung« die Rede ist und weniger von der »ästhetischen Bildung«, die immerhin über zweihundert Jahre diskursbestimmend gewesen ist. Für den, der von »ästhetischer Bildung« spricht, ist nicht sogleich deren Wert und Bedeutung bestimmbar. In diesem Sinn hat Klaus Mollenhauer (1990) die »ästhetische Bildung« in Abgrenzung zu pädagogischen Deutungen und Vereinnahmungen positioniert und darauf hingewiesen, dass die Pädagogik in diesem Punkt vom therapeutischen Umgang mit Ästhetik etwas lernen könne, da diese metaphorisch auf einen ausgefüllten Lebensmoment in der Gegenwart verweise, anstatt die Gegenwart für die Zukunft zu opfern (Schleiermacher).2 Dass mit der Konjunktur der »kulturellen Bildung« die Forderung Gestalt angenommen hat, sich den Wirkungen von entsprechenden Projekten empirisch-evaluativ zu versichern, lässt sich an den zahlreichen Ausschreibungen für Forschungsprojekte in diesem Bereich nachvollziehen (vgl. dazu die BMBFAusschreibung im Jahr 2016) ebenso wie an vielbeachteten größeren Studien (Bastian 2000, Bamford 2006). Eine Forschungsgruppe um Lehmann-Wermser hat in den letzten Jahren begonnen, ein Kompetenzmodell für das Fach Musik auszuarbeiten (Niessen et al. 2008; Jordan et al. 2012). Auch dieser Umstand verweist auf die gestiegene Bedeutung eines empirisch-evaluativen Umgangs mit »kultureller Bildung«. Im Folgenden möchte ich – im Anschluss an einen knappen Überblick zum Kompetenzdenken – anhand des Modells zum 1 | Betrachtet man die öffentliche Aufmerksamkeit, die kulturelle Bildungsprojekte wie z.B. der Film »Rhythm is it« mit den Berliner Philharmonikern erfahren haben, so deuten sich dort alle hier genannten Aspekte an, die kultureller Bildung zugesprochen werden. 2 | Mollenhauer erinnert an einen Vers aus der Feder Hofmannsthals: »sicher zu schweben im Sturze des Daseins« (Mollenhauer 1990: 483).
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Fach Musik die Schwierigkeiten des vermessenden Umgangs mit kultureller Bildung aufzeigen.3 Kompetenzen beschreiben kontextspezifische kognitive »Leistungsdispositionen«, die im Unterschied zu »Intelligenz« als durch Lehre und Schulung entwickelbar betrachtet werden (vgl. Weinert 2001). Dazu werden diese Leistungsdispositionen im Sinne von Anforderungsprofilen für eine spezifische Domäne, wie z.B. Mathematik ausgearbeitet. In dieses Profil gehören Kenntnisse, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Routinen etc. Die Modellierung von Kompetenz meint nichts anderes als die systematisch geleitete Ausformulierung jener Dimensionen, welche die jeweiligen Anforderungen angemessen zu beschreiben vermögen. Diese wird als Zusammenspiel von theoretischer Modellierung und empirischer Überprüfung gedacht. Wenn das »Hörverstehen« als eine Kompetenzdimension im Bereich Fremdsprachen bestimmt wird, besteht die weiterführende Aufgabe darin, diese Teildimension von »Rezeption« genauer zu beschreiben: Welche kognitiven Leistungen sind hierfür erforderlich? Die daraus resultierenden Beschreibungen sind vermittels entsprechender Aufgaben empirisch zu überprüfen. Mit der Überprüfung ergibt sich wiederum eine Einteilung in verschiedene »Niveaus« der Kompetenz bzw. Leistung, die unterschiedlich skaliert bzw. eingeteilt werden können (PISA zum Beispiel unterscheidet sechs Niveaus). Wie an dieser paradigmatischen Verortung schon deutlich wird, liegt der Kompetenzforschung ein »systemischer« Charakter zugrunde. Kompetenzmodelle werden für einen studienübergreifenden Gebrauch generiert und in diesem Rahmen selbst weiterentwickelt. Modellierung und empirische Validierung stehen also in einem eng gesteckten Wechselverhältnis mit weitreichenden epistemologischen und bildungspolitischen Folgen: Die Ausformulierung von Bildungsstandards (im Zuge einer Umstellung auf den »Output«) lässt sich als systemische oder sogar systembestimmende Ausweitung des Kompetenzparadigmas für das Bildungswesen insgesamt verstehen. Bellmann (2006) hat daher von einer engen Verknüpfung von Bildungsforschung und Bildungspolitik gesprochen. Die Kompetenzforschung und damit auch das Testparadigma entfalten demnach umfassende Wirkungen, welche die
3 | Die Bezugnahme auf das Modell ermöglicht eine sehr konkrete Auseinandersetzung mit dem Paradigma der Kompetenz. Das genannte Modell ist aus weiteren Gründen ausgewählt worden: erstens geht es bei der Diskussion des Dokumentarfilms »Louisa« genau um die im Modell behandelte »Wahrnehmung von Musik«. Zweitens handelt es sich um ein elaboriertes und sehr gut dokumentiertes Modell, an dem die Möglichkeiten und Grenzen der Kompetenzforschung im Allgemeinen gut einsehbar gemacht werden können. Drittens vertritt das Modell einen kritischen Anspruch und diskutiert selbst die Probleme dieser Forschung.
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Erziehungswissenschaft, die pädagogische Praxis und die Bildungspolitik betreffen. Von der umfassenden Kritik, die allgemein zur Kompetenzforschung geäußert worden ist, seien einige der zentralen Argumente kurz genannt. Dazu gehören in erster Linie die technologischen Engführungen, die einer auf Verhaltenssteuerung setzenden Effizienzforschung eigen sind (Herzog 2012). Gert Biesta hat wiederholt auf die Probleme der empirischen und evidenzorientierten Forschung hingewiesen, der die Tendenz eigen sei, Pädagogisches auf das, was messbar sei, zu reduzieren (2011, 2015). Kompetenzforschung reformuliert pädagogische Fragestellungen in eine Sprache des Wettbewerbs, die nur schwer distanzierbar ist. Diese Sprache, die epistemologisch ihre Kontinuität über die graphische Darstellung von Kästchen und Pfeilen sichert (Reichenbach 2016), ist auch deswegen kritisch zu sehen, weil sie kategoriale Entscheidungen quantitativ empirisch codiert und damit letztlich die Umstrittenheit pädagogischer Ansätze und Kategorien verdeckt (Biesta 2011). Problematisiert wird schließlich auch die sich entgrenzende Reformulierung schulischen Unterrichts als »Aufgabenbearbeitung«, die didaktische und pädagogische Engführungen mit sich bringt (Brinkmann 2009). Diese Folgen der Kompetenzforschung, also die Veränderung der »pädagogischen Wirklichkeit«, lassen sich genauso wie deren bildungspolitische Verwendung nicht im Rahmen dieser Forschung diskutieren, da sie in ihrer Outputorientierung weder die pädagogische Vollzugswirklichkeit noch ihre pädagogische Verwertung und Übersetzung (vgl. Tillmann 2009) einholen kann bzw. will. Das in der Forschungsgruppe um Lehmann-Wermser entwickelte Kompetenzmodell bringt weitere Bedenken gegen die Kompetenzforschung – mit Blick auf das Fach Musik – an. Genannt wird an erster Stelle die Grenzen der Erfassung ästhetisch-musikalischer Erfahrungen durch Kompetenzen und Standards (Jordan et al. 2012: 501). Genannt werden aber auch die Gefahren einer kognitiven Engführung sowie Ausblendung der Kulturabhängigkeit und Subjektbezogenheit musikalischer Praxis (ebd.).4 Dass sich diese kritischen Aspekte auf das Modell selbst beziehen lassen, wird im Lichte der folgenden Abbildung des Kompetenzmodells deutlich. In ihr sind die Niveaus von unten nach oben und vier (Teil-)Dimensionen nebeneinander dargestellt.
4 | Der Beitrag spricht selbstverständlich auch die positiven Seiten an, die durch die Kompetenzforschung ermöglicht werden. Dazu gehört eine als dringlich erachtete Etablierung eines qualitativ hochwertigen Musikunterrichts. Dies ist zu sehen im Kontext der konkreten Situation des Musikunterrichts, der vergleichsweise im geringen Umfang und durchaus auch fachfremd unterrichtet wird (vgl. ebd.: 501f.).
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Wahrnehmungsfähigkeit und musikalisches Gedächtnis •
Erkennen komplexer musikalischer Beziehungen (z.B. komplexe rhythmische und melodische Kombinationen, versteckte musikalische Zitate
•
Erkennen kombinierter und versteckter Ereignisse Vergleich musikalischer Ereignisse (z.B. differenziertere Sounds/Effekte) Erkennen musikalischer Grundformen (z.B. Erkennen wiederkehrender Formteile ABAForm, einf. Variation)
• •
I
• •
•
Erkennen herausstechender Merkmale (‚salient features‘, z.B. Zäsuren) Vergleich klar unterscheidbarer musikalischer Phänomene (z.B. Sounds unterschiedlicher Musikrichtungen) Erkennen einfacher Formen (z.B. Bildung von Formteilen durch Zäsuren)
Reflektierter Einsatz musikalischen Sach- und Weltwissens C
B
• kritische Bewertung von Musik und ihrer Ausführung auf der Grundlage des Fachwissens • angemessener Einsatz von: • differenzierter • komplexer Visualisierung • Wissen über Verbalisierung (inkl. von Musik (z.B. traditiohistorisch-kulturelle Fachterminologie) neller Notation Kontexte von Musik angemessener Umgang mit bzw. Einsatz von: • Verbalisierung auf • Visualisierung auf einem mittlerem Differenmittlerem Komplexitätszierungsniveau (inkl. niveau (z.B. Fachterminologie) traditioneller Notation)
• Wissen über musikalische Genres
A angemessener Umgang mit bzw. Einsatz von: • basaler • intuitiven graphischen Verbalisierung (inkl. Notationsformen Fachterminologie
• Wissen über einfache Verwendungssituationen von Musik
Abb. 1: Darstellung des Kompetenzmodells für den Bereich »Musik wahrnehmen und kontextualisieren« nach Niessen et al. (2008: 20). Die ausgesprochen kognitive Orientierung wird daran ersichtlich, dass und wie die Übersetzung in ein Kompetenzmodell durchgängig den Begriff des Wissens und des Erkennens mobilisiert. Die Logik des Outputs zwingt dazu, musikalische Kompetenz in der Dimension der Versprachlichung und anderen Formen der Vermittlung (Visualisierung, Notation, Kontextualisierung etc.) zu operationalisieren. Dass die Wahrnehmung von Musik eine Frage der Stimmung und der leiblichen Verhaltung (z.B. der Zuwendung und der Abwendung) ist, die durch Aufgabenstellungen zur Wiedererkennung von Melodien gerade aus dem Blickfeld gerückt wird, belegt über die konzeptionelle Engführung hinaus auch den prozeduralen Ausschluss von Affektivität und Leiblichkeit in diesem Forschungsansatz. Probleme der Kulturabhängigkeit werden unter Bezugnahme auf Begriffe, wie z.B. »Notation« deutlich, wodurch die abendländische Musiktradition als Norm gesetzt wird. Auch wenn sich das Argument anführen ließe, dass diese Form der Verschriftlichung von Musik einen kulturell bedeutsamen Lerngegenstand darstellt, so ist damit noch lange nicht gegeben, dass die Kompetenz, Musik wahrzunehmen, darüber angemessen eingeholt werden kann. Es gehen Entscheidungen in das Kompetenzmodell ein, die gerade aus musikpädagogischer Sicht für die 6. Klasse befragbar sind.5
5 | Studierende des Seminars »Ästhetische Bildung« an der Goethe-Universität Frankfurt im Wintersemester 2015/16 haben diesbezüglich zu bedenken gegeben, dass gera-
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Es ließen sich noch weitere Gesichtspunkte der Kritik anschließen. Auffällig ist in der Tat, dass und wie die Ausformulierung und Begründung des Kompetenzmodells in das Vokabular von Rasch-Kurven gefasst wird. Dies ist nicht als generelle Absage an die Möglichkeit empirischer Validierungen zu verstehen, z.B. wenn es um eine empirisch geleitete Einteilung von Niveaustufen geht. Dass aber die empirische Prüfung für sich genommen als hinreichend für die Validierung des Kompetenzmodells betrachtet wird (ebd.: 509), ist pädagogisch enttäuschend. An dieser Stelle scheint sich die von Biesta geäußerte Kritik zu bewahrheiten, dass die Kompetenzforschung eine Sprache vorgibt, aus der kaum noch ausgestiegen werden kann. Insgesamt vollzieht sich die Identifizierung von »Musik wahrnehmender und kontextualisierender Kompetenz« im Modell über Normalisierung und Universalisierung objektiver Gehalte. Wie generell in der Kompetenzforschung haben Selbstverhältnisse in diesem Modell keinen Ort: Das Modell konzentriert sich durchgängig auf die Objektivierbarkeit von Kenntnissen. Es geht immer um deren Vorhandenheit, die grundsätzlich unter das Diktum der Explizierbarkeit gestellt werden. Es ließe sich also sagen, dass das Modell die Wahrnehmung von Musik mit einer neuen Deutung versieht: In ihm sind spezifische Aufmerksamkeitskonstruktionen enthalten, die auf Objektivierung und Distanzierung des Gehörten setzen. Dies lässt sich beispielhaft an Aufgabenstellungen zum musikalischen Gedächtnis belegen: Hier müssen die Testpersonen nach Anhören eines Musikstücks ankreuzen, welche Formstruktur das gehörte Musikstück hat.
K ultur als »G renzüberschreitung « Eine Weitung der Perspektive auf »kulturelle Bildung« lässt sich über eine Inblicknahme von »Kultur« angehen. Andreas Hetzel hat diese einmal als sich dem identifikatorischen Zugriff entziehenden »Nicht-Ort der Grenzüberschreitung« bestimmt (Hetzel 2002: 11).6 Danach sind alle begrifflichen Herangehensweisen zu kritisieren, die versuchen, den Begriff der Kultur substanziell oder transzendental zu bestimmen. Für »Kultur« wird geltend gemacht, de vor dem Hintergrund der marginalen Stellung des Faches »Musik« die ausdrückliche Bezugnahme auf Notation im Sinne der Reproduktion sozialer Ungleichheit diskutiert werden sollte. Fragen ließe sich tatsächlich, inwiefern die besondere Bedeutung der »Musik« nicht darin liegen könnte, ein »Fach für alle« zu sein. Eine solche Denkweise weist, wie im Folgenden zu sehen sein wird, in der Tat in eine ganz andere Richtung als die auf »Leistung« abzielende Kompetenzforschung. 6 | Für eine bildungstheoretische Reflexion dieser Bestimmung vgl. Thompson/Jergus 2014.
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dass mit ihr immer schon eine Infragestellung der Verhältnisse angesprochen ist. Nach Hetzel sind keine stabilen Leitunterscheidungen zu gewinnen, die erlauben würden, das Feld des Kulturellen abzustecken. Das Verhältnis von Natur und Kultur bildet ein Rätsel; es führt auf ein Feld der Verunsicherung, statt einer Sicherheit verschaffenden begrifflichen Ordnung. Nach Hetzel lässt sich dies an vielen anderen Systematiken und Unterscheidungen nachvollziehen, z.B. der Differenz von ›profan‹ und ›heilig‹. Kultur stellt demnach eine »transgressive Praxis« dar, die eine Differenz in jede Identität einträgt, diese verschiebt. An anderer Stelle habe ich gemeinsam mit Kerstin Jergus und Georg Breidenstein argumentiert, dass »Kultur« und »Kulturwissenschaft« auf das Problem der Begründung sozialer Ordnung bezogen sind (Thompson et al. 2014: 9). Daran anschließend ließe sich »kulturelle Bildung« als in besonderer Weise auf die Transgression und Begründungsproblematik von Kultur bezogen denken. Folgt man einer solchen Deutung, wären Situationen, Geschehnisse und Praxisvollzüge daraufhin in den Blick zu nehmen, wie darin das Verhältnis zu den Gegenständen und zu sich selbst in ein Verhältnis der Aussetzung, der Unterbrechung gebracht werden. »Bildung« beschreibt dann nicht so sehr eine personale Zustandsänderung als vielmehr einen Schauplatz, ein soziales Arrangement, an dem kulturbezogene Verortungen ins Gleiten geraten, sich verflüssigen – und dadurch Räume des »sich bestimmen lassen« oder das eben zu lassen zu eröffnen – wie Seel (1993) einmal formuliert hat. An dem Dokumentarfilm »Louisa« von 2011 soll dieser tentativen Bestimmung »kultureller Bildung« weiter nachgegangen werden. Katharina Pethke zeigt in diesem Film das Leben ihrer Schwester, der 23-jährigen Louisa, die zu dem Schluss kommt, dass sie wirklich nichts oder gar nichts mehr hört. Der Film beschreibt Louisas Weg als Wendung gegen die an sie gerichteten Erwartungen, wie z.B. sich zur Rückgewinnung der Hörfähigkeit ein Implantat einsetzen zu lassen. Louisa lernt, nachdem sie über lange Zeit Lippen gelesen hat und sich damit in die Welt der Hörenden eingepasst hat, die Gebärdensprache. Diese Sprache wird souverän gegenüber all jenen artikuliert, die Louisa immer »im Guten« unterstützt haben, um in der Welt der Hörenden zurechtzukommen. Im Film gibt es eine Stelle, in der Louisa mit einer Bekannten oder Freundin in ein Gespräch über die Erfahrung von Musik eintritt. In dieser Szene von ca. drei Minuten geht es um die Frage des Hörens von Musik und ihre Kontextualisierung. Die Bekannte fragt Louisa nach der Erfahrung von Musik, in der Zeit, in der das akustische Hören bereits ganz aussetzte. Daraufhin berichtet Louisa über Wahrnehmungsformen von Tonalität, die noch nach einer angemessenen Sprache suchen, die aber normalisierte Hörwahrnehmungen
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wie auch Hörgewohnheiten irritieren: Mozart wird als Brei beschrieben, Glockenspiel als hohes Glitzern in den Fingern. Im zweiten Teil der Szene singt die Bekannte ein Lied am Klavier. Sie fordert Louisa dazu auf, so Musik zu hören, wie sie es sonst auch tut. Entscheidend dabei ist die Berührung. Was nun passiert, ist ein kurzer Austausch darüber, ob Louisa ihr Gegenüber am Hals berühren sollte oder nicht. Louisa fragt nach einer unangemessenen Übertretung von Berührung, während die Bekannte sie auffordert, ihrem »Hören« von Musik nachzugehen. Am Ende wird spielerisch von Louisa formuliert, dass sie sich den Ton am liebsten aus dem Hals herausgegriffen hätte – und damit wird die leibliche Stätte des Tons im Kehlkopf, seine Bindung an den Atemfluss in besonderer Weise präsent gemacht. Im Rahmen der Sichtung dieser kurzen Szene möchte ich folgende Aspekte hervorheben. Die Szene vollzieht sich vor dem Hintergrund der Frage, was überhaupt als Wahrnehmung von Musik gelten kann. Was hier eine offene Frage ist, ist im Rahmen des Kompetenzmodells immer schon entschieden. Louisa und ihre Bekannte oder Freundin gehen dem Musik-Hören nach und überschreiten damit die Normalitätsvorstellungen des Hörens. Blickt man darauf, wie Veränderung und Beschreibung des Musik-Hörens vorgenommen werden, so geht es darin eben nicht um Entwicklung und Optimierung, wie dies im Kompetenzmodell operationalisiert wird. Hier geht es um eine Offenheit dessen, was es zu erfahren gibt, ein Sachverhalt, eine Beschreibung, auf die auch das Wort »Forschung« passt. Besonders eindrücklich in der Szene ist nun, was ich als eine leibliche Teilhabe auf der Grundlage einer Differenzerfahrung beschreiben würde. Anstatt der üblichen Begriffsverwendung von Teilhabe zu folgen, die sich letztlich nur über eine Mitgliedschaft an einem definiten Reservoir kultureller Bestimmungen versteht, vollzieht sich eine leiblich fundierte Spur des Musik-Hörens am bzw. über die Andere, die durch Berührung entbunden wird. Darin eingelagert ist die Frage, wie mir der gesungene Ton und damit der Leib des Anderen gegeben ist, eine Frage, die Käte Meyer-Drawe in ihren Studien zur Inter-Subjektivität und Zwischenleiblichkeit – dem Phänomenologen Maurice Merleau-Ponty folgend – bearbeitet hat (Meyer-Drawe 1987). Der Begriff der Teilhabe ist im Sinne eines Anteils und Teilens auszuformulieren, das nicht in der Verfügung der Beteiligten liegt. Grundlage für diesen Anteil und dieses Teilen ist, dass nicht im Voraus bestimmt werden kann, was unter (Musik-)Hören eigentlich zu verstehen ist, wie dabei vorzugehen ist oder unter welche Form oder Gesetzmäßigkeit das Gehörte zu bringen wäre. Dabei tritt der Leib in den Vordergrund, wird thematisch als Erfahrungsort und -medium im Zwischen, bei der Ton geben und nehmen
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ineinander verwiesen sind. Bernhard Waldenfels7 hat in »Ordnung im Zwielicht« (1987) von einem »Zwischen« oder »Zwischenreich« gesprochen, das von keiner der Beteiligten vollständig bestimmt werden kann: »wo sich etwas zwischen Sprechenden [Singenden] und Handelnden [Hörenden] ereignet, was sich weder vom Einzelnen allein bewältigen, noch von einer übergeordneten Instanz steuern, nicht in ein Ganzes integrieren lässt« (Waldenfels 1987: 39f.). Es liegt nahe, gerade in der Offenheit und Unabgeschlossenheit der hier beschriebenen Szene jenen Punkt zu sehen, auf den wir stoßen: dass die Frage der Musik nicht jenseits der hier dokumentierten Begegnung der beiden Frauen beantwortet werden kann. Dies verweist auf den Aspekt der Sozialität von Musik (ein Punkt, der in diesem Beitrag unmöglich behandelt werden kann). Dass Musik für andere und mit anderen besteht, ist ebenfalls nicht über die individualisierende Kategorie der Kompetenz als Leistungsdisposition einholbar. Dass die beiden Frauen in der Szene dahin geführt werden, sich wechselseitig anzuzeigen bzw. zu kommunizieren, dass es um dieses Hören zwischen ihnen geht, ebenso wie der Versuch, hier an dieser Stelle eine Beschreibung für die Situation zu finden, kann als bildungstheoretische Spurensuche verstanden werden. So könnte denn auch der Dokumentarfilm, der diese und weitere Szenen zeigt, im Sinne einer bildungstheoretischen Spur verstanden werden – nicht als Dokumentation einer Bildungs- und Emanzipationsgeschichte, sondern als Vorführen eines Schauplatzes, in dem es tatsächlich zu einer Frage wird, was für ein Musik-Hören wir da vor uns haben, wie uns dieses Hören präsent sein kann.
K ulturelle B ildung » erforschen « Die grundlegende These dieses Textes ist, dass »kulturelle Bildung« nicht als Programm oder Kultivierungsprozess zu denken ist, sondern als Ort der Befremdung, als Ort, an dem die Ordnungsbestrebungen kultureller Praktiken eingeklammert oder auch distanziert werden. Dies teilt der eingangs angeführte Bericht von der Puddingparty mit den Erkundungen von Musik, die im Film »Louisa« aufgegriffen worden sind. Ausgehend davon ist die Kompetenzforschung in doppelter Weise zu problematisieren: Nicht nur erfolgt eine Engführung des Gegenstandes vor dem Hintergrund der Forderung, messbar zu sein. Sie verändert auch das Feld der kulturellen Bildung, indem sie Eindeutigkeit in ein Feld einführt, das von einem Zwischen lebt. Das impliziert nicht, dass nicht auch nach einem musikalischen Gedächtnis gefragt werden dürfte, dass nicht auch Tests und Evaluation stattfinden 7 | Für den Hinweis auf Waldenfels zur Verdichtung der vorgetragenen Überlegungen danke ich Käte Meyer-Drawe.
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sollten. Das Problem besteht vielmehr in der Totalität der kompetenztheoretischen Herangehensweise und ihrer Verweigerung von Transgression und Pluralität. Dies nun trifft sich mit einem anderen Missverständnis zur »kulturellen Bildung« – nämlich in ihrer Tendenz zur Monopolisierung und Vereinnahmung. Wenn in Vorzeigeprojekten der kulturellen Bildung die so genannten »benachteiligten Jugendlichen« gezeigt werden, wie sie angeblich von dem Projekt profitieren etc., dann bleibt zuletzt festzuhalten, dass die Jugendliche als Benachteiligte gezeigt werden, um den kulturellen Bildungsgewinn zur Darstellung zu bringen. Hier gibt es keinen Spielraum. Eine solche paternalistische und machtblinde Perspektive lebt von der Instituierung einer »Leitkultur« 8, auch wenn diese nicht als solche bezeichnet wird. Es ist wohl nicht zufällig, dass ein Autor wie Jacques Rancière (2006) Kunst und Politik (als Hinterfragung der »Aufteilung des Sinnlichen«) in einen engen Zusammenhang stellt. Bezugnehmend auf Schiller argumentiert Rancière, dass sich im Ästhetischen eine Aufschiebung von Herrschaft vollzieht, eine eröffnende Erfahrung, die dem zu Erfahrenden nicht schon einen Platz zugewiesen hat. Dann könnte die Erforschung von kultureller Bildung als ihr Kern verstanden werden. In fluiden Erfahrungsräumen des Kulturellen, spielerischen Vollzügen und leiblicher Verwobenheit kommt sich kulturelle Bildung auf die Spur und befragt dabei auch das Verhältnis von Wissen und Nicht-Wissen.
L iter atur Bamford, Anne (2006): The Wow-Factor. Global research compendium on the impact of the arts in education, Münster. Bastian, Hans Günther (2000): Musik(erziehung) und ihre Wirkung. Eine Langzeitstudie an Berliner Grundschulen, Mainz. Bellmann, Johannes (2006): »Bildungsforschung und Bildungspolitik im Zeitalter ›Neuer Steuerung‹«, in: Zeitschrift für Pädagogik 52, S. 487-504. Biesta, Gert (2011): »Warum ›What works‹ nicht funktioniert: Evidenzbasierte pädagogische Praxis und das Demokratiedefizit der Bildungsforschung«, in: Johannes Bellmann/Thomas Müller (Hg.), Wissen, was wirkt. Kritik evidenzbasierter Pädagogik. Wiesbaden, S. 95-122. Biesta, Gert (2015): »Resisting the seduction of the global education measurement industry: notes on the social psychology of PISA«, in: Ethics and Education, 10:3, S. 348-360.
8 | Käte Meyer-Drawe hat in einem Beitrag zum »Handbuch Kulturwissenschaften« die Untiefen eines so verstandenen Kulturbegriffs ausgelotet (Meyer-Drawe 2004).
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Gelingensbedingungen Kultureller Bildung untersuchen – am Beispiel der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation des Landesprogramms »Jedem Kind seine Kunst«1 Simone Kosica »Mit Jedem Kind seine Kunst möchten wir Anreize bieten, das Angebot an Kultureller Bildung in RheinlandPfalz qualitativ wie quantitativ weiterzuentwickeln« (Ahnen 2013).
Mit dieser Zielsetzung startete am 01.08.2013 das Landesprogramm »Jedem Kind seine Kunst«. In zunächst fünf aufeinander folgenden Phasen von jeweils einem halben Jahr wurden bis zum 31.12.2015 in Kooperationstandems zwischen Künstlern2 unterschiedlicher Sparten und schulischen sowie außerschulischen Partnern rund 1300 Projektangebote im Bereich der Kulturellen Bildung durchgeführt. Im Auftrag des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur Rheinland-Pfalz übernahm dabei die Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz, die wissenschaftliche Begleitung und Evaluation des Landesprogramms. Das Forschungsprojekt, das mittels quantitativer und qualitativer Methoden das Programm einer sozialwissenschaftlichen Analyse unterzog, oblag der Leitung von Prof. Dr. Kristin Westphal. Vor dem Hintergrund, dass trotz des allgemeinen Wunsches nach fundierter Forschung und wissenschaft1 | Der vorliegende Beitrag basiert auf dem im Zuge der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation des Landesprogramms »Jedem Kind seine Kunst« entstandenen Endbericht, der vollständig unter http://kulturland.rlp.de/de/kultur-vermitteln/jedemkind-seine-kunst/ einzuseh en ist. 2 | Im Folgenden wird die männliche Form als generalisierte Form verwendet. Gemeint sind immer Künstlerinnen und Künstler.
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lichen Erkenntnissen sowie dem Bedarf an fundierten Evaluationen solcher Programme und Maßnahmen innerhalb der Kulturellen Bildung bislang nur eine überschaubare Anzahl an Dokumentationen über die Durchführung von wissenschaftlichen Begleitungen und Evaluationen vorliegen (vgl. Hill 2014: 69), erlangen die gewonnenen Erkenntnisse besondere Relevanz. Innerhalb des folgenden Beitrags werden die Forschungsergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation aufgegriffen und auf Gelingensbedingungen Kultureller Bildung befragt. Um die Forschungserkenntnisse und die Forschungsperspektive mit Blick auf den Gesamtkontext des Landesprogramms »Jedem Kind seine Kunst« besser einbetten zu können, wird eingangs das Landesprogramm in seinen Grundstrukturen, Zielen, dem künstlerischen Angebot sowie die Bandbreite der Kooperationspartner vorgestellt (1.), bevor das Forschungsdesign (2.) und die zugrundeliegenden ästhetischen Qualitätskriterien (3.) der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation in Kürze skizziert werden. Der Fokus des Beitrages liegt auf der daran anschließenden differenzierten Darlegung der beobachteten Gelingensbedingungen Kultureller Bildung innerhalb der Projektpraxis des Landesprogramms »Jedem Kind seine Kunst« (4.).
D as L andesprogr amm »J edem K ind seine K unst« Das Landesprogramm »Jedem Kind seine Kunst« richtet sich an Künstler des Landes Rheinland-Pfalz aus verschiedenen Kunstsparten wie Architektur, den Bildenden Künsten, Film, Fotographie, Literatur, Musik, neue Medien, Tanz und Theater. Den teilnehmenden Künstlern wird hierbei die Gelegenheit gegeben, in Zusammenarbeit mit schulischen und außerschulischen Institutionen, wie beispielsweise Jugendzentren, Kindertagesstätten, Schulen und Vereinen, vom Ministerium für Bildung, Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur Rheinland-Pfalz finanzierte Projektangebote aus dem Bereich der Kulturellen Bildung in einem vorgegebenen Rahmen inhaltlich, zeitlich und räumlich selbstständig auszugestalten. Wie in dem Eingangszitat von Frau Ahnen thematisiert, geschieht dies mit der primären Intention der Initiierung von Kooperationsmodellen sowie der bundeslandesweiten Stärkung und Implementierung von Angeboten Kultureller Bildung für Kinder und Jugendliche im schulischen und außerschulischen Bereich. Damit werden neben konkreten Zielsetzungen, wie dem künstlerisch-kreativen Tätigsein, der aktiven Auseinandersetzung mit den künstlerischen Traditionen und der Einübung neuerer künstlerischer Ausdrucksformen, auch weiterführende Zielvorstellungen, wie der positiven Einflussnahme
Gelingensbedingungen Kultureller Bildung untersuchen
auf die Persönlichkeitsentwicklung und die Innovations- und Teamfähigkeit der Teilnehmer3, verfolgt. In den initiierten 1300 Projekten des Landesprogramms »Jedem Kind seine Kunst« wird trotz der dargelegten Bandbreite an beteiligten Kunstsparten deutlich, dass insbesondere die Bildende Kunst stark vertreten ist. Ihr sind etwa ein Drittel aller durchgeführten Projektangebote zuzuordnen, während der prozentuale Anteil an Tanzprojekten über die ersten fünf Phasen hinweg beispielsweise unter 10 % liegt. Mit Blick auf die beteiligten Kooperationspartner lässt sich eine ähnlich starke Tendenz in Richtung schulische Einrichtungen konstatieren. Obwohl sich »Jedem Kind seine Kunst« an schulische sowie außerschulische Institutionen wendete, wurden deutlich mehr als die Hälfte der Projekte und Angebote in Zusammenarbeit mit schulischen Institutionen durchgeführt. Hierbei zeigten sich bei näherer Betrachtung der Schulformen gerade die Grundschulen mit etwa 60 % als die unter den kooperierenden schulischen Institutionen am stärksten vertretene Schulform. Grundsätzlich wird damit der Bedarf und das allgemeine Interesse an Angeboten Kultureller Bildung in schulischen Kontexten mehr als deutlich. Inwieweit es dem Landesprogramm »Jedem Kind seine Kunst« allerdings tatsächlich gelungen ist, Kooperationen anzulegen, die über den Förderzeitraum hinaus Bestand haben, gilt es abzuwarten.
D ie F orschungsperspek tive der wissenschaf tlichen B egleitung und E valuation Der im Rahmen des Beitrags zugespitzte Untersuchungsfokus fragt nach den Gelingensbedingungen für Qualität Kultureller Bildung innerhalb der Projektpraxis des Landesprogramms »Jedem Kind seine Kunst«. Da Qualität stets eingebettet in einen spezifischen Kontext zu reflektieren ist und somit nicht losgelöst von bestimmten Strukturen und Rahmenbedingungen beurteilt werden kann (vgl. Bilstein 2013; Rittelmeyer 2010; Rat für Kulturelle Bildung 2013), wurde der Frage nach Gelingensbedingungen Kultureller Bildung in vier evaluationsleitenden Dimensionen nachgegangen:
3 | Im Folgenden wird die männliche Form als generalisierte Form verwendet. Gemeint sind stets Teilnehmerinnen und Teilnehmer.
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Abb. 1: Die vier evaluationsleitenden Dimensionen im Überblick
Zielten der organisatorische und kommunikative Rahmen auf die Erfassung der äußeren Voraussetzungen der Projektangebote und dem Austausch der beteiligten Parteien, lag das Augenmerk innerhalb des künstlerischen Rahmens auf den künstlerischen Inhalten und Ausrichtung der Projekte. Bei dem pädagogischen Rahmen stellten sich schließlich Fragen nach praxis- und anwendungsorientierten, methodischen Gelingensbedingungen innerhalb der Projektpraxis. Die in untersuchungsleitenden Dimensionen Untergliederung der Projektkontexte ermöglichte es, die Projektpraxis möglichst differenziert zu betrachten, zu erfassen, abzubilden und somit zu untersuchen. Dabei umfasste das eingesetzte Forschungsdesign sowohl quantitative als auch qualitative Erhebungsmethoden. Im Bereich der quantitativen Erhebungen wurde in zwei Erhebungsphasen ein Fragebogen eingesetzt, der die vier beschriebenen Dimensionen befragte. Die Befragungen richteten sich sowohl an die beteiligten Künstler und Kooperationspartner als auch an die involvierten Kinder und Jugendlichen. Der größtenteils aus Multiple-Choice-Fragen bestehende Fragenkatalog war in der Weise angelegt, dass die Fragen aus der jeweiligen Perspektive ähnlich gestellt wurden, wodurch tendenzielle Übereinstimmung bzw. Differenzen nicht nur innerhalb der befragten Zielgruppe, sondern auch perspektivübergreifend analysiert werden konnten. Da ästhetische Prozesse sich durch eine derartig objektive Bemessung und Subsumierung mit Blick auf Qualität nicht in ihrer Tiefe fassen lassen, sondern vielmehr einer reflektierenden Bewertung und Analyse bedürfen, die die vergänglichen, flüchtigen Momente der Künste einfangen (vgl. Westphal/
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Bogerts/Hahn 2016: 56), wurden in 30 Projektbesuchen auch Methoden qualitativer Sozialforschung in Form von teilnehmender Beobachtung und leitfadengestützter Interviews mit den beteiligten Künstlern eingesetzt. Derart konnten die quantitativ gewonnenen Eindrücke vertieft und weiteren Gelingensbedingungen Kultureller Bildung in der unmittelbaren Projektpraxis des Landesprogramms »Jedem Kind seine Kunst« nachgegangen werden. Doch wie lässt sich Qualität im Bereich der Kulturellen Bildung überhaupt fassen und damit verbundene Gelingensbedingungen formulieren?
Ä sthe tische Q ualitätskriterien K ultureller B ildung Die Frage nach der Qualität Kultureller Bildung beherrscht derzeit sowohl die nationalen als auch internationalen Diskussionen innerhalb der Ästhetischen und Kulturellen Bildung (vgl. Eger 2015; Rat für Kulturelle Bildung 2014: 93). Dabei wird deutlich, dass der Fokus nicht mehr auf dem reinen Angebot Kultureller Bildung liegt, sondern dass sich das Augenmerk verstärkt darauf richtet, »wie Kulturelle Bildung realisiert wird und unter welchen Bedingungen diese gelingt« (ebd.). Dieser Fokus wurde auch innerhalb des Forschungsprojektes zur wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation des Landeprogramms »Jedem Kind seine Kunst« eingenommen. Da hierbei verstärkt die Künstler und ihr Wirken in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückten, wurden, ausgehend von dem theoretischen Hintergrund der ästhetischen Bildung innerhalb der Erziehungswissenschaft (vgl. Parmentier 2004; Bilstein/Zirfas 2009; Bilstein 2013; Westphal 2014; Westphal/Zirfas 2014; Westphal 2015), die Künste als »eigener und besonderer Referenzrahmen« (Bilstein 2013: 61) herangezogen und von Prof. Dr. Westphal mit Rückgriff auf Bilstein (2013) die nachstehenden sieben Qualitätskriterien4 abgeleitet. Grundsätzlich ist der Einbezug sinnlich-körperlicher Wahrnehmung und die damit verbundenen sinnlich-leiblichen Erfahrungen als ein erstes zentrales Qualitätskriterium innerhalb der Kulturellen Bildung anzusehen. Das zweite Qualitätskriterium in Form von Anerkennung und Begeisterung umfasst sowohl die Vermittlung kunstbezogener Kenntnisse, Möglichkeiten der Selbstreflexion sowie eine damit einhergehende anerkennende Haltung der Teilnehmer gegenüber der Kunst durch die Künstler als auch die mit dem künstlerischen Schaffen ermöglichte Begeisterung, Inspiration und Motivation seitens der Kinder und Jugendlichen durch die Auseinandersetzung mit Kunst. Eng damit verbunden ist das dritte Qualitätskriterium, das darin zu sehen ist, dass den Teilnehmern dies erst durch die Erfahrung von selbsttätig künstlerischem 4 | Eine ausführlichere Darlegung der hier kurz skizzierten Qualitätskriterien findet sich bei Bilstein (2013).
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Schaffen ermöglicht wird. Darüber hinaus können auch Sensibilität für künstlerische Prozesse und Freiheit für Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten als weitere zentrale Qualitätsfaktoren herausgestellt werden, da gerade über die aktive Partizipation der Teilnehmergruppe im Entstehungsprozess eines Produktes »gegenstandsbezogene Kritikfähigkeit, Entscheidung und Ausschluss« (Rat für Kulturelle Bildung 2014: 24) erreicht werden. Abschließend sind die beiden Qualitätskriterien Erfahrung von Kontingenz: Neues, Fremdes, Möglichkeiten und Erfahrung von Ganzheit und Aufmerksamkeit anzuführen. Ermöglicht ersteres durch die »Erfahrung des Zufalls und der unendlichen Zahl an Möglichkeiten« (ebd.) sowie der »Erfahrung des Unkalkulierbaren, Unvorhersehbaren« (ebd.) neue Zugänge zu Welt und Selbst (vgl. Westphal 2014, 2015), wird durch letzteres sowohl die Bedeutung aller Details eines Kunstwerks als auch die Ermöglichung einer angemessenen Schaffensatmosphäre für eine vertiefende und konzentrierte Auseinandersetzung innerhalb des künstlerischen Prozesses betont.
G elingensbedingungen K ultureller B ildung innerhalb der P rojek tpr a xis des L andesprogr amms »J edem K ind seine K unst« Ausgehend von den darlegten ästhetischen Qualitätskriterien Kultureller Bildung, die als offener Katalog zur theoretischen Orientierung dienten, ergaben sich innerhalb der Auswertung des erhobenen Materials in den vier evaluationsleitendenden Dimensionen (vgl. Abbildung 1) Unterkategorien, anhand derer sich Gelingensbedingungen Kultureller Bildung abzeichneten. Die besagten Unterkategorien werden mit Bezug auf den jeweiligen Rahmen benannt, wobei jeweils einzelne Aspekte exemplarisch mit Blick auf die ästhetischen Qualitätskriterien näher ausgeführt werden5. Innerhalb des organisatorischen Rahmens stellen sich in den Projektdurchführungen eine flexible, auf Nachhaltigkeit und Projektvorhaben ausgelegte zeitliche Bemessung, eine auf das Projektangebot abgestimmte Größe der Teilnehmergruppe sowie adäquate räumliche Bedingungen als qualitätsbeeinflussend heraus. Hinsichtlich der räumlichen Bedingungen eines Projektes begünstigt insgesamt ein offener und anpassungsfähiger Rahmen mit genügend Raum für freies Arbeiten, Präsentieren und Reflektieren eine gelingende Projektpraxis. Räume, die partizipativ im Prozess mitgestaltet werden, bieten 5 | Weitergehende Ausführungen zu den jeweiligen Unterkategorien finden sich im Endbericht der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation des Landesprogramms »Jedem Kind seine Kunst« unter http://kulturland.rlp.de/de/kultur-vermitteln/jedemkind-seine-kunst/.
Gelingensbedingungen Kultureller Bildung untersuchen
verstärkt die Möglichkeit, der Erfahrung von Kontingenz und Emergenz und unterstützten das selbstständig künstlerische Schaffen. Demgegenüber stehen Räumlichkeiten, deren Gestaltung oder Nutzungsbedingungen durch ein unzureichendes Verständnis für eine künstlerisch adäquate Arbeitsatmosphäre seitens der Kooperationspartner zu einer Restriktion künstlerischen Schaffens führen. Die Arbeit im Atelier oder der Werkstatt der jeweiligen Künstler repräsentiert eine besondere Form eines räumlichen Wirkumfeldes. Durch die freie Verfügbarkeit aller benötigter Materialien und Utensilien ist ein hohes Maß an Selbstorganisation und -verantwortung im selbsttätig künstlerischen Schaffen sowie Freiheit für Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten möglich. Darüber hinaus bekommen die Teilnehmer einen lebhaften Eindruck der künstlerischen Aktivität des Künstlers vor Ort, was neben der sinnlich-körperlichen Qualität auch Sensibilität für künstlerische Prozesse ermöglicht und Inspirationen und Motivation für das eigene selbstständig künstlerische Schaffen begünstigt. Mit Blick auf den künstlerischen Rahmen sind insbesondere die Vermittlungsschwerpunkte sowie das Kunstverständnis des agierenden Künstlers von entscheidender Bedeutung für eine gelingende Projektpraxis. Erstrecken sich die vertretenen Kunstverständnisse und die damit einhergehenden Selbstverständnisse der Künstler von einem hierarchisch geprägten Kunstverständnis bis zu einem offenen, sozialen Kunstbegriff in der Tradition des erweiterten Kunstbegriffs, kann mit Blick auf die ästhetischen Qualitätskriterien eine zeitgenössische Ausrichtung der Projektangebote als Gelingensbedingung formuliert werden. Dadurch, dass in derartigen Projektbeispielen auf eine scharfe Trennung zwischen dem eigenen Kunstschaffen und der Kunstvermittlung bzw. dem kreativen Schaffen der Teilnehmer und dem professionellen Schaffen des Künstlers zugunsten eines Ineinandergreifens oder einer Verflechtung der eigenen Kunstpraxis und der Projektpraxis verzichtet wird, erfolgt ein gemeinsames Kunstschaffen, eine stärkere Fokussierung des selbstständig künstlerischen Schaffens der Teilnehmer und eine höhere Partizipation dieser im künstlerischen Prozess. Darüber hinaus begünstigt die Durchdringung von »Kunstvermittler« und »Künstlersein« mit Blick auf die teilnehmenden Kinder und Jugendlichen Einblicke in künstlerische Prozesse sowie den Zugang zu Erfahrungen von Kontingenz und Emergenz. Innerhalb des pädagogischen Rahmens treten neben einer reflektierten und auf die Zielgruppe abgestimmten Konzeption und Umsetzung des Projektangebotes, insbesondere eine ermöglichende, initiierende, unterstützende und wertschätzende Grundhaltung der Künstler als qualitätsbestimmende Faktoren zu Tage. Durch eine solche pädagogische Haltung gelingt es den Künstlern auf motivierende Art, Projektangebote mit hohem künstlerischem sowie bildendem Potential, Begeisterung und Anerkennung sowie Freiheit für Wahlund Entscheidungsmöglichkeiten zu schaffen. Darüber hinaus zeigt sich in Projekten, die mit schulischen Kooperationspartnern durchgeführt wurden,
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auch die Gestaltung des Spannungsfeldes Schule – Kunst bzw. Lehrkraft – Künstler als entscheidend für eine gelingende Projektpraxis. Dabei geht sowohl von einer tiefen Kluft, die sich in mangelnder Offenheit und Unverständnis für künstlerische Wirk- und Arbeitsweisen seitens der Institution äußert, als auch von einer zu starken Anpassung und Unterordnung der Künstler an institutionelle Abläufe die Gefahr aus, den teilnehmenden Kindern und Jugendlichen die Erfahrung von Kontingenz zu versagen und somit auch ein großes Potential der Kunstprojekte zu verschenken. Dem entgegen stehen Tandems, die in der Projektgestaltung und während des Projektverlaufs aus den unterschiedlichen Professionen heraus in die gleiche Richtung wirken, indem sie die jeweilige Expertise einfließen lassen und die jeweils andere anerkennen und wertschätzen, als Beispiele für eine gelungene Gestaltung des Spannungsfeldes. Sie ermöglichen im Sinne einer produktiven, konstruktiven Kooperation nicht nur die Erfahrung von Kontingenz, sondern begünstigen darüber hinaus die Sensibilität und Offenheit für künstlerische Prozesse. Das beschriebene Spannungsfeld ist bereits am Übergang zum kommunikativen Rahmen angesiedelt, wodurch an der Stelle Überschneidungen zu nun anschließenden Aspekten auftreten können. Mit Blick auf den kommunikativen Rahmen zeigen sich nicht nur eine gemeinsame Reflexion der Projektpraxis, sondern ebenso Anerkennung und Wertschätzung sowie gezielte Absprachen unter und zwischen den Kooperationstandems als deutliche Gelingensbedingungen. Mit Verweis auf die bereits ausgeführten organisatorischen und pädagogischen Gelingensbedingungen wird deutlich, dass insbesondere institutionelle Abläufe in schulischen Kontexten den Künstlern eine zeitliche, räumliche und organisatorische Anpassungsleistung abverlangen, die auf regelmäßige und prozessorientierte Absprachen mit den schulischen Kooperationspartnern angewiesen ist, um dabei Störungen im Projektverlauf vorzubeugen und selbstständiges, künstlerisches Schaffen der Zielgruppe sowie die Erfahrung von Aufmerksamkeit zu ermöglichen. Wie bereits an unterschiedlichen Aspekten der evaluationsleitenden Dimensionen deutlich wird, sind diese nur theoretisch isoliert voneinander zu betrachten. Mit Blick auf die praktischen Umsetzungsbedingungen Kultureller Bildung zeigen sich hier zahlreiche Überschneidungen und Überlappungen. Die Dimensionen greifen, wie es die Abbildung 1 bereits nahe legt, vielmehr ineinander, wodurch sich vor dem Hintergrund der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation des Landesprogramms »Jedem Kind seine Kunst« folgende drei dimensionsübergreifende Gelingensbedingungen für Qualität Kultureller Bildung zusammenfassen lassen: • strukturelle Einbindung der Projektangebote • Haltung des Künstlers • Kooperation der Beteiligten
Gelingensbedingungen Kultureller Bildung untersuchen
Von einer gelungenen strukturellen Einbindung der Projektangebote kann ausgegangen werden, wenn die Umsetzung der künstlerischen Prozesse innerhalb der Projektangebote seitens der Kooperationspartner sowohl zeitlich, räumlich, materiell als auch personell und inhaltlich ermöglicht und aktiv unterstützt sowie mit Offenheit angenommen werden. Gewährt man Angeboten Kultureller Bildung auf diese Weise hinlänglich Freiraum und Unterstützung, können über sinnlich-körperliche Wahrnehmung und selbsttätiges künstlerisches Arbeiten individuelle Zugänge zur Kunst geschaffen, Einblicke in die künstlerische Praxis gegeben, Vorurteile und Hemmungen abgebaut und den Teilnehmern eine Vielfalt an ästhetischen Erfahrungen ermöglicht werden. Seitens der Künstler hat sich vor dem Hintergrund der ästhetischen Qualitätskriterien eine pädagogische Haltung bewährt, die sich im besonderen Maße gepaart mit einem zeitgenössischen, sozial orientierten Kunstverständnis beobachten lässt. Ausgehend von ihrer fachlichen Expertise lassen sich die Künstler als Teil der Gruppe auf die Teilnehmer und den einsetzenden künstlerischen Prozess ein und ermöglichen ein hohes Maß an Partizipation, indem den Kindern und Jugendlichen im künstlerischen Schaffen eine Großzahl an Wahl- und Entscheidungs-möglichkeiten gegeben werden. Durch ein auf diese Weise geschaffenes Vertrauen in das eigene Tun und die Einblicke in das künstlerische Tun des Künstlers ist es möglich, nicht nur Anerkennung, Begeisterung und Motivation für und durch die Kunst zu schaffen, sondern auch das Einlassen auf Fremdes und Neues zu begünstigen. Neben der strukturellen Einbindung der Projektangebote und der Haltung der Künstler erscheint die aktive Kooperation der Vertreter der beteiligten Einrichtungen und der Künstler im Sinne einer kooperativen statt kompetitiven Zusammenarbeit essentiell für eine gelingende Projektpraxis. Ausgehend von einer beiderseitigen Kommunikationsbereitschaft, Anerkennung und Toleranz, meint dies auch verschiedene Zuständigkeiten anzuerkennen und die Bereitwilligkeit jeweilige Kompetenzen in den Projektverlauf einfließen zu lassen. Derart kann ein Fundament für die Intensivierung aufgebauter Kontakte geschaffen und somit der Grundstein für dauerhaft beständige Kooperationsmodelle im Sinne einer nachhaltigen Kulturellen Bildung gelegt werden.
F a zit Durch das Landesprogramm »Jedem Kind seine Kunst« wurde für das Bundesland Rheinland-Pfalz ein alters-, institutsübergreifendes und gesellschaftsumfassendes kulturelles Angebot geschaffen, das den Empfehlungen des Rats für Kulturelle Bildung folgt, »eine Grundversorgung in den wichtigsten Künsten in Kindertagesstätten und Schulen im Sinne einer Alphabetisierung zu sichern […], Ganztagsschulen für Kulturelle Bildung zu nutzen und kommunale
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Bildungslandschaften und Programme für das Recht auf kulturelle Teilhabe zu entwickeln« (Westphal/Bogerts/Hahn 2016: 53). Mit Blick auf die in dem Beitrag dargelegten Qualitätskriterien sowie davon abgeleiteten Gelingensbedingungen wurden in diesem Rahmen eine Vielzahl an positiven Beispielen gelingender Projektpraxis hervorbracht.6 Die Untersuchung der Projektpraxis hat dabei bestätigt, dass die Umsetzung solch qualitativ hochwertiger Angebote innerhalb der Kulturellen Bildung die Erfüllung entsprechender organisatorischer, künstlerischer, pädagogischer sowie kommunikativer Bedingungen verlangt, die keinesfalls in allen Fällen vorauszusetzen sind. Um die initiierten Kooperationsmodelle nachhaltig weiterzuführen, sind insbesondere schulische Bildungsinstitutionen herausgefordert, sich inhaltlich und strukturell für neue Formate und Kommunikations- und Kooperationsmodelle zu öffnen und Kinder und Jugendliche mit Blick auf ihre eigenen kulturellen Praxen neben ihrer rezeptiven auch in ihrer produktive Rolle wahrzunehmen und zu fördern (vgl. ebd.: 56). Seitens der Künstler werden mit Blick auf die formulierten Gelingensbedingungen die Bedeutung von pädagogischer Versiertheit sowie eine bewusste Reflexion des persönlichen Kunst- und Bildungsverständnisses erkennbar. Das pädagogische Weiterbildungsmodell für Kunst- und Kulturschaffende der Rhein-Main-Region »Kunst_Rhein_Main« 7 setzt – exemplarisch für insgesamt 14 Weiterbildungsmodelle, die derzeit auf Bundesebene erprobt werden – an dieser Stelle an. Vor dem Hintergrund erziehungswissenschaftlicher Vorträge und Workshops sowie der Erprobung insbesondere zeitgenössischer Verfahrensweisen und ihrer Reflexion aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive erfolgt eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstverständnis sowie dem eigenen künstlerischen Wirken im institutionellen Rahmen. Dadurch kann nicht nur die Stellung der Künstler in Bildungskontexten gestärkt, sondern auch beschriebene Kooperationshürden innerhalb von Bildungskontexten herabgesetzt und ein Beitrag zur Förderung nachhaltiger und vor allem qualitativ hochwertiger Angebote Kultureller Bildung geleistet werden.
6 | Eine Auswahl an Best-Practice-Beispielen ist im Endbericht der wissenschaftlichen Begleitung und Evaluation des Landesprogramms »Jedem Kind seine Kunst« unter http://kulturland.rlp. de/de/kultur-vermitteln/jedem-kind-seine-kunst/einzusehen. 7 | Weiterführende Informationen zu »Kunst_Rhein_Main« finden sich unter https:// www.uni-koblenz-landau.de/de/koblenz/fb1/gpko/fup/KRM.
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Rhetorik – Bildung – Kultur Ein Vorschlag zur grundlagentheoretischen Verortung Tobias Schmohl
K urzfassung Der Beitrag verortet die Rhetorik als wissenschaftliche Disziplin im Anschluss an die jüngsten Forschungsbeiträge der »Tübinger Schule« (Knape 2013; Schmohl 2016) »zwischen« einer pragmatisch ausgerichteten Kommunikationswissenschaft und einer humanistisch orientierten Bildungswissenschaft. In der Theoriearchitektur einer so positionierten Rhetorik erhält der Kulturbegriff eine prominente Stellung, und zwar in zweifacher Hinsicht: 1. als strategische Beeinflussungsgröße für persuasive Intervention (kommunikationspragmatische Dimension); 2. als »Verständigungsgrund«, in dem sich rhetorische Bildungsprozesse überindividuell sedimentieren (bildungstheoretische Dimension). Ziel der Analyse ist es erstens, die Rhetorik in ihrer doppelten Funktion von persuasiver Kommunikation und kultureller Bildung als wissenschaftliche Disziplin zu positionieren. Neben den Grundlagentexten der Antike sowie der neueren fundamentalrhetorischen Forschung und Theoriebildung sind hierfür insbesondere sozialwissenschaftliche und kulturpsychologische Bezugstheorien konstitutiv. Zweitens soll die spezifische Bedeutung kultureller Bildung (im Sinne einer Anregung zu transformatorischer Entwicklung) innerhalb des definierten Rhetorikverständnisses herausgearbeitet werden. Mein Ansatzpunkt ist dabei ein dezidiert handlungstheoretischer. Ich schlage vor, Kultur im Anschluss an Hartmut Esser als die Gesamtheit der in einem Kollektiv von Akteuren geteilten Vorstellungen zu bestimmen (vgl. Esser 2001: IX). Eine Rhetorik, der es um intentionale kommunikative Einflussnahme geht, und die sich zugleich an ihren spezifischen Bildungsauftrag erinnert, erhält durch den konzeptuellen Anschluss an dieses Kulturverständ-
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nis eine neue und für weiterführende Forschung vielversprechende Akzentuierung.
R he torik als kultur anthropologische D isziplin Zwei Definitionen werden immer wieder genannt, wenn es darum geht, die Rhetorik als eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin zu definieren. Sie verweisen auf jeweils unterschiedliche Systemstellen der rhetorischen Tradition zurück: 1. Rhetorik ist die Theorie und Praxis erfolgsorientierter Kommunikation (ars persuadendi). 2. Rhetorik ist die Theorie und Praxis der an humanistischen Leitlinien orientierten kommunikativen Vermittlung (ars bene dicendi). Die erste Definition beschreibt die eher technisch-instrumentelle Seite der Rhetorik, indem sie sie als eine »Überzeugungskunst« darstellt. In der antiken Tradition lässt sich diese Auffassung bis auf Aristoteles zurückverfolgen, der mit seiner Positionierung das Rhetorikverständnis der griechischen Antike maßgeblich geprägt hat.1 Unter dieser Perspektive wird ein eher präskriptiver Charakter der Rhetorik betont, indem Leitlinien und Ratschläge für die Gestaltung überzeugender Rede formuliert werden. Mit der zweiten Definition wird dagegen eine eher ethische Seite der Rhetorik in den Blick genommen, indem darauf fokussiert wird, welche Eigenschaften ein »guter« Redner erfüllen sollte. Hier wird ein stärker normativer Anspruch der Rhetorik formuliert, Maßstäbe für »gute« Rede vorzugeben. Diese können von moralischen über persönlichkeitsbezogene bis hin zu technischen Aspekten reichen, die möglichst miteinander in Einklang gebracht werden sollten; weshalb der Rhetorik unter dieser Perspektive häufig im Anschluss an Gadamer eine »Ubiquität« zugeschrieben wurde (z.B. Ueding 2009: 116). Diese zweite Rhetorikdefinition verweist auf den Platonschüler und Stoiker 1 | Vor Aristoteles setzt sich neben einigen Sophisten und wenigen Vorsokratikern prominent bereits Platon mit der Theorie und Praxis der Rhetorik auseinander. Es liegt uns heute allerdings aus der vor-aristotelischen Antike keine gegenüber den Ausführungen des Aristoteles (vgl. Aristot.: rhet. I,2,1) vergleichbar systematische Ausarbeitung des Rhetorikkonzepts vor. Platons Perspektive ist am ehesten zu nennen, sie ist allerdings speziell von einer Abgrenzung seiner eigenen philosophischen Lehre von der sophistischen und isokrateischen Tradition geprägt. Er beschreibt die Rhetorik als »Gegenstück« zur Dialektik abstrakt und weist ihr den Status einer Kunstfertigkeit (techné) zu, die das Ziel der psychischen »Wechselerzeugung« (psychagogía) verfolge.
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Kleanthes zurück (vgl. Martin 1974: 4) und hat besonders durch die römische Rhetoriktradition Impulse erhalten.
R he torik als ars persuadendi Das Rhetorikverständnis des Aristoteles stellt noch heute einen Ansatzpunkt für die wichtigsten modernen Theoriearbeiten im Rhetorikkontext dar (vgl. Knape/Schirren 2005 mit weiterer Lit.). Aristoteles definiert die Rhetorik wie folgt: »Die Rhetorik sei also als Fähigkeit (dýnamis) definiert, das Überzeugende oder Glaubenerweckende (pithanón), das jeder Sache innewohnt, zu sehen oder zu erkennen. Keine andere Disziplin (téchnē) hat diese Aufgabe.« (Aristot.: rhet. I,2,1; Übers. n. Knape 2006: 192)
Systematisches Zentrum bildet in dieser Definition das Konzept des ›Überzeugenden‹ (pithanón), was in der lateinischen Rezeption (bes. durch Cicero und Quintilian) mit dem Wort persuasio übersetzt wurde und damit zur Bezeichnung der Rhetorik als einer ars persuadendi führte.2 Die Rhetorik als moderne wissenschaftliche Disziplin sieht sich weitgehend in dieser Tradition und sie lässt sich sogar programmatisch als post-aristotelische Wissenschaft kennzeichnen (vgl. Schmohl 2016: 543). Institutionell ist in Deutschland insbesondere das Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen zu nennen, das zurzeit mit drei Rhetorik-Lehrstühlen ausgestattet ist. Im Rahmen der »Tübinger Schule« werden Prozesse strategischer Kommunikation hinsichtlich ihrer Voraussetzungen, Durchführungen und Wirkungen unter der Perspektive einer erfolgsorientierten (insbes. persuasiv ausgerichteten) Funktionalisierung beobachtet, analysiert und bewertet. Das rhetorische Erkenntnisinteresse ist dabei systematisch auf die Produktionsseite individueller kommunikativer Interaktion (sog. Face-to-Face-Kommunikation) ausgerichtet, die in erster Linie monologisch strukturiert ist (z.B. Reden). Ihr Fokus wird aber zunehmend auch auf komplexere kommunikative Settings (z.B. Gespräche) ausgeweitet.
2 | So gibt etwa Quintilian die Definition wie folgt wieder: »Aristoteles dicit: rhetorice est vis inveniendi omnia in oratione persuasibilia.« (Quint. inst. II 15,13) Für Cicero besteht die Hauptaufgabe des Redners darin, »dicere ad persuadendum accomodate« (Cic. de orat. I 31,138).
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R he torik als ars bene dicendi Die zweite Rhetorikdefinition, die die Rhetorik als ars bene dicendi kennzeichnet, legt den Schwerpunkt nicht speziell auf das »Überzeugen«, sondern allgemein auf das »Reden« (lat. dicere), das nach bestimmten qualitativen Maßstäben zu erfolgen habe, und zwar in dreifacher Hinsicht: 1. sprachliche Aspekte, 2. sachliche Aspekte, 3. persönliche Aspekte. Dieses Verständnis von Rhetorik ist gegenüber der ersten Rhetorikdefinition im Kontext neuerer systematischer Darstellungen zu Unrecht in den Hintergrund geraten. Grund dafür ist ein folgenschweres Missverständnis, das in der Mehrdeutigkeit des Wortes bene (»gut«) wurzelt: Während in der ursprünglichen, antiken Programmatik, wie sie bspw. durch die Stoiker noch vertreten wurde,3 ein spezifisches Bildungsideal im Vordergrund stand, wurde besonders in der neuzeitlichen Rezeption der griechischen und lateinischen Texte der Fokus stärker auf Techniken und Regeln gelegt, mit denen sich eine »schöne« (ästhetische) Gestaltung von Texturen erreichen ließ. Aus der Kunst einer pragmatischen und an persönlichkeitsbildenden Maßstäben ausgerichteten Rhetorik der zielgerichteten ethisch-transformativen »Formung« des Menschen (Oesterreich 2003: 21) wurde damit die Kunst, Texte anhand von Kunstfertigkeit und mithilfe figurativer Kniffe ästhetisch zu überformen. Roland Barthes spricht bereits in den 1980er Jahren unter dem Eindruck zeitgenössischer Bemühungen zur Rubrizierung des rhetorischen Stilmittelinventars (bspw. Lausberg 1960) kritisch, aber durchaus treffend, vom »Widersinn, der die Rhetorik auf die ›Figuren‹ beschränkt« (Barthes 1988: 95) – er steht mit dieser Diagnose aber weitgehend allein da. Bald konnte diese Definition lediglich noch zu Abgrenzungszwecken herangezogen werden.
I ntegr ation von R he torik und B ildung Nicht nur unter kulturhistorischen Gesichtspunkten, sondern auch aus einer systematischen Perspektive heraus kann es sinnvoll sein, dem Anspruch der Rhetorik, eine bildende Disziplin zu sein, erneut stärkeres Gewicht zu geben 3 | Für das Bildungsideal der Stoa war besonders der Sophist Isokrates prägend, der mit seiner Schulgründung in Athen um das Jahr 390 v. Chr. herum auch eine ganz spezifische Programmatik verband, auf die die stoische Bildungskonzeption später in weiten Teile rekurrierte.
Rhetorik – Bildung – Kultur
(vgl. Schanze/Till/Ulrich 2013: 41; Oesterreich 2003: 21f.). Gemeint ist damit der Anspruch, aufgrund rhetorischen Handelns nicht nur Einstellungs- und Meinungsänderungen zu evozieren, sondern auch ein Lernen anzuregen und zur persönlich-transformativen Entwicklung anzuregen. Rhetorik ist in dieser Perspektive ein »Mittel« zur Bildung. Dieser Anspruch kommt im ursprünglichen Sinn einer Rhetorik als ars bene dicendi noch zum Ausdruck, er ist aber im Zuge ihrer Definition als eine ars persuadendi in den Hintergrund geraten – zugunsten einer Fokussierung auf die strategisch-kommunikationspragmatische Dimension und die persuasionskonstitutiven Faktoren. Was meint nun rhetorische Bildung?4 – Für eine systematische Erneuerung des rhetorischen Bildungsanspruchs bieten zunächst die modernen Bildungswissenschaften sinnvolle Bezugsdisziplinen. Anknüpfungspunkte finden sich speziell in der Didaktik, die mit Blick auf die Geschichte beider Disziplinen durchaus als Pendant der Rhetorik beschrieben werden kann: »Wie Rhetorik, vereinfacht gesagt, die in einer Sache liegenden Überzeugungsmittel auffindet und nutzt, so findet und nutzt Didaktik die in einer Sache liegenden Lernanreize. In beiden Fällen handelt es sich um die Absicht einer Vermittlung, der Vermittlung einer Meinung oder Überzeugung als Absicht der Rede und der Vermittlung des Lernfortschritts als Absicht der Didaktik.« (Ockel 1998: 15)
Die Didaktik versteht sich heute als eine am Handeln orientierte, pragmatische Theorie und Praxis der strategischen Wissens-Vermittlung und zielgerichteten Anregung zum Lernen im Kontext von Unterrichts- und Selbstlernsettings (s. mit Bezug speziell zur Hochschuldidaktik auch Metz-Göckel 1975: 144; Huber 1983: 122; Reinmann 2012 mit weiterer Lit.). In dieser Perspektive erscheint die Rhetorik im Sinne einer Theorie und Praxis der kommunikativen »Vermittlung« als eine notwendige Teildisziplin der Didaktik: Bildungsprozesse werden durch didaktische Strategien und rhetorische Vermittlung initiiert und begleitet (vgl. Reinmann 2012). In einem integrativen Verständnis von Rhetorik (d.h. einem Rhetorikkonzept, das beide skizzierten Definitionen miteinander verbindet) ließe sich vor diesem Hintergrund zunächst eine zweifache rhetorische Bildungsfunktion identifizieren: die strategisch-erfolgsorientierte kommunikative Vermittlung eines Lerngegenstands sowie die Persönlichkeitsformung nach humanistischen Leitlinien. Beide Funktionen sind auf Akteure innerhalb kommunikativer 4 | Ich lege für das Konzept rhetorischer Bildung einen transitiven Bildungsbegriff zugrunde. Dazu wäre nun einiges zu sagen – ich kann hier aber nur auf den begrifflichen Kontext verweisen (vgl. zur terminologischen Unterscheidung von transitiver, intransitiver und reflexiver Bildung Koch 1999: 79; programmatisch zum Bildungsbegriff: Oelkers 2014).
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Interaktion (als Adressaten einer rhetorischen Intervention) ausgerichtet, beide haben individuelle Veränderungsprozesse zum Ziel. Damit sind die Konzepte »Bildung« und »Rhetorik« abstrakt eingeführt und anhand ihrer jeweiligen begrifflichen Traditionen in Beziehung zueinander gesetzt. Der Kulturbegriff ist gegenüber diesen beiden Konzepten nun nicht auf einer individuellen, sondern auf einer überindividuellen Ebene angesiedelt. In welchem Sinn von kultureller Rhetorik die Rede sein kann, möchte ich im Folgenden aufzeigen.
K ultur : konventionalisiertes U mgangswissen Wie lässt sich Kultur allgemein bestimmen? Von einem einheitlichen Gebrauch des Begriffs kann keine Rede sein, stattdessen sollte eher von verschiedenen Kulturkonzepten im Plural gesprochen werden, die je nach Verwendungszusammenhang unterschiedlich interpretiert werden. Im Folgenden wird unter Rekurs auf das handlungstheoretische Kulturkonzept der neueren sozialwissenschaftlichen Grundlagendiskussion (vgl. bspw. Esser 2001: IX) Kultur definiert als ein System kollektiv geteilten Wissens, kollektiver Wertorientierungen, Überzeugungen und Deutungsmuster: »Unter Kultur versteht man – ganz allgemein – die erlernten oder sonstwie angeeigneten, über Nachahmung und Unterweisung tradierten, strukturierten und regelmäßigen, sozial verbreiteten und geteilten Gewohnheiten, Lebensweisen, Regeln, Symbolisierungen, Wert- und Wissensbestände der Akteure eines Kollektivs, einschließlich der Arten des Denkens, Empfindens und Handelns.« (Esser 2001: IX)
Neben den modernen Sozialwissenschaften lässt sich ein solches Kulturkonzept auch mit Bezug auf die anthropologische Theorietradition ableiten. So definiert etwa Edward B. Tylor bereits Ende des 19. Jahrhunderts den Kulturbegriff in ähnlicher Weise unter Rekurs auf individuelle mentale Repräsentationen, die überindividuell aktualisiert werden: »Culture or Civilization, taken in its wide ethnographic sense, is that complex whole which includes knowledge, belief, art, morals, law, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society.« (Tylor 1920: 1)
»Kultur« lässt sich im Anschluss an diese beiden Definitionen sowie unter Entlehnung eines Konzepts der theoretischen Psychologie als ein mentales Set an konventionalisiertem Umgangswissen beschreiben (d.h. ein Wissen, das so-
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zialisatorisch erworben und durch »Schematismen«5 generalisiert wurde und das als Hintergrund für die Analyse und Bewertung einer Situation dient; es verweist auf ein »urwüchsiges, unbedachtes, unbewußtes Verständnis unserer alltäglichen sozialen Lebenswelt« (Laucken 1982: 89)).6 Für diese Definition ist die Prämisse leitend, dass jedes individuelle Bewusstsein in kulturelle »Praktiken und Institutionen eingebettet ist« (Hacking 2002: 164).
H andlungsleitende F unk tion von K ultur Als konventionalisiertes Umgangswissen kommt der Kultur einer Interaktionsgemeinschaft in sozialen Entscheidungssituationen eine handlungsleitende Orientierungsfunktion zu: Entscheidungen entstehen, indem Situationen, in denen ein Handeln notwendig wird, analysiert und bewertet werden. Hierbei spielen abduktive Schlussverfahren eine zentrale Rolle (vgl. Knape 2008: 336; Schmohl 2016: S. 605-608 und 618-623 mit weiterer Lit.). Der Begriff der Abduktion bezeichnet einen hypothetischen Schluss, durch den in einer Situation mit begrenzten Informationen auf eine am ehesten plausibel erscheinende Erklärung geschlossen wird: »Abductive inferences are derived from the way things can normally be expected to go in a familiar kind of situation, or as a ›general rule‹« (Walton 2001: 146). Es handelt sich also um einen Wahrscheinlichkeitsschluss aufgrund von Hypothesen, die anhand einer beobachteten Situation in Verbindung mit dem vorhandenen Umgangswissen gebracht werden – erst diese Schlussverfahren führen zu Einstellungsund Meinungsbildung und damit zur Grundlage des Handelns.
5 | Gemeint sind ›verkürzende und generalisierende Simplifikationsmechanismen, die selektive Komplexitätsreduktionen ermöglichen‹ (Schmohl 2016: 258-261, 348f., 389-395). 6 | Der Begriff »Umgangswissen« stammt aus dem psychologischen Kontext. Er wurde von Uwe Laucken im Zusammenhang mit dem Konzept der »semantischen Denkform« eingeführt (Laucken 1982: 87-113; Laucken 2003: 116, 283-290). Laucken definiert »Umgangswissen« als »jenes Wissen […], das unseren tagtäglichen Umgang mit anderen (und uns selbst) beeinflußt« (Laucken 1982: 188). Erst aufgrund von Umgangswissen sind wir in der Lage, erwartbar und koordinierungsfähig zu handeln: »Die Verweisungsbedeutung geistiger Zustände und Vorgänge ergibt sich stets sozialsemantisch, das heißt, aus ihrer Stellung in einem interaktiven Handlungszusammenhang. Nicht nur das Handeln selbst wird sozialfunktional gesehen, sondern auch die den lnterakteuren zukommenden kognitiven, emotiven und volitiven Zustände und Vorgänge – also auch das gesamte ›Innenleben‹ eines Menschen lässt sich sozialsemantisch einvernehmen« (Laucken 2003: 164).
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Abduktive Schlüsse erfolgen stets unter Zugriff auf kulturelle Prämissen. Diese »rahmen« gleichsam eine Entscheidungssituation und geben Leitlinien, an denen das eigene Handeln rational, emotional und motivational ausgerichtet wird,7 sie wirken für die individuellen Akteure somit handlungsleitend und machen das Handeln zugleich wechselseitig erwartbar: Indem die an der Interaktion beteiligten Akteure auf dieselben kulturellen Prämissen zugreifen und dieselben Schematismen anwenden, entsteht »Erwartungssicherheit« (Schmohl 2016: 384-387) für alle Beteiligten (etwa durch gemeinsame Orientierung an Vorstellungen dessen, was als sozial akzeptiert gilt, an Rollenerwartungen, moralischen Axiomen, Gesetzesbestimmungen, Normvorstellungen, Angemessenheitsmaximen, Situationsdefinitionen, Kausalplänen etc.). Unter Zugriff auf kulturell konventionalisiertes Umgangswissen wird also einerseits individuell entschieden, wie gehandelt werden soll, andererseits wird damit auch überindividuell kommunikativ festgelegt, was in einer bestimmten Situation zu erwarten ist. Ersteres ist vorrangig aus einer rhetorisch-kulturpsychologischen Perspektive von Interesse, letzteres aus einer rhetorisch-wissenssoziologischen.
I ndividuelle und kulturelle B ildungsfunk tion der R he torik Die Rhetorik erhält vor dem Hintergrund dieser Ausführungen neben ihren individuellen Funktionen der Persuasion (i.S. einer Beeinflussung von Einstellungen/Meinungen) und Bildung (i.S. einer Persönlichkeitsformung nach humanistischen Leitlinien), die sich auf konkrete Situationen beziehen, auch eine axiomativ-überindividuelle Orientierungsfunktion. Letztere liegt auf einer situationsübergreifenden Ebene: Während sich rhetorische Persuasion in einer konkreten Situation (bspw. eine Face-to-Face-Interaktion) auf die Veränderung von Einstellungen und Meinungen richtet, führen die rhetorischen Prozesse hier zu einer situationsübergreifenden und übergeordneten Transformation gemeinsam geteilter Vorstellungen von Werten, Symbolisierungen, Wissensbeständen etc. Die individuelle rhetorische Bildungsfunktion im skizzierten Sinn (Persönlichkeitsformung nach humanistischen Leitlinien) sollte ebenfalls ergänzt werden um eine zusätzliche kulturelle Bildungsfunktion. Diese zweite Funktion besteht darin, überindividuell gültige, generalisierte Deutungsschemata zu konstruieren 7 | Damit ist kein Determinismus gemeint (wie er etwa durch Ansätze wie die »kulturelle Grammatik« unterstellt wird). Vielmehr werden die kulturellen Prämissen als ein Symbolsystem (ein »Code«) aufgefasst, das trotz referenzieller Übereinstimmung je eigenselektiv interpretiert werden kann (vgl. in diesem Zus. auch den Begriff der »Unsicherheitsabsorbtion« aus dem systemtheoretischen Kontext, etwa bei Luhmann (vgl. Luhmann 1993: 291)).
Rhetorik – Bildung – Kultur
oder gestaltend zu verändern (vgl. Schütz 1974: 112-113; Berger/Luckmann 1966): Denn kulturelle Präsuppositionen, die innerhalb sozialer Interaktion impliziert werden, orientieren das Handeln der Akteure innerhalb dieser Interaktion – sie wirken als axiomativer »Orientierungsrahmen« für das soziale Handeln.8 RHETORIK axiomativ-überindividuelle Ebene
situativ-individuelle Ebene
rhetorische Persuasion
sozio-kulturelle Entwicklung durch Rede
kommunikationspragmatische Dimension bildungstheoretische Dimension
rhetorische Bildung
kulturelle Bildung durch Rede
Abbildung 1: Funktionale Einteilung der Rhetorik auf individueller und überindividueller Ebene Während die rhetorische Funktion auf der individuellen Ebene unter Rückgriff auf die einschlägigen Modelle der sozialwissenschaftlichen Handlungs- und Akteurtheorie recht gut beschrieben ist (etwa: symbolischer Interaktionismus, methodologischer Individualismus, pragmatische Handlungstheorie etc. (vgl. Schmohl 2016; Knape 2000)), ist im Kontext kultureller Bildungsprozesse der Rekurs auf diese theoretischen und methodologischen Modelle nicht mehr 8 | Dieser »Orientierungsrahmen« kann (wenn er im Rahmen rhetorischer Kalkülbildung analysiert wird und die Präsuppositionen explizit gemacht werden) nun für ein spezifisches rhetorisches Ziel zugrunde gelegt werden. Damit kommt den kulturellen Prämissen aus rhetorischer Sicht auch ein erhebliches strategisches Einflusspotenzial zu: Ein erfolgsorientierter kommunikativer Akteur in strategischer Absicht (zielgerichtete Kommunikation zum Anregen von Lernprozessen oder persuasiver Einstellungs/Meinungsänderung) sollte neben den fallbedingten Erfolgsfaktoren, die im Bereich der Kasualrhetorik beschrieben werden (gemeint sind etwa: Settingbedingungen, textuelle und mediale Umstände, akteurbezogene Risiken etc.), auch eine Beschreibung und strategische Bewertung im Hinblick auf kulturelle Präsuppositionen durchführen. Das rhetorische Kalkül ist folglich um eine systematische Analyse kultureller Einflussfaktoren zu erweitern.
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Tobias Schmohl
ohne Weiteres möglich (vgl. Schmohl 2016: 19-36). Denn die zielgerichtete Veränderung sozialer und kultureller Werte, Wissensbestände, Haltungen etc. lässt sich nicht anhand derselben Referenzüberlegungen bearbeiten wie die kommunikative Beeinflussung individueller Werthaltungen, Meinungen, Einstellungen, Überzeugungen etc. – hier ist eine andere theoretische Ebene angesprochen.9 Als Bezugskonzepte dafür könnten nun unterschiedliche sozialtheoretische Ansätze herangezogen werden, auf die ich hier nur stichpunktartig verweisen kann: • Alfred Schütz etwa gebraucht das Modell eines »stock of knowledge at hand«, auf dessen Grundlage Deutungsschemata gebildet und gemeinsam aktualisiert werden (vgl. Schütz 1974). • Deidre Sperber und John Wilson führen das Konzept eines »mutually manifest cognitive environment« ein, mit dem sie erläutern, auf welche Weise Informationen als kognitive Einheiten im Rahmen von Interaktionsprozessen wechselseitig einheitlich manifestieren (vgl. Sperber 1982). • Robert Brandom geht von einem deontic status als Grundlage sozialer Interaktion aus, d.h. von einem Status, der vorliegt, wenn Akteure sich durch ihr kommunikatives Tun auf bestimmte Normen festlegen und damit füreinander eine verlässliche (rationale) Interaktionsgrundlage schaffen (vgl. Brandom 2000). • Niklas Luhmann gebraucht den Kulturbegriff im Sinne eines Sets an »Schematismen«, das als Orientierungsmuster »Sinn« in generalisierter Form vorhält und im Rahmen sozialer Interaktion Kontingenz in Erwartungssicherheit überführt (vgl. Luhmann 1997: 587); Luhmann schließt damit programmatisch an den Kulturbegriff von Berger und Luckmann an (vgl. Berger/Luckmann 1966).10 9 | Zur Erklärung kultureller Bildungsprozesse wird etwa ein Handlungs- und Kommunikationsmodell benötigt, das Interaktions- und Partizipationsprozesse im Zugriff auf geteiltes Wissen stärker berücksichtigt als es die meisten »klassischen« Modelle tun, die in den Akteurwissenschaften typischerweise zugrunde gelegt werden (vgl. Schmohl 2016: 471-475). 10 | Luhmann ist in dieser Reihe als ein Spezialfall zu sehen, denn er lehnt den Kulturbegriff aufgrund seiner ›semantischen Vorbelastung‹ eigentlich ab, da er eine »Nähe« zwischen psychischen und sozialen Systeme erzeuge, die Luhmann theoriestrategisch so nicht für sinnvoll hält. Aufgrund dieser ›Vorbelastung‹ hält Luhmann den Kulturbegriff für grundsätzlich »entbehrlich« (Luhmann 1997: 109 [Anm. 143] und 587) und gebraucht stattdessen im Rahmen seiner Theorie eher Konzepte wie »Rahmen«, »Typen«, »Skripte«, die ich als gleichbedeutend ansehe, da sie ebenfalls komplementäre Sinnaktualisierungen implizieren (vgl. Schmohl 2016: 392f.).
Rhetorik – Bildung – Kultur
• Neuere kommunikationspragmatisch und sprachkulturell ausgerichtete Autoren gebrauchen den Begriff des »Tunings«, mit dem sich Interaktanten im kommunikativen Geschehen wechselseitig aufeinander »abstimmen« (vgl. Šrubař 2009; Knape 2013; Schmohl 2016). Gemeinsam ist diesen Ansätzen – so unterschiedlich sie in ihrer jeweiligen Argumentation und ihrem Problemzugang sind – die Annahme eines »common ground […] [of] mutual knowledge, mutual beliefs, and mutual suppositions« (Clark 1992: 3), das heißt, die Annahme einer komplementären Aktualisierung kultureller Vorstellungen (Gewohnheiten, Lebensweisen, Regeln, Symbolisierungen, Wertbeständen und Wissensbeständen),11 durch die sich im Rahmen kommunikativer Interaktionsprozesse Sinnzuschreibungen wechselseitig semiotisch objektivieren lassen.12 Diese komplementären Vorstellungen, die im Rahmen kommunikativer Interaktion einvernehmlich hergestellt und wechselseitig unterstellt werden, lassen sich als die Kultur einer Interaktionsgemeinschaft definieren: Sie liegen als konventionalisiertes Umgangswissen einer spezifischen Entscheidungssituation zugrunde und dienen als Regelset zur Ableitung abduktiver Hypothesen und Schlüsse. Kultur bildet in diesem Horizont den Common Ground für soziale Verständigung. Sie ist einerseits Voraussetzung für symbolische Interaktion (zeichenvermitteltes Handeln), andererseits wird sie fortlaufend durch rhe torische Praxis konstruiert und rekonfiguriert (vgl. Berger/Luckmann 1966: 19-31; Knoblauch 2009; Knape 2000).
R he torik als I mpulsgeber und A uslöser für kulturelle E nt wicklung In dieser Kulturdefinition kommt der Rhetorik ein zentrales kulturstiftendes Moment zu: Als Sozialtechnik dient sie dazu, Bildungsprozesse kulturell zu orientieren, und zwar 1. in persuasiver Hinsicht (situative individuelle Einstellungs-/Meinungsbildung) 2. in transformatorischer Hinsicht (axiomative überindividuelle Gestaltung von Wertmaßstäben, Symbolisierungen, Wissensbeständen etc.) 11 | Der Aufzählung in der Klammer liegt die Kulturdefinition Hartmut Essers zugrunde (vgl. Esser 2001: IX). 12 | Semiotik wird dabei definiert als eine wissenschaftliche Disziplin, die »alle kulturellen Vorgänge […] als Kommunikationsprozesse untersucht« (Eco 1972: 32).
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Tobias Schmohl
Diese Begriffsbestimmung der Rhetorik ist mit der modernen Rhetoriktheorie, die sich heute als eine pragmatische Kommunikationstheorie versteht (vgl. bspw. Knape 2000: 86), durchweg kompatibel. Sie verortet die Rhetorik als einen zentralen »Impulsgeber« und »Auslösefaktor« für kulturellen Wandel, der die Entwicklung überindividuell gültiger kommunikativer Codes maßgeblich vorantreibt (Knape 1998: 61; Knape 2000: 84; Oesterreich 2003: 35; Schmohl 2016: 740). RHETORIK situativ-individuelle Ebene
axiomativ-überindividuelle Ebene
rhetorische Bildung (ars bene dicendi)
humanistische Persönlichkeitsformung
sozio-kulturelle Entwicklung durch Rede
»
kommunikative Beeinflussung von Einstellungen/ Meinungen
»w i e h a n d e l n ?
»
rhetorische Persuasion (ars persuadendi)
kulturelle Bildung durch Rede
Transformation des wechselseitig semiotisch objektivierten common ground
»w a s e r w a r t e n ?
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Prägung des konventionalisierten Umgangswissens aufgrund generalisierter Deutungs-Schematismen
bspw. Rollenerwartungen, Wertmaßstäbe, Symbolisierungen, Wissensbestände, …
Abbildung 2: Orientierungsfunktionen der Rhetorik auf situativindividueller und axiomativ-überindividueller Ebene
L iter atur Grundlagentexte der Antike Aristoteles: Rhetorik (2009). Hg. und übers. von Christof Rapp, Berlin, (= Aristoteles – Werke in deutscher Übersetzung, Band 4). Cicero, Marcus Tullius (2006): De oratore/Über den Redner. Lateinisch/ deutsch. Hg. und übers. von Harald Merklin, Stuttgart. Quintilianus, Marcus Fabius (2006): Institutionis oratoriae libri XII/Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hg. und übers. von Helmut Rahn, Darmstadt, (= Texte zur Forschung, Band 3).
Rhetorik – Bildung – Kultur
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Tobias Schmohl
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Bildende Kultur – Architektur
Baukultur und ihre Vermittlung Hildegard Schröteler-von Brandt
In der Disziplin Architektur kann der Begriff der »bildenden Kultur« am ehesten mit dem Begriff der Baukultur in Verbindung gebracht werden. Es stellen sich die Fragen: Inwiefern wirkt Baukultur bildend? Wie kann die »Bildung« eines baukulturellen Verständnisses initiiert werden? Welche Formen der Vermittlung sind in diesem Bereich hilfreich, welche hinderlich? An der Vermittlungsstelle zwischen der Sicht der »Fachleute« und der »Normalbürger« auf Baukultur bzw. zwischen den Produzenten und Konsumenten von Bauten, vollzieht sich in den letzten Jahren zunehmend ein lernender Prozess. Die Erzeugnisse der gebauten Umwelt werden von Experten und der breiten Öffentlichkeit gleichermaßen kritisiert. Es stellt sich die Frage, warum so viel »Nicht-Schönes« und »Un-Ästhetisches« gebaut wird/wurde und sich die Gebäudegestaltung und die Nutzungsprogramme zuvorderst nach ökonomischen Gesichtspunkten zu richten scheinen. Auch die fehlende Nachhaltigkeit und mangelnde soziale Orientierung (z.B. das unzureichende Angebot an preiswerten Wohnungen) beim Bauprozess stehen in der Kritik. In dem Beitrag zur baukulturellen Vermittlung werden einige Aspekte der facettenreichen aktuellen Debatte aufgegriffen und an Beispielen aus der Praxis konkretisiert. Ebenso erfolgt eine kurze Darstellung der Verknüpfung von Baukultur mit der Frage der räumlichen Gestaltung und ihrer Wahrnehmung sowie mit gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Bedingungen.
B aukultur – der B egriff Der Begriff der Baukultur wird allenthalben als komplexer und vielschichtiger Begriff verwendet. Nach dem Baukulturbericht 2014 der Bundesstiftung Baukultur wird definiert: »Baukultur ist wesentlich, um eine als lebenswert empfundene Umwelt zu schaffen. Sie hat neben sozialen, ökologischen und ökonomischen Bezügen auch eine emotionale und ästhetische Dimension. Ihre Herstellung, Aneignung und Nutzung ist ein gesellschaftlicher Prozess,
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der auf einer breiten Verständigung über qualitative Werte und Ziele beruht.« (Baukulturbericht 2014: 20) Zu der besonderen Verantwortung des Staates heißt es: »Bund, Länder und Kommunen nehmen eine zentrale Rolle für die Förderung und Qualität des Planens und Bauens in Deutschland ein. Sie prägen die Baukultur durch ihre rahmensetzende und legislative Funktion, durch Förderungen und Anreize für private Bauherren und durch ihre Vorbildfunktion als öffentlicher Bauherr. Diese Vorbildfunktion betrifft nicht nur die Planung von Neubauten, sondern auch den Umgang mit dem Bestand.« (Baukulturbericht 2014: 29) In einem weiten Verständnis von Kultur stützt sich die Baukultur auf die Geschichte und die Tradition eines Landes und einer Region. In diesem Sinne ist Baukultur mehr als Baukunst. Baukultur kann als die Summe aller menschlichen Leistungen verstanden werden, die gebaute Umwelt zu verändern und zu gestalten. Baukultur entsteht somit in einem immanenten, stetiger Veränderung unterworfenen Prozess der Aneignung und des Umgangs mit der gebauten Umwelt. Vielfältige Akteure wirken bei der Baukultur mit und damit steht sie in enger Beziehung auch zu Beteiligungs- und Partizipationsprozessen. »Bildende Kultur« kann in diesem Sinne als eine sich bildende (Bau-)Kultur verstanden werden, an der mehrere Akteure ihre Bildung (historische wie ästhetische) zum Ausdruck bringen. Baukultur umfasst einerseits die Geschichte und die baukulturellen Zeugnisse der Vergangenheit – beispielsweise in Form des Denkmalschutzes – und damit einer »Bewertung« der Erhaltungswürdigkeit von Bauten. Andererseits stellt sich die Frage zur gegenwärtigen Architektur und deren baukulturellem »Wert«, der sich auch zukünftig als beständig erweisen wird und somit wieder in die Kategorie des historischen baukulturellen Bewusstseins einfließen kann. Baukultur wäre somit auf einem Zeitstrahl zu sehen, der immer wieder fortgeführt wird und an dem entlang sich die kulturellen Zeugnisse einer Gesellschaft manifestieren. Das Thema Baukultur steht auch im Dienste marktorientierter Strategien der Stadt- und Raumentwicklung und einer ökonomischen Stadtverwertung. Besonders deutlich wird dies an dem Zusammenhang zwischen Baukultur und Tourismus. Vorliegende Untersuchungen (BBSR 2015) haben bestätigt, dass die regionale Baukultur die Wertschöpfung für den Tourismus erhöht und auch neue zeitgemäße Architektur positiven Einfluss und eine hohe Strahlkraft auf den Tourismus haben kann (Bilbao-Effekt).1 Baukultur wird vermehrt als Merkmal für die Identifikationsbildung der Städte und Regionen angeführt. 1 | Mit dem Begriff »Bilbao-Effekt« wird auf das Guggenheim Museum von Frank O. Gehry in Bilbao (1997) verwiesen, wo das imposante Gebäude eine Strahlkraft für den Tourismus entwickelt hat.
Baukultur und ihre Vermittlung
D iskursebenen zur B aukultur In den aktuellen Fachdebatten wird dem Thema Baukultur ein hoher Stellenwert beigemessen. Mit der Gründung der Bundesstiftung Baukultur 2009 wurde ein wichtiges Signal gesetzt und die 1985 gegründeten (privaten) Deutschen Stiftung Denkmalschutz, die sich insbesondere für den Erhalt der bedrohten Baudenkmale einsetzt, um eine Initiative mit der speziellen Aufgabe der Kommunikation über Baukultur in der gesellschaftlichen Breite erweitert. Ausdrücklich erklärtes Ziel ist es, die Bürger einzubeziehen und ihnen die Bedeutung von Baukultur für ihr alltägliches Lebensumfeld näher zu bringen. In den Veröffentlichungen der Bundesstiftung Baukultur (z.B. Baukulturberichte, Baukulturportal, Baukultursalon), in den von Bund (u.a. ExWoSt. Baukultur konkret), Bundesländern und Kommunen herausgegebenen Untersuchungen und Leitbildern zur Raumentwicklung sowie in den Fachgremien und den Architektenkammern werden baukulturelle Themen aufgegriffen. Veranstaltungen und Podiumsdiskussionen zu diesem Thema füllen die Vortragssäle und scheinen den Nerv der aktuellen Debatte zu treffen. Seit einigen Jahren rückt die regionale Baukultur als eine spezielle Form der Baukultur in den Vordergrund. Positive Beispiele des regionalen Bauens mit Holz nach neuen technologischen und gestalterischen Gesichtspunkten im österreichischen Vorarlberg haben die Debatte über regionales Bauen neu belebt: Diese bewegt sich zwischen der Vorgabe von ortsangepassten, eher bewahrenden Bauweisen mit sehr engen Vorgaben bis hin zu mehr offenen Vorgaben mit einer Orientierung an der Kontextbezogenheit in einer Region, die vor dem Hintergrund der Angemessenheit der Bebauung auch neue und kontrastierende Bauweisen zulässt. Die Diskurse zur Baukultur werden allerdings mehr oder weniger in internen Fachzirkeln und von einer interessierten, kulturell aufgeschlossenen Öffentlichkeit und weniger in der breiten Öffentlichkeit geführt. Neben der aufkeimenden Diskussion über Baukultur entstanden auf der Ebene der Vermittlung der Baukultur unterschiedliche Handlungsfelder und Strategien einer (er-)lernenden Baukultur mit einer Vielzahl an Projekten und unterschiedlichen Zielgruppen. Diese Aktivitäten liegen im Spannungsfeld zwischen einer als Bildungsauftrag angesehenen ästhetischen Bildung bzw. »Geschmackserziehung« durch die erklärten Experten und der Vorstellung von Baukultur als Vermittlungsprozess, der nicht auf Vorschriften oder baukulturellen Manifesten auf baut, sondern den kulturellen Austausch und die gegenseitige Vermittlung in den Mittelpunkt stellt und somit das Lernen voneinander und das gegenseitige Verstehen betont.
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W ahrnehmung der gebauten U mwelt Das gebaute Objekt und die Stadtgestaltung spiegeln die Bedürfnisse und Werte der im Raum agierenden Menschen wider und wirken wiederum bildend auf die Werte. Sie haben unmittelbar Einfluss auf die Lebensgestaltung und auf das Verhältnis der Menschen zur Umwelt; man kann sich dem Raum nicht entziehen. Es gehört zu den ursprünglichen Bedürfnissen der Menschen eine Behausung zu ihrem Schutz zu bauen. Dabei brachten auch das Klima, die Baummaterialien, die jeweiligen spezifischen gesellschaftlichen Strukturen und der kulturelle Habitus unterschiedliche Ausprägungen der gebauten Umwelt hervor. Der materialisierte gestaltete Raum ist somit von grundlegender Bedeutung für das Lebens- und Lernumfeld und für kulturelle Betätigungen im Raum. Architektonische Gestaltung und die räumliche und soziale Wahrnehmung des Raumes stehen somit in einem Wechselverhältnis zueinander. Architektur ist gebauter und umbauter Raum, d.h. »durch Architektur wird die den Menschen umgebende Raumhülle in eine bestimmte, für ihn nützliche und ästhetische Form gebracht« (Schäfers 2003: 28). Gebäude und Stadtraum verfügen durch ihre materielle Ausformung über eine große Langlebigkeit – bei Gebäuden sprechen wir von einer Lebensdauer von 100 Jahren und mehr – und kontinuierlich stattfindenden Überformungsprozessen. Die Herausbildung und Gestaltung des Raumes hat somit eine die Lebensphase eines Menschen überdauernde Ausprägung. Damit gewinnt der zeitliche Aspekt an Bedeutung. Wir leben in Räumen, die unsere Gesellschaft und die heute lebenden Menschen nicht hervorgebracht haben und bilden gleichzeitig Räume für eine nachfolgende Generation aus. In der Stadt mit ihrem oft jahrhundertelangen Entwicklungsprozess bildet sich durch den Raum vermittelt so etwas wie ein kollektives Gedächtnis heraus. Die antike griechische Stadt als Vorläufer der europäischen Stadt wurde beispielsweise geprägt vom Merkmal der Trennung des öffentlichen und privaten Raumes, die sich noch heute in unseren Städten manifestiert (z.B. in Form der Marktplätze sowie der klaren Struktur der Straße als öffentlicher und für alle zugänglicher Raum). Die Kontinuität des Gebauten verstärkt die Identitätsbildung der Menschen zu ihrem räumlichen Umfeld. Der Erhalt der historischen Bau- und Stadtstruktur findet hier einen wichtigen Begründungszusammenhang. Ein wesentlicher Faktor besteht in der engen Beziehung zwischen Raum und handelnden Personen. Nach dem relationalen Raumbegriff des spatial turn (Löw 2001) ist der Raum als sozialer Raum Behälter und Inhalt zugleich. Martina Löw fasst diesen Doppelbegriff des Raumes aus dem Handeln und der stofflichen materiellen Struktur zusammen und beschreibt: Das Stoffliche, das hervorgebracht wird, ist Raum, der Vorgang des Hervorbringens wird als »spa-
Baukultur und ihre Vermittlung
ching« bezeichnet. Raum ist so gesehen zugleich Basis, Medium und Produkt (= Konstrukt) des menschlichen Handelns (vgl. Löw/Geier 2014: 129). Wahrnehmung von Raum und damit das Bild vom Raum werden durch ein kommunikatives Interaktionsmuster geprägt. Durch die sozialen Interaktionsmuster wird es möglich, den Raum und die in ihm stattfindenden sozialen und kulturellen Prozesse mitzugestalten. Auch die Frage der Herausbildung von Identität mit dem Raum steht in Zusammenhang mit dem Handeln. So ist Identität umso größer, je mehr sich im Raum eigene Lebenskonzepte umsetzen lassen wie beispielsweise Hobbys in Haus und Garten oder Vereinsund Ehrenamtstätigkeit in einem Quartier. Die Beteiligung der Menschen an den Prozessen der Raumherstellung ist im Sinne eines kulturellen Prozesses somit unumgänglich und für die Ver-Ortung der Menschen von Relevanz. Bei der Frage der Gestaltung und damit des baukulturellen Ausdrucks sind Mitwirkungsformen auf den verschiedenen Ebenen der räumlichen Umwelt – von der Wohnung über das Haus bis zum Quartier – von Bedeutung. Die Untersuchungen zur Aneignung städtischer Räume und zu einer Nutzungs- und bedürfnisgerechten Planung sowie der Herausbildung eines »sozialen Raumcharakters« zeigen die Bedeutung der Einbeziehung der handelnden Personen bei der räumlichen Gestaltung. Seit den 1980er Jahren und dem Paradigmenwechsel hin zu einer sozial orientierten Stadtplanung hat sich diese Sichtweise verstärkt (vgl. u.a. Sachs-Pfeiffer 1983; Fester/Kraft/Metzner 1983).
B aukultur im K onte x t gesellschaf tlicher , sozialer und ökonomischer P r ägungen Architektur und Städtebau stehen in einem engen Zusammenhang zum gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Kontext ihrer Entstehung. Sie sind die gebauten, materialisierten Beispiele für gesellschaftliche Ereignisse und Manifestationen für das kollektive kulturelle Gedächtnis. Als prägnantes Beispiel für den Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen Bedingungen für die Raumentwicklung und der Raumwahrnehmung bzw. Prägung von Interaktionsmustern der Menschen kann der funktionale Städtebau zwischen den 1920er und 1970er Jahren angeführt werden.2 In der fordistischen Phase führten die veränderten technologischen und gesellschaftlichen Bedingungen mit dem Durchbruch des Benzin- und Elektromotors, der Fließbandarbeit, der Standardisierung der Produktion und der zunehmend normierten Massenproduktion und -konsumtion auch zu 2 | Die besondere Prägung der Nachkriegsperiode für die gebaute Umwelt zeigt allein schon deren Quantität: 38 % der Wohngebäude entstanden zwischen 1949 und 1978 (Bundesstiftung Baukultur 2014a: 25).
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gravierenden Veränderungen der Raumentwicklung. Wesentliches Merkmal der Moderne wurde die Funktionstrennung von Wohnen, Arbeiten, und Freizeit mit den neuen Verkehrstrassen als verbindendes Element und die Durchsetzung einer industrialisierten Bauproduktion, die in Ost- und Westdeutschland ihren Höhepunkt in der Standardisierung des Massenwohnungsbaus in den Großsiedlungen der 1970er Jahre fand. Gefeiert als Chance einer Beseitigung der Wohnungsnot und der Verbesserung der Wohnungsqualität sowie getragen von einem breiten gesellschaftlichen Konsens werden die gebauten Siedlungen aus heutiger Sicht als gravierende »Irrtümer« betrachtet. Sie werden Gegenstand öffentlich geförderter Umplanungsmaßnahmen. Ihre Monostruktur und eintönige Materialität sowie die Dichte und Massierung immer gleicher Wohnungstypen werden kritisiert. Die räumlichen Vorbilder der Vergangenheit erlebten eine Transformation von der gefeierten Moderne hin zu deren radikaler Ablehnung. Dennoch prägen die gebauten Manifestationen der Moderne die räumliche Umwelt der dort lebenden Menschen bis heute. Mit den technologischen und gesellschaftlichen Erneuerungen ab den 1980er Jahren erlebte die Raumproduktion in der post-fordistischen Phase eine erneute Veränderung. Im Zuge des Transformationsprozesses von der fordistischen in die post-fordistische Raumentwicklung gewinnt die Bestandsorientierung an Bedeutung und in der Rückbesinnung auf das baukulturelle Erbe wurden beispielsweise die formalen Bedingungen für den Denkmalschutz ausgebaut und die Modernisierung von Gebäuden deren Abriss vorangestellt. Die in der Nachmoderne an Geltung gewinnende Individualisierung und Differenzierung der Lebensstile wirkte sich auch auf die Raumentwicklung aus und führte zur fortschreitenden sozialen Selektierung in der Stadt und ihren Quartieren. Gentrifizierungsprozesse verwandeln noch erhaltende und nun baulich aufgewertete innenstadtnahe Wohnviertel zu Wohnbereichen der jungen, besser verdienenden Stadtbewohner. Wohnbereiche der Großsiedlungen werden mehr und mehr zu Vierteln sozial benachteiligter Menschen und Migranten. Auch in deutschen Großstädten entstehen Viertel mit den Merkmalen einer Gated Community. Die allgemeinen gesellschaftlichen Transformationen finden eine räumliche Entsprechung. Aufgrund der Langlebigkeit der Stadtstrukturen prägt die Vergangenheit auch das gegenwärtige und vermutlich auch zukünftige Erscheinungsbild, wenngleich sich die Zielvorstellungen über die Raumentwicklung verändert haben. So treffen die neuen Dimensionen der Stadtentwicklung – wie die zunehmende Digitalisierung – zunächst auf eine bestehende Raumstruktur. Bei den Betrachtungen zur Baukultur muss so geklärt werden, welche Baustrukturen vor welchem historischen Kontext entstanden sind und welche Aufgaben und Funktionen heute bestehen.
Baukultur und ihre Vermittlung
B aukulturelle V ermit tlungsversuche in der P r a xis Hinsichtlich der Diskussionen um die Vermittlung von Baukultur lässt sich ein großes Spektrum an Akteuren feststellen. Akteure der Baukultur: • • • • •
Bund, Länder und Kommunen Wohnungsbaugesellschaften und private Bauherrn Kammern und Verbände der Bauschaffenden Nutzer, Bewohner und zivilgesellschaftliche Initativen Wissenschaft und Forschung, Institutionen, Multiplikatoren
(vgl. Bundesstiftung Baukultur 2014a: 11) Neben dem dargestellten Akteursspektrum spielen die gute Vernetzung und die Kommunikationsstrukturen untereinander eine große Rolle. Neben der Vielfalt der Beteiligten ist auch die unterschiedliche Sichtweise auf die Thematik, vor allem zwischen Experten und Laien/Betroffenen, bei der Vermittlung von Bedeutung.3 In der folgenden Abbildung werden einige wesentliche Handlungsebenen der räumlichen Planung auf der Wirkungsebene von Bund, Ländern und Kommunen dargestellt. In der Zusammenstellung wurde nach formellen, harten Verfahren hinsichtlich der Festlegungen und Bindungen für private und öffentliche Bauherren und nach eher informellen, weichen Verfahren bezogen auf Beratung und Empfehlung unterschieden.
3 | Untersuchungsergebnisse einer Befragung der Bundesstiftung Baukultur (2014a: 19) zeigen, dass die Experten bei ihrer Sicht auf Baukultur andere Schwerpunkte setzen als die Bürger. Diese geben auf die Frage, woran sie bei dem Begriff der Baukultur denken vor allem die Sanierung von Gebäuden, den Schutz von alten und historischen Gebäuden und die Anpassung der Gebäude an die Umgebung an. Architektonischer Ausdruck, Stil oder Ästhetik der Gebäude standen nicht im Vordergrund, während bei den Experten insbesondere Ästhetik und Gestaltung die Rangfolge anführten. Auf die Frage, ob sich die Bürger genügend über das Baugeschehen in ihrem Wohnumfeld informiert fühlen, sehen 23 % noch einen Bedarf und würden gerne mehr erfahren. 76 % geben an, dass sie sich informiert fühlen (Bunddesstiftung Baukultur 2014a: 101). Insbesondere die lokalen Medien und die Gespräche werden als Informationsquellen genannt. Aus diesem Ergebnis könnte man schließen, dass die Menschen bereits zu großem Teilen vor Ort erreicht werden. Inwieweit die Informationen zu einer Bewusstseinsbildung über das Baugeschehen beitragen oder zur differenzierten Beantwortung der Frage, welche Inhalte über die Informationsquellen vermittelt werden, gibt es keine entsprechenden Untersuchungen.
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Ebenen
Ini�a�ven Baukultur
Bund
Als öffentlicher Bauherr und • Förderung der Baukultur z.B. „Ini�a�ve Architektur und Baukultur“ des Bundes - im Jahr 2000 gegründet und 2012 in das Programm der „Na�onalen Stadtentwicklungspoli�k“ überführt
Länder
Als öffentlicher Bauherr und Förderung Baukultur z.B. Baukultur Bremer Zentrum für Baukultur, Netzwerk Baukultur Niedersachsen, Landesini�a�ve StadtBauKultur NRW
•
Gemeinde
Als öffentlicher Bauherr Z.B. Arnsberger Modell Baukultur
Ins�tu�onen (Ausschni�)
a. b. c. d.
Formelle („harte“) Verfahren
Informelle („weiche“) Verfahren und Prozesse
We�bewerbe
Förderung Baukultur z. B. durch • Forschung • Preise • Deutsches Architekturmuseum Frankfurt •
Preise/ Auszeichnungen
•
Landesbauordnung (z. B § 86 Örtliche Bauvorschri�en NRW) We�bewerbe
• • • • •
We�bewerbe Bebauungspläne Gestaltungssatzungen Erhaltungssatzungen Denkmalschutzsatzung
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Gestaltungsbeiräte Gestaltungsfibeln
Bundess��ung Baukultur (2006) Deutsche S��ung Denkmalschutz Architektenkammern Berufsverbände wie Bund Deutscher Architekten BDA,
Baukulturberichte, Baukulturwerkstä�en Preise, Tagungen, Ausstellungen, Ini�a�ven wie „Architektur macht Schule“ oder LandLu� Ini�a�ve Österreich
Abb. 1: Schema Zuständigkeitsebenen und Verfahren, Zusammenstellung: Schröteler-von Brandt 2016. Bei den harten Instrumenten treffen der Staat und die entsprechenden staatlichen Planungsebenen – gestützt auf gesetzliche Grundlagen (z.B. des Baugesetzbuches und der Baunutzungsverordnung) – Festlegungen zum Bauen und zu den gestalterischen Vorgaben und legt damit per Definition Gestaltungskriterien und Orientierungspunkte für die Baukultur fest. An vorderster Stelle eines staatlichen Qualitätsmonopols stehen der Denkmalschutz und die Denkmalschutzgesetze der Bundesländer; bei denkmalwerten Gebäuden steht das Gemeinwohlinteresse vor den Interessen der Privatbesitzer und die baulichen Veränderungen können stark reglementiert werden. Weitere Gestaltungsfestlegungen werden in den textlichen Festsetzungen der Bebauungspläne nach §30 BauGB festgeschrieben mit Vorgaben zu Dachformen, Dacheindeckung, Materialien, Fensterformate, Anordnung von Dachflächenfenstern etc. Auch Festlegungen von Nutzungen sind möglich, um beispielsweise durch die Begrenzung der Anzahl von Wohneinheiten pro Haus in Wohngebieten eine nachträgliche Verdichtung zu steuern und eine zu hohe Dichte zu verhindern. Dadurch hat der Staat bis auf die Ebene der kommunalen Planung die Möglichkeit per Gesetz bzw. Satzungen einen Gestaltungseinfluss zu nehmen. Den Bürgern wird im Rahmen der öffentlichen Planungen die Möglichkeit eröffnet im Verfahren Anregungen und Bedenken zu äußern. Die Wirkungsebene der mehr weichen Instrumente besteht in der Beratung, Herausgabe von Informationsschriften und Handbüchern, die Publikation guter Beispiele, die Auslobung spezieller Preise zur Baukultur sowie Besichtigungen im Rahmen vom Tag des offenen Denkmals oder bei dem von
Baukultur und ihre Vermittlung
den Architektenkammern getragenen Tag der Architektur. In der hierdurch initiierten Auseinandersetzung mit Bau- und Stadtgestaltung soll ein Verständnis für baukulturelle Belange geweckt werden. Im Sinne eines partizipativen Prozesses können solche weichen Instrumente als Einleitung eines Verständigungsprozesses verstanden werden.
B er atung , E mpfehlungen und K ommunik ation zu G estaltungsfr agen Für die Ebene der Beratung und des Wissenstransfers werden im Folgenden drei Beispiele herausgestellt: Beratung zu Gestaltungsfragen durch Gestaltungsbeiräte, Empfehlungen im Rahmen von Gestaltungshandbüchern und Kommunikationsstrukturen über Gestaltungsfragen.
Gestaltungsbeirat Als wichtige Beratungsinstitution auf der kommunalen Ebene haben sich die Gestaltungsbeiräte etabliert, deren Mitglieder aus Politik, Bauverwaltung und externen Beratern jeweils Empfehlungen zu einzelnen Bau- und Planungsprojekten einer Stadt formulieren. Durch die Gestaltungsbeiräte wird die Beratungskompetenz »institutionalisiert«, d.h. der Weiterbau oder die Umnutzung von Gebäuden und Stadtstrukturen wird durch diesen Expertenbeirat begleitet. Der Gestaltungsbeirat ist ein Forum für einen fachlichen Austausch, für Beratung und auch kritischen Diskurs. Er soll ein Bewusstsein für architektonische Qualität und deren gesamtkulturelle Bedeutung schaffen (Turkali 2013: 8). Gestaltungsbeiräte haben keine Entscheidungsgewalt. Diese liegt ausschließlich bei den städtischen Gremien des Rates und der Fachgremien der Bau- und Planungsausschüsse. Der Gestaltungsbeirat wird durch die politischen Gremien besetzt und ihre Größe, ihre fachliche und politische Zusammensetzung, die Frage der Honorierung der Fachexperten u.ä. werden sehr unterschiedlich gehandhabt. Als ein wesentliches Merkmal für die »gelungene« Arbeit der Gestaltungsbeiräte werden vom Bund Deutscher Architekten (BDA) die Offenheit und Transparenz der Empfehlungen betont. Nach der Empfehlung des BDA sollen die Gestaltungsbeiräte öffentlich tagen und die Beiratsmitgliedschaften sollen zeitlich befristet sein.4 Der Gestaltungsbeirat sollte die Öffentlichkeit durch sei4 | Der Tagung der Gestaltungsbeiräte unter Ausschluss der Öffentlichkeit ist aus der lang jährigen Erfahrung der Verfasserin als Mitglied im Gestaltungsbeirat der Stadt Kamp-Lintfort allerdings den Vorzug zu geben, da eine offene und kritische Diskussion zwischen dem Beirat und den Architekten hier besser gelingt. Die Vermittlungsebene zu den Bürgern muss über Veranstaltungen, Werkstätten etc. erfolgen.
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ne Tätigkeit erreichen, um ein »Bewusstsein für (das) soziale und kulturhistorische Ausmaß von Architektur zu schaffen« (Turkali 2013: 9) und auch das aktuelle Baugeschehen gegenüber der Bevölkerung kommunizieren: dabei sollen nicht nur die architektonische Gestaltung, sondern auch die funktionalen, wirtschaftlichen, ökologischen und sozialen Gesichtspunkte diskutiert werden. Die Arbeitsweise und die Akzeptanz der Gestaltungsbeiräte sind in der Praxis sehr unterschiedlich; vielfach beziehen sie sich auf einen internen Austausch im Gestaltungsbeirat mit einer Empfehlung an die Planungspolitik. Die vorgenannte Öffentlichkeit wird nicht im Rahmen der Planung beteiligt, sondern sie »erreicht« das Ergebnis der Empfehlung erst in Form des realisierten Gebäudes. Bezogen auf die Arbeits- und Wirkungsweise der Gestaltungsbeiräte bedarf es weiterer Untersuchungen nicht nur über deren Arbeitsweise und das Zusammenwirken mit Politik und Verwaltung sowie Öffentlichkeit, sondern auch zu der Frage, inwieweit die realisierten Projekte, die den Empfehlungen gefolgt sind, um eine qualitativ bessere Architektur zu verwirklichen, auch tatsächlich bei der Bevölkerung positiv aufgenommen wurden und hier zu einem neuen bzw. veränderten Bewusstsein über die Bewertung von Raum durch die Bürger geführt haben.
Gestaltungshandbücher Gestaltungshandbücher werden insbesondere für Stadtbereiche von besonderer historischer Bedeutung oder mit Belang zur Steigerung der wirtschaftlichen Attraktivität der Städte (z.B. für die Innenstädte) erstellt. In ihnen sind Gestaltungskriterien für den Umbau und die Renovierung sowie den Neubau von Gebäuden detailliert aufgeführt: Von der Fassadengestaltung und der Größe und Form von Dachgauben etc. bis hin zu Gestaltungsfragen beim Umbau von Schaufensteranlagen und der Anbringung von Werbeanlagen werden textliche und zeichnerische Vorgaben dargestellt. Gestaltungshandbücher als weiche Instrumente sollen das Verständnis über einzuhaltende Regelwerke bestärken und anhand von Beispielen darstellen, welche Gestaltungsvorgaben vertretbar sind und welche nicht. Oftmals werden die Gestaltungshandbücher auch zusammen mit einigen wesentlichen Bestimmungen als allgemeine (rechtsverbindliche) Satzung oder Werbesatzung verfasst. Insbesondere die restriktivere Behandlung von Werbeanlagen in den Innenstädten ist für deren Erscheinungsbild von Bedeutung; geht es doch um die Verhinderung von Auswüchsen, zum Beispiel durch die Beschränkung der Standflächen vor den Ladenlokalen, das Verbot die Fensterflächen mit mehr als 20 % Werbung zu bedecken oder die Begrenzung der Schriftgrößen für die Werbetafeln. Neben diesen Empfehlungen – teilweise gepaart mit Verboten – soll jedoch auch ein Anreiz für die Privaten gegeben werden, indem für die Fassaden-
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gestaltung und die Außenanlagen Fördermittel vergeben werden.5 Neben den Gestaltungsempfehlungen und der finanziellen Anreizpolitik gehört für die Gestaltsicherung neben dem Gestaltungshandbuch vor allem eine konkrete Beratung der Bauherren.6
Kommunikationsstrukturen zu Gestaltungsfragen Die Beteiligung an der Gestaltung der Umwelt ist ein zentrales Anliegen einer baukulturellen Vermittlung. In der Praxis werden Werkstattverfahren, Wettbewerbe, Ausstellungen oder das insbesondere an Kinder und Jugendliche gerichtete Projekt Architektur macht Schule der Architektenkammern durchgeführt. In diesem Projekt wird die Architekturvermittlung durch Architekten in die Schulen und den Unterricht hineingetragen.7 Als positives Projekt für eine konkrete Beteiligung der Bürger und Bürgerinnen kann die Vor- Ort Ideenwerkstatt des österreichischen Büros nonkonform herausgestellt werden. Im Rahmen der Ideenwerkstatt wird direkt vor 5 | Fassadenprogramm der Stadt Kamp-Lintfort – im Rahmen des Förderprogramms Stadtumbaus West: Fördervoraussetzungen • Einhaltung der Inhalte des Gestaltungshandbuches • Abstimmung mit Verwaltung und dem die Stadt beratenden Architekten • Zweckbindungsfrist: mindestens 10 Jahre • Antragsberechtigt: Eigentümer, Erbbauberechtigte, auch andere Personen Art und Höhe der Förderung • Die Förderhöhe: max. 40 % der anerkannten Kosten, höchstens 24,- €/m² • Fördersumme maximal: 20.000,- € • Bagatellgrenze: 1.000,- € Gesamtkosten 6 | Die Kommunikation über Gestaltungsfragen wird in Kamp-Linfort über die drei Ebenen Gestaltungshandbuch, Steuerungsgruppe und Individuelle Beratung gewährleistet. Das Gestaltungshandbuch bildet die Grundlage für die Bewertung der vorgelegten Gebäudeplanung. Im Gestaltungshandbuch sind die allgemeinen Gestaltungskriterien und Herangehensweise formuliert. Die Steuerungsgruppe besteht aus Fachämtern, Politik, Gestaltungsbeirat und ggf. Externer und berät die vorgelegten Planungen/Anträge und verfasst Vorschläge für die weitere Bearbeitung. Anschließend wird ein Beratungstermin vereinbart und in diesem Rahmen werden auch Lösungsvorschläge für die konkret gewünschte Überarbeitung unterbreitet. 7 | Die Projekte und Erfahrungsberichte zu Architektur macht Schule sind auf der jeweiligen Homepage der Architektenkammern der Bundesländer sehr gut dokumentiert z.B. in Baden-Württemberg: www.akbw.de/architektur/architektur-macht-schule; in NRW: www.architektur-macht-schule.de/index.php?id=9 oder auf Bundesebene des Bundesarchitektenkammer: www.bak.de.
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Ort für drei Tage ein Planungsbüro eingerichtet und gemeinsam mit der Bevölkerung und den weiteren Akteuren an der Konkretisierung der Aufgabenstellung gearbeitet und gemeinsam Ideen entwickelt. Die Planung selbst wird hier zu einem gemeinsamen Erlebnis gemacht und reicht von der Analyse und Ortsbesichtigung, der Ideensammlung bis hin zum kommunikativen Essen. Nach der Philosophie des Büros spürt man die Ideen, die man in drei Tagen nicht findet, auch in einem längeren Prozess nicht auf. In dem Zusammenspiel von Experten und Laien geht es um die gegenseitige Anerkennung und um den Austausch, um das Aufgreifen des lokalen Wissens und Recherchen vor Ort und schließlich um die fachliche Umsetzung der gemeinsam entwickelten Ideen. D.h. die planenden Fachleute bringen ihr Fachwissen ein, aber entscheiden nicht alleine, sondern koppeln die Ideen an die Bevölkerung und den Planungsverantwortlichen zurück. Begleitet wird der Planungsprozess durch eine große Öffentlichkeitsarbeit und auch durch neue Beteiligungsverfahren im Internet, um hierdurch andere Bevölkerungs- und Altersgruppen zu erreichen. Diese Planungsmethode führt zu einem Konsens über die Planung verbunden mit dem Diskurs über gute architektonische Lösungen (Abb. 2).
Abb. 2: Tribüne für ein temporäres Sommertheater in Haag/Österreich, Foto: Gerhard Obermayr.
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L iter atur BBSR – Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (Hg.) (2012): Kommunale Kompetenz Baukultur, Bonn. BBSR – Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung im Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung (BBR) (Hg.) (2015): Regionale Baukultur und Tourismus, Bonn. Bundesstiftung Baukultur (Hg.) (2014a): Baukulturbarometer. Gebaute Lebensräume der Zukunft. Fokus Stadt. 2014/15, Potsdam. Bundesstiftung Baukultur (Hg.) (2014b): Baukulturbericht. Gebaute Lebensräume der Zukunft. Fokus Stadt 2014/15, Potsdam. Bund Deutscher Architekten (Hg.) (2015): der architekt. Heft 5/2015. Berlin/ Düsseldorf Bund Heimat und Umwelt in Deutschland (BHU) (Hg.) (2010): Regionale Baukultur als Beitrag zur Erhaltung von Kulturlandschaften, Bonn. Coelen, Thomas (2001): Kommunale Jugendbildung. Raumbezogene Identitätsbildung zwischen Schule und Jugendarbeit, Frankfurt a.M. Fester, Marc; Kraft, Sabine; Metzner, Elke (Hg.) (1983): Raum für soziales Leben. Eine Arbeitshilfe für Planung und Entwurfspraxis, Karlsruhe. Löw, Martina (2001): Raumsoziologie, Frankfurt a.M. Löw, Martina/Geier, Thomas (2014): Einführung in die Soziologie der Bildung und Erziehung (3. Auflage), Opladen und Toronto. Sachs-Pfeiffer, Toni (1983): »Sozialräumliche Zonierung. Bemerkungen zu Nutzung und Raum«, in: ARCH+ 68, S. 29-34. Schäfers, Bernhard (2003): Architektursoziologie. Grundalgen – Epochen – Themen, Opladen. Turkali, Zvonko (2013): »Für eine bessere Alltagsarchitektur«, in: Gestaltungsbeiräte – Mehr Kommunikation, mehr Baukultur. Bund Deutscher Architekten BDA (Hg.), Berlin. Welsch, Wolfgang (2015): »Zur universalen Schätzung des Schönen«, in: Bund Deutscher Architekten (Hg.), der architekt. Heft 5/2015. Berlin/Düsseldorf.
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Baukulturelle Bildung Impulse für ein Bildungskonzept Stephanie C. Reiterer
A rchitek tur in der K ulturellen B ildung Architektur ist als eine Sparte in der Kulturellen Bildung verortet. Im Diskurs um Kultur und Bildung wird im Folgenden die Architektur phänomenologisch untersucht, um Impulse in der Diskussion um eine (Bau-)Kulturelle Bildung zu setzen. Kulturelle Bildung ist fest in den Bildungssystemen der Länder verankert. Kultursparten wie die Bildende Kunst, das Theater, der Tanz oder die Literatur werden zudem mit Initiativen wie Kultur macht stark und Aktionstagen in die Schulen geholt, um jungen Menschen kulturelle und ästhetische Erfahrungen zu ermöglichen. Kulturelle Bildung ist ein übergeordnetes, schulisches Erziehungsziel und soll Kinder und Jugendliche befähigen, am kulturellen Leben der Gesellschaft teilzunehmen. Dafür werden Experten und Künstler als externe Partner an die Schulen geholt oder die Schulen besuchen außerschulische Lernorte wie Museen oder Theater. Um Architektur zu erleben, müssen Schüler ihre Gebäude nicht verlassen. Schulhäuser sind prägender Faktor im Schulalltag, bestimmen sie doch wesentlich Atmosphäre, Schulklima und die pädagogische Arbeit (vgl. Rittelmeyer 2013). Der Architektur können wir uns nicht entziehen, sie ist omnipräsent. Architektur umgibt den Menschen als gebaute Kultur und konfrontiert ihn in allen Lebenssituationen mit verschiedensten räumlichen Erfahrungen und Empfindungen. Mit den Worten »Alles ist Architektur« überschrieb der Architekt Hans Hollein sein Postulat über die Architektur und drückt damit aus, wie sehr Architektur Teil des Lebens ist. Seit jeher umgibt, umhüllt und schützt sich der Mensch durch von ihm geschaffene Bauwerke. Architektur berührt uns sinnlich emotional, unsere Gestimmtheit, aber auch das Verhalten wird unbewusst und bewusst von Räumen, Raumanordnungen und Atmosphären gelenkt (vgl. Bollnow 1963/2010). Architektur beeinflusst Empfindungen, Bewegungen und Handlungen im Alltag wie kaum eine andere Sparte der Kultur. Räume lei-
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ten und verleiten den Menschen zu Aktionen und Bewegungen. Die gebaute Umwelt wie beispielsweise der städtische Raum beeinflusst zumeist ohne, dass man sich dieser räumlichen Lenkung bewusst wird oder die Architektur und ihre Zeichen (vgl. Barthes 1967) deuten kann. Diese Manipulation durch Raum kulminiert in der Gestaltung von Verkaufs- und Markenpräsentationen. (Innen-)Architekten inszenieren mit Marketingexperten dramaturgische, räumliche Verführungen (vgl. Mikunda 2005), die Blicke und Bewegungen bis hin zum Kaufverhalten steuern. »Architektur ist Konditionierung eines psychologischen Zustandes« (Hollein 1967: 1). Und Architektur ist »kultisch, sie ist Mal, Symbol, Zeichen, Expression« (ebd.) und spiegelt Zeitgeschichte, Gesellschaft und Lebensphilosophie wider. Wenn der gebaute Raum eine so entscheidende Relevanz im Alltag einnimmt, sollte die Gesellschaft gebildet sein für einen kompetenten Umgang mit dieser umfassenden Präsenz des gebauten Raumes. Ein basales Verständnis und Grundwissen sowie ein kritisches Bewusstsein für das Agieren und Reagieren in gebauter Umwelt sind folglich Ausgangspunkt und Motor einer Baukulturellen Bildung. Verwenden wir eine Metapher und übertragen diese Alltagskompetenz auf die Sprache: Wenn Architektur als Literatur verstanden wird, dann sollte eine Gesellschaft die Buchstaben des Alphabets sowie ein Grundkonzept der jeweiligen Sprache kennen und der Methode des Lesens mächtig sein, um einfache Worte oder ganze Texte zu verstehen. Dabei kann es den Literaten oder Wissenschaftlern (in unserem Fall Architekten, Architekturtheoretikern und Kulturwissenschaftlern) vorbehalten bleiben, den literarischen Diskurs über die Texte, über Semantik und Sprachwissenschaft oder im metaphorischen Sinn über Architekturgestaltung und Architekturtheorie zu führen. Aber auch die Gesellschaft muss eine sprachliche Grundbildung besitzen. Sie sollte Buchstaben (Zeichen) und Prinzipien Sprach- und Satzbildung bzw. Gestaltung und Formfindung kennen und erkennen, um lesen, deuten und sich über den gebauten Raum austauschen zu können.
E ine L ehre von der gebauten U mwelt Der Blick in die Forschung unterstützt die Forderung nach mehr Bildung im Bereich der Architektur. 1997 untersuchten Rambow und Bromme zum ersten Mal das Interesse und den Wissensstand von Oberstufenschüler/innen zur Architektur (vgl. Rambow & Bromme 1997). Die Auswertung der Befragung zeigt einen geringen Wissenstand und stark divergierende Meinungen über die Domäne der Architektur auf. Probleme in der Wahrnehmung sowie fehlende Kriterien zur Beurteilung klingen bereits in dieser Studie an. Diese Schwierigkeiten bei der Artikulation von Architektur sind geblieben, was Rambow
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mit seiner Forschung zur Experten-Laienkommunikation in der Architektur klar belegen konnte. 2014 konnte die Autorin, selbst aktive Architekturvermittlerin und Vorstandsmitglied der Landesarbeitsgemeinschaft Bayern e.V., einen ArchitekturWettbewerb an bayerischen weiterführenden Schulen entwickeln und durchführen. Die Intention des Schüler-Wettbewerbs Architektur auf dem Bierfilzl war es, junge Menschen für städtebauliche Situationen zu interessieren und sie für Baukultur zu sensibilisieren. Mit einem methodisch strukturierten Architekturprojekt samt Lehrerfortbildungen und didaktischem Begleitmaterial sollte Architektur möglichst breit in den Unterricht unterschiedlichster, weiterführender Schularten implementiert werden. Rund 4.500 Schüler reflektierten dabei in vier Arbeitsschritten und auf vier Bierdeckeln ihr persönliches, bauliches Lebensumfeld und gestalteten eigene architektonische Entwürfe für Brachen, (Bau-)Plätze oder Grünflächen. Bei den zum Wettbewerb eingereichten Arbeiten, die eine städtebauliche Situation bearbeitet haben, kann in der dabei ausgefüllten Erläuterung eine breite Schwierigkeit in der Beschreibung des gewählten Standorts und der baulichen Struktur herausgelesen werden. Dies lässt zwei Schlussfolgerungen zu: Es fehlt zum einen an einer differenzierten und bewussten Wahrnehmung, denn wer nichts sieht, kann nichts beschreiben. Die Schüler sind nicht daran gewöhnt, Gebautes wirklich zu betrachten und zu beschreiben. Sie scheinen Architektur oft nur als undifferenzierte Hülle oder Volumen wahrzunehmen. Zum anderen fehlt es den Rezipienten am entsprechenden Vokabular, um das Gesehene und ggf. Empfundene gezielt zu artikulieren. Die Schüler fanden nur wenige, alltägliche Worte, um die ästhetische Qualität von Bauwerken und Objekten auszudrücken. An der Fachsprache orientierte Beschreibungen wie »eine monumentale Kirche, Barocker Stil« (Jonas, 8 Jahre, Kempten) sind selten zu finden. Das Wahrnehmen und Beschreiben räumlicher Gegebenheiten mit einer Alltagssprache in Ergänzung mit einfachen Fachbegriffen wäre als schulische Grundbildung wünschenswert. Eine Befragung mit standardisierten Fragebögen zu Beginn des Wettbewerbs ermöglichte Daten zu Interesse, Wissen und Betroffenheit bei den Schülern und Schülerinnen zur Architektur zu erheben. Diese Begleitstudie belegt das große Interesse der Kinder und Jugendlichen an Architektur. Von 1.800 Fragebögen, die zurückgesandt wurden, wurde eine zufällige, valide Stichprobe pro Altersstufe gewählt. Ausgewertet wurden mit dieser Zufalls-Stichprobe insgesamt 484 Fragebögen. Darin gaben über ¾ der in Bayern befragten Schüler im Alter zwischen 10 und 17 Jahren im Jahr 2014 an, das Thema Architektur interessant bzw. sehr interessant zu finden. Bei der Frage nach einem Schulfach Architektur und den möglichen Inhalten gaben die Schüler zahlreiche und ideenreiche Lehrinhalte an. Betrachten wir den schulischen Kontext genauer. 70 % der 10-12-Jährigen in der Sekundarstufe 1 (5.-7.Klasse) gaben in
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der Befragung an, bisher keine Architektur-Themen im Unterricht behandelt zu haben. Ab der Sekundarstufe 2 von der 8. bis zur 12. Klasse, also bei den 13- bis 17-Jährigen, sind zumindest nur noch 58 %, die sich nicht an baukulturelle Themen im Unterricht erinnern können. Berührungspunkte der 10- bis 17-Jährigen zur Architektur finden wir neben größeren Baustellen im eigenen Umfeld, vor allem im Analogen beim Bauen eigener Baumhäuser bzw. Lager und im Digitalen durch Internetspiele wie z.B. Minecraft. Die Studie belegt das vorherrschende Interesse, aber auch die fehlende Auseinandersetzung im Unterricht. Dies scheint ein Grund zu sein, warum nur 16 % dieser Altersstufen glauben, sich überhaupt ein Urteil über Architektur bilden zu können. Die Zahlen verwundern, finden wir seit Jahrzehnten baukulturelle Themen im Fächerkanon an deutschen Schulen. Bereits 2001 formulierte Kähler in seinem ersten Statusbericht zur Baukultur in Deutschland die Forderung nach einem Fach »Lehre von der gebauten Umwelt« für das Bildungssystem. Diese Lehre von der gebauten Umwelt umfasst bei Kähler die gebaute Alltagswelt von der Bushaltestelle, dem Arbeitsplatz bis zum städtischen Raum zwischen Parkplätzen oder gestalteten Parkanlagen (vgl. Kähler 2001). 2010 veröffentlichte die Wüstenrot Stiftung ihre curricularen Bausteine, heute ein Standardwerk zur Architektur- und Baukulturvermittlung, und zeigte damit zum ersten Mal auf, wo und mit welchen Aspekten die Architektur deutschlandweit in den Lehrplänen der Schulen zu finden ist. Denn Architektur und Baukultur sind nicht nur im Fach Kunst beheimatet. Ein vertiefter Blick in die Lehrpläne zeigt, dass Architektur sowohl in den Fachlehrplänen der einzelnen Fächer wie Kunst, Geschichte, Sozialkunde, Erdkunde, Religion etc. sowie in den übergeordneten, für alle Schularten gültigen Bildungszielen wie Kulturelle Bildung, Interkulturelle Bildung oder Bildung für Nachhaltige Entwicklung vertreten ist, wie sie beispielsweise den aktuellen, kompetenzorientierten Lehrplänen in Bayern voran stehen.
A rchitek tur und B aukultur Welche Inhalte, Meinungen und Konzepte zur Architektur und dem gebauten Raum nehmen wir als Ziel und Lehrinhalt einer Baukulturellen Bildung? Um ein Konzept zur Baukulturellen Bildung zu skizzieren, ist eine Untersuchung des Begriffs der Baukultur unerlässlich. Nach einer vielseitigen Betrachtung des Baukultur-Begriffs und einer bildungstheoretischen Einordnung sollen diverse Erwartungen an eine Baukulturelle Bildung zusammengefasst werden. Seit dem Start der Initiative Architektur und Baukultur des Bundes im Jahre 2000 und seit der Gründung der Bundesstiftung Baukultur 2007 ist der Begriff der Baukultur in der öffentlichen, politischen und fachspezifischen Debatte angekommen. Der Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommende Be-
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griff der Baukultur wurde durch die nationalsozialistische Propaganda in den 1930er Jahren kontaminiert (vgl. Durth/Siegel 2009) und brauchte einige Jahrzehnte, um sich wieder unbelastet im deutschen Sprachgebrauch zu etablieren. Was bedeutet die Kohärenz zwischen dem Architektur-Begriff und dem Wort Baukultur? Der zusammengesetzte Gebrauch deutet auf unterschiedliche, sich ergänzende Aspekte hin, die beispielsweise aus der Definition des Bundesbauministerium herauslesbar sind: »Der Begriff Baukultur beschreibt die Herstellung von gebauter Umwelt und den Umgang damit« (2015: online) Baukultur kann also als Prozess verstanden werden, als Prozess der Planung, des Bauens und des Lebens in der gebauten Umwelt. Mit anderen Worten: Baukultur steht für eine Kultur des Bauens als Planungskultur, einer Kultur des Miteinanders beim Bauen in Form von partizipativen Prozessen und Bauen als Teil unserer Kultur. Baukultur ist Partizipationskultur, so lautet auch der Titel des Netzwerktreffens der Bundesstiftung Baukultur im Jahr 2011. Eine baukulturelle Bildung ist Befähigung zur Teilhabe an Entstehungs- und Gestaltungsprozessen u.a. von Städten und Quartieren. Seit Stuttgart 21 ist das Bedürfnis in der Gesellschaft nach Mitbestimmung und Mitgestaltung immer mehr gewachsen, das nötige Bewusstsein und die Fähigkeiten zur Teilhabe sollten über die Bildung entwickelt und gefördert werden. Baukultur »schließt Planen, Bauen, Umbauen und Instandhalten ein. Baukultur beschränkt sich nicht nur auf Architektur, sondern umfasst Ingenieurbauleistungen, Stadt- und Regionalplanung, Landschaftsarchitektur, Denkmalschutz sowie die Kunst am Bau und im öffentlichen Raum gleichermaßen« (Bundesbauministerium 2015: online). Die Architektur steht in dieser Aufzählung für einen Teil der gebauten Umwelt. Anders als bei Hollein, der in seinem Architekturverständnis aufzeigt, wie weit der Begriff der Architektur gedehnt werden kann, wird Architektur hier als Synonym für den Hochbau verwendet. Das Wort Architektur steht für den gebauten Raum im Allgemeinen, für das Ergebnis des Schaffens von Architekten und ist Synonym für besondere Bauwerke im kunstgeschichtlichen Kontext sowie für die Fachdomäne als Tätigkeitsfeld bzw. Berufsfeld (vgl. Fischer 2014). Die Baukultur ergänzt deskriptiv diese divergierende Architektur-Auslegung und weitet diese auf die vom Menschen geplante und gebaute Umwelt aus, von der Stadtplanung bis zur Möblierung, von der Baukunst bis zur Bausünde, von der Architektenleistung bis zum selbstgeplanten Eigenheim. Als Kultur des Bauens ist Baukultur auch »die ethisch verantwortete Gestaltung gebauter Räume« (Nida-Rümelin 2013: 13). Baukultur wird im Fachdiskurs zudem mit dem impliziten, normativen Anspruch auf ein qualitätsvolles, nachhaltiges, verantwortungsvolles und gutes Bauen verwendet mit der Hoffnung auf ein Bauen im Einklang mit Mensch, Natur und regionalen Traditionen. Weitere Hinweise auf die Bedeutungsdimensionen können aus dem Baukultur Bericht 2014 der Bundesstiftung Baukultur entnommen werden. Bei
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einer Umfrage gaben 23 % der Befragten (n=200) an, unter Baukultur vor allem die Instandsetzung und Sanierung historischer Gebäude zu assoziieren. Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Baukultur folglich oft mit Sanierung und der Instandsetzung von Gebäuden gleichgesetzt. Baukultur ist aber auch Baukunst. Die Kultur des Bauens zeigt sich in Meisterwerken der Baugeschichte. Denkmäler und historische Bauten sind in Stein gegossene, real erlebbare europäische Kulturgeschichte. Die Wertschätzung dieser Kulturleistungen und eine grundsätzliche kunstgeschichtliche und kulturhistorische Einordnung sind im Konzept einer Baukulturellen Bildung eingebettet. Nicht nur Bauten der Vergangenheit repräsentieren technische Errungenschaften. An Gebäuden lässt sich Zeitgeist und Lebensgefühl einer Gesellschaft ablesen. Architektur und Baukultur sind Spiegel unserer Gesellschaft (vgl. Durth/Siegel, 2009). Baukulturelle Bildung ist als einer der Schlüssel zum Verständnis von Diversität und kultureller Vielfalt zu deuten. In den Zeiten des Umbruchs in Europa kann die implizierte Offenheit und Wertschätzung ein wichtiger Beitrag zur Identitätsbildung und Integration in unserer heterogenen Gesellschaft leisten. Baukultur impliziert Interesse und Wertschätzung am baukulturellen Erbe einerseits, andererseits auch an aktuellen architektonischen Strömungen und Visionen. Gesellschaftliche und politische Debatten wie Migration und Vertreibung, Ressourcenknappheit und nachhaltige Energie bilden sich in architektonischen Strategien und Lösungsvorschlägen ab. Deutlich zeigt sich dies auf der Architekturbiennale 2016, kuratiert vom chilenischen Architekten Alejandro Aravena und seinem Aufruf »Reporting from the Front«. Die Ausstellungen präsentieren und diskutieren eine konkrete, gelebte und aneignungsoffene Architektur (vgl. Friedrich 2011), die zeitgemäße Antworten auf die Fragen nach heutigen, sozialen Bedürfnissen geben soll. Der Diskurs in Venedig bestätigt die Relevanz des gebauten Raumes für die Gesellschaft. Eine Diskussion, die nicht nur mit dem Fachpublikum sondern immer wieder gesamtgesellschaftlich geführt werden sollte. Baukulturelle Bildung und eine damit einhergehende Verbalisierungsfähigkeit sollten im Lebenszyklus aus diesem Grund zu einer baukulturellen Diskursreife führen als Voraussetzung für eine Experten-Laien-Kommunikation auf Augenhöhe.
B aukultur und B ildung Bildung wird in diesem Kontext als lebenslanger, selbstgesteuerter Prozess der Wissensaneignung und als Transformation von Wissen verstanden. Dieser führt, ganz im Sinne Humboldts, auch zur Entwicklung und Individualisierung der eigenen Persönlichkeit. Übertragen auf die Baukulturelle Bildung ist
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diese im besten Fall ein lebenslanger intrinsisch motivierter Prozess der Aneignung von baukulturellen Wissen. Grundlage der eigenen Motivation muss eine Begeisterung und ein persönliches Interesse an Architektur und Baukultur, an Städten, Gebäuden und Innenräumen sein. Dieses Wissen wird dabei nicht verstanden als Fachwissen der Expertenkultur der Domäne Architektur. Baukulturelle Bildung reflektiert eine gelebte und nur zum Teil von Architekten geplante Umweltgestaltung und untersucht ihre gesellschaftliche Relevanz im Sinne der kulturwissenschaftlichen Architektur-Betrachtung (vgl. Hauser et al. 2011/2013). Baukulturelle Bildung ist selbstkonstruiertes baukulturelles Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten in Form von Methoden und Strategien zur Bewusstmachung und Sensibilisierung für eine den Menschen umgebende, angeeignete Architektur und eine Auseinandersetzung mit dem gebauten Raum auf breiter Gesellschaftsebene. Parallel zum Wissensauf bau formiert sich auch eine individuelle Haltung bzw. Einstellung zu architektonischen und baukulturellen Themen. Gemeint ist dabei ein persönlicher Standpunkt zur Architektur. Von diesem ethischen Orientierungspunkt aus lässt sich Wissen verorten und entwickeln sich individuelle Bewertungskriterien. Wissen, Interesse und Erfahrung greifen ineinander und ermöglichen den Auf bau einer persönlichen Haltung in Form eines anwendbaren Wertesystems (vgl. Petzelt 1963). Dieses Wertesystem liefert auf metakognitiver Ebene Kriterien für eine individuelle Urteilsbildung. Auch die Konstruktion von Wissen hängt mit Erfahrung zusammen, diese entsteht durch episodische, selbst erlebte Ereignisse und wird von den Individuen aufgrund dieser Erlebensprozesse konstruiert (vgl. Gruber 2001). Erfahrung führt zu verfestigtem Wissen, wenn Bildungsangebote an Erlebnisse mit persönlicher Relevanz geknüpft sind. Baukulturelle Bildung braucht folglich reale, individuell relevante Erfahrungen in und mit Räumen, um sich zu verstetigen. Dies kann als Plädoyer verstanden werden, Schulen und Hochschulen zu verlassen und Architektur am Ort und vor Ort zu erleben, zu empfinden und wahrzunehmen. Doch nicht nur eine Exkursion oder ein Stadtrundgang führen zu relevanten Erfahrungen und situierten Lernerlebnissen. Praktische, ästhetische Erfahrungen mit Architektur im eigenen räumlichen Gestalten transformieren sich in Wissen und Interesse. Baukulturelle Bildung ist eine ästhetische, dreidimensionale und konstruktive Bildung. Unabhängig davon ob künstlerisch, performativ oder rein konstruktiv, eine praktische Auseinandersetzung mit der gebauten Umwelt fördert die Differenzierung der räumlichen Wahrnehmung und das Verständnis für Gestaltungs- und Konstruktionsprinzipien. Seit Menschengedenken gestaltet und formt der Mensch den Raum. Die kindliche Leidenschaft am spielerischen konstruktiven Bauen oder am unermüdlichen Bestücken eines Puppenhauses zeigt deutlich, dass das Kreieren und Bilden von Raum ein menschliches Grundbedürfnis ist. Eine Betrachtung auf einer
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rein rezeptiven Ebene wird einer umfassenden Raum-Bildung nicht gerecht. Das Gestalten, Entwerfen und Bauen von Räumen als künstlerische Aktivität transferiert Wirkungen in Rezeptions- und Reflexionsprozesse und zurück (vgl. Rittelmeyer 2010). Mit praktischen, künstlerischen Methoden wird Raum erfahrbar, eingenommen und verfremdet und oder Raum wird mit Modellen, Skizzen und Plänen gestaltet bzw. entworfen. In überschaubaren Gestaltungsaufgaben kann die Komplexität eines architektonischen Entwurfs mit seinen formalen, funktionalen und konstruktiven Kriterien nachvollzogen werden. Aber Baukulturelle Bildung ist nur eine Facette der Expertise von Architekten, sie ist weder die Anmaßung einer Befähigung zur Lösung architektonischer, realer Bauaufgaben noch eine ständische Förderung für den Architekturberuf, sondern führt zur Wertschätzung architektonischer Planungsleistung und zu Architektur-kompetenten Bauherren, Entscheidungsträgern und Bürgern. Baukulturelle Bildung ist eine Bildung über den gebauten Raum sowie das praktische Bilden von Raum.
L iter atur Barthes Roland (1967): »Semiotik und Urbanismus«, in: Susanne Hauser/ Christa Kamleithner/Roland Meyer (Hg.), Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften, Bielefeld. Bollnow, Friedrich (2010): Mensch und Raum, Stuttgart. Bundesministerium (2015): »Baukultur«, in: Bundesministerium für Umwelt und Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (Hg.) unter: www.bmub. bund.de/themen/stadt-wohnen/stadtentwicklung/baukultur/, zugegriffen: 18.08.2016 Bundesstiftung Baukultur (Hg.) (2015): Baukultur Bericht 2014/15, Berlin. Bundesstiftung Baukultur (2011): Dokumentation Netzwerktreffen Süd 29. Juni 2011 unter: www.bundesstiftung-baukultur.de/sites/default/files/me dien/1/downloads/baukultur_ist_partizipationskultur.pdf, zugegriffen: 14.07.16. Bundesstiftung Baukultur (Hg.) (2015): Handbuch der Baukultur, Gütersloh. Durth, Werner/Sigel, Paul (2009): Baukultur, Spiegel gesellschaftlichen Wandels, Berlin. Fischer, Günther (2014): Architekturtheorie für Architekten, Basel. Friedrich, Katja (2011): Geplante Unbestimmtheit, Aachen. Gruber, Hans (2001): »Die Entwicklung von Expertise«, in: Guido Franke (Hg.), Komplexität und Kompetenz, Bielefeld, S. 309-326. Hauser, Susanne/Kamleithner, Christa/Meyer, Roland: »Das Wissen der Architektur«, in: Susanne Hauser/Christa Kamleithner/Roland Meyer
Baukulturelle Bildung
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Passung durch Spiel RAUM – Reframing Learning Inklusion — Wie kann Architektur, die räumliche Lernumgebung den Umgang mit Heterogenität erleichtern? Ansätze und ein Pilotprojekt in der Phase 0 Andreas Hammon »Wir erleben gerade die umfassendste Unterrichtsreform der jüngeren Schulgeschichte: Bildungsstandards mit Kompetenzorientierung und Inklusion, wenn sie konsequent umgesetzt werden, krempeln den Unterricht fast völlig um.« (Rolff 2015: 9)
Individualisierung, Kompetenzorientierung, Inklusion, Heterogenität, Ganztagsangebote, Bildung 4.0 und ein Verständnis von Schule als Lebens-, Lernund Gestaltungsraum (D-EDK 2016) haben das Anforderungsprofil an Schule erweitert. Hans-Günter Rolff charakterisiert die Richtung der aktuellen Unterrichtsreform als eine »von (bisher dominierender) fragmentierter Unterrichtserneuerung zu (künftiger) holistischer Unterrichtsentwicklung« (2015: 10) und spricht auch von einer notwendigen »ganzheitlichen Gestaltungsformel« (2014: 204). Wird eine künftige ganzheitliche Schul- und Unterrichtsentwicklung auch die räumliche Lernumgebung ›umkrempeln‹? Denn eine »ganzheitliche Förderung [greift] zu kurz, wenn darunter nur die Person, jedoch nicht ihre Umwelt verstanden wird« (Ziegler 2009: 31). Es zeigt sich, »dass eine auf das Individuum zentrierte, aber die Umwelt, in der das Individuum handelt, vergessende Förderung wahrscheinlich nicht ihre Ziele erreichen kann« (ebd.). Wo könnte eine ganzheitliche Gestaltungsformel für eine holistische Schul- und Unterrichtsentwicklung ansetzen? Wie ist der vielfach zu beobachtende Verlust der Tragfähigkeit von traditionellen Raumkonzepten zu verstehen? Wodurch kommt es zu dem Verlust der Passung zwischen Lehr-/
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Andreas Hammon
Lern-Prozessen und Raum-Strukturen? Wie sind die Wechselwirkungen von Individuum und Umwelt, von Lernen und Raum zu gestalten? Im ersten Teil dieses Beitrages werden dazu Hintergründe beleuchtet und ein Modell zur Gestaltung der räumlichen Lernumgebung sowie zur Erhöhung der Passung zwischen Lehr-/Lern-Prozessen und Raum-Strukturen vorgestellt. Im zweiten Teil wird der Praxistransfer anhand eines Pilotprojektes unter dem Fokus Umgang mit Inklusion und Heterogenität dargestellt und im Ausblick mit Fragestellungen einer Bildung 4.0 und Tendenzen in Richtung Bildung 5.0 verknüpft. Die Perspektive der Darstellungen ist dabei durch die Praxis als Architekt, Pädagoge und Schulentwickler und sich daraus ableitenden Forschungsfragen und Arbeitshypothesen sowie ihrer Zusammenführung geprägt. Auf Grund des hier begrenzten Raumes können daher nur einzelne Elemente des Arbeitsansatzes der räumlich-strukturell gestützten Schul- und Unterrichtsentwicklung im Kontext der kooperativen SchulRAUMentwicklung (vgl. Hammon 2012, 2015, 2017) skizziert werden.
L eitbilder pr ägen die r äumliche L ernumgebung von gestern , heute und morgen »Es geht um die Selbstbilder, um die Menschenbilder und um die Weltbilder, die wir in unseren Köpfen herumtragen und die unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen. […] Es ist deshalb an der Zeit zu begreifen, was diese inneren Bilder sind, wie sie entstehen und woher sie kommen. Nur wenn wir uns der Herkunft und der Macht dieser Bilder bewusst werden, können wir auch darüber nachdenken, wie wir es anstellen, dass künftig wir die Bilder und nicht die Bilder uns bestimmen.« (Hüther 2005: 9f.)
Lernen heute findet zum Großteil in Gebäuden, in einer räumlichen Lernumgebung statt, deren Werte, Haltungen und Lernverständnis dem 19. und 20. Jahrhundert entstammen. Im Sinne von Paul Watzlawicks Axiom »Man kann nicht nicht kommunizieren.« kommuniziert die räumliche Struktur und die Einrichtung eines Schulgebäudes die dahinter stehenden Welt- und Menschenbilder. »Architektur ist sozial konstruktiv.« (Delitz 2010: 317) Architektur prägt gegenwärtige und formuliert künftige kulturelle Entwicklungen. Architektur definiert die Beziehungsräume, Interaktionsfelder für Individuum und Gemeinschaft. Leben, Lernen und Kultur bedingen und prägen Raum. Architektur, die gebaute Umwelt ist auch ein kultureller Speicher und Ausdruck der jeweiligen Leitbilder einer Epoche, einer Gesellschaft sowie ihrer Bauherren und Architekten (vgl. Richter 2009: 57). Dies stabilisiert einerseits Entwicklungen und anderseits erschwert es Veränderungen.
Passung durch Spiel RAUM – Reframing Learning
Das Leitbild von einer technischen Beherrschung der Natur zeigt sich z.B. ab Mitte des 19. Jahrhunderts in der Kanalisierung, Normierung und Disziplinierung sowohl von Flussläufen als auch von Lern(ver)läufen. Kanalisierung
Normierung
Renaturierung - Lernumgebung
A
B
C
D
Flussläufe – Lernen
Exklusion > Inklusion
© Hammon A&E 2016
Inklusion mit SPIELRaum
Abbildung 1: Von der Kanalisierung zur Renaturierung der Lernumgebung; links: Beispiel Begradigung einer Rheinschleife mit einer historischen Analogie, ab Mitte des 19. Jahrhunderts werden vielfach Flussläufe wie auch das Lernen kanalisiert. – Mitte: Ausdifferenzierung zu spezialisierten Kanal- oder Schulformen wie z.B. Haupt-, Real-, Sonderschule und Gymnasium. Heutige Herausforderung ist z.B. die Zusammenführung in eine inklusive Gesamtschule – rechts: Lern-Biotop im Bild zweier renaturierter Flussschleifen, gemeinsames Lernen mit individualisierten Phasen und vielfältigen SPIELRäumen – Learning in and out of the Box z.B. im Cluster. Wie die Grafik zeigt, lassen sich drei Phasen in der dargestellten Analogie erkennen: • • •
Kanalisierung – Reihung von normierten Klassenzimmern Normierung – Exklusion/Segregation (Sonder-, Haupt-, Realschule, Gymnasium) Renaturierung vom Flussläufen sowie der Lernumgebung > Inklusion
Diese Phasen skizzieren einen Bewusstseinswandel mit der Suche nach ganzheitlichen Gestaltungsansätzen, wie z.B. von Rolff einleitend beschrieben. Im Bild der Renaturierung liegt eine Fülle von anregenden Motiven zur Gestaltung einer inklusiven Lernumgebung. Der Flusslauf zeigt sich im Rhythmus des Jahreslaufes in einer vielfältigen Gestalt, er fließt schnell und langsam und bietet dadurch einer breiten Artenvielfalt unterschiedliche Biotope und Raumqualitäten an. Die damit verbunde-
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Andreas Hammon
ne erhöhte Selbstreinigungskraft steigert die Wasserqualität und Vitalität des Gesamtsystems. Dem Fluss angepasste Bewegungsspielräume mit temporären Überflutungszonen verhindern Überschwemmungen und unnötige Eskalation. Könnten aus dem Bild auch Gestaltungsmotive für räumliche Lernsettings abgeleitet und damit der Umgang mit der im Folgenden dargestellten Heterogenität in Klassen erleichtert werden?
H e terogenität ist ein N aturprinzip »Die pädagogische Arbeit an Schulen muss voll und ganz auf die Förderung der Kinder ausgerichtet werden. Also auf die Förderung von Individuen in der immer heterogenen Gruppe einer Klasse. Heterogenität ist ein Naturprinzip. Nie gibt es homogene Gruppen; auch Selektion verhindert Heterogenität nicht.« (Stadelmann 2015)
Die beiden folgenden Tabellen verdeutlichen die beschriebene Heterogenität nochmals exemplarisch. Tabelle 1 zeigt auf der Grundlage von PISA-Daten, dass nur 5 von 25 Schülern, also 20 % einer Klasse in der Lese-Kompetenz der »Norm« eines neunten Klassenjahrgangs entsprechen, in Mathematik und den Naturwissenschaften sinkt der Anteil auf 3 Schüler, also nur 12 % einer Klasse. Jahrgang
bis 6. Kl.
7. Kl.
8. Kl.
9. Kl.
10. Kl.
11. Kl.
ab 12. Kl.
Lesen
1
5
5
5
4
4
1
Mathematik
5
3
3
3
3
3
5
Naturwis-
6
2
3
3
3
2
6
sens.
Tabelle 1: Leitungsmäßige Einstufung 15 jähriger Schüler in Jahrgangsstufen gemäß ihrer Lese-, Mathematik- und naturwissenschaftlichen Kompetenzen in PISA 2009 nach Stöger & Ziegler (2013) ohne leitungsmäßige Differenzierung der Klassenverbände. Tabelle 2 zeigt die Variabilität eines Entwicklungsalters am Beispiel einer Gruppe von 40 Jungen und Mädchen im chronologischen Alter von 13 Jahren. In Bezug auf ihren Entwicklungsstand liegt eine Spreizung von 8 Jahren vor. Alter
9 Jahre
10 Jahre
11 Jahre
12 Jahre
13 Jahre
14 Jahre
15 Jahre
16 Jahre
J/M
1
2
4
6
4
2
1
0
0
1
2
4
6
4
2
1
Tabelle 2: Variabilität des Entwicklungsalters bei 20 Jungen und 20 Mädchen im chronologischen Alter von 13 Jahren nach Largo und Beglinger (2009: 284)
Passung durch Spiel RAUM – Reframing Learning
Der Umgang mit dieser realen, aber vielfach negierten Heterogenität stellt eine enorme Herausforderung für Lehrpersonen dar, welche durch die Inklusion noch weiter ansteigen wird. »Lehrpersonen müssen also in der Lage sein, Kinder innerhalb einer heterogenen Gruppe so zu fördern, dass sie sich auf bauend auf ihren individuellen Potenzialen möglichst optimal entwickeln können.« (Stadelmann 2015)
D as PIS 3 A M odell zur G estaltung der L ernumgebung und E rhöhung der P assung von L ernen und R aum sowie der L erneffek te »We shape our [school] buildings, and afterwards, our [school] buildings shape us.« (W. Churchill: 1943)
Schule als Lebens-, Lern- und Gestaltungsraum = ganzheitlicher Entwicklungsraum
Atmosphäre schaffen
reduzieren
Störung - Stressoren
Selbstregulation
SPIELRaum für
Interaktion = Lernen
Passung erhöhen
P > I + SR + Sr – S + A = erhöhter Lerneffekt
Leitbilder - räumlich-strukturell gestützte Schul- /Unterrichtsentwicklung Muster erkennen – DNA der räumlichen Lernumgebung Mensch < Wechselwirkung > Umwelt
PIS3A-Modell © A&E Hammon 2016
Abbildung 2: Das PIS3A Modell zur Gestaltung der Lernumgebung und Erhöhung der Passung von Lernen und Raum sowie der Lerneffekte Die Basis des PIS3A-Modells bilden drei Stufen: das Verständnis der Wechselwirkungen von Mensch und Umwelt, Muster erkennen – die DNA der Lernumgebung sowie Leitbilder und der entwickelte Arbeitsansatz der räumlichstrukturellen Schul- und Unterrichtsentwicklung. Auf dieser Basis stehen sechs Säulen, welche jeweils eine Perspektive zur Gestaltung der räumlichen Lernumgebung beschreiben: Passung erhöhen > in Bezug auf die Interaktionen beim Lernen + durch SpielRäume + für Selbstregulation – Störungen reduzieren +
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Andreas Hammon
positive Atmosphäre schaffen. Fries: Die formelartige Zusammenführung der dargestellten Perspektiven lässt erhöhte Lerneffekte erwarten. Giebel: Dem heute erweiterten Anforderungsprofil an Schule kann so mit einem erweiterten Leitbild und Verständnis von Schule als Lebens-, Lern und Gestaltungsraum als ganzheitlichem Entwicklungsraum entsprochen werden. Das PIS3A-Modell versteht sich auch als ein Beitrag zur der von Rolff eingangs geforderten ganzheitlichen Gestaltungsformel auf dem Weg zu einer holistischen Unterrichtsentwicklung. Im Folgenden werden die Elemente des Modells näher beschrieben.
W echselwirkungen M ensch und U mwelt »Von Geburt an stehen Menschen mit ihrem individuellen Potenzial in Wechselwirkung mit der lebenden und nichtlebenden Umwelt. […] Gene müssen durch die Umwelt stimuliert werden, damit sie ihre Wirkung entfalten können. Die Umwelt, als Stimulation für das eigene Tun, steuert die Genexpression. Lernen und damit Potenzialentwicklung ist auf Stimulation, auf Förderung angewiesen – ein Leben lang.« (Stadelmann 2015)
W. Churchill skizziert mit seinem oben zitierten Ausspruch eine wechselseitig aktive Mensch-Umwelt Beziehung. Sie entspricht dem transaktionalen systemischen Modell der Entwicklungspsychologie und eignet sich gut, um sich Fragestellungen der gebauten Umwelt und der räumlichen Lernumgebung zu nähern. »In transaktionalen […] Konzeptionen […] wird sowohl dem Entwicklungssubjekt als auch den Entwicklungskontexten (mit den dort agierenden Menschen) gestaltender Einfluss auf die Entwicklung zugeschrieben. […] Kernannahme dieser Modelle ist, dass der Mensch und seine Umwelt ein Gesamtsystem bilden, in dem sowohl das Entwicklungssubjekt als auch seine Umwelt aktiv und miteinander verschränkt aufeinander einwirken. […] Und alle Personen sind in ständiger Entwicklung begriffen, nicht nur Kinder und Jugendliche. Alle gewinnen neues Wissen, neue Einsichten, modifizieren ihr Selbstbild, ihr Bild von der Welt, ihre Einstellungen, ihre normativen Überzeugungen usw.« (Schneider, Lindenberger 2012: 34)
Passung durch Spiel RAUM – Reframing Learning
G rundmuster erkennen – die DNA der r äumlichen L ernumgebung »Architecture is the framework around behavioural patterns« (Oxvig 2010: 205)
Wo liegen die Grenzflächen und Schnittpunkte von Lernen und Raum? Was bleibt, wenn Lernen und Raum aus den verschiedenen pädagogisch-didaktischen und architektonischen Modellen herausgelöst werden? Die Grafik stellt den Versuch dar, die Grundelemente der räumlichen Lernumgebung und die komplexen Wechselwirkungen zwischen Prozess und Struktur, zwischen Lernen und Raum im Sinne einer Art ›DNA‹ der räumlichen Lernumgebung für eine Überprüfung und Entwicklung von Lern-Settings komprimiert darzustellen.
Die „DNA" der räumlichen Lernumgebung
Schrank, Regal
Macro: Region, Stadt, Quartier, Dorf - Raumplanung Bildungslandschaft
Pausenhof
Meso: Gebäude
Architektur, Schulbau Bau-, Gebäudetypologie
LERNEN
Plenum - Kreis deponieren
UM - AUSSENRAUM
?=
Wann Zeit
Hocker Bank Kissen Partnerarbeit STUHL
z.B. Cluster
Gruppenarbeit Knien
Stuhl, Bank, Kissen
stehen liegen sitzen
Wo
Interaktion
Ort
TAFEL
Vortrag
präsentieren
Verkehrsflächen
Innenraumgestaltung Lernumgebung
TISCH
Wie
Methode
offene Zwischen - ZONE
Tafel, Smart-Board
Micro: räumliches Setting
Einzelarbeit
Passung erhöhen
Prozesse < > Raum-Strukturen Ebenen:
Tisch, Stehpult
Rückzug, Erholung, Naturbezug
Inhalt
Schreib Arbeitsfläche
Schrank, Regal
Sinne
Qualitäten - Atmosphären
Was
RAUM geschlossen
Störung reduzieren
Eckpfeiler Unterricht Klassen- Fachraum
Sozialformen beim Lernen
Treppenhaus, FLUR © Hammon A&E 2016
Abbildung 3: Lernen = Interaktion – die DNA der räumlichen Lernumgebung Die formelartige Verkürzung von Lernen = Interaktion bildet dabei das Zentrum. Mit dieser Reduktion können die Wechselwirkungen von Lernen, den Sozialformen beim Lernen und dem Raum leichter herausgearbeitet werden. Interaktionsprozesse sind beim Lernen stets verortet und den örtlichen und räumlichen Umgebungseinflüssen in störender oder förderlicher Weise ausgesetzt. Beim Lernen verfügen wir nur über eine begrenzte Aufmerksamkeit und Konzentrationsspanne. Um diese optimal zu nutzen ist eine hohe Passung zwischen der gewählten Sozialform (Einzelarbeit, Partner- und Grup-
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Andreas Hammon
penarbeit, Input/Frontalunterricht, Plenum) und dem Lern-Prozess oder den didaktischen Eckkoordinaten von Unterricht (WAS – Inhalt, WIE – Methode, WANN – Zeit, WO – Ort, Raum) anzustreben. Daraus lässt sich ableiten, dass eine hohe Passung und die Reduktion von Störungen die Lernleistung steigern. (z.B. verlängerte Lernzeit d= 0,38 vgl. Hattie 2013: 218) Um Gelerntes nachhaltig zu verankern, braucht es eine gute Rhythmisierung (Rhythmisiertes vs. geballtes Üben d= 0,71 Hattie 2013: 220f.) von Konzentrations-, Anspannungs- und Erholungsphasen, besonders bei einer Ausdehnung von Schule auf den ganzen Tag. Dies erfordert ergänzende räumliche Settings für Rückzug, Entspannung und Erholung, möglichst mit Außenraum- und Naturbezügen. Um im Zuge einer räumlich-strukturellen Schulund Unterrichtsentwicklung im Kontext einer kooperativen SchulRAUMentwicklung die Arbeitsebenen und Instrumente für die beteiligten Akteure klarer differenzieren zu können, sind die Raumbezüge in Macro-, Meso- und MicroEbene untergliedert.
L eitbilder – r äumlich - struk turell gestüt z te S chul- und U nterrichtsent wicklung Der Arbeitsansatz der räumlich-strukturell gestützten Schul- und Unterrichtsentwicklung setzt an den Schnittstellen von Lernen und Raum an und verknüpft dabei die Perspektiven von Architektur, Pädagogik und Schulentwicklung. Der Ansatz unterstützt Schulen bei der Übersetzung ihrer Leitbilder und Zielsetzungen der Schul- und Unterrichtsentwicklung in räumlich-strukturelle Bedarfe. Die mit den schulischen Akteuren erarbeiteten Ergebnisse werden in einem institutionellen Raumportfolio für die externe Kommunikation (z.B. in der Phase 0) mit Verwaltung, Behörden und Architekten zusammengefasst. Intern stärkt es einerseits die Nutzungs- und Gestaltungskompetenz von räumlichen Lernsettings mittels entwickelter Szenarien, andererseits stützt es die Weiterbildung, die Change-Prozesse sowie die Implementierungsphase. In der Begleitung von Projekten zeigt sich, dass das Themenfeld Raum und Lernen als Element und Instrument der Schul- und Unterrichtsentwicklung sowie der Qualitätsentwicklung durch die Nutzung von Synergieeffekten und der transaktionalen Perspektive sehr effizient ist und oft systemimmanente Widerstandsfaktoren, wie z.B. subjektive Theorien und mentale Modelle reduziert. »If we want to improve teaching and teachers, we must therefore improve the conditions of teaching that shape them« (Hargreaves 2012b: 45).
Passung durch Spiel RAUM – Reframing Learning
Passung erhöhen – P rozess und S truk tur – L ernen und R aum – M ensch und U mwelt In der Entwicklungspsychologie werden Passungsprobleme auch als Entwicklungsprobleme angesehen (vgl. fit-misfit Model Remo Largo 2009: 233ff). Sie werden »als Diskrepanz bzw. fehlende Passung zwischen den Zielen des Individuums selbst, seinen Potenzialen (Dispositionen, Kompetenzen usw.) den Anforderungen im […] schulischen […] Umfeld des Individuums […] den Angeboten (Lern- und Hilfsangeboten, Ressourcen) in der Umwelt des Individuums« (Schneider/Lindenberger 2012: 35) beschrieben und »manifestieren sich als unzureichende Leistungen, als Selbstwertprobleme« (ebd.). Neben dem Individuum können auch »soziale Systeme unter dem Gesichtspunkt der Passung« (ebd.: 36) betrachtet werden. Das erweiterte Anforderungsprofil von Schule erweitert auch die prozessualen Nutzungsanforderungen auf der räumlich-strukturellen Ebene. Damit verlieren traditionelle schulische Raumkonzepte (vgl. Wüstenrot Stiftung 2011) an Tragfähigkeit; es kommt zu einem zunehmenden Verlust der Passung zwischen Lehr-/Lern-Prozessen und Raum-Strukturen. Bisher gelingt es Lehrpersonen vielfach noch, die immer grösser werdenden Diskrepanzen, durch den Verlust der Passung mit einem zunehmenden Mehraufwand auszugleichen. Es ist jedoch zu beobachten, dass dies ermüdet und Ressourcen bindet, die vielfach bei anstehenden Entwicklungen fehlen. Die Entwicklungen an den Schulen können mit einer Wanderung verglichen werden, die mit unpassendem Schuhwerk in ein anspruchsvolles Gelände führt. Das falsche Schuhwerk hält nicht direkt auf, man wird jedoch mehr gefordert und ermüdet schneller, die Verletzungsgefahr steigt, es bindet Aufmerksamkeit. Dies lässt einen manchen motivierenden Ausblick übersehen, das Leistungspotenzial verringert sich und gesteckte Ziele können nur mit Mühe, gesundheitlichen Risiken oder sogar nicht erreicht werden. Das durch Inklusion, Heterogenität, Kompetenzorientierung und Individualisierung komplexer gewordene Anforderungsprofil an Schule verändert und erweitert das Spektrum an Lehr-/Lern-Prozessen und die Ansprüche (vgl. Amrhein 2015: 145) an das ›Schuhwerk‹, an eine räumlich-strukturell passende Lernumgebung steigen. Eine Diskrepanz reduziert die Qualität von Schule und der zum Ausgleich geleistete Mehraufwand belastet das Gesamtsystem.
I nter ak tion = L ernen Lernen = Interaktion – Die dialogische Grundstruktur des Lernens im Sinne von Individuum und Welt kann als Interaktionsprozess mit Subjekten und Objekten beschrieben werden. Mit dieser Vereinfachung können die Schnitt-
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punkte und Grenzflächen, der Zusammenhang von Lernen und Raum für die Gestaltung der Lernumgebung und der räumlichen Lern-Settings erfasst und für die Praxis handhabbar macht werden. Durch unsere Physis sind wir beim Lernen stets Umwelteinflüssen ausgesetzt. Daraus leitet sich die Frage ab: Wie können die Interaktionsprozesse beim Lernen in einer förderlichen Weise räumlich-strukturell gerahmt (framing – reframing) werden?
Passung durch S piel R äume – ein Par adoxon ? (M eso -E bene) Architektur ist statisch und setzt Strukturen für lange Zeiträume. Soziale Systeme wie Schule sind dynamisch und heute im steten Wandel. Kann vor diesem Hintergrund eine hohe Passung überhaupt erreicht werden? Drei Richtungen sind im Kontext Schulbau erkennbar: • Normierung und Einschränkung – Kanalisierung des Lernens • Differenzierung und Spezialisierung (Fachräume, Sprachlabor, Informatikraum) • Universell – mit SpielRaum für eine situative Anpassung einer entwicklungsoffenen Gesamtkonzeption – im Sinne der menschlichen Hand »Die Schaffung ausreichender Handlungs- und Verhaltensangebote und die Unterstützung vielfältiger Handlungsziele unterschiedlicher [… Nutzer-]gruppen von Bauwerken ist aus psychologischer Sicht das entscheidende Merkmal guter architektonischer Lösungen.« (Richter 2009: 416)
Passung durch S piel R äume zur S elbstregul ation (M ikro -E bene) »Wenn Lernende die Manager des eigene Lernens und des Lernens anderer sind […] dann führt diese Autonomie zu größeren Leistungseffekten.« (Hattie 2013: 222)
Die Gestaltung von SpielRäumen motiviert und fördert die Identifikation mit der Umwelt. Hier bewegen wir uns in den theoretischen Feldern der Entwicklungspsychologie mit ihrem transaktionalen Mensch-Umwelt Verständnis, der Selbstbestimmung, der Selbstregulation, der Autonomie, der Selbstwirksamkeit, des Kohärenzgefühls und dem selbstgesteuerten/-organisierten Lernen. Damit geht auch ein räumliche Demokratisierung, Empowerment einher, welche eine erhöhte räumlich-strukturelle Nutzungs- und Gestaltungskompetenz von
Passung durch Spiel RAUM – Reframing Learning
Lehrpersonen wie auch Schülerinnen und Schülern zur Gestaltung der neuen Spiel Räume erfordert. »[S]ustainable improvement can […] never be done to or even for teachers. It can only be archived by and with them« (Hargreaves 2012b: 45).
Störungen und Stressoren reduzieren Um die Interaktionsprozesse beim Lernen nicht zu beinträchtigen, sind Störungen und Stressoren auf der psychischen und physischen Ebene zu reduzieren. Dies beginnt bei den Sinnen (Sicht: Blendung, Aussicht, Luft: Luftwechsel, CO2 Gehalt, Schadstoffe, Haptik: Materialien z.B. Unbehagen bei kalten oder harten Oberflächen, Akustik: Sprachverständnis, Dämpfung Lärmpegel) und setzt sich auf den sozialen und emotionalen Ebenen fort.
Positive Atmosphäre schaffen »Zu den Herstellungsbedingungen architektonischer Orte gehört eine Art szenisches Denken. Es sind die Muster möglicher Bewegungen, die den Raum zur Sprache bringen. Wir spüren, dass er in seinen Anordnungen und Formen potenzielles Tun enthält.« (Meisenheimer 2006: 55) Eine positive Atmosphäre und besondere Räume prägen das Verhalten und stimulieren in vielfacher Weise. »Man kann Atmosphären auch als gestimmte Räume definieren. … Indem die Jugendlichen sich selbst im Erzeugen von Atmosphären einüben, von der Gestaltung von Räumen bis zur Gestaltung von kommunikativen Szenen, lernen sie die Funktion vom Erzeugenden kennen, sie gewinnen selbst ein produktives Verhältnis zu den Atmosphären, in denen sie leben.« (Böhme 2006: 25, 51)
Können erhöhte Lerneffekte mit der PIS 3 A-Formel er wartet werden? Ist der Versuch, eine Formel für die Gestaltung der räumlichen Lernumgebung auch in Bezug auf erhöhte Lerneffekte zu formulieren, vermessen und zum Scheitern verurteilt? Die Darstellung möchte den Blick auf ein bisher wenig bearbeitetes Feld (vgl. OECD, LEEP 2014) lenken und zeigen, dass es durchaus möglich ist, einerseits wie bereits dargestellt, deduktiv und andererseits mit einem Brückenschlag zu quantitativen Daten auf Verbindungen zwischen erhöhten Lerneffekten und Raum hinzuweisen.
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Im Fries des PIS3A-Modelles sind die sechs Säulen mit den jeweiligen Perspektiven formelartig in eine Arbeits-Hypothese zu den Wirkungszusammenhängen von Lernen und räumlichen Settings zusammengeführt: PIS3A- Formel: Passung erhöhen > für die Interaktionen beim Lernen + durch SpielRäume + für Selbstregulation – Störungen reduzieren + positive Atmosphäre schaffen = P > I + SR + Sr – S + A = lässt erhöhte Lerneffekte erwarten Erhält die mit den Lern-Prozess verknüpfte Interaktion, eine optimierte räumlich-strukturelle Rahmung mit SpielRäumen für Selbstregulation im Sinne einer erhöhten Passung in Verbindung mit einer positiven räumlichen Atmosphäre, können daraus zu erwartende erhöhte Lehr-/Lerneffekte abgeleitet werden. Da von einer längeren Passung, störungsfreieren, positiv stimulierten Konzentrationsphasen beim Lernprozess in Verbindung mit motivierenden SpielRäumen für selbstgesteuertes/-organisiertes Lernen ausgegangen werden kann. Bei einem optimierten Lehr-Lernsetting wird zudem die Lehrperson von der Kompensation suboptimaler Rahmenbedingungen entlastet und kann ihre gesamte Konzentration/Energie dem Lernprozess widmen. Im folgenden Beispiel wird das entwickelte PIS3A-Modell in Bezug gesetzt zur Metastudie von J. Hattie »Visible Learning – Lernen sichtbar machen« (2013). Dafür wurden elf von 138 Einflussfaktoren mit überdurchschnittlich hohen Mittelwerten (d) auf das Lernen zu vier Bereichen unter Nennung der Rangfolge (R) gruppiert. Das Cluster – ein Komplex aus unterschiedlichen räumlichen Settings (siehe Abb. 5) – bietet für die verschiedenen sozialen Lernformen mehr als nur das traditionelle Klassenzimmer an. Das Cluster versucht, auf der räumlich-strukturellen Ebene wie auch auf der Ebene der Möblierung, eine erhöhte Passung für kooperatives Lernen (kooperatives vs. individuelles Lernen d = 0,59; Rang 24 von 138) in Kleingruppen (d = 0,49; R48) mit Peer Tutoring (d = 0,55; R36), zu bieten. Das Cluster stellt vielfältige Beziehungs-SPIELRäume für Individuum und Gemeinschaft bereit; so können der Klassenzusammenhalt (d = 0,52; R39) und die Lehrer/in-Schüler/in-Beziehung (d = 0,72; R11) gestärkt und proaktiv mit Peer-Einflüssen (d = 0,53; R41) umgegangen werden, welche gerade in der frühen Pubertät ein hohe Bedeutung haben (vgl. Abb. 4 zum Bindungsverhalten). Im Kontext von Inklusion erweitert das Cluster pädagogische SPIELRäume; unterschiedliche räumliche Settings erleichtern eine individuelle Begleitung und Interventionen für Lernende mit besonderem Förderbedarf (d = 0,77; R 7), egal ob minder- oder hochbegabt (Akzeleration d = 0,88; R5). Der Unterricht im Cluster bedarf einer erhöhten räumlich-strukturellen Nutzungs- und Ge-
Passung durch Spiel RAUM – Reframing Learning
staltungskompetenz der Lehrpersonen, die durch eine adäquate Lehrerfort- und Weiterbildung (d = 0,62; R19), mit einer formativen Evaluation (d = 0,9; R3) des Unterrichts und Feedback (d = 0,73; R10) weiterentwickelt wird.
I nklusion – B eispiel einer Tr ansformation – P hase 0 »Nie hätte ich gedacht, dass Raum so viel Inspiration entfalten kann, dass er eine ganze Schule mitsamt der Unterrichtsentwicklung bewegt«. Claudia Hoppe, Schulleiterin
Wie ist der politische Inklusionsauftrag in der Praxis umzusetzen? Wie können Synergien erzeugt und genutzt werden? Diese Fragestellungen sind neu und stellen Schul- und Bauämter wie auch Schulleitungen und Kollegien vor eine große Herausforderung. Standardlösungen und traditionelle Verfahren greifen nicht mehr. Die Stadt Bielefeld hat hier die Chance ergriffen, die neuen Aufgabenstellungen proaktiv anzugehen und das »Projekt Gesamtschule Rosenhöhe« zu einem Pilotprojekt erklärt, an dem zugleich exemplarisch auch für andere Schulprojekte der Stadt neue Prozess- und Verfahrensformen entwickelt und erprobt werden sollen. Mit der Verleihung von einem der fünf Preise des bundesweiten Wettbewerbs »Pilotprojekte Inklusive Schulen planen und bauen« (Montag Stiftung 2016) erfolgte für Schule und Stadt bereits eine erste Anerkennung und Ermutigung für den bisher beschrittenen Weg. Im Folgenden werden drei Aspekte des Transformationsprozesses – der Wandlung einer 50 Jahre alten Berufsschule – exemplarisch in Verbindung mit dem im ersten Teil dargestellten Ansatz der kooperativen SchulRAUMentwicklung näher beleuchtet.
Trialog der Akteure – ein gemeinsames Leitbild entwickeln Im Sinne eines Leitbildes, eines Letter of intend, zeigt der folgende Auszug eines Arbeitspapiers das Zwischenergebnis aus der Phase 0 nach acht Monaten der Zusammenarbeit von Schulleitung, Kollegium, Schüler/innen, Eltern, Amt für Schule, Bauamt, Brandschutz und politischen Gremien – ein Trialog der Akteursgruppen von Schule, Verwaltung und Planern. Diese ›Entwicklungswerkstatt‹ für Inklusion bezeichnet Rolff in seiner Darstellung einer holistischen Schulentwicklung als die »höchste Stufe der Schulentwicklung« (Rolff 2013: 32), da sie das ganze Schulsystem einbindet. Hinweise zu Verknüpfungen zum PIS3A-Modell und dargestellten Beispielen sind in Klammern ergänzt.
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Grundsätzlich geht es um die bauliche Sanierung einer ehemaligen Berufsschule aus den 60er Jahren, ihre räumlich-strukturelle Transformation und die nicht vorhandene Passung von 7400 m2 Nettogrundrissfläche zum Profil der Schule: • Gesamtschule mit einem Ganztagesprofil • Inklusion: konsequente Umsetzung des gesetzlichen Auftrags [...] • mit einem proaktiven und ganzheitlichen Verständnis von Schule als Lern-, Lebens- und Gestaltungsraum • entsprechend der Entwicklungsstufen der Kinder und Jugendlichen • [⇒ gestaffeltes Raumkonzept der Lernumgebung mit SPIELRäumen: KlassenraumPLUS, Cluster, Feld, Lernlandschaft – Aktiotop] • Differenzierung der räumlichen Lernsettings und Sozialformen beim Lehren und Lernen • [⇒ z.B. Cluster, Möblierung Elypsos, Außenraumanbindung: Innenhof Netzkonstruktion, Outdoor Labor/Atelier] • Demokratie erfahren und Kompetenzen erproben – Eröffnung von Gestaltungsfreiräumen für Individuum und Gemeinschaft, Partizipation und Co-Kreation • [⇒Workshops Konzept – breite Einbindung Kollegium/Schüler, – Test im ›Lernlabor‹, ELYPSON, Eröffnung von SPIELRäume] • Gesunde Schule: Bewegung, Ernährung, Sinne etc. • Schule als Element der Bildungslandschaft – Auf welche gesellschaftlichen Entwicklungen kann die Schule proaktiv und kompensatorisch reagieren? • besondere städtebauliche Lage – Wald, Naturschutzgebiet • [die drei letzten Punkte > vielfältige Erfahrungs-, Bewegungssetting – auch als Kompensation außerschulischer Einschränkungen]
Prototyp-Prozesse – Umsetzung Inklusionsauftrag Da derzeit wenige Erfahrungen vorliegen, wie der baulich-pädagogische Transformationsprozess zu gestalten ist, unterstützt die Stadt Bielefeld die Gesamtschule Rosenhöhe in der Entwicklungsphase und ihrer Pionierrolle. [> Phase 0] Es sollen neue Ansätze (Verfahren, Vorgehensweisen, Kommunikationsformen, Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure, schulinterne Weiterbildung etc.) entwickelt werden [> räumlich-strukturell gestützte SE/UE + Aktions-Forschung], welche auch auf andere Schulen übertragen werden können [> pädagogische Aktivierung des Brandschutzes, Lernsettings im Außenraum]. Die Stadt Bielefeld schätzt die Initiative und den Mehraufwand der Schule und unterstützt diese mit Mit-
Passung durch Spiel RAUM – Reframing Learning
teln für eine externe Begleitung und Weiterbildungsmaßnahmen (i.S. einer konsequenten Unterrichtsentwicklung: neue Unterrichtsformen, konsequente Umsetzung der Inklusion) für das Kollegium. Für den Test von neuen Ansätzen und Prototypen werden finanzielle und verwaltungstechnische Freiräume geschaffen. Es wird begrüßt, im Rahmen der Forschung und Entwicklung Hochschulen und Studierende weiter einzubinden. [> Uni Innsbruck, Bielefeld] ... Die Schule entwickelt und unterstützt ... ein pädagogisch-didaktisches sowie räumlich-strukturelles Nutzungskonzept. ... Die weiteren Planungs-, Implementierungs- und neuen Nutzungsprozesse werden ... bis zur Einzugsphase ... begleitet. [> bis Phase 10]
fehlend Bindungsbereitschaft (Fläche individuelle Variabilität) ausgeprägt
Die räumliche Lernumgebung entwickelt sich mit als auch durch die schulischen Akteure räumliche Aspekte der Lernumgebung in Bezug zur Entwicklung des Bindungsverhaltens nach R. Largo sowie der sozialen Eingebundenheit und Autonomie Selbstbestimmungstheorie nach Deci & Rayn Eltern, andere HauptBezugspersonen
I
Klasse-Plus 5./6. - Cluster 7./8. Kl.
-
Lern-Feld 9. / 10. Kl.
offene Lernlandschaft
Neubau
Partnerschaft
Bezugspersonenwie LehrerInnen
Freunde
0 bis 10 Jahre
I
Peers P
11 bis 16 Jahre - Sekundarstufe 1
I
© Hammon - A&E 2016
17 bis 19 Jahre - Sekundarstufe 2 (Grafik nach Largo, Beglinger 2009)
Abbildung 4: Verknüpfung des Bindungsverhaltens mit Zielsetzungen der Schul- und Unterrichtsentwicklung. In vier aufeinander auf bauenden Raumkonzeptionen erweitern sich die SPIELRäume zur Selbstregulation, zum selbstgesteuerten Lernen und zur Autonomie in der räumlichen Lernumgebung. Die Grafik zeigt Ergebnisse einer kooperativen SchulRAUMentwicklung. Zielsetzungen der Schul- und Unterrichtsentwicklung sowie Erfahrungen und Bedarfe des Kollegiums, der Schülerinnen und Schüler wie auch des Schulträgers sind mit allgemeinen Entwicklungsphänomen wie Bindungsverhalten und ein zunehmendes Autonomiebedürfnis (selbstgesteuerten Lernen) verknüpft. Vier aufeinander auf bauende Raumkonzeptionen erweitern auf mehreren Ebenen SPIEL Räume zur Selbstregulation der schulischen Akteure. Sie bilden die aktuell
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diskutierten Raummodelle (vgl. Montag Stiftung 2013: 23) der neuen Organisationsformen von Unterricht ab: Klassenzimmer Plus, Cluster, Lern-Feld (eine Bielefelder Zwischenform) und Offene Lernlandschaft, erstmalig jedoch in einer altersgebundenen, an der Entwicklung der Kinder und Jugendlichen orientierten Staffelung von vier aufeinander auf bauenden räumlichen Unterrichtsmodellen. Diese aus den Beobachtungen in der Praxis, an die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen angepasste und sich mitentwickelnde Lernumgebung entspricht neusten Erkenntnissen der (Hochbegabten-)Förderung. (vgl. Aktiotop, Soziotop, Ziegler 2009; Stöger, Ziegler 2013) Die Gesamtschule Rosenhöhe und die Stadt Bielefeld setzen mit diesem Prototyp ein klares Zeichen und nutzen hier Raum als Element und Instrument einer Schul- und Unterrichtsentwicklung, um den politischen Inklusionsauftrag auch räumlich umzusetzen.
Das Cluster: pädagogische Inklusion eröffnen
SPIEL
Räume für Heterogenität und
Abbildung 5: Die Raumstruktur des Gebäudes, unten Cluster mit Nutzungsszenarien einer exemplarischen Schulstunde
Passung durch Spiel RAUM – Reframing Learning
Der Schemagrundriss zeigt eine Geschossebene, die sich in drei Bereiche gliedert: oben sieht man ein Beispiel für einen pädagogisch aktivierten Brandschutz – eine Fluchtbrücke, die im Alltag die Fach-Cluster Kunst und Naturwissenschaften (links) über eine direkte Verbindung zu den Freiluft-Ateliers/ Labors erweitert; rechts befindet sich das Lern-Feld der 9./10. Klassen und unten das Clusters der Jahrgänge 7. und 8. Exemplarisch ist hier ein Unterrichtsszenario in den vier Parallelklassen in einer zeitlichen Abfolge mit unterschiedlichen Sozialformen und Lern-Settings dargestellt. Das Setting im Klassenzimmer wird dabei jeweils ergänzt durch die offene Mittelzone, einen Gruppenarbeitsraum, einen Raum für Spezialanforderungen der Inklusion (situative Anpassung je nach Bedarf) sowie einen ruhigen Raum für Einzelarbeit. Es sind auch zwei Neuentwicklungen zu erkennen: a) das Tischsystem ELYPSOS (orange) leitet sich aus den verschiedenen Sozialformen beim Lernen ab und unterstützt ein aktivierendes Lernen im Sitzen und Stehen; b) die direkte Anbindung des Außenraumes (Innenhof) über eine baumartige Seilnetz-Konstruktion im Innenhof. Sie verbindet die vier Geschossebenen der Schule miteinander und gibt Raum für Aktivität und Ruhe, alleine oder in der Gruppe, im Unterricht sowie in den Pausen.
A usblick – Tr ansformation & R efr aming L e arning Im Beitrag wurden zu drei grundlegenden Fragestellungen Perspektiven skizziert und versucht zu zeigen, dass: 1. eine künftige ganzheitliche Schul- und Unterrichtsentwicklung auch die räumliche Lernumgebung ›umkrempeln‹ wird: in der Konzeption, der Gestaltung, der Nutzung sowie in der situativen Nachsteuerung zur Erhöhung der Passungen und der Lerneffekte. 2. eine ganzheitliche Gestaltungsformel für eine holistische Schul- und Unterrichtsentwicklung auf einem transaktionalen Mensch-Umwelt-Verständnis zu gründen ist. Entwicklung und Lernen bedingen individuell und gesellschaftlich Raum – Entwicklungsräume mit SPIELRaum. 3. Architektur sowie die räumliche Lernumgebung den Umgang mit Heterogenität erleichtern kann. Vor diesem Hintergrund und den Herausforderungen, die mit Inklusion verbunden sind, stellt sich die Frage, wie die trägen und unscharfen traditionellen Separationsmodelle, welche Heterogenität als »Naturprinzip« ignorieren, zu dynamischen und situativen Konzepten, weiterentwickelt werden können, um SPIELRäume zur Selbstregulation von Individuum und System zu eröffnen?
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Daraus leiten sich zwei Grundherausforderungen für das System Schule ab: I. Transformation von Schule und mit ihren Bestands- und ergänzenden Neubauten, im laufenden Betrieb – verbunden mit Weiterbildung. »Our current challenge is to find ways to develop innovation within our schools while continuously improving them.« (Hargreaves 2012b: 27) II. Grundlagen-Forschung zur Morphologie, zur Rahmung von Interaktionsund Lernprozessen, zur räumlichen Lernumgebung und dahinter stehenden Leitbildern mit einer breiteren Verankerung in der Lehre und Ausbildung von Lehrern und Architekten. Das erweiterte Anforderungsprofil an Schule führt einerseits zu massiven (Last-)Verschiebungen und andererseits sind neue Aufgaben (Kräfte) vom System Schule zu bewältigen. Für einen Architekten beschreibt dies den Punkt, an dem sich die Frage stellt: Ist eine weitere nachbessernde Ertüchtigung des bisherigen (statischen) Systems funktional, ökonomisch und ästhetisch noch vertretbar oder sollte besser eine neue (Tragwerks-) Konzeption bei diesen veränderten Rahmenbedingungen gewählt werden? Schule die sich als Lebens-, Lern- und Gestaltungsraum – als ganzheitlicher Entwicklungsraum künftiger Generationen versteht, sich den gesellschaftlichen Herausforderungen, von Inklusion stellt und auf dem Weg zu einer Bildung 5.0 (vgl. Thema Schulleitungssymposium 2017) macht, braucht adäquate Leitbilder und eine dazu passende räumliche Rahmung (Framing). Wenn wir das, was wir heute über Lehr- und Lernprozesse, über Entwicklung wissen, bei der Konzeption von Lernsettings und räumlichen Lernumgebungen berücksichtigen, ›krempelt‹ dies einiges um und fordert uns auf, neben der Transformation des Schulbaus auch ein forschungsbasiertes RE-FRAMING von Lernund Entwicklungsprozessen einzuleiten bzw. auszubauen. »Innovation must be initiated before improvement peaks.« (Hargreaves 2013)
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Kunst- und Kulturvermittlung in Museen
Zugänge zur kulturellen Bildung im Museum – am Beispiel von ausstellungsbegleitenden Vermittlungsangeboten für Erwachsene Inga Specht
Der vorliegende Beitrag1 widmet sich den Zugängen zu kultureller Bildung, die Erwachsenen im Museum durch ausstellungsbegleitende Vermittlungsangebote eröffnet werden. Dazu wurde das erwachsenenbildungswissenschaftliche Konzept der »Portale« für Museen angewandt, konkretisiert und um fünf Dimensionen erweitert.
E inführung Volkshochschulen als die genuinen Einrichtungen der Erwachsenenbildung in Deutschland weisen ein sehr breites Angebot an kultureller Bildung auf. Neben dieser organisierten Erwachsenenbildung offerieren auch Kulturinstitutionen wie Museen, Opern und Theater neben ihrem eigentlichen Zweck kulturelle Bildung. Innerhalb der Disziplin der Erwachsenenbildung wird hinsichtlich solcher Einrichtungen daher häufiger von »beigeordneter Bildung« (vgl. Gieseke/Opelt 2005) gesprochen. Museen selbst verstehen sich als »gemeinnützige, ständige, der Öffentlichkeit zugängliche Einrichtung[en] […], die zu Studien- Bildungs- und Unterhaltungszwecken materielle Zeugnisse von Menschen und ihrer Umwelt beschaff[en], bewahr[en], erforsch[en], bekannt mach[en] und ausstell[en]« (Deutscher Museumsbund e.V./ICOM 2006: 6). Ihr Bildungs- und Unterhaltungszweck manifestiert sich in einem Bildungs- und Vermittlungsauftrag. Demnach sind Museen nicht nur Auf bewahrungsorte für Kulturgüter, sondern auch Lern1 | Der Beitrag basiert auf Specht/Semrau (2015) sowie Specht/Fleige (2016). Franziska Semrau (TU Chemnitz), die die Dimensionen gemeinsam mit mir entwickelt und diese auf der Tagung in Siegen vorgestellt hat, gilt mein ganz besonderer Dank!
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und Bildungsorte, die insbesondere zu kulturellen Bildungsprozessen im Zuge des lebenslangen Lernens einen spezifischen Beitrag leisten (vgl. Haase 2008). Die Vermittlungsangebote von Museen können in ausstellungsintegrierte und ausstellungsbegleitende Angebote unterschieden werden (vgl. Lewalter/ Noschka-Roos 2010). Ausstellungsintegrierte Angebote umfassen (klassische) Vermittlungsmedien wie Label, Bereichstexte, Medienstationen usw. Sie werden in der Erwachsenenbildung auch als »nichtorganisierte Vermittlungsangebote« (Nuissl 2004) bezeichnet. Ausstellungsbegleitende Angebote, auf die dieser Beitrag den Fokus legt, sind Vorträge, Führungen, Konzerte usw. Diese werden in der Disziplin der Erwachsenenbildung »organisierte Vermittlungsangebote« (ebd.) genannt. Obwohl Erwachsene zum regelmäßigen Publikum von Museen (vgl. Institut für Museumsforschung 2008, 2014) gehören, ist bisher nur wenig über die für sie spezifischen ausstellungsbegleitenden Vermittlungsangebote bekannt. Um zum substantiellen Kern ihres Beitrags als Lern- und Bildungsort vorzudringen, ist es aber aus erwachsenenbildungswissenschaftlicher Sicht von Interesse, über welche Vermittlungsangebote Museen konkret verfügen, wie genau diese Vermittlungsarbeit gestaltet ist und welche vielfältigen Zugangsmöglichkeiten zu Kultur und zu kulturellen Inhalten sie ihren Besuchern2 dadurch eröffnen. Nur dann kann sichtbar werden, dass Museen nicht nur Auf bewahrungsorte für Kulturgüter sind, sondern dass sie durch ihren besonderen Charakter auch einen maßgeblichen Beitrag zur Bildungslandschaft leisten. Den Ausgangspunkt der Analyse bilden daher folgende Fragen: Welche ausstellungsbegleitenden Vermittlungsangebote für Erwachsene gibt es im Museum? Welche didaktisch-methodischen Zugangsformen (Veranstaltungsformate) und Sozialformen lassen sich ausdifferenzieren? Um diese beiden Fragen zu beantworten, wurde eine explorative, felderschließende Programmanalyse (vgl. Käpplinger 2008) angewandt mit dem Ziel, Vermittlungsangeboten für Erwachsene in Museen systematisch zu erschließen (vgl. Specht/Fleige 2016; Specht 2015). Teil dieser umfangreicheren Analyse war es, die spezifischen Zugänge zur kulturellen Bildung, die Museen ihren Besuchern durch ihre ausstellungsbegleitenden Vermittlungsangebote eröffnen, zu ermitteln (vgl. Specht/Semrau 2015).
2 | Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist immer auch die weibliche Form mitgemeint.
Zugänge zur kulturellen Bildung im Museum
F orschungsme thodischer H intergrund Unter Programmen werden in der Erwachsenenbildung Texte verstanden, die »in Form von gedruckten Broschüren, Handzetteln oder Anzeigen vorliege[n] bzw. im Internet abruf bar [sind]« (Nolda 2003: 212). Anhand dieser oft in Heftform vorliegenden Sammlung von Ankündigungstexten informieren sich Interessierte über mögliche Bildungsangebote, über deren Rahmenbedingungen (z.B. Zeit, Ort, Kosten, Ziel) sowie über die jeweilige Institution und treffen anhand dessen eine Entscheidung zur (Nicht-)Teilnahme. Dabei können die den Programmen zugrundeliegenden Themenstrukturen, Ansprachestrategien und didaktischen Auf bereitungen von Inhalten usw. mit Hilfe einer Programmanalyse systematisch analysiert werden. Bei einer Programmanalyse handelt es sich »um einen [weiterbildungsspezifischen] analytischen Zugang zur Bildungs- und Planungsrealität auf der Basis von quantifizierenden Darstellungen von Themenstrukturen und -schwerpunkten und qualitativen Analysen von Ankündigungstexten« (Fleige/ Reichart 2014: 76f.). Methodischer Kern einer Programmanalyse ist ein Codebuch, d.h. es ist ein spezifisches Kategoriensystem zu entwickeln. Grundlage für die deduktiv und/oder induktiv entwickelten Ober- und Unterkategorien sind inhaltliche, pädagogische und auch organisatorische Kategorien aus Theorie und Praxis. In der zugrundeliegenden Programmanalyse wurden die Programme des ersten Halbjahres 2014 der fünf zentralen museumspädagogischen Einrichtungen in Deutschland herangezogen. Die Zentren sind: das Museumspädagogische Zentrum in München, das Kunst- und Kulturpädagogische Zentrum der Museen in Nürnberg, der Museumsdienst Köln, die Kulturprojekt GmbH in Berlin sowie der Museumsdienst Hamburg. Insgesamt wurden 709 Ankündigungstexte ausstellungsbegleitender Vermittlungsangebote für Erwachsene analysiert. Weitere detaillierte Informationen zum forschungsmethodischen Vorgehen und zu den Grenzen der Programmanalyse sind bei Specht und Fleige (2016) sowie Specht und Semrau (2015) umfassend ausgeführt. Im Folgenden widmet sich der Beitrag zusammenfassend der Analyse der »Zugänge« (vgl. Specht/Semrau 2015).
Theore tischer H intergrund Während das Kategoriensystem für die Programmanalyse erstellt wurde, ist u.a. auch die Arbeit von Gieseke und Opelt (2005) als Forschungsstand und theoretischer Hintergrund berücksichtigt worden. Ein Ergebnis der Arbeit von Gieseke und Opelt ist das Konzept von Portalen, die von ihnen als »Lernwege
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zur Partizipation an kultureller Bildung« (Gieseke/Opelt 2005: 52) beschrieben werden. Gieseke und Opelt unterscheiden drei verschiedene Portale zu kultureller Erwachsenenbildung, die jeweils unterschiedliche Wege zur kulturellen Bildung markieren. Konkret benennen sie ein 1) systematisch-rezeptives, ein 2) selbsttätig-kreatives und ein 3) interkulturell-/verstehend-kommunikatives Portal (ebd.: 52ff.).3 Diese Portale bilden ein inhaltliches Kriterium, anhand dessen sich die Bildungsangebote über ihren thematisch didaktischen Zugang zu Kultur und Bildung charakterisieren lassen. Eine weitere Perspektive, die ebenfalls in die Erstellung des Kategoriensystems mit einbezogen wurde, ist die der Museumsforschung bzw. Forschung zur kulturellen Bildung. Für die Zugänge kam hier insbesondere die Infrastrukturerhebung zu Bildungsangeboten in Kultureinrichtungen von Keuchel und Weil (2010) zum Tragen. Als Ergebnis ihrer Erhebung beschreiben sie kulturelle Vermittlungsangebote, die »durch künstlerisch-kreative und/oder rezeptiv-analytische Vermittlungsmethoden […] Kunst und Kultur [einer speziellen Zielgruppe] nahe bringen« (Keuchel/Weil 2010: 12). Für Angebote in/ von Museen zeigen sie zudem, dass rezeptive (rezeptiv-analytische) Angebote zusätzlich oft mit künstlerisch-kreativen Methoden ergänzt werden (ebd.: 65), folglich also kulturelle Vermittlungsangebote existieren, die sowohl rezeptiv(analytisch) als auch künstlerisch-kreativ sind (z.B. Führung mit anschließendem kreativem Praxisteil). Für systematisch-rezeptive (rezeptiv-analytische), selbsttätig-kreative (künstlerisch-kreative) als auch für systematisch-rezeptive UND selbsttätig-kreative Angebote ließen sich auch in anderen theoretischen Ausführungen (vgl. Stang 2010; Tenorth/Tippelt 2007) sowie einer aktuellen Erhebung von non-formaler kultureller (Erwachsenen-)Bildung (vgl. Robak et al. 2015) Parallelen bzw. Belege finden. Zusammenfassend zeigt sich, dass sowohl in der erwachsenenbildungsals auch in der kulturwissenschaftlichen Theorie und Forschung zwischen den Angeboten unterschieden wird, die einen mehr systematisch-rezeptiven (rezeptiv-analytischen) Zugang haben und denen, die einen mehr selbsttätig-kreativen (künstlerisch-kreativen) Zugang ermöglichen. Zusätzlich dazu verweisen Gieseke und Opelt auf einen dritten, interkulturell verstehendkommunikativen Angebotstypus, der aktuell vor allem in der erwachsenenbildungswissenschaftlichen Forschung weiter ausdifferenziert wird (vgl. Robak/ Petter 2014; Robak et al. 2015). Darüber hinaus kann in Anlehnung an Keuchel und Weil (2010) auch von einem Mischportal (system-rezeptiv UND selbsttätig-kreativ) ausgegangen werden.
3 | Dies wurde mittlerweile allerdings stärker ausdifferenziert, siehe beispielsweise Fleige et al. (2015).
Zugänge zur kulturellen Bildung im Museum
Z ugänge zur kulturellen B ildung (P ortale) Um das Konzept der Portale zu beschreiben, wurden die Ankündigungstexte ausstellungsbegleitender Vermittlungsangebote der fünf genannten museumspädagogischen Zentren für das erste Halbjahr 2014 (N=709) einer tiefergehenden und umfangreichen inhaltsanalytischen Auswertung hinsichtlich der darin gebotenen Zugänge bzw. »Portale« unterzogen. Als ein Ergebnis dieses Analyseschritts ist es möglich, den Begriff der Portale mit Blick auf die vorliegende Stichprobe zu präzisieren: Ansetzend an den theoretischen Vorüberlegungen werden unterschiedliche »Angebotstyp[en] als spezifische Zugänge des Lernens« (Gieseke/Opelt 2005: 52) differenziert. Diese verschiedenen Typen von Angeboten (im vorliegenden Fall: von ausstellungsbegleitenden Vermittlungsangeboten für Erwachsene in Museen) mit ihren jeweiligen spezifischen Merkmalen wie z.B. Methode, Sozialform, Lerngegenstand (Inhalt) usw. ermöglichen unterschiedliche (Lern-)Zugänge zur kulturellen Bildung bzw. zur Partizipation an kultureller Bildung. Das Portal – so die Präzisierung – ist zwar auch durch Inhalte gekennzeichnet, aber eben nicht durch diesen bestimmt (also kein ausschließliches Entscheidungskriterium; vgl. Specht/Semrau 2015). Dies wird insbesondere dann auffällig, wenn es um die konkrete Zuordnung von Angeboten zum interkulturell/verstehend-kommunikativen Portal geht. In solchen Fällen wird weniger entscheidend sein, ob es sich um ein interkulturelles Thema handelt (Inhalt), sondern wie das interkulturelle Thema im Rahmen des Angebotes den Teilnehmenden nahegebracht werden soll, wie sie es sich aneignen können. Zentral wird folglich die Frage des Zugangs oder Weges zum (interkulturellen) Inhalt und nicht der Inhalt selbst. Zum anderen kann mittels der inhaltsanalytischen Auswertung – neben einer Präzisierung des Begriffes der Portale – ein am Material induktiv ausdifferenziertes System an Kategorien und dimensional erweiterten Unterkategorien zu den (Partizipations-)Portalen entwickelt und validiert werden. Der jüngste Cohen’s Kappa-Wert (ƙ=.786) sowie die prozentualen Beurteiler-Übereinstimmungen (85.3 %) für die Portale und ihre Ausdifferenzierung können als gut bis sehr gut bewertet werden (vgl. Wirtz/Caspar 2002). Die folgenden Portale (·) und Dimensionen (○) können unterschieden werden: • Systematisch-rezeptiv (rezeptiv-analytisch): Das systematisch-rezeptive Portal ist gekennzeichnet durch die systematische Präsentation bzw. Vermittlung von Wissensbeständen (vgl. Gieseke/Opelt 2005). Die Teilnehmenden sind dabei passiv aufnehmend, ohne einen eigenen Anteil, während es gleichzeitig einen Vermittler (Experten) zwischen ihnen und den Exponaten oder Inhalten geben kann. Beispiele hierfür sind traditionell monologische Füh-
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rungen innerhalb oder außerhalb von Museen (Stadtgänge) oder Vorträge, Filmvorführungen etc. Vermittlungsangebote können einen rein systematisch-rezeptiven Zugang bieten. Der Zugang kann aber neben systematisch-rezeptiven Anteilen ergänzt werden durch folgende Dimensionen dieses Portals: ○○ Aushandelnd-reflexiv: Angebote dieses Typus bieten Gelegenheit dazu, dass die Teilnehmenden kommunikativ mit anderen oder gedanklich aktiv mit sich selbst aushandelnd eigene Perspektiven oder Deutungsmuster erweitern können. Die reflexive Auseinandersetzung mit eigenen Werten und Normen, einen Standpunkt zu entwickeln oder zu verändern sowie die Rezeption und aktive Reflexion künstlerischer und kultureller Inhalte wie Objekte wird angeregt, wobei ein gesellschaftskritischer Bezug möglich ist. Als ein Beispiel kann ein Ankündigungstext aus dem Sample genannt werden, der den Blick auf kulturelle Repräsentationen Anderer aktiv hinterfragen möchte: »Führung zum Thema […] Wir hinterfragen unseren eigenen Blick und zeigen […].« (ANR 675) Ein weiteres Beispiel umfasst eine Führung zur Geschichte (Schwarz)Afrikas. Hier heißt es: »Das Wissen um die Geschichte hilft uns, die heutigen politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Gegebenheiten Afrikas besser zu verstehen sowie Klischees und Vorurteile über Afrika zu hinterfragen.« (ANR 674) ○○ Dialogisch-eigenaktiv: Diese Angebote bieten Teilnehmenden die Möglichkeit, Inhalte und Vorstellungen aktiv einzubringen. Beispielhaft zu nennen sind hier Museumsgespräche, Moderationen oder Führungen mit dialogischem Charakter. Exemplarische Passagen aus Programmen sind: »Im Museumsgespräch werden ein Museumsthema und […] ausführlich vorgestellt. Die Veranstaltung hat einen dialogischen Charakter, es bleibt Zeit, auf Fragen und Wünsche der Museumsbesucher einzugehen« (ANR 726) und »eine Kombination aus fachkundiger Einführung, digitaler Filmsichtung und moderierendem Auswertungsgespräch […].« (ANR 1026) ○○ Selbsttätig-eigenaktiv: Innerhalb eines systematisch-rezeptiven Angebots bestehen in dieser Dimension Gelegenheiten zum forschenden Entdecken, ohne dass durch einen personalen Vermittler geleitet wird. Dabei bringt der Teilnehmende seine ganze Person auch rein körperlich oder mit personellen Merkmalen bzw. Fähigkeiten mit ein, d.h. nicht nur sprachlich im Unterschied zur dialogisch-eigenaktiven Dimension. Beispiele für diesen Angebotstyp sind Rallyes im Museum, Arbeits-/Aktivblätter oder ein konkretes Angebot für Torwandschießen im Anschluss an eine sonst systematisch-rezeptive Stadionführung. Ein weiteres Beispiel findet sich in dieser Passage eines Ankündigungstextes: »Probieren geht über Studieren! Deshalb dürfen nach dem ge-
Zugänge zur kulturellen Bildung im Museum
meinsamen Erkunden der Ausstellung [die Besucher] die Fahrräder auf dem Museumshof selbst testen.« (ANR 636) ○○ Gedanklich-vorstellend, inszenierend: Bei dieser Dimension versetzen sich die Teilnehmenden selbst durch Kostümierung/Inszenierung gedanklich in eine andere Welt bzw. in das Themengebiet hinein. Die Besucher nehmen aktiv selbst am Geschehen teil, allerdings nicht im Sinne eines äußerlich produktiven Tuns im Unterschied zum selbsttätig-kreativen Portal. Beispiele hierfür finden sich im Sample in einem Angebot zu einer geführten Wanderung auf einem archäologischen Pfad, bei der die Teilnehmenden selbst zeitgenössische Tracht, Schmuck und Waffen anlegen oder in Angeboten, in denen die Besucher in Form einer Phantasiereise oder eines Rollenspiels aktiv werden: »Wir erklären das Museum zu unserem Phantasieraum, in dem wir Wasser fließen lassen, trocken in die Wellen tauchen oder stehend davonschwimmen« (Führung im Kunstmuseum, ANR 611). ○○ Mit sensorisch-haptischem Anteil: Diese Angebote eröffnen die Möglichkeit zur nicht nur rein kognitiven Aneignung, sondern über sensorischhaptische sinnliche Wahrnehmung (spüren, fühlen). In der Regel bietet sich hier ein Ansatz für bestimmte Zielgruppen, z.B. für Personen mit kognitiven Einschränkungen, Hör-/Sehschwäche oder Demenz-Erkrankte. Beispielhaft können Tastführungen, Kost- und Riechproben sowie Museumskoffer mit Material für alle Sinne genannt werden. Textpassagen, die hier exemplarisch aufgeführt werden können sind: »Über die Haut und die Akustik unserer eigenen Stimme können wir die Architektur und Lebensqualität früherer Zeiten erspüren« (Führung für Blinde und sehbehinderte Menschen, ANR 612). »Mit Signalinstrumenten, Mimikstudien und alltäglichen Bildbotschaften können wir uns über klingendes Erleben und konkrete Anschauung ein spannendes Thema erschließen« (Führung für Menschen mit kognitiven Einschränkungen, ANR 608). • Systematisch-rezeptiv UND selbsttätig-kreativ: Innerhalb eines Angebots sind klar abgrenzbar sowohl systematisch-rezeptive als auch selbsttätig-kreative Phasen erkennbar (vgl. Keuchel/Weil 2010). Beide Zugänge kennzeichnen den Angebotstypus. Neben einer rein systematischen Präsentation von Wissensbeständen, bei denen die Teilnehmenden passiv aufnehmend sind, können sie zusätzlich selbst praktisch tätig sein, die eigenen künstlerischen Fähigkeiten und Fertigkeiten anwenden oder erweitern. Bei diesem Portal können im systematisch-rezeptiven Anteil alle zuvor genannten Dimensionen von »rein« bis »mit sensorisch-haptischem Anteil« enthalten sein. Als Beispiel kann hier eine Museumswerkstatt oder ein Kreativworkshop im Anschluss an eine Führung genannt werden. Ein weiteres Beispiel ist folgende Passage: »Im Kupferstichkabinett […]. Vielerlei Techniken kann man dort
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an ausgewählten Beispielen kennenlernen. In einem Praxisteil lässt sich anschließend in der Werkstatt eine Drucktechnik erproben« (ANR 732). • Selbsttätig-kreativ (künstlerisch-kreativ in äußerlichem Tun): Dieses Portal ist im Anschluss an Gieseke und Opelt (2005) durch Eigenaktivität im künstlerisch-produktiven Tun gekennzeichnet. Besucher sind selbst aktiv tätig, üben etwas ein, wenden die eigenen künstlerischen Fähigkeiten und Fertigkeiten an und erweitern sie. Beispiele für Angebote dieses Typus sind Zeichen- oder Tanzkurse oder Angebote zum Erlernen eines Instruments (z.B. Kurse wie »Individuelles Schmuckdesign«, »Experiment Zeichnung«, »Pojagi-Koreanische Geschenktücher«, ANR 18, 19 & 23). • Verstehend-kommunikativ (im interkulturellen Sinn): Beim verstehend-kommunikativen Portal stehen im Begriffsverständnis nach Gieseke und Opelt (2005) sowie Robak und Petter (2014) interkultureller Austausch sowie Begegnung und Identitätsbildung im Mittelpunk; die kommunikative Auseinandersetzung mit anderen Kulturen und kulturellen Praktiken wird ermöglicht. • Nicht zu entscheiden: Diese Kategorie wurde aufgenommen, um auch Grenzfälle, die einem der dargestellten Portale (und Dimension) nicht eindeutig zugeordnet werden können, erfassen und diese ggf. in einem späteren Schritt tiefer analysieren zu können (z.B. Fortbildungen für Multiplikatoren). Mittels des neuen Portal-Begriffs sowie der Ausdifferenzierung von Dimensionen wurden die ausstellungsbegleitenden Vermittlungsangebote aller museumspädagogischen Zentren kodiert. Dabei erfolgt die Zuordnung der Angebote zu einer der Analysekategorien jeweils durch eine begründete interpretative Entscheidung der Forschenden am Text (und nicht durch die teilnehmende Beobachtung des Angebots). In Tabelle 1 ist die Verteilung der Portale und Dimensionen für die vorliegende Stichprobe abgebildet. Tabelle 1: Häufigkeit und Prozent der drei Portale und der neu ausdifferenzierten Dimensionen (N=709) Portale und Dimensionen
N
%
~ rein
462
65.2
~ aushandelnd-reflexiv
7
1.0
~ dialogisch-eigenaktiv
108
15.2
~ selbsttätig-eigenaktiv
14
2.0
systematisch-rezeptiv (rezeptiv-analytisch)
Zugänge zur kulturellen Bildung im Museum
~ gedanklich-vorstellend, inszenierend
4
0.6
~ mit sensorisch-haptischem Anteil
15
2.1
(systematisch-)rezeptiv* UND künstlerisch-(selbsttätig-)kreativ
26
3.7
selbsttätig-kreativ (künstlerisch-kreativ)
28
3.9
interkulturell/verstehend-kommunikativ
-
-
nicht zu entscheiden
45
6.3
systematisch-rezeptiv (insgesamt)
610
86.0
gesamt
709
100.0
* Anmerkung: Bei diesem Portal können im systematisch-rezeptiven Anteil alle zuvor genannten Dimensionen von »rein« bis »mit sensorisch-haptischem Anteil« enthalten sein. Für die Mischform wurde bewusst – aus Gründen der Übersichtlichkeit – nicht nach den Unterdimensionen codiert. Eine Aufschlüsselung ist je nach Fragestellung natürlich (im Nachhinein) möglich.
Es zeigt sich, dass 28 (3.9 %) der Angebote dem selbsttätig-kreativen und 26 (3.7 %) dem systematisch-rezeptiv UND künstlerisch-kreativ Portal zugeordnet werden können. Das interkulturelle-/verstehend-kommunikative Portal kann in der zugrundeliegenden Stichprobe nicht identifiziert werden. Dies ist u.a. der Spezifik der Stichprobe (Vermittlungsangebote von Museen bzw. der museumspädagogischen Zentren) und dem gegenüber Gieseke und Opelt leicht veränderten Verständnis von Portalen begründet. Im Gegensatz dazu kann ein Großteil der Angebote, insgesamt 86 % (n=610), dem systematisch-rezeptiven Portal zugeordnet werden, davon 462 (65.2 %) dem rein systematisch-rezeptiven Portal. 108 (15.2 %) der Angebote sind dem systematisch-rezeptiven Portal mit der Dimension dialogisch-eigenaktiv zuzuordnen. Hierbei handelt es sich also um ausstellungsbegleitende Vermittlungsangebote, in denen für die Teilnehmenden neben einer passiven Aufnahme des präsentierten Wissens auch die Möglichkeit zum kommunikativen Einbringen eigener Gedanken und Ideen besteht. Mit weitem Abstand dazu folgen die systematisch-rezeptiven Angebote mit der Dimension eines sensorisch-haptischen Anteils (2.1 %) sowie den selbsttätig-eigenaktiven (2 %), aushandelnd-reflexiven (1 %) und gedanklich-vorstellenden, inszenierenden (0.6 %) Dimensionen. 45 Angebote (6.3 %) aus der Stichprobe werden der Kategorie »nicht zu entscheiden« zugeordnet. In diesem Fall handelt es sich i.d.R. um Fortbildungsangebote für Multiplikatoren, welche die Logik der Museen selbst, die Entstehung ihrer Ausstellungen oder mögliche Vermittlungsansätze thematisieren.
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Z usammenfassung und D iskussion 4 In den analysierten (ausstellungsbegleitenden) Vermittlungsangeboten für Erwachsene sind in der zugrundeliegenden Stichprobe überwiegend systematischrezeptive Angebote (86 %) zu finden. Von den systematisch-rezeptiven Angeboten umfasst – in Anlehnung an den Ankündigungstext – ein Großteil die Reinform. Feldstudien könnten für diese reinen Angebote zusätzliche Anteile (Dimensionen) ergeben. Darüber hinaus weist die tiefergehende Analyse aber daraufhin, dass nicht alle analysierten Angebote einen rein systematisch-rezeptive Zugang umfassen, sondern noch andere Zugangsmöglichkeiten bieten. Diese entstehen vor allem, indem die Teilnehmenden eigene Ideen und Vorstellungen einbringen, indem sie aktiv tätig werden oder sich selbst auch körperlich, mit ihrer gesamten Person mit einbringen. Beispielsweise wurde bei den systematisch-rezeptiven Angeboten eine deutliche Tendenz zu dialogisch-eigenaktiven Anteilen deutlich. Theoretisch lässt sich dies mit einer Entwicklung erklären, die sich in den letzten Jahren vollzogen hat und immer noch vollzieht: Das ursprünglich rein monologische Format der Führung verändert sich zunehmend zu einem mehr dialogischen Format, in dem die Museumspädagogen die Rolle vermittelnder Moderatoren einnehmen (vgl. Rombach 2007; Schrübbers 2013). Zusätzlich zeigt sich, dass Museen u.a. auch verschiedenste Angebote mit selbsttätig-kreativem Zugang (z.B. Rollenspiel, Gamelan-Musik, Zeichenkurs usw.) sowie Mischformen offerieren. Die Ermittlung der Zugänge belegt damit, dass Museen das Feld der Erwachsenenbildung mit ihrem vielfältigen Angebot bereichern und dadurch verschiedenste Zugänge zur kulturellen Bildung bieten. Durch diese Vielfalt ermöglichen sie unterschiedlichen Besuchern kulturelle Bildungsprozesse sowie die Teilhabe am ›lebenslangen Lernen‹. Zukünftige Studien, die überprüfen ob auch kulturelle Vermittlungsangebote für Erwachsene aus anderen Bereichen mit Hilfe der Zugänge und ihren Ausdifferenzierungen adäquat charakterisiert werden können, sind explizit wünschenswert. Zusätzlich könnte auch überprüft werden, ob die Portale und ihre Dimensionen als theoretischer Rahmen zur Angebotsplanung Anwendung finden können, indem anhand dieser im Vorfeld über die Rolle der Teilnehmenden nachgedacht wird. Z.B. Soll es ein systematisch-rezeptives oder ein selbsttätig-kreatives Angebot werden? Wenn es ein systematisch-rezeptives Vermittlungsangebot werden soll, also primär Wissenspräsentation, gibt es dennoch irgendeine Möglichkeit aktive Anteile für die Teilnehmenden zu schaffen?
4 | Grenzen der Analyse sind bei Specht/Fleige (2016) und Specht/Semrau (2015) aufgeführt.
Zugänge zur kulturellen Bildung im Museum
L iter atur Deutscher Museumsbund e.V./ICOM (2006): Standards für Museen. www. museumsbund.de/fileadmin/geschaefts/dokumente/Leitfaeden_und_anderes/Standards_fuer_Museen_2006.pdf Fleige, Marion/Gieseke, Wiltrud/Robak, Steffi (2015). Kulturelle Erwachsenenbildung: Strukturen–Partizipationsformen–Domänen (Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung), Bielefeld. Fleige, Marion/Reichart, Elisabeth (2014): »Statistik und Programmanalyse als Zugänge zur Angebotsforschung. Erkundungen am Beispiel der kulturellen Bildung in der Volkshochschule«, in: Henning Pätzold/Heide von Felden/Sabine Schmidt-Lauff (Hg.), Programme, Themen und Inhalte der Erwachsenenbildung (Dokumentation der Jahrestagung der Sektion Erwachsenenbildung der DGfE), Baltmannsweiler, S. 68-87. Gieseke, Wiltrud/Opelt, Karin (2005): »Programmanalyse zur kulturellen Bildung in Berlin-Brandenburg«, in: Wiltrud Gieseke/Karin Opelt/Helga Stock/Inga Börjesson (Hg.), Kulturelle Erwachsenenbildung in Deutschland. Exemplarische Analyse Berlin/Brandenburg (Europäisierung durch kulturelle Bildung: Bildung–Praxis–Event 1), Münster, S. 43-130. Haase, Ellinor (2008): »Lebenslanges Lernen als neuer gesellschaftlicher Imperativ und der Beitrag der Museen«, in: John Hartmut/Anja Dauschek (Hg.), Museen neu denken – Perspektiven der Kulturvermittlung und Zielgruppenarbeit, Bielefeld, S. 88-92. Institut für Museumsforschung (2008): Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2007. Berlin. Institut für Museumsforschung (2014): Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2013. Berlin. Käpplinger, Bernd (2008): »Programmanalysen und ihre Bedeutung für pädagogische Forschung«, in: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research, Heft 1, Art. 37. Keuchel, Susanne/Weil, Benjamin (2010): Lernorte oder Kulturtempel. Infrastrukturerhebung: Bildungsangebote in klassischen Kultureinrichtungen, Köln. Lewalter, Doris/Noschka-Roos, Annette (2010): »Museum und Erwachsenenbildung«, in: Rudolf Tippelt/Aiga von Hippel (Hg.), Handbuch Erwachsenenbildung/Weiterbildung (4. Aufl.), Wiesbaden: VS Verlag, S. 527-542. Nolda, Sigrid (2003): »Paradoxa von Programmanalysen«, in: Wiltrud Gieseke (Hg.), Institutionelle Innensichten der Weiterbildung, Bielefeld, S. 212-227. Nuissl, Ekkehard (2004): »Erwachsenenbildung im Museum«, in: Hartmut John/Jutta Thinesse-Demel (Hg.), Lernort Museum – neu verortet! Ein europäisches Praxishandbuch, Bielefeld, S. 44-52.
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Nuissl, Ekkehard/Paatsch, Ulrich/Schulze, Christa (1987): Besucher im Museum – ratlos? Problemstudie zur pädagogischen Arbeit in Museen und Kunstvereinen (Berichte der AfeB Vol. 20), Heidelberg. Robak, Steffi/Fleige, Marion/Sterzik, Linda/Seifert, Jennifer/Teichmann, Anne-Kristin/Krueger, Anneke (2015): Die Konstitution Kultureller Bildungsräume. Fünf überregionale Institutionen der non-formalen Kulturellen (Erwachsenen-)Bildung: Bildungsangebotsentwicklungen, innovative Impulse, Planungsspielräume. www.rat-kulturelle-bildung.de/fileadmin/ user_upload/pdf/RFKB_RechercheRobakFleige_DS.pdf Robak, Steffie/Petter, Isabell (2014): Programmanalyse der interkulturellen Bildung in Niedersachsen, Bielefeld. Rombach, Julia (2007): Trendsetter oder Traditionshüter? Die Zukunft der Museen, Münster. Schrübbers, Christiane (Hg.) (2013): Moderieren im Museum. Theorie und Praxis der dialogischen Besucherführung, Bielefeld. Specht, Inga (2015): »Ausstellungsbegleitende Vermittlungsangebote für Erwachsene von museumspädagogischen Zentren und ihre Kooperationen mit anderen (Bildungs-)Einrichtungen«, in: StandbeinSpielbein No.103, S. 45-49. Specht, Inga/Fleige, Marion (2016): »Programmanalytisch ermittelte ausstellungsbegleitende Vermittlungsangebote für Erwachsene«, in: Museen – Eine Programmanalyse am Beispiel des Museumsdienst Kölns. Zeitschrift für Bildungsforschung. doi:10.1007/s35834-016-0145-4 Specht, Inga/Semrau, Franziska (2015): »Portale zu kultureller Erwachsenenbildung in Museen – Eine Analyse ausstellungsbegleitender Vermittlungsangebote für Erwachsene«, DIE texte.online. www.die-bonn.de/doks/2015kulturelle-bildung-01.pdf Stang, Richard (2010): »Kulturelle Bildung«, in: Rolf Arnold/Sigrid Nolda/Ekkehard Nuissl (Hg.), Wörterbuch Erwachsenenbildung (2. Aufl.), Bad Heilbrunn, S. 167-177. Tenorth, Heinz-Elmar/Tippelt, Rudolf (2007): »Kulturelle Erwachsenenbildung«, in: Heinz-Elmar Tenorth/Rudolf Tippelt (Hg.), BELTZ Lexikon Pädagogik, Weinheim, S. 433. Wirtz, Markus/Caspar, Franz (2002): Beurteilerübereinstimmung und Beurteilerreliabilität, Göttingen.
Kinder, Kisten und Kulturen – transkulturelle Bildung in der Kunstvermittlung? Magdalena Eckes
Je sichtbarer gesellschaftliche Veränderungen das gedachte Ideal kultureller Homogenität untergraben, desto lauter werden die Rufe danach, auch im Rahmen der kulturellen Bildung Konzepte neu zu denken und auf die veränderte Lage zu reagieren. Die Stichworte in diesem Kontext sind ebenso oft genutzt, wie Ausdruck und Transporteur von Problemzusammenhängen: »Migration«, »Kultur«, »Zuwanderung«, »Identität« – kaum eine Debatte im Bildungskontext kommt aktuell ohne Verwendung dieser Begriffe aus. Und manch einer wird vielleicht schon sagen: »Ich kann’s nicht mehr hören.« Aber an der Einsicht, dass man sich diesen Begriffen und den damit verbundenen Problemzusammenhängen stellen muss, wird das wohl nichts ändern. Das gilt sicher für die kulturelle Bildung im Allgemeinen, aber auch für die Kunstvermittlung im Speziellen, zu deren Aufgabe im schulischen Kontext Hubert Sowa bereits 2011 bemerkte: »Die Aktualität der kulturellen Durchdringung und der Migration stellt aktuelle Forderungen an unser Fach. Die Kinder der aus fremden Kulturen kommenden Immigranten haben das Recht, sich in der schulischen Kunstpädagogik wiederzufinden, sich mit ihrer eigenen Identität auseinanderzusetzen und auch Vergleichbarkeiten und Übergänge mit unserer Kultur zu verstehen. Unter umgekehrten Vorzeichen gilt das gleiche auch für deutsche Schüler.« (Sowa 2011: 12) Die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit der veränderten gesellschaftlichen Lage ist damit beispielhaft konstatiert. Die Probleme, die bei dem Versuch der Umsetzung entstehen können, werden uns im Folgenden beschäftigen. Dabei werden wir dieses Problemfeld gleichsam mit einem hegelianischen Dreischritt durchwandern: mit einer naheliegenden These, einer berechtigten Antithese und dem abschließenden Versuch einer Synthese.
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K inder in K isten (These) Wenn heutige Schülerinnen und Schüler sich in der Kunst mit ihrer eigenen kulturellen Identität sowie Vergleichbarkeiten und Übergängen zu fremden Kulturen verstehen sollen, muss zunächst identifiziert werden, was »unsere« und was die »fremde« Kultur ist und welche Elemente verglichen werden können. »Bei der Planung des Kunstunterrichts ist es dabei durchaus vorstellbar, sich etwa bei Themen wie mittelalterlicher Sakralplastik oder expressive Selbstporträts über die muslimischen Schülerinnen und Schüler Gedanken zu machen, deren andersartige Kultur mit religiöser Bildlichkeit und menschlicher Abbildung ein Problem haben könnte.« (Schnurr 2014: 75) In der Konsequenz erscheint es damit beispielsweise naheliegend, christliche Bildmotivik islamischen Bildtraditionen gegenüberzustellen, Gemeinsamkeiten zu entdecken und Einblick in die jeweilige Kultur zu geben. Aus Sicht »unserer« Kultur bedeutet das: Es muss doch geklärt werden, was das Kind in der Kiste macht, um eventuellen Fehldeutungen (das Kind wird von Ochse und Esel gefressen) vorzubeugen und ein vertieftes Verständnis der christlichen Kultur zu ermöglichen.
Abb. 1: Von Herrad von Landsberg – Hortus Deliciarum, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index. php?curid=31441189 Da bei Überlegungen zur kulturellen Bildung im Feld von Migration meist auch die kulturelle Identität (Hubert Sowa s.o.) im Vordergrund steht, erscheint es sinnvoll, inhaltliche Schwerpunkte auf einzelne Schülerinnen und Schüler mit ihren kulturellen Voraussetzungen anzupassen, sodass sich tatsächlich die Kinder fremder Kulturen in der Kunstpädagogik wiederfinden können (und nicht
Kinder, Kisten und Kulturen
nur etwas über andere Kulturen herausfinden).1 Kurz gesagt: Für Cengiz und Merve2 wird man christliche und islamische Kunst als Unterrichtsgegenstand gegenüber afrikanischen Masken und japanischen Holzschnitten bevorzugen. Hier aber entsteht das erste Problem mit dieser naheliegenden Reaktion auf die veränderten Bedingungen unserer Gesellschaft. Denn eine Zuordnung der kindlichen Rezipienten zu bestimmten Kulturen mag zwar auf den ersten Blick geboten erscheinen, sie führt allerdings genauso schnell zu unzulässigen Stigmatisierungen und Kindern in rigiden »Kultur-Kisten«. Das lässt sich paradigmatisch an einem Beispiel aus dem Deutschunterricht zeigen, das Martina Weber in ihrem Aufsatz »Effi damals – Cemile heute?« schildert. Der Deutschlehrer K., der sich in seiner Aufgabenstellung an dem Migrationshintergrund seiner Schülerinnen und Schüler orientieren möchte, wird hier mit den Worten zitiert: »Cengiz habe ich zum Beispiel Ansichten eines Clowns in die Hand gedrückt. Weil es da ja um die Fragestellung geht mit dem Katholizismus. […] Cengiz hat dieses Buch auch ganz schnell für sich übersetzt und gemerkt, dass der Katholizismus Parallelen aufweist zu dem, was er so vom Fundamentalismus bei den Moslems kennt.« (Weber 2009: 14) Der Lehrer versucht auf Cengiz’ antizipierten Migrationshintergrund einzugehen, indem er eine Lektüre auswählt, die religiösen Fundamentalismus behandelt. So ehrenwert sein Bemühen in Bezug auf die aktuelle Problemlage sein mag, wird Cengiz hier in mehr als einer Hinsicht stigmatisiert. Zunächst steckt der Lehrer Cengiz in die Kisten »Muslim« und »Migrationshintergrund«, ohne dabei auf ihn als Person mit seinen vielfältigen Vorbedingungen und Ansichten einzugehen. Diese Kisten wiederum ordnet K. in einen ganz bestimmten Problemzusammenhang ein, nämlich den des islamischen Fundamentalismus. Während offensichtlich sein sollte, dass es eine unzulässige und gefährliche Verallgemeinerung darstellt, muslimische Menschen mit Migrationshintergrund unmittelbar mit islamischem Fundamentalismus in Verbindung zu bringen, wird das Problem des Einordnens in »Kultur-Kisten« erst auf den zweiten Blick deutlich. Problematisch ist hierbei, dass das wesentliche Kriterium beim Sortieren in »Kultur-Kisten« – die differentia specifica – in der kulturellen Differenz zu sehen ist. Zu dieser bemerkt Paul Mecheril kritisch: »Der Ausdruck kulturelle Differenz wird benutzt, um zwischen uns und jenen zu unterschieden, die gewöhnlich als kulturell Andere imaginiert werden: die Fremden, die Zuwanderer, 1 | Vgl. u.a. Ansgar Schnurr: »Je bunter und diversitärer die Allgemeinheit wird, desto augenfälliger scheinen die Unterschiede, auch die kulturellen Differenzen. Eine verbreitete kunstpädagogische Reaktion auf diese Heterogenität ist es, bei den unterschiedlichen kulturelle[n] Zugehörigkeiten der verschiedenen Schülerinnen und Schüler anzusetzen« (Schnurr 2014: 74). 2 | Es ist bemerkenswert, dass »Cengiz« und »Merve« anders funktionieren als »Hans« und »Eva«.
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die Ausländerinnen, die Migrantinnen, die Menschen mit Migrationshintergrund etc.« (Mecheril, 2013: 30) Mit dem Blick auf kulturelle Differenz geht also auch eine Unterscheidung in »das Fremde« (die Moslems) und »das Eigene« (die Christen) einher – bestimmte kulturelle Gruppen (Kinder in bestimmten »Kultur-Kisten«) werden damit als »anders« oder »fremd« deklariert. Diese Kritik Mecherils an der Fokussierung auf kulturelle Differenz wird durch Wolfgang Welschs Thesen zur Transkulturalität noch verschärft: Welsch zufolge lässt sich »Kultur« nicht in einer Weise verstehen, die das Einordnen in Kisten überhaupt möglich macht. Er geht davon aus, dass es keine abgeschlossenen, homogenen Kulturen (diese Idee bezeichnet Welsch als »Kugelmodell«, s.u.) gibt, sondern Kultur heute »de facto derart permeativ und nicht separatistisch verfasst ist« (Welsch 2010: 40). Man kann Cengiz damit nicht einfach in die Kiste »Muslim« stecken, weil er in sehr vielen und hybriden kulturellen Zusammenhängen steht, die durch eine Kiste nicht abbildbar sind. Und diese Überlegung betrifft nicht nur Kinder und andere Menschen, sondern auch kulturelle Artefakte – wie bspw. Bilder. So konstatiert Schnurr: »Aktuelle Bildwelten lassen sich nicht eindeutig nach den Kategorien eigen und fremd oder nach unsere Kultur und die der Anderen einteilen. Auch wenn Kultur wohl schon immer aus Vermischungen entstanden ist, so nimmt doch die Dynamik erheblich zu, in der sich verschiedenste bildliche Kontexte, Ikonografien, lokale Erzählungen und globale Handlungsformen überlagern und neue Bilder entstehen lassen.« (Schnurr 2013: 69)
Abb. 2: Scan einer Briefmarke aus Manama (Exklave des Adjaman) von 1971, Madonna in Anbetung des Kindes.
Kinder, Kisten und Kulturen
K ultur abseits von K isten ? (A ntithese) Unsere Gesellschaft scheint offensichtlich an kultureller Heterogenität zu gewinnen. Doch ein Unterrichten der Angehörigen »fremder Kulturen« in »unserer« kulturellen (Bild-)Tradition unter Berücksichtigung ihrer antizipierten kulturellen Differenz kann, das sollte das Beispiel von Herrn K. und Cengiz gezeigt haben, nicht die gebotene Reaktion darauf sein. Was aber ist dann zu tun? Sollten wir einfach fortfahren wie bisher – Kunstvermittlung so betreiben, wie wir es immer getan haben? Oder gibt es doch Möglichkeiten auf die vermutete kulturelle Heterogenität zu reagieren, ohne dabei bestimmte Gruppen zu stigmatisieren, respektive sie in Kisten zu stecken? Anders gefragt: Kann es transkulturelle Bildung in der Kunstvermittlung geben? Zur Möglichkeit transkultureller Kunstpädagogik formulieren Barbara Lutz-Sterzenbach, Ansgar Schnurr und Ernst Wagner ein Paradoxon, das auf den ersten Blick wenig hoffen lässt: »Das immer wiederkehrende Moment und die aufregende Stelle einer transkulturell sensibilisierten Kunstpädagogik liegt in einem unauflösbaren Widerspruch, der sowohl fachdidaktische Theoriebildung wie kunstpädagogisches Handeln herausfordert: Es gilt stets, das Spannungsverhältnis auszuhandeln zwischen einer pädagogischen Thematisierung von Differenzen einerseits und dem Vermeiden kulturalisierender Festschreibung von Verschiedenheit andererseits bzw. gleichzeitig.« (Lutz-Sterzenbach et al. 2013: 18)
Doch auf den zweiten Blick wird deutlich, dass diese Gegenüberstellung zweier Anforderungen auflösbar und mithin kein Paradoxon ist: Transkulturell sensibilisierte Kunstpädagogik kann generell an Kunstwerken Differenzen thematisieren, ohne dabei diese Differenzen auf einzelne Betrachter zu übertragen. Damit könnte man Kunstwerke in Kisten stecken, ohne Gleiches mit Kindern machen zu müssen. An unserem Beispiel konkretisiert: Im Rahmen einer Kunstvermittlung könnten Darstellungen von Jesu Geburt im Kontext christlicher Bildsymbolik thematisiert werden (und anderer Bildsymbolik gegenübergestellt werden), ohne dass dabei konkret das Verhältnis einzelner Schülerinnen und Schüler zu den Bildern vor dem Hintergrund ihrer eigenen Religion angesprochen werden muss. Allerdings stoßen wir bei eingehenderer Betrachtung auf ein weiteres Kisten-Problem: Denn schon der Blick auf kulturelle Differenzen im Rahmen kultureller Erzeugnisse trägt die Unterscheidung von »wir« und »die Anderen« in sich. Auch wenn diese Differenz nicht direkt adressiert wird (wie im Fall von Cengiz), ist sie schon dann Teil des Denkens, wenn bestimmte Werke ausgewählt werden, an denen kulturelle Differenz erfahren werden soll.
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So wird oft im Rahmen einer kritischen Reflexion unseres Umgangs mit Kunstwerken konstatiert, dass außereuropäische Kunstwerke kaum rezipiert werden, was zu einer eingeengten Sicht auf Kultur und kulturelle Erzeugnisse führt.3 Gleichzeitig ist aber schon das Denken eines »uns« und die Benennung »außereuropäisch« vergleichbar mit einer Einordnung in Kisten/Kugeln. Wie wir es auch drehen und wenden, mit jedem Versuch, auf wahrgenommene Differenzen zu reagieren, steuern wir immer wieder auf unzulässige Verallgemeinerungen zu. Dieser Widerspruch zwischen dem Wunsch, Wesen und Dinge nicht in Kisten zu stecken, und der Art und Weise, wie wir Kulturen »begreifen«, ist nicht nur unserer Unfähigkeit geschuldet, theoretisch gewonnene Erkenntnisse auf die Praxis zu übertragen (und uns von den Namen »Cengiz« und »Merve« nicht in irgendeine Richtung lenken zu lassen). Vielmehr zeigt sich hier ein Problem, das dem Begriff der Transkulturalität selbst inhärent ist: Das Zentrum des Begriffs »Transkulturalität« bildet »Kultur«. Welsch selbst stellt bei seiner Erläuterung verschiedene Auffassungen von Kultur gegenüber, insbesondere eine Auffassung, die er durch Ludwig Wittgenstein geprägt sieht, und eine andere, die er Johann Gottfried Herder zuschreibt. Während er das Herder’sche Kugelmodell, das Kulturen als relativ homogen und abgegrenzt versteht, kritisiert, bildet Wittgenstein für ihn einen positiven Bezugspunkt: »Wittgenstein zufolge liegt Kultur dort vor, wo eine geteilte Lebenspraxis besteht.« (Welsch 1995: 3) Welche dieser beiden Auffassungen von Kultur liegt nun Welschs »Transkulturalität« zugrunde? Da die Vorsilbe »Trans« das Überschreiten des Nachgenannten meint, kann der Kulturbegriff in »Transkulturalität« nicht der Wittgenstein’sche sein, da hier nichts zu überschreiten ist: geteilte Lebenspraxis ist etwas, was auch in einer transkulturellen Gesellschaft immer noch bestehen dürfte. Dann aber liegt der Herder’sche Begriff der »Transkulturalität« zugrunde: Überschritten wird Kultur im Herder’schen Sinne. Doch wird nun die Kultur (verstanden als Kugel) überschritten oder das Verständnis der Kultur als Kugel? Wird in einer transkulturellen Gesellschaft die Kugelform von Kulturen aufgelöst oder unser falsches »kugeliges« Verständnis von Kultur? Welschs Antwort auf diese Fragen würde vermutlich lauten: beides. Denn ihm zufolge sind »Kulturbegriffe […] nicht bloß Beschreibungsbegriffe, sondern operative Begriffe. Sie prägen ihren Gegenstand.« (Welsch 1995: 4) Das Auflösen eines Denkens in Kugeln und Kisten geht dabei 3 | Dazu meint Sowa: »Schulische Kunstpädagogik beschränkt sich heute in der Regel vornehmlich auf den engen Kreis mitteleuropäischer und nordamerikanischer Kunst. […] Dies ist im Sinne einer umfassenden und allgemeinen geschichtlichen Bildung kaum zu rechtfertigen, noch weniger freilich in der Perspektive des interkulturellen Dialogs und des globalen Weltbürger-Bewusstseins.« (Sowa 2011: 4).
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also mit dem Auflösen der Kugeln und Kisten Hand in Hand. Doch hier liegt auch das Problem des Begriffs der »Transkulturalität«. Wenn er ebenfalls seinen Gegenstand prägt, so ist es fatal, dass er in sich noch immer einen veralteten Kulturbegriff samt Kugeln und Kisten trägt. Transkulturalität kann nur vor der Folie einer klar begrenzten Kultur bzw. eines Verständnisses von Kultur als abgeschlossen begriffen werden. Damit nimmt »Transkulturalität« aber heimlich alle Altlasten des Kugelmodells mit, um sie gleichzeitig zu verleugnen.4 Transkulturelle Bildung hätte damit die Aufgabe »bloß keine klaren Kulturzuschreibungen« zu machen und gleichzeitig die klaren Kulturzuschreibungen in der Vermittlung aufzulösen. Eine Aufgabe, die daran erinnert, jetzt bloß nicht an einen rosa Elefanten zu denken. Oder daran, in Anbetracht eines Bildes mit christlicher Motivik jetzt bloß keine Unterscheidungen von Christen und Anhängern anderer Glaubensrichtungen zu treffen.
Tr ans -K isten (S ynthese) Auch wenn es nun so erscheinen mag, ich halte das Projekt transkultureller Kunstvermittlung nicht von vorneherein zum Scheitern verurteilt. Denn aus meiner Sicht gibt es eine andere Möglichkeit, mit dem Erzeugen von »KulturKisten« und dem Überschreiten derselben umzugehen, indem man gleichsam eine Synthese aus These (kulturelle Differenz) und Antithese (Transkulturalität) bildet. Diese Möglichkeit möchte ich anhand der Auseinandersetzung mit einer zeitgenössischen Arbeit des Künstlers Šakir Gökćebağ verdeutlichen.5 In seiner Werkgruppe »Reorientation« verarbeitet Gökćebağ Orientteppiche in einer Weise, die meist ein ausgeschnittenes Rechteck im Teppich erzeugt. Die Leiterin des Kunstvereins Ludwigshafen, in dem unter anderem auch diese Arbeiten gezeigt wurden, Barbara Auer, bemerkt dazu:
4 | Letztlich, so könnte man einwenden, geschieht das fast immer, wenn vor einen Begriff die Silbe »Trans« gesetzt wird. Doch Welsch verwendet »Transkulturalität« klarer Weise nicht rein deskriptiv – was ja unproblematisch wäre, weil es einfach nur den Zustand der Überschreitung beschreiben würde – sondern mit normativer (es soll überschritten werden) und operativer (durch die Prägung des Begriffs ändert sich unser Denken) Kraft. Dann aber wird er in beschriebener Weise problematisch. 5 | Ich danke Ansgar Schnurr für dieses anregende Beispiel, mit dem ich mich im Rahmen seiner Tagung »Kultur. Migration. Bildung: Kunst in der Migrationsgesellschaft« 2016 an der Justus-Liebig-Universität Gießen in einem Kurzvortrag auseinandersetzen durfte.
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Magdalena Eckes »Also dass er die Teppichmuster, die Ornamentik, die wir ja lieben als westlich geprägte Menschen, weil wir ja da so eine Sehnsucht nach dem Orient auch haben, wie er die nimmt, aufschneidet und große weiße Flächen entstehen lässt und dadurch ein abstraktes Bild entsteht, was sicherlich unsere westliche und die Bauhauskultur ist, die unser Sehen ja auch sehr prägt.« (Auer 2016)
Frau Auer sieht in Gökćebağs Teppich zwei Kulturen in klaren Grenzen repräsentiert: auf der einen Seite die östlich orientalische (Teppichmuster), auf der anderen Seite die westliche (abstraktes Bild, Bauhauskultur). Auch hier scheint sich ein klares Denken in Kisten abzuzeichnen, ein Denken in kultureller Differenz – womit wir uns sozusagen auf Ebene der These befinden. Beschäftigt man sich jedoch mit Šakir Gökćebağs Äußerungen zu seinen Arbeiten, bspw. aus einem Interview mit dem Renk Magazin, erscheint diese Interpretation des Gehalts von »Reorientation« fragwürdig. In besagtem Interview wurde auf die Gegenstände Bezug genommen, die Gökćebağ in seinen Arbeiten verwendet (meist Alltagsgegenstände wie Regenschirme oder Toilettenpapier). Zu seiner Auswahl der Gegenstände sagte er nun Folgendes: »Ich achte nur darauf, dass ich keine unbekannten Gegenstände, sondern nur »universale Objekte«, wie ich sie nenne, verwende. Also Gegenstände, die im Zweifel auch ein Argentinier, Deutscher oder Japaner auf den ersten Blick erkennen kann. Nur, wenn es jedem möglich ist, meine künstlerische Intervention zu verstehen, bin ich zufrieden. Sonst würde dem Kunstwerk die konzeptionelle Seite fehlen.« (Gökćebağ 2016)
Damit beschreibt Gökćebağ sein Vorgehen in einer Weise, die der Idee der Transkulturalität (Antithese) sehr nahe kommt: Seine Werke – und damit auch »Reorientation« – sollten unabhängig von kultureller Prägung (diese überschreitend) betrachtet werden können. Nun ist aber Frau Auers Betrachtung der Arbeit »Reorientation« sehr deutlich durch ihr Verständnis von »Kultur« (und insbesondere der westlichen und der östlichen Kultur) geprägt. Aus Sicht von Vertretern der Transkulturalität (Antithese) liegt hier ein Fehlverständnis vor: Kulturen werden von Frau Auer – und vermutlich von der Mehrzahl der Betrachter – in Form von »Kisten« oder »Kugeln« interpretiert und mit sehr stereotypen Vorstellungen verbunden. Im Rahmen einer transkulturellen Bildung wäre also das Ziel, Frau Auer »beizubringen«, einen Teppich ganz so wie Toilettenpapier als universalen Gegenstand zu begreifen, und bei der Betrachtung von »Reorientation« nicht an das Gegenüber zweier klar umgrenzter Kulturen zu denken. Dass das im Grund unmöglich ist, habe ich versucht in meiner Auseinandersetzung mit »Transkulturalität« zu zeigen. Am konkreten Beispiel aber tut sich eine neue Möglichkeit auf, mit der Problemlage umzugehen. Nehmen wir Gökćebağs Aussage zu den von ihm
Kinder, Kisten und Kulturen
verwendeten Gegenständen ernst, so müssten Toilettenpapier und Teppich für den Betrachter eigentlich ähnlich funktionieren, da beide universale Objekte sein sollen. Allerdings möchte ich bezweifeln, dass Toilettenpapier Frau Auer zu einer ähnlichen Aussage über kulturelle Differenz veranlasst hätte wie die Teppiche. Es scheint also bestimmte Kontexte (Reizthemen, Reizgegenstände u.a.) zu geben, in denen sich kulturelle Differenz als Erkenntnis- oder Denkkriterium geradezu aufdrängt. Wenn wir aber eingestehen, dass bestimmte Reizgegenstände und -themen in vielen Rezipienten zu einer stereotypen Kategorisierung in abgeschlossene Kulturen führen, kann genau dieser Umstand nutzbar gemacht werden, um unsere Kategorien offenzulegen und in Frage zu stellen. Die heimlichen Kisten, in die wir Gegenstände und Personen einsortieren, können artikuliert und damit transparent werden. Wir können darüber verhandeln, warum ein zerschnittener Teppich eines Künstlers mit dem Namen Šakir Gökćebağ uns dazu veranlasst, das orientalische Ornament dem abstrakten Bauhaus gegenüberzustellen. Das bedeutet nicht, dass wir abschließend dazu in der Lage sein werden, unsere »Denk-Kisten« vollkommen auflösen – doch wir werden uns kultureller Zuschreibungen und ihres problematischen Charakters bewusst. Auf diese Weise kann Kunstvermittlung einen besonderen Beitrag zu einer Bildung liefern, die mit »kultureller Differenz« umgehen möchte. Kunstvermittlung würde sich dann insofern ändern, als sie gezielt Kunstgegenstände in den Blick nähme, die beim Betrachter (bei vielen Betrachtern, beim Kunstvermittler selbst) das Gefühl kultureller Differenz erzeugen. Dabei bliebe sie aber nicht stehen, sondern würde die Artikulation dieses Eindrucks nutzen, um über kulturelle Zuschreibungen zu reflektieren und die Kisten in unser aller Köpfen etwas transparenter zu machen.6
6 | Es ist immer ein bisschen gemein, solche Forderungen abstrakt zu formulieren, ohne konkrete Handlungsimpulse zu geben. Das liegt natürlich daran, dass die Umsetzung von den je gegebenen Bedingungen und dem Reflexionsvermögen der Rezipienten abhängt. Bei entsprechend hohem Reflexionsvermögen könnte man sicher auch die genannte Arbeit von Šakir Gökćebağ zum Thema machen. Aber auch bei eingeschränkterem Abstraktionspotenzial lassen sich Denkkategorien offen legen, in dem man beispielsweise verschiedene Kunstwerke nach freien Kriterien sortieren lässt und diese »Ordnungen« hinterher einander gegenüberstellt (Sortieren wir nach »unsere Kultur« bzw. Sachen, die im Kunstmuseum hängen, und »fremde Kultur« bzw. Sachen, die im Völkerkundemuseum hängen, Sortieren wir chronologisch, nach Material, Farbe etc.).
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L iter atur Auer, Barbara (2016): www.swr.de/swr2/kultur-info/kultur-regional-kunstsakir-goekcebag-ausstellung-ludwigshafen//id=9597116/did=16828058/ nid=9597116/abf8mk/index.html, zugegriffen: 4.6.16. Gökćebağ, Šakir (2016): www.renk-magazin.de/sakir-goekcebag-die-magiedes-alltaeglichen/, zugegriffen: 4.6.16. Lutz-Sterzenbach, Barbara/Schnurr, Ansgar/Wagner, Ernst (2013): »Remix der Bildkultur – Remix der Lebenswelten. Baustellen für eine transkulturelle Kunstpädagogik« in: Barbara Lutz-Sterzenbach et al. (Hg.), Bildwelten remixed: Transkultur, Globalität, Diversity in kunstpädagogischen Feldern, Bielefeld, S. 14-23. Mecheril, Paul (2013): »Über die Kritik interkultureller Ansätze zu uneindeutigen Zugehörigkeiten – kunstpädagogische Perspektiven« in: Lutz-Sterzenbach et al. (Hg.), Bildwelten remixed: Transkultur, Globalität, Diversity in kunstpädagogischen Feldern, Bielefeld, S. 27-36. Schnurr, Ansgar (2013): »Fremdheit loswerden – das Fremde wieder erzeugen. Zur Gestaltung von Zugehörigkeiten im Remix jugendlicher Lebenswelten« in: Lutz-Sterzenbach et al. (Hg.), Bildwelten remixed: Transkultur, Globalität, Diversity in kunstpädagogischen Feldern, Bielefeld, S. 69-85. Schnurr, Ansgar (2014): »Uneindeutige Erbschaftsverhältnisse« in: Kunst + Unterricht 387/388, S. 74-79. Sowa, Hubert (2011): »Orientierung im weltkulturellen Horizont« in: Kunst + Unterricht 349/350, S. 4-13. Weber, Martina (2009): »Effi damals – Cemile heute?« in: Schüler 2009 (Migration), S. 14-15. Welsch, Wolfgang (1995). Transkulturalität. Resource document. www.foruminterkultur.net/uploads/tx_textdb/28.pdf. Welsch, Wolfgang (2009): »Was ist eigentlich Transkulturalität?« in: Darowska, Lucyna et al. (Hg.), Hochschule als transkultureller Raum, Bielefeld, S. 39-66.
»Wie ich mit Primanern Gemälde der Casseler Galerie besprach« Schulische Kunstbetrachtung im wilhelminischen Kaiserreich am Beispiel Wilhelm Fechner Andreas Zeising
I. »Wie ich mit Primanern Gemälde der Casseler Galerie besprach« lautet der Titel einer im Selbstverlag publizierten Schrift aus dem Umkreis der Lehrerbildung zur Zeit des wilhelminischen Kaiserreichs, die noch in erstaunlich vielen Exemplaren in wissenschaftlichen Bibliotheken greif bar ist (Fechner 1914). Der schmale Band erschien als Beilage zum Jahresbericht des Königlichen Friedrich-Gymnasiums in Kassel, einem der ältesten, bis heute bestehenden Gymnasien der damaligen Provinzialhauptstadt der preußischen Provinz Hessen-Nassau. Verfasser war der Gymnasialrat Wilhelm Fechner, dessen Name auf dem Buchtitel um den respektfordernden Titel eines Professors ergänzt wurde. Man muss darin nicht unbedingt ein Indiz sehen für die autoritätsgläubige Mentalität des deutschen Kaiserreichs und den Bildungsdünkel seiner bürgerlichen Eliten – über den sich nicht erst spätere Zeiten lustig machten, wie Heinrich Manns Romanfigur des »Professor Unrat«, die den Gymnasialprofessor als Inkorporation des deutschen Spießers vorführt, vielleicht am deutlichsten zeigt (Mann 1905). Die professorale Auszeichnung ist vielmehr auch Hinweis darauf, dass zu dieser Zeit zwischen Schuldienst und universitärer Wissenschaft noch keine letztgültige Trennscheide errichtet war. Fechner jedenfalls nahm es für sich in Anspruch, seine eigene schulpraktische Erfahrung und die wissenschaftliche Forschung seiner Zeit engzuführen, was sich nicht nur in der beeindruckenden Zahl von Fußnoten ausdrückt, mit denen er seinen Text versah. Wer also war Wilhelm Fechner? Spärliche Angaben liefert die Deutsche Nationalbibliothek, die weiß, dass Fechner 1873 geboren wurde und 1934 als
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Lehrer in den Ruhestand trat.1 Neben der genannten Publikation verfasste er in geringem Umfang Galerieführer und Heimatkundliches. Fechner war Gelegenheitsschreiber, der einen wissenschaftlichen Anspruch vertrat, dem es aber nicht darauf ankam, mit bahnbrechenden Einsichten aufzuwarten. Im Gegenteil baute das, was er schrieb, voll und ganz auf dem auf, was zu seiner Zeit in der noch jungen Disziplin Kunsterziehung Konsens war. Seine Ansichten, und gerade das macht sie interessant, spiegeln mithin das wider, was man den Alltag schulischer Kunsterziehung und Museumsvermittlung zur Zeit des Wilhelminischen Kaiserreichs nennen kann. Fechners Buch erschien im Frühjahr 1914, dem Todesjahr Alfred Lichtwarks, der im ausgehenden 19. Jahrhundert die moderne Kunstpädagogik begründet hatte und mit seinem Denken die zutiefst widersprüchliche Epoche Wilhelms II. maßgeblich prägte – widersprüchlich, weil damals bürgerlichliberaler Reformgeist, nationale Hybris und imperialistisches Machtdenken in höchst eigenwilliger Weise ideologisch amalgamiert wurden. Die Bedeutung Lichtwarks für die wilhelminische Epoche geht denn auch über die eines Begründers der modernen Kunstpädagogik, als der er langfristig in Erinnerung geblieben ist, hinaus. »Seine Bücher und Aufsätze waren wie Atemzüge frischer Luft, weil sie das Einfache und Selbstverständliche wieder in Erinnerung riefen«, hieß es später über die Wirkung, die der Hamburger Museumsdirektor auf Zeitgenossen ausübte (Scheffler 1948: 241). In Lichtwark besaß der Kreis bürgerlicher Verfechter der kulturellen Moderne nicht nur einen zentralen Stichwortgeber, sondern auch die Figur eines ›Erziehers‹, der die Herausbildung eines neuen, lebenskräftigen ›Typus‹ aus dem vitalen Quell ästhetischer Kultur zur Schicksalsfrage der Nation erhob, die, wie man meinte, nach dem Ende der Ära Bismarck in Spezialistentum und ungeistigem Materialismus zu versumpfen drohte. Es gehe um die »Gesamterziehung unseres Volkes« und damit um den »Deutschen der Zukunft«, hatte Lichtwark auf dem Ersten Deutschen Kunsterziehungstag verlauten lassen, der 1901 in Dresden stattfand: »Denn die Erneuerung der künstlerischen Bildung unseres Volkes ist in sittlicher, politischer und wirtschaftlicher Hinsicht eine der Lebensfragen unseres Volkes.« (Kunsterziehung 1902: 188) Selbstredend war 1914, das Jahr, in dem Fechners Büchlein erschien, auch das Jahr der europäischen Katastrophe. In einem Sammelband der von Lichtwark mitinitiierten Lehrervereinigung für die Pflege der künstlerischen Bildung in Hamburg konnte man 1901 unter der Überschrift »Was kann und soll die Schule für die künstlerische Erziehung tun?« das Folgende lesen: »Wir 1 | Siehe auch Album des Bonner Kreises. Als Handschrift gedruckt, 1854-1906, Bonn 1906, S. 53. Als Wohnsitz wird genannt Kassel, Angusta-Viktoria-Strasse 5. Der »Bonner Kreis« war eine philologische Gesellschaft, der Fechner, der in Essen geboren wurde, vermutlich seit seinem Studium angehörte.
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möchten in […] die Seelen unserer Kinder leiten einen neuen, starken, bewegenden Strom der Freude, jener Weltfreude, die in Schiller und Beethoven […] erbebte, und die unsere Nation zu einem Aufschwung begeistern könnte, der sie auch in Hinsicht der ästhetischen Kultur wieder neben und über die besten Völker des Erdkreises emportrüge.« (Ernst 1901: 15). Dreizehn Jahre später zog eine ganze Generation von Abiturienten, die zuvor die Schule der modernen Kunsterziehung durchlaufen hatte, im festen Glauben, über den ›besten Völkern des Erdkreises‹ zu stehen, in den Tod – womöglich auch jene Primaner, mit denen Wilhelm Fechner seine ästhetischen Betrachtungen durchgeführt hatte (140 Schüler des Kasseler Friedrich-Gymnasiums ließen im Ersten Weltkrieg ihr Leben).2 Man kann die Kunsterziehung nicht für die nationalistische Verblendung verantwortlich machen, die damals um sich griff. Dass Lichtwark indes nicht nur Lehrer, Professoren und Offiziere im Hinblick auf ihre erzieherische Vorbildfunktion auf eine gemeinsame Stufe stellte (vgl. Präffcke 1986: 278), sondern insbesondere Letzterem auch jene »ästhetischen Qualitäten der Korrektheit und der strengen äußern Zucht« (Lichtwark 1906: 18) attestierte, auf die es erzieherisch hinzuwirken gelte, zeigt, wie nahe sich im Reformdiskurs des späten Kaiserreichs die Sphären von Ästhetik, Bildung und Staatsräson standen. Wilhelm Fechner, das soll im Folgenden gezeigt werden, machte darin keine Ausnahme. Die Verpflichtung auf das Vorbild Lichtwarks deutet sich im Titel von Fechners Schrift an, in dem natürlich dessen zuerst 1897 veröffentlichte, ursprünglich als Handreichung für die Hamburger Lehrerschaft konzipierten »Übungen in der Betrachtung von Kunstwerken« anklingen (Lichtwark 1906). Dabei handelt es sich um eine Sammlung protokollierter »Bildbetrachtungen«, die Lichtwark mit Schülerinnen eines Hamburger Mädchengymnasiums vor Originalen der Hamburger Kunsthalle durchgeführt hatte. Der Geist des Auf bruchs und der Erneuerung, der die von Lichtwark mitbegründete Kunsterziehungsbewegung beflügelte, spricht zudem deutlich aus Fechners theoretischer Einleitung, die als Quintessenz der Reformbewegung seit 1900 gelten kann (vgl. Skladny 2009: 159-241; Skiera 2009: 138-162; Hein 1992). Wie vor ihm bereits Lichtwark, Konrad Lange, Johannes Volkelt und andere, berief sich Fechner auf den deutschen Idealismus, wenn er künstlerische Bildung als Erziehung zur ›Persönlichkeit‹ verstanden wissen wollte, die ein Gegengewicht zur einseitig rational-gedanklichen Betätigung darstellte, welche nach verbreiteter Ansicht die kulturelle Moderne diktierte. Zur Wiedergewinnung einer durch zivilisatorische Entfremdung verlorenen seelischen Ganzheit bedurfte es zuvorderst der Ausformung einer ›inneren‹ Persönlichkeit, die vor allem anderen eine Kultivierung der sinnlichen Empfindungsfähigkeit zur Voraus-
2 | URL www.fg-kassel.de/schule/geschichte.
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setzung hatte. »So ist also der kunsterzieherische Gedanke ein Teil des Kulturproblems«, fasste Fechner die Problemlage zusammen (Fechner 1914: 2). Fechner rekapitulierte die Ziele der Reformbewegung, wenn er die Leser einleitend in Kenntnis setzte, dass Kunst nicht etwa als »Luxusgegenstand« einer gebildeten Elite oder als geistiges Tafelsilber zu betrachten sei, sondern als »unentbehrliche Ergänzung unseres unvollkommen Daseins« in den Alltag hineinwirke (ebd.: 1). Vermittle sie doch »Anschauungen und Gefühle, die der gewöhnliche Kulturmensch, besonders in der Großstadt, unter den gegenwärtigen Verhältnissen überhaupt nicht erleben kann« (ebd.). In einer Zeit einseitiger Verstandestätigkeit, die mit ihrer Aufhäufung von ›Bildung‹ eine zunehmende Verkümmerung der Phantasie bewirkt habe, versprach die Beschäftigung mit der Kunst eine dringend nötige Steigerung der »Genussfähigkeit« und eine »Vertiefung des Lebens« (ebd.: 3), so Fechner; ja sie wirke »auf unsere Willens- und Charakterbildung« (ebd.: 1) und befördere mithin das, was die Bezeichnung Reifezeugnis nach damaliger Auffassung recht eigentlich bescheinigte. Zu den Ahnherren dieser vitalistischen Rettungspädagogik gehörte neben Friedrich Nietzsche auch der »Rembrandtdeutsche« Julius Langbehn, dessen dubioser Bestseller »Rembrandt als Erzieher« seit den 1890er Jahren zum Grundbuch einer kulturkonservativen Modernekritik avanciert war, die materialistisches Zweckdenken, Fortschrittsgläubigkeit, Kosmopolitismus und Vermassung als Ursache kultureller Entwurzelung ausmachte (Langbehn 1890; vgl. Behrendt 1999). Fechner erwähnte es lobend in einer Fußnote. Nicht zufällig stellte Fechner seinem Buch die Goethe-Maxime »Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt« voran. Denn für die Augen- und Gefühlserziehung, um die es ging, war aus naheliegenden Gründen allein das künstlerische Original prädestiniert, ging es doch um eine Begegnung mit dem Echten und Unverfälschten, das ausschließlich vermittels einer Betrachtung »von Angesicht zu Angesicht«, so Lichtwark (1906: 30), zu erreichen sei. Fechners Ansatz war einer Vorstellung vom Museum als ›Lernort‹ verpflichtet, die sich damals gerade erst Bahn brach. Nach Vorstellung der Reformer sollte der angestammte Bildungstempel nicht länger eine Grabstätte der Kunst, sondern ein lebensspendender Quell der Anschauung sein. Seit der Mannheimer Fachtagung »Die Museen als Volksbildungsstätten« von 1903 bemühte man sich denn auch vielerorts darum, durch breitenwirksame Vermittlung auch den kunstfern sozialisierten Laien an die ›Originale‹ heranzuführen (vgl. Joachimides 2001). Nicht zuletzt schlug sich das volkserzieherische Engagement in vielfältigen Kooperationen zwischen Museen und Schulen nieder. Die Modernität solcher Ansätze wird deutlich, wenn man sie der Konzeption der Kasseler Galerie konfrontiert, in die Fechner seine Schüler führte. War doch das Galeriegebäude an der Schönen Aussicht, in das man 1877 die ehemalige Gemäldesammlung der Landgrafen von Hessen-Kassel überführt
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hatte, ein geradezu mustergültiger Museumsbau der Gründerjahre.3 Raumabfolge und Hängesystematik waren hier auch 1914 noch ganz der akademischen Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts und ihrer Einteilung in Schulen, Länder und »Meister« verpflichtet. Die Kasseler Galerie präsentierte sich als aufgeschlagenes Buch, in dem die Kunstgeschichte einstudiert werden konnte. Ganz anders die von Lichtwark anregte Auseinandersetzung, die gerade kein Lehrbuchwissen vermitteln wollte, das nun im Ruf stand trocken, akademisch und geisttötend zu wirken. Wenn die Begegnung mit der Kunst die ihr zugeschriebene Wirkung entfalten sollte, dann konnte es keinesfalls um Vermittlung von Kunstgeschichte gehen, ja diese war sogar »direkt schädlich« (Fechner 1914: 3), wie Fechner seinen Schülern denn auch mit einigem Nachdruck klarmachte: »L[ehrer]: Welche Fragen stellen wir also nicht, die man gewöhnlich zuerst stellt, wenn man eine Galerie oder eine Kunstausstellung besucht? Sch[üler]: Die Frage nach dem Namen des Künstler und des Bildes. L: Warum tun wir das nicht? Sch: Weil es nicht die Hauptsache ist. L: Was ist denn die Hauptsache? Sch: Die Hauptsache ist das Werk selbst. L: Es handelt sich eben bei der Beschäftigung mit der Kunst weniger um ein Wissen von Namen und Zahlen, um Kunstgeschichte, sondern im Mittelpunkt steht das Werk selbst.« (Ebd.: 6f.)
Mochte es letztlich auch darauf ankommen, dass die Schüler begriffen, worin sich Renaissance von Barock und deutsche von italienischer Kunst unterschieden, so sollten sie diese Erfahrung doch nicht im Stilparcour der Kunstgeschichte, sondern durch das intensive Erlebnis des Einzelwerks gewinnen, das als ›Persönlichkeit‹ erfahren und im Dialog begriffen werden wollte. »Die Hauptsache bleibt, dass das Kunstwerk nicht als Illustration zu einem kunstgeschichtlichen Vortrag oberflächlich angesehen wird, sondern Ausgang und Endziel einer eingehenden Betrachtung bleibt, bei der das kunst- und kulturgeschichtliche Element als möglichst einschränkende Zuthat ganz zurücktritt. Es muss immerwährend mit dem Auge gearbeitet werden«, so drückte Lichtwark es aus (1906: 32).
3 | Vgl. URL www.museumsgeschichte.uni-kassel.de/das-monumentale-museum-des19-jahrhunderts.
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II. In der Einleitung zu seinen »Betrachtungen« hatte Lichtwark sich gegen jede Form von Doktrin und Drill ausgesprochen; die Schüler gelte es nicht zu belehren, sondern ohne Zwang zu eigenen Einsichten zu führen. Lichtwark wollte keine passiven Zuhörer, sondern strebte eine dialogische Vermittlung an, welche die Betrachtung aktivieren sollte. In diesem Ansatz verband sich die althergebrachte Tradition des Galeriegesprächs mit einer Gesprächspädagogik, die auf den Zusammenhang von Sehen, Sprechen und Erkennen setzte (vgl. Penzel 2007: 362-367). »Nur eine leise Nachhilfe fällt dem Unterrichtenden zu, die Hauptsache aber bleibt das, was aus dem Kunstwerk unmittelbar zu dem betrachtenden Schüler spricht. Nur das Interesse soll unmerklich geweckt und das Kind allmählich gewöhnt werden, das einzelnen Kunstwerk genau und ruhig anzusehen«, so fasste später der Pädagoge Johannes Richter Lichtwarks Ansatz anerkennend zusammen (Richter 1909: 182). Das alles klingt nach einer sensibilisierenden Begeisterungspädagogik, wie sie heute die Museumsvermittlung charakterisiert – und war doch weit davon entfernt.4 Weder Lichtwark noch Fechner lösten den selbstgesetzten Anspruch ein. Liest man Lichtwarks »Übungen« aus der historischen Distanz, so frappiert ihr belehrender Ton und ein durchgängig eindimensionaler FrageAntwort-Stil, dem Irene Below zurecht eine verkappt autoritäre Tendenz bescheinigt hat (Below 1975). Gleiches lässt sich auch über das Buch von Wilhelm Fechner sagen, zu dem ich jetzt zurückkomme. Nach der theoretischen Einleitung gliedert sich Fechners Schrift in zwei Haupteile. In einem ersten Teil protokollierte er die Gespräche, die er mit den Schülern in der Kasseler Galerie führte; der zweite– ich komme darauf zurück – behandelte ergänzende Unterrichtsstunden in der Schule. Wie Fechner einleitend erläuterte, verbrachte er mit seinen Primanern insgesamt fünfzehn Unterrichtstunden in der Kasseler Galerie, was für eine Ausdauer spricht, die heutigen Schülern wohl kaum zuzumuten wäre. Sämtliche Übungen vor Bildern galten dabei Werken der niederländischen Malerei des 17. Jahrhunderts, von denen die Mehrzahl der Gattung Genre- oder, wie man damals sagte, dem »Sittenbild« zuzurechnen sind. Wie sich diese Auswahl bestimmte, erläuterte Fechner nicht. Auffallen muss auch, dass Aspekte, die nach heutigem Ermessen grundlegend für die gruppenpädagogische Arbeit sind – so die Konstituierung der Gruppe, ihre Kommunikationsbereitschaft und die Persönlichkeit der Teilnehmer –, bei Fechner mit keinem Wort erläutert werden. Offensichtlich, so muss man vermuten, wollte er die Schüler als abstrakte Probanden 4 | Den Ausdruck »Begeisterungspädagogik« entlehne ich Volkelt (1911: 60f.), der damit die Kunsterziehungsbewegung der Jahrhundertwende in kritischer Absicht charakterisiert.
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verstanden wissen – ein autoritativer Gestus, der in bemerkenswertem Widerspruch zu der Tatsache stand, dass doch Schulung der ›Persönlichkeit‹ im Mittelpunkt stehen sollte. Wie sich hier bereits andeutet, verstand sich Gesprächsführung bei Fechner vor allem als ›Führung‹. Schon der äußerlichen Form nach fällt auf, dass der Kasseler Gymnasialrat bei der Protokollierung ganz dem Vorbild Lichtwarks folgte. Unabhängig davon, wie sich der Verlauf der Gespräche vor Ort tatsächlich gestaltet haben mochte, verwendete Fechner bei ihrer Wiedergabe ein rigoroses Frage-Antwort Schema, das einen vollkommen linearen Verlauf suggerierte. Der hierarchischen Lehrer-Schüler-Situation, wie Fechner sie wiedergab, entsprach auf einer formalen Ebene die Auseinandersetzung mit dem Bildwerk, die einem vorgegeben und wiederholt durchexerzierten Schema folgte: 1. »Was sehen wir auf dem Bilde? 2. Was bedeutet das Bild? 3. Was gefällt uns an dem Bilde?« (Fechner 1914: 6)
Auffällig ist die strikte Stufenfolge, bei der Ästhetik und individueller Eindruck hinter der Erfassung des empirischen Bestands zurückgestellt werden, der von den Schülern zunächst in minutiöser Kleinarbeit zu erarbeiten war. Zwar sollte es in der ›Begegnung‹ mit dem Kunstwerk nicht um ›abstraktes‹ Faktenwissen, sondern um die Auseinandersetzung mit dem Gesehenen gehen; doch bedeutete das für Fechner keinesfalls, subjektiven Empfindungen freien Lauf zu lassen. Stattdessen unterzog er seine Schülergruppe einer Befragung, deren disziplinierter Ablauf etwas Militärisches hatte. Ich greife nur ein einziges Beispiel heraus, nämlich Jan Steens »Bohnenfest« aus dem Jahr 1668, eines der populärsten Bilder der Kassler Galerie: »L: Wer bildet nun auf unserm Bild den Mittelpunkt der linken Gruppe? Sch: Ein Kind. L: Beschreiben Sie das Kind genauer, und zwar nach zwei Gesichtspunkten. 1. Was hat es an? 2. Was tut es? Sch: Es hat Schuhe an und lange Strümpfe, über dem Hemd trägt es einen offenen Kittel, auf dem Kopf eine Art Papierkrone, es steht auf einem Tischchen, eine alte Frau gibt ihm aus einem Glase Wein zu trinken L: Achten Sie auf die Farbe des Kittels. Sch: Sie ist gelblich. L: In der Nähe finden sie ähnliche Farben, nennen Sie diese. Sch: Die Haare des Kindes, Kleid und Jacke der sitzenden Frau, Korb und Kleid des kleinen Mädchens hinter dem Jungen etc.« (Ebd.: 8)
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In diesem Stil gestaltete sich auch der weitere Fortgang der ›Bildbetrachtung‹. Dass alles hatte sich natürlich nicht so abgespielt, gab aber doch nach Fechners Auffassung den Idealfall einer Lehrsituation wieder, die die Schüler zur eigenen ›Einsicht‹, sprich: zu ›richtigen‹ Antworten führen sollte. Alternative Sichtweisen oder gar offene Diskussionen waren nicht vorgesehen und werden daher im Protokoll allenfalls mit Bemerkungen angedeutet wie ›Die Schüler nennen verschiedene Möglichkeiten‹ oder ›es werden unterschiedliche Antworten genannt‹. Im Grunde fehlte dem ›Gespräch‹, das Fechner führte, alles, was eine an Habermas geschulte Betrachtungsweise als ›Diskurs‹ bezeichnen würde, also eine um Verständigung bemühte Form des gemeinsamen kommunikativen Austauschs. Wie Lichtwark und andere vertrat Fechner die Auffassung, den in Kunstdingen unerfahrenen Schülern sei durch Schärfung der Beobachtungsgabe zunächst ein propädeutisches Fundament voraussetzungloser Anschauung zu vermitteln. Ähnlich positivistisch verfuhr er, wo es um die eigentliche ›Bedeutung‹ des Bildes ging. In stupidem Frage-Antwort-Stil, der die Betrachtung zum Quiz und Detektivspiel werden ließ, unternahm Fechner es, den Probanden auch hier die ›richtigen‹ Antworten abzufordern: Was stellt das Bild dar? Wer ist das? Woran erkennt man das? Mochte die Bilderzählung von Steens »Bohnenfest« auch »durchaus lustig« sein (ebd.: 9) – die Art der Befragung war es sicher nicht. »Katechesen«5 dieser Art waren im Gegenteil dazu geeignet, Spontaneität und Entdeckungslust im Keim zu ersticken, »verwandt mit jenen schrecklichen Geduldsspielen, bei denen ein Kügelchen durch eine Öffnung gebracht werden soll, an der es immer vorbeirollt«, wie ein Kritiker solcher Exerzitien 1910 zurecht monierte (Rist 1912: 9). Das vielzitierte ›Sehen-Lernen‹ war für Fechner ein progressives Fortschreiten, das dem Schüler zunächst Frondienste auf dem Acker positivistischer Beobachtung abforderte, bevor als ›höheres‹ Ziel das Vordringen zu den ›seelischen‹ Gehalten verlockte. Erst auf der dritten Stufe der Betrachtung richtete die Frage »Was gefällt uns an dem Bilde?« den Blick auf genuin ästhetische Qualitäten: »Durch Fragen wird nun festgestellt: Die Vorzüge des Bildes, das, was uns gefällt, liegt zunächst in den Farben, in der Frische und Leuchtkraft der Farben, in der Zusammenstellung der Farben […], kurz in der Farbenfreudigkeit. Sodann in dem Licht, in der Verteilung des Lichts, namentlich bei den Gewändern […], in dem Spiel des Lichts auf den Gegenstände, auch das Goldgelbe des Tons kommt dazu« (Fechner 1914: 14).
5 | So äußerte sich 1902 in kritischem Tenor Artur Seemann über Lichtwarks Methode. Zit.n. Uphoff (2002: 152).
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Unter Hinweis auf die Zola’sche Maxime »Kunst ist Natur, gesehen durch ein Temperament« (ebd.: 15), versuchte Fechner den Schülern die Delikatesse von Lichtführung und Farbharmonie zu verdeutlichen, durch die Steens Gemälde, ungeachtet seines profanen Sujets, einen Grad an »Lebendigkeit«, »Natürlichkeit« und »Wirklichkeitssinn« (ebd.: 14) aufwies, das es den Leistungen des modernen Impressionismus ebenbürtig machte. Ähnliche formalistische Betrachtungsweisen zeigen auch andere Übungen des Buches, etwa vor Terborchs »Lautenspielerin«: »Das Wesentliche ist die Schönheit der Farbe und die kunstvoll gestimmte Farbharmonie von Weiß und Gelb, dazu kommt die Kunst, die Stoffe, Seide und Atlas, wiederzugeben. […] Sie sehen schon an diesem Bilde – das ist auch eine Eigentümlichkeit mancher moderner Bilder –, daß ein Bild auch ohne Inhalt, allein durch das Was und Wie, seine Form, ein Kunstwerk sein kann. Ja, das Wie ist das eigentlich Künstlerische.« (Ebd.: 17)
All das hatte nichts mehr mit der detektivischen Observation zu tun, von der die Bildbetrachtung ihren Ausgang genommen hatte. Es war ein Aufschwung in ein bürgerliches l’art pour l’art, das den höchsten Kunstgenuss als Stimulation durch sensualistische Empfindungsreize definierte. Was Fechner seinen Schülern zu vermitteln suchte, war die Vorstellung, der wahre Kunstfreund habe sich über die materialistischen Schlacken des erzählerischen Gehalts zu erheben, um aus der »Schönheit der Form« (ebd.: 26) gesteigerten Selbstgenuss zu ziehen: »So erhöhen wir in edler Weise durch die Beschäftigung mit der Kunst unsere Freude am Leben, unserem Lebensgenuß, denn dies ist etwas Höheres und Edleres als jener Genuss, den so viele Leute haben oder sich einbilden zu haben, wenn sie politisierend hinter dem Bierkrug sitzen.« (Ebd.: 17)
III. Doch das war noch nicht alles. Nicht zuletzt ging es Fechner darum, den jugendlichen Kunstbetrachter dahin zu bringen, »die Kunst seines eigenen Vaterlandes kennen und lieben« zu lernen (ebd.: 3). Bereits Lichtwark hatte insistiert, die schulische Kunstbetrachtung müsse sich vorrangig den »germanischen Meistern« (Lichtwark 1906: 33) widmen, um der leidigen deutschen Vorliebe für alles Artfremde und Ausländische zumindest auf dem Gebiet ästhetischer Kultur einen Riegel vorzuschieben. Im Hinblick auf »die berechtigte Forderung, die deutschen Meister voranzustellen« (Fechner 1914: 4), hielt Fechner die Kasseler Gemäldegalerie für den geeigneten Ort, auch wenn sie überwiegend niederländische Malerei präsentierte. Zeigte nicht das Beispiel Langbehns, dass der ideelle Raum der Kultur nicht durch geografische Gren-
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zen, sondern durch volkhafte Zugehörigkeit bestimmt wurde? So betrachtet, konnte bei Fechner selbst ein Maler wie Jan Steen zum Exponenten der »germanischen Kunst« (ebd.: 8) avancieren, was sich in seinem Fall, wie Fechner den Schülern darlegte, in einer Liebe zum Detail äußere, »denn nichts ist [dem Germanen] so unbedeutend, daß der Künstler sich nicht in seinen Anblick vertiefte und es dann mit Liebe wiedergäbe« (ebd.: 8). Auch liebe der »Germane« bekanntlich Tiere, wie das Beispiel Jan Steen zeige; »der Romane aber ist ein Tierquäler, ihn verbindet keine nähere Beziehung mit seinem Tiere, genau wie den Orientalen« (ebd.: 12). Manch einer der Primaner mag sich an dieser Stelle wohl gefragt haben, was das noch mit Kunstbetrachtung zu tun hatte. Noch abstrusere Formen nahm der Anschauungsunterricht in deutscher Wesenskunde im zweiten Teil der Bildbesprechungen an, die Fechner im Anschluss an die Museumsbetrachtungen in die schulischen Unterrichtsräume verlegte, um die Schüler dort mit Hilfe der Bildmappen des »Kunstwarts« eingehender über das Schönheitsideal der »germanischen« Kunst ins Bild zu setzten. Die Schüler, so drückte Fechner es wörtlich aus, sollten »Geschmack bekommen am kräftigen Schwarzbrot echter Kunst« und »für ewig von dem Wahn befreit werden, es sei die Aufgabe der Kunst, nur das rein formal Schöne, die vollkommene Form darzustellen« (ebd.: 3). Kunstbetrachtung war für Fechner Geschmackserziehung, die den jungen Erwachsenen bildungsmäßig antrainierte Vorurteile, ja womöglich eine gewohnheitsmäßige »Vorliebe für das Platte und Süßliche« (ebd.) auszutreiben hatte. Denn erst dann – und dies war eine wichtige Pointe – werde bei ihnen »die Liebe schon wachsen für die Kunst unseres eigenen Volkes, für das Kunstideal der germanischen Kultur mit ihrer nicht selten abstoßenden Häßlichkeit.« (Ebd.) Man muss Fechners Äußerungen lesen vor dem kulturellen Hintergrund der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg. Klingt in ihnen doch die damals auch im Zeitkontext der expressionistischen Avantgarde gemachte ›Entdeckung‹ der nationalen Kunstgeschichte an, deren vermeintlich urdeutsche Ausdrucksqualitäten sich, wie man meinte, von der Glätte der lange Zeit zum Bildungsideal erhobenen Klassik signifikant unterschied. Doch ging es Fechner nicht allein um die vermeintlichen Wesensmerkmale deutscher Kunst – Gemüt, Ausdruck, Seelentiefe, Innerlichkeit, Wirklichkeitssinn –, welche die populäre Kunstgeschichte schon seit der Zeit um 1900 dekliniert hatte. Es ging auch um die volkhafte Zugehörigkeit des Künstlers zu einer »größeren Gesamtheit«: »Um also ein Kunstwerk, einen Künstler wirklich zu verstehen, müssen wir den allgemeinen Zustand der Sitten, des Geistes seiner Zeit und seines Volkes erkennen.« (Ebd.: 22) Mit diesem Ansatz emanzipierte sich Fechner dezidiert von den vornehmlich an Jüngere adressierten Lichtwark’schen »Übungen«. Seine Bildbetrachtungen waren für junge Erwachsene konzipiert, die als zukünftige Elite nicht nur zu kultiviertem Habitus, sondern auch zu einer Staats-
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bürgerlichkeit zu erziehen war, die sich durch verantwortungsvolle Empathie den unteren Klassen gegenüber auszuzeichnen hatte. Daher richtete Fechner in den abschließenden Betrachtungen das Interesse noch einmal dezidiert auf die Kunst der neueren Zeit, auf Künstler wie Knaus, Vautier, Defregger, Leibl, Millet und Uhde. Wie schon in der Kasseler Galerie, entstammen die gewählten Beispiele fast alle dem Bereich der »Bauernmalerei« (ebd.: 33) und demjenigen des volkstümlichen oder realistischen »Sittenbildes«. Millets Bauern und Meuniers monumentale Darstellungen von Lohnarbeitern, so erläuterte Fechner den angehenden Abiturienten, brachten künstlerisch ein Ethos der Arbeit zum Ausdruck, »das die Menschheit groß gemacht hat in den Jahrtausenden ihrer Entwicklung« (ebd.: 34). Denn hier war nichts geschönt, weder »das Tierische im Ausdruck« (ebd.: 35) noch die Drastik ausgemergelter Gesichter, die zwar »wie eine Anklage gegen uns alle« wirkten, letztlich aber doch, so Fechner, vor allem von der »Größe« und dem »Adel, der in jeder Arbeit wohnt« (ebd.: 36f.), zeugten. Es war zeitbedingt, dass Fechner 1914, auf dem Höhepunkt des wilhelminischen Industriekapitalismus, der Kunstbetrachtung die Aufgabe zuwies, die Schüler nicht nur zu patriotischem Denken, sondern auch zu einem Ethos des sozialen Friedens zu erziehen, wie es der preußisch-deutschen Sozialgesetzgebung zu Grunde lag: »›Fühlet sozial‹. Auch die Bauern, auch die Arbeiter, beide sind Glieder eines Volkes, Kinder derselben Mutter, die uns alle nährt, und der wir so vieles zu danken haben. Söhne der mächtigen, starken, stolzen Mutter Germania.« (Ebd.: 38) Angesichts der nach wie vor virulenten »Sozialen Frage« und dem Machtzuwachs der Sozialdemokratie wurde Kunstbetrachtung hier zum Mittel, die klassenbedingte Kluft zwischen den Gebildeten und dem Proletariat wenn schon nicht politisch, so doch zumindest gedanklich zu überwinden. Letzlich zeigt die Rede vom ›Adel der Arbeit‹, wie sehr die gymnasiale Kunstbetrachtung in der Aufgabe aufging, das »geistige Fundament der politisch-sozialen Führungsschicht« (Nipperdey 1994: 547) zu vermitteln.
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Technische und ästhetische Sachlernprozesse im Museum als Ausgangspunkt kultureller Bildung für Grundschulkinder Swaantje Brill/Susanna May-Krämer/Andreas Nießeler/Bernd Wagner Das Museum für Gegenwartskunst (MGK) in Siegen und der Arbeitsbereich Sachunterricht und seine Didaktik arbeiten seit April 2015 in einer regionalen Forschungspartnerschaft. Das ethnographische Forschungsprojekt Kulturelle Bildung und ästhetische Sachlernprozesse in den Sammlungen des Museums für Gegenwartskunst, an dem auch Prof. Dr. Andreas Nießeler und Susanna May-Krämer von der Universität Würzburg beteiligt sind, begleitet Siegener Grundschulklassen im integrativen Sachunterricht. Das Projekt untersucht anhand von zwei aufeinander bezogenen Teilstudien, wie Sachlernprozesse anhand von Sammlungsobjekten im schulischen und außerschulischen Sachunterricht gestaltet werden können. Es geht um die Verknüpfung von naturwissenschaftlich-technischem Lernen beim Kennenlernen und Erproben von Grundlagen der Gebäudestatik und gesellschaftswissenschaftlich-ästhetischem Lernen beim Philosophieren mit Kindern zu Gebäuden. Thematisiert werden Perspektiven kultureller Bildung ausgehend von Sammlungsobjekten im Museum. Einerseits geht es um den Aufforderungscharakter (Norman, 1999) von Dingen, die zum Erproben und Nachdenken anregen. Andererseits ist die subjektive Sicht von Kindern auf Dinge wichtig, die durch erziehungswissenschaftliche Zugänge freigelegt werden kann. In den zwei aufeinander bezogenen Teilstudien werden mit Bezug auf die pädagogische Anthropologie ethnographisch körperbezogen-performative und assoziativ-kognitive Dimensionen objektbezogener Auseinandersetzungsformen von Grundschulkindern untersucht.
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K ulturelle B ildung im M useum Sachunterricht thematisiert vielperspektivische Zugänge zur Welt und integriert natur- und gesellschaftswissenschaftliche Herangehensweisen. Eine wichtige Aufgabe des Grundschulfaches ist es, Erfahrungen im Umgang mit kulturellem Erbe zu ermöglichen. In musealen Sammlungsobjekten sind Perspektiven auf und Konzepte von Kultur materialisiert. Sie ermöglichen Zugänge zu einer greif baren Geschichte der Kultivierung und sind geeignete Medien für kulturelle Bildungsprozesse. Kulturelle Bildung mit Schülerinnen und Schülern wird bisher vorrangig auf Kunst, Musik und Theater bezogen. Es sind mehrere Forschungsförderprogramme dazu aufgelegt worden. Da kulturelle Bildung einerseits als intrasubjektiver, unverfügbarer Prozess anerkannt bzw. gestärkt werden soll, andererseits in ihrer Wirkung nachgewiesen werden soll, stellen sich im Untersuchungsfeld noch vielfältige forschungsmethodische Schwierigkeiten. Die bisherigen Ergebnisse der Studien zeigen objektbezogene Auseinandersetzung von Grund- und Vorschulkindern und verweisen darauf, wie diese Interaktionen mit Lernprozessen verknüpft sind. Die sachunterrichtsdidaktischen Forschungsprojekte zu Sammlungsobjekten zeigen Möglichkeiten der Erweiterung des Diskurses um Kulturelle Bildung an Schulen auf Artefakte oder genauer auf Sammlungsobjekte.
F r agestellung und F orschungsdesign Nach mehreren Besuchen und der Sichtung der Sammlung im Museum für Gegenwartskunst (MGK) ist ein vielperspektivisches Angebot zum Thema Gebäudekonstruktion (Architektenkammer 2014) geplant worden, das in der Lebenswelt der Kinder in Form von Fachwerkhäusern erfahrbar ist. Das Thema ermöglicht technisches Lernen (insbesondere im Kontext von Konstruktion und Statik), regionalgeschichtliches Lernen (zur Entstehung und Nutzung von Fachwerkbauten im Rahmen der Industrieentwicklung im Siegerland) und ästhetisches Lernen, indem Sehgewohnheiten hinterfragt sowie Techniken und Strukturen der Bild- und Fotobearbeitung anhand der Sammlungsobjekte im Museum thematisiert werden. Teilstudie 1: Die Forschergruppe hat vier Siegener Grundschulklassen bei der Entwicklung von Konzepten zur Konstruktion und der Konstruktion von unterschiedlichen Gebäuden ethnographisch begleitet. Die Videoethnographie hat umfangreiches Datenmaterial bereitgestellt, das methodisch angelehnt an die Grounded Theory ausgewertet wird. Beim Sichten des videoethnographischen Materials ist in der ersten Teilstudie insbesondere die Bau- und Konstruktionsphase im Museum in Bezug auf handlungsbezogene Interaktionen untersucht worden, die Rückschlüsse auf den Umgang mit dem Baumaterial
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sowie Gebäuden und ihrer Konstruktion geben. Während der Sequenzierung des Filmmaterials wurden Reflexionen, Gedanken und erste Hypothesen von den Forschenden in Form von Memos festgehalten (Strauss & Corbin 1996). In mehreren Sequenzen beobachtbare Handlungsverläufe sind interpretativ im Sinne des offenen Kodierens (vgl. Muckel 2007) bearbeitet worden. Die in den offenen Kodierungen zusammengefassten Filmsequenzen sind tabellarisch zusammengestellt und detailliert ausgewertet worden. Das Forscherteam hat im Videomaterial erkennbare Handlungsverläufe in Bezug zu situativen Bedingungskontexten gesetzt. Filmsequenzen mit vergleichbaren Handlungsverläufen sind im Sinne des axialen Kodierens präziser eingegrenzt und für die Generierung von Theorien zum Praxisfeld genutzt worden. Beide Studien haben mit dem Videomaterial gearbeitet und dies nach den jeweiligen Schwerpunktsetzungen ausgewertet. Teilstudie 2: In philosophisch orientierten Gesprächskreisen wird die Auseinandersetzung mit den Sammlungen und mit dem didaktischen Material des Museumskoffers nicht nur handelnd-interaktiv, sondern auch kognitivassoziativ und symbolisch in Szene gesetzt. Dabei eröffnet die spekulative Methode des Erfindens, Entwickelns und Entdeckens von Prinzipien über Gedankenexperimente nach Martens (2003) einen vielperspektivischen Zugang zum Konstruieren, welcher neben technisch-physikalischen Aspekten auch ethische und ästhetische Sichtweisen berücksichtigt. In der zweiten Teilstudie liegt der Fokus auf Perspektiven der teilnehmenden Kinder beim sprachlichassoziativen Philosophieren und bei Formen symbolischer Weltaneignung.
D ie videoe thnogr aphische Teilstudie zum B auen und K onstruieren In der Kindheitsforschung (vgl. Heinzel 2010) liegen bereits umfangreiche Studien dazu vor, wie Kinder als Akteure Lernprozesse organisieren, die performativen Charakter haben können. Performativen Lernformen können als inszenatorische, soziale Handlungspraxen verstanden werden, die sich z.B. in spontanen objektbezogenen Auseinandersetzungen im Museum manifestieren (vgl. Wagner 2013). Das videoethnographische Datenmaterial zeigt viele Materialerprobungen von Kindern. So werden, ausgehend von Vorerfahrungen mit dem Material (Strohhalme, Pappstreifen, Holzstäbe, PlayMais und Kreppband), Stützen durch die Umwickelung von Pappstreifen hergestellt und Verbindungstechniken beim Konstruieren entwickelt.
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Abb. 1: Kind beim Konstruieren; Foto: Brill. Zunächst tritt jedoch der Aspekt der Stabilität in den Hintergrund, die am Sample beteiligten Grundschulkinder beziehen sich vorrangig auf ästhetische Merkmale. Dies wird deutlich, wenn Kinder zunächst das Material nach Farben oder Form wählen, es gezielter für ästhetische Verzierungen und weniger unter Stabilitätsgesichtspunkten zur Aussteifung einsetzen. Der Spaß am fantasievollen Entwerfen, etwa von Rutschen, die vom Dachboden bis in ein Kellerschwimmbad reichen oder großen Spielflächen und deren farbenfrohe Gestaltung stehen im Vordergrund. Oft werden konstruktive Aspekte erst im Nachhinein aufgegriffen, sie erscheinen nebensächlich. Die Aspekte der Stabilität, so zeigt sich im Material, sind für die Grundschulkinder aber nicht ganz unwichtig. Bei anspruchsvolleren Konstruktionen, wenn ihre Gebäude an Höhe und Materialgewicht zunehmen, kommt der stabilen Bauweise mehr Bedeutung zu, denn die entstehenden konkreten statischen Probleme verlangen technische Lösungen. Sie erfordern eine neue und veränderte Nutzung von Materialien und deren Eigenschaften. Stabilitätsgebende Bauweisen werden dabei situativ entwickelt und getestet, das Material nimmt an dieser Stelle einen verstärkten Einfluss auf die Bauweise. Die Videodaten zeigen zudem, dass die am Sample beteiligten Kinder dem Präsentieren von Objekten eine besondere Bedeutung beimessen. Wie in mehreren Filmsequenzen zu beobachten, werden die Bauwerke von den Kindern nach bestimmten Kriterien im Raum platziert. Es lassen sich mehrere Situationen erkennen, in denen Kinder ihre Gebäude in Relation zu anderen Gebäuden sehr bewusst platzieren, umstellen und ausrichten. Beispielsweise beschäftigt sich eine Gruppe von drei Jungen damit, ihre Bauwerke nebeneinander aufzustellen, deren Höhe zu
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vergleichen und einen »Meister« zu ermitteln. Während der Präsentationen werden soziale Beziehungen zwischen den Konstrukteuren der Bauwerke verhandelt, wie auch folgende kurze Transkription aus dem Videomaterial zeigt: EJ: Jetzt suchst du dir einen schönen Platz aus, weil wir hier so ein kleines Dorf aufbauen. Ok? Kannst es auch nochmal umstellen … (W01 will ihr Bauwerk abstellen) W03: Nein, das geht nicht. Das kann man auch hier hin machen. W01: Ok, dann tu ichs wo anders hin. W03: Mimi, das ist zu nah. Mimi, hier ist der perfekte Platz. (…) Und Tina, du kannst neben mir. Die Beispiele geben Hinweise darauf, dass genderbezogene Umgangsweisen beim Präsentieren mit geübt bzw. performativ aufgeführt werden. Während die Jungen ihren Bauwerken eine wettkampfähnliche Rangordnung zuweisen, handeln die Mädchen die Präsentation aufgrund von sozialen und ästhetischen Merkmalen aus. Das Präsentieren von Arbeitsergebnissen, in Teilstudie 1 betrifft das die technischen Konstruktionsfragen Gebäudekonstruktion und in Teilstudie 2 die Traumhauszeichnung das architektonische Projekt, gibt Gelegenheiten zu Feedback in der Kindergruppe, in dem aufgabenbezogene und soziale Aspekte miteinander verknüpft werden.
D ie hermeneutische Teilstudie zum P hilosophieren mit K indern über G ebäude in ihrer L ebenswelt Ausgangspunkt der Überlegungen ist, dass die angebotenen Materialien dazu bewegen, den Unterricht von und mit den Schülern zu gestalten. Sie ermöglichen, die Qualität von Unterrichtsgesprächen, insbesondere der Schüler untereinander, zu verbessern und dadurch ein selbsttätiges, nachhaltig bildendes Lernen zu fördern. In der Vorbereitung können z.B. Bildkarten mit unterschiedlichen Gebäuden eingesetzt werden, um Ähnlichkeiten und Unterschiede oder ästhetische Momente zu erfragen. Während des Museumsbesuchs bieten sich z.B. Bild-Würfel an, die verschiedene Innen- und Außenansichten zusammenbringen und anregen, sich darüber Gedanken zu machen welche Räume zusammenpassen, welche Kombinationen gefallen oder nicht gefallen. Oder auch den Fragen nachzugehen: Wo könnte man sich vorstellen zu wohnen und warum? In der Nachbereitung, in der hauptsächlich das Philosophieren praktiziert werden soll, wird, um in das Philosophieren zu kommen, mit »subjektiven Karten« gearbeitet, die zum einen der Ergebnissicherung der ganzen Einheit dienen, insbesondere aber das Weiterdenken der Kinder dokumentieren. Anhand von Fragen setzen sich die Kinder zunächst gedanklich
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mit der Aufgabe Entwickle einen Plan für ein Haus für Kinder auseinander und fertigen zusätzlich eine Zeichnung dazu an. Die entstandenen Bilder werden phänomenologisch auf die sichtbaren Inhalte hin ausgewertet (vgl. Reiß 2012) und mit vorhandenem Filmmaterial in Form von Protokollen abgeglichen, wie im folgenden Kapitel dargestellt.
B isherige E rgebnisse aus den beiden Teilstudien der regionalen F orschungspartnerschaf t Die beiden ethnographisch orientierten Teilstudien arbeiten Kind-Objekt- bzw. Kind-Kind-Interaktionen handlungs- bzw. sprachbezogen heraus und leisten einen Beitrag, die Performativität kindlicher Zugänge zu Sachen herauszuarbeiten. Sie geben auf der Handlungs- und Sprachebene Hinweise, wie Sachlernprozesse von Kindern als Akteure initiiert werden und welche adäquaten didaktischen Formen gefunden werden können, um diese zu unterstützen. Sprechen über Gebäude und ihre Konstruktion sowie die Tätigkeiten des Konstruierens und Bauens sind im gesamten Material in wechselnder Intensität parallel zu beobachten. Insbesondere vier Umgangsweisen von Kindern können herausgearbeitet werden: A. Das Sprechen über Gebäude als Vorbereitung zum Modellbau. B. Der Austausch über Ideen, die während des Modellbaus entstehen. C. Das nachahmende Bauen, das von Beobachtung der Objekte anderer Schülerinnen und Schüler und dem sprachlichen Austausch darüber geprägt ist. D. Das Präsentieren von Objekten, deren Bedeutung sprachlich und handelnd beschrieben und performativ in Szene gesetzt wird. Da gerade während der Abschlusspräsentation der Objekte handelnde und sprachliche Elemente von den beteiligten Kindern verknüpft werden, ist diese performative Inszenierung besonders aussagekräftig. Kinder beschreiben den Arbeitsprozess, erklären ihre Objekte und stellen Handlungsabläufe der Konstruktionsphase nach. Auch an mehreren Beispielen aus dem Philosophieren mit Kindern kann eine Art des vielperspektivischen Argumentierens belegt werden, das nicht einer fachspezifischen Logik folgt, sondern sich nach den (körperbezogenen) Erfahrungen richtet. Das Datenmaterial belegt, dass die beteiligten Kinder durch die Verbindung von präsentativ-körperlichen Formen mit sprachlich-assoziativen und symbolischen Formen für die Sache motiviert werden und sich eine weiterführende Auseinandersetzung mit den Sachen ergibt, die durch wechselseitigen Bezüge neue Aspekte freilegen kann. Der Aspekt der Ästhetik macht dies deutlich: Das Haus wird nicht nur technisch
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gut gestaltet, es muss auch ansprechend wirken und präsentiert werden. Die Präsentation birgt sowohl einen quantitativen Aspekt als auch einen qualitativen, insofern berücksichtigt wird, ob das Bauwerk gefällt, aber auch wem es gefällt und wie es entsprechend zu platzieren und zu präsentieren ist. Die Kinder nehmen dabei immer wieder Bezug zu der Bauphase im Museum. Konstruktion ist eine wichtige Kategorie, Material und Statik werden berücksichtigt. Dabei sind die Kinder durchaus in der Lage, eigenständig zu argumentieren. In einem Gruppengespräch während der Arbeit an der subjektiven Karte entwickelt sich beispielsweise die Idee eines Hauses aus Eisen zu einem »Candy-Haus« (Süßigkeitenhaus) um. Interessant ist, dass in diesem Beispiel einer Diskussion in der Kleingruppe die Kinder untereinander argumentieren und sich miteinander performativ auseinandersetzen. Zuerst werden assoziativ verschiedene Materialien erprobt (Holz, Federn, Eisen), dann verschiedene Merkmale (Treppenhaus, Flur, Fachwerk). Schließlich wird die spontane Idee geäußert: Das besondere Haus ist ein Gummibärchenhaus. Es unterscheidet sich von anderen Häusern, weil es aus Süßigkeiten besteht. Konstruktion und Kindheit werden hier also verknüpft zur Spekulation eines Candyhauses, das auch einen Bezug zum Lebkuchen- und Hexenhaus aus einem Märchen herstellt, also mit einem kulturell geprägten Bild spielt und so eine Besonderheit entwirft, welche die kindliche Begierde nach Süßigkeiten zum Ausdruck bringt. L: (Wenn du von einem Haus für Kinder träumst, wie stellst du dir das vor?)? W02: Eine Sandburg. W01: (Oder?) ein Hexenhaus von Hensel und Gretel. M01: Aus Blut. W02: Lebkuchen. Aus Lebkuchen. M02: Aus Süßigkeiten. W02: Lebkuchen. Ne Mia! Das haben wir gar nicht alles besprochen! ((nimmt M01 den Stift aus der Hand)) Dummkopf! W01: Nur Lebkuchen und dann noch, ihr dürft auch noch was. M02: Süßigkeiten. W02: Aus Blut. ((lacht)) W01: Nein! Aus Blut doch nicht. M01: Aus Herzen. M02: Süßigkeiten. M01: Aus Süßigkeitenherzen. W01: Ja. W02: Aus Gummibärchen. … Aus Federn. ((lachen)) W01: Gummibärchen. W02: Zuckerwatte. ((lacht)) M02: Oh die hab ich … ich hab die richtig lange nicht mehr gegessen.
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W01: G u m m i b ä r chen ((schreibt)). W02: Zuckerwatte. W01: Z u c k e r w a t t e ((schreibt)). M02: Ja weil bei Watt… bei Zuckerwatte wird zu hart, wenn man… W01: Und Schokolade. Schokolade. M01: Ey, wer hat das denn gesagt? W01: S c h o k o l a d e ((schreibt)). Das ist aber ne gute Idee. W02: Ok das reicht. W01: Wir können noch hier machen. M01: Aus Blut/eh/aus Süßigkeitenherzen. W01: He oh. M01: Hast du noch nicht. W01: S ü ß i g k e i t e n h e r z e n. W02: Zuckerwatte. Aus Federn noch! Federn! Es lässt sich an den Beispielen eine Form des Philosophierens von Kindern aufweisen, die bisher noch schwer dokumentiert werden konnte, weil entweder philosophische Kurse angelegt werden (Philosophie für…) oder Erwachsene mit Kindern philosophieren (Philosophieren mit…). Die Interaktion mit dem Material und die Materialität der Lernerfahrungen fördert das sprachlich-assoziative Lernen im Philosophieren, insofern erfahrungsgesättigte und erfahrungsbestätigte Argumentationen möglich werden. Die Präsentationen der Arbeitsergebnisse bieten zudem einen Anlass, an dem sich Kinder Feedback zu ihren Konstruktionsergebnissen geben und selbsttätig die in den zwei Teilstudien untersuchten Ebenen verbinden. Im Videomaterial werden diese körperbezogenen und sprachlichen Interaktionen beim Präsentieren deutlich. Es bietet sich an, diese Präsentationsphasen intensiver zu nutzen. Beispielsweise wäre es möglich, in der Konstruktionsphase im Museum eine weitere Präsentation zur Hälfte der Bauzeit zur Darstellung eines Zwischenarbeitsstands einzuführen. Auch die Endpräsentation kann ausgebaut werden, indem den Kindern mehr Zeit gelassen wird und sie beispielsweise aufgefordert werden, mit den Konstruktionsobjekten eine Stadt aufzubauen. Die Teilstudien geben Hinweise zum ästhetischen Lernen. Die am Sample beteiligten Kinder setzen die in der Vorbereitung besprochenen statischen Elemente nicht einfach um, sondern verknüpfen diese mit ästhetischen Prämissen. Erst wenn sich konkrete Probleme beim Konstruieren stellen, versuchen sie, Statikgesichtspunkte zu berücksichtigen. Es ist daher auch sinnvoll, schon in der vorbereitenden Einheit zu Grundlagen der Statik, ästhetische Fragen aufzugreifen und auf das Philosophieren in der Nachbereitung vorzubereiten. Insgesamt ist eine hohe Motivation bei den beteiligten Kindern zu erkennen und die aktivierende Einheit zum Bauen und Konstruieren könnte in eine längerfristige Unterrichtsreihe einbezogen werden. Perspektivisch
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ergibt sich die anspruchsvolle Aufgabe, Lernlandschaften zu entwickeln, die Häuser, Brücken und Türme aus der Lebenswelt im Modellbau erfahrbar machen können (vgl. Lambert/Reddeck 2007). Die videoethnographische Dokumentation macht allerdings auch deutlich, dass der schulische Vermittlungsrahmen die Gespräche und Interaktionen im Museum und in der Schule so stark prägt, dass offene, dialogische Gesprächsformen, wie sie das Philosophieren mit Kindern intendieren, nur in Ansätzen beobachtbar sind. Performativität kann dazu beitragen, diesen engen Vermittlungsrahmen zu sprengen, indem Kindern Gelegenheit gegeben wird, sich selbst in Szene zu setzen und Akteure ihrer Lernprozesse zu werden. Beim Präsentieren von Objekten verdichten sich Lernerfahrungen aus dem handelnden Umgang mit Sachen, die nun kommunikativ für die Gruppe zum Ausdruck gebracht werden, wenn anderen an den hergestellten Artefakten Zusammenhänge und Regelmäßigkeiten gezeigt werden sollen, die in der Bauphase entdeckt worden sind. Abstrakte Begriffe und Gesetzmäßigkeiten (wie z.B. »Statik«) werden damit performativ umschrieben. Präsentieren ist eine soziale Handlungspraxis, welche sowohl kooperative Kommunikation ermöglicht als auch Formen einer geteilten Aufmerksamkeit initiiert, welche grundlegend für das Lernen als kommunikativer Prozess sind (vgl. Tomasello 2009). Durch geteilte Intentionalität nehmen die sozialen Interaktionen eine neue Qualität an. Die Thematisierung des gemeinsamen Erfahrungshintergrundes aus unterschiedlicher Sicht ermöglicht es den Akteuren, über ihre eigene egozentrische Perspektive auf die Welt hinauszugehen. Unterstützt wird diese Perspektivenübernahme durch das Sprechen über die eigenen Vorstellungen und durch das Argumentieren in Bezug auf andere Vorstellungen, was beim Philosophieren mit Kindern in Szene gesetzt wird. Beim Philosophieren inszenieren Kinder sprachlich ihre Vorstellungen und setzen sie in Relation zu den Sachen und zu den Perspektiven der anderen Kinder, die sich mit diesen Sachen auf ihre Weise auseinandergesetzt haben. Die Sache wird in diesem performativen Akt sprachlich präsentiert. Durch die gemeinsame Prüfung dieser Präsentation im kritisch-sokratischen Dialog rücken Aspekte der Sache in den Fokus der Aufmerksamkeit, die vorher noch nicht beleuchtet wurden. Im Vordergrund steht nicht mehr nur die durch den schulischen Rahmen vorgegebene Vermittlung von Wissen. Unterrichtsinhalte werden zwischen Kindern und Lehrern vermittelt, indem diese ihre Perspektiven, ihre Erfahrungen, Interessen, Argumente und Fragen einbringen und reflektieren können. Die Performativität im handelnden sowie im sprachlichen und symbolischen Gestalten ist Grundlage für die Vermittlung der Vermittlung. Friederike Heinzel (2011) hat diese drei Momente (Vermittlung von, Vermittlung zwischen, Vermittlung der Vermittlung) in ihrer Theorie der Grundschule als wesentliche Momente der Generationen-vermittlung bestimmt. Die Performativität ist in diesem theoretischen Kontext also nicht nur als kindgemäß zu bestimmen, sondern als Ausgangs-
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Schule und Unterricht
Eine bildende Wirkung der Schule? Identitätsentwicklung und schulische Kultur Julia Lipkina
K ultur und I dentität Wer eine Person ist und sein möchte, drückt sich in ihrer Identität aus. In einem praktischen Selbstverhältnis, welches nur partiell in darstellenden Beschreibungen Ausdruck findet, legt sie fest, wer oder was eine Relevanz für sie hat, wodurch sie ihrem Leben Sinn verleiht. Sinnfindung versteht sich als »an eigenständiges Handeln und Sprache gebundene Verwirklichung eines eigenen Selbst« (Straub 1994/95: 7). Da funktional differenzierte Gesellschaften jedoch keine ›Identitätsgaranten‹ mehr bieten können, ist das Individuum auf sich zurückgeworfen und hat sich der Sinnfrage selbst zu stellen. Identität muss im Zuge eines schöpferischen Aktes hervorgebracht werden – sie ist nicht nur Privileg moderner Gesellschaften, sondern ebenso Zwang (vgl. Rosa 2002: 270). Das Selbstbestimmungspostulat ist jedoch nicht so zu verstehen, als könnten Menschen ihre Identität völlig losgelöst und isoliert definieren. Der Sinn einer Existenz liegt nicht allein schon in der Möglichkeit der Selbstbestimmung, sondern ist durch einen gemeinsamen und kulturellen Horizont konstituiert: »Das Ideal der Selbstwahl setzt also voraus, daß es außer der Selbstwahl noch weitere bedeutsame Fragen gibt.« (Taylor 1995: 50) Identität gewinnt ein Individuum nur in einem kulturellen Raum, welcher als vorgängiger Bedeutungshorizont die für die Selbstdeutung notwendigen Kategorien bereitstellt. Den kulturellen Praktiken wohnen implizit Ideen und Definitionen des Wichtigen und Unwichtigen, des Guten und Schlechten etc. inne – sie sind der »primäre Ort des Guten« (Rosa 1998: 130). Taylor definiert sie sehr allgemein als beinahe »jede stabile Konfiguration gemeinsamer Tätigkeiten, deren Gestalt durch ein bestimmtes Muster von Geboten und Verboten bestimmt ist« (1994: 364). Sie finden sich auf allen Ebenen des menschlichen Lebens: in Familie, Politik, Religionsgemeinschaften etc. Dieses »dicht gewobene Netz sozialer Praktiken« bietet ein »Spektrum an sinnhaften Lebensoptionen und
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die Verhaltensmuster«, die die Voraussetzung für die Genese der Identität bilden (Rosa 1998: 133). Das Kulturelle ist folglich »dispositionale Struktur«, es geht dem »Gedachten und Gefühlten« voraus und stellt die Bedingung der Möglichkeit von Subjektivität dar – es besitzt somit einen ontologischen Status (ebd.: 133f.). Die Selbstkonstitution ist jedoch nicht mit Reproduktion gleichzusetzen – Zuschreibungen und Diskurse gehen nicht unvermittelt in die Identität ein: »Sie können gebrochen werden, sie können untereinander oder mit internen Momenten konfligieren oder verschmelzen.« (Mende 2015: 86) Identität kann auch nicht bloß im Zuge der Teilhabe an gesellschaftlichen Praktiken entdeckt werden, vielmehr bedeutet ihre Bestimmung, sie schöpferisch zur Gestalt zu bringen. Das Gelingen dieses kreativen Aktes hängt nach Taylor von dem eigenen Ausdrucksvermögen ab, denn den »Sinn des Lebens finden wir, indem wir ihn artikulieren« (1994: 41). Die Selbstkonstitution vollzieht sich also, indem man »sinnvolle Ausdrücke bildet, die angemessen sind« – Sinn ist dabei unmittelbar an »Sprache und andere Ausdrucksformen« gebunden (ebd.). Rosa differenziert dabei zwischen zwei Ebenen des Selbstausdrucks: der Expression und Artikulation. Auf der Ebene der Expression zeigt sich Identität als fundamentales Gefühl in »unseren Gesten und Ausdrucksweisen, in unserem Geschmack und sogar in unseren körperlichen Reaktionen« (Rosa 2002: 280), sie wird im Habitus verkörpert, der anders als bei Bourdieu Ausdruck eines Selbstverständnisses ist. So verbindet sich in der Expression der Akt des Findens und Herstellens der Identität zugleich, indem die vorgefundene Welt nicht bloß adaptiert, sondern im Zuge eines selbstschöpferischen Deutungsprozesses zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Rosa 1998: 152f). Dieses Selbstverständnis kann mit zunehmendem Reflexionsgrad ins Bewusstsein geholt und explizit werden. Reflexive Selbstdeutungsprozesse sind jedoch stets sekundär und abgeleitet (ebd.). Auf dieser Ebene, der Artikulation, zeigen sich handlungsleitendes Wissen und Orientierungen in sozialen, moralischen Theorien, aber auch in symbolischen Formen wie Kunst, Dichtung oder Religion, die Wirklichkeit und Bedeutungen artikulieren, definieren und explizieren. Die beiden Ebenen lassen sich nur heuristisch voneinander trennen – sie stellen ein »Kontinuum zunehmender Reflexivität« dar (ebd.: 150), wobei das zum Ausdruck kommende Selbstverständnis klarer, reflexiver und angemessener werden kann. Je ausgeprägter die eigene Identität ins Bewusstsein geholt, reflexiv vor dem Hintergrund intersubjektiver Geltungsansprüche befragt – »im Lichte der Symbolismen der es umgebenden sozialen Umgebung kognitiv wie normativ reflektiert und artikuliert« (Gerlach 2005: 218) wird, umso eher wird es möglich, das eigene Handeln selbstbestimmt anzuleiten und zu begründen. Dabei stellt sich unweigerlich die Frage, wie ein Individuum einerseits durch eine gegebene Kultur geprägt wird und andererseits Autonomie entfalten kann, die ein reflexives und distanziertes Verhalten zu der prägenden Kultur ermöglicht,
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damit es zu einer Erweiterung des Ausdruckspotenzials kommt, was letztlich in einer adäquaten Artikulation mündet. Um dies zu beantworten, soll der Zusammenhang von Kultur und Identität in einem weiteren Schritt bildungstheoretisch konkretisiert werden.
I dentitätsent wicklung als B ildungsprozess Die Entwicklung der Identität als kreative Neuschöpfung stellt eine durchaus mühsame Arbeit an sich selbst dar. Sie erfordert eine Distanz von primären Prägungen, was jedoch nicht in einer radikalen Herauslösung oder Befreiung von Kontingenzen münden muss, sondern einen reflektierten Umgang, eine Neuaneignung, Transformation und letztlich eine autonome Bindung erlaubt (vgl. Nunner-Winkler 2002: 65). Diesen Prozess als Vorgang der Bildung beschreibt Buck in seinem Werk Hermeneutik und Bildung (1981). Ihm zufolge ist Identität nicht das Resultat von Bildung, sondern geht ihr voraus, denn sie ist vorderhand das Ergebnis von Zufällen und Prägungen. Die Einzigartigkeit eines Menschen ist konstituiert durch das »Ensemble aller nicht von einem Lebensplan entworfenen Zufälligkeiten […]. Als Resultat naturhafter Bedingungen, z.B. als genetische Konstitution mit ihren Fixierungen, ebenso wie unplanbaren geschichtlichen Widerfahrens ist sie kein Produkt freien Sichverhaltens« (ebd.: 134). Gleichzeitig ist sie jedoch etwas »Weiterzubestimmendes« und zu »Bearbeitendes« (ebd.: 138), wobei die lebensgeschichtliche Einzigartigkeit nicht beseitigt, sondern modifiziert werden soll, sodass sich das Allgemeine im Besonderen darstellt. Dadurch kann sich ein Subjekt »als Besonderes sehen lassen […], weil es das Allgemeine in einer nur ihm möglichen Weise konkretisiert« (ebd.: 144, H.i.O.). Dies vollzieht sich, wie es auch Taylor skizziert, in Form des »Sich-Mitteilens«, was dazu führt, dass im Versuch der Mitteilung die »Singularität an ihre Grenzen« stößt, weil dieser Vorgang anderer und der Sprache bedarf (ebd.: 141). Die vorgefundene Identität wird allerdings nicht bloß mit dem Allgemeinen synthetisiert, also lediglich unter dem Gesichtspunkt des Allgemeinen verstanden,1 sondern sie kann auch transformiert werden, denn es geht ja auch darum »anders als die anderen« zu sein und »eine originelle, besondere, einzigartige Identität zu gestalten« (Meuter 2002: 195, H.i.O.). Die eigene Besonderheit gilt es also, vordergründig auszubilden, bevor sie allgemein gemacht werden kann. Meuter konstatiert im Anschluss an Taylor, dass es darum geht, »zu seinem eigenen Leben und den Kontexten, die es prägen, überhaupt ein 1 | Bei Buck lässt sich dieser Gedankengang vermissen. Er belässt es bei seiner Interpretation des Satzes »Werde der du bist« als das im Allgemeinen zu Darstellung kommende Besondere (1981: 153). Auf dieses Desiderat wird von Brüggen (2014) hingewiesen.
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eigenständiges Verhältnis zu gewinnen und sich nicht nur durch vorgegebene Muster, Routinen, Konventionen usw. bestimmen und treiben zu lassen« (ebd.: 206). Dieser Vorgang setzt ein gewisses Maß an Reflexivität voraus, um die eigene Originalität ausfindig zu machen. So vollzieht sich Bildung dann, wenn Individuen bereit sind, ihre Sicht auf sich und die Welt infrage zu stellen (Schäfer 2005: 160). Unmittelbar verwoben mit dem Ideal der Autonomie ist deshalb die kritische Reflektiertheit, die Personen dazu verleitet, sich zu fragen, wie zu leben und zu handeln ist (vgl. Meyer 2011: 25),2 sodass sich Bildungsvorgänge als »Prozesse der Geltungsbewährung« (Fuchs 2014: 136) verstehen lassen. Autonomie als Bildungsideal allein reicht jedoch nicht aus, auch wenn ihre Beförderung als »das zentrale Ziel der Erziehung« gilt (Meyer 2011: 32, H.i.O.). Die Verbindung zum Allgemeinen, wie sie im Anschluss an Buck skizziert wurde, impliziert nämlich, dass nicht jegliche subjektive Setzung möglich ist, denn der eigenen Existenz kann nur dann Sinn verliehen werden, wenn die Inhalte nicht aus dem Individuum selbst geschöpft werden (vgl. Meuter 2002: 207) und sich ein »Selbstsein in Vergleichbarkeit« (Buck 1981: 148) realisiert. Die Überlegungen verweisen auf den sittlichen Moment der Bildung. Kritisch merkt Buck zur Idealisierung der Autonomie (ohne Verbundenheit) und Identität als Bestreben, singulär zu bleiben, an, dass Identität in der Neuzeit als »atomare Einzelheit, als Abgesonderheit und sogar als Absonderlichkeit aufgefasst [wird]. Sie ist, in der doppelten Bedeutung des Ausdrucks, das durchaus Aparte; Identität wird in der Neuzeit verstanden als Apartheit« (ebd.: 130, H.i.O.). Freiheit und Autonomie, so lässt sich mit Stojanov ergänzen, werden erst durch soziale Beziehungen ermöglicht und hervorgebracht, wobei Bildung im Sinne Humboldts als Prozess einer »sozial vermittelten Selbstuniversalisierung durch Welterschließung« gedacht werden muss (Stojanov 2011: 41). Damit sich Bildung vollziehen kann, müsse ihr die Erfahrung des moralischen Respekts und der sozialen Wertschätzung vorangehen. Anerkennung bezieht sich dabei konkret auf die »Fähigkeit des Individuums, seine persönlichen und unverwechselbaren, biographisch eingebetteten Eigenschaften und Kompetenzen zu artikulieren, dass sie als ein potentieller Beitrag und/oder eine Bereicherung für die Gesamtgesellschaft gelten können« (ebd.: 42). Auch hier wird deutlich, dass das Subjekt nicht bloß als das Ergebnis der Sozialisation, sondern als jemand betrachtet wird, der in der Lage ist, die »Limitierungen seiner […] partikular-ansozialisierten Wirklichkeitswahrnehmungsmuster aufzubrechen« und seine ihm zugefallenen Hintergrundüberzeugungen »zu 2 | Was jedoch nicht mit einer radikalen Infragestellung des gesamten Lebens gleichzusetzen ist. So verweist Meyer darauf, dass sich permanente Reflexionsbemühungen auch als handlungslähmend erweisen können (2011: 28f).
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transzendieren, auf reflexive Distanz zu ihnen zu gehen, oder sie aus der Perspektive eines ›generalisierten Anderen‹ transformierend zu artikulieren, d.h., sie in wissensförmigen Propositionen unter der Dezentrierung der eigenen Perspektive zu explizieren« (ebd.: 41f.). Während Transformationen als Neuordnungen von Selbst- und Weltverhältnissen angeleitet durch Bildungsprozesse im Rahmen bildungstheoretisch ausgewiesener Biografieforschung – allerdings ohne »Angabe einer Richtung«, wie es Krinniger und Müller (2012: 59) kritisch formulieren3 – untersucht werden, stellt die Bezugnahme der im Anschluss an Buck und konkreter noch Stojanov beschriebenen normativ-universalistischen Perspektive ein Desiderat dar. Folglich gilt es in einem »qualitativ-empirischen Zuschnitt, […] das Potential, nicht nur solcher Bildungsgänge der Selbst-Universalisierung durch Welt-Erschließung zu identifizieren, sondern darüber hinaus auch die alltäglich-sozialen Typen von Erfahrung zu rekonstruieren, welche die so spezifizierten Bildungsprozesse ermöglichen bzw. verhindern« (Stojanov 2006: 47).
D ie S innkrise der S chule und die P rivatisierung der I dentitätsfr age Die Ermöglichung von Bildungsprozessen wird der Schule oftmals abgesprochen. Die traditionelle Institution befinde sich vielmehr in einer Krise und ringe um ein neues Selbstverständnis: »sie tut dies angesichts der von vielen an sie herangetragenen Nachfragen, ob sie noch fähig und willens sei, ihr traditionelles Selbstverständnis einzulösen, nämlich Lernmodelle für die Ausbildung der Ich-Identität bereitzustellen« (Neumann 1997: 81). Ihr Sinn sei, so der kritische Tenor der pädagogischen Diskussion, nur noch instrumentell, reduziert auf Qualifikation und Vergabe von Zertifikaten und Schule deshalb lediglich eine Übergangsstation im Leben, die man zu bewältigen habe, die aber alles andere als biografisch bedeutsam sei. Dies wiege vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Kindheit und Jugend zunehmend in der Schule verbracht werden, umso schwerer (vgl. Helsper/Böhme 2008). Der Begriff der Verschulung impliziert indes zum einen das Ergebnis gesellschaftlicher Veränderungsprozesse (vgl. Mitterauer 1986) und zum anderen, negativ konnotiert, eine Begleiterscheinung schulischer Lern- und Bildungsprozesse, die einen Gegenpol zu subjektbezogenen Unterrichts- und Lernformen bilden (vgl. Popp 2010: 328f.). Die Institution mit ihren Anpassungszwängen, Rigidität und Ausrichtung auf kognitive Lernleistungen führe nicht nur zu Leistungsdruck und Schulangst, sondern habe zur Folge, dass »Jugend oder Jungsein […] auf Schul- bzw. Lernjugend [reduziert werde; J.L.]« (ebd.: 330). Den »Nutzen des Schulbesu3 | Vgl. dazu auch die Kritik von Fuchs (2014).
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ches erfahren Jugendliche, wenn überhaupt, erst nach der Schulzeit« (ebd.: 333), wodurch Bildungsziele vor dem Hintergrund ihrer Realitätserfahrungen sinnlos und irrelevant erscheinen. Die Schülerbiografieforschung stellt derweil empirisch fest, dass sich Heranwachsende in einem hohen Maße an die institutionellen Erwartungen anpassen müssen (vgl. z.B. Nittel 1992; Kramer 2002; Wiezorek 2005), sodass die Darstellung der Identität, eine Balance im Sinne Krappmanns, nicht möglich sei, und das, obwohl es Aufgabe der Schule sei, »Kinder und Jugendliche in ihrer Persönlichkeitsbildung und bei Identitätskonstruktionen [zu] stärken« (Popp 2010: 336). Empirisch wird belegt, was schon Wellendorf 1973 in seiner Schulkritik skizzierte: Die Schule sei aufgrund der Überfokussierung formellen Lernens und der Alltagsferne eine »Auf bewahrungsanstalt« (Ferhhoff 2010: 346) und eine Bedrohung für die Identität. Es wird bezweifelt, ob überhaupt noch Bildungsprozesse stattfinden können – Bildung sei ein Phänomen, das informell und außerhalb der institutionellen Mauern stattfinde (vgl. Schulze 2007: 157). Die Identitätsfrage verlagere sich »in kleine Unternehmungen privater Hand« (Luckmann 1980: 138) und lasse einen Identitätsmarkt entstehen, der von »Sekundär-Institutionen« beherrscht werde (Luckmann/Berger 1980: 150). Nur noch »Teil-Zeit-Welten« können Identität vor dem Zusammenbruch bewahren – man »wandert gleichsam von einem Mikro-Universum ins nächste, von einer kleinen Gemeinschaftsveranstaltung zu anderen« (Hitzler/Honer 1984: 66). Heranwachsende, so Hitzler und Pfadenhauer, erwerben ihnen bedeutsame Kompetenzen »weniger in überkommenen (institutionalisierten) Sozialisationsmilieus«, sondern »vorzugsweise in diesen ihnen ›eigenen‹ gegenüber anderen Lebensbereichen relativ autonomen (freizeitlichen) Sonderwelten« (2004: 13). Die Schule verliere dadurch ihre Prägekraft: »Die Schüler sind durch die Zentrierung auf ihre Eigenwelt wie in Regenmänteln imprägniert gegen die Einflüsse des pädagogischen ›Wetters‹.« (Ziehe 2005: 282) Die Pädagogik reagiert mit »Kompensationsleistungen« (Ziehe 1999: 626): Lebensweltnähe, Informalisierung und Subjektivierung im Unterricht und der Forderung der »Öffnung der Schule zu einer Erlebnisgesellschaft« (Ulrich 1999: 594). Die Orientierung am Lebensweltbezug und Individuation führe laut Schweitzer jedoch dazu, dass sich der pädagogische Einfluss darauf beschränke, institutionelle Nischen bereitzustellen. Schule müsse vielmehr Erfahrungsräume bieten, die anders als die freizeitlichen Lebenswelten durch zeitliche, räumliche und soziale Beständigkeit gekennzeichnet sind, in denen sich »individuelle Privatsphäre und der institutionelle Bereich nicht mehr unverbunden gegenüberstehen« (1985: 102). Dies impliziere, Identitätsentwicklung nicht als Freisetzung und Ablösung, sondern als Einbettung und Teilhabe zu denken und erfordere, das Differenzverhältnis von Schule und Jugend anzuerkennen, anstelle einer pädagogischen Totalisierung zugunsten der Jugendlichen und ihrer Alltagswelt« (Ziehe 1999: 629, H.i.O.).
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Dieser Anspruch ist jedoch gegenwärtig, so die Diagnose von Rosa, eher schwierig einzulösen. Institutionen lassen keine Reflexion der Identität mehr zu, sodass Subjekte zu einer »expressiven Fragmentierung« forciert werden und nur »das von ihrer Persönlichkeit zum Ausdruck bringen können, was der jeweils aktualisierten Funktionssphäre entspricht« (2002: 282). Praxiszusammenhänge des öffentlichen Lebens haben sich als neutral gegenüber den Konzepten eines guten Lebens verschrieben, wodurch Expression und Artikulation erschwert werden, da nicht nur zahlreiche Lebensbereiche instrumentell erscheinen, sondern auch eine Sprache »starker Wertungen« fehle, um Dingen und Idealen einen »›quasi-ontologischen‹ Wert« zu verleihen: »Versuche der Artikulation […] wirken in all diesen Kontexten in der Regel allenfalls peinlich« (ebd.: 284). Die Konsequenzen sind Entfremdung und »Nach-InnenWendung« als »›Grundpraxis‹ der Selbstbestimmung« und im schlimmsten Fall Identitätskrisen, wenn es nicht mehr gelingt, irgendeine Teilidentität zu ontologisieren (ebd.: 290f.).
S chule als M öglichkeitsr aum für die I dentität – B efunde einer qualitativen S tudie Die bisherigen Überlegungen lassen Zweifel darüber entstehen, ob Institutionen, insbesondere die Schule, noch sinnhafte Erfahrungen bieten können. Diese Problemstellung war die Ausgangslage für eine qualitativ-empirische Studie (Lipkina 2016), die sich vor dem Hintergrund des beschriebenen Identitäts- und Bildungsverständnisses lebensgeschichtlichen Identitätserfahrungen im schulischen wie außerschulischen Kontext widmete und speziell der Frage nachging, wie es Subjekten gelingt, Vorstellungen eines guten Lebens zu entwickeln und auf diese Weise, Sinn und Orientierung zu erfahren. Mithilfe leitfadengestützter Interviews mit elf ehemaligen Gymnasiasten und dem Auswertungsverfahren des Integrativen Basisverfahrens (Kruse 2014)4 gelang es, fallübergreifende Anlässe für Bildungsprozesse als Entdeckung, Auslegung und Transformation der Identität zu rekonstruieren. Insbesondere von Relevanz war vor dem Hintergrund der postulierten Sinnkrise der Schule ihre Rolle als Möglichkeitsraum für biografisch bedeutsame Erfahrungen. Tatsächlich ließen sich in den Interviews Entfremdungserfahrungen rekonstruieren: So weist die Beschreibung der Schule in einigen Interviews Charakteristiken eines Nicht-Ortes5 auf, wobei Schule als Service-Institution skizziert wird, wel4 | Über die Eignung der Methode zur Rekonstruktion von Bildungsprozessen vgl. Lipkina (2016: 283ff.). 5 | Nicht-Orte im Sinne Augés (1994) haben keine Identität, bedeutungstragende Ordnung oder Geschichte.
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che nur noch für Lebenslaufzwecke instrumentalisiert werden kann (vgl. Rosa 1998: 207). Diese Befunde bestärken den Eindruck, dass sie für zahlreiche Schüler eine lediglich im Hinblick auf den Erwerb von Zertifikaten bedeutsame Übergangstation im Leben ist. Entgegen der Tendenz jedoch, die Institution nur noch als Unmöglichkeitsraum zu verstehen, soll in diesem Beitrag exemplarisch auf die Befunde eingegangen werden, die gerade das Gegenteil zeigen, nämlich auf welche Art und Weise Schule sinnhaft und ein Möglichkeitsraum für Bildungsprozesse sein kann.6
Schulklasse als öffentlicher Erprobungsraum Die schulische Peergroup wird stärker noch als das Lehrer-Schüler-Verhältnis und der Unterricht von den Befragten als bedeutsam für das eigene Werden empfunden: so »kann [man] sich kaum noch an den unterricht erinnern, während (.) so: (.) ähm die INTERaktionen irgendwie viel stärker hängen geblieben sind; und viel (.) PRÄGENDER waren« [Ramona, 678-681]. Die Einbindung in die Klassengemeinschaft – hier decken sich die Befunde mit anderen Untersuchungsergebnissen – erweist sich als ambivalente Angelegenheit, da es sich bei Klassenkameraden nicht um Freunde, sondern um Personen handelt, auf die man sich tagtäglich beziehen und mit denen man sich zwangsweise arrangieren muss (vgl. Breidenstein 2008: 945): »muss erst mal versuchen da halt seinen platz zu finden; u:nd damit zurechtzukommen; natürlich gibt es da auch ein paar regeln an die man sich immer halten muss« [Sven, 447-450]. Die Klasse wird von den Befragten also nicht als Raum empfunden, in dem man primär Gleichgesinnte – »Kumpane für ihre Neigungen« (Hitzler 2007: 63) – trifft, die dem Bedürfnis nach einem bestimmten Lebensstil entsprechen. Zugehörigkeit wird über Regeln und Normen entschieden, die sich aus einer (peereigenen) sozialen Ordnung ergeben, die nicht immer den Leidenschaften und Vorlieben der einzelnen Mitglieder entspricht. Folglich werden Heranwachsende beim Eintritt in die Klassengemeinschaft mit impliziten Orientierungen konfrontiert, die nicht zwingend mit den eigenen Selbstentwürfen im Einklang stehen müssen. Anpassungszwänge können durchaus Entfremdungserfahrungen zur Folge haben, wenn sich Akteure in der Teilhabe an den Praktiken nicht wiedererkennen können. Gelingt jedoch die Expression ihm Rahmen der Gruppe (was letztlich von der Passung des Selbstentwurfs und der Peerkultur abhängig ist), kann sie aufgrund sozialer Verbindlichkeit, Beständigkeit und Kohäsion – ein »ritualisiertes soziales Korsett« (Thole 2010: 755) bieten, denn sie erlaubt, anders als informelle Gemeinschaften, kein flexibles Ein- und Austreten (vgl. Hitzler 2007: 62): »sind alle da gewesen, […] man hat (2.0) leute (.) also getroffen, also ma=jeder hat gewusst wo wer ist, in welchem eck wer steht in der 6 | Vgl. dazu: Lipkina (2016: 546ff.).
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pause, […] das geht NIE mehr außer in der schulzeit« [Matthias, 1001-1009]. Die Deutungs- und Sinnressourcen der Peerkultur können also Reflexionsanlass sein, ob sie zu den eigenen Überzeugungen und Idealen passt, wobei die Gemeinschaft nicht immer den eigenen Legitimationsansprüchen gerecht wird: »ich war nie so FEST in einer gruppe integri:ert, und ich WOLLTE da auch einfach nicht integriert sein« [Silvana, 650-651]. In dem Fall kann es zur selbstbestimmten Distanzierung kommen, die nicht als verweigerte Anerkennung und Identitätsbedrohung, sondern als Charakterstärke zu interpretieren ist.
Lehrende als Projektionsfläche für den individuellen Selbstentwurf Nicht nur das Verhalten der Peergroup wird kritisch in den Blick genommen, um Motive und Orientierungen hinsichtlich ihrer Gültigkeit vor dem Hintergrund der eigenen Identität zu reflektieren, sondern auch Lehrende werden dahingehend geprüft, ob sie sich als »Vertreter einer Gemeinschaft, in der ich leben und von der ich meine eigene Lebensweise beurteilt wissen möchte« eignen (Steinfath 2001: 321). Während Silvana z.B., die sich an weiblicher Emanzipation orientiert, von ihrer Spanischlehrerin berichtet, die das verkörpert, was Silvana als wichtig erachtet – nämlich Familie und Beruf erfolgreich auszubalancieren: »super (.) attraktive frau, steht mitten im leben, hat zwei kinder, is hat ein mann, is irgendwie im vorstand, keine ahnung, macht tausend dinge, ist super erfolgreich« [791-794], bewundert Matthias, nach Harmonie strebend, einen Lehrer für seine ausgeglichene und friedfertige Art und betont, dass er darauf verzichtet, zu mogeln, da er auf seine Anerkennung wert legt: »da konnte man auch nicht bescheißen, weil (.) da: da da hatte ICH ein schlecht(h)es gew(h)issen bei dem, [mhm] weil ich dann (.) IHN hintergangen hätte; so in der richtung« [837840]. Es zeigt sich dabei, dass die Lehrkraft nur dann eine Autorität darstellt, wenn sie die von den Befragten anerkannten Werte in ihrer Person verkörpert, sodass der Respekt letztlich der Repräsentanz dessen gilt, was man für bedeutsam hält (vgl. Helsper et al. 2007: 45). Dabei sind es keine universellen Kriterien, die einen guten Lehrer ausmachen, wie es so manch pädagogische Literatur suggeriert – Lehrer müssen Orientierungen und Haltungen aufweisen, die die Befragten selbst als bedeutsam erachten. Auf diese Weise vermitteln sie nicht nur Werte der Institution, sondern werden als Mensch mit einer Biografie sichtbar und können als Projektionsfläche für den Selbstentwurf dienen. Die Lehrperson ist nicht nur ein beispielhafter Erwachsener, ihr kommt außerdem eine soziale Objektivität zu, sodass in der »Verkörperung zentraler Wertbezüge für einen sozialen Zusammenhang und in der Anerkennung ihrer Überlegenheit in dieser Sozietät, […] sich die Person desjenigen, dem umfassende Autorität verliehen wird, in eine soziale Instanz, die gültige Prinzipien einer kulturellen Ordnung verbürgt und darstellt« (ebd.), transformiert.
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Synthese subjektiver Bezüge mit allgemeinen Inhalten im Unterricht Auch wenn es eher selten der Fall ist, wird in der Sichtung der Interviews deutlich, dass auch im Unterricht Reflexionsprozesse stattfinden. Anders als die vorangegangenen Beispiele stellt er didaktisch inszenierte Gelegenheiten dar, sich zum Thema von Bildungsprozessen zu machen. Hier wird vor allem die Artikulation möglich, da der Unterricht eine Sprache starker Wertungen zur Verfügung stellen kann. Die Befragten schildern, dass sie durch die Auseinandersetzung mit dem Stoff einen reflektierten Weg zu ihren Erfahrungen finden, wobei durch Begegnung mit bis dato unbekannten Interpretationen eine Erfahrung nachträglich ausdrucksfähig gemacht werden kann. So kann Thomas z.B. durch die Lektüre von Der Besuch der alten Dame Erfahrungen in seinem Heimatdorf reflektieren und zu einer Kritik an kollektiven Überzeugungen und dem Konformismus der Kleinstadt gelangen: »ich hab dadurch mein dorf (.) noch mehr als dorf gesehen – [mhm] als: vorher; […] jeder kennt jeden, und es ist alles so: (.) ein bisschen hinterlistig« [944-949]. Katharina wiederum dient die Lektüre von Madame Bouvary als Anlass, ihre Gefühle in Bezug auf ihre Klassenkameradinnen zu artikulieren, die sich ihrer Meinung nach durch naive Träumereien vom Erwerb des Abiturs ablenken lassen. Sie artikuliert und positioniert sich im Interview in Distinktion zu den Peers als ambitionierte und intellektuell orientierte Person: »grad bei uns mädchen haben wir sehr viel auch oft gesprochen, immer dieser he:r zwischen den träumen die man immer hat, dass man da auch ganz oft (.) da hineinversinkt […] aber dann auf der anderen seite (.) ja (.) die realität […] und dass man eigentlich (.) genau in dieser welt bleiben soll« [648-657]. Die Reflexion eigener Anliegen und Ideale gelingt vermutlich deshalb, weil die Befragten zur subjektiven Auseinandersetzung durch die Lehrenden angeregt werden, sodass es nicht bloß um Wissensvermittlung und Leistungserwerb geht: »es war immer was persönliches das man [mhm] ä:hm (.) ja: auch zu papier gebracht hat. weil wir auch oft persönliche (.) in einer letzten aufgabenstellungen immer persönliche MEInungen wieder (.) gebracht (.) wiedergegeben haben« [Katharina, 393-398]. Die Ausführungen der Interviewten lassen die didaktische Förderung einer reflexiven Artikulationsfähigkeit (vgl. Gerlach 2005) vermuten: »dadurch erst auch eine andere sichtweise auf viele dinge gekriegt hat; und DANN halt eben auch ähm zwar seine eigene sichtweise hatte, […] und durch diesen ähm (.) diskurs mit den anderen (.) aber dann nochmal eine ganz neue denkanstöße bekommen hat« [Sven, 518-522]. Anders als die informellen Gelegenheiten konfrontiert der Unterricht mit Perspektiven, in denen »das, was wir bereits kennen, in einem neuen Licht als Teil eines größeren Zusammenhangs erscheint, auf den wir von der Alltagserfahrung her nicht kommen können« (Giesecke 1998: 34).
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P ädagogische S chlussfolgerungen Bildungserfahrungen, die die eigene Lebensgeschichte befragen und problematisieren, kommen letztlich – ganz im Sinne des postmodernen Angebots an Subjektivierungsmöglichkeiten – überall vor. Bildungsinstitutionen haben hier i.d.T. keine privilegierten Zugangsmöglichkeiten, sondern stehen in Konkurrenz zu außerschulischen Lebenskontexten wie Familie, Freunde, Vereine etc., die ebenso und deutlich öfter den Identitätsentwicklungsprozess positiv beeinflussen können. Es kann jedoch festgehalten werden, dass die Schule als Regelschule durchaus Bildungserfahrungen ermöglichen kann und vor allem anders als informelle Kontexte in der Lage ist, Beständigkeit zu schaffen. Insbesondere kann sie Bildungsprozesse über die sachliche Auseinandersetzung anregen. Die Befunde zeigen, dass dies in der Regel dann gelingt, wenn die didaktisch-pädagogischen Angebote den Schüler als ganze Person einbeziehen und die Beziehung zum Lehrer durch gegenseitige Anerkennungsverhältnisse gekennzeichnet ist. Damit Inhalte ihre Wirkung entfalten, bedarf es ihrer RePräsentation durch einen bedeutungsvollen und glaubwürdigen anderen. Letztlich ist bisher aber nur in Ansätzen angedeutet worden, wie Schule eine bildende Wirkung entfalten kann. Sofern vorsichtige Annahmen zu schulischen Strukturen auf Basis biografischer Erfahrungen erlaubt sind, so verweisen die Befunde darauf, dass Bildungsprozesse im schulischen Rahmen zwar möglich, aber nicht immer gewollt oder didaktisch geplant sind und sich meistens eher zufällig vollziehen, wenn der Selbstentwurf in Lebenserfahrungen mit Peers oder Lehrenden herausgefordert und bestätigt wird. Zweifellos ist es jedoch sinnvoll, dass Schule sich Gedanken darüber macht, was in ihren Räumen geschieht und wie sie Identitätsprozesse, wie sie hier beschrieben worden sind, möglich machen kann. Hier gilt es gerade die Besonderheiten des pädagogischen Raums gegenüber den Freizeitwelten, mit Ziehe ließe sich sagen die Differenz zwischen Schule und Jugend, nicht zugunsten einer Informalisierung und Öffnung der schulischen Arrangements aufzugeben, sondern gerade zu verteidigen, um Identitätsentwicklung als Auseinandersetzung mit kulturellen Objektivationen zu ermöglichen, indem sich Bedürfnisse und Bestrebungen an etwas geistig abarbeiten, das gerade nicht der Subjektivität erwächst (vgl. Giesecke 1998: 25). In diesem Zusammenhang wird insbesondere die Frage nach Inhalten und ihrer Bildungserfahrungen ermöglichenden Vermittlung bedeutsam. Aus pädagogischer genauer noch aus allgemeindidaktischer Sicht gilt es deshalb, sich mit Gegenständen zu beschäftigen und ihren Bildungsgehalt zu elaborieren. So betont Klepacki, der sich im Grunde auf eine lange, jedoch in Vergessenheit zu geraten scheinende, Tradition im schulpädagogischen Diskurs besinnt: nämlich die Bedeutung der Frage nach kulturellen Inhalten, also warum, was und wie an wen vermittelt werden sollte und welche Fähigkeiten Schüler da-
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durch erwerben: Unterricht habe i.d.S. die Aufgabe »Schüler bei der subjektiven Aneignung objektiver kultureller Tätigkeitsdispositionen systematisch zu unterstützen. […] Schule muss damit nicht zu einem Ort Kultureller Bildung gemacht werden, sie ist von ihrer Grundstruktur her bereits immer schon einer – und zwar im doppelten Sinne einer kultureller Selbstdeutung und einer kulturellen Weltbildung« (Klepacki 2014). Er erinnert letztlich daran, dass Inhalte keinen Selbstzweck darstellen, sondern so aufgearbeitet werden müssen, dass Schüler sich selbst und den kulturellen Sinn dessen, was sie lernen, erfahren können. Lehrer darauf vorzubereiten, ist eine universitäre Aufgabe und erfordert normative Entscheidungen hinsichtlich der inhaltlichen Ziele des Unterrichts, was letztlich die Bedingung – oder zumindest Hoffnung 7 – dafür darstellt, dass Schule nicht nur zufällig, sondern pädagogisch inszeniert zum Ort der Selbstbildung wird.
L iter atur Augé, Marc (1994): Nicht-Orte, München. Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1980): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. Buck, Günther (1981): Hermeneutik und Bildung. Elemente einer verstehenden Bildungslehre, München. Breidenstein, Georg (2008): »Peer-Interaktion und Peer-Kultur«, in: Werner Helsper/Jeanette Böhme (Hg.), Handbuch der Schulforschung, S. 945964. Brüggen, Friedhelm (2014): »Bildung und Hermeneutik. Notizen zur Bildungstheorie Günther Bucks«, in: Sabrina Schenk/Torben Pauls (Hg.), Aus Erfahrung lernen. Anschlüsse an Günther Buck. Paderborn, S. 25-37. Ferchenhof, Wilfried (2010): Jugend und Jugendkulturen im 21. Jahrhundert: Lebensformen und Lebensstile, Wiesbaden. Fuchs, Thorsten (2014): »›Das war das Bedeutendste daran, dass ich mich so verändert habe.‹ Mit Ehrgeiz und Ansporn über Umwege zum Ziel – der ›Bildungsweg‹ Hakans.«, in: Hans-Christoph Koller/Gereon Wulftange (Hg.), Lebensgeschichte als Bildungsprozess?, Bielefeld, S. 127-152.
7 | »Von geistigen Stoffen her ist Bildung ein Angebot, das genutzt oder abgelehnt werden und über dessen persönliche Bedeutung nur der einzelne entscheiden kann. […] Die Veranstalter der Schule können hoffen, daß sich auf diese Weise verinnerlicht Bildungsprozesse ergeben und daraus dann auch erzieherisch-moralische Wirkungen entstehen, aber in ihrer Macht liegt dies nicht (H.i.O.).« (Giesecke 1998: 25)
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Schwellen zur Schule Beiträge theaterpädagogischer Praxis für die Erforschung schulischer Bildungsprozesse David Unterhuber
Dieser Beitrag skizziert ein Forschungsprojekt, das in Zusammenarbeit des Instituts für Bildungswissenschaft der Universität Wien und des Instituts für das künstlerische Lehramt (Akademie der bildenden Künste Wien) entwickelt wird. Das Projekt steht unter der Leitung von Elisabeth Sattler und Henning Schluß und ist ein sogenanntes Sparkling Science Projekt. Diese Projekte, finanziert vom österreichischen Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft, zeichnen sich dadurch aus, dass sie mit Schulen kooperieren und Schülerinnen und Schüler aktiv in wissenschaftliche Forschung einbinden. Das bedeutet, dass diese nicht bloß Beforschte sind, sondern Forschende, die in Erhebung, Auswertung und Präsentation der Daten und Ergebnisse eingebunden werden. Anlass für die Entwicklung des Forschungsprojekts war eine Überlegung aus dem Kinder- und Jugendtheater, dass Widerstände, ins Theater zu gehen, mit den Mitteln des Theaters auf spielerische Weise thematisiert werden können. Analog besteht die Vermutung, dass Ängste vor dem Betreten der Schule, die bis zur Schulverweigerung gehen können, mithilfe theaterpädagogischer Arbeit fruchtbar thematisiert werden können. Daraus folgte der Ansporn, den Umgang mit solchen schulischen Schwellen zu untersuchen, die tagtäglich oder auch nur einmalig überschritten werden. Gemeint ist damit weniger eine Übergangsforschung, wie sie vor allem aus erziehungspsychologischen Untersuchungen bekannt ist und die sich auf die Übertritte zwischen pädagogischen Institutionen konzentriert, sondern die Betrachtung der metaphorischen sowie räumlichen Schwelle zur Schule – in all der Bedeutungsvielfalt, die sie für die Beteiligten entfalten kann. Es stellte sich schnell heraus, dass das Forschungsthema nicht nur negative Emotionen, also Schulangst und -verweigerung beinhalten kann, sondern dass die Untersuchung einen breiter gefächerten Blick auf schulische Schwellen einnehmen muss – auch um bil-
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dungswissenschaftlich fruchtbar zu sein. Insbesondere kann der Fokus nicht auf Emotionen beschränkt bleiben, sondern – und das ist eine zentrale Vorannahme – der Fokus richtet sich auf mannigfaltige Selbst- und Weltverhältnisse in Verbindung mit schulischen Schwellen. Die mit diesen Selbst- und Weltverhältnissen verbundenen Veränderungen sind – so eine zweite Vorannahme – ein latenter Bestandteil des Schulalltags und können an schulischen Schwellen manifest werden. So kam es zur zentralen Thematik des Forschungsprojektes: Bildungsprozesse an der Schwelle zur Schule mit theaterpädagogischen Einsätzen erforschbar zu machen. Der Text wird entsprechend dieser Leitformulierung in vier Teile geteilt. Der erste Teil behandelt eine Annäherung an den Bildungsbegriff, der dem Projekt zugrunde liegt. Der zweite Teil dreht sich um die Besonderheiten, die eine Auseinandersetzung mit schulischen Schwellen mit sich bringt. Der dritte Teil behandelt das Potential theaterpädagogischer Einsätze und Herangehensweisen für ein Projekt der Bildungsforschung und im letzten Teil geht es um methodische Anmerkungen und Überlegungen, die den Charakter einer Problemskizze haben.
E in kl assischer B ildungsbegriff Angesichts eines gegenwärtig erneut aufkommenden Interesses am Begriff der Bildung (vgl. Wigger 2009) wendet sich das vorliegende Forschungsprojekt diesem Begriff in seiner klassischen Verwendung zu. Wegweisend für einen neuzeitlichen Bedeutungsrahmen von Bildung als Welt- und Selbstverhältnis wurde Wilhelm v. Humboldts Bildungsfragment, in dem dieser Bildung bekanntlich bestimmte als »Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung« (Humboldt 1980: 235f), die dem Zweck diene, »dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen« (ebd.: 235). Bildung ist damit als ein Verhältnis eines »selbstthätigen« Ich zur Welt gefasst, die durch dieses Ich verändert und bearbeitet wird und die ihrerseits auf das Ich einwirkt. Diese Einwirkung und den Bezug auf eine dem Menschen äußerliche, fremde Welt fasst Humboldt als »Entfremdung«, der nur dadurch beigekommen werden könne, dass der Mensch »die Masse der Gegenstände sich selbst näher bringen, diesem Stoff die Gestalt seines Geistes aufdrücken und beide einander ähnlicher machen« könne (ebd.: 237). In Humboldts frühem Bildungsfragment ist ein Verhältnis von Selbst und Welt vorgezeichnet, das nicht einfach von einer machtvollen Verfügung des Menschen über eine ihm äußere Welt ausgeht, vielmehr gelte es, sich einen »Begriff« einer unabhängigen, selbstständigen Welt zu bilden,
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die dem menschlichen Willen »die Gesetze der Natur und die Beschlüsse des Schicksals entgegenstellt« (ebd.). Der Mensch ist demnach bei Humboldt stets von einer Gleichzeitigkeit gekennzeichnet: sowohl von »Empfänglichkeit« für Einwirkungen der Welt als auch von einer »Selbstthätigkeit«, die es ihm erlaubt, sich einen Begriff von der Welt zu machen und diese zu bearbeiten, ihr »das Gepräge seines Werthes sichtbar auf[zu]drücke[n]« (ebd.: 236). An diese Tradition von Bildung knüpft das geplante Projekt an. Bildung trägt allerdings seit seiner klassisch-begrifflichen Fassung stets auch elitaristische Züge mit sich und droht, zu einer Metapher für soziale Distinktion, zur »Status signalisierenden Chiffre« (Bilstein 2015: 47) zu werden.1 Die soziale Bedeutsamkeit von Bildung (in diesem Kontext primär in der Form von Bildungsabschlüssen) als Aufstiegs-, Inklusions- und Exklusionsfaktor wird gegenwärtig unter anderem unter dem Begriff des (Bildungs-)Habitus diskutiert. Dieser lenkt den Blick auf ein handlungstheoretisches Verständnis der sozialen Bedingtheit von Bildung (vgl. Niestradt/Ricken 2014: 101) sowie auf ihre Funktion »als ein die soziale Ungleichheit nicht nur stützendes (und insofern reproduzierendes), sondern in besonderer Weise (ver-)stärkendes Moment« (ebd.). Diese Funktion nimmt Bildung hierbei sowohl in ihrer Bedeutung als individuelle Zuschreibung, als Prozess sowie als soziales System ein. Gleichzeitig steht der Begriff immer wieder unter dem Vorbehalt, er sei ungenau und wissenschaftlich nur schwer fassbar, sowie für eine empirische Befragung kaum tauglich (vgl. z.B. Lenzen 1997). Er scheint, in diversen modernen Diskursen veraltet zu wirken, gegenwärtig dominieren insbesondere in bildungspolitischen und öffentlichen Zusammenhängen Begrifflichkeiten wie »lebenslanges Lernen«, »Kompetenz«, »Qualifikation« und dergleichen. Andererseits bestehen Vermutungen, dass eben die besagte Unschärfe des Begriffes zu seiner Aufrechterhaltung beigetragen haben könnte (vgl. Prondczynsky 2009: 15), dass also »die semantische Unbestimmbarkeit dessen, was man mit Bildung genau meint, […] es heute im Rahmen einer an Paradoxien des pädagogischen Denkens gewöhnten erziehungswissenschaftlichen Reflexion gestattet, alte Fragen neuartig zu diskutieren, aber auch, Optionen der Forschung an sie anzuschließen« (ebd.: 18). Im Lichte dieser Unschärfe erscheint der Bildungsbegriff als eine Möglichkeitskategorie der Auseinandersetzung in und mit Welt auch in der modernen Bildungsforschung geeignet, empirisch befragt zu werden. Gegenwärtig geschieht dies beispielsweise dadurch, dass der Begriff der Bildung als Prozess befragt wird (vgl. Koller/Marotzki/Sanders 2007; Koller 2012). Bildung ist dabei ein Möglichkeitsrahmen, in dem sich die Veränderung von Eigenem und Fremdem in der Wechselwirkung zwischen 1 | Zur Antwort auf die Kritik, der klassische humboldtsche Bildungsbegriff sei nicht mehr zeitgemäß und werde den pluralistischen Tendenzen der (Post-)Moderne nicht gerecht, vgl. den aufschlussreichen Artikel von Koller (2009).
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einem Ich und der Welt ausdrückt. Sie muss dabei weder funktionalistisch auf die Bedürfnislage moderner Gesellschaft und Wirtschaft verengt werden (vgl. Müller/Stravoravdis 2007), noch bleibt sie eine überhöhte idealistische Metapher, die bestenfalls der Machtausübung der sogenannten »(Halb-)Gebildeten« über die »Ungebildeten« dient (vgl. Gruschka 2009). Vielmehr erlaubt ein klassischer Begriff von Bildung die Verortung von Erfahrungen eines Selbst mit, in und als Teil von Welt. Diese Erfahrungen können Gegenstand expliziter Reflexion werden. Insofern solche Erfahrungen als Welt- und Selbstverhältnisse gefasst werden können, kann ihre Reflexion als ein Verhältnis zumindest zweiter Ordnung verstanden werden (vgl. Bilstein 2015: 33).
S chwellen zur S chule Der Begriff der Erfahrung führt zum spezifischen Forschungsgegenstand des vorliegenden Projekts. Die Erfahrung von Schwellen zu und in Schule (seien diese metaphorisch oder schlicht räumliche Schul- und Klassenzimmerschwellen) ist als eine sowohl leibliche, sinnliche als auch kognitive Erfahrung zu sehen, anhand derer sich Bildungsprozesse manifestieren können, die im übrigen Schulalltag latent vonstattengehen – so die schon genannte These. Der gewählte Weg, um Bildungsprozesse im schulischen Raum thematisieren zu können, ist einer, der Bildung als Prozess berücksichtigt, der »mit dem ganzen Leib« geschieht, der also Ästhetik und Aisthesis (Sinneswahrnehmung) (vgl. Westphal 2014) menschlicher Welterfahrung explizit berücksichtigt. Die Schwelle ist dabei der Kristallisationspunkt leiblicher Erfahrung, aber auch metaphorischer Bezugspunkt des Nachdenkens über Selbst- und Weltverhältnisse. Gleichzeitig erlaubt es der Schwellenbegriff erstens, Einheitsvorstellungen eines Subjekts in Frage zu stellen, das einer Welt (d.h. einem Objekt) außer sich gegenüber steht und machtvoll verfügend auf diese Welt einwirkt. Die Schwelle als Raum, der auf uns einwirkt, affiziert uns in einer Weise, die es nicht erlaubt, von einer strengen Trennung zwischen Mensch und Welt auszugehen. Diese Perspektive ermöglicht es, Humboldts frühe Gedanken zu menschlicher Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit theoretisch aufzunehmen und dennoch den Menschen stets als einen Teil von Welt zu denken. Der Schwellenbegriff erlaubt darüber hinaus zweitens, die soziale Bedingtheit von Ich- bzw. Selbst-Konstruktionen zu thematisieren. Fremdheitserfahrungen sowie Erfahrungen des oder der anderen an der Schwelle zwischen Selbst und Welt sowie in der Auseinandersetzung mit dem Selbst als ein gesellschaftlich bestimmtes Selbst können damit verortet werden. Diese Perspektive setzt der individualisierenden Tendenz (oder vielmehr: Lesart) des klassischen Bildungsbegriffes die Kontextualisierung von Individuum und Gesellschaft entgegen.
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The aterpädagogische E insät ze Das geplante Projekt schöpft aus dem Potential, das ästhetische und performative Praktiken für die Thematisierung von Bildungsprozessen beinhalten (vgl. Wulf/Zirfas 2007b). Der Weg, auf dem Schwellenerfahrungen bildungstheoretisch befragt werden, besteht in theaterpädagogischen Praktiken und Einsätzen, die als explizite Performances die Behandlung impliziter Performanzen sowie der Performativität des täglichen (Schul-)Lebens möglich machen. Den schillernden, vieldeutigen Begriffen »performativ«, »Performanz«, »performance« und »Performativität« sei laut Wulf & Zirfas zunächst gemeinsam, dass diese sich »weniger um Tiefer- bzw. Dahinterliegendes als um das phänomenale Geschehen, weniger um die Struktur und die Funktionen als um den Prozess, weniger um Text oder Symbol als um die Herstellung von Wirklichkeit bemühen« (Wulf/Zirfas 2006: 292). Damit richten sich diese Begriffe, sofern sie bildungstheoretisch auf der Ebene von Schule befragt werden, unter anderem auf die »Vorderbühne« pädagogischen Geschehens, auf die Inszenierungsweisen pädagogischen Alltags, auf die »Rahmungen [und] Szenerien« (ebd.) pädagogischer Institutionen und auf das damit zusammenhängende sprachliche sowie leibliche Handeln aller in pädagogische Situationen Verstrickter. Der Fokus einer solchen Herangehensweise an Bildungsprozesse liegt somit auf der »Form und der ästhetischen Dimension« (ebd.: 295) von Interaktion, und auf den Machtverhältnissen zwischen aktiven und passiven TeilnehmerInnen pädagogischer Situationen. Der englische Begriff der »performance« betont diese Aktivität und Passivität, da er auf performative Handlungen als Handlungen in einem Feld von Zusehenden und AkteurInnen verweist, die in unterschiedlichem Maße am Geschehen teilhaben, die sich der Teilhabe aber nicht einfach entziehen können. In der Theater- und theaterpädagogischen Forschung haben sich die Grenzen zwischen Publikum und Darstellenden in jüngerer Zeit im Zuge der sog. »Postdramatik« zunehmend verflüssigt und verschoben. Dabei geht es primär um eine Neu- und Umdeutung des Verhältnisses von Text und Darstellung (vgl. Westphal 2007: 50f.). Darstellung ist dabei keine bloße Aufführung eines gegebenen Textes, vielmehr stellen Text auf der einen Seite und Darstellung auf der anderen Seite zwei unterschiedliche »Modalität[en] von Wirklichkeit« (ebd.: 49) dar. Mit dieser Blickwendung ging eine Neudeutung des Verhältnisses zwischen einem vermeintlich passiven Publikum und den aktiven Darstellenden einher (vgl. ebd.: 52). Der Blick auf ästhetische Performativität fällt dabei wiederum bevorzugt auf den Prozess künstlerischen und körperlichen Ausdrucks, weniger auf dessen Ergebnis. Dieses verflüssigte Verhältnis zwischen Publikum und Darstellenden ist es, woraus die theaterpädagogische Vorgehensweise dieses Projekts ihr Potential speist. Das Vorgehen besteht nicht darin, mit SchülerInnen ein Theaterstück einzustudieren, um dieses
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anschließend mit bzw. vor einem Publikum vorzutragen. Vielmehr nutzt die theaterpädagogische Arbeit die Darstellung an und für sich. Diese besteht in jedem Moment aus Darstellenden und Zusehenden, Funktionen, die von den Teilnehmenden zu unterschiedlichen Zeitpunkten in unterschiedlichem Ausmaß eingenommen werden (dazu unten mehr). Diese Herangehensweise an theatrale Ausdrucksformen ist besonders fruchtbar im Hinblick auf die Erforschung von Lern- und Bildungsprozessen, insofern sie eine explizite Thematisierung der Auseinandersetzung eines Subjekts mit der Welt ermöglicht, wie sie Westphal im Zusammenhang mit dem Bildungsbegriff skizziert: »Das Bildungssubjekt handelt und antwortet aus dem Geschehen, aus der Begegnung mit dem Anderen und den Dingen heraus« (ebd.: 50). Der Andere und die Dinge können im theatralen Spiel der Darstellenden und Zusehenden buchstäblich zum Thema werden. Theaterpädagogische Einsätze eröffnen die Möglichkeit, als Anderer vor Anderen zu spielen, mit den Kategorien des Eigenen und des Fremden zu spielen und damit Schwellen zwischen Welt- und Selbstverhältnissen erfahrbar zu machen und zu befragen.2 Im Folgenden stellt sich nun die Frage, welche methodischen Zugangsweisen ein Projekt erforderlich macht, das schulische Schwellenerfahrungen mit Hilfe theatraler Ausdrucksformen erforschbar machen soll.
M e thodische Ü berlegungen Zunächst einige Vorbemerkungen: Wenn in den vorhergehenden Ausführungen von Bildungsprozessen die Rede war, dann waren damit durchwegs informelle Bildungsprozesse gemeint und zwar in der Bedeutung, dass es sich dabei nicht um institutionell inszenierte Bildungsanlässe handelt, die curricular festgehalten sind und idealiter unterrichtsmethodisch eingelöst werden sollen. Der methodischen Herangehensweise an die Erforschung von Bildungsprozessen und -anlässen liegt die These zugrunde, dass informelle Bildungsprozesse als Bedeutungskomplexe empirisch nur schwer zu fassen sind, jedenfalls nicht »mit freiem Auge« erkennbar sind. Dieser Problematik wurde bislang beispielsweise durch die pädagogische Biographieforschung begegnet, deren Anliegen es ist, die Erforschung von Bildungsprozessen durch die methodische Konstruktion
2 | Damit ist auch die Möglichkeit angesprochen, die gegenwärtig boomende (und nicht unproblematische) Auseinandersetzung mit Differenz (vgl. Ricken/Reh 2014) als Rahmung für das Forschungsvorhaben nutzbar zu machen. Fragen von Gleichheit und Verschiedenheit, von Einheit und Allgemeinheit drängen sich in der Auseinandersetzung mit Eigenheit und Fremdheit förmlich auf – auch wenn diese Konzepte nicht aufeinander reduzierbar sind, sondern je anderes in den Blick bringen.
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und Interpretation einer Lebenserzählung anhand signifikanter Lebensereignisse abzusichern (vgl. dazu Dausien/Hanses 2016, Koller 2016). Das vorliegende Forschungsprojekt geht anders an die Sache heran: Hier werden mit SchülerInnen der Sekundarstufe II theaterpädagogische Workshops durchgeführt, diese werden videographiert und sowohl nach der Durchführung mit den TheaterpädagogInnen reflektiert als auch anhand einer Diskussion der Videoaufzeichnungen ausgewertet.3 Das Potential einer solchen Herangehensweise liegt darin, performative Bedeutungsschichten zu finden, die vor und neben verbalsprachlichen und insbesondere narrativen Ausdrucksformen liegen: Bewegung, Gestik, Mimik und Raumverhältnisse stellen zentrale theoretische Reflexionspunkte dar. Die auf die theaterpädagogische Arbeit folgende, notwendig sprachliche Analyse kann innerhalb der Grenzen der Verbalsprache zumindest den Versuch unternehmen, sich an die Vielschichtigkeit körperlichen Ausdrucks anzunähern. Jedenfalls bleibt sie an diesen körperlichen Ausdruck zurückgebunden. Die Übersetzungen von theaterpädagogischen Performances in Videoaufzeichnungen, Gesprächsprotokolle und methodisch geleitete Interpretationen bringen zweifelsohne »Verluste«, die einer Berücksichtigung während der Workshops und im Zusammenhang der Auswertung bedürfen. Die Potentiale einer videographischen Aufzeichnung zur Möglichkeit späterer Analyse liegen allerdings vor allem darin, dass Videographie einen Zugang zu den jeweiligen spielerischen Situationen ermöglicht, der weder die Form einer Erzählung, noch eines Tonbandes noch eines unbewegten Bildes (Fotos) hat. Es sind, einfach gesagt, sich bewegende Körper zu sehen, ihr Verhältnis zueinander, zu den Dingen und zum Raum, in dem sie sich befinden. Dies ermöglicht eine Außenperspektive auf Performanz, die – bei allen Problemen, die sie mit sich bringt – anders nicht erreicht werden kann. Die oben vorgeschlagene Vorgehensweise lässt Selbst- und Weltverhältnisse auf mehreren Ebenen thematisch werden: (1) in theaterpädagogischen Performances, (2) in der Reflexion und Diskussion der Performances mit den SchülerInnen, (3) in der Diskussion der Videoaufzeichnungen mit den SchülerInnen und (4) in der erneuten Interpretation der Videoaufzeichnungen und Diskussionen durch die wissenschaftlichen ProjektmitarbeiterInnen. An dieser Aufzählung ist erkennbar, warum es sich bei dem vorliegenden Projekt um 3 | Hier ist eine Zwischenbemerkung notwendig: Die Betonung eines klassischen humboldtschen Bildungsbegriffs und dessen Fokus auf Selbst- und Weltverhältnisse hat auch in der These den Grund, dass eine solche Skizzierung für die mitforschenden SchülerInnen zugänglicher erscheint als ein Schwerpunkt auf Fremdheit, Differenz und Alterität. Das bedeutet nicht, dass in der Rede von Selbst- und Weltverhältnissen eine solche Perspektive ausgeklammert ist, im Gegenteil kommt die in diesem Projekt bemühte Herangehensweise an Fragen von Fremdheit/Differenz/Alterität nicht vorbei.
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ein explizit partizipatives Projekt handelt. Mit Ausnahme der letzten Ebene stehen die SchülerInnen nicht bloß als Beforschte, sondern als (sich) Erforschende im Geschehen. Dies führt zu einem besonderen Schwerpunkt des forschungsmethodischen Vorgehens, der im Folgenden erläutert wird.
Die Perspektiven der SchülerInnen Die teilnehmenden SchülerInnen nehmen eine Perspektive auf die Schwellenthematik ein, die einem forschenden Blick verborgen bleibt, einem Blick, der – hermeneutisch gesprochen – entsprechend durch wissenschaftliches Vorverständnis »belastet« ist. Diese Belastung bleibt, auch wenn über das Vorverständnis ausreichend Rechenschaft abgelegt wurde. Die Sicht der SchülerInnen auf Kategorien, Begriffe und Bedeutungen ist freilich auch nicht voraussetzungslos und es ist gleichermaßen von Bedeutung, Vorverständnisse der SchülerInnen im Forschungsprozess freizulegen. In jedem Fall werden SchülerInnen beispielsweise »Schwellen« anders identifizieren als Forschende. Schon die Teilnahme an dem Forschungsvorhaben kann für sie eine Schwelle sein, die es zu überwinden gilt. Dieser Gedanke führt zu einer wesentlichen Eingrenzung des Forschungsgegenstandes: Im Zentrum stehen nicht die in den Workshops durchgeführten Performances an und für sich, sondern die jeweiligen Bedeutungsebenen, die SchülerInnen wiederum in ihre Performances legen, bzw. die sie danach im Austausch freilegen. Es ist dabei wichtig, zu beachten, dass die Bedeutungen, welche die SchülerInnen körperlichen und ästhetischen Ausdrucksformen beimessen, aus Perspektive der Forschenden nicht einfach als Bildungsprozesse tituliert werden und sich damit eine selbsterfüllende Prophezeiung einstellt. Vielmehr gelten Überlegungen zur Möglichkeitsbedingung von Bildung als ein Anlass dafür, Welt- und Selbstverhältnisse von SchülerInnen im Zusammenhang mit schulischen Schwellen zu thematisieren. Bildungstheoretisches Denken ist davon gekennzeichnet, dass es als theoretischer Zugriff einerseits den untersuchten Gegenstand allererst als solchen in den Blick bekommt und damit konstituiert, andererseits »zielt« es gewissermaßen an den Ergebnissen und Perspektiven empirischer Forschung »vorbei«. 4
4 | Alfred Schäfer bringt diese Problematik anhand des utopischen Zuges bildungstheoretischen Denkens zum Ausdruck: »Bildungstheoretisches Denken wäre […] auch als utopisches Denken insofern anzusehen, als es sich um die Angabe empirischer Möglichkeitsbedingungen von Prozessen bemüht, deren empirische Einlösbarkeit nicht nur nicht garantiert werden kann, sondern deren ›Resultate‹ auch immer anders interpretiert werden können.« (Schäfer 2009: 187)
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Methodologische Herausforderungen Dieser letzte Abschnitt greift methodische sowie methodologische Fragen auf, welche die theaterpädagogische Arbeit sowie die videographische Aufzeichnung der theaterpädagogischen Workshops mit sich bringen. Zunächst einige theaterpädagogische Herausforderungen: Die Perspektiven, die SchülerInnen auf die Thematik der »Schwelle« einnehmen, bringen methodische Probleme mit sich, wie sie in dieser Form der Sozialforschung immer bestehen: Die begriffliche Bedeutung und die Relevanz, die SchülerInnen Schwellen einräumen, können mitunter radikal von den Perspektiven und Verständnisweisen der Forschenden abweichen. Die theaterpädagogische Anleitung und Arbeit soll zwar einen Bedeutungshorizont des Begriffs der »Schwelle« ermöglichen, diesen Horizont allerdings nicht so weit engführen, dass den SchülerInnen nichts anderes übrig bleibt, als ihn zu übernehmen. Eine Herausforderung für die theaterpädagogische Arbeit besteht auch darin, SchülerInnen einen Zugang zur Thematik der »Schwelle« zu ermöglichen, den sie nicht aus ihrer Lebenswelt kennen und der noch dazu auf dem Weg theatraler Performance gestaltet wird. Nun einige Anmerkungen zur Videographie: Die in diesem Projekt videographierten Situationen sind keine »natürlichen«5 Situationen, die zumeist Gegenstand soziologischer Videographie darstellen (vgl. Tuma/Schnettler/ Knoblauch 2013: 13f.) und auch keine Lehr-Lernsituationen, wie sie eine erziehungswissenschaftliche Videographie zumeist erforscht (vgl. Dinkelaker/ Herrle 2009). Die Daten stellen vielmehr »konstruierte Daten« dar (Knoblauch 2004: 126; Hervorh. im Original), die sich dadurch auszeichnen, dass sie in einer Situation entstehen, die »eigens [für die Aufzeichnung; D.U.] geschaffen« (ebd.) wurde. Es handelt sich also um »wissenschaftlich aufgezeichnete experimentelle Situationen« (ebd.), deren Interaktionsgeschehen eigene Implikationen mit sich bringt. Zusätzlich handelt es sich um theatralische Situationen. Dies führt zu einem der Videographie bekannten Problem namens Reaktanz, sprich Reaktionen auf die Anwesenheit der Kamera. Die Beobachteten können beispielsweise »Blicke auf die Kamera werfen, Unwohlsein zeigen oder sich dem Fokus entziehen« (Tuma/Schnettler/Knoblauch 2013: 13f.). Dieses Problem wird häufig durch fortschreitende Gewöhnung an die Kamera sowie durch explizite Thematisierung der Forschenden und der Kamera in der Analyse abgeschwächt. Im Falle der geplanten Untersuchung besteht al5 | Hier lässt sich einlenken, dass die »Natürlichkeit« untersuchter Situationen in der Ethnographie und Sozialforschung immer von der Künstlichkeit des forschenden Zugriffs berührt ist und damit keine – wie auch immer gedachte – »reine« Authentizität meint. Diese Künstlichkeit lässt sich durch methodische Kontrolle zwar reflektieren und verringern, allerdings nicht auflösen.
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lerdings die Vermutung, dass sich das Problem der Reaktanz verschärft. Das theaterpädagogische Setting erzwingt möglicherweise ein Spielen »für« die Kamera, die sich perspektivisch auf eine Situation richtet, in der Darstellung im Mittelpunkt steht. Damit rückt auch in den Mittelpunkt, wie die Darstellenden von anderen gesehen werden wollen. Folgt man performativer Forschung, so ist jedes Handeln in einer bestimmten Form mit Strukturen von Darstellung und Präsentation verbunden (vgl. Wulf/Zirfas 2007a: 10). Diese Strukturen müssen dabei nicht explizit in der Handlungssituation reflektiert sein. Somit lassen sich soziale Situationen durchaus auf ihren inszenatorischen Gehalt hin lesen. Die Herausforderung dieses Forschungsprojekts erwächst jedoch aus der Tatsache, dass hier SchülerInnen mit TheaterpädagogInnen ein Setting erzeugen, das die Kategorien von Darstellung, Inszenierung, Zuschauern und Akteuren in den Mittelpunkt rückt. Hinzu kommt, dass die SchülerInnen im Wissen spielen, dass sie in einem – weiter zurückliegenden – Folgeschritt das erstellte Video gemeinsam mit MitschülerInnen betrachten. Die Performance der SchülerInnen geschieht also im Bewusstsein davon, dass ihr Handeln auf Dauer gestellt wird. Damit sind zum Zeitpunkt des spielenden Handelns mehrere Zuschauerperspektiven gleichzeitig aktuell: (1) die MitschülerInnen, (2) die TheaterpädagogInnen, (3) die teilnehmenden BeobachterInnen, (4) die Kamera(s), (5) die SchülerInnen selbst als Betrachter ihrer selbst sowohl zum Zeitpunkt des Geschehens als auch zu einem späteren Zeitpunkt, sowie (6) alle anderen Betrachter des erstellten Videos.
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Schwellen zur Schule
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David Unterhuber
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Bildung – Kultur und Öffentlichkeit Zur politischen Relevanz ›einheimischer Begriffe‹ am Beispiel einer Musikschule in der Provinz Henning Schluß/Verena Schluß
A bstr act Eingangs wird knapp die Entwicklung der Begriffe »Bildung«, »Kultur«, »Aufklärung« und »Öffentlichkeit« an sehr ausgewählten Stationen skizziert. Dabei wird deutlich, dass für die je anders verwendeten Begriffe sich auch das Verhältnis von Kultur und Bildung anders darstellt. Die leitende These ist, dass die Identifikation von Öffentlichkeit mit Staatlichkeit insbesondere im Bildungsbereich verfehlt ist und die seit der Aufklärung entwickelten Unterscheidungen zwischen den Begriffen ihre Berechtigung nicht verloren haben. Am Beispiel einer Musikschule in der ostdeutschen Provinz gezeigt, wie diese Begriffe wieder genauer unterschieden und mit Leben gefüllt werden können.
»B ildung «, »K ultur «, »A ufkl ärung « und »Ö ffentlichkeit « In seinem viel diskutierten Essay »›Kultur‹ ist das Thema« schlug Micha Brumlik (2006) vor, die Pädagogik als eine Kulturwissenschaft zu begreifen. Brumlik schloss damit einerseits an die kulturwissenschaftlichen Überlegungen Klaus Mollenhauers an, der spätestens seit den »Vergessenen Zusammenhängen« (1983) eben diesen Zusammenhängen von Kultur, Ästhetik und Bildung auf der Spur war, die in der von ihm ja wesentlich mitgeprägten emanzipatorischen Pädagogik der späten 1960er und 70er Jahre verloren zu gehen drohten (vgl. Aßmann 2015). Gleichwohl sind diese Zusammenhänge nicht neu. Eine Spur liefert zum Beispiel die Sprache selbst mit der Problematik der Übersetzung des Bildungsbegriffs. Eine Übersetzungsmöglichkeit für
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das, was wir mit »Bildung« bezeichnen ist im Englischen und im Französischen der Begriff »culture«. Vermutlich war es Moses Mendelssohn, der in seinem zu Unrecht im Schatten von Kants berühmter Schrift, »Beantwortung der Frage, was ist Aufklärung« stehenden Essay, für den deutschsprachigen Raum den engen Zusammenhang von Kultur und Bildung begründet hat. Wie Kant beantwortet er die in der Berlinischen Monatsschrift Gedickes gestellte Frage des Pfarrers Johann Friedrich Zöllner, was denn eigentlich Aufklärung sei. In seinem Artikel, in dem Zöllner die kirchliche Eheschließung gegen einen Artikel verteidigt, der die Zivilehe favorisierte, fragte dieser auf der letzten Seite in einer Fußnote: »Was ist Aufklärung? Diese Frage, die beinahe so wichtig ist, wie was ist Wahrheit, sollte doch wohl beantwortet werden, ehe man aufzuklären anfange! Und noch habe ich sie nirgends beantwortet gefunden« (Zöllner 1783: 516). Mendelssohn nimmt diese Frage auf und stellt fest, »die Worte Aufklärung, Kultur, Bildung sind in unserer Sprache noch neue Ankömmlinge. Sie gehören vor der Hand bloß zur Büchersprache. Der gemeine Haufe verstehet sie kaum« (Mendelssohn 1784: 193). Zum Versuch einer näheren Bestimmung hebt er zuerst ihre Gemeinsamkeiten heraus: »Bildung, Kultur und Aufklärung sind Modifikationen des geselligen Lebens; Wirkungen des Fleißes und der Bemühungen der Menschen, ihren geselligen Zustand zu verbessern« (ebd.:193f.). Bildung« ist dabei für Mendelssohn kein individueller Begriff, sondern einer, der sich auf die Gesellschaft bezieht: »Je mehr der gesellige Zustand eines Volks durch Kunst und Fleiß mit der Bestimmung des Menschen in Harmonie gebracht worden, desto mehr Bildung hat dieses Volk« (ebd.: 194). Bildung ist also eine Art Meta-Kategorie. Mendelssohn: »Bildung zerfällt in Kultur und Aufklärung« (ebd.). Kultur bestimmt Mendelssohn wie folgt: »Jene scheint mehr auf das Praktische zu gehen: auf Güte, Feinheit und Schönheit in Handwerken, Künsten und Geselligkeitssitten (objektive); auf Fertigkeit, Fleiß und Geschicklichkeit in jenen, Neigungen, Triebe und Gewohnheit in diesen (subjektive). Je mehr diese bei einem Volke der Bestimmung des Menschen entsprechen, desto mehr Kultur wird demselben beigelegt; so wie einem Grundstücke desto mehr Kultur und Anbau zugeschrieben wird, je mehr es durch den Fleiß der Menschen in den Stand gesetzt worden, dem Menschen nützliche Dinge hervorzubringen« (ebd.).1 1 | Es ist nicht ohne Reiz, dass diese Definition nahezu diametral entgegengesetzt zu der in anderen Beiträgen dieses Bandes zitierten von Adorno konstruiert ist: »Denn Bildung ist nichts anderes als Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung Aneignung« (Adorno 1959: 94). Und Kultur sieht Adorno zunehmend intellektualistisch bestimmt »Nach deutschem Sprachgebrauch gilt für Kultur, in immer schrofferem Gegensatz zur Praxis, einzig Geisteskultur« (ebd.).
Bildung – Kultur und Öffentlichkeit
»Aufklärung« ist für Mendelssohn eher eine theoretische und wissenschaftliche und individuelle Kategorie. Sie steht in Beziehung zur Öffentlichkeit, die sich in dem monarchischen System unabhängig vom und durchaus gegen den absolutistischen Staat bildete. Aufklärung und Öffentlichkeit gehören damit in den engen Zusammenhang von Kultur und Bildung. In der folgenden Ausgabe der Berlinischen Monatsschrift beantwortet Kant die gleiche Frage, was Aufklärung sei, mit der bekannten Formel, dass Aufklärung der »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« (1784: 481) ist. Dies bedeute, so Kant, »den Mut, sich des eigenen Verstandes ohne Anleitung eines Dritten zu bedienen« (ebd.). Dies allerdings bedarf einer Voraussetzung: »Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit« (1784: 484). Kant, der sah, dass eine Revolution keineswegs zu einer »Revolution der Denkungsart« (1784: 485) führen musste, beruhigte zugleich diejenigen, die die Revolution fürchteten. Revolution sei hier »die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stücken öffentlichen Gebrauch zu machen« (Kant 1784: 484). Kant unterscheidet also die Freiheiten und ist seinem Landesherrn dankbar, dass dieser als einziger die Freiheit zu räsonieren nicht beschneidet, sondern nur andere Freiheiten.2 Damit kann Kant leben, denn er fragt: »Welche Einschränkung aber ist der Aufklärung hinderlich? Welche nicht, sondern ihr wohl gar beförderlich?- Ich antworte: der öffentliche Gebrauch seiner Vernunft muß jederzeit frei sein, und der allein kann Aufklärung unter Menschen zu Stande bringen; der Privatgebrauch derselben aber darf öfters sehr enge eingeschränkt sein, ohne doch darum den Fortschritt der Aufklärung sonderlich zu hindern« (ebd). Dabei ist bemerkenswert, dass der Kantsche Öffentlichkeitsbegriff dem des heutigen Sprachgebrauchs nahezu entgegengesetzt ist und noch näher an dem antiken Dual von Öffentlichkeit und Privatheit, Polis und Oikos, orientiert zu sein scheint: »Ich verstehe aber unter dem öffentlichen Gebrauche seiner eigenen Vernunft denjenigen, den jemand als Gelehrter von ihr vor dem ganzen Publikum der Leserwelt macht. Den Privatgebrauch nenne ich denjenigen, den er in einem gewissen ihm anvertrauten bürgerlichen Posten, oder Amte, von seiner Vernunft machen darf« (Kant 1784: 485). Dass Öffentlichkeit in der Zeit der Aufklärung zu einer gesellschaftlichen Kategorie wird, markiert eine Differenz, die in der griechischen Antike nicht denkbar war, wie Hannah Arendt prägnant herausgearbeitet hat (2002). Dort ist die Polis der Ort, an dem über freies Sprechen (oder das Sprechen der Freien) vermitteltes Denken und Überzeugen das Geschick des Stadtstaates gelenkt wird. Eine Öffentlichkeit jenseits dieser Politik brauchte es nicht. Le2 | »Nur ein einziger Herr in der Welt sagt: räsoniert, so viel ihr wollt und worüber ihr wollt; aber gehorcht!« (Kant 1784, 485)
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diglich das im Gesetz des Hauses stehende (die Ökonomie) steht in schroffem Gegensatz zur Öffentlichkeit der Politik. Durch diesen engen Zusammenhang von vollmächtigem Sprechen, Denken und Überzeugen und gemeinsamen Gestalten sieht Hannah Arendt die Beschreibung des Menschseins in der Polis durch Aristoteles als zoon logon echon und als zoon politikon als zwei Seiten derselben Medaille an (Arendt 2002: 36f). Dass dieser enge Zusammenhang, wie auch die Dualität von Politik/Öffentlichkeit und Ökonomie so bereits in der römischen Antike, in den lateinischen Übersetzungen der aristotelischen Beschreibungen des Menschseins nicht mehr aufrecht erhalten wurde (vgl. Arendt 2002: 35ff), kann hier beiseitegelassen werden. Deutlich ist, dass Politik seit dem Ende der römischen Republik immer weniger mit der Sache aller, als vielmehr mit der Sache der wenigen, die auf die Staatslenkung Einfluss hatten, identifiziert wurde, die im Absolutismus dann idealiter auf eine einzige Person reduziert wurde. Dass zwischenzeitlich die Kirche als eine weitere Instanz in mit und gegen den Staat sich etabliert hat (vgl. Böckenförde 1976), führte auch durch die Reformation nicht zu einer solchen Teilhabe aller, auch wenn dies durch reformatorische Grundsätze wie dem Priestertum aller Gläubigen durchaus nahegelegen hätte.3 Insofern entsteht mit der Aufklärung die Instanz der Öffentlichkeit als einer intermedieren Sphäre zwischen Politik und Privatheit. Sie bot in an Umbrüchen nicht armer Zeit eine auch von den meisten deutschen Fürsten durchaus mehr oder weniger geduldete Sphäre, die ein Ventil schaffte, wenn man die französische Konsequenz scheute, sich des Staates als Bürger wieder zu bemächtigen. Stattdessen wurde Freiheit auf Ersatzbühnen geübt, wie Johannes Bilstein in seinem Beitrag in diesem Band am Beispiel der Schillerschen Briefe über Ästhetik erinnert (Schiller 1795; vgl. Bilstein in diesem Band). Während sich der Öffentlichkeitsbegriff seit der Aufklärung immer weiter vom Staat emanzipiert hat, die öffentliche Meinung somit mitnichten die staatliche Meinung ist, ist das im Bildungsbereich interessanter Weise anders. Hier wird noch immer die Öffentlichkeit mit Staatlichkeit identifiziert, als hätte es die Aufklärung nicht gegeben. Wenn Gesetzestexte von der »Öffentlichen Schule« reden, dann ist damit die staatliche Schule gemeint. Ihr entgegengesetzt sind Privatschulen, die dem Begriffe nach nicht öffentlich sein können, weil das Private ja das der Öffentlichkeit entgegengesetzte ist.4 Dass Kant in 3 | Die Versuche, auch die politische Teilhabe zu beanspruchen, wie im Bauernkrieg, wurden nicht zuletzt von den meisten Reformatoren zurückgewiesen und von den Fürsten niedergeschlagen (vgl. Bloch 1921/1989). 4 | »Das Recht zur Errichtung von privaten Schulen wird gewährleistet. Private Schulen als Ersatz für öffentliche Schulen bedürfen der Genehmigung des Staates und unterstehen den Landesgesetzen.« (GG Art. 7 (4). Davon abweichend wird in manchen neueren Landesverfassungen ein anderer Sprachgebrauch gepflegt. So ist statt von »öffentlichen
Bildung – Kultur und Öffentlichkeit
der ihm zugeschriebenen Pädagogik dem Staat als Träger von Schulen ausgesprochen skeptisch gegenüberstand, mag auch dem absolutistischen Staat geschuldet sein, dem er bei allem öffentlich vorgetragenen Lob für Friedrich II5 doch auch Grund hatte, misstrauisch gegenüberzustehen.6 Aber bemerkenswert bleibt, dass Kant es den philanthropischen Privatleuten am ehesten zutraut, Schulen im Interesse eines öffentlichen Fortschrittes zu entwickeln und zu halten.7 In der Generation nach Kant präzisieren Wilhelm von Humboldt den Bildungsbegriff und Friedrich Daniel Schleiermacher den Erziehungsbegriff interessanter Weise ebenfalls in Abgrenzung zum Staat. Schleiermachers Abhandlung »Über den Beruf des Staates zur Erziehung« (1814/1957) ist dabei weder so prominent noch so radikal wie Humboldts frühe Ideenschrift (Humboldt 1792/1851).Schleiermacher entwickelt den Gedanken, dass die Erziehung älter ist als der Staat. Denn auch als die Menschen in den ersten Formen von Vergesellung gelebt hätten, sei erzogen worden. Die Größe auf die Schleiermacher mit der Erziehung Bezug nimmt, ist daher eher der des Volkes, das schon vor dem Staat bestanden hatte. Dennoch gesteht Schleiermacher dem Staat in streng umgrenzten Situationen eine Einmischung in Fragen der Erziehung zu, nämlich dann, wenn unterschiedliche Volksteile (z.B. durch Eroberungen) in einem gemeinsamen Staatswesen auf ein ähnliches Bildungsniveau gebracht werden müssen, damit die Unterschiede dieser Volksgruppen nicht zu einer Benachteiligung und damit zu Spannungen führen. Insofern muss der Staat also aus Gerechtigkeitsgründen, wie aus Gründen des inneren Friedens für eine nivellierende Erziehung sorgen. Dabei ist für SchleierSchulen« in der Brandenburgischen Landesverfassung von Schulen in »Trägerschaft des Landes und der kommunalen Selbstverwaltung« die Rede und statt von »Privatschulen« von »Schulen in freier Trägerschaft« (Brandenburgische Landesverfassung von 1992 Artikel 30 [5, 6], https://bravors.brandenburg.de/de/gesetze-212792#30). 5 | »Ein Fürst, der es seiner nicht unwürdig findet, zu sagen: daß er es für Pflicht halte, in Religionsdingen den Menschen nichts vorzuschreiben, sondern ihnen darin volle Freiheit zu lassen, der also selbst den hochmütigen Namen der Toleranz von sich ablehnt: ist selbst aufgeklärt, und verdient von der dankbaren Welt und Nachwelt als derjenige gepriesen zu werden, der zuerst das menschliche Geschlecht der Unmündigkeit, wenigstens von Selten der Regierung, entschlug, und jedem frei ließ, sich in allem, was Gewissensangelegenheit ist, seiner eigenen Vernunft zu bedienen« (Kant 1784: 492). 6 | Auch Kant geriet in Konflikt mit der preußischen Zensur, so z.B. in Bezug auf seine Religionsschrift von 1793, die mit Woellners Religionsedikt von 1788 kaum vereinbar war. 7 | »Demnach sollte auch die Einrichtung der Schulen bloß von dem Urteile der aufgeklärtesten Kenner abhängen. Alle Kultur fängt von dem Privatmanne an, und breitet von daher sich aus« (Kant 1983: 705).
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macher selbstverständlich, dass eine solche Nivellierung nur durch Anhebung des Niveaus der unteren Volksgruppe, nicht etwa durch Absenkung des Niveaus der gebildeteren Gruppe im Staat zufriedenstellend erreicht werden könne. Nach der Angleichung des Niveaus habe sich der Staat aus der Erziehung wieder zurückzuziehen.8 Humboldts Fragment »Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen« von 1792 ist weit radikaler in seiner liberalen Argumentation. Da die Aufgabe des Staates sei, dem Menschen zu dienen fragt Humboldt, was der Zweck des Menschen sei. Er bestimmt den »wahren Zweck« des Menschen wie folgt: Es ist die »höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen« (Humboldt 1792/1851:9). Humboldt nennt zwei Bedingungen für diese Bildung. Die erste erinnert stark an Kants acht Jahre früher erschienene Aufklärungsschrift: »Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung« (ebd.). Humboldt fügt jedoch noch eine weitere hinzu: »Allein ausser der Freiheit erfordert die Entwickelung der menschlichen Kräfte noch etwas anderes, obgleich mit der Freiheit eng verbundenes, – Mannigfaltigkeit der Situationen.« (ebd.: 9f.). Die Freiheit würde aber dann eingeschränkt, wenn die in seinem Umfeld zumeist monarchisch verfassten Staaten sich in die Fragen der Bildung einmischten, denn sie würden zwangsläufig eigene Interessen verfolgen und damit weder die Mannigfaltigkeit der Situationen fördern, noch Freiheit zulassen. Das sei in den antiken Demokratien deshalb weniger problematisch gewesen, weil die Beherrschten gleichzeitig auch die Herrscher waren, weil sie in der antiken Volksherrschaft diese Gesetze auch gemacht hätten. Insofern also in direkten Demokratien Regierende und Regierte die gleichen sind, ist die Einengung der Freiheit leichter akzeptabel, weil man sich gewissermaßen selbst einengt. Inwiefern dieses Argument für parlamentarische Demokratien in gleicher Weise gilt, in denen Politik ein Beruf ist (vgl. Weber 1919/1958), bleibt eine andernorts zu diskutierende Frage.
M usikschulen als B ildungsinstitutionen Mit Humboldts doppeltem Kriterium ist der Aufgabe auch einer Musikschule die Richtung gewiesen und sie hat im Vergleich mit einer allgemeinbildenden Schule in Deutschland in einer Hinsicht möglicherweise sogar bessere Voraussetzungen. Denn während die allgemeinbildenden Schulen der Schulpflicht 8 | »Hat es sich aber erst als ein solches bewährt: so ist auch kein Grund, warum die Regierung länger sollte die Erziehung, die doch von Natur nicht ihr Geschäft ist, dazu machen und sie nicht vielmehr in die Hände des Volkes zurückgeben« (Schleiermacher 1814/1957:166).
Bildung – Kultur und Öffentlichkeit
unterliegen und die Freiheit deshalb zumindest nicht im äußerlichen Verhältnis besteht (vgl. Oevermann 2003 u. 2004; Gruschka 2003; Blankerts 2003), steht es den Heranwachsenden frei, eine Musikschule zu besuchen. Diese Aufgabe sieht Humboldt klar außerhalb der Zuständigkeit des monarchischen Staates. Auch der monarchische Staat habe aber die Aufgabe sicherzustellen, dass der Mensch seinen eigenen Zweck erfüllen könne, also sich umfassend und mannigfaltig bilden könne. Letztlich ist damit das moderne Subsidiaritätsprinzip vorgedacht, das die Grundlage des Verwaltungshandelns im heutigen demokratischen Staat darstellt.9 Der Staat muss dafür sorgen, dass alle Menschen sich mannigfaltig bilden können, er muss diese Angebote nicht selber vorhalten, sondern nur sicherstellen, dass es solche Angebote, erreichbar für alle, gibt.
Die Stadt Oranienburg Oranienburg ist die Kreisstadt des brandenburgischen Landkreises Oberhavel. Sie liegt im engeren Verflechtungsraum Berlins und kann sich deshalb seit Jahren in einem Land mit sinkender Bevölkerungszahl über wachsende Einwohnerzahlen und relative wirtschaftliche Prosperität freuen.10 Zugleich ist dies aber auch ein Nachteil für die Stadt, die eher kleinstädtisch strukturiert ist und ca. 44.000 Einwohner hat, denn viele Bewohner bleiben nach wie vor auf Berlin orientiert und nehmen konsumtive und kulturelle Angebote dort wahr. Andererseits ist gerade für eine Musikschule diese Lage deshalb von Vorteil, weil viele Künstler*innen aus Berlin nach Oranienburg kommen und hier unterrichten können. In der Stadt gibt es mit der staatlichen Kreismusikschule, der Musikwerkstatt Eden (eine UG in Trägerschaft eines gemeinnützigen Vereins) und der Musikschule Klang-Farbe Orange UG drei Musikschulen mit einem eigenen Gebäude. Gegenwärtig steht die Stadt vor allem vor zwei Herausforderungen. Oranienburg ist die Kommune Deutschlands mit den meisten Blindgängern des zweiten Weltkrieges.11 Die zweite Herausforderung teilt Oranienburg mit anderen Kommunen. In einer ehemaligen Kaserne ist ein großes Flüchtlingsheim eingerichtet worden. Die Problematik von rechtsextremistischen Ausschreitungen und Wahlerfolgen der AfD ist in Oranienburg wie häufig im Osten Deutschlands präsent. Die Stadt, die durch das Toleranzedikt des großen Kur9 | www.bpb.de/nachschlagen/lexika/politiklexikon/18315/subsidiaritaet (zuletzt aufgerufen am 5.10.2016). 10 | Stadt Oranienburg: »Zahlen, Daten und Fakten zur Kreisstadt Oranienburg« https:// www.oranienburg.de/texte/seite.php?id=13066 (zuletzt aufgerufen am 7.10.2016). 11 | Stadt Oranienburg. »Kampfmittelsuche in Oranienburg« https://www.oranienburg. de/seite/63642/kampfmittelsuche.html (zuletzt aufgerufen am 7.10.2016)
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fürsten ebenso berühmt ist, wie durch das Konzentrationslager Sachsenhausen berüchtigt, ist sich dieser Verantwortung durchaus bewusst. Insofern ist es kein Zufall, dass es bislang in Oranienburg keine Ausschreitungen gegen die Flüchtlinge gibt, sondern eine Vielzahl von bürgerschaftlichen Initiativen den »besorgten Abendspaziergängern« tatkräftig helfend etwas entgegensetzt.
Die Klang-Farbe Orange als Musikschule in privater Trägerschaft als Teil der Öffentlichkeit 12 Die Musikschule Klang-Farbe Orange wurde 2011 als e.V. gegründet. Durch eine Änderung des Vereinsgesetzes musste die Rechtsform geändert werden und besteht nun seit 2015 als UG. Zugleich wurde 2015 auch das eigene Gebäude bezogen, das das modernste Musikschulgebäude Oranienburgs mit komplettem Schallschutz, barrierefreiem Zugang ist und mit einer von den Stadtwerken gepachteten Solaranlage als Nullenergiehaus errichtet wurde. Die Musikschule erhält bislang keine dauerhaften staatlichen Zuschüsse, konnte aber projektbezogene Drittmittel einwerben. Im Konzert der mannigfaltigen Bildungsanlässe sieht die Klang-Farbe Orange gemeinsam mit den anderen Musikschulen am Ort ihre Aufgabe im ästhetischen und künstlerischen und insbesondere im musikalischen Bereich. Alle drei Musikschulen bieten freiwillige Angebote, die sich jedoch an alle richten. Die Musikschulen in der Kommune wollen Menschen bei der Entfaltung dieses Teils ihrer »mannigfaltigen Kräfte« helfen, um so ihre je individuelle Vorstellung von Ganzheit herausbilden zu können. Instrumentalspiel wie auch Gesang sind spielerische Ausdrucksformen, die auf den Menschen verändernd zurückwirken und insofern Bildungsereignisse.13 Deshalb beschränkt sich die Klang-Farbe Orange nicht nur auf die musikalischen Aspekte, sondern bemüht sich, die anderen Bereiche der Aisthesis in ihrem Konzept ebenfalls zu berücksichtigen. Beispiele dafür sind ein Fotostammtisch, Ausstellungen im Haus oder musikalische Interpretation von Kinderbüchern. Auch das Preisniveau versucht die Musikschule, auf einem für die Schüler und deren Eltern akzeptablen Niveau zu halten und gleichzeitig die Musikpädagoginnen fair zu entlohnen. Insbesondere die Arbeit mit Geflüchteten hat sich die Musikschule auf die Fahnen geschrieben und leistet damit 12 | Die Autorin dieses Abschnittes, Verena Schluß, ist Leiterin der Musikschule und berichtet deshalb in der Ich-Form von Stand und Entwicklungsvorhaben der Klang-Farbe Orange. 13 | »Der Spieler spielt sowohl die Musik wie auch sein Instrument. […] Er spielt aber gleichzeitig auch sich selbst als agierendes Subjekt des Spielgeschehens. Die Musik hingegen […] spielt und gestaltet wiederum den Ausführenden, sodass sich dessen Subjektcharakter verändert« (Mahlert 1997, Sp.1499).
Bildung – Kultur und Öffentlichkeit
in landesweit beachteten Projekten einen wesentlichen Beitrag zur Integration der Neubürger*innen in der Kommune. Die Musikschule ist eines der ersten Mitglieder des »Bündnis für Brandenburg«.14 Seit Januar 2012 verfügt die Klang-Farbe Orange mit den »Orange Voices« über einen Popchor, der ausgesprochen gut angenommen wird. Seit 2015bestehen ein Kinderchor, ein Anfängerorchester und ein Orchester für erfahrenere Musikschüler*innen. Ziel ist es, die Freude am gemeinsamen Musizieren zu wecken und jeden mit ihren und seinen Fähigkeiten daran teilnehmen zu lassen. Mit finanzieller Unterstützung des Landes Brandenburg und Kooperation mit der Kreismusikschule, deren Räume wir nutzen konnten, haben alle Ensembles in diesem Jahr ein in der Stadt herausragendes Projekt umgesetzt, das landesweit Beachtung gefunden hat; das Begegnungschorprojekt »Mit Musik Brücken bauen«. Die Proben der »Orange Voices« mit seinen 34 Sänger*innenfanden für ein halbes Jahr gemeinsam mit 20 Geflüchteten statt, die in verschiedenen Unterkünften in Oranienburg und Umgebung leben.15 Den Auftakt bildete ein Begegnungskonzert in der Nicolaikirche, bei dem es in einem gemeinsamen Probentag ein erstes Kennenlernen von »Stammchor« und Geflüchteten gab. Um mehr Frauen die Teilnahme zu ermöglichen, haben wir eine Kinderbetreuung organisiert. Ein weiteres Problem für Frauen mit Kindern war der Weg von der Gemeinschaftsunterkunft in einem Vorort zum Probenort. Dankenswerterweise hat uns der Kreisjugendring einen Kleinbus bereitgestellt. Außerdem sind mehrere Chormitglieder mit ihren Autos zu den Unterkünften gefahren, um die Sängerinnen und Sänger abzuholen und zurückzubringen. 4-10 Kinder waren jede Woche in der Betreuung. Es war wichtig für alle Beteiligten, die Texte zu verstehen, um die Emotionen der Lieder transportieren zu können. In kleinen Gruppen á 4 Personen aus verschiedenen Ländern wurde so Deutsch, Englisch, Arabisch und Farsi geübt. Beim Abschlusskonzert war die Kirche bis auf den letzten Platz gefüllt. Es war ein großartiges Konzert, das Sänger*innen, Instrumentalist*innen und Zuschauer*innen tief bewegte.16 Ein Ziel ist es, 2017 eine regelmäßig stattfindende Veranstaltungsreihe mit Konzerten, Workshops und Vorträgen zu etablieren. Den Anfang haben wir 2016 mit einer Konzertreihe im Rahmen der 800 Jahrfeier der Stadt Oranienburg gemacht. Eine Woche lang gab es jeden Abend ein Konzert in unserem Haus resp. Garten. 14 | http://buendnis-fuer-brandenburg.de/(letzter Zugriff: 7.10.2016) 15 | Hohnstein, Aileen: Musikalische Brückenbauer. In: Oranienburger Generalanzeiger 25.01.2016, online: www.moz.de/artikel-ansicht/dg/0/1/1453541 16 | Grothe, Klaus: Konzert rührt Zuschauer zu Tränen. Oranienburger Generalanzeiger 19.04.2016 online: www.moz.de/artikel-ansicht/dg/0/1/1475669
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Um ein Haus für die Zivilgesellschaft zu sein, werden wir noch weitere niedrigschwellige Angebote für Flüchtlinge schaffen und bieten z.B. schon jetzt die kostenfreie Teilnahme am Kinderchor an. Auch haben sich schon syrische Jugendliche zum Einzelunterricht angemeldet. Auch sie können die Gutscheine des Bildungs- und Teilhabepakets anrechnen oder nehmen eine Förderung der Bürgerstiftung Oranienburg in Anspruch. Das Gebäude der Musikschule ist rollstuhlgerecht ausgestattet. In ersten Gesprächen mit der Lebenshilfe hat sich gezeigt, dass regelmäßige musikalische Angebote für Menschen mit geistiger Behinderung aktuell nicht benötigt werden. Gern würden sie aber Konzerte oder Aufführungen besuchen, die sich gezielt auf die besonderen Bedürfnisse der Mitglieder einlassen. Das langfristige Ziel ist, die Musikschule nicht nur als Unterrichts- und Veranstaltungsort, den man gezielt aufsucht, zu nutzen, sondern sie als im weitesten Sinne inklusiven-kulturellen Treffpunkt zu etablieren. Dazu wollen wir weiter mit anderen Institutionen und Akteuren, wie z.B. dem Bürgergarten Oranienburg oder den Kirchengemeinden kooperieren und bereits bestehende Kreise zu uns einladen. Auf eine Reise zur Partnerstadt nach Hamm begleiteten Musiker der Klang-Farbe den Bürgermeister und die Fraktionsvorsitzenden und konnten dort musikalisch als Oranienburger Kulturbotschafter auftreten. Als Kooperationspartner des Bürgergartens spielten Schüler zu seiner Eröffnung. Bei Veranstaltungen der Bürgerstiftung und des Lions-Clubs gestalteten Schüler der Musikschule aus und die ganze Musikschule war auf mehreren Bühnen beim »Schauplatz Oranienburg« im Schlosspark anlässlich der 800 Jahrfeier der Stadt dabei.
F a zit Musikalische Bildung ist im Konzert der mannigfaltigen Möglichkeiten der Bildung ein wichtiger Baustein und dazu einer, der zuweilen unter zweckrationalen Gesichtspunkten der Ausbildung in den Hintergrund zu geraten droht. Insofern versuchen wir mit unserer Musikschule und mit den skizzierten Weiterentwicklungen ein Gegengewicht gegen eine ökonomistische Verengung des Bildungs- und Kulturbegriffs zu setzen und die Möglichkeiten des Menschseins auf musikalischem und ästhetischem Gebiet, unabhängig von materiellen, physischen oder intellektuellen Voraussetzungen und unabhängig von Geschlecht oder der jeweiligen Herkunft zu fördern. Im Miteinander von Bildung und Kultur leistet die Musikschule insbesondere auch in ihrer kulturvermittelnden Arbeit einen Beitrag zur Aufklärung. Damit wirkt die Musikschule in privater Trägerschaft öffentlich. Eine Identifikation von Staatlichkeit und Öffentlichkeit jedenfalls ist, wie gezeigt, wenig sinnvoll. Vielmehr
Bildung – Kultur und Öffentlichkeit
wird deutlich, dass ein öffentliches Engagement einer Musikschule unabhängig von staatlicher oder privater Trägerschaft möglich, wünschenswert und für das Gemeinwesen von Vorteil ist. Anders als in der Zeit der Aufklärung, kann jedoch auch in der parlamentarischen Demokratie nicht mehr ausgeschlossen werden, dass ein staatliches Engagement insbesondere im Bildungsbereich auch zur Bildung von Öffentlichkeit beiträgt.
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Lehrerbildung
Theaterkunst in der universitären Lehrerbildung 1 Nathalie Heiligtag »Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren voll Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist.« Walter Benjamin, 1928
In diesem Beitrag werden Überlegungen zur Bedeutung von Theaterkunst und theatraler Bildung für das Studium der Bildungswissenschaften, der universitären Lehrerbildung, vorgestellt. Welche Bedeutung kann Theaterkunst im Bildungsprozess von Lehramtsstudierenden erhalten? Warum spielen die Akteursgruppen der Universität im Diskurs um Kulturelle Bildung/kulturelle Teilhabe bisher kaum eine oder bezogen auf Lehramtsstudierende keine Rolle? Warum sollten Lehramtsstudierende z.B. »in’s Theater gehen« (Eberhardt 2010)? Vorweggenommen sei, dass empirische Untersuchungen mit diesen Fragestellungen fehlen und dahingehende Antworten warten müssen. Ziel des Beitrags ist es, auf bisher ›übersehene‹ universitäre theatrale Praxen hinzuweisen und entsprechend empirische Forschung in diesem Feld zu motivieren. Im Anschluss an Max Fuchs Feststellung, dass »die Studiengänge […] in der Regel so verschult [sind], dass kaum noch Zeit für kulturelle Aktivitäten bleibt« (2014: 9), wird für eine universitäre Öffnung gegenüber den Künsten in der Lehrerbildung plädiert. Ein stärkerer Dialog zwischen den Institutionen Universität und Theater, den Künsten, wird als wünschenswert erachtet. Kooperation und ihre Praxis innerhalb der universitären Einrichtungen und Institute wird bisher als zurückhaltend beschrieben. Hinsichtlich der Entwicklung z.B. innovativer Lehrkonzepte und Angebote zum Themenfeld theatraler
1 | Der Aufsatz ist eine Zusammenfassung des Vortrags »Theater in der Lehrerbildung – machen!«, gehalten am 08.04.2016 auf der Tagung »Kulturelle Bildung – Bildende Kultur« an der Universität Siegen.
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Bildung wäre an vielen Universitäten sicher mehr möglich, wenn es zu einem stärkeren Austausch zwischen den dortigen Akteuren kommen würde. Denken wir an die oftmals spektakuläre öffentliche Wissensgenerierung im 17. Jh. (vgl. Lazardizg 2007), so haben Wissenschaft und Theaterkunst eine über Jahrhunderte alte Verbindung (vgl. Schramm et al. 2006). »Die Vermittlung von wissenschaftlichen Erkenntnissen in künstlerischen Formen« (Gauß/Hannken-Illjes 2012: 961) ist auch heute im universitären ›Geschäft‹, in Vortrags- und Lehrformaten, Alltagspraxis – wenngleich eher unbewusst und reduziert. Die Rolle der Theaterkunst muss hier vornehmlich als die der wenig beachteten Dienerin beschrieben werden. Was unter Theaterkunst verstanden wird, so schließt dieser Beitrag an die Ausführungen von Erika Fischer-Lichte einer transformationsorientierte Theorie des Theaters an. Die traditionellen Rollenbetrachtungen von Zuschauer und Darsteller werden abgelöst und unter der »Ästhetik des Performativen« (Fischer-Lichte 2004) zu wirklichkeitskonstituierenden Akteuren, die Teile eines Ereignisses werden, dessen endgültige Deutung unmöglich ist. Unter Theaterkunst zu fassen sind nach Fischer-Lichte (2003: 144f.) »all jene Kunstereignisse, die durch den Performativierungsschub in den sechziger Jahren in den verschiedenen Künsten möglich wurden, wie spezifische Arten von Ausstellungen, Dichterlesungen, Konzerte, Aktionen, Performances u.a., die hinsichtlich ihrer Materialität und Medialität durchaus als theatral zu begreifen sind.« Im Folgenden wird die universitäre Lehrerbildung hinsichtlich institutioneller Vorgaben und ›Kompetenzerwartungen‹ (1) und ihrer theatralen Praxis (2) betrachtet, um diese zusammenzuführen (3). Kritisch vorangestellt sei die in schulischen Kontexten zu beobachtende qualitativ ›ungeprüfte‹ Angebotsvielfalt theaterpädagogischer Interventionen (vgl. Rittelmeyer 2014). Im Sinne einer bildungspolitischen Aufforderung zur Optimierung von (vor allem schulischer) Lehr-Lernprozessen stehen die vielbesagte Konjunktur Kultureller Bildung (vgl. Fuchs/Liebau 2012) und ihre Programmatik unter dem Verdacht der ›Verzweckung‹ der Künste, wenn deren Wirksamkeit allein auf die Förderung ›kognitiver Leistungen‹ geprüft werden sollen. Die Intention einer reinen ›Verzweckung‹ von Theaterkunst in der Lehrerbildung soll mit dem vorliegenden Beitrag kein Vorschub geleistet werden.
Theaterkunst in der universitären Lehrerbildung
D ie universitäre L ehrerbildung und das S tudium der B ildungswissenschaf ten »Der Mensch ist insoweit frei, als er einen Spielraum vorgefundener oder selbstentworfener Handlungsmöglichkeiten zu sehen und eine davon als die seine zu ergreifen vermag.« Otfried Höffe, 1982
Theaterkunst, die in Schulen, Weiterbildungen und der Kinder- und Jugendbildung u.a. in vielfältigen Förderprogrammen zur Kulturellen Bildung derzeit eine Konjunktur erfährt, leidet in universitären Lehrveranstaltungen unter der zuvor genannten Rolle der Dienerin. Ein Blick in das Handbuch Kulturelle Bildung (Bockhorst/Reinwand/Zacharias 2012) unterstreicht diese Beobachtung, denn das Studium (der Bildungswissenschaften) angehender Lehrerinnen und Lehrer findet auf den über 1000 Seiten zur Kulturellen Bildung keine eigenständige Erwähnung. Besteht kein weiterer Handlungsbedarf für die Universität? Eine genauere Betrachtung der dortigen ›Vorgänge‹ steht noch aus. Über die Qualität und Umfang der ›Nutzung‹ von Theaterkunst in den Bildungswissenschaften, dem Nadelöhr der Lehrerbildung, wissen wir nichts. Welches Verständnis von Bildung und Wissenschaft, von Lehren und Lernen zeigt sich performativ in der universitären Praxis der Bildungswissenschaften? Welche institutionellen Vorgaben gibt es? Das Selbstverständnis der Universität »als Stätte von Bildung und Wissenschaft, Kunst und Kultur« (Deutscher Hochschulverband o.Jg.) klingt nach bedeutender, gesellschaftlicher Verantwortung der Institution in eben diesen Bereichen. Für die Lehrerbildung in Deutschland steht die Universität vor der Aufgabe, den Erwerb von beruflichen ›Schlüsselqualifikationen‹ und den dazugehörigen ›Kompetenzen‹ zu ermöglichen. Im Rahmen des Studiums sind diese für die Bildungswissenschaften laut der Kultusministerkonferenz (KMK) in 11 Kompetenzbereiche katalogisiert und »regelmäßig auf der Grundlage der vereinbarten Standards zu evaluieren« (KMK 2014: 2). Das enge Verständnis von ›Bildung und Wissenschaft‹ nährt die Befürchtung, dass eine solche »Rationale Weltorientierung« (Stichweh 2006: 13) sich auf die Förderung ›kognitiver Leistungen‹ mit der Akzentuierung auf ›Nützlichkeit‹ weiter reduziert d.h. Bildung (selfcultivation) auf Lernen (education) reduziert wird. Denn Bildung ist nach dem theoretischen Modell von Wilhelm v. Humboldt (1767-1835), hier verkürzt dargestellt, als Selbstbildung gefasst, als lebenslanger Prozess, dessen Anfang und Ende mit der Existenz des Menschen zusammenfällt. Dieser Prozess ist nicht ›absichtsvoll‹ steuerbar. Das Ich steht in dieser humanistischen Sichtweise mit der Welt in einem Transformationsprozess, in einem gegenseitigen Austausch zwischen Ich und Welt und den anderen. Bildung ist ein individueller und ein kollektiver Prozess. Das Ich ›braucht‹ sein Gegenüber,
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die Welt, den Austausch, den Dialog. Bildung ist ein ›ursprünglicher‹ Prozess in einem Möglichkeitsraum (vgl. Liebau/Klepacki/Zirfas 2009: 17ff.). So wird in diesem Beitrag Kulturelle Bildung als ein Teil von Bildung im Sinne des humboldtschen Gedankens der proportionierlichsten Entfaltung zu einem Ganzen gedeutet (vgl. Humboldt 1997). Weder Bildung noch Kultur sind eindeutig zu definierende Begriffe, da beide vom Kontext, Zeit und Ort der Verwendung mitbestimmt werden. Diese Uneindeutigkeit und Relationalität der Begriffe fordert dazu auf, stetig neu ausgehandelt und diskutiert zu werden. Sie können selbst einen ›Bildungsanlass‹ bieten. (Vgl. i.d. Band) Wenn man die Vorgaben der KMK betrachtet, so fallen Formulierungen auf, die der Universität bzw. den Bildungswissenschaften den Auftrag einer Ausbildung im Sinne der Berufsfertigkeit, denn eines Studiums und damit der Berufsfähigkeit näher kommen lässt. Bezugspunkte sind für die KMK die Sicherung der »Qualität schulischer Bildung« (KMK 2014: 2) und die Schulgesetze der Länder – was Lehrerinnen und Lehrer »erfüllen sollen« (ebd.). Die Ermöglichung Kultureller Bildung findet sich in diesen Vorgaben nur implizit, z.B. im Kompetenzbereich »Erziehen« (ebd.: 9). Hier heißt es Lehrerinnen und Lehrer sollen »die sozialen und kulturellen Lebensbedingungen von Schülerinnen [kennen]« (ebd.), und »kennen und reflektieren demokratische Werte und Normen sowie ihre Vermittlung« (ebd.). Es bleibt weitgehend offen, welche demokratischen Werte und Normen gemeint sind, was genau unter »Lebensbedingungen« zu verstehen ist, und wie diese im Studium zu reflektieren sind. An dieser Stelle eröffnet sich ein Freiraum für die universitären Akteursgruppen, der den humoldtschen Bildungsgedanken zu bewahren ermöglicht. Im Weitesten Sinne geht es in diesem Dokumentenabschnitt der KMK um ›Haltungen‹, um Kenntnisse von Diskriminierungsmechanismen und der Ermöglichung von Chancengleichheit als zu erstrebende Praxis. Nicht nur die Gruppe von Schülerinnen und Schülern zeichnet heterogene kulturelle Teilhabe und ihre Möglichkeiten aus, dies kann ebenso für die Gruppe der Studierenden gesagt werden. Es muss überlegt werden, ob und inwiefern Universität dem Anspruch von Comenius, für alle alles allumfassend (omnis, omnia, omnino) zu lehren, gerecht werden kann und soll, kann jedoch an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden.
Theaterkunst in der universitären Lehrerbildung
R ollenspiel als the atr ale B ildung im L ehr amtsstudium »Jedes Individuum ist mit verschiedenen Rollen ausgestattet, in denen es aktiv werden möchte und die in unterschiedlichen Stadien seiner Entwicklung gegenwärtig sind.« J.L. Moreno, 1934
Der Katalog der KMK soll der Universität und ihren Akteuren als Handlungsrahmen dienen. Er beinhaltet die curricularen Schwerpunkte und didaktischmethodische Empfehlungen für die Vermittlung und Förderung jener Standards innerhalb der Bildungswissenschaften. Dort heißt es u.a.: »Die Entwicklung der Kompetenzen wird gefördert durch: […] • die Demonstration der Konzepte [der Bildungswissenschaften; N.H.] an literarischen oder filmischen Beispielen sowie im Rollenspiel [H.i.O.] und an Unterrichtssimulationen [H.i.O.] […] • die persönliche Erprobung und anschließende Reflexion [H.i.O.] eines theoretischen Konzepts in schriftlichen Übungen, im Rollenspiel, in simuliertem Unterricht oder in natürlichen Unterrichtssituationen oder an außerschulischen Lernorten« (KMK 2014: 6).
Die Rollen von ›Kunst und Kultur‹ im Lehramtsstudium bleiben in diesen Empfehlungen die der besagten Dienerinnen und damit marginal, sie bilden keine eigenständigen curricularen Inhalte. Ein Beispiel dafür sei die Theaterkunst und an sie angelehnte Methoden, wie das Rollenspiel als kulturelle Praxis. Dieses trägt in der Bildung von zukünftigen Lehrerinnen und Lehrern, den zukünftigen »Kultur-Vermittlern« (Eberhardt 2010: 321), wenn es überhaupt regelmäßig zum Einsatz kommt, eher zur Auflockerung und der »Demonstration« (KMK) in einer Lehrveranstaltung bei. Es sei zunächst unerheblich wie dieses Rollenspiel ›aufgeführt‹ wird, es handelt sich nach Bentley (1967) immer um eine theatrale Situation. Die weitgefasste Theatermetapher zur (rollentheoretischen) Beschreibung von sozialen und pädagogischen Phänomenen, wie »Wir alle spielen Theater« (Goffman 1959/2003), ist nicht zu verwechseln mit dem, was unter Theaterkunst betitelten Ereignissen geschieht. Diese kann unterschieden werden vom Rollenspiel in einer Lehrveranstaltung, jenes wiederum von einem Theaterbesuch, von der Rezeption und Performance in ›künstlerischen‹ Arbeiten. Betont werden soll ihre Gemeinsamkeit: In allen Fällen handelt es sich um Erfahrungen, die auf »anthropologische Grundbedingungen zurückzuführen« (Fischer-Lichte 2003: 138) sind, und so in allen Fällen Menschen »ästhetische Erfahrungen als Schwellenerfahrungen« (ebd.) erleben.
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Bleiben wir in einer universitären Lehrveranstaltung. Nehmen wir an, ad hoc sollen zwei Studierende eine problematische Situation aus ihrem letzten Praktikum darstellen. Im Moment des (improvisierten) Rollenspiels kommt es zu Differenzerfahrungen die bewusst oder unbewusst gestaltet werden. Der oder die Darsteller/Darstellerin kann sich als ein anderer/eine andere vor anderen erleben. In dieser Szenerie wird eine eigene Figur kreiert, die spontan entsteht. Als Reflexionsanlass genutzt, können Differenzen zwischen Selbst, sozialer Rolle, theatraler Figur und den analogen differenzierten Erwartungshaltungen wahrgenommen werden (vgl. Liebau/Klepacki/Zirfas 2009: 138). Die Initiierung eines Rollenspiels kann als individuelle und kollektive Bildungsmöglichkeit im humboldtschen Sinne gedeutet werden. Der mögliche Erfahrungsraum eines pädagogisch angeleiteten Rollenspiels im Seminar kann eine Richtung vorgeben, aber ob, wann und wie diese Bildungsanlässe ›genutzt‹ werden, bleibt offen. Das Wissen um die Qualität, dem Warum, Was und Wie an Methoden in einer universitären Lehrveranstaltung, gleicht dem einer ›Black-Box‹. Empirische Untersuchungen hochschuldidaktischer Arrangements und ihre Qualitäten, auch speziell mit Bezug zur Theaterkunst fehlen nach wie vor (vgl. Eberhardt 2010).
D as The ater als O rt der Z usammenkunf t »Jedes Individuum drängt (craves) danach, weitaus mehr Rollen zu verkörpern (embody), als die, die ihm im Leben gestattet sind zu spielen« J.L. Moreno, 1934
Die vorangestellten Gedanken zu Möglichkeiten kultureller Teilhabe und theatraler Bildung von Lehramtsstudierender, der Genuss von Theaterkunst und der Zugang zu entsprechenden Institutionen, sollen weiter entwickelt werden. Es sei bemerkt, dass auch hier Untersuchungen zur Gruppe der Lehramtsstudierenden ausstehen. Aufgeworfen werden vielmehr weitere Fragen, die der Anregung, denn einer umfassenden Beantwortung an dieser Stelle dienen: Welche Bemühungen gibt es von institutionellen Seiten (Kunst, Kultur, Universität) sich zu öffnen und in einen (stärkeren) Dialog zu treten? Was könnten gemeinsame Ziele der Institutionen sein? Welche Logiken, Sachzwänge und Bedürfnisse hindern oder fördern gemeinsames Handeln? Wie und wann partizipieren Studierenden an ›hochkulturellen‹ Einrichtungen? Welches Volumen an Einrichtungen der ›Kunst und Kultur‹ bietet ihnen ihre Umgebung? So unterschiedlich und individuell die Biographien von angehenden Lehrerinnen und Lehrer sind, kommt Ulrike Eberhardt (2010) doch zu einer, wie es scheint, treffenden Beobachtung von Gemeinsamkeit: »Theater wird von den
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angehenden Lehrerinnen und Lehrern […] in erster Linie als das wahrgenommen und geschätzt, wofür es in der Schule eingesetzt wird: als Unterrichtsmethode, so z.B. beim Szenischen Interpretieren« (ebd. 320). Die Zugänge zum Theater, zur Theaterkunst, sind ebenso unterschiedlich, wie die Motive diesem fern zu bleiben. Unkenntnis oder das Gefühl von Fremdheit gegenüber der Theaterkunst als auch mangelnde Ressourcen seien hier bspw. angeführt. Nun muss nicht jeder Mensch enthusiastisch der Theaterkunst frönen, ein Zugang zu theatralen Erfahrungen sollte jedoch gerade den zukünftige Multiplikatoren in den Schulen möglich sein, in denen zumindest ein Theaterbesuch zur Weihnachtszeit auf dem Lehrplan steht. Und auch das Zuschauen will ›erfahren‹ werden. Theaterkunst bietet unterschiedliche Auseinandersetzungs- und Handlungsformen. Die Rolle des Publikums, der »Zuschaukunst« (Brecht) erfährt aktuell eine breite Aufmerksamkeit (vgl. Deck/Sieburg 2008). Die Begrifflichkeiten und Bedeutungen von Zuschauer, Publikum und Performer scheinen ebenso offen und vielschichtig diskutiert wie der Begriff der Partizipation (vgl. Seitz 2014) – vom klassischen Theater(besuch) mit abgegrenztem Zuschauerraum, bis hin zur postdramatischen Performance in der es keine ›Grenzen‹ geben soll. Was die unterschiedlichen theatralen Formen eint, ist das Zentrum ihrer Kunst: der Mensch. Menschen machen Theaterkunst für Menschen und mit Menschen, in und an einem gemeinsamen Raum, gemeinsam an Ort und Zeit. So bietet Theater die Möglichkeit sich selbst als ein anderer/eine andere zu sehen (verkörpert durch Schauspieler), anzuschauen und angeschaut zu werden sowie sich selbst als Akteur, als Zuschauer und Darsteller zu erleben. Im Theater erhält das Ich Handlungsoptionen, die ihm seine alltäglichen sozialen Rollen nicht bieten. Es eröffnen sich Möglichkeiten der handlungsorientierten Bearbeitung und kritischen Reflexion bestehender Verhältnisse. Nebenbei sei darauf hingewiesen, dass diese Ambiguitätserfahrungen zu den täglichen Erfahrungen und Herausforderungen des Lehrberufs gehören, deren Reflexion und bewusste Gestaltung im Sinne professionellen Handelns innerhalb der Professionsforschung zum Lehrberuf stark betont wird. Berechtigt ist Kritik am bürgerlichen Kanon, traditionellen Inhalten und dem Vorwurf an elitären Kunstveranstaltungen, die einer bestimmten Gesellschaftsschicht als Distinktionsmittel dienen mag. Aber um diese kritisierten Verhältnisse der kulturellen Teilhabe zu verändern, müssen sich die Institutionen dem Auftrag der Kulturellen Bildung umfassender annehmen. Kulturelle (theatrale) Bildung ist mehr als handlungs- und produktorientierte Lehrmethoden (vgl. Eberhardt 2010: 320). Theaterkunst ist immer Ereignis, ohne den Eigenwert zu verlieren.
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Fortbildung und kulturelle Schulentwicklung Empirische Befunde aus dem Landesprogramm KulturSchule Hessen Michael Retzar
F r agestellung und H intergrund Dieser Beitrag wirft die Frage auf, welche Rolle Fortbildungen für Kulturschulen spielen. Hierzu soll dargestellt werden, welche Resonanz die Fortbildungen im Landesprogramm KulturSchule Hessen bei den beteiligten Programmschulen finden. Auch wird danach gefragt, ob sich bereits Auswirkungen dieser Qualifizierungsangebote feststellen lassen. Die Forschung zu den Fortbildungen für Kulturschulen ist ein Nebenstrang des Evaluationsprojekts KulturSchule Hessen (HEKS), das die Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Heike Ackermann zwischen 2013 und 2014 an der Philipps-Universität Marburg durchführte und zu dem eine Publikation vorliegt (vgl. Ackermann et al. 2015). Der vorliegende Beitrag geht auf ausgewählte qualitative und quantitative Befunde aus dieser Studie ein und beinhaltet bereits Elemente einer demnächst erscheinenden weiteren Veröffentlichung.
D er K onte x t : D as P rogr amm K ultur S chule H essen Das Konzept Kulturschule stellt einen Ansatz zur langfristigen Entwicklung von Einzelschulen im Bereich der Kulturellen Bildung dar.1 Kulturschulen ermöglichen allen Schülerinnen und Schülern sowie auch den Lehrpersonen ein Kennenlernen verschiedener künstlerischer Sparten – aktiv wie perzeptiv, über alle Jahrgänge hinweg, im Pflicht- und Wahlpflichtbereich sowie in anwählbaren Ganztagsangeboten. Diese Entwicklung wird von der Schule 1 | Einen umfassenden Begriff zur Kulturellen Bildung liefert z.B. der Kulturpädagoge Christian Zürner (2015).
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systematisch gesteuert, im Kollegium sowie mit Schüler- und Elternschaft gemeinsam geplant. Kulturschulen haben den Anspruch, auch den Unterricht der nicht-ästhetischen Fächer zu beeinflussen (vgl. Braun 2012: 725f.). Das Bundesland Hessen fördert seit dem Jahr 2008 gezielt Schulen, die diese Entwicklung gehen wollen. Auf eigene Initiative können sich Schulen um die Aufnahme in das Landesprogramm KulturSchule Hessen bewerben. Bislang 21 Schulen in 3 Staffeln sind als Teilnehmerschulen in ein umfassendes Fortbildungsprogramm zur Kulturellen Bildung aufgenommen worden. Sie werden unterstützt durch ein Projektbüro des Kultusministeriums (vgl. Vogt et al. 2011), nehmen an Netzwerktreffen teil, erhalten eine Prozessberatung und – dies ist die wichtigste Säule des KulturSchul-Programms – sie werden in ein umfassendes Fortbildungsprogramm aufgenommen. Nach drei Jahren werden die beteiligten Schulen als KulturSchulen zertifiziert, wenn sie die Programmziele erfolgreich umgesetzt haben: Sie schaffen mehr Raum und Zeit für Kunst und Kultur, finden ästhetische Zugänge in allen Fächern, entwickeln ein Curriculum für kulturelle Praxis und verstetigen ihre künstlerischen Kooperationen (vgl. HKM 2012, 2014). Schulentwicklungsimpulse sind ein wichtiger Baustein des KulturSchul-Programms und die Voraussetzung dafür, dass die eingeschlagene Entwicklung langfristiger Natur ist. Kulturschul-Programme sind auch in anderen Bundesländern etabliert worden, entsprechend ähnliche Vorhaben gibt es unter anderem in BadenWürttemberg, Niedersachsen und Hamburg. Die Vorhaben der Kultusbehörden werden hierzu von Stiftungen kofinanziert; daneben verfolgen Stiftungen eigene Programme wie Kulturagenten für kreative Schulen (vgl. Abs et al. 2013) oder Kreativpotentiale, die ebenfalls eine große Nähe zum Kulturschul-Gedanken aufweisen.
D as F ortbildungskonzep t des H essischen K ultur S chul-P rogr amms Die Fortbildungen für KulturSchulen in Hessen sind mehrgleisig: Das Projektbüro Kulturelle Bildung führt erstens Qualifizierungsangebote für die Kulturschulbeauftragten durch, die im Kollegium ihrer Schulen als Koordinatoren im Bereich Projektmanagement für Kulturelle Bildung tätig sind. Zweitens werden Schulleitungen hinsichtlich Organisationsentwicklung und Partizipation weiterqualifiziert, weil sie über einen spezifischen Blick auf die Gesamtorganisation verfügen. Und schließlich richten sich die sogenannten Fachforen an alle Lehrpersonen: In mehrtägigen Veranstaltungen, die gegenwärtig auf der Burg Fürsteneck stattfinden, durchleben Lehrerinnen und Lehrer ästhetischer sowie nicht-ästhetischer Fächer eigene künstlerische Prozesse und bahnen einen Transfer ihrer Erfahrungen in ihre Schulpraxis an. Die Schulen verpflichten
For tbildung und kulturelle Schulentwicklung
sich dazu, größere Teams zu den Fachforen zu entsenden, 4 bis 8 Personen pro Veranstaltungswoche; angestrebt wird die Beteiligung aller Kolleginnen und Kollegen an den Fachforen während der gesamten Programmlaufzeit. Ergänzt werden die drei Fortbildungsformate durch pädagogische Tage, die unter Mitwirkung des Projektbüros vor Ort in den Schulen geplant werden können, sowie durch Netzwerktreffen, die insbesondere einen Austausch über ästhetische Zugänge im Unterricht aller Fachbereiche anregen sollen. Eine Besonderheit der Qualifizierungsmaßnahmen besteht darin, dass als Fortbildner nicht nur abgeordnete Lehrer mit langjähriger Expertise tätig sind, sondern auch originäre Künstlerinnen und Künstler aus unterschiedlichen Sparten, die eine eigene künstlerische Expertise einbringen und die ihre Arbeit nicht von einer unmittelbar unterrichtspraktischen Motivation leiten lassen. Somit wird gewährleistet, dass Fortbildungen nicht als theoretischer Input realisiert werden, sondern dass ästhetische Erfahrungen, damit verbundene Irritationserlebnisse und Reflexionsgelegenheiten im Zentrum stehen. Dies wird als notwendige Voraussetzung dafür angesehen, dass auch die Lehrerinnen und Lehrer in ihrer Arbeit mit Schülerinnen und Schülern ästhetische Erfahrungen, Irritationen und Reflexionen anregen können.
B isherige F orschungsergebnisse für H essen Die folgenden Ergebnisse entstammen differenzierten Auswertungen eines zunächst globaleren Überblicks in der Monographie KulturSchule. Kulturelle Bildung und Schulentwicklung (vgl. Ackermann et al. 2015), zum Teil bilden sie einen Auszug aus noch unveröffentlichten Analysen. Den Hintergrund bildet eine Mixed-Methods-Studie an drei von seinerzeit 11 KulturSchulen in den Jahren 2013/2014. Dabei wurden einwöchige Schulbesuche mit Interviews (Schulleitungen, Kulturbeauftragte, Lehrpersonen mit und ohne ästhetische Fächer, Personalräte, Kooperationspartner) und teilnehmenden Beobachtungen durchgeführt. Daran schloss sich eine Fragebogenerhebung in den drei beteiligten Kollegien an (N=171). Die Schulen waren zum Untersuchungszeitpunkt unterschiedlich lang im Programm: eine der drei Schulen bereits 5 Jahre, zwei Schulen erst seit einem Jahr. Im Folgenden wird nur auf Befunde eingegangen, die im Zusammenhang mit den Fortbildungen stehen; für allgemeine Ergebnisse sei auf die Gesamtpublikation verwiesen. Die folgenden Ergebnisse sind ein erster Zugriff auf differenzierte Daten: Sie liefern Aufschluss über die Resonanz dieser KulturSchul-Fortbildungen und gewähren einen Einblick in unterschiedliches Antwortverhalten in Abhängigkeit von Fachzugehörigkeiten und Einstellungsmustern.
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Teilnehmer vs. Nicht-Teilnehmer Zum Zeitpunkt der Befragung hatten 60,9 % (N=103) aller antwortenden Lehrpersonen der drei KulturSchulen Fortbildungen des Projektbüros besucht – 38,4 % bereits mehrfach. Von den Teilnehmern gaben 77,4 % an, dass sie einen persönlichen Nutzen aus den Fortbildungen ziehen, 76,3 % stellten einen positiven Effekt auf den eigenen Unterricht fest und 80,8 % empfahlen die Fortbildungen weiter. Die befragten Lehrpersonen und Schulleitungen geben an, dass Fortbildungsteilnehmer »begeistert und ›sprühend‹ zurückkehren« (Ackermann et al. 2015: 206); die Angebote seien »hilfreich und auch ermutigend« (ebd.). Die mehrtägigen Veranstaltungen, die von Schul-Teams besucht werden, werden als gemeinschaftsstiftend eingeordnet und es wird empfunden, dass sie zu einem persönlicheren Klima in den Kollegien beitragen. Ihr größter Nutzen bestehe darin, eine Art Eisbrecher für das Experimentieren mit eigenen ästhetischen Unterrichtsansätzen zu sein (vgl. ebd.: 207). Vergleicht man die Aussagen der Fortbildungsteilnehmer mit denen der Nichtteilnehmer, ergibt sich ein auffälliges Bild: Wer diese Fortbildungen besucht hat, schätzt signifikant höher ein, dass KulturSchule förderliche Auswirkungen auf die Schülerinnen und Schüler hat. Hierzu konnten (mithilfe des Mann-Whitney-Tests/U-Test2) Korrelationen ermittelt werden, die auf einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Fortbildungsteilnahme der Lehrkräfte und einer positiven Einschätzung über die Entwicklungen bei der Schülerschaft hindeuten. Dabei nehmen die Befragten einen mittleren Effekt beim Arbeitsverhalten fest: Seitdem man KulturSchule sei, seien die Schülerinnen und Schüler »engagierter und initiativer« (Item 77: p= .000; r= .33), »selbstständiger (Item 79: p= .000; r= .318), »lernen […] motivierter« (Item 82: p= .000; r= .361) und »arbeiten besser zusammen« (Item 81: p= .000; r=. 289). In Bezug auf personale und soziale Kompetenzen wird auch ein signifikanter Zusammenhang gesehen, aber mit leicht schwächeren Effekten: Die Schülerinnen und Schüler werden als »selbstbewusster« (Item 78: p= 0.001; r= .259) und »ausgeglichener« (Item 80: p= .001; r= .273) wahrgenommen. Lehrpersonen, die diese Fortbildungen nicht besucht hatten, teilen diese Auffassungen nicht – sie sehen keinen Zusammenhang zwischen der KulturSchul-Arbeit und einem Zuwachs an personalen und sozialen Kompetenzen oder an Lernmotivation.
2 | Bei diesem Test entspricht der Korrelationskoeffizient r der Effektstärke. Bei einem Wert von 0,1 < r < 0.3 spricht man von einem schwachen Effekt; bei 0.3 < r < 0.5 spricht man von einem mittleren Effekt; bei einem Wert von r > 0.5 spricht man von einem starken Effekt.
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Die Fragebogenerhebung an den drei KulturSchulen deutet darauf hin, dass Fortbildungsteilnehmer aufgeschlossener für neue Wege in Schul- und Unterrichtsentwicklung sind. Bei innovationsbezogenen Items gibt es signifikant höhere Zustimmungswerte: So wollen KulturSchul-Lehrpersonen, die bereits an Fortbildungen teilgenommen haben, eher »auch Alternativen zu herkömmlichem schulischem Lernen bieten« (Item 24: p= .000; r=. 277), »Schule grundsätzlich verändern« (Item 25: p= .002; r=. 244), ihren »Unterricht anschaulicher und lebendiger gestalten« (Item 26: p= .001; r= .27) und »auch einmal etwas Neues ausprobieren« (Item 27: p= .003; r= .229). Im Hinblick auf die der Schule zur Verfügung stehenden Ressourcen beurteilen Fortbildungsteilnehmer die Bedingungen besser als die Nicht-Teilnehmer. Auf die Frage hin, ob für die Belange von KulturSchule folgende Ressourcen ausreichend vorhanden seien, attestierten die Fortgebildeten ihrer Schule eine signifikant besser »geeignete technische Ausstattung« (Item 58b: p= .03; r= .172) und »eine geeignete räumliche Umgebung« (Item 60b: p= .074; r=. 143). Auch sieht man im Gegensatz zu den Nicht-Fortbildungsteilnehmern »eine umfassende künstlerische und musikalische Ausstattung« (Item 59b: p= 0,81; r= .139) sowie »eine gute personelle Ausstattung« (Item 62b: p= .014; r= .198) als gegeben an. Neben ihren positiveren Einschätzungen über vorhandene materielle Ressourcen betrachten Fortbildungsteilnehmer auch ihre eigenen ideellen Ressourcen besser. Ihre Selbstauskunft weist darauf hin, dass man über eine größere »eigene Motivation« verfügt (Item 48b: p= .001; r= .273) sowie über ein höheres »eigenes Interesse an Kunst und Kultur« (Item 50b: p= .014; r= .195) und bei sich selbst über eine größere »Bereitschaft, etwas auszuprobieren« (Item 52b: p= .002; r= .252).
Lehrpersonen mit und ohne ästhetische Fächer Teilt man die befragten Lehrpersonen in Lehrkräfte ein, die mindestens ein ästhetisches Fach im Fragebogen angegeben haben (N=41) und Lehrkräfte, die kein ästhetisches Unterrichtsfach benannt haben (N=95), ergibt sich ein interessantes Bild. Der Anteil an Lehrpersonen mit künstlerisch-kulturellem Bezug, die bereits KulturSchul-Fortbildungen besucht haben, war zum Befragungszeitpunkt höher als bei Lehrkräften ohne entsprechenden Fachbezug (87,8 % gegenüber 45,3 %). Gleichzeitig schätzen die nicht-ästhetischen Lehrerinnen und Lehrer ihren persönlichen Gewinn deutlich größer ein: Sie stimmen stärker den Aussagen zu, »diese Fortbildungen haben mir etwas gebracht« (Item 68: 90,2 % gegenüber 72,7 %) und »diese Fortbildungen haben sich positiv auf meinen Unterricht ausgewirkt« (Item 69: 75,6 % gegenüber 67,7 %). Auch dass Lehrpersonen ohne ästhetische Unterrichtsfächer die KulturSchul-Fortbildungen stärker weiterempfehlen (Item 70: 97,5 % gegenüber
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75 %), kann nur teilweise damit erklärt werden, dass man als »fachfremde« Person den Neuigkeitswert der durch die Fortbildungen erworbenen ästhetischen Fähigkeiten als besonders hoch einschätzt. Vielmehr könnten die niedrigeren Werte als Indiz dafür interpretiert werden, dass es auch unter den Lehrpersonen mit ästhetischen Fächern Vorbehalte gegenüber KulturSchule gibt, die sich aus anderen Motiven ergeben, wie beispielsweise aus Angst vor einer Aufweichung künstlerischer Standards oder aus Enttäuschung über einen ausbleibenden Bedeutungszuwachs der ästhetischen Fächer, wie ihn zum Beispiel Zeugniskonferenzen widerspiegeln (vgl. Ackermann et al.: 192f.). Unsere Erwartung, dass Lehrerinnen und Lehrer aus den eher unterrepräsentierten Fächern Kunst oder Musik eine größere Begeisterung für KulturSchule zeigen würden, hat sich nicht vollständig bewahrheitet – stattdessen werden die breiten KulturSchul-Aktivitäten und Kooperationen mit Künstlern, Schauspielern, Musikern etc. von den Fachlehrern teilweise als eine Konkurrenz empfunden, die die eigene fachliche Expertise marginalisiert.
Einstellungen der Avantgarde Im Rahmen von Detailstudien wurde das Antwortverhalten einer Gruppe von befragten Lehrpersonen untersucht, die von der Arbeitsgruppe aufgrund bestimmter Einstellungsmuster als Avantgarde bezeichnet wurde. Diese Personen (N=16) haben jeweils die höchsten Zustimmungswerte bei drei innovationsbezogenen Items angegeben (Item 24: »Mit der Arbeit zur KulturSchule will ich auch Alternativen zu herkömmlichem schulischem Lernen bieten«; Item 25 »…will ich Schule grundsätzlich verändern«, Item 27 »…will ich auch einmal etwas Neues ausprobieren). Diese Gruppe, denen Experimentierfreude, Neugier und eine grundsätzliche Offenheit für Neues unterstellt wird, unterscheidet sich in ihrer Fortbildungsakzeptanz von der Gesamtstichprobe: Die Avantgarde hat zum Befragungszeitpunkt bereits zu 87,5 % an den Fortbildungsangeboten im KulturSchul-Programm teilgenommen, für sie stellen die Qualifizierungsimpulse ein besonders attraktives Angebot dar. Sie ziehen nach eigenen Angaben auch einen persönlichen Gewinn daraus: Einen positiven Einfluss der Fortbildungen auf den eigenen Unterricht erkennen 92,3 % (Item 69).
Einstellungen der Unzufriedenen Kontrastiv zu der der Gruppe der Avantgarde, wurde bei der Auswertung der quantitativen Daten auch die Teilgruppe der mit KulturSchule Unzufriedenen analysiert: Diese Lehrpersonen bewerten es negativ, dass ihre Schule eine KulturSchule ist (Item 73, N=22). Ihre Teilnahmequote an KulturSchul-Qualifizierungen ist mit 50 % leicht unterdurchschnittlich. Die persönliche Relevanz
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der Fortbildungen wird von dieser Gruppe als niedrig eingeschätzt: Nur die Hälfte gibt an, dass die Fortbildungen ihnen »etwas gebracht« haben (Item 68), gegenüber 77,4 % im Gesamtdurchschnitt. Darüber hinaus urteilen lediglich 30 % der Unzufriedenen, dass sich die Fortbildungen »positiv auf meinen Unterricht ausgewirkt« haben (Item 69), gegenüber 66,3 % im Gesamtdurchschnitt. Interessant ist, dass sich die Unzufriedenheit dieser Gruppe vornehmlich auf KulturSchule richtet: 81,8 % dieser Teilgruppe sind gern an ihrer Schule (Item 84) und 86,4 % sind auch zufrieden mit ihrer Berufswahl (Item 85).
V ergleich der B efunde mit anderen K ulturschul-E valuationen Die Befunde aus der HEKS-Studie von Ackermann et al. (2015) stellen die einzige bislang veröffentlichte Untersuchung mit Aussagen zu Teilnahme und Nutzung der programmbezogenen Fortbildungen im Kulturschul-Kontext dar. Für das Programm Hamburger Kulturschule liegt seit Ende 2015 zwar ebenfalls eine Evaluationsstudie vor (vgl. Birenheide 2015), die allerdings aufgrund der »bedarfsorientierten Fortbildungsgestaltung« (BSB 2016) nur wenige Aussagen über Einschätzungen der befragten Lehrkräfte trifft: Dort wird über eine als teilweise »trocken« empfundene Materie geklagt (ebd.: 60), die auf teilweise »selbstorganisierten schulinternen oder extern unterstützten Qualifizierungsmaßnahmen« (ebd.) vermittelt werde; in der Fragebogenerhebung gaben dort 57,4 Prozent der Befragten an, dass überhaupt »Fortbildungsveranstaltungen zur kulturellen Bildung im Rahmen der Entwicklung des kulturellen Schulprofils stattgefunden haben« (ebd.: 65, Fußnote 30). Ein zentrales, systematisch strukturiertes Qualifizierungsprogramm für die beteiligten Kollegien ist in Hamburg nicht vorgesehen, obwohl bisherige Forschungen zu Lehrerfortbildungen nahelegen, dass aus einem Schulentwicklungsinteresse heraus »nach Bedarf und nicht einfach nach Bedürfnis« (Oelkers 2003: 199) fortgebildet werden sollte. Jedes Kulturschul-Programm verfolgt das Ziel, in den beteiligten Kollegien ein gemeinsames Verständnis von Kultureller Bildung und diesbezügliche »organisationsbezogene Einstellungen zu entwickeln« (Esslinger 2002: 296). Ein Anlass für zielgerichtete schulübergreifende Fortbildungen wäre demnach gegeben.
Z usammenfassung Die bisherigen Befunde deuten darauf hin, dass die Fortbildungen im Rahmen des Hessischen KulturSchul-Programms eine Relevanz für kulturelle Schulentwicklung zu haben scheinen. Der Besuch der verschiedenen Qualifizie-
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rungsformate geht einher mit wahrgenommenen positiven Auswirkungen auf Schülerinnen und Schüler sowie auch mit einer gelasseneren Einschätzung der zur Verfügung stehenden Ressourcen. Die Reichweite der Qualifizierungsformate ist angesichts der primär außerhalb der Schulen stattfindenden Veranstaltungen verhältnismäßig groß, dies ist strukturell vom Landesprogramm so vorgesehen. Unterschiede in der Angebotsnutzung und -beurteilung lassen sich teilweise durch bestimmte gruppenbezogene Einstellungsmuster erklären.
D iskussion Nach bisheriger Auswertung der zur Verfügung stehenden Daten lässt sich festhalten, dass die Fortbildungen im KulturSchul-Programm bedeutsam sind, sowohl für die Einstellungen der Lehrpersonen zur KulturSchule, als auch für ihre Offenheit gegenüber kreativen ästhetischen Zugängen in ihrem Unterricht. Teilnehmer der Fortbildungsmodule schätzen ihre Mitwirkung an KulturSchule als sinnvoller ein und erkennen einen Nutzen für ihren Unterricht. Sie empfinden ihre Handlungsmöglichkeiten als weniger eingeschränkt durch die gegebenen Ressourcen. Bemerkenswert ist der Befund, dass die Lehrerinnen und Lehrer bei den Schülern vornehmlich Effekte beim Arbeits- und Lernverhalten beobachten und dass demgegenüber die persönlichkeitsbezogenen Veränderungen durch den KulturSchul-Einfluss weniger stark gewichtet werden. Während Kulturelle Bildung in der Theorie ansonsten zuerst die Persönlichkeitsentwicklung akzentuiert, richtet sich der Fokus der Lehrerinnen und Lehrer eher auf motivationale Auswirkungen von KulturSchule. Konzeptionell sind die Qualifizierungsmaßnahmen so angelegt, dass die Teilnehmer eigene kreative Prozesse der Gestaltung und Rezeption erleben, durch die sie die später von den Schülern erhofften Erfahrungen vorwegnehmen. Dieses nicht primär fachlich-kognitiv ausgerichtete Fortbildungskonzept gibt insbesondere Lehrpersonen Orientierung und Hilfestellung, die aus den nicht-originär ästhetischen Fachbereichen stammen. Somit wirkt das Landesprogramm auch intensiv auf die fremdsprachlichen, geistes- und naturwissenschaftlichen Fachkulturen ein – bei diesbezüglichen Lehrkräften stoßen die Fachforen auf besonders hohe Zustimmung. Wichtig für den Erfolg dieser Fortbildungen ist auch, dass die wesentlichen Veranstaltungen nicht schulintern durchgeführt werden, sondern dass sie über mehrere Tage hinweg in einer entlegenen externen Einrichtung stattfinden, von der selbst eine anregungsreiche Atmosphäre ausgeht, in der eigene Dynamiken mit fremden Lehrpersonen anderer KulturSchulen entstehen.
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Die dargestellten signifikanten Auffälligkeiten im Antwortverhalten der Befragten weisen auf interessante Zusammenhänge hin, dennoch bleibt einzuräumen, dass man die Korrelationen nicht ausschließlich kausal auf die Fortbildungen zurückführen kann, vielmehr können sie durch qualitative Perspektiven ergänzt und durch weitere Forschungen erklärt werden.
A usblick Diese ersten Erkenntnisse über die Akzeptanz dieses spezifischen Qualifizierungsangebots für KulturSchulen sowie das globale Feedback über einen wahrgenommenen Nutzen sind nur erste Anfänge in der Erforschung dieser Konzipierung Kultureller Bildung. In den Fokus rücken darüber hinaus zukünftig unter anderem die Qualität der Fortbildungsinhalte sowie die Übersetzung individueller Fortbildungserfahrungen in Prozesse der kulturellen Schulentwicklung: Wie vollzieht sich ein »Transfer« der individuell erworbenen Kompetenzen in die Unterrichtspraxis und wie greifen Schulen die Fortbildungsimpulse für die gemeinsame Arbeit als KulturSchule auf?
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Islandpullis, Filzdecken mit roten Streifen, geometrische Kekse Zum Potential kreativer und künstlerischer Erfindung von Vermittlungssituationen vor zeitgenössischer Kunst Anja Ciupka
»Die These des Seminars lautet, dass die Entwicklung von Vermittlungssituationen mit kreativen Prozessen vergleichbar ist. Dabei geht es nicht darum, eine vorgefertigte Methode zu übernehmen und auf bestimmte Bedingungen anzupassen, sondern das Unterrichtsvorhaben prozessual und kreativ zu erfinden und sich dabei von unterschiedlichen Parametern, teils bewusst, teils unbewusst, inspirieren und beeinflussen zu lassen. Das Seminar bietet die Möglichkeit diesen »Erfindungsprozess« zu durchlaufen und in der Praxis zu überprüfen.« (Vorlesungsverzeichnis der Universität Siegen, 2015)
Dieser Ankündigung eines kunstpädagogischen Seminars im Fach Kunst der Universität Siegen folgten zehn Studenten der Studiengänge Lehramt Kunst und Soziale Arbeit. Gemeinsam entwickelten sie unter meiner Anleitung als künstlerisch-wissenschaftliche Mitarbeiterin ein Vermittlungsprojekt für Jugendliche in der Ausstellung »Olafur Eliasson« in der Langen Foundation Neuss. Aus den Besuchen vor den Originalen und den Überlegungen im Seminar entwickelten die Studenten in zweier Teams fünf vierstündige Workshops, welche an einem weiteren Exkursionstag von 50 Schülern der Jahrgangsstufe Zwölf eines Düsseldorfer Gymnasiums besucht wurden. Die nachfolgenden Überlegungen konzentrieren sich auf ein Beispiel dieser Workshops, also ein Ergebnis der vorausgegangenen Erfindungsprozesse, und fragen nach dem Potential, welches Vermittlungssituationen entwickeln, wenn deren Erfindung als kreative/bzw. künstlerische Prozesse aufgefasst wurden. Hierzu kläre ich vorab, was unter »kreativ-künstlerischen Erfindungsprozessen« verstanden werden kann und welches Raumverständnis meinen Überlegungen zu Grunde liegt.
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R aumverständnis Im Hinblick auf meine Untersuchungen ist Raum relevant als relationales Gefüge unterschiedlicher Parameter, zwischen denen sich die einzelnen Vermittlungskonzeptionen entwickelt haben, als auch wiederum als Ort an dem sich das Vermittlungsgeschehen in einer konkreten Situation zeigt, die wiederrum unterschiedliche räumliche Relationen beinhaltet, bzw. darauf verweist. Deshalb lege ich meinen Analysen die Raumauffassung der Soziologin Martina Löw zu Grunde. In ihrem Aufsatz »Vom Raum zum Spacing. Räumliche Neuformationen und deren Konsequenzen für Bildungsprozesse« grenzt sie sich von einem sozialwissenschaftlichen Raumbegriff ab, der in der Gegensatzkonstruktion »Raum existiert« – »Raum löst sich auf« gefangen bleibt. Sie plädiert für ein Raumverständnis mit dessen Hilfe »auch Neuformationen erfasst werden können« (Löw 1999: 48). Grundlegend für ihre Auffassung vom Raum ist das Verständnis, dass Raum nicht eine real existierende Größe ist, sondern eine menschliche Konstruktion: Raum ist ein Modell zur Beschreibung und Erfassung von Gegebenheiten. In Abgrenzung zu einer Auffassung vom Raum als Behälter, der beliebig gefüllt werden kann, versteht sie im Rückgriff auf den französischen Philosophen Michel Foucault Raum als »Ensemble von Relationen«. Das heißt Raum wird durch Relationen, vom Menschen hergestellte Bezüge, konstituiert. Mit diesem Modell von Platzierungen und Lagebeziehungen können sowohl Orte, Personen, Handlungen, Dinge als auch deren Bewegungen erfasst werden (vgl. Löw 1999: 54). Dieses Raumkonzept ermöglicht es mir, die Komplexität von Vermittlungssituationen räumlich zu beschreiben.
E influssfak toren Wendet man diese Raumauffassung auf Vermittlungssituationen an, wird schnell deutlich, wie komplex der Prozess der Vermittlungskonzeption und Durchführung ist: Betrachtet man die scheinbar objektiven Faktoren, welche sich ein Vermittler im Vorfeld bewusst machen kann, (wie zum Beispiel: Kunst, Kunstvermittler, Zielgruppe, Vermittlungsziel, Ort und Zeitrahmen) näher und hinterlegt sie mit räumlichen Relationen, wie das von Löw angedacht ist, zeigt sich, dass es sich bei jeder Vermittlungssituation und deren vorheriger Planung, um einen Einzelfall handelt: Um welche Kunst handelt es sich genau? Klassische oder zeitgenössische Kunst? Multimediale, performative oder politische Kunst? Unsere Studenten hatten sich die Werke des in Berlin lebenden und in Dänemark und Island aufgewachsenen Olafur Eliasson ausgewählt, die in medialen Formen der Malerei, Installation, Skulptur, Fotografie und Film realisiert sind. An welchem Ort wird diese Kunst gezeigt? In einer ständigen
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Sammlung, einer temporären Ausstellung, einer öffentlichen Institution oder einem Kunstverein? In unserem Fall handelte es ich um »Leihgaben aus der privaten Berliner Sammlung Boros« an das private Museum der Langen Foundation in Neuss. Während die Werke Eliassons in Berlin in einem hermetischen, zum Museum umgebauten Bunker gezeigt werden, standen sie in der Langen Foundation durch den von einem gläsernen Umgang eingefassten Bau des japanischen Architekten Tadao Ando in engen Bezug zum Außenraum. Was ist der Erfahrungs- und Wissenshintergrund der Kunstvermittler, und wer ist ihre Zielgruppe? Sind sie Lehrer mit einem Fokus auf Lehrplanziele und der Vermittlung von Kompetenzen zur Vorbereitung ihrer Schüler auf das Zentralabitur? Handelt es sich um erfahrene Museumspädagogen mit dem Ziel der Informationsvermittlung, die die Interessen und konzeptuelle Ausrichtung ihrer Institution vertreten? Oder um Sozialpädagogen die ein kulturelles Angebot für ihre Klientel und deren Bedürfnisse nutzen möchte? Allein in unserer heterogenen Gruppe von insgesamt zehn Studenten vom ersten bis zum dreizehnten Semester gab es zu Beginn des Projektes und in modifizierter Form auch nach dem Projekt, zehn unterschiedliche Auffassungen von Kunstvermittlung.1
K unstbegriff – V ermit tlungsbegriff Aus dieser exemplarischen Analyse der räumlichen Komplexität von Vermittlungssituationen lässt sich leicht der Schluss ziehen, dass es nicht die eine richtige Form von Kunstvermittlung gibt, sondern jeweils individuelle Vermittlungssituationen mit unterschiedlichen Rahmenbedingungen und entsprechend einzigartigen Vermittlungskonzeptionen. Ähnlich wie es in der Kunst einen jeweils subjektiven, bzw. intersubjektiven Kunstbegriff gibt, an dessen Maßstäben sich das eigene Urteil künstlerischer Arbeiten misst, sollte es meiner Meinung nach die Vorstellung von einem subjektiven oder intersubjektiven Begriff der Kunstvermittlung geben, an dem sich Kunstvermittlung ausrichten kann. Um diesem Maßstab gerecht zu werden, so behaupte ich ebenfalls, reicht es nicht aus, bei der Entwicklung von Vermittlungssituationen vorgefertigte Konzepte, das heißt bestehende Modelle und Methoden, zu übernehmen. Sondern es ist notwendig diese, im Rückgriff auf Vorhandenes und dessen Erweiterung sowie im Kontext des jeweiligen fachlich professionellen Handelns, in einem kreativ-künstlerischen Entwicklungsprozess individuell und neu zu konzipieren. Diese Prämisse lässt sich zum Beispiel auch der 1 | Diese unterschiedlichen Auffassungen lassen sich an Mappings der einzelnen Studenten zur Frage »Was ist für Dich Kunstvermittlung?« vor und nach dem Projekt belegen.
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Entwicklung von Unterrichtsstunden, von Projekten der Sozialen Arbeit oder von Angeboten der kulturellen Bildung zu Grunde legen.
K re ativ - künstlerische P rozesse Notwendige Voraussetzung hierfür war es, es den Studenten zu ermöglichen, die Vorbereitung ihrer Vermittlungsprojekte als kreative, bzw. künstlerische Prozesse aufzufassen. Was jedoch ist ein kreativer bzw. künstlerischer Prozess? In der Publikation »Alles immer Gut. Mythen kultureller Bildung« des Rates für Kulturelle Bildung heißt es: »Kreativität ist zunächst ein wertfreier Begriff und kann als solcher nach Belieben verwendet werden. Vielleicht verleitet gerade das zu seiner unermüdlichen Verwendung in Projekttiteln und Strategieplänen. Diese reichen von kreativen Netzwerken, kreativen Schulen über kreative Plattformen bis hin zum kreativen Wachsen. Aber der Begriff beschreibt nicht mehr als die bloße Tatsache der Erfindungskraft, der Kraft also zur schöpferischen Überbrückung der Differenz zwischen Vorhandenem und Neuem.« (Rat für kulturelle Bildung 2013: 22f.)
Was hier als »bloße Tatsache« genannt wird, genau darauf, der »Erfindungskraft, der Kraft zur schöpferischen Überbrückung der Differenz zwischen Vorhandenem und Neuem«, kommt es aber an, wenn man bei der Generierung von Vermittlungssituationen von kreativen Prozessen sprechen möchte. Das Adjektiv »künstlerisch« würde dann zunächst das Gegenstandsfeld näher charakterisieren. Die Erfindungen beziehen sich auf das Feld der Kunst. Sie reagieren ganz konkret auf Kunstwerke, sie sind auch gespeist von künstlerischen Erfahrungen und Wissen der Studenten und sie beinhalten künstlerische Einschübe und Übungen die Teil der Vermittlungsprojekte werden. Neben der Beschreibung des Gegenstandsfeldes charakterisieren das Adjektiv »künstlerisch« und das Adjektiv »kreativ«, aber auch den Prozess selbst, die Art und Weise des Vorgehens. Der amerikanische Psychologe Joy Paul Guilford unterschied 1950 in seinem Vortrag über »Kreativität« zwischen konvergentem und divergentem Denken und schuf somit die Grundlage für zahlreiche darauf folgende Forschungen zur Kreativität. Während man sich im konvergenten Denken den gesuchten Lösungen auf analytischem und systematischem Weg durch logische Schlussfolgerungen nähert, benötigt es für Kreativität ein divergentes Denken, welches mehrgleisig erfolgt und ungewöhnliche, von den gewöhnlichen Denkroutinen abweichende Verfahren wählt (vgl. Guilford 1970: 13-36).
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Die Kunstpädagoginnen Eva Voermanek und Silke Wißmann wählen in ihrem Buch »Wie geht Kunst?« für die Beschreibung von künstlerischen Prozessen die Metapher vom Weg. Ausgehend von einem »Problem«, zum Beispiel die Suche nach einer neuen künstlerischen Arbeit, oder in unserem Fall den geeigneten Ideen für ein Vermittlungsprojekt, muss sich der Akteur auf einen Weg begeben, der ihm noch unbekannt ist (vgl. Voermanek/Wißmann 2004: 29). Kunst wird als Problematisieren im Spiel, als ein »Kommunikatives Handeln« aufgefasst. Voermanek/Wißmann verstehen den künstlerischen Prozess als ein dialogisches Prinzip zwischen den im Spiel auftretenden Faktoren. In diesem Zusammenhang zitieren Voermanek/Wißmann aus Thomas Lehnerers Publikation »Methode der Kunst«: »Man kann als Künstler, das ist deutlich, keinen Weg beschreiten, den man unabhängig nach einem Plan und aus eigener Macht beherrscht. Vielmehr muss man auch alle anderen Kräfte und Faktoren, die am Zustandekommen des Bildes beteiligt sind, in ihrer Eigenwilligkeit und Eigengesetzlichkeit anerkennen und mit ihnen ernsthaft kommunizieren. Mit einem Wort: Man muss alle Kräfte (die eigenen und die fremden) frei miteinander spielen lassen.« (Lehnerer 1994: 105 zit.n. Voermanek/Wißmann 2004: 35)
Eine weitere wichtige Beschreibung des »Künstlerischen« kommt mit dem Element der künstlerischen Erfahrung, dem sich selbst in seiner Erfahrung gewahr Werdens hinzu. Der Komponist, Regisseur, Direktor des Institutes für künstlerische Forschung (Berlin) und künstlerischer Leiter der Gruppe a rose is (Musik, Theater, Performance, Installation) Julien Klein, benennt in seinem Text »Was ist künstlerische Forschung?« den »Modus der künstlerischen Erfahrung« als entscheidendes Merkmal des Künstlerischen: »Im Modus des ästhetischen Erlebens wird Wahrnehmung sich selbst präsent, opak und fühlbar. Künstlerische Erfahrung kann analog bestimmt werden als der Modus gefühlter interferierender Rahmungen (ausführlicher dazu Klein 2009). Demnach bedeutet eine künstlerische Erfahrung zu haben, sich selbst von außerhalb eines Rahmens zu betrachten und gleichzeitig in denselben einzutreten. […] Für künstlerische Erfahrungen gilt in besonderem Maß, dass sie nicht von den zugrundeliegenden Erlebnissen zu trennen sind. Künstlerische Erfahrung ist ein aisthetischer Prozess, in dem Modus und Substanz untrennbar miteinander verschmolzen sind.« (Klein 2011: 2)
Das hieß für mich als Dozentin, damit die Studenten die Erfindung von Vermittlungssituationen als kreativ-künstlerischen Prozess erfahren konnten, ihnen ein offenes Feld zu bereiten in dem sie sowohl analytisch, aber eben auch intuitiv, assoziativ, spontan, unbeobachtet, ganzheitlich, nonverbal, visionär und auch reflexiv (im Sinne des sich selbst gewahr Werdens) agieren konnten.
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Das heißt jeder Student sollte sich seines bereits mitgebrachten Netzwerkes bewusst werden, es erweitern und darüber implizit und explizit verfügen.
A rbeit in Tandems Um das Seminargeschehen für mich und meine Forschung in Form von aufnehmbaren Äußerungen der Studenten verfügbar zu machen, lies ich die Studenten in Tandems arbeiten. Im Laufe des Prozesses zeigte sich das Potential der Tandems: Die Arbeit zu zweit war die entscheidende Hürde oder aber auch Hilfestellung, um die Studenten anzuregen, lineare Denkstrukturen zu verlassen und sich parallelen, verqueren, konträren und sich kreuzenden Denkmustern auszusetzen bzw. sich darauf einzulassen. Im Fall des im Folgendem fokussierten Tandems von Justus und Frederike2 hieß dies beispielsweise, dass ein sehr erfahrener Student mit einer Studentin ohne künstlerische Ausbildung kooperierten. Beide erweiterten ihre bisherigen persönlichen und fachlichen Erfahrungen und Kenntnisse im Laufe des Seminars durch die Begegnung mit den Kunstwerken, der Lektüre kunstpädagogischer Texte zu Vermittlungskonzeptionen und dem Studium von Interviews mit dem und kunstwissenschaftliche Texte zum Künstler Olafur Eliasson. Zudem konzipierten sie mit ihren Kommilitonen einen Vorab-Fragebogen an die Schüler nach ihren Kenntnissen, Erwartungen und momentanen primären Interessen. Wenn die These stimmt, dass die Erfindung von Vermittlungssituationen kreativ-künstlerischen Prozessen gleicht, gibt es eine Differenz zwischen dem Beginn des Seminars und dem Ende des Seminars. Justus und Frederike sollten auf der Basis von Vorhandenem und Erarbeitetem im schöpferischen Prozess zu etwas Neuem gelangt sein. Was genau haben Justus und Frederike erfunden?
Z ielse t zung und G esamtkonzep t In mehreren, mehrstündigen Gesprächen, unter anderem bei den Autofahrten zur Langen Foundation und in einem Siegener Cafe, bei denen sich Justus und Frederike allein durch die Ortswahl der Beobachtung durch das Aufnahmegerät und damit auch den universitären Anforderungen analytischen, sachbezogenen Denkens und Sprechens entzogen, entwickelten Frederike und Justus ein Konzept für ihre Vermittlungssituation. Dabei verfolgten sie mehrere, selbstgesetzte Zielsetzungen: Inspiriert von den Antworten der Schüler 2 | Die Namen der Studenten sind von der Autorin geändert.
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auf ihren Fragebogen, war es ihnen wichtig eine Station zu entwerfen, die eng mit der »Lebenswirklichkeit« der Schüler verknüpft war. Sie gaben ihrem Projekt eine besondere »Atmosphäre« und ermöglichten es den Schülern, die Kunstwerke in unterschiedlichen Übungen intensiv, beinah meditativ wahrzunehmen. Sie selbst bezeichneten diese Übungen als »visuelle Experimente«, ich würde sie als »Wahrnehmungsverstärker« beschreiben. Dabei hatte, so Justus: »die Kunst den Hauptjob.« Ergänzt wurden diese Übungen von Einschüben in Form von Kurzberichten zum Künstler, zum Hintergrund der einzelnen Kunstwerke und zu Island. Denn die »Geo-Biographie« Eliassons hatten sich Frederike und Justus als thematischen Schwerpunkt ihrer Station gesetzt.
Abb. 1: Flyer »Der versteinerte Fluss unter dem Mobile«
D er versteinerte F luss unter dem M obile Mit einem Flyer mit dem Titel »Der versteinerte Fluss unter dem Mobile« bewarben Frederike und Justus ihr Projekt bei den Schülern, die sich nach einem zwanzigminütigen freien Rundgang durch die Ausstellung für eine der fünf Projektgruppen entscheiden konnten. Misst man diesen Flyer nach herkömmlichen pädagogischen Maßstäben, bzw. nach seinem Informationsgehalt, mag er zunächst misslungen erscheinen. Sein Inhalt ist nicht klar verständlich. Es werden für die Schüler wahrscheinlich unbekannte Fremdwörter benutzt. Es wird nicht deutlich, welche Werke besprochen werden sollen, und vom geplanten Geschehen wird allenfalls eine vage Ahnung vermittelt. Dennoch reagieren die Schüler mit großem Zuspruch auf die Ankündigung von Frederike und Justus, die bei der Projektvorstellung die Zeilen ihres Flyers vorlasen. Was war also das Potential des Flyers? Zum einen sollte er neugierig auf das Projekt und seine ungewöhnliche Methodik machen. Ein Schüler schreibt im Reflexionsfragebogen: »Mich haben vor allem die Stichworte »Meditation« und »mit der Kunst kuscheln« angesprochen, weil ich auf diese Weise, gerade
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in der Schule, noch nie mit Kunst in Verbindung gekommen bin.« Im Seminarverlauf hatten wir Marianne Koos Text »Vermittlung von Kunst mit Rätselcharakter« gelesen. Der Flyer entwickelte sich zu einer kleinen Kunstform. Ähnlich wie ein guter Ausstellungstitel, die Zeilen eines Songtextes oder das Faszinosum einer Kurzgeschichte verrät er etwas, löst es aber nicht durch eine abschließende Auslegung ein. Meine These lautet: Frederike und Justus entwickeln neben den Werken von Olafur Eliasson eine parallele Kunstform. Die Funktion dieser parallelen Kunstform ist aber kein reiner Selbstzweck, der sich der Werke entledigt, sondern schafft eine zweite Wahrnehmungsebene. Über diese Wahrnehmungsebene machen Frederike und Justus die Schüler mit der Wahrnehmung von Kunst vertraut und ermöglichen es den Jugendlichen, sich über diese zweite Wahrnehmungsebene auch den Kunstwerken selbst anzunähern. Diese parallele Kunstform formuliert sich innerhalb der vier Projektstunden unterschiedlich aus.
Abb. 2: Islandpullover, Foto: Anja Ciupka
I sl andpullover Bereits bei der Vorstellung des Projektes unterscheiden sich Frederike und Justus in ihrem Äußeren deutlich von den anderen Tandems. Beide tragen einen Islandpullover. Dieser Pullover ist aber weitaus mehr als eine optische Markierung oder Uniformierung der Projektleiter. Zunächst weisen Frederike und Justus dadurch auch visuell und durch eine kurze verbale Erläuterung auf den thematischen Schwerpunkt ihres Projektvorhabens, der Thematisierung des Landes Island, hin. Im Laufe des Projektgeschehens wechselt der Pullover seine Funktionen indem sich seine Lagebeziehung zu den Teilnehmern
Islandpullis, Filzdecken mit roten Streifen, geometrische Kekse
des Projektes ändert. Nach einem anfänglich stark referierenden Teil, bei dem die Schüler zwar aufmerksam aber weitestgehend passiv dem Geschehen folgen, verändert sich durch die Pullover das gesamte Beziehungsgefüge aller Agierenden. Indem Justus und kurz darauf auch Frederike, die Schüler bitten den Pullover anzufassen, bringt er eine unerwartete Bewegung in die für Vermittlungssituationen typische Gruppenformation, bei der die Vermittler seitlich vor dem Kunstwerk und die Zuhörenden in einem statischen Halbkreis davor stehen. Mit der Aufforderung Justus: »Ihr dürft mal an diesem Pullover schnuppern.« nähern sich Justus und Frederike der Gruppe und übertreten die normalerweise gewahrte Körperdistanz. Das anfänglich überrascht, verlegene Kichern der Schüler löst sich in einem offenem Lachen, die Gruppe gerät in Bewegung. Es wird gefühlt, man berührt sich. Frederike und Justus haben mit Hilfe ihrer Körper und dem drauf angezogenen Pullover eine gängige Gruppenformation aufgelöst, eine qualitativ andere Verbindung zu den Teilnehmern ihrer Gruppe hergestellt und ein Stück Island fühlbar gemacht.
Abb. 3: Filzdecken, Foto: Anja Ciupka, abgebildetes Kunstwerk: Olafur Eliasson Hydro mobile, 2003, rhombic triakontaeder (mounted with color prints), mirror crystal, lava stone, 380 cm (while turning), unique, Installation view: Langen Foundation, Neuss, 2015/2016 © Olafur Eliasson (Photo by Anja Ciupka) Courtesy of the artist and neugerriemschneider, Berlin.
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F il zdecken mit roten S treifen Justus und Frederike haben aber nicht nur sich selbst ausgestattet, sondern auch für die Schüler etwas mitgebracht, was sie selbst im Nachhinein mit der »Ausrüstung für eine Expedition« verglichen. Ein Schüler beschreibt seine Erfahrung rückblickend mit folgendem Bild: »Man muss nicht in das Flugzeug steigen, um eine Reise zu machen.« Wie auch dem Pullover, kann der Decke dabei nicht nur eine Funktion zugeschrieben werden, sondern auch für sie wechseln oder überlagern sich im Laufe des Projektes die gültigen Zuschreibungen. Schon bei Justus’ erster Anleitung zum Gebrauch der Decke wird deutlich, dass ihr ein stark ästhetisches Moment zukommt. Er sagt: »Die faltet ihr jetzt auf und dann so, dass die roten Streifen komplett zu sehen sind.« Tatsächlich ist der rote Streifen ein starkes visuelles Moment auf der grauen Decke. Jeder Kunstkenner fühlt sich beim Anblick der grauen Filzdecken zudem sofort an die Arbeiten und Performances von Joseph Beuys erinnert. Für die darauf folgenden Übungen ist es irrelevant, dass der rote Streifen komplett zu sehen ist. Dennoch ist er immer sichtbar und strukturiert während der gesamten Projektdauer die Ausrichtung der Körper im Raum. Egal ob im Liegen oder später im Sitzen, fast immer wird die Decke in der Ausrichtung der eigenen Körperoder Blickachse verwendet. Sie markiert und strukturiert den Aufenthalt der Teilnehmer im Raum. Für Frederike und Justus waren die Decken vor allem das zentrale Hilfsmittel für ihre geplanten visuelle Experimente: Justus setzt seine Aufgabenstellung folgendermaßen fort: »Also so auffalten, dass diese roten Streifen der Länge nach zu sehen sind. Ok, ihr braucht also jetzt nichts, außer der Decke und Euch selber und ihr legt Euch bitte auf diese Decke der Länge nach auf den Boden. […] Probiert es mal aus und geht unter das Mobile, neben das Holzstück oder auch vor diese Wand mit der Lichtreflexion.« Während die Schüler bereits liegen, präzisiert Justus die Aufgabenstellung noch einmal und ergänzt: »Schaut Euch an, was Eure Perspektive Euch Besonderes bietet.« Justus und Frederike ermutigen die Schüler sich gänzlich auf ihre eigene Wahrnehmung zu verlassen: »Ihr braucht also jetzt nichts, außer der Decke und Euch selber.« Die Decke hilft den Schülern dabei. Sie bietet eine Unterlage, einen persönlichen Ort und auch einen Schutz, um sich auf diese exponierte Position, der Körper liegt plötzlich auf dem Boden des Museumsraums, und die lang andauernde Zeit, die Übung erstreckt sich über mehrere Minuten, einzulassen. Mit Hilfe ihrer Decke sind die Schüler bereit, sich im Ausstellungsraum ihrer eigenen Wahrnehmung der Kunstwerke auszusetzen. Durch alle Phasen des Projektes hindurch bleibt die Decke Begleiter der Schüler. Die Schüler richten sich damit im Raum ein. Sie schaffen sich damit einen Sitzplatz zum Zuhören während der Gesprächsphasen. Da es Teil der Museumsarchitektur von Tadao Ando ist, die zur Zeit des Projektes winterli-
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chen Außentemperaturen auch im Innenraum aufzunehmen, wird die Decke ebenso wie der Islandpullover zur wärmenden Unterlage und Umhüllung. Die Wärme der Decke hilft, die vierstündige Dauer des Projektes trotz der Kälte gut auszuhalten. Sie trägt zu dem bei, was Justus und Franziska an Atmosphäre erzeugen wollten.
Abb. 4: Kunst-Snack, Foto: Anja Ciupka
K unst-S nack-P hilosophieren mit geome trischen K eksen Um auf alle Bedürfnisse der Schüler zu achten, wie zum Beispiel auch Hunger, hatten Justus und Franziska einen »Kunst-Snack« eingeplant. Hierzu verließen sie den Ausstellungsraum, um in einem Vorraum die Schüler mit selbstgebackenen Keksen, heißem Tee und Schokolade zu bewirten. Im engen Kreis zusammensitzend, von Frederike selbstgebackene Kekse in geometrischen Grundformen, Grundformen, die auch von Eliasson in den von der Gruppe betrachteten Werken verwendet werden, essend und warmen Tee trinkend, konnten die Schüler mit den Vermittlern noch mal auf andere Weise ins Gespräch kommen. Frederike und Justus spekulierten darauf, dass sich bekanntermaßen in der Pause oftmals die besten Gespräche ergeben. Bewusst machten sie die Pause mit den Schülern gemeinsam, aber in einer lockereren Form und mit wohlschmeckenden Referenzen an das Werk Eliassons. Dass es dabei auch darum ging, noch einmal den persönlichen Kontakt mit den Schülern zu intensivieren und auf dieser Basis die weitere Zusammenarbeit zu führen, wird aus Frederikes Reflexion des Kunstsnacks deutlich: ›Mit dem Essen und dem Tee hat man die Jugendlichen viel schneller.‹
S chluss : K re ativ - künstlerische P rozesse und kulturelle B ildung Zusammenfassend lässt sich als Potential kreativ-künstlerischer Erfindungsprozesse von Vermittlungssituationen folgendes festhalten: Zunächst werden Vermittlungskonzeptionen dadurch als flexibler wahrgenommen. Das heißt, sie werden als modifizier- und veränderbar erfahren. Für Justus bestand ein
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Lerneffekt des Seminars in der Wahrnehmung der Bedingtheiten aber auch der Möglichkeiten von Kunstvermittlung, er erkannte einzelne Bausteine als Kreuzungspunkte eines Netzwerkes. Indem er sich als erfahrener Kunstvermittler darin neu positionierte, wird er handlungsfähiger, er kann sein Vorgehen besser reflektieren und neu ausrichten. Pazzinis Text »Kunst existiert nicht, es sei denn als angewandte.« verweist unter anderem darauf, dass Nachdenken über Kunstpädagogik, bzw. Kunstvermittlung immer auch ein Nachdenken über »Kunst« und in welcher Form sie »angewandt« werden sollte, ist (vgl. Pazzini 2000). Was sind legitime, richtige oder wichtige Inhalte und Vorgehensweisen der Anwendung von Kunst? Ich plädiere dafür die Zielsetzungen, Inhalte und Methoden von »Kunstvermittlung« (dauerhaft) zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Kreativ-künstlerische Modifizierungen können dabei neue Möglichkeiten gerade für die Umsetzung eröffnen. Bewähren sie sich, wäre es eine Möglichkeit sie als Methode festzuhalten, um sie für neue Modifizierungen verfügbar zu machen. Im Aufruf zur Tagung »Kulturelle Bildung – Bildende Kultur« hieß es: »Kultur als noch viel weiterer Containerbegriff [in Abgrenzung zur ästhetischen Bildung, Anm. der Autorin] potenziert die Unbestimmtheit. Ist einerseits eine Weite und Breite der Verständnisweise von Bildung, Kultur, kultureller Bildung und bildender Kultur erwünscht, so besteht andererseits die Gefahr einer Nivellierung.« (Call for Papers zur fakultätsübergreifenden Tagung Kulturelle Bildung – Bildende Kultur 2015) Stellt man einen kreativ-künstlerischen Prozess an den Anfang, so wird die Unbestimmtheit zum Potential und statt einer Nivellierung können sich Zielsetzungen, Kunstbegriff, Vermittlungsbegriff und Vorgehensweise jeweils individuell bilden. Sie bleiben dabei dennoch flüssig, hinterfrag- und neu gestaltbar.
L iter atur Guilford, Joy Paul (1950): »Kreativität«, in: Günther Mühle/Christa Schell (Hg.), Kreativität und Schule, München, 1970, S. 13-36; erstmals erschienen: Guilford, Joy Paul: »Creativity«, in: American Psychologist 5, 1950, S. 444-454. Vortrag des Präsidenten des American Psycological Assosiation am Pennsylvania State College, am 5. September 1950. Klein, Julian (2009): »Zur Dynamik bewegter Körper. Die Grundlagen der ästhetischen RelatiVitätstheorie«, in: Ders. (Hg.), per.SPICE! – Wirklichkeit und Relativität des Ästhetischen. Berlin 2009, S. 104-134. Klein, Julian (2011): »Was ist künstlerische Forschung?«, in: kunsttexte.de/Auditive Perspektiven, Nr. 2, 2011 http://edoc.hu-berlin.de/kunsttexte/2011-2/ klein-julian-1/PDF/klein.pdf, zugegriffen: 4.9.2016. Lehnerer, Thomas (1994): Methode der Kunst, Würzburg.
Islandpullis, Filzdecken mit roten Streifen, geometrische Kekse
Löw, Martina (1999): »Vom Raum zum Spacing. Räumliche Neuformationen und deren Konsequenzen für Bildungsprozesse«, in: Eckard Liebau/Gesela Miller-Kipp/Christoph Wulf (Hg.), Metamorphosen des Raumes. Erziehungswissenschaftliche Forschungen zur Chronotopologie, Weinheim, S. 48-59. Pazzini, Karl- Josef (2000): Kunst existiert nicht, es sei denn als angewandte. http://kunst.erzwiss.uni-hamburg.de/pdfs/kunst_existiert_nicht.pdf, zugegriffen: 1.4.2016. Rat für Kulturelle Bildung (Hg.) (2013): »Alles immer gut. Mythen kultureller Bildung« www.rat-kulturelle-bildung.de/index.php?id=59, zugegriffen: 31.3.2016. Voermanek, Eva/Wißmann, Silke (Hg.) (2004): Wie geht Kunst? Künstlerische Prozesse bei SchülerInnen und LehrerInnen. Mit kommentierenden Beiträgen von Heiner Andresen, Bernhard Balkenhol, Benita Joswig, Hajo Krohn, Wolfgang Legler und Karl-Josef Pazzini, Kassel.
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Außerschulische Lernorte
Die Ästhetisierung der Wirklichkeit als Problematik schulischer und außerschulischer Bildung Ein Plädoyer für die Aufwertung der Kunstpädagogik Alf Hellinger
V orbemerkungen Das Thema der Tagung »Kulturelle Bildung – Bildende Kultur« und das offene Format derselben bieten vielschichtige Möglichkeiten, über den Zusammenhang von Ästhetik, Bildung und Kultur nachzudenken.1 Bei dem nachfolgenden Beitrag soll es weniger darum gehen, das angesprochene Themenspektrum durch zusätzliche Deutungsangebote zu erweitern; die Überlegungen zielen vielmehr darauf ab, den oben genannten Zusammenhang auf Grundlage einer Philosophie der Praxis neu zu bestimmen. Ausgangspunkt für die Neubestimmung ist eine Kritik gesellschaftsgeschichtlich bedingter Entfremdungserscheinungen (Entäußerung, Suggestibilität und Rezeptivismus). Der bewusste Rückgriff auf reformpädagogische Ansätze aus dem Bereich der Kunstpädagogik ist als Versuch zu verstehen, einen über die Kritik hinausweisenden konkret-utopischen Bedeutungsüberschuss im Sinne Blochs zu markieren. Der Beitrag ist in drei Teile untergliedert: Kritik ist nicht gleich Kritik. Da sich der Beiträger einer bestimmten Position der Kritischen Pädagogik in der Nachfolge der Theorietradition der »Darmstädter Schule« (H.-J. Gamm, G. Koneff ke, P. Euler, A. Bernhard) verpflichtet sieht, besteht der erste Teil zunächst aus einer Positionierung, Selbstkritik und Standortbestimmung. 1 | Bei dem nachstehenden Beitrag handelt es sich um die erweiterte Fassung eines Vortrags, der am 07.04.2016 im Rahmen der interdisziplinären Fachtagung »Kulturelle Bildung – Bildende Kultur« (vom 06.04.2016 bis 08.04.2016) der Fakultät II (Bildung, Architektur, Künste) der Universität Siegen gehalten wurde.
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I. Der zweite Teil fokussiert eine Kritik der kommerziellen Ästhetik. Ansatzpunkt hierfür ist die Konturierung der Entwicklungsgeschichte der menschlichen Wahrnehmung. Im Rahmen der Kritik werden wesentliche Entfremdungsmechanismen innerhalb der kulturellen Praxis der Gegenwartsgesellschaft herausgearbeitet. II. Im dritten Teil wird der Versuch unternommen, verlorenes Terrain zurückzuerobern. Die gewonnen Erkenntnisse über Entfremdungsprozesse sind dabei in subjekttheoretischer Hinsicht verwertbar zu machen. Zur Veranschaulichung dient der reformpädagogische Ansatz der Dynamischen Pädagogik von Elfriede Feudel, die in der Tradition des Musikpädagogen Émile Jaques-Dalcroze zu verorten ist.
A nmerkungen zum Theorie -P r a xis -V erhältnis : »K ritik ist nicht gleich K ritik …« Der erste Teil führt einige Anmerkungen zum Theorie-Praxis-Verhältnis auf, welche der Klärung des Kritikbegriffs dienen. Der Eindruck, dass die kritische Lesart der Gesellschaft dazu führen kann, den Begriff Kritik in inflationärer Weise zu gebrauchen und als »Markenzeichen« für eine alternative Denkungsart zu reklamieren, ist kaum von der Hand zu weisen. Kritische Aussagen sind standortgebunden. Aus diesem Grund dürfen sich kritische Positionen Einwänden gegenüber nicht hermetisch verschließen. Das kritische Denken ist zudem infolge seiner Konstitution im Rahmen der bürgerlichen Aufklärungsbewegung von der Warte seiner historischen Ausformung zu einem (sich stetig weiterentwickelnden) kritisch-praktischen Bewusstsein aus zu betrachten. Dem kritisch-praktischen Bewusstsein steht in der spätkapitalistischen Gesellschaft als Gegenmacht ein Komplex kulturhegemonialer Herrschaftspraktiken gegenüber. Dieser Komplex blockiert den Zugang zum kritischen Bewusstsein, indem er die dem kritischen Denken zugrundeliegende Fähigkeit, die Wirklichkeit imaginativ zu transzendieren, außer Kraft setzt. Aufgrund der Entäußerung seiner Wesenskräfte ist der »eindimensionale Mensch« (Marcuse 1967) gänzlich unfähig zur Kritik. Seine Anfälligkeit für die Suggestionen der kommerziellen Ästhetik absorbiert seine Fähigkeit, Abstraktionen von der aktualen Erscheinung der Welt zu gewinnen. Um dieser Suggestivmacht entgegenzuwirken, ist es erforderlich, das kritisch-praktische Bewusstsein um die Dimension des kontrafaktischen Denkens zu erweitern; ein an der bewussten Gestaltung der Praxis orientiertes Denken, das seine Fähigkeit, die Wirklichkeit zu transzendieren, aus einem real-utopischen Bedeutungsüberschuss gewinnt. Kontrafaktisches Denken existiert nur im bewussten Vorgriff auf eine bessere Welt, also in Form der konkreten Utopie. Die Kulturgeschichte bietet hierfür das Bild des Prometheus, welcher der Sage nach – im Widerspruch zu
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den Vorgaben der mythologisch abgesicherten Herrschaftspraxis – das Wagnis einging, den Willen der Götter anzuzweifeln und eine Tat vollbrachte, die eine neue Ära der Menschheitsgeschichte einläutete. Die 10. Feuerbach-These von Marx lässt sich als Hinweis auf den inneren Zusammenhang von Kritik, Utopie und politischer Aktion interpretieren: »Der Standpunkt des alten Materialismus ist die ›bürgerliche‹ Gesellschaft; der Standpunkt des neuen, die menschliche Gesellschaft, oder die vergesellschaftete Menschheit.« (Marx 1969: 535; H.i.O.) Bekanntermaßen bezeichnete sich Marx als »Nicht-Marxisten«. Diese Äußerung ist möglicherweise dem Wissen darum geschuldet, dass eine Gesellschaftskritik, die die herrschende Praxis kontrafaktisch transzendiert, vorrevolutionär, d.h. ohne (als weltverändernde politische Aktion) realisiert worden zu sein, allenfalls eine Spielart des sozialutopischen bürgerlichen Denkens darstellt. Marx war also selbst in gewisser Weise weniger Marxist als Marxianer; seine Sozialkritik ist als Element der bürgerlichen Kultur zu erachten, allerdings in der Perspektive ihrer realhumanistischen und zugleich subjektorientierten Erneuerung. Eine Theorie der kulturellen Bildung auf praxisphilosophischer Grundlage dürfte sich mit jenen Rezeptionsschwierigkeiten konfrontiert sehen, die Ute Osterkamp in Hinblick auf die Kritische Psychologie Klaus Holzkamps formuliert hat. Als Anmaßung mag zunächst empfunden werden, dass die Philosophie der Praxis ebenso wie die Kritische Psychologie »die Einseitigkeiten des herrschenden Denkens, seine Zusammenhangs- und Widerspruchsblindheit, zu überwinden sucht« (Osterkamp 1997: 9). Die Rezeption beider Ansätze wird dadurch erschwert, dass sie zwar kontrafaktisch zu den Entfremdungsmechanismen und kulturhegemonialen Praktiken der spätbürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft angelegt sind, jedoch »keine unmittelbare Hilfe zur reibungsloseren Daseinsbewältigung« (ebd.) bieten können.
K ritik der kommerziellen Ä sthe tik Im Fokus des zweiten Teils steht die Kritik der suggestiven Wirkung der kommerziellen Ästhetik, und zwar im Hinblick auf die Vergesellschaftung des Subjekts. Ansatzpunkt hierfür ist eine Einholung der »Entwicklungsgeschichte der menschlichen Wahrnehmung« (Bernhard 2011: 285). Sinnlichkeit ist nach Marx eine »praktische menschlich-sinnliche Tätigkeit« (Marx, MEW 3: 534; Herv. i. Orig.). Die Entwicklung menschlichen Subjektvermögens vollzieht sich innerhalb der vollen Immanenz einer geschichtlichen Abfolge bestimmter gesellschaftlicher Formationen. Aus geschichtsmaterialistischer Perspektive bringen die Gesellschaftsformationen Urgesellschaft, Sklavenhaltergesellschaft, feudal-absolutistische Gesellschaft und bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft auf der Seite der Subjekte jeweils unterschiedliche Grade der
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Sensitivität menschlicher Wahrnehmungs- und Aufnahmefähigkeit hervor. Den sich historisch verändernden Prägnanz-, Sinn-, Bindungs- und Ablösungsbedürfnissen entspricht der sich mit der Produktions- und Reproduktionsweise der Gesellschaft verändernde Massengeschmack des jeweiligen Zeitalters. Bereits in den »Pariser Manuskripten« (1844) macht Marx darauf aufmerksam, dass das »Schicksal« der Sinnlichkeit unter den Bedingungen der industriekapitalistischen Produktionsweise einer Entäußerung gleichkommt. Nicht mehr nur während der Ausführung entfremdeter Lohnarbeit im kapitalistischen Betrieb, sondern auch durch fremdbestimmten Konsum im Rahmen der Freizeit, wird der Industriearbeiter im 19. Jahrhundert »von seinen zentralen Wesenskräften entfremdet« (Bernhard 2011: 286). Die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit nimmt in einem gattungsgeschichtlichen Entwicklungsprozess zwar tendenziell zu, dennoch ist aufgrund der inhärenten »Entwicklungstendenz« (Bernhard 2011: 77) der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft, die darin besteht, prospektiv sämtliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in Tauschverhältnisse umzuwandeln und auf ein warenförmiges Maß zu reduzieren, von einer Dialektik zwischen der fortschreitenden gesellschaftlichen Arbeitsteilung (Naturbeherrschung) und der zunehmenden Entäußerung menschlicher Wesenskräfte (Entfremdung) auszugehen. »In dem Maße, in dem das Tauschverhältnis zum vorherrschenden Prinzip der Gesellschaft wird, in dem Maße werden Natur und Mensch ihres eigentümlichen Wesens beraubt.« (Ebd.) In der vollendeten Tauschgesellschaft kommt es nach Bernhard zu einer zunehmenden »Enteignung« des »Wahrnehmungsvermögens« (Bernhard 2011: 294). Die Entäußerung, die das Subjekt erleidet, ist – sozialkritisch betrachtet – eine Form der Expropriation. In ihren kulturkritischen Untersuchungen geht die Kritische Theorie von der Prämisse aus, dass sich der von Marx aufgezeigte Prozess der Entäußerung bis in die Gegenwart fortsetzt. Adorno und Horkheimer prägen den Begriff »Kulturindustrie« in den 1940er Jahren; mit ihm ist »im Wesentlichen das Schicksal von Kultur im Spätkapitalismus« (Rühle 2015: 21; Herv. i. Orig.) angesprochen. Im Zuge des Konservativismusstreits (vgl. Wiggershaus 1988: 647ff.) erhält der Begriff der Kulturindustrie eine deutlich kulturpessimistische Zuspitzung. Diese Zuspitzung ist im Zusammenhang mit der theoretischen Neuausrichtung der konservativen Kultursoziologie in den 1960er Jahren zu sehen. Entgegen ihrer früheren traditionell-kulturalistischen Haltung verkündeten deren Hauptvertreter (H. Freyer, A. Gehlen, und H. Schelsky) nun programmatisch die »Ablösung der Politik durch technische Sachzwänge« (Wiggershaus 1988: 652). Die Hinwendung maßgeblicher konservativer Soziologen zu einer Theorie des industriegesellschaftlichen Fortschritts lässt sich als Bekenntnis zu einem »technokratischen Konservativismus« (Wiggershaus 1988: 651f.) deuten. Emblematisch kommt die Neuausrichtung in den Begriffen kulturelle Kristallisation und Industriekul-
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tur zum Ausdruck.2 Der Fortschrittsprozess, den die konservative Kulturkritik als kontinuierlichen Prozess der fortschreitenden Vollendung der Industriegesellschaft beschreibt, erweist sich unter Berücksichtigung der durch den Kapitalismus entfesselten Krisendynamik und der im 20. Jahrhundert geschichtsmächtig gewordenen Verwerfungen als eine durch Widersprüche, Brüche und Degressionen gekennzeichnete Abfolge krisenhafter realgeschichtlicher Ereignisse. Nachdem sich die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit auf einer gewissen Entwicklungshöhe eingependelt hatte, erlitt sie – wie der Ausbruch des I. Weltkriegs und der faschistische Zivilisationsbruch in Europa auf verheerende Weise dokumentieren – diverse Rückfälle in längst überwunden geglaubte Stadien der Barbarei. Zum Abbau der Sensitivität kommt in der restaurativen Nachkriegsgesellschaft die Steigerung der Suggestibilität mit schichtspezifischer Ausprägung hinzu, sei es in Form der offenen Verdrängung bzw. Abwehr der Vergangenheit, in Gestalt der importierten Fröhlichkeit von Heimatfilmen, des Rock’n‘Roll usw. oder ausstaffiert zur subtileren Variante der sozialisierten Halbbildung. Die Trümmerliteratur der Nachkriegszeit, z.B. die Stücke von Wolfgang Borchert, lassen sich als Ausdruck einer stummen Verzweiflung und tiefen Resignation angesichts der nicht aufgearbeiteten Vergangenheit interpretieren: ein Klärungsbedürfnis, das sich jedoch nur vereinzelt oder beiläufig artikuliert. Nicht ohne Grund stellen Alexander und Margarete Mitscherlich in Hinblick auf das kollektive Verhalten und den Massengeschmack der Nachkriegszeit eine »Unfähigkeit zu trauern« (1967) fest. Die Macht der Kulturindustrie, ein oberflächliches Gefühl kollektiver Verbundenheit zu erzeugen und dadurch eine breite Akzeptanz für das richtige Leben im falschen zu schaffen, beschreibt Adorno in seiner »Theorie der Halbbildung« (1959) wie folgt: »Die Kulturindustrie im weitesten Umfang jedoch, all das, 2 | Unter »kultureller Kristallisation« versteht Gehlen den Übergang der Kultur in einen stationären Zustand, in den sie eintritt, wenn die ihr innewohnenden Entwicklungsmöglichkeiten erschöpft sind. Fortschritt ist dann nur noch als szientifischer Detailfortschritt und fortschreitende Integration innerhalb einer substanziell unbeweglichen gesellschaftlichen Totalität denkbar: »Man hat auch die Gegenmöglichkeiten und Antithesen entdeckt und hineingenommen oder ausgeschieden, so daß nunmehr Veränderungen in den Prämissen, in den Grundanschauungen zunehmend unwahrscheinlich werden.« (Gehlen 1963: 321) Aufgrund des Veröffentlichungszeitpunktes ist nicht auszuschließen, dass Freyer in bewusster Abgrenzung zum Begriff der Kulturindustrie von Industriekultur spricht. Ohne auf die dysfunktionalen Aspekte des beschriebenen Komplexes einzugehen, resümiert Freyer in seiner populären Schrift von 1965: »Das Zusammengehen dieser drei Faktoren: der Wissenschaft, der Technik und des kapitalistischen Betriebs zu einer funktionalen Einheit […], ist ein einmaliges geschichtliches Ereignis. Auf ihm beruht die Industriekultur.« (Freyer 1965: 186)
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was der Jargon als Massenmedien bestätigend einordnet, verewigt jenen Zustand, indem sie ihn ausbeutet, eingestandenermaßen Kultur für jene, welche die Kultur von sich stieß, Integration des gleichwohl weiter Nichtintegrierten. Halbbildung ist ihr Geist, der mißlungenen Identifikation.« (Adorno 1972: 103) Der Rückbildung von Sensitivität und der Steigerung der Suggestibilität entspricht nach Haug in der kulturindustriell verwalteten Welt die umfassende »Modellierung der Sinnlichkeit« (Haug 1971: 98) bzw. Bedürfnisstruktur nach warenästhetischen Vorgaben. In seinen kritischen Studien zur »Warenästhetik« (1971; 2009) analysiert Haug die »immer neuen Grenzüberschreitungen von Formen und Mechanismen der Warenästhetik« (Haug 2009: 225). Der Warenschein, ursprünglich ein Mittel zur Absatzsteigerung standardisierter Massenprodukte, hat sich zu einer ästhetischen Norm verselbstständigt. Die warenästhetische Normierung der Konstitution der Erfahrungsfähigkeit macht das Subjekt empfänglich für die Illusion einer »klassenlosen Kultur« (Haug 1971: 137) bzw. eines »imaginären Nonkonformismus« (Haug 2009: 167). In dem Maße, wie es den Reizen der Warenästhetik erliegt und auf Selbstbestimmung verzichtet, wird das Subjekt kollektiv und individuell in Anpassung geübt. Der vermeintlich voraussetzungslose Konsum standardisierter Massenprodukte bzw. scheinbar unbegrenzte Zugang zu virtuellen Erlebniswelten erzeugt die Illusion einer umfassenden kulturellen Teilhabe. In Anknüpfung an die Kulturindustrietheorie der Kritischen Theorie legt Haug dar, dass die Warenästhetik einer »Technokratie der Sinnlichkeit« (Haug 1971: 55) entspricht, welche »Herrschaft über Menschen […] auf dem Wege ihrer Faszination durch technisch produzierte künstliche Erscheinungen« (Haug 1971: 55) ausübt. Die Warenästhetik ist eine Form von Herrschaft, da sie gesellschaftliche Integration auf der Basis des standardisierten bzw. individualisierten Massenkonsums sicherstellt. »Schein wird für den Vollzug des Kaufaktes so wichtig – und faktisch wichtiger als Sein.« (Haug 1971: 17) Die Unterwerfung des Subjekts unter kulturindustriell vermittelte warenästhetische Normen stellt, wie Euler bemerkt, eine »letzte Provokation der Bildung« (Euler 1989: 70) dar, weil der manipulative »Ausgriff auf die innere Natur die Entfremdung bis ins Innerste der einzelnen Menschen« (Euler 1989: ebd.) hinein verlängert. Bildungstheoretisch betrachtet wird das Subjekt durch die warenästhetische Modellierung der Erfahrungsfähigkeit seines Vermögens zur subjektiven Zueignung von Kultur beraubt: »Die Kulturindustrie hat die letzte Schranke der Kapitalverwertung durchbrochen, und mit der zerstörerischen Enteignung der inneren Natur einen Prozeß in Gang gesetzt, der die subjektiven Voraussetzung der Bildung irreparabel zu zerstören imstande ist.« (Euler 1989: 70) Die Beobachtung, dass sich in der Alltagskommunikation bzw. -interaktion zunehmend die Muster des Produktmarketings abbilden, d.h. Sprache und Ausdruck in antagonistischen Gesellschaften vorrangig der Selbstbearbeitung, Selbstdarstellung und Selbstoptimierung dienen, unter-
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mauert die These einer fortschreitenden »Enteignung der inneren Natur« (Euler 1989: 59) und der Unterwerfung des Subjekts unter den Imperativ der Warenförmigkeit.
P ädagogische Ä sthe tik und kulturelle B ildung Pädagogisches Handeln ist in Hinblick auf die emanzipatorische Subjektwerdung in der Perspektive einer bewussten Gestaltung der gesellschaftlichen Praxis neu anzulegen. Als Zielperspektive für die Neubestimmung des Aufgabenspektrums der Pädagogik sind dabei aufgrund der Bedingungen der »strukturellen Erschöpfung« der spätbürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft nach Bernhard die Grundkategorien »Widerstandsfähigkeit und Mündigkeit« (Bernhard 2011: 243) anzuvisieren. Innerhalb dieses kategorialen Rahmens bewegen sich die weiteren Überlegungen, die auf der Ebene der Subjekttheorie angesiedelt sind. Die kindliche Phantasie anzuregen, d.h. dem ihr innewohnenden Potenzial, die Wirklichkeit zu transzendieren, zur vollen Entfaltung zu verhelfen, ist ein zentrales Anliegen der pädagogischen Ästhetik. Rhythmik, Musikalität, Poesie und bildhaftes Gestalten sind essenzielle Ausdrucksformen des Menschen. Im Akt der künstlerischen Betätigung erlebt das werdende Subjekt die Gestaltungskraft menschlicher Produktivität. Zugleich gewinnt es als unmittelbar am Geschehen beteiligter Beobachter einen lebendigen Eindruck von der ästhetischen Wirkung gestalterischer Tätigkeiten. Um das Kind in seiner materiellen Verfasstheit ernst zu nehmen, scheint es zunächst erforderlich, die Aufmerksamkeit dem Körper und Bewegungsapparat zuzuwenden, ohne dabei jedoch die Bildungswirksamkeit der »oberen« Sinnestätigkeiten in Abrede zu stellen.
Ansatz der dynamisch-elementaren Pädagogik (nach Elfriede Feudel) Einen Ansatzpunkt für die dynamische Ausrichtung der Erziehungspraxis bildet die Methode des Genfer Musikpädagogen Émile Jaques-Dalcroze, der zwischen 1911 und 1914 in der Bildungsanstalt für Musik und Rhythmus in Hellerau bei Dresden lehrte. Elfriede Feudel studierte zu dieser Zeit in Hellerau rhythmische Gymnastik und machte sich dabei mit der rhythmischen Elementarmethode des Gastdozenten vertraut. Ihre praktische Ausbildung resümiert Feudel in der Denkschrift »Rhythmische Erziehung« (1947) rückblickend: »Die Hellerauer Jahre waren für die Schüler eine Zeit stärksten Erlebens und unvergeßlicher künstlerischer Eindrücke; man sah sich im Studium der Beziehung zwischen Musik und Körper gewissermaßen in einem Land der unbegrenzten Möglichkeiten und durfte an eine Zukunft glauben, die das Be-
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gonnene immer noch schöner und gültiger fortführen würde.« (Feudel 1947: 4) Der Ausbruch des ersten Weltkrieges im August 1914 beendete diese Episode der optimistischen Weltbetrachtung. Aufgrund seines Protests gegen die Schließung der Kathedrale von Reimes war Dalcroze bei den Machthabern in Ungnade gefallen und gezwungen, Deutschland für immer zu verlassen. Der Fortgang »trennte die deutschen Schüler«, wie Feudel bemerkt, »vollständig von der internationalen Entwicklung der Methode« (ebd.). In der frühen theoretischen Abhandlung »Rhythmische Erziehung« (1928) finden sich neben Reminiszenzen an die Hellerauer Zeit Rückgriffe auf das Gedankengut von Klassikern der frühbürgerlichen Pädagogik, insbesondere Pestalozzi und Fröbel. In dieser Gedankenwelt findet Feudel idealistischen Rückhalt für ihren ganzheitlichen Ansatz: »Die rhythmische Erziehung«, erklärt Feudel, »gründet sich auf die Musik« (Feudel 1928: 59). Nicht der Kunstgenuss, also die Befähigung zum »Bertachten und Erleben des musikalischen Kunstwerks«, stehe im Mittelpunkt der Bemühungen, sondern die Musik solle, wie sie bemerkt, die »waltenden Kräfte und Gesetze« im Menschen »lebendig machen«. Darunter fallen nach Feudel »Tempo, Metrum, Rhythmus, Dynamik, Klang, Phrasierung, Form« (ebd.). Kunsterziehung bedeutet für sie nicht, Kinder mit den Grundlagen einer Werkästhetik vertraut zu machen, um diese in ein dem Kunstgeschmack der Erwachsenen entsprechendes Verhältnis zur Kunst zu versetzen. Vielmehr soll das produktive Element der künstlerischen Gestaltung den Ausgangspunkt der kunstpädagogischen Arbeit mit Kindern darstellen. Zwar diagnostiziert Feudel einen Verlust an menschlicher Ausdrucksfähigkeit, jedoch liegt die Frage danach, welche gesellschaftlichen Ursachen diesem Verlust zugrunde liegen, außerhalb des Reflexionshorizonts der frühen Schriften. In dem reformpädagogischen Diskussionszusammenhang, welchem auch Feudel zuzuordnen ist, äußerte sich Gesellschaftskritik nicht selten in Form der Schulkritik. Im Fokus der gemäßigten Schulkritik Feudels steht die Trennung der Unterrichtsfächer Turnen und Musik (vgl. Feudel 1928: 61f.). Ihre Schulkritik lässt Rückschlüsse auf weitere sozialkritische Implikationen zu, die jedoch an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden sollen. Vor dem Hintergrund der im I. und II. Teil angestellten Überlegungen lässt sich in den Schriften Feudels ein bislang nicht eingelöster real-utopischer Bedeutungsüberschuss markieren. Ihre Ansätze zur Rhythmischen Bewegung und zum Rhythmischen Zeichnen lassen sich kontrafaktisch auf die gegenwärtige Unterrichtspraxis beziehen, die der Schülerschaft Höchstleistungen im Bereich des formativen Lernens (für die sogenannten MINT-Fächer) abverlangt, aber die Ausbildung musisch-künstlerischer Fähigkeiten weitestgehend dem Zufall oder Geschick einzelner Lehrkräfte überlässt.
Die Ästhetisierung der Wirklichkeit
Der real-utopische Überschuss beider kunstpädagogischen Ansätze wird im Folgenden kurz dargestellt:
Rhythmische Bewegung In ihrer Schrift »Dynamische Pädagogik« (1963) skizziert Feudel den Ablauf einer »Rhythmikstunde im ersten Schuljahr« (Feudel 1963: 54). Die Vorbereitung des Raumes vollzieht sich im Medium der »Lautlosigkeit«. Es gibt keine anfeuernden Kommandos, Lehrervorgaben oder Leistungserwartungen wie im Sportunterricht. Die Kinder bewegen sich zunächst frei durch den Raum, jedoch mit behutsamer Rücksicht auf die Bewegungen der anderen. Keine Konkurrenz, kein Leistungsdruck stört das Geschehen. Die Bewegung vollzieht sich frei, aber nicht ungeordnet. Die Kinder fügen sich auf Zuruf der Lehrerin zu einem Kreis zusammen, ein Kind tritt in die Mitte des Kreises und gibt den anderen Richtung und Tempo vor (vgl. Feudel 1963: 55f.). In einer Rhythmikstunde werden keine messbaren Kompetenzen vermittelt, dennoch ist kein »blinder Zufall am Werk« (Feudel 1963: 57). Da die Schüler ihre Bewegung mit den anderen abstimmen und von selbst Kollisionen vermeiden, lässt die freie Bewegung im Raum die Sinnhaftigkeit der Grundregeln des menschlichen Zusammenlebens in ihrer elementaren Variationsbreite sinnfällig werden. Die Rhythmisierung ihrer Körperbewegung vermittelt den Kindern einen lebendigen Eindruck der menschlichen Soziabilität.
Rhythmisches Zeichnen Feudel selbst sieht, wie die frühen Ausführungen über die »Rhythmische Erziehung« zeigen, eine Verbindung zwischen rhythmischer Körperbewegung und bildhafter Gestaltung: »Wer Musik ›realisieret‹, d.h. in genau entsprechende Bewegung umsetzt, hat einige Ähnlichkeit mit demjenigen, der einen Gegenstand abzeichnet. In beiden Fällen wird ein Sinneseindruck – einmal ein Gesehenes, einmal ein Gehörtes – von außen aufgenommen, innerhalb verarbeitet und wieder zurückgegeben.« (Feudel 1947: 8) Der Unterschied zwischen Zeichnen und Realisieren besteht nach Feudel hinsichtlich der Möglichkeit der »Rückverwandlung des Eindrucks in den Ausdruck« (Feudel 1947: 9). Während der abgezeichnete Gegenstand sich nicht wieder in einen wirklichen zurückverwandeln lässt, »kann die lebendige, geformte Bewegung jederzeit wieder in eine ihr entsprechende Musik umgesetzt werden« (ebd.). In der späten Abhandlung »Dynamische Pädagogik« (1963) konkretisiert Feudel diesen Sachverhalt bezüglich der pädagogischen Bedeutung elementarer Raumbewegungsformen. Durch die rhythmische Bewegung im Raum lassen sich Raumbegriffe wie »vorwärts, rückwärts; hinten, vorne; neben, zur Seite, rund, eckig, gerade, gebogen« und »Zickzack« (Feudel 1963: 65) sowie die elementa-
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ren Raumformen »Kreis, Viereck und Dreieck« (Feudel 1963: 65; Herv. i. Orig.) exemplarisch entsprechend ihrer oberflächlichen Erscheinung darstellen. Der Vorgang der Bewegung des Körpers im Raum ist stets konkret situationsgebunden und darum nicht wiederholbar. Dadurch, dass sie die Grundformen rhythmischer Bewegungen dauerhaft in Gestalt einer Zeichnung fixiert, »erlaubt die zeichnerische Darstellung [hingegen] einen Einblick in den inneren Vorgang« (Feudel 1963: 63; Einf. d. Verf.). Die bildende Wirkung, die mit der Raumbewegung und dem Freihandzeichnen verbunden ist, wird wie folgt beschrieben: »Denn es bahnt sich im Zeichnen – genau wie in der rhythmischen Bewegung – ein Ablösungsprozeß an; der Schüler lernt die Welt des Gegenständlichen mehr und mehr mit einer anderen, tiefer gelegenen Wirklichkeit [zu] vertauschen, einer Welt, die unsichtbar ist, aber auf strenger Gesetzmäßigkeit beruht und auf dieser Grundlage die Freiheit der Phantasie erlaubt.« (Feudel 1963: 64; Einf. d. Verf.)
S chlussbe tr achtung Die Freiheit der Phantasie, in der eine »Hinwendung zur modernen Kunst« (Feudel 1963: 64) spürbar wird, ist weder ein Wesensmerkmal des Menschen, noch eine angeborene Eigenschaft, sondern ein gesellschaftsgeschichtliches Entwicklungsprodukt. Das heißt, nur in Gesellschaften, in der die Produktivkräfte niedrig entwickelt, Arbeitsprozesse subsistenzwirtschaftlich organisiert und die Verkehrsformen noch vorrangig korporativ geprägt sind, lässt der geringe Stand der gesellschaftlichen Arbeitsteilung es eventuell zu, dass Erwachsene die spielerische Entfaltung der Sinnlichkeit durch informelle Anregungen unterstützen. In einer hochgradig arbeitsteilig organisierten, industriekapitalistisch verfassten Gesellschaft, in der Arbeits- und Lebensbereich funktional getrennt sind, sind die Möglichkeiten zur Mitgestaltung des kindlichen Spielverhaltens äußerst stark limitiert. Zwar ist die Entfaltung der Phantasie innerhalb des kindlichen Freispiels einer sozialgeschichtlich überwundenen Gesellschaftsformation zuzuordnen, gleichwohl sollte die Freisetzung der Phantasie nicht dem Zufall oder der Willkür einzelner »Beauftragter« überlassen bleiben. In der Darstellung Feudels wird die Freisetzung der Phantasie deshalb zu Recht als Aufgabe einer methodisch-fundierten pädagogischen Praxis begriffen, die in einer Demokratie prinzipiell jedes Gesellschaftsmitglied verantworten können sollte. In der kulturindustriell verwalteten Welt ist die Gruppe der am Arbeitsprozess beteiligten Werktätigen jedoch, selbst wenn sie nicht im Betrieb, Büro etc. anwesend ist, mit der Befriedigung gesellschaftlich induzierter Kompensationsbedürfnisse beschäftigt. Aufgrund der rezeptiven Ausrichtung der Wahrnehmung und übersteigerten Suggestibilität mischen sich Erwachse-
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ne zudem in untauglicher Weise in das spielerische Geschehen ein und machen sich dadurch oft ungewollt selbst zu Agenten kulturindustriell geprägter Sozialisationsbedingungen. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Nur eine kontrafaktisch zur suggestiven Wirkung der Warenästhetik angelegte ästhetische Selbsterziehung der Erziehenden kann der gesellschaftlichen Tendenz zur beschleunigten Aushöhlung der Phantasie nachhaltig entgegenwirken.
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Bildung – Kultur – Schule Reisen mit und nach Hermann Lietz Annika Blichmann/Sebastian Engelmann
E inleitung Kann Reisen bilden? Durchaus: aber nur dann, wenn wir es zulassen, wenn wir Neuem offen gegenüberstehen, mit anderen Worten: wenn wir bildungsfähig sind. Ein Reisender1 sollte gewillt sein, Unterschiede zwischen verschiedenen Kulturen zu erkennen, bestenfalls zu deuten und zu verstehen. Reisen kann dann nicht bilden, wenn die Angst vor dem Fremden überwiegt, wenn die eigene Kultur in das fremde Land übertragen wird – vom Essen bis hin zur Sprache. In Zeiten der Globalisierung, in der etwa Nähe und Distanz immer stärker ineinander übergehen, reicht es auch nicht aus, die Welt passiv durch das Fernsehen ins heimische Wohnzimmer zu holen, um bspw. den Karneval in Rio de Janeiro oder das Fest der Farben in Indien mit zu verfolgen. Die damit einhergehenden Traditionen und Kulturen müssen er-lebt werden, um sie real verstehen und deuten zu können. Die aktive Teilhabe – hier im Sinne von Reisen – kann helfen, religiöse, kulturelle und geschichtliche Hintergründe anderer Menschen zu respektieren und zu achten, Solidarität und Verantwortung auszubilden. Der vorliegende Beitrag befasst sich mit Reisen der besonderen Art: mit Schulfahrten und Bildungsreisen. Dabei wird zunächst das Begriffspaar »Reise und Bildung« näher erläutert, bevor anschließend die Schulfahrten bei Herrmann Lietz im Mittelpunkt der Betrachtungen stehen – sowohl aus historischer Perspektiver um 1900 als auch aus aktueller Perspektive in Form des sog. »Bildungsjahres«.
1 | Aus Gründen der Leserfreundlichkeit ist in diesem Beitrag nur die männliche Form genannt, die weibliche Form ist jedoch selbstverständlich stets eingeschlossen.
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B ildung als R eise – R eisen als B ildung Bildung ist wohl einer der zentralsten Begriffe der Pädagogik – so zentral, wie er ist, so divers sind auch seine inhaltlichen Ausgestaltungen (vgl. Hastedt 2012). Der in diesem Artikel zugrunde gelegte Bildungsbegriff soll im Folgenden kurz skizziert und operationalisiert werden, um den Zusammenhang zwischen theoretischen Vorüberlegungen und empirischer Analyse deutlich zu machen. Ausgang ist hierbei die Prämisse, dass die Vorbereitung des »einzelnen Menschen auf seine letztlich individuelle Wahrnehmung der Welt« (Koerrenz/Blichmann 2014: 7) zu den Grundaufgaben heutiger pädagogischer Praxis zählt. Der hier angeführte Bildungsbegriff ist auf Sprachlichkeit angewiesen, Verstehen ist nur sprachlich möglich, »Sprache ist zugleich Ausdruck und Medium« (Koerrenz 2014: 13). Das Individuum ist dieser Sprachlichkeit letztlich ausgeliefert: »Eine Flucht aus der Geschichte der Geschichten ist unmöglich.« (Ebd.) Eine solche Geschichte ist heute global zu verstehen, sie ist der Horizont, zu dem sich das Individuum verhalten muss. Der Geschichte, dem Globalen, sind zwar unterschiedlichste »Wahrnehmungsimpulse der Umwelt, letztlich jedoch der Verantwortung des Individuums für die Gestaltung des eigenen Lebenslaufs anheimgestellt« (ebd.: 14). Die individuelle Auseinandersetzung mit Impulsen kann in dieser Konzeption als Hermeneutik verstanden werden. Anders gefasst: »Bildung ist die Ausbildung hermeneutischer Kompetenz und die (Selbst-)Reflexion der Bindungen und Möglichkeiten des eigenen Verstehens.« (Ebd.: 15)2 Für das Verständnis von Bildung in diesem Artikel ergeben sich so zwei Dimensionen. Beide münden in der Integration des hermeneutischen Zirkels in das Denken. Eine Konfrontation mit den eigenen Prägungen und Selbstverständlichkeiten kann so zu einer Erschließung ebendieser führen. Bildung wird so als Auseinandersetzung mit Welt und damit mit den »Bedingungen und Bedingtheiten des selbst« (ebd.: 18) verstanden, die ins Blickfeld gerückt werden. Bildung bekommt – in aller Vorläufigkeit – ein operatives und anthropologisches Fundament mit dem normativen Kern der »Unhintergehbarkeit und in gewissem Sinne auch Unzulänglichkeit der Freiheit jedes Individuums« (ebd.: 27). Die Verknüpfung zur Reise über den oben umrissenen Bildungsbegriff ist nun die folgende Frage: »Was ist uns die Reise?« (Kenklies 2015: 23) Reisen ist Bewegung, reisen findet überall statt – seien es Bildungsreisen, Geschäftsreisen oder auch die Reise mit der Familie. Semantisch bleibt aber unklar, was das Spezifikum des Reisens ist; reisen können wir körperlich oder auch 2 | Hierbei handelt es sich um eine stipulative Definition, eine Regelung des Umgangs mit einem Begriff, die keinesfalls Allgemeingültigkeit oder Ausschließlichkeit beansprucht (vgl. Scheffler 1971: 25ff.).
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geistig.3 Reisen – und das ist das Spezifikum auf nicht semantischer Ebene – hat eine »formende Eigenschaft« (ebd.: 27), die nur schwer außer Acht gelassen werden kann. In der reisenden Bewegung des Individuums wird – in diesem Verständnis – »das Alte überschritten, [es, S.E.] entbirgt sich etwas« (ebd.: 37). Wo die klassischen Bildungsreisen eine Angleichung an die gegebene Tradition durch die Ansicht von ebendieser Tradition ermöglichen, wird die Bildungsreise in diesem Artikel und auch bei Lietz als Entfernung von einer vorgegebenen Deutung der Realität verstanden. Ergebnis solcher Reisen kann sein, »dass bereits in den Mythen Brüche sichtbar werden, die sie (die Erfahrungen, S.E.) ähnlicher werden lassen, als es zu Beginn den Anschein hatte« (ebd.: 38). Reisen kann so verstanden werden als ein individueller Akt der Bewegung in Kontakt mit Anderem4, der zum Bewusstwerden und dann auch zur Veränderung der eigenen Vorurteilsstrukturen führen kann. Globale Bildung wird in diesem Text an diese Ideen anschließend verstanden als eine durch die Welt selbst induzierte Entfremdung vom eigenen, oft normalisierten Verständnis von Welt. Durch die Entfremdung wird die Differenz von einer individual- und einer sozialanthropologischen Sichtweise deutlich: Meine Geschichten sind meine Geschichten. Sie sind stets aber auch beeinflusst durch mögliche universellere Narrationen, die ihnen ihre normalisierte Form geben. Kurz: Durch die Welt werden Erfahrungen vermittelt, die Dissonanzen erzeugen. Die Wahrnehmung dieser Dissonanzen ist Anzeichen dafür, dass Bildung in diesem Sinne stattfindet. Angestoßen durch das Außen wird ein in letzter Instanz selbstreferentieller Reflexionsprozess angeregt. Am Ende kann ein in diesem Sinne gebildeter Mensch stehen. Ein solcher richtet sich auf die Welt, nimmt sie wahr, und reflektiert seine eigenen Voraussetzungen und das, was ihm da entgegenkommt. Bildung ist ein Bruch, ein Ereignis, welches geschieht und sich aufdrängt. Ausgedrückt wird dies in Sprache – dementsprechend erscheint es nur logisch, sich auch in gesprochenem Wort auf die Suche nach solchen Brüchen im Selbst- und Weltbild zu begeben. Das oben skizzierte 3 | Beispiele für diese Form des Reisens findet man beispielsweise im Film Fight Club von 1999 zuhauf, sei es nun die Reise zum Seelentier des doppelten Protagonisten Jack oder auch die Szenen in denen er sich mit der Figur Marla im durchwegs ambivalenten Raum zwischen Realität, Traum und Schizophrenie einlässt. Andere Beispiele für die doppelte Bewegung der Reise sind Goethes Italienreise oder in anderer Form auch die Kavalierstour. 4 | Kenklies verweist hier auf die Problematik, dass das Andere nie als das Andere zur Sprache gebracht werden kann. Er fasst zusammen, dass am »Ende […] aber genau der Aufweis von Ähnlichkeit der Beweis für das Einbrechen des Anderen sein [kann] (Kenklies 2015: 38). In der Ähnlichkeit erscheint dann möglicherweise das Fremde und das Neue. In der Tradition des Zen schließt er mit: »Wer das nicht glaubt, dem sei eine Schale Tee gereicht.« (Ebd.)
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Verständnis von Bildung gleicht so strukturell dem Prozess des Reisens. Reisen kann folglich als die paradigmatische Ausprägung von Bildung verstanden werden. Der Ausgestaltung dieses Prozesses im Nachgang des Bildungsjahrs, gilt es nun nachzuspüren.
B ildungsreisen mit H ermann L ie t z Bevor das sogenannte Bildungsjahr, ein Schulprojekt der Hermann Lietz-Schule Schloss Bieberstein, selbst im Mittelpunkt der Betrachtungen steht, sollen zunächst ganz allgemein Bildungsreisen bei Hermann Lietz um 1900 Darstellung finden. Außerschulische Lernangebote und Schulreisen waren stets integraler Bestandteil des pädagogischen Konzepts Lietz’. Seine Idee der Deutschen Landerziehungsheime richtet sich – wie bei zahlreichen anderen Reformpädagogen auch – gegen die sog. Pauk- und Drillschulen seiner Zeit (vgl. Lietz 1967: 15f.). Diese waren u.a. von einer allgemeinen Lebensfremdheit, der Einengung der Persönlichkeitsentwicklung sowie der Unterdrückung der Aktivität, Neugier und Selbstständigkeit der Schüler geprägt. Wie einige andere Pädagogen auch übt Lietz entsprechende Kritik am vorherrschenden Erziehungssystem: Die Schule sei eine reine Lern- und Stoffschule, sie sei lehrerzentriert und disziplinorientiert. Dem versucht er mithilfe eines kulturkritischen Konzepts entgegenzuwirken mit dem Ziel, die Kinder zu selbstständigen Persönlichkeiten zu erziehen, die handwerklich, wissenschaftlich und künstlerisch tätig sind. So sind seine neu gegründeten Landerziehungsheime geprägt von einer Einheit von Leben und Lernen sowie einer ganzheitlichen Erziehung – angelehnt an Pestalozzi – mit Kopf, Herz und Hand. Lietz fordert, die Schule aus der lauten, unsauberen Stadt hinaus auf das Land zu verlegen, wo Erzieher und Schüler zusammenleben und -arbeiten können. Zudem nimmt er in sein Konzept – und auch das ist neu – Bewegung (Wandern, Laufen etc.) sowie Kunst, Musik und Werken auf. Gleichzeitig richtet sich der Unterricht nun nach den Interessen der Schüler, wobei Theorie (Beobachten, Beurteilen, Vergleichen) und Praxis (Garten- und Werkstattarbeit) miteinander verbunden werden (vgl. ebd: 16). Die Entstehung der Landerziehungsheime war somit ein Ausbruch aus dem städtischen Dasein zu den »heilenden Kräften der Natur« (ebd.), wobei der Gedanke, Bildung und Erziehung in den großen Zusammenhang von Mensch und Natur einzubetten, im Mittelpunkt stand. Diese Absichten versucht Lietz nicht nur in seinen Landerziehungsheimen umzusetzen (vgl. Koerrenz 1994). Im Gegenteil: Er erweitert und ergänzt das Heimleben durch außerschulische Lernangebote, bei denen auch Schulfahrten eine bedeutende Rolle spielen. Es geht ihm nicht ausschließlich um die
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theoretische Aneignung von Wissen im Unterricht, sondern vor allem um dessen praktische Erfahrung. So unternimmt Lietz bereits ab Gründung des ersten Landerziehungsheimes in Ilsenburg 1898 mit seinen Schülern wöchentlich Ausflüge in die nähere Umgebung der Schule sowie regelmäßig Schulfahrten in verschiedene Teile Deutschlands (vgl. Degen 1988: 17). In den Ferien führen größere Reisen sie zudem über die nationalen Grenzen Deutschlands hinaus (vgl. Lietz 1970: 61). Zu den Gründen und Zielen der Schulfahrten äußert sich Lietz: »Aus Büchern und dem Unterricht erfahren wir viel von diesen Ländern. Dass es da unbedingt wertvoll ist, das Gelesene und Gehörte durch eigenen Augenschein zu prüfen, mit dem Gegenstand selbst zu vergleichen […] wer wollte das leugnen? Wer ferner, daß der Gesichtskreis unendlich erweitert, daß vieles gehört, gesehen, erfahren wird, was überhaupt nicht aus Büchern und Lehrstunden zu erfahren ist? Es gab eine Zeit, in der die vornehmen deutschen Jünglinge die Anfänge ihrer Bildung durch Einzelunterricht von Hauslehrern erwarben und dann durch Reisen mit diesen vollendeten. – Diese Methode hat jedenfalls viele Vorzüge vor der des zwölf und mehr Jahre währenden Massenunterrichts auf den Schulbänken.« (Lietz 2015: 15)
So unternimmt Lietz mit seinen Schülern beispielsweise 1906 eine Reise nach Norwegen, wo sie nicht nur wandern und Berge besteigen, sondern sich auch kulturell (weiter-)bilden, indem sie Städte wie Trondheim und Bergen besichtigen und in Lillehammer das Haus des bedeutenden Dichters Björnson besuchen, um mehr über dessen Leben und Werk zu erfahren (vgl. Littig 2004: 118). In den Osterferien 1910 – um ein zweites Beispiel zu nennen – reist Hermann Lietz mit insgesamt 14 Schülern nach Ägypten. Während der Fahrt mit der Bahn halten sie in u.a. in Nürnberg, Genf, Avignon und Marseille und besichtigen Sehenswürdigkeiten der Städte. Den Zwischenstopp in Neapel beschreibt Lietz folgendermaßen: »In Neapel konnten wie [sic!] bei mehrstündigem Aufenthalt das Straßenleben am Hafen und das Nationalmuseum kennenlernen. […] Auf den Straßen und am Hafen wurde überall gearbeitet. Zahlreiche noch recht junge Kinder stellten dort mit großer Geschicklichkeit und Schnelligkeit aus Lehm Steine her und erregten die Teilnahme vor allem ihrer jüngsten Altersgenossen aus unserem Heim.« (Lietz 2004: 336)
In Ägypten schließlich unternehmen sie Ausflüge auf Basare, besuchen Moscheen und das Nationalmuseum, reiten auf Eseln zu den Königsgräbern und auf Kamelen zu den Stufenpyramiden von Sakra (vgl. Lietz 2004). Während sie Neues erleben, lernen die Schüler: Sie erfahren kulturelle Unterschiede (wie bspw. Kinderarbeit und die Religion des Islam), sie lernen sich selbst und ihre (Um-)Welt kennen, sie nehmen bewusst und unbewusst
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Wissen auf und erlangen verschiedene Kompetenzen. Die Vorteile der internationalen Reisen schätzt Lietz besonders aufgrund der Bildung des Charakters sowie aufgrund des Erwerbs von geographischen und (inter-)kulturellen Kenntnissen (vgl. Degen 1988:17). Hierbei achtet er besonders darauf, dass seine Schüler alle Schichten der Bevölkerung kennenlernen aber auch verschiedene »Volkstypen“[, denn, A.B.] »all diese kann man sich ebensowenig richtig vorstellen, bevor man sie gesehen und mit ihnen verkehrt hat« (Lietz 2015: 17). Diese Aspekte der Reisen finden sich auch heute noch im Internationalen Bildungsjahr 5 wieder.
D as B ildungsjahr der H ermann -L ie t z -S chule S chloss B ieberstein Anhand der nun folgenden Ausführungen kann das Bildungsjahr der Hermann-Lietz-Schule Schloss Bieberstein als »Experiment im Sinne Lietzscher Reformpädagogik« (Liersch 2013: 2) ausgewiesen werden, wobei zunächst dargestellt werden soll, was unter dem Bildungsjahr zu verstehen ist, um anschließend (inter-)kulturelle Bildung und Bildung als reflexives Selbstkonzept in die nähere Betrachtung zu rücken.
Das Lietz-Bildungsjahr Seit dem Schuljahr 2010/11 bietet die Hermann-Lietz-Schule ihren Schülern die Möglichkeit, am Internationalen Bildungsjahr teilzunehmen.6 Das Ziel ist, in sechs verschiedenen Modulen7 bereits erworbenes Grundwissen, d.h. die 5 | Bis Ende des Jahres 2015 nannte die Hermann-Lietz-Schule dieses freiwillige Schuljahr kurz »Bildungsjahr«. Seit 2016 wurde die Bezeichnung zu »Internationales Bildungsjahr – learn and travel« erweitert. Die Verstärkung des internationalen Aspekts stellt die Verbindung zwischen Bildung und Reise(n) stärker in den Mittelpunkt. 6 | Voraussetzung für die Teilnahme ist ein erfolgreicher Abschluss der regulären Mittelstufe und die Aufnahme an der Hermann-Lietz-Schule. 7 | Modul 1: Sprache (Grammatik, Rhetorik, Stimmschulung, Literaturgeschichte, kreatives Schreiben, Theaterprojekt, Fremdsprachenaufenthalt im Ausland); Modul 2: Mathematik und Naturwissenschaften (Vertiefung der Mathematik der Mittelstufe, Physik in anschaulichen Phänomenen, Ernährung und Gesundheit, Ökologie, angewandte Chemie, Computerkurs); Modul 3: Geisteswissenschaften und Künste (Philosophie, Theaterprojekt, Video- und Bildpräsentationen, Kunst- und Kulturexkursion); Modul 4: Erlebnispädagogik und Sport (Trekkingtouren, Bergtouren, Adventure Sport, Ausdauertraining, Naturund Umweltbildung, jahresbegleitende Sportgilden auf Schloss Bieberstein); Modul 5:Gemeinnützige Projekte (Naturschutzprojekt, Hilfs- und Bauprojekte im Ausland,
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curricularen Inhalte der Mittelstufe, nachhaltig zu festigen. Die Module finden dabei in zahlreichen Kompaktphasen innerhalb aber auch außerhalb der Schule statt. So reisen die Schüler bspw. nach Berlin, um Kunst und Kultur der Stadt kennenzulernen. Sie nehmen an einer Weinlese in Hessen und einem Sprachkurs in Sri Lanka teil. Nach Nepal wiederrum führt sie ein sozial-ökologisches Projekt und eine anschließende Kajak- und Trekkingtour. Ein Umweltprojekt sowie eine Höhenwanderung sind Ziele in den Alpen.8 In leitfadengestützten narrativen Interviews mit thematischer Fokussierung wurden insgesamt fünf Teilnehmer des ersten und zweiten Jahrgangs des Bildungsjahres zu diesem befragt. Die Inhalte der Befragung waren u.a. die Entwicklung verschiedener Kompetenzen wie Sozial-, Sach- und Selbstkompetenz sowie die Erfahrungen mit Projekten außerhalb und innerhalb der Schule. Bei allen befragten Schülern stehen jedoch die außerschulischen Ereignisse – d.h. die Reisen – im Vordergrund des Bildungsjahres. Diese verbinden sie mit »wunderschönen Orten« (vgl. Elia, 94f.), mit kulturellen Erfahrungen, mit einer Art des »anders Lernen«. Sie bezeichnen sie als beeindruckend, faszinierend und manchmal befremdlich. An dem Punkt, an dem die Schüler Erfahrungen als »befremdlich« bezeichnen, nehmen sie kulturelle Unterschiede wahr und befinden sich somit auf den ersten Schritten zur Erlangung interkultureller Kompetenz.
Interkulturelle Bildung im Bildungsjahr Die Fähigkeit zu Solidarität und Mitverantwortung definiert die Kultusministerkonferenz als eine von elf Kernkompetenzen (vgl. Overwien 2013: 3; Kultusministerkonferenz (KMK)/Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) 2015: 98), die ein Schüler für ein als individuell gut empfundenes Leben und eine im Sinne der KMK gut funktionierende Gesellschaft erwerben müsse: »Die Fähigkeit, mit anderen gut auszukommen, geht davon aus, dass die Menschen fähig sind, die Werte und den religiösen, kulturellen und geschichtlichen Hintergrund anderer Menschen zu respektieren und zu achten« (OECD 2005: 14; Hervorh. A.B.). So tragen bspw. auch Empathie, Selbstreflexion und interkulturelle Kompetenz dazu bei, Praktikum in einer Behinderteneinrichtung); Modul 6: Berufsorientierung (Praktikum Weinlese, Recherche und Vorstellung versch. Berufsbereiche, Firmenbesuche, individuelle Berufspraktika in Ferienzeiten, Berufsmesse Bieberstein). 8 | Die hier genannten außerschulischen Projekte sind Beispiele aus dem Schuljahr 2011/12. Das Programm des Jahres 2016/17 wird die Schüler zu einer Kunstexkursion nach Mailand führen; auf einer Segeltour vor Mallorca werden sie sich mit Meeresbiologie befassen; Geschichte, Kultur und die englische Sprache werden die Schüler in Südafrika (kennen)lernen.
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sich in andere Menschen hinzuversetzen, eigene und fremde Ansichten zu erkennen und zu verstehen. Dies, insbesondere die interkulturelle Kompetenz als ein Konstrukt von Selbstbildung, kann mithilfe der Interviews empirisch nachgewiesen werden. So entwickeln bspw. Leenen und Grosch ein Modell interkulturellen Lernens, das aus sieben Stufen besteht: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Erkenntnis der generellen Kulturgebundenheit, Identifikation fremdkultureller Muster, Identifikation eigener Kulturstandards, erweitertes Deutungswissen über bestimmte Fremdkulturen, Verständnis und Respekt für fremdkulturelle Muster, Erweiterung der eigenen kulturellen Optionen und Auf bau interkultureller Beziehungen, konstruktiver Umgang mit interkulturellen Konflikten (vgl. Leenen und Grosch in: Auernheimer 2010: 124ff.).
Diesem Lernprozess unterliegen – zumindest ansatzweise – auch die Schüler des Bildungsjahres. Ihre Reisen führen sie – wie wir gesehen haben – bspw. in (Groß-)Städte, um Kunst und Kultur kennenzulernen. Häufiger reisen sie jedoch »à la Lietz«, d.h. mit einfachen Mitteln in unbekannte Regionen, die ihnen besseren Kontakt zu den dort lebenden Menschen ermöglichen sollen. Dies kann mithilfe von zwei Beispielen nachvollzogen werden, die lediglich einen kleinen Ausschnitt aus dem erhobenen Material darstellen: So führt etwa eine Reise nach Rumänien, von der zwei Teilnehmer berichten: »Es war […] sehr spannend, weil das war ein ganz kleines Dorf, wo auch viele von den älteren Leuten noch deutsch gesprochen haben, weil sie deutschsprachig dort aufgewachsen sind. […] Der Bürgermeister hat dann erzählt. Und die fließende Wasserversorgung wurde dort einfach erst ›95 eingeführt.« (Johanna, 214-219) »[…] dass es halt sehr ärmlich ist und dass es von der Infrastruktur nicht so gut ist, die Straßen nicht so gut ausgebaut sind, öffentliche Verkehrsmittel gibt’s kaum.« (Johanna, 252-254) »Jetzt wirkt das gar nicht mehr so, als wär’s viel, ich sage mal, rückständiger als Deutschland. Weil die hatten da auch Fernsehen und alles jetzt. Aber dass es das so kurz erst da gibt, das war für mich sehr faszinierend.« (Marlene, 341-343)
Gerade der Aufenthalt in Rumänien ist den Schülern im Gedächtnis verblieben, da dies als europäisches Land auch ihnen bekannten Bildern von Europa entsprechen müsse – was nicht der Fall ist, wie sie feststellen. Im Gespräch
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mit dem Bürgermeister und den dort lebenden Menschen erfahren sie einiges über die Entwicklung des Landes: Sie identifizieren fremdkulturelle Muster und vergleichen sie mit eigenen Kulturstandards wie etwa die Verwendung der Sprache, die Einführung von fließendem Wasser, sowie die Entwicklung der Infrastruktur inkl. der öffentlichen Verkehrsmittel und lassen sich somit auf Stufe 2 und 3 des Modells von Leenen und Grosch einordnen. Ob jedoch ein erweitertes Deutungswissen (Stufe 4) vorhanden ist, wird an dieser Stelle nicht ersichtlich. Als zweites inter-kulturelleres Beispiel soll eine Episode aus Sri Lanka dienen: »Michael und Elia sind vollkommen eigenständig erst ’mal am zweiten Tag – in Sri Lanka war das – in ein Taxi gestiegen und haben gesagt: Fahr uns dorthin, wo wir ein lebendes Huhn kaufen können. Also, das Ganze auf Englisch. Das hat nicht direkt geklappt. Der hat die erst ’mal zum Supermarkt gefahren (lacht). […] Der Bauer hat die auch einfach beschissen. Das Huhn, das hatte nur einen Fuß. Ich mein‹, das war ein Huhn und es hat gelebt. Aber die meisten Bauern wollten ihre Hühner nicht verkaufen. Erst als wir den Karton dann aufgemacht haben zuhause, hat Michael gemerkt, wieso er das verkauft hat. […] Das haben wir drei Wochen lang – ich will jetzt nicht sagen gemästet, weil fett war’s nicht. Aber wir haben’s drei Wochen lang ernährt. Es ist uns auch ein oder zwei Mal abgehauen. Was ich nicht gedacht hätte, ist, dass die Einheimischen das wirklich zurückgebracht haben. Die haben das nicht einfach selber geschlachtet oder so. Ja, am Ende haben wir das dann geschlachtet, selbst halt. Das war dann auch ’ne ganz nette Erfahrung. Ja, das hat dann nicht so gut geschmeckt, war nicht so viel dran und es war ein bisschen vertrocknet […].« (Finn, 441-447, 359-365)
Die geschilderte Szene ist nicht nur an Kompetenzen wie Selbstständigkeit, Selbstbewusstsein und interkulturelle Erfahrungen gekoppelt, sondern zeugt gleichsam von einem Verständnis für Fremdsprache und von Umgang mit Sachwissen. Michael und Elia machen sich nicht auf den Weg, um eine touristische Sehenswürdigkeit zu besuchen, sondern um ein (noch) lebendes Huhn zu kaufen. Mit ihren Erfahrungen aus Deutschland können sie davon ausgehen, zu einem naheliegenden Dorf oder einem Bauernmarkt zu fahren – somit suchen sie bewusst den Kontakt zur einheimischen Bevölkerung. Beim Kauf des Tieres erweitern sie ihre ggf. bereits bestehenden interkulturellen Erfahrungen. Einerseits scheint es schwer, einen Bauer vom Verkauf des Huhns zu überzeugen – trotz (oder wegen?) englischsprachiger Verhandlungen. Andererseits jedoch wird ihnen das mehrmals entlaufene Huhn – und das scheint die Schüler zu überraschen – unmittelbar zurückgegeben, obwohl ein Großteil
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der Bevölkerung nach wie vor von Landwirtschaft lebt und Tiere größtenteils der Selbstversorgung dienen. Die Schüler füttern und pflegen das Tier, bis sie es selbst zubereiten können. Mit Hilfe eines Koches schlachten sie es, nehmen es aus und kochen es. Wie viele Menschen unserer westlichen Gesellschaft, die sich zunehmend von Fertiggerichten ernährt, können von einer ähnlichen Erfahrung berichten? Gleichzeitig lässt sich die Empathiefähigkeit und Wertschätzung des Teilnehmers gegenüber des Bauern infrage stellen, wenn er sagt »Der Bauer hat die auch einfach beschissen«. Auch kann man an diesem Beispiel über Nachhaltigkeit diskutieren: Wieso müssen die Schüler eigentlich ein lebendiges Huhn kaufen, das den Menschen ggf. aufgrund der Selbstversorgung viel mehr bedeuten könnte als ihnen? Dennoch können Erfahrungen wie diese zu einem offenen Umgang in einer multikulturellen Gesellschaft beitragen. Besonders (außerschulische) Erlebnisse wie diese unterstützen nicht nur den Erwerb nachhaltigen Wissens, sondern auch kulturelle und interkulturelle Kompetenzen. Gleichzeitig stellen die Erlebnisse nur einen Schritt zum Erwerb interkultureller Kompetenz dar. Folgt man dem Stufenmodell von Leenen und Grosch, so lassen sich Erkenntnis und Identifikation fremder und eigener Kulturmuster bei den Teilnehmern feststellen. Auch Stufe 5 und 6 lassen sich ansatzweise erahnen. Andere Ebenen wie erweitertes Deutungswissen oder Auf bau interkultureller Beziehungen sind an dieser Stelle – zunächst – nicht belegt.
Bildung als reflexives Selbstkonzept im Bildungsjahr Die genannten Beispiele zeigen, dass die zu Beginn eröffneten Begriffspaare erkennbar sind: Das Konzept einer globalen Bildung findet zumindest eine Grundlage bereits durch die Reisen selbst und die bewusste Begegnung mit Menschen aus anderen Kulturkreisen. Wichtig: Die Schüler nehmen freiwillig am Bildungsjahr teil und sind offen für Neues wie fremde Länder und Kulturen, unbekannte Religionen – für Erlebnisse aller Art. Gleichzeitig werden die verschiedenen Kulturen mit unterschiedlichen Vor-Urteilen betrachtet, wie die Berichte von Rumänien und Sri Lanka zeigen. Verstehen wiederum bezieht sich einerseits auf die sprachliche Ebene, was zumindest in Sri Lanka scheinbar nur ein geringes Problem für die Schüler darstellt. Andererseits kann die inhaltliche Ebene mit Reflexion und Selbstreflexion gleichgesetzt werden. Dies ist zwar weniger an den o.g. Beispielen nachweisbar, doch im Laufe der Interviews stellt sich heraus, dass die Teilnehmer sehr stark über ihre eigene Entwicklung während der Reisen nachdenken: Während eine Teilnehmerin ihre Entwicklung vom unsicheren Mädchen zur Frau beobachtet, stellt ein anderer Teilnehmer fest, dass sich seine Arbeitseinstellung stark zum Positiven verändert hat. Ein dritter Schüler fasst zusammen: »Dadurch, dass ich dort war, hab ich sehr viel Reife erlangt und dadurch
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fällt mir’s insofern leichter, dass ich bessere Noten hab’.« (Elia, 531f.) Später: »Also ich hätte gedacht, das wäre eine entspannte Zeit und ich hätte einfach mal keine Schule. Aber dass ich daraus als gereifter Mensch ’rausgehe, hätte ich nicht gedacht. Und das ist ja schon bemerkenswert.« (Elia, 721-724) Zusammenfassend lässt sich festhalten: Anhand der Interviews kann aufgezeigt werden, dass Schulfahrten und Reisen durchaus einen Menschen global, kulturell, interkulturell bilden können. Durch bspw. bewusste und reflexive Begegnung mit der globalen Welt, fremden Kulturen und den direkten Austausch mit anderen Menschen, findet Bildung in einer globalisierten Welt statt.
A usblick Auch wenn das Bildungsjahr ein bisher singuläres Projekt in Deutschland ist, so lässt sich doch nicht verleugnen – und das zeigen bereits die Schulfahrten von Hermann Lietz um 1900 –, dass auch schlichte Klassenfahrten, Exkursionen und Wanderungen viel zu (inter-)kultureller Erfahrung und Bildung beitragen können, wenn sie gezielt geplant und durchgeführt werden. Schüler müssen jedoch auf Reisen im allgemeinen und Schulfahrten im besonderen behutsam vorbereitet werden, sie dürfen keine Angst vor dem Fremden entwickeln, sondern Fremdes als Teil unserer globalen Welt verstehen, das es zu erkennen und zu verstehen gilt. Dann können Schulfahrten und Reisen zur Bildung beitragen.
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Die kulturelle Dimension des Kirchenraumes in der Wahrnehmung von Schülerinnen und Schülern – eine qualitative Untersuchung Katharina Kindermann/Ulrich Riegel
Kirchenräume dienen der Versammlung christlicher Gemeinden für die gemeinsame Feier des Gottesdienstes und haben in der allgemeinen Wahrnehmung eine primär religiöse Funktion. Dabei repräsentieren sie in Architektur und Innenausstattung auch ein kulturelles Erbe. Der vorliegende Beitrag widmet sich eben jener kulturellen Dimension des Kirchenraumes und fragt, wie Grundschüler_innen diese im Rahmen eines Unterrichtsganges in die Kirche erleben. Dafür wird zunächst die Bedeutung des Kirchengebäudes als Kulturträger entfaltet. Es folgt die Darstellung der zentralen Fragestellung der Untersuchung, ein Überblick über das Forschungsdesign und die grundlegenden Aspekte der Erhebung und Analyse des Datenmaterials. Wir präsentieren die zentralen Ergebnisse dieser Studie, die abschließend diskutiert und nach ihrer Bedeutung für den Kirchenraum als außerschulischen Lernort befragt werden.
D er K irchenr aum als K ulturtr äger Der Kirchenraum ist ein liturgischer Ort (vgl. Beyer 2007: 11f.). Hier treffen sich die Gemeindemitglieder zum wöchentlichen Sonntagsgottesdienst, um die Feste des Kirchenjahres gemeinsam zu feiern und entscheidende Lebensabschnitte wie Taufe oder Trauung in der christlichen Gemeinschaft zu begehen. Seine Innengestaltung folgt dieser Funktion. Prinzipalstücke wie Altar, Ambo oder Tauf becken zeugen vom hier stattfindenden gottesdienstlichen Geschehen. Ferner gilt der katholische Kirchenraum durch die Präsenz Jesu Christi in der konsekrierten Hostie, die im Tabernakel auf bewahrt wird, auch außerhalb seiner liturgischen Nutzung als heilig. Ein Betreten ist auch außerhalb der Gottesdienstzeiten möglich, um den Besucher_innen die Gelegenheit
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zu bieten, sich im persönlichen Gespräch an Gott zu wenden, in Stille zu beten oder eine Kerze zu entzünden. Dem Kirchenraum wohnt damit eine religiöse Dimension inne und es wird erwartet, dass das Verhalten dort der Würde dieses Raums gerecht wird. Schnelle Bewegungen sind verpönt und es gibt Bereiche wie den Altarraum, die in der Regel von Besucher_innen gar nicht betreten werden sollen. Kirchenräume beherbergen gleichzeitig ein kulturelles Erbe (vgl. Koch 2014: 38ff.). Schon äußerlich ist die Kirche meist ein imposantes Gebäude und unterscheidet sich durch Lage, Größe und Bauart von ihrer Umgebung. Im Innenraum offenbart sich den Besucher_innen ein in Architektur und Ausstattung künstlerisch eingerichteter Raum. Vor allem in katholischen Kirchen ist das optische Erscheinungsbild geprägt von Bildern und Skulpturen, die biblische Geschichten oder Menschen in der Nachfolge Jesu illustrieren. Auch funktionale Ausstattungsstücke wie Bänke oder Orgel zeichnen sich durch einen künstlerischen Eigenwert aus und wurden in der Regel individuell passend für den Raum gestaltet. Fast überall – ob an Türen, Fenstern, Wänden oder Säulen – können die Besucher_innen kunstvoll gestaltete Details und Symbole erkennen. Das gilt nicht nur für große und touristisch bedeutsame Kathedralkirchen, sondern auch für kleine Ortskirchen. Architektur und Innengestaltung spiegeln dabei das Weltbild und den Kunstgeschmack der jeweiligen Entstehungsepoche wieder. Damit repräsentieren Kirchen in unserem Stadt- und Ortsbild das künstlerische christliche Erbe der westlichen Hemisphäre und haben eine kulturelle Dimension. Diese rückt vor allem dann ins Blickfeld, wenn die Begegnung mit dem Kirchenraum außerhalb einer traditionell-religiösen Nutzung – etwa im Rahmen einer Kirchenführung – stattfindet. Fragt man danach, wie Kirchenbesucher_innen den Raum wahrnehmen, so bestätigen empirische Studien die beiden oben aufgezeigten Raumdimensionen (vgl. Gutic et al. 2010; Williams et al. 2007). Es kann unterschieden werden zwischen Besucher_innen, die die Kirche vor allem als religiösen Ort und damit in seiner angestammten und traditionellen Funktion wahrnehmen, etwa indem die Kirche als Raum für religiöse Praktiken wie das stille Gebet oder das Entzünden einer Kerze für sie entscheidend sind. Kulturell orientierte Besucher_innen richten ihr Augenmerk besonders auf architektonische und kunsthistorische Besonderheiten. Diese beiden Wahrnehmungen des Raumes schließen sich gegenseitig nicht aus, sondern können parallel auftreten.
Die kulturelle Dimension des Kirchenraumes
F r agestellung der U ntersuchung , F orschungsdesign und M e thode Insofern die Kirche ein potentieller Ort außerschulischen Lernens ist (vgl. Dühlmeier 2008; Keck/Thomas 2014), stellt sich aus pädagogischer Perspektive die Frage, wie Schüler_innen diesen Raum wahrnehmen. Diese Wahrnehmung ist bislang kaum erforscht. Es liegen Daten vor, die zeigen, dass die meisten Kinder im Grundschulalter den Raum zumindest gelegentlich in seiner religiösen Dimension erleben (vgl. Riegel/Kindermann 2015: 132), etwa im Rahmen von Schulgottesdiensten (z.B. zum Schuljahresbeginn) oder Kasualgottesdiensten (z.B. Tauffeier). Ob Kinder den Kirchenraum auch in seiner kulturellen Dimension erfahren, darüber kann nur spekuliert werden. In der Regel eröffnet sich diese Dimension außerhalb von Gottesdienstbesuchen, beispielsweise durch Besuche im Urlaub oder im Rahmen von touristischen Kirchenführungen. Letztere richten sich jedoch in der Regel an Erwachsene, so dass vermutet werden darf, dass gerade Kinder im Grundschulalter mit der kulturellen Dimension des Kirchenraumes in ihrem Privatleben eher selten in Kontakt kommen. Daher bleibt fraglich, welche Dimensionen des Kirchenraumes Grundschüler_innen bei einem Unterrichtsgang in die Kirche erleben und in wieweit Kirchenraumbesuche, die bislang vor allem im Kontext von Religionsunterricht stattfinden, Impulse für eine kulturelle Wahrnehmung dieses Gebäudes setzen können. Die vorliegende Untersuchung gibt eine erste Antwort auf diese Frage. Dabei unterscheiden wir zwischen der allgemeinen Raumwirkung, die die Kinder erfahren, und der Wahrnehmung einzelner Gegenstände in der Kirche. Unsere beiden Forschungsfragen lauten entsprechend: 1. Wie erleben Schüler_innen während eines Unterrichtsganges die religiöse und kulturelle Dimension eines Kirchenraumes mit Blick auf die Raumwirkung? 2. Wie erleben Schüler_innen während eines Unterrichtsganges die religiöse und kulturelle Dimension eines Kirchenraumes mit Blick auf einzelne Gegenstände? Um unsere Fragestellung zu beantworten, haben wir für Religionsklassen der 3. Jahrgangsstufe einen Unterrichtsgang in die katholische Kirche entworfen. Der Kirchenraumbesuch ist so konzipiert, dass er auf einen möglichst wahrnehmungsorientierten und selbstgesteuerten Zugang zu diesem Gebäude setzt. Sinnesübungen machen die Schüler_innen zunächst auf die besondere Atmosphäre des Kirchenraumes aufmerksam. Danach haben sie die Möglichkeit, einen individuellen Zugang zum Raum zu finden, indem sie die Orte und Gegenstände aufsuchen, die sie am meisten ansprechen und ihr Interesse
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wecken. Diese dürfen die Kinder genau betrachten und abmalen. Es folgt ein gemeinsamer Rundgang durch den Raum und der Kirchenbesuch schließt mit dem Entzünden von Kerzen und dem Sprechen eines Gebets. Damit steht nicht die Erarbeitung einzelner Prinzipalstücke im Zentrum des Unterrichtsganges, sondern es wird darauf geachtet, den Blick der Schüler_innen für den gesamten Raum zu öffnen. Der von uns konzipierte Unterrichtsgang kann in jeder beliebigen Ortskirche umgesetzt werden. Er diente den Lehrer_innen zwar als Raster für die Durchführung, konkrete Schwerpunktsetzungen blieben aber ihnen überlassen und konnten je nach örtlichen Gegebenheiten variiert werden. Im Anschluss an den Unterrichtsgang antworteten die Schüler_innen schriftlich auf zwei Impulse: »1. Das hat mir bei unserem Besuch in der Kirche besonders gut gefallen:« sowie »2. Das fand ich bei unserem Besuch nicht so schön:«. Die Kinder beantworteten beide Impulsfragen unmittelbar nach dem Unterrichtsgang, allerdings nicht in der Kirche, sondern im Klassenzimmer. So wurde gewährleistet, dass die Erinnerungen an den Besuch und das dort Erlebte noch präsent waren, gleichzeitig aber der unmittelbare Einfluss des Raumes, der für die Lerngruppe einen ungewohnten und nicht alltäglichen Lernort darstellt, nicht mehr gegeben war. Die Impulse haben wir bewusst offen formuliert, so dass die Kinder hier Eindrücke jeglicher Art – ob zum sozialen Miteinander, den eingesetzten Arbeitsmethoden oder dem Raum selbst – äußern konnten. Insgesamt haben 516 Kinder in 35 Religionsklassen aus Bayern und Nordrhein-Westfalen teilgenommen.1 Die Klassen besuchten dabei die katholische Kirche am Schulort. Die Antworten variieren in der Länge von einem einzelnen Wort bis hin zu mehreren Sätzen. Die Analyse der Antworten orientiert sich an der strukturierenden Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2010), wobei wir in fünf Schritten vorgegangen sind. Im ersten Schritt haben wir unser Datenmaterial segmentiert. Jedes Segment stellt eine eigenständige thematisch Einheit dar und kann ein einzelnes Wort beinhalten, aber auch bis zu mehrere Sätze umfassen. Im zweiten Schritt wurden den Segmenten Codes zugewiesen, wobei Mehrfachkodierungen möglich waren. Dabei fanden nur diejenigen Segmente Berücksichtigung, in denen die Befragten einen Bezug zur religiösen oder kulturellen Dimension des Kirchenraumes äußerten. Hier sind wir streng induktiv vorgegangen und haben unsere Codes an den Originaltönen der Schüleräußerungen orientiert. In Schritt drei wurden die Codes zu Kategorien verdichtet und die Kategorien dann in einem vierten Schritt den Forschungsfragen zugeordnet. Hier wurde unterschieden, ob die jeweilige Kategorie eher eine religiöse oder eine kulturelle Dimension repräsentiert und ob sich diese eher auf die Raumwirkung oder aber 1 | Die Studie ist finanziert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft DFG (RI 2005/7-1).
Die kulturelle Dimension des Kirchenraumes
konkrete Gegenstände bezieht. Unter die 1) Raumwirkung wurden alle Äußerungen gefasst, in denen die Kinder eine allgemeine Wahrnehmung des Kirchenraumes beschreiben oder aber spezifische dort durchgeführte Aktivitäten hervorheben, deren Zweck es war, den Raum zu erschließen. Die Zuordnung zu 2) Gegenständen erfolgte dann, wenn auf konkrete materielle Elemente des Kirchenraumes verwiesen wird. Im fünften und abschließenden Schritt wurden die Kategorien ausgedeutet, indem sämtliches empirisches Material einer Kategorie noch einmal gesichtet und zum entsprechenden Referenzdiskurs in Beziehung gesetzt wurde.
E mpirischer B efund Die Darstellung der Ergebnisse orientieren wir entlang der beiden Forschungsfragen, die die 1) Raumwirkung sowie die 2) Gegenstände aus Sicht der Schüler_ innen fokussieren und unterteilen die Darstellung in Äußerungen zur Wahrnehmung der religiösen sowie der kulturellen Dimension des Kirchenraumes.
Raumwirkung Die religiöse Wahrnehmung des Kirchenraumes zeigt sich bei den befragten Schüler_innen zunächst in Äußerungen zur Atmosphäre der Kirche. So finden sich als Antwort auf die Frage, was ihnen beim Kirchenbesuch besonders gefallen hat, Bemerkungen zur Ruhe im Kirchenraum: »es war ganz ruhig«2 (2011), »dass es so schön leise war.« (7121), »Die Stille in der Kirche.« (2202). Was den Kindern besonders positiv in Erinnerung bleibt ist zunächst einmal die Ruhe des Kirchenraumes, die ihn von der Alltagswelt und profanen Räumen abhebt. Äußerungen wie »Mir hat die Stille in der Kirche besonders gut gefallen, denn so konnte man gut beten.« (5309) zeigen, dass die Schüler_innen die Stille unmittelbar mit der Funktion als Raum der individuellen Einkehr und des Gesprächs mit Gott in Beziehung setzen. Auch der Geruch wird mehrmals erwähnt (»der Geruch war schön«, 6814), wobei ein Kind diesen noch einmal genauer beschreibt: »Mir hat bei unserem Besuch besonders gut gefallen, dass es in der Kirche nach Weihrauch, Weihwasser und Kerzen gerochen hat.« (1608) Alle drei genannten veranschaulichenden Beispiele (»Weihrauch«, »Weihwasser«, »Kerzen«) verweisen dabei entweder auf den hier stattfindenden Gottesdienst oder aber auf religiöse Handlungen im Raum, wie das Bekreuzigen mit Weihwasser als Ein- und Austrittsritual. Neben Äußerungen zur Raumatmosphäre bringen die Schüler_innen auch immer wieder die während des Unterrichtsganges durchgeführten Aktivitäten, bei denen eben jene 2 | Die Äußerungen sind in der originalen Schreibweise der Schüler_innen übernommen.
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religiöse Raumdimension betont wurde, zur Sprache. Auffallend häufig nennen die Kinder die Phase des Kirchenbesuchs, in der jeder aus der Klasse die Möglichkeit hatte, eine Kerze zu entzünden und dabei – laut ausgesprochen oder still für sich – eine Bitte an Gott zu richten: »Das wir die Kerzen anzünden durften und dazu beten konnten.« (3021), »Ich fand es toll das ich eine Kerze für meinen Opa angezündet habe.« (8116), »Das wir die Kerzen angemacht haben und dann gesungen haben.« (6802). Einige Schüler_innen betonen auch das Endergebnis dieser Praktik, das ihnen besonders gut gefällt und häufig das Erscheinungsbild katholischer Kirchen prägt: »Dass so viele Kerzen gebrannt haben« (7709), »Die Kerzen wie die so schön vor sich hin flackern.« (3017). Dabei lassen sich auch in Antworten auf die Frage, was ihnen beim Kirchenbesuch nicht gefallen hat, Facetten einer religiösen Raumdimension erkennen. So bleibt einem Schüler die Tatsache im Gedächtnis, »Das ich die Mütze ab tun musste.« (5001), ein anderer erinnert sich vor allem daran, dass es in Kirchen üblich ist, sich nur in gedämpfter Lautstärke zu unterhalten: »Wir mussten flüstern.« (0801). Einer Schülerin bleibt besonders der Verstoß anderer gegen eine für sie offensichtliche Verhaltensregel in der Kirche negativ in Erinnerung: »Das manche Kinder in der Kirche laut waren. Obwohl man in der Kirche nicht laut sein darf.« (0817). In allen bisherigen Äußerungen rekurrieren die Kinder dabei auf tradierte Verhaltenselemente im Raum und offenbaren, dass sie beim Unterrichtsgang den Raum vor allem in seiner religiösen Wirkung erfahren haben. Gleichzeitig lassen sich in den Rückmeldungen auch Anhaltspunkte finden, die auf eine kulturell konnotierte Raumerfahrung verweisen. Besonders häufig finden sich Äußerungen, in denen die Kinder es als positiv hervorheben, im Raum viele verschiedene Dinge sehen zu können. So stellt ein Schüler ganz nüchtern fest: »Es gab viel zu sehen.« (0306). Andere betonen es als schöne Erfahrung, »Das wir alles angucken konnten.« (1805), »Dass wir uns die Kirche genau ansehen konnten.« (7010) oder »Das wir im Gebäude uns alles anschauen durften.« (5513). So trivial diese Äußerungen zunächst klingen mögen, so verweisen sie doch auf ein elementares Potential des Kirchenraumbesuchs im Rahmen eines Unterrichtsganges. Während im Gottesdienst der Raum vor allem als Hülle für das dort stattfindende Geschehen dient und seine einzelnen gestalterischen Elemente von den Gottesdienstbesucher_innen meist keine genaue Beachtung finden, eröffnet der Unterrichtsgang einen völlig neuen visuellen Zugang zum Raum, indem er die Blicke gezielt auf Aspekte der Architektur und Inneneinrichtung lenkt. Eine Schülerin bringt diese Tatsache folgendermaßen auf den Punkt: »Mir hat es gefallen, dass ich sehr viel gelernt habe. Vorher habe ich gar nicht drauf geachtet.« (5326). Dass ein einzelner Besuch hier fast zu wenig Zeit bietet, um alles in Augenschein zu nehmen, zeigt die Äußerung einer anderen Schülerin, die bedauert, »Daß der Besuch in der Kirche zu kurz war, denn ich wollte noch mehr sehen.« (3508).
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Neben dem Anschauen und Kennenlernen vieler Gegenstände ist es die Bewegung durch den Raum, die die Kinder als besonders positiv hervorheben, was Rückmeldungen wie »Das wir in der Kirche rumlaufen durften.« (1507), »Das wir einen Rundgang durch die Kirche gemacht haben.« (2820) oder »Das war schön das wir rumgegangen sind.« (5509) zeigen. Ähnlich wie beim visuellen Zugang äußern die Kinder hier eine scheinbare Kleinigkeit, die aber darauf schließen lässt, dass sie einen solchen Umgang mit der Kirche als nicht selbstverständlich erleben. So zeichnet sich der Kirchenraum in der Regel dadurch aus, dass man diesen nicht in seinen vollen Ausmaßen als Lauffläche nutzt, sondern einzelne Punkte – wie etwa Sitzbänke oder die Kerzenecke – gezielt ansteuert. Während des Unterrichtsganges aber können die Kinder diesen als für sie freier zugänglichen Raum erleben: »Ich fand es schön das wir überall hin durften.« (3706). Diese Erfahrung des Schauens und Laufens gebrauchen die Kinder häufig in Kombination mit Verben wie »rumstöbern« (2203) oder »erkunden« (5013), die einen als hoch empfundenen Aktivierungsgrad vermuten lassen. Als besonders beeindruckend erleben die Schüler_innen es, wenn für sie sonst nicht zugängliche Bereiche geöffnet werden. In verschiedenen Rückmeldungen finden sich Hinweise darauf, dass die Lehrkräfte mit ihrer Lerngruppe auch Orte betreten, die den normalen Kirchenbesucher_innen nicht zugänglich sind. So erinnert sich ein Schüler besonders gerne daran, »Daß wir in Räume konnten, wo nicht jeder hin darf.« (3508), ohne dass er dem Leser genau erläutert, wo die Klasse war. Einige Kinder werden hier präziser: »Mir hat alles gefallen, aber am meisten, dass wir mal in die Sakristei durften.« (8301), »Ich fand es sehr schön, dass wir hoch zu der Orgel gehen konnten. (Ich war noch nie bei der Orgel)« (1612). Dabei wird von mehreren Schüler_innen der Zugang zum Altarraum angesprochen bzw. das besondere Erlebnis, »da zu sein, wo der Pfarrer steht« (3205). Hier können die Kinder neue Perspektiven einnehmen und die Raumarchitektur und deren Intention noch einmal anders erleben: »Hinter dem Altar ist so eine schöne Aussicht auf die Kirche.« (3201). Neben dem Zugang zu sonst nicht zugänglichen bzw. verschlossenen Bereichen der Kirche erwähnen mehrere Kinder die Erfahrung, den Raum einmal ohne die Anwesenheit anderer Besucher_innen betreten zu können, wie die folgende Äußerung beispielhaft zeigt: »Mir hat gefallen das wir mal alleine in der Kirche waren.« (5506). Die Aussage lässt vermuten, dass dieses Kind die Ortskirche bislang nicht außerhalb liturgischer Zeiten erlebt hat, gerade ein solcher Besuch aber das Interesse für den Raum weckt. Auch Äußerungen zur reinen Größe der Kirche wie »Mir hat besonders gut die Größe gefallen.« (0304), »Dass die Kirche groß war.« (2410) legen den Schluss nahe, dass der Unterrichtsgang ein neuartiges Raumerleben eröffnet.
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Gegenstände Äußern sich die befragten Schüler_innen zu materiellen Aspekten des Kirchenraumes, die ihnen positiv in Erinnerung geblieben sind, so führen sie verschiedene Gegenstände an, die sich der religiösen Dimension des Raumes zuordnen lassen. Besonders häufig wird dabei »der Altar« (z.B. 0818) als zentrales Ausstattungsstück der Kirche und Zentrum des gottesdienstlichen Geschehens genannt. Auch »der Tabernakel« (z.B. 2210) und »das Ewige Licht« (z.B. 2829), die auf die Realpräsenz Jesu Christi in der Kirche verweisen, sowie »das Tauf becken« (z.B. 6111) und die daneben aufgestellte »Osterkerze« (z.B. 1812) werden von mehreren Befragten angeführt. Einige Schüler_innen nennen nicht nur Gegenstände, die sie besonders angesprochen haben, sondern begründen ihre Auswahl auch und beziehen sich auf die Rolle des jeweiligen Gegenstandes im liturgischen Geschehen: »Der Altar weil beim Gottesdienst der Pfarrer dahintersteht.« (1902), »Die Bibel, weil der Pastor immer so schöne Geschichten daraus vorliest.« (6105). Auch bei anderen Gegenständen mit hoher religiöser Konnotation lassen sich vergleichbare Begründungsmuster finden. So erklärt eine Schülerin die Wahl des Tabernakels mit seiner Funktion als Auf bewahrungsort für die konsekrierte Hostie »Der Tabernakel, weil da die Hostien auf bewahrt werden.« (7005), für einen Mitschüler war es der Beichtstuhl, der ihm besonders in Erinnerung geblieben ist: »Der Beichtstuhl, weil man da alles was man Schlimmes getan hat da beichten kann.« (7004). Obwohl vor diesem Kirchenraumbesuch im Religionsunterricht keine Auseinandersetzung mit den Prinzipalstücken und deren Bedeutung stattgefunden hat, lassen die Kinder hier Fachwissen zu den einzelnen religiösen Gegenständen in ihre Begründung einfließen. Die Äußerungen einiger Schüler_innen geben Anlass zu der Vermutung, dass die positive Erinnerung an religiöse Gegenstände dadurch unterstützt wird, dass diese im Kirchenraum durch Schmuck besonders hervorgehoben sind: »Das Tauf becken war schön geschmükt und der Altar war schön mit Blumen verziert.« (0313). Auch Schmuck zum Kirchenjahr, wie etwa »der Adventskranz« (7609) oder »das Rad mit den Erntegaben« (6413), die nur zeitweise den Raum zieren, fallen den Kindern ins Auge. In den Schüleräußerungen lassen sich aber auch Gegenstände ausmachen, die jenseits dieser Prinzipalstücke liegen, eher dekorative Funktion haben und die kulturelle Raumdimension repräsentieren. Auffallend häufig werden dabei »die Fenster« (z.B. 6803) positiv hervorgehoben, die die Schüler_innen als besonders »groß« (5325) und »bunt« (5508) beschreiben und die »mit den heiligen Bildern« (5324) verziert sind. Kirchenfenster sind ein architektonisches Element, das meist künstlerisch aufwändig und auffallend mit Buntglas gestaltet ist und Szenen aus der Bibel oder dem Leben von Heiligen wiedergibt. Durch ihre Größe und Farbgebung tragen sie entscheidend zur Raumatmosphäre bei und stechen den Schüler_innen offensichtlich ins Auge. Neben
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den Fenstern und auch der »Orgel« (z.B. 3509) nennen die Kinder vor allem dekorative Elemente wie »Figuren an der Wand« (7719), »ganz viele Statuen« (3408), »die vielen Bilder wo Jesus drauf war« (2824) oder ganz allgemein »die vielen Kunstwerke« (3507). Die häufige Verwendung des unbestimmten Zahlwortes »viele«, dem einmal durch den Gebrauch von »ganz« noch Nachdruck verliehen wird, verweist darauf, dass den Kindern nicht nur die künstlerischen Elemente an sich, sondern auch deren Fülle im Raum in Erinnerung bleibt. Einige Schüler_innen greifen auch spezifische Kunstwerke heraus (»der heilige Christopherus«, 5323; »Die Marienstatue«, 6419). Für eine Schülerin ist es ihr Namenspatron, der für sie beim Kirchenbesuch besonders wichtig war. Ihre Auswahl erhält so einen biographischen Bezug, dessen Bedeutung sie mit einem Ausrufezeichen unterstreicht: »Mein Namenspatron!« (3804). Auch scheinbare Kleinigkeiten werden von den Kindern als Besonderheit des Raumes wahrgenommen. So erinnert sich ein Schüler besonders gerne an »die knarzende Holztreppe« (1911), einem anderen ist aufgefallen, »Das in die Bänke was eingeschnitzt war.« (8118). Es darf vermutet werden, dass gerade die Möglichkeit der freien Raumerkundung und die genauere Betrachtung eines Raumelements, das nicht von der Lehrkraft vorab als Lerngegenstand ausgewählt wurde, sondern das die Kinder selbst als ansprechend und interessant ansehen, solche Sichtweisen auf die Kirche ermöglicht. So betonen auffallend viele Schüler_innen, dass ihnen vom Kirchenraumbesuch die freie Wahl dessen, was ihnen besonders gefällt, positiv in Erinnerung geblieben ist: »Dass wir in der Kirche was malen durften, was uns interessiert.« (1814), »Das wir malen durften was uns in der Kirche wichtig ist.« (3807), »Dass wir unsere Lieblingssache malen konnten.« (5219), »Dass wir uns selber alleine eine Sache aussuchen durften.« (6402). Besonders im letzten Kommentar wird durch die Aneinanderreihung von »selber« und »alleine« offensichtlich, wie wichtig es den Kindern ist, dass nicht die Lehrkraft die zu bearbeitenden Gegenstände vorgibt, sondern jeder von ihnen eine individuelle Entscheidung treffen kann. Die Schüleräußerungen, in denen auf kulturelle Gegenstände des Raumes Bezug genommen wird, zeigen, dass diese für die Kinder bedeutsam sind und ihr Interesse wecken.
Z usammenfassung und D iskussion Die Untersuchung fragt danach, wie Grundschüler_innen bei einem Unterrichtsgang die religiöse und kulturelle Dimension des Kirchenraumes erleben. Dafür haben wir sie mit offenen Impulsfragen dazu angeregt, unmittelbar nach einem Kirchenraumbesuch schriftlich eine Rückmeldung zu geben, was ihnen besonders gut bzw. gar nicht gefallen hat. Sowohl mit Blick auf die allgemeine Raumwahrnehmung als auch konkrete Gegenstände lassen sich
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Äußerungen zur religiösen Funktion des Kirchenraumes finden. Dabei sind es besonders religiöse Praktiken wie das Beten oder das Entzünden einer Kerze, aber auch atmosphärische Besonderheiten (z.B. die Stille des Raumes), die den Kindern positiv in Erinnerung bleiben. Bei den Gegenständen sind es vor allem Prinzipalstücke wie der Altar, der Tabernakel oder das Tauf becken, an die sich die Kinder gerne erinnern. Dieses Ergebnis ist nicht verwunderlich, findet der Besuch doch im Rahmen des Katholischen Religionsunterrichts statt und ist die Kirche Schüler_innen im Grundschulalter vor allem in jener herkömmlich-traditionellen Raumnutzung bekannt. Allerdings lässt das Ergebnis der Datenanalyse darauf schließen, dass die teilnehmenden Kinder den Raum auch in seiner kulturellen Dimension wahrnehmen. So finden sich auffallend viele Äußerungen, in denen die Schüler_innen betonen, dass der Unterrichtsgang ihnen neue visuelle Eindrücke von der Kirche vermittelt hat und sie sich besonders gerne daran erinnern, dass sie den Raum ohne die Anwesenheit anderer Besucher_innen erkunden durften und ihnen dabei auch der Aufenthalt in sonst nicht zugänglichen Bereichen möglich war. Bei den materiellen Elementen des Raumes nennen sie häufig die Fenster, die Orgel, Figuren und Bilder, aber auch scheinbare Kleinigkeiten wie etwa eine Holztreppe. Diese Ergebnisse bestätigen den Mehrwert eines Zugangs zum außerschulischen Lernort Kirche, der nicht sofort auf seine Prinzipalstücke setzt und damit die religiöse Dimension betont, sondern den Blick für die verschiedensten Elemente des Raumes öffnet. Der empirische Befund zeigt, dass Schüler_innen im Grundschulalter durchaus offen und empfänglich für eben jene kulturelle Raumdimension sind und sich durch sie ansprechen und begeistern lassen. Bedenkt man, dass auch viele getaufte Kinder einen gering ausgeprägten Kontakt mit dem Kirchengebäude haben (vgl. Pollack/Müller 2013), könnte gerade in dieser Dimension der Schlüssel dafür liegen, den Kirchenraum als außerschulischen Lernort für Schüler_innen zugänglich und erfahrbar zu machen. Kirchen sind ein leicht zugänglicher Lernort, der oft in fußläufiger Entfernung zur Grundschule liegt. Angesichts des christlichen Erbes Europas lässt sich in diesen Gebäuden erfahren, aus welchen künstlerischen und ideellen Quellen sich die gegenwärtige Gesellschaft speist. Auch zeugen sie in der Regel von der Geschichte des Ortes, in dem sie stehen. Angesichts der Tatsache, dass Kirchen heute von Abriss und Umnutzung betroffen sind (vgl. DBK 2003) und damit ein bedrohtes Kulturgut darstellen, liegt hier sicher ein entscheidender Beitrag zum kulturellen Bildungsauftrag der Schule. Schließlich sehen wir unsere Untersuchung als Erweiterung des Forschungsfeldes um außerschulische Lernorte, das sich bislang vor allem auf den naturwissenschaftlichen Bereich konzentriert (vgl. Behrendt/Franklin 2014). Außerschulisches Lernen in kulturellen Kontexten ist bislang kaum erforscht und die hier vorgestellte Studie sicher nur ein erster Ansatz, dieses Desiderat
Die kulturelle Dimension des Kirchenraumes
zu beheben. So wären weiterführende Datenerhebungen wünschenswert, etwa indem die an einem Unterrichtsgang teilnehmenden Schüler_innen nicht nur durch knappe Impulse schriftlich befragt, sondern in Interviews ihre Eindrücke und Erlebnisse eines Kirchenraumbesuchs im Kontext Schule tiefergehend beleuchtet werden.
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Pop(ulär)-Kulturelle Bildung
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4, 8, 15, 16, 23, 42 Diese Zahlenreihe trennt diejenigen, die Lost kennen, von denen, die Lost nicht kennen. Wer nicht auch noch die Halbbildung preisgeben will, muss Lost kennen, denn Lost gehört zu den sogenannten Qualitätsfernsehserien – und zwar zu den wichtigsten zehn, denen wir es verdanken, dass es die Revolution entgegen des einschlägigen Hinweises von Gil Scott-Heron, doch noch ins Fernsehen geschafft hat (vgl. Sepinwall 2014). Lost lief in sechs Seasons zwischen 2004 und 2010 auf ABC, einem der großen US-amerikanischen Networks und nicht etwa auf HBO, dem Pay-TV-Sender, der gemeinhin mit der neuen Qualitätsserienkultur in Verbindung gebracht wird. Im Folgenden geht es also um eine Fernsehserie und um Kontingenz, wie sie schon die Zahlenreihe in der Überschrift dieses einleitenden Abschnitts ausdrückt. Im Verlauf des Textes versuche ich zu plausibilisieren, warum die Serienkultur uns zwingt, unsere Bildungsvorstellungen zu weiten.1 Lost ist eine Kulturware, ein Produkt der Kulturindustrie. Der Sender ABC und die ABC-Studios, die Lost produziert haben, gehören zum Disney-Konzern. Nichtsdestotrotz ist Lost eine Kulturware, die es ermöglicht, ästhetische Erfahrungen zu machen, und nicht weniger komplex, als man es früher Hochkulturgütern – oft aus Distinktionsgründen – unterstellt hat (vgl. Sanders 2017a). In Lost kreuzen sich zudem exemplarisch zwei bildungsphilosophische Fragestellungen. Die erste führt zurück zur alten, bis heute aber nur schlecht beantworteten Frage, nach der Bedeutung von Bildern für Bildungsprozesse. Diese Frage ließe sich auch schon an Caspar David Friedrichs Gemälde Der
1 | Dieser Beitrag geht auf einen Mitschnitt eines Vortrags zurück, den ich vor drei unterschiedlichen Publika gehalten habe und von diesen sehr verschieden aufgenommen wurde. Die Spanne der Kommentare reichte von großer Zustimmung bis zu großer Irritation.
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Mönch am Meer (1808-1810)2 diskutieren, das Nähen aufweist zur Eingangssequenz des Lost-Piloten. Heinrich von Kleist beschreibt in Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft eine ambivalente Erfahrung des Hineingezogen- und Abgestoßen-Werdens, die zu einer neuen Weise der Wahrnehmung führt: »so ist es, wenn man es betrachtet, als ob einem die Augenlider weggeschnitten wären.« (Kleist 2005 [1810]: 543) Das Bild wirkt performativ, es vollzieht einen Sprechakten analogen Bildakt (vgl. Bredekamp 2010: 53). Weil Bewegungsbilder wegen der Bewegung in und zwischen den Bildern in der Regel über größere Bildaktmacht verfügen als Standbilder und diese sich schlicht durch die Länge bei Serien leicht weiter steigert, scheint mir Lost mit seinen 117 Episoden ein geeigneter Gegenstand, um für eine stärkere Bewegungsbildorientierung der Bildungstheorie zu plädieren. Neben der Bewegungsbildorientierung wäre der Bildungstheorie eine höhere Mathematikaffinität zu wünschen. Zur Begründung dieses Wunsches biete ich Ihnen auch ein Bild an (s. folgende Seite). Es handelt sich um die erste Seite eines Transkripts des vorletzten Seminars von Jacques Lacan, das den Titel La topologie et le temps trägt und bisher weder als Buch veröffentlicht, noch übersetzt ist, dankenswerterweise aber im weltweiten Netz zugänglich.3 Lacan befasst sich zu Beginn des Seminars mit Möbiusbändern und später mit komplizierten, bisweilen auch borromäischen Knoten. Für eine Erhöhung des Stellenwerts von Mathematik sprechen noch dringlicher und ganz generell auch unsere nun wirklich epochaltypischen Schlüsselprobleme Globalisierung, Big Data, Posthumanismus oder Anthropozän, die weitestgehend durch mathematisch gestützte Denkweisen beeinflusst, hervorgebracht und beschleunigt wurden bzw. werden und für deren Bearbeitung uns in der Bildungstheorie sowohl Begrifflichkeit als auch Zugang fehlt, um sie überhaupt angemessen erfassen zu können. Kurz: Wir leiden an cultural lag, dem Qualitätsfernsehserien entgegenwirken können. Weil Lost horizontal erzählt und bisweilen wie ein Möbiusband funktioniert, verbindet die Serie die beiden bildungstheoretisch unterbewerteten Stränge Bewegungsbild und Mathematik. 2 | Dieses Bild hängt – kürzlich restauriert und nun wieder blauer strahlend – in der Alten Nationalgalerie in Berlin. Eine Abbildung, die den Zustand vor der Restaurierung wiedergibt, findet sich auf: https://de.wikipedia.org/wiki/Der_Mönch_am_Meer (Zugegriffen: 25.08.2016) Im Internet finden sich auch Abbildungen des Bildes in restauriertem Zustand. Ich werde wegen der schwierigen Klärung der Bildrechte bis auf eine Ausnahme nur auf Internetquellen verweisen. 3 | Die Transkription von Monique Chollet zu Lacans Seminar XXVI: La topologie et le temps, s. www.valas.fr/IMG/pdf/la_topologie_et_le_temps_1978_1979.pdf, zugegriffen: 25.08.2016 Unter www.valas.fr/-Jacques-Lacan- finden sich auch weitere Transkripte zu anderen Lacan-Seminaren.
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Abb. 1: Jacques Lacan: La topologie et le temps, S. 1
S erie als symbolische F orm Der Begriff »symbolische Form« geht auf Cassirer zurück. Cassirer fasst die symbolische Form in Der Begriff der symbolischen Form im Auf bau der Geisteswissenschaften, einem Vortrag, den er in den frühen 1920er Jahren der Bibliothek Warburg gehalten hat, folgendermaßen: »Unter einer ›symbolischen Form‹ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird.« (Cassirer 2003 [1922]: 79)
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Wer auch nur ein bisschen in der Bildungstheorie bewandert ist, der oder die hört bei dem Wort »Zueignung« einen Adorno-Beiklang mit, was nahelegt, symbolische Formen als Bildungsmedien zu verstehen. Cassirer bestimmt im Essay on Man (2006 [1944]), seinem im US-amerikanischen Exil verfassten und neu akzentuierten Resümee seiner Philosophie der symbolischen Formen (2001-2002 [1923-1929]): Mythos und Religion, Sprache, Kunst, Geschichte und Wissenschaft als symbolischen Formen. Wenn man die symbolischen Formen oder Bildungsmedien Revue passieren lässt, dann fällt auf, dass eine heraussticht und zwar die Sprache, weil sie nicht nur ein Feld benennt, sondern zugleich auch ein Werkzeug, das für alle Felder relevant und in allen Feldern vornehmlich zur Anwendung kommt, obwohl in der Kunst Bilder natürlich eine große Bedeutung haben wie Mythos und Religion ursprünglich auch. Die Entwicklung führt vom Bild zur Sprache. Cassirer stellt im obengenannten Vortrag auch einen Bezug zur Prozessualität her, der für mich wichtig ist, weil er den Hintergrund für die Beschäftigung mit Bild bildet und einen Bezug herstellt zu der bildungstheoretischen Linie, aus der ich komme und der ich mich gern zurechne, der – wie ich sie gern nenne – Hamburger Linie, die mit den Arbeiten von Rainer Kokemohr beginnt und durch Winfried Marotzki und Hans-Christiph Koller popularisiert wurde und wird. Bildung wird im Kontext dieses Theoriestrangs als Transformationsprozess von Weltselbstverhältnissen aufgefasst, der sich in der Regel sprachlich artikuliert. Neben der Festschreibung der Hegemonie der Sprache stellt sich hier auch das Problem, wie sich Bildungsprozesse eigentlich beschreiben lassen außer als Differenz zwischen zwei Punkten, auf die sich die diagnostizierte Transformation letztlich reduziert. Die Beschäftigung mit Film und Serien verspricht zu anderen Arten der Prozessbeschreibung zu kommen. Dass dies nötig und wünschenswert wäre, begründet Cassirer (2003: 81) durch die Qualität des Bewusstseinsstroms: »Es [das Bewusstsein] besitzt kein anderes Sein als das der freien Tätigkeit, als das Sein des Prozesses. Und in diesem Prozeß kehren niemals wahrhaft identische Bestandteile wieder. Hier findet nur ein stetiges Fließen statt, ein lebendiges Strömen, in dem alle feste Gestaltung, kaum daß sie gewonnen, wieder vergehen muß.«
Da Film und Kino wie die Aufzeichnung von Bewusstseinsströmen funktionieren, drängen sie sich als symbolische Form direkt auf – und so war es auch schon zu Zeiten des Vortrags von Cassirer. Fernsehzuschauerinnen und -zuschauer meines Alters erinnern sich noch an Western von gestern (1978-1986) im Vorabendprogramm des Zweiten Deutsches Fernsehens. In dieser Sendung liefen auch Filme wie The Great Train Robbery (USA 1903), in dem neben Justus M. Barnes, der in der Schlussszene des Films (und im Vorspann von Western von gestern) und lange vor Bond mit dem Colt in das Publikum zielte,
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auch schon Gilbert M. Anderson drei Rollen spielte, der ab 1910 durch weit über Hundert Broncho Billy-Filme weltbekannt wurde.4 Ein weiteres Beispiel gibt Our Gang (USA 1922), hierzulande in den 1920er und 30er Jahren im Kino zu sehen und – leider oft zerschnitten – bekannt als Die kleinen Strolche (ab 1967, ebenfalls im ZDF). Hal Roach wollte in der ursprünglichen Fassung spielende Kinder – auch Streiche spielende – zeigen wie sie wirklich sind, also in ihrer ganzen Vielfalt – auch als Mädchen, schwarz oder übergewichtig, was im Hinblick auf race und gender in der Rückschau als recht fortschrittlich erscheint. Cassirer hat das Naheliegende nicht aufgegriffen. Dem Bildlichen widmete sich Erwin Panofsky, der ein Jahr nach Cassirer ebenfalls in der Bibliothek Warburg den noch berühmteren Vortrag über Perspektive als »symbolische Form« hielt. Panofsky reagiert auf die Sprachhegemonie, indem er zeigt, wie über eine lange Zeit und mit Verweis auf viele künstlerische und mathematische Hintergrundentwicklungen die Zentralperspektive erfunden wurde, die, obwohl sie unseren natürlichen Wahrnehmungen nicht entspricht – wir sehen stereoskopisch und mit Randverzerrungen –, meist als Repräsentation unserer natürlichen Sehwahrnehmung Verwendung findet. Einen Schritt weiter geht Lev Manovich, der sich in seinem Vortrag Database as a Symbolic Form (1998) auf Panofsky bezieht und Datenbank als etwas vorstellt, was uns zur Serie zurückführen wird. Datenbanken entwerteten Narrationen, weil sie das Verhältnis von Aktualität und Virtualiät im Hinblick auf die für ein strukturalistisches Sprachverständnis wichtige syntagmatische und paradigmatische Achse umkehrt. Während jede Erzählung natürlich immer auch anders hätte erzählt werden können, aber als eine Erzählung vorliegt, versammelt eine Datenbank viele Daten, ohne eine Folge zu präferieren. An die Stelle der unter postmodernen Bedingungen delegitimierten großen Erzählungen treten Stehgreiferzählungen. In The Language of New Media (2001), in das der Vortrag einfließt, schlägt Manovich außerdem noch den navigierbaren Raum als symbolische Form vor. Der Datenbank-Effekt, der sich darin zeigt, dass sich Stehgreiferzählung aus spontan recherchierten Daten häufen, wird allen aufgefallen sein, die länger schon an Universitäten lehren. Dass einem Theorien, die Studentinnen und Studenten aus Daten bilden, die sie eben so haben, gemessen an den großen Erzählungen, meist zu flach vorkommen, zeigt, dass die Datenbank als symbolische Form an Bedeutung gewonnen hat. Manovich nennt in seinem in der schnelllebigen Mediengeschichte auch schon wieder recht alten Buch die Fil4 | The Great Train Robbery, der das Western-Genre mitbegründete s.: https://www. youtube.com/watch?v=Bc7wWOmEGGY (Zugegriffen: 29.08.2016) Vorspann von Western von Gestern: https://www.youtube.com/watch?v=Dpk49t2hn4Y (Zugegriffen: 29.08.2016) und exemplarisch Broncho Billy and the Schoolmistress (USA 1912): https://www.youtube.com/watch?v=gcIxbSbMVUA (Zugegriffen: 29.08.2016)
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me von Peter Greenaway zwischen zwischen The Falls (GB 1980) und Prospero’s Books (GB u.a. 1991) und vor allem Dziga Vertovs Chelovek s kino-apparatom (SU 1929, dt. Der Mann mit der Kamera) als wichtige Datenbankfilme.5 Vertov hat selbst eine Kinotheorie entwickelt und versucht, durch das Kinoglaz (2001 [1924]), das Kinoauge, die Welt zu zeigen, wie sie objektiv oder wirklich ist, also befreit von der Einschränkung eines subjektiven Standpunkts. Gilles Deleuzes – und nicht nur Deleuze – gilt Vertov als der Filmemacher, der der Idee des reinen, aufeinander bezogenen Bewegungsbildes am nächsten kommt. Qualitätsfernsehserien stellen als symbolische Form neue Weisen datenbankkompatiblen Erzählens bereit, die auch im Vergleich zu großen Erzählungen nicht flach wirken (vgl. Sanders 2017b).
Z wei S equenzen L ost Vertovs Der Mann mit der Kamera zeichnet eine minimale Narrativität aus. Minimal narrativ wirkt der Film nur dadurch, dass Einstellungen rhythmisch aneinandergereiht werden. Auch Lost hat einen eigenen Rhythmus, funktioniert aber ganz anders. Die Serie erzählt eine Geschichte, indem sie viele Geschichten erzählt. Ich will in diesem Beitrag zwei Sequenzen diskutieren. Weil alle Serien einen bedeutsamen Anfang haben, nicht unbedingt aber ein geplantes Ende, und auch um nicht allzu stark zu spoilern, beginne ich mit der Eingangssequenz, die auch denen, die Lost (bisher) nicht kennen, einen Einstieg ermöglicht (Season 1, Episode 1: Pilot, 1. Teil, Erstausstrahlung: 22. September 2004, 00:00-07:02).6 Dazu habe ich eine Sequenz aus The Constant ausgewählt (Season 4, Episode 5, Erstausstrahlung: 28. Februar 2008, 15:13-19:50), die Dietmar Dath (2012) Nabelfolge nennt, weil sie Lost aus seiner Sicht als Nukleus enthält. Zur ersten Sequenz: Nach dem prägnanten kurzen Vorspann, während dem das weichgezeichnete weiße 3D-Wort LOST auf schwarzem Grund 5 | The Man with the Movie Camera mit der hörenswerten Musik von Michael Nyman, der auch für Greenaway gearbeitet hat, s. https://www.youtube.com/watch?v= z97Pa0ICpn8, zugegriffen: 29.08.2016). 6 | Hier zeigen sich die Grenzen meiner Verweise. Die diskutierten Sequenzen finden sich nicht im weltweiten Netz, zumindest nicht auf seiner hellen Seite. Unter https:// www.youtube.com/watch?v=b2HxrxCX3es (zugegriffen: 29.08.2016) lassen sich Teile der ersten Sequenz in akzeptabler Qualität und in der Originalsprache anschauen, und nach ca. zehn Sekunden folgt auch schon der C. D. Friedrich-Schwenk. Der Anfang fehlt jedoch. Die ganzen Sequenzen und eine untertitelte Fassung bietet die DVD-Box der ABC-Studios. Mir bleibt nur eine mehr oder minder dichte Beschreibung, aber was man sieht, ist nicht, was Sie hier lesen.
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nach vorn aus dem Bild rotiert, öffnet sich ein Auge. Die Filmmusik wird von Beginn an klassisch verstärkend und kommentierend eingesetzt. Ein Mann, der bewegungslos auf dem Rücken liegt, guckt durch die Krone eines Bambuswaldes in den Himmel. Der Mann ist verletzt. Die Kamera zieht sich in die Bambus-Kronen zurück und weitet so das Bildfeld. Der Mann guckt nach links. Ein wollweißer Labrador passiert. Der Mann steht unter Mühen auf und findet eine kleine Flasche Gin in seiner Sakkotasche. Er läuft durch den Wald, passiert einen weißen Turnschuh, der im Bambus hängt. Die Vegetation ändert sich. Er erreicht einen Strand. Die Kamera umkreist den Mann am Meer. Er wendet sich wieder nach links und sieht das Unfallszenario, das er und das Publikum längst gehört haben. Die Abstände stimmen nicht. Er passiert Flugzeugwrackteile und viele Menschen. Manche laufen desorientiert durchs Bild, manche versuchen, anderen zu helfen, manche schreien, andere geben Ratschläge. Schwarzer Qualm zieht über den Strand. Der Mann reagiert auf einen Hilferuf und organisiert sich Hilfe, um einen schwerer Verletzten unter einem Wrackteil hervorzuziehen. Er beginnt mit der medizinischen Versorgung, da zieht eine im Vierfüßlerstand kniende Schwangere seine Aufmerksamkeit auf sich. Er läuft weiter. Während sie ihn über ihren Zustand aufklärt, sieht er links von sich einen jungen weißen Mann, der versucht, eine ältere schwarze Frau wiederzubeleben. Die zuerst herbeigerufenen Helfer bringen den notdürftig versorgten Schwerverletzten fort, einer der beiden versucht einen dritten vor den Gefahren der Turbine zu warnen, in die dieser, noch bevor er versteht, gesogen wird. Eine Explosion folgt, Wrackteile fliegen durch die Luft, der Mann wirft sich schützend über die schwangere Frau. Er erklärt ihr, wie sie sich verhalten soll und beauftragt einen jungen Mann, der – wie wir später erfahren werden – Hurley (Jorge Garcia) heißt und nicht so recht zu wissen scheint, wie ihm geschieht, sich um die junge Frau zu kümmern. Hurley fragt den noch namenlosen Helfer nach seinem Namen. Jack (Matthew Fox) antwortet und läuft weiter zurück zu dem anderen jungen Mann, um ihn von weiteren fehlerhaften Beatmungsversuchen abzuhalten. Sie streiten über die Zertifizierung von Kompetenzen. Während sich der junge Mann auf die Suche nach einem Kugelschreiber macht, um der Frau – wie man es aus dem Fernsehen kennt – die Luftröhre freizustechen, gelingt die Reanimation, als sich schon neuen Unglück ankündigt: Ein Stück Flügel droht auf die schwangere Frau und Hurley zu stürzen. Jack rennt wieder los, um sie aus der Gefahrenzone zu bringen, was gerade noch gelingt. Der herabstürzende Flügel führt zu einer weiteren Explosion. Weitere Wrackteile fliegen. Eines schlägt unmittelbar neben einem blonden jungen Mann ein, der sich daraufhin bekreuzigt. Jack fragt die schwangere Frau und Hurley, ob sie okay seien, und fordert Hurley auf, bei ihr zu bleiben. Dieser entgegnet, dass er nirgendwohin gehe. Lost beginnt also mit der Darstellung eines Unglücks: Ein Flugzeug ist abgestürzt. Wir sehen eine Art Reigen, einen Reigen von Bewegungen, die Jack
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folgen. Wir sehen eine Reihe undefinierter Einstellungen, die sich immer so gerade nicht zu amerikanische Einstellungen weiten. Der Bildausschnitt wirkt immer einen Tick zu klein im Vergleich zu dem, was man eigentlich gewohnt ist aus ordentlich organisiertem organischem Kino. Auf diese Weise verweigert die erste Sequenz den Überblick, den auch die ästhetischen Figuren nicht zu haben scheinen. Die Sequenz konstruiert darüber hinaus einen Raum, der als euklidischer Raum nicht stimmt. Wir sehen eine ganze Reihe von falschen Anschlüssen: Strecken werden weiter und wieder kürzer. J. J. Abrams, Creator der Serie und Regisseur ihrer ersten beiden Folgen, bekannter noch als Regisseur der Star Wars Episode VII: The Force Awakens (USA 2015), inszeniert den Raum, als folgte er einer beweglichen Topologie. Musik und Ton entwickeln adhäsive Kräfte. Raum und Zeit differenzieren sich aus der Musik, entstammen ihrem Rhythmus. Die Trümmer, das Aluminium, die Flugzeugteile, die in den Himmel ragen, waren 2004 leicht zu assoziieren. Bei Lost handelt es sich um eine Post9-11-Serie, die auch die Desorientierung des Landes, die viele der größeren USFernsehserien in den fortgeschrittenen Nullerjahren thematisieren. Das Ziel der Eingangssequenz besteht darin, die Zuschauerinnen und Zuschauer erst einmal von allem zu trennen, was sie für sicher halten oder glauben, z.B. die oder an die Kausalität. Außerdem stellt die Serie bereits einen Teil ihres großen Personals vor, das sich immer weniger nach Haupt- und Nebenfiguren trennen lässt. Jack, der mit Nachnamen Shepherd heißt – Namen bedeuten in Lost –, ist – wie sich im Verlauf der Serie herausstellen wird – der Halbbruder von Claire (Emilie de Ravin), der schwangeren Frau. Flight 813 soll auch den Sarg mit der Leiche seines Vaters Christian Shepherd, christlicher Schäfer, transportiert haben. Dass Jack auch die Kurzform von Jacob ist, verwundert in diesen Zusammenhang kaum. Der glatzköpfige Mann, der Jack hilft den eingeklemmten Mann zu befreien, hört auf den Namen John Locke (Terry O’Quinn). Ein Koreaner Namens Kwon (Daniel Dae Kim) ruft nach seiner Frau Sun. Später taucht auch noch eine früher gestrandete Französin auf, die Rousseau heißt, allerdings Danielle Rousseau und in der zweiten Sequenz wird jemand, der Desmond Hume (Henry Ian Cusick) heißt, mit einem Physiker telefonieren, der auf den Namen Daniel Faraday (Jaramie Davies) hört. Alles in allem gibt es in Lost viel zu entschlüsseln. Was lässt sich in dieser Mannigfaltigkeit, in der sehr viel Bewegung und in Bewegung ist, entdecken? Dieser Leitfrage folgt die Populärkulturanalyse, wie man sie auch mit Hip-Hop-Stücken oder anderen popkulturell relevanten Materialien durchführen kann. Für eine bildungstheoretische Reflexion wird Lost immer interessanter, weil die Serie immer mehr an Beweglichkeit gewinnt und eigentlich von einer sehr stark am Bewegungsbild orientierten Form immer mehr zu verschiedenen Formen der Zeitbildlichkeit findet. Das Zeitbild ist Deleuzes zweite große Kinobildkategorie – und es wirkt fast so, als würde Abrams durch diesen Über-
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gang ein bisschen die Filmgeschichte nachinszenieren. Er beginnt mit ganz klassischen Orson-Welles-Inszenierungen. Es handelt sich bei der Eingangssequenz zwar um keine Plansequenz, sie erinnert trotzdem an den Anfang von Touch of Evil (USA 1958). Und wie in Citizen Kane (USA 1941) haben all diese Menschen, die da am Strand – wie es anfangs scheint – zufällig zusammenkommen und diese Robinsonade zu Vielen erleben, natürlich alle eine Geschichte. Meist bergen die Geschichten ein Geheimnis, und viele von ihnen hängen auch irgendwie zusammen. Wie in Citizen Kane bilden die Geschichten aber selbst für jede einzelne Person meist keine stimmige Geschichte. Diese sperrigen Vergangenheitsschichten bilden die erste Form des Zeitbildes, in der etwas zur Darstellung kommt, was wie die Mannigfaltigkeit von Lost am Ende nicht aufgeht. Letztlich ist Lost eine Serie über Andere und Fremdheit, the others, die auf der Insel ankommen werden, die auch als other others und other other others bereits angekommen sind und auftreten. Bis zur 4. Staffel bilden sich immer mehr Zeitschichten. Ab der 4. Staffel haben immer mehr Fans begonnen, die Serie zu hassen. Das mag an der Physik liegen. In der 4. Staffel gewinnt die Physik an Gewicht – und damit komme ich noch einmal auf Cassirer (2003: 91) zurück: »Das Befremden und die Ratlosigkeit, mit der die Philosophie heute noch [1922 wie gegenwärtig, O.S.] vielfach den Ergebnissen der Relativiätstheorie gegenübersteht, rührt vielleicht größtenteils daher, daß sie den eigentümlichen Charakter der physikalischen Symbolik, die sich in dieser Theorie ausprägt, noch nicht klar und scharf erfasst hat. Solange die Philosophie keine andere Möglichkeit kennt, als die Symbole, die hier gebraucht werden, entweder als Ausdrücke für direkt gegebene Wirklichkeit oder als bloße Fiktionen anzusehen – solange hat sie den methodischen Sinn noch nicht begriffen.«
Cassirer verfolgt hier ein ähnliches Ziel wie Bergson (1968) oder Deleuze (in vielen seiner Bücher), nämlich eine Metaphysik zu schreiben, die wieder die Höhe der Physik erreicht und sich so den zeitgenössischen physikalischen Theorien und Kosmologien als angemessenen erweist. Lost bebildert diese Reise und das führt dadurch zurück zu der Fragestellung, was Mathematik in diesem Zusammenhang bedeutet. Ich habe oben behauptet, dass Fernsehserien datenbankkompatible Narrationen seien. Das waren sie schon immer. Selbst so schlechte Serien wie Gute Zeiten, schlechte Zeiten (RTL, D 1992-) kompilieren bestimmte Arten von Stereotypen, also Datenbankeinträge, permanent neu zu Stegreiferzählungen. Aus den sogenannten Qualitätsserien, die eine stärker epische Qualität haben, kann man nicht aussteigen. Bei einer Serie wie Lost, verliert man nach ein paar verpassten oder ausgesparten Folgen einfach den Anschluss. Man muss
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sie schon von Anfang bis zum Ende gucken. Das sind 117 Folgen und dauert über 80 Stunden. Wagners Ring der Nibelungen nimmt sich vergleichsweise kurz aus. Lost funktioniert dazu noch als Extro-Science-Fiction. Quentin Meillassoux (2013) unterscheidet mit diesem Begriff zwei Sorten von Science Fiction, die in der Struktur Unterscheidung von Lernen und Bildung in der Marotzki’schen Darstellung der Kokemohr’schen Bildungstheorie ähnelt. Für Meillassoux entwickeln »normale« Science-Fiction-Filme Zukunftsszenarien unter der Bedingung, dass die Parameter konstant bleiben. In Extro-Science-Fiction ändern sich auch die Parameter. Das geschieht in Lost nach und nach und fängt schon damit an, dass das Citizen Kane-Szenario durch eine bestimmte Schnittfolge von Einstellungen einem anderen weicht: Zuschauerinnen und Zuschauer fragen sich, ob es sich noch um eine Robinsonade handelt oder schon um die psychotische Darstellung eines Psychiatriepatienten. Als dann immer mehr Menschen auftauchen, die eigentlich aufgrund der Erzählung tot sein müssten, aber keine Zombies sind, fragt man sich, ob die Insel nicht das Fegefeuer ist, schließlich beschreibt Dante im zweiten Band der Göttlichen Komödie das Purgatorium als Insel auf der Rückseite der Welt im Meer. Sehen wir eine Läuterungsberg-Verfilmung? Nach Dante kommt dann die Physik ins Spiel, die sich auch weiterentwickelt und damit bin ich bei der zweiten Sequenz. Die zweite Sequenz zeigt Desmond Hume in einer Zeitschleife. Sie wirft ein Streiflicht auf Faradays Oxforder Lehrerfahrung, und führt weit über Back to the Future (USA 1985), den für Zeitreisen paradigmatischen Jugendfilm, hinaus, indem sie die Bergson’sche Vorstellung, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft koexistieren und aufeinander folgen, ins Bewegungsbild setzen. Zu Beginn der Sequenz befinden sich Desmond und Sayid (Naveen Andrews), ein früherer Folterer der Republikanischen Garde, auf einem Schiff. Es sind inzwischen noch einmal andere Andere aufgetaucht: fremde Söldner. Desmond wird untersucht als Frank und Sayid ins Krankenrevier eindringen und ein Satelitentelefon bringen, mit dem Desmond mit Daniel Faraday, dem Physiker auf der Insel, telefonieren soll. Daniel stellt sich vor und vermutet, dass Desmond, obwohl sie einander gestern getroffen hätten, sich nicht an ihn erinnern werde. Er fragt Desmond, welches Jahr seiner Meinung nach sei. Desmond zeigt sich verwundert über die gewundene Formulierung und antwortet: 1996. Alle, Sayid und die auf der Insel verbliebenen, zeigen sich irritiert. Daniel fragt, wo Desmond sei. Irritiert stellt er fest, dass er in einer Art von Krankenrevier sei. Daniel interveniert; er wolle wissen, wo Desmond 1996 sei, bzw. sein solle. Royal Scotts Regiment, nördlich von Glasgow. Jack versucht Daniel zu unterbrechen, der Jacks Ansinnen zurückweist, weil er denken müsse. Nach einer weiteren Pause weist er Desmond an, dass er, sobald ES wieder passiere, einen Zug nach Oxford besteigen solle, um ihn zu finden. Nach einer Schwarzblende sucht Daniel sein Notizbuch, um Desmond etwas mitzuteilen,
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woraus hervorgeht, dass sie einander in der Zukunft begegnet seien. Desmond notiert sich die Informationen auf die Hand. Dann eskaliert die Situation auf dem Schiff. Nach einem Schnitt sitzt Desmond in Uniform in einer schottischen Telefonzelle. Es regnet. Auf seiner Hand findet er keine Notizen. In Oxford – nun sind seine Haare kurz und die von Daniel lang – trifft er diesen, der gerade einen Studenten unterweist, bloß nicht originell sein zu wollen. Auch die Angaben von Desmond hält Daniel zunächst für einen ganz unoriginellen Scherz seiner Kollegen. Als dieser dann aber kundgibt, von Eloise zu wissen, dämmert ihm etwas. Eloise ist der Name einer Laborratte und der Vorname von Daniels Mutter. Auch Verwandtschaftsbeziehungen bedeuten etwas. Die Musik erinnert kurz vor Schluss der Sequenz an den Tristan-Akkord, einen Vorhalt, der die Brücke zu Kokemohrs Bildungsvorhalt schlägt. Spätestens hier werden Erklärungen gefordert, die, weil sie notwendig verdummen, unterbleiben; und die Fans die Serie beginnen aufzugeben. Die Staffeln werden kürzer. Während die ersten Staffeln noch über 20 Folgen zählen, haben die letzten Seasons dann nur noch um die 15 Folgen. Es wird schlimmer und schlimmer. Die Insel beginnt, durch die Zeit zu reisen, während die Gestrandeten vor Ort bleiben. Ihnen gelingt es erst durch die Zündung einer von früheren Atomversuchen übrig gebliebenen Wasserstoff bombe, die Insel von weiteren Zeitreisen abzuhalten. Außerdem hegten sie die Hoffnung, dass der Flugzeugabsturz aufgrund der Detonation nicht stattfände. Letztendlich laufen aber einfach beide Erzählstränge weiter, so dass die Charaktere auf der Insel leben und in Los Angeles landen. Ganz am Ende bildet sich dann das Möbius-Band. Die ersten Szenen wiederholen sich und erzeugen als gute Wiederholungen eine Differenz. Der Hund bleibt liegen, das Ganze zieht sich zusammen und Jack stirbt einfach. Lost war also eine auf über 80 Stunden gedehnte Todessekunde, eine Art vorbeieilende Lebensreflexion. Aber stimmt das? Zugleich werden alle von Jacks Vater in eine gleißende neue Welt geführt, so dass das ganze Serienglück in einem kitschigen Moment zu vergehen droht. Gerettet, verloren.
M usik des Z ufalls Dietmar Dath (2012: 15) behauptet, Lost funktioniere wie Musik. Die Serienmusik wurde von Michael Giacchino komponiert und eingespielt vom Hollywood Symphony Orchestra. Es gibt sehr, sehr viele Motive, die sich zu einer ganz und gar konventionellen Filmmusik verbinden, wie sie in Qualitätsserien oft eine geringere Rolle spielt. Dath betont, dass sich aus der Symphonie keine Stimme lösen ließe, ohne diese ganz zu zerstören. Sie funktioniert in dieser Hinsicht wie ein Borromäischer Knoten. Das Orchester und Lost klingen nur
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in dem Werden und Vergehen und bilden eine Schleife, so dass, wer zu Ende geguckt hat, gleich wieder von vorne weiter gucken sollte. Dann weiß man auch, dass die Zahlen unter anderem für die Kandidaten stehen, die als zukünftige Bewahrer der Insel, von der man immer noch nicht weiß, ob es sie gibt, infrage kommen: 4, John Locke, 8, Hurley, 15, Sawyer (durch die Sequenzauswahl ausgespart), 16, Sayid, 23, Jack, 42, Kwon, Jin oder Sun.
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»Lernen nicht, aber …« – Bildungsprozesse im Breaking 1 Michael Rappe/Christine Stöger
»Hip Hop ist ein Problem. Es ist die kulturelle Verkörperung von Gewalt, Degradierung und Materialismus. Hip Hop steht für Rapper, die Frauen in Videos missbrauchen und einander vor Radiostationen erschießen. Hip Hop sind Partys auf 20 Millionen Dollar Yachten und Cam’ron, der behauptet, er würde niemals jemanden an die Polizei verraten, auch wenn er wüsste, dass ein Serienmörder nebenan wohnt. Es ist eine Multimilliarden Dollar Industrie, gegründet auf Ausschweifungen, Respektlosigkeit und Selbstzerstörung.« (Schloss 2009: 3, übersetzt)
Mit diesen Worten eröffnet der Musikethnologe Joseph Schloss sein Buch »Foundation«, ein Referenzwerk zum Tanz innerhalb der Hip Hop-Kultur. Gleich im folgenden Absatz heißt es: »Dennoch, denke ich an Hip Hop, sehe ich mich an einem Samstag Nachmittag nach seltenen Platten suchen. Ich denke an ein 12-jähriges Mädchen, das gegen zwei ältere Jungs in einem Tanz-Battle antritt, während ihre Mutter sie stolz dabei filmt. Ich denke an Menschen aus allen Teilen der Welt, die sich zu einer Hip Hop-Jam auf Manhattans Union Square treffen, während die Sonne an einem heißen Sommerabend untergeht.« (Schloss 2009: 3, übersetzt)
Die beiden Beschreibungen könnten unterschiedlicher nicht sein. Im zweiten Zitat deuten sich schon die starken positiven Beziehungen an, die zu und innerhalb einer kulturellen Praxis entstehen können und die wir in den Gesprächen mit den Interviewpartnern und -partnerinnen des hier skizzierten 1 | Der hier vorliegende Beitrag ist die leicht korrigierte Version eines unter dem gleichnamigen Titel erschienenen Textes in: Bernd Clausen (Hg.) (2014), Teilhabe und Gerechtigkeit – Participation and Equity. Musikpädagogische Forschung Bd. 35, Münster: Waxmann, S. 145-158. www.waxmann.com/buch3144. Er konnte mit freundlicher Genehmigung des Waxmann-Verlages hier abgedruckt werden.
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Projektes wiedererkannten. Im Weiteren wird ein Element der Hip Hop-Kultur in den Mittelpunkt gestellt, nämlich das Breaking und dabei die Frage verfolgt, wie man die Entwicklung von Expertise in diesem Feld vom Eintritt bis zur anerkannten Meisterschaft erlangt. Nach der Einführung in die Tanzpraxen des Hip Hop wird der Bezug zu Bildungsprozessen über den szeneinternen Begriff »Foundation« hergestellt und der Forschungsstand zum Thema sowie der methodische Zugang des hier zugrundliegenden Projektes skizziert. Abschließend finden sich Bausteine der Theoriebildung auf Grundlage des bisherigen Materials, die Einblick in den Forschungsprozess geben sollen.
D ie Tanzformen des H ip H op Im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich Breakdance als Oberbegriff für die unterschiedlichen Tanzformen im Hip Hop (wie B-Boying und Popping & Locking) etabliert. Da dieser Begriff innerhalb der Szene als unkorrekt, weil stilnivellierend, betrachtet wird und B-Boying als gängige Bezeichnung wiederum die B-Girls ausschließt, wird hier der ebenfalls in der Szene gebräuchliche Terminus Breaking verwendet. An den Stellen, an denen eine Differenzierung der unterschiedlichen Tanzstile oder eine Präzisierung ästhetischer Praxen wichtig erscheint, werden die jeweiligen Stilbezeichnungen wie B-Boying/BGirling, Popping, Locking oder Electric Boogaloo benutzt. Die Hip Hop-Kultur und mit ihr das Breaking entstanden im Spannungsfeld afrodiasporischer Kulturtraditionen und den sozial-ökonomischen und technologischen Bedingungen der postindustriellen Stadt: Anfang der 1970er Jahre transformierten ehemalige Gang-Mitglieder in den US-amerikanischen Inner-city-Ghettos ihre gewalttätigen Auseinandersetzungen in symbolische (Wett-)Kämpfe und schufen so innerhalb weniger Jahre eine Kultur, in der auf den Ebenen Tanz (Breaking), Musik (MCing, DJing) und bildende Kunst (Graffiti/Writing) Wettbewerbe ausgetragen wurden (Toop 1992; Rose 1994). Insbesondere das Breaking thematisiert dies durch seine vielfältigen Köperbewegungen, Tanzfiguren und Rituale wohl am deutlichsten (Rappe 2011). Erste Vorformen des Breaking entstanden Ende der 1960er Jahre aus damals beliebten Soul- und Funktänzen wie z.B. dem Good Foot, dessen Name auf den James Brown-Hit Get On The Good Foot zurückgeht. Die Tanzfiguren bestanden in der Hauptsache aus einer Abfolge komplizierter Schrittkombinationen. Inspiriert waren diese von dem gleitenden Tanzstil James Browns, vom Kampfstil Muhammad Alis mit seinen kurzen tänzelnden Schritten, den Kampf bewegungen der in dieser Zeit populär werdenden Martial-ArtsFilme, frühen afroamerikanischen Tänzen (wie z.B. dem Lindyhop) sowie den Schrittfolgen afrokubanischer und lateinamerikanischer Tänze. Aus dem Good Foot und anderen Tänzen, wie z.B. dem so genannten Comedy Style
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oder dem Rocking (Up Rocking), entwickelten sich die für das B-Boying typischen Tanzfiguren, die nach Toprock- und Downrock-Figuren unterschieden werden (Holman 1984, 2004; Kimminich 2003b; Rode 2006). Toprocks sind individualisierte Tanzschritte, die oftmals die Einleitungssequenz eines Tanzes darstellen und in die provozierende mimische und gestische Elemente (so genannte Burns) integriert sind, um die gegnerischen Tänzer und Tänzerinnen herauszufordern. Durch Godowns, wie z.B. eine Fallbewegung (Drop), gelangen die Tanzenden auf den Boden, um Downrocks auszuführen. Downrocks (zu denen u.a. Footwords, Backworks und Freezes gehören) sind Tanzbewegungen, bei denen mit aufgestützten Händen komplizierte Schrittfolgen getanzt werden. Diese dienen wiederum als Ausgangspunkt für Backund Headspins, schnelle Pirouetten auf dem Rücken oder dem Kopf, sowie eine große Anzahl weiterer Powermoves. Diese bestehen aus artistischen Bewegungen, wie zum Beispiel der Windmill, einer »Drehung […] um die Körperlängsachse mit abwechselndem Bodenkontakt von Schultern, Bauch oder Rücken mit ausgestreckten Beinen« (Kimminich 2003b: 31). Ein Tanz-Sequenz endet meist mit einem Freeze. Ein Freeze ist eine bestimmte Position, in der die Tänzer bzw. Tänzerinnen erstarren. Er ist der individualisierte Abschluss eines Tanzes, dessen abrupt angehaltene ›Aussagen‹ »auf einen ›Standpunkt‹ fixiert« (Kimminich 2003: 6) werden. Scheinbar ohne jegliche Mühe schließt der oder die Tanzende mit einer schwierigen Figur ab, um absolute Kontrolle zu dokumentieren: über die Situation, den eigenen Körper und über die anderen Tanzenden. Für das bessere Verständnis dieser (Tanz-)Kultur sind zwei Aspekte hervorzuheben: Zum einen handelt es sich um eine partizipative Kultur. Breaking ist eine Produzenten-Kultur, reine Konsumenten und Konsumentinnen gibt es nicht. Dies gilt in großen Teilen für die gesamte Hip Hop-Kultur und ist nur dort nicht mehr kulturkonstituierend, wo Hip Hop als medialisierter Musikstil populär geworden ist. Zum anderen ist die Entwicklung der Musik (DJing und MCing) untrennbar mit der des Tanzes verbunden. Ohne das Breaking hätte sich das Breakbeating als musikalische Grundlage des Hip Hop nicht entwickelt. Das heißt, die DJs reagierten auf die Tanzenden, folgten diesen in ihren Bewegungen und suchten nach Rhythmen und Sounds, die sie in ihren Aktionen unterstützten. Die Musik musste begeistern und die polyrhythmische Struktur bieten, welche die Tanzenden für ihre komplexen Bewegungen brauchten, anderenfalls wurde sie wieder verworfen oder überarbeitet. Aus den Interaktionen zwischen Tanz und Musik formten sich dabei erst die ästhetischen Parameter des musikalischen Stils Hip Hop. Dieses Wissen um ihre Bedeutung als Träger dieser Kultur ist nach wie vor bei den B-Boys und -Girls vorhanden (Ramm:Ell:Zee in Cooper 2004: 115; Schloss: 2009). Dies gilt nicht nur für die erste Generation an den Ursprungsorten, sondern auch für die B-Boys und -Girls, die in unserer Studie interviewt wurden. So sagt z.B.
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ein B-Boy im Kontext der Entwicklung der Kultur: »Am Anfang war das ja so […], da stand der DJ und im Vordergrund stand der Rapper und noch weiter vorne stand der B-Boy« (»der Sozialpädagoge«2). Und ein anderer B-Boy bringt es auf den Punkt, wenn er sagt: »[…] wir haben diese Language, wir haben diese Basics, wir haben diese Foundation, wir haben das Wissen zu dieser Musik« (»der Analytiker«).
F oundation als F luchtpunk t von B ildungsprozessen Die Erzähllaufforderung für die Interviews, die diesem Text zugrunde liegen, lautete: »Wie hast du B-Boying gelernt?« Auch wenn alle Interviewpartner und -partnerinnen die Frage zu verstehen schienen, war doch erst einmal eine Irritation spürbar und eine Distanzierung von dem Begriff »lernen« nötig. Aus den Aussagen lässt sich schließen, dass er für etwas steht, was man mit formalen Bildungsinstitutionen verbindet und dass er sichtlich keinen Ansatzpunkt zur Beschreibung dessen bietet, was die Protagonisten und Protagonistinnen erlebt haben. Der Code »Lernen nicht, aber …« hat sich für die gedankliche Suchbewegung der Interviewten in die Anfänge der Beschäftigung mit dem Tanz hinein angeboten und wirkte gleich als Warnung an die Forschenden, die eigene Interpretation von Lernen auszusetzen und die interne Logik der Entwicklung und Kommunikation von Wissen und Können zu beleuchten. Wenn in diesem Zusammenhang von Bildungsprozessen gesprochen wird, dann sind all jene Aktivitäten und identifizierbaren Momente gemeint, deren Fluchtpunkt Foundation ist. Dieser zentrale Begriff aus der Szene beschreibt das Zusammenwirken dreier Kompetenzfelder. Foundation besteht aus explizierbaren Elementen, wie authentifiziertes Wissen über Begriffe, bedeutsame Akteure, Orte, Musik, geschichtliche Ereignisse und Praxen des Breaking. Dieser Aspekt von Foundation wird in der Szene als Knowledge bezeichnet und neben DJing, MCing/Rapping, Breaking und Writing/Graffiti als die fünfte Disziplin der Hip Hop-Kultur angesehen. Knowledge beinhaltet ein hohes Aufforderungspotential, tiefer zu graben, d.h. sich intensiv mit sich selbst, dem eigenen Verhältnis zu dieser Kultur sowie deren Traditionen und Geschichte(n) zu beschäftigen. 1. Foundation meint natürlich auch die tänzerischen Fähigkeiten, also artistisch-künstlerische Fertigkeiten, Strategien der Improvisation und vor allem den Style, also die persönliche Note, die den Bewegungen und Bewegungsfolgen (Moves) gegeben wird und welche die Tänzer und Tänzerin2 | Die Interviewpartner und -partnerinnen wurden mit charakterisierenden Bezeichnungen belegt, die bei Zitaten aus den Gesprächen verwendet werden.
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nen profiliert und voneinander absetzt. Die Moves selbst enthalten wiederum Knowledge, bzw. über sie drückt sich die Anbindung an die Kultur aus. Wer Foundation hat, kann in den Tanzbewegungen Geschichten der Entwicklung von Moves über Generationen von B-Boys und B-Girls erzählen oder sie in anderen Tänzen erkennen. Er kann aber vor allem auf Grundlage dieser Geschichte seinen eigenen Style deutlich machen. Die Nachahmung von Moves ist lediglich der Ausgangspunkt des Tanzens. Immer und grundsätzlich muss sich daraus etwas Eigenes entwickeln, sowohl im Mikrokosmos eines Battle wie auch für das tänzerische Profil eines B-Boys oder -Girls insgesamt.3 2. Diese Aspekte, die eher Wissen im Sinne von Knowledge und Können im Sinne von Style betreffen, sind über den Begriff Foundation verbunden mit einer dritten Ebene, welche die Wertvorstellungen und Haltungen einer Szene repräsentiert. Dies ist die am schwierigsten zu fassende Dimension von Foundation. Sie ist aber sofort und für jeden in den Gesprächen mit den Protagonisten und Protagonistinnen spürbar. Die ethische Dimension von Foundation umfasst so verschiedene Elemente wie Respekt gegenüber den Urhebern des Tanzes (Creators) oder bestimmter Bewegungen, eine kritische Haltung gegenüber homophoben und sexistischen Tendenzen sowie der Kommerzialisierung des Hip Hop oder den für Bildungsprozesse besonders bedeutsamen Grundsatz des »each one teach one«, der am Ende noch kurz skizziert wird.
Z um F orschungsstand So präsent Hip Hop als globale Kultur mit einer 30-jährigen Tradition in Deutschland auch sein mag, von der Wissenschaft wurde er bisher vor allem in Hinblick auf die Sprache (Rap) rezipiert. Die anderen Elemente, nämlich Musik, Bild und Tanz blieben von jenen Disziplinen eher unbeachtet, die vordergründig dafür zuständig zu sein scheinen, nämlich der Musik-, Kunst- und Tanzwissenschaft. Zum Breaking selbst sind in jüngerer Zeit einige Publikationen erschienen (Robitzky 2000; Kimminich 2003b; Nohl 2003; Birken-Silverman 2003; Cooper/Rockafella 2005; Rode 2006; Pavicic 2007; Fogarty 2011; Rappe 2011). Der Zugriff scheint im Wesentlichen soziologisch, psychologisch, kulturtheoretisch oder biographisch ausgerichtet zu sein und auf Aspekte wie Identitätsbildung, Interkulturalität sowie Vernetzung und Kommunikation innerhalb der Szene abzuzielen.4 3 | Der Begriff »Battle« wird unten noch näher erläutert. 4 | Eine Ausnahme bildet hier die Dissertation der kanadischen Kultursoziologin Mary Fogarty. Mit der Methode der multi-sited ethnography (Feldforschung, teilnehmende
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Eine noch geringere Rolle spielt die Frage nach Potenzialen für Bildungsprozesse innerhalb der Hip Hop-Kultur. Im deutschsprachigen Raum sind dazu für Hip Hop insgesamt nur wenige Quellen aufzufinden (Rappe 2005; Peschke 2010; Schott 2010). Noch weniger Publikationen thematisieren Breaking im Zusammenhang mit Bildungsprozessen (Birken-Silverman 2003; Nohl 2003). Im angloamerikanischen Raum existieren seit Anfang dieses Jahrtausends einige Arbeiten im Bereich der so genannten »Hip-Hop Based Education« (HHBE) (Porfilio/Viola 2012; Hill/Petchauer 2013). Hierbei fällt auf, dass in der Analyse und Beschreibung ein Zugang vorherrscht, der die (v.a. sozialpädagogische) Auseinandersetzung mit Macht, Ethnie, Gender oder Politik in den Vordergrund stellt. In Beiträgen, die sich mit den Protagonisten selbst beschäftigen, stehen meist die Entwicklung und Darstellung von Identität im Zentrum. Dementsprechend werden in Arbeiten zu HHBE vor allem pädagogische Theorien einbezogen, welche die Förderung demokratischer, emanzipatorischer und kulturell sensibler Haltungen in den Mittelpunkt stellen, wie z.B. die Pädagogik der Befreiung (Paolo Freire), die Critical/Public Pedagogy (Henry Giroux) oder die Culturally Responsive Pedagogy (Geneva Gay). Neben der »Hip-Hop Based Education« findet sich ein weiterer Denkansatz, wobei versucht wird, die identifizierbaren positiven psychisch-mentalen und physiologischen Effekte der Hip Hop-Kultur (»Aspects of Hip-Hop Psychology«, HHP) in eine Pädagogik der Befreiung (»Hip-Hop Psychology Liberatory Education«, HHPLE) zu überführen und diese als Schnittstelle unterschiedlicher emanzipativer, pädagogischer, psychologischer, psychotherapeutischer und diskursanalytischer Methoden zu denken (Roychoudhury/Garder 2012). Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass in der deutschsprachigen wie internationalen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Hip Hop und ganz besonders mit Breaking kaum detaillierte Hinweise auf Lern- und Bildungsprozesse zu finden sind. Ausnahmen bilden hier in Ansätzen die Arbeiten von Brian (2012) und Endsle/Jaksch (2012). Auch die Wahrnehmung der unterschiedlichen Tanzpraxen als ein ästhetisches Phänomen findet nahezu keine Beachtung. Als Ausnahmen wären hier Nohl (2003) und Rappe (2003) zu nennen. Wir hoffen, über das hier vorgestellte Forschungsprojekt Einblicke in eben solche Aspekte zu gewinnen.
Beobachtung, Diskussionen und Interviews) erforscht Fogarty die Beziehung zwischen dem musikalischen Geschmack und den Tanzpraktiken des Breaking. Gleichzeitig setzt sie in ihrer umfassenden Studie einen Schwerpunkt auf die Bedeutung der Medialisierung für die Entwicklung des Breakings zu einer international vernetzten (Tanz-)Kultur.
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M e thodischer Z ugang Die Studie folgt den Prinzipien der Grounded Theory Methodology, wie sie von Glaser und Strauss dargelegt wurden (2010). Im Zentrum stehen narrative Interviews mit bisher neun Personen, die mehrere Generationen von B-Boys und -Girls von den Pionieren in Deutschland bis zu heutigen Schülern umfassen. Sie werden ergänzt durch Gespräche mit Experten und Expertinnen aus dem kulturellen Kontext, durch Besuche von Jams sowie Unterrichts- und Trainingssituationen. Für die Auswahl der zentralen Gesprächspartner und -partnerinnen hat sich die Methode des theoretical sampling als sinnvoll erwiesen (ebd.). Die Entscheidung entstand und entsteht noch im Prozess der Datenanalyse. Das erschien naheliegend, weil der Eingang in die Szene keinesfalls selbstverständlich ist. Als Ausgangspunkt der Gespräche wurde eine Person gewählt, die »der Sozialpädagoge« heißen soll. Er gehört der ersten Generation von Breakern in Deutschland an und hat mittlerweile eine langjährige Erfahrung als Lehrender in einem institutionalisierten Rahmen vorzuweisen. Er selbst hat Breaking ganz im informellen Kontext erlernt. Als Lehrender und damit als jemand, der auch die Institutionalisierung der Hip Hop-Kultur erlebt hat und sie selbst gestaltet, schien er uns ein idealer Informant zu sein. Von ihm ausgehend wurden die weiteren Interviewpartner und -partnerinnen in Hinblick auf Kontrastierungen des Materials ausgewählt. Hierbei haben sich bisher folgende Dimensionen als wesentlich herausgestellt, die alle in Hinblick auf ihre Bedeutung für Bildungsprozesse beleuchtet werden sollen: Zentraler persönlicher Zugang Die Benennungen der Gesprächspartner und -partnerinnen, wie Sozialpädagoge, Künstler, Artistin/Eventmanagerin, Analytiker, Geschäftsmann, Akademikerin, vielseitige Pragmatikerin… geben schon Hinweise darauf, welche Formen und Bedeutungen Breaking im Leben der Personen einnehmen kann. So entwickeln sich recht unterschiedliche Profile zwischen Beruf und Hobby, der eher künstlerischen oder pädagogischen Ausrichtung oder des über die Vorerfahrungen (Sport, Artistik, andere Tanzarten etc.) genährten Styles. Generation Insgesamt sind vier bis fünf Generationen auszumachen, je nachdem, ob man B-Boys oder -Girls betrachtet. Ein Generationenwechsel scheint sich dort identifizieren zu lassen, wo einzelnen Personen oder Crews Foundation zugeschrieben wird und sie als authentische »Vermittler« der kulturellen Praxis fungieren. Mit dem Wechsel der Generationen ändern sich die Rahmungen für das Lernen, die zu untersuchen lohnend erscheinen.
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Gender Breaking ist eine im Wesentlichen männlich geprägte Kultur, in der aber immer schon Frauen aktiv waren. Die B-Girls beschreiben selbst viele Aspekte des Lernens als »anders« im Vergleich zu den B-Boys, unterscheiden sich aber auch deutlich voneinander. Gender wurde von der ersten Interviewpartnerin so stark eingebracht, dass es schlüssig erschien, weitere weibliche Perspektiven einzubeziehen und dieses Thema auszudifferenzieren. Migration Menschen mit Migrationshintergrund machen einen hohen Anteil der Akteure der Hip Hop-Kultur aus. Die Gespräche verweisen auf eine Fülle von Differenzerfahrungen, die in den Tanz eingebracht und dort ausgehandelt werden. Emischer und etischer Blick Nach der Befragung von Personen, die mitten in der Szene situiert sind, schien es erforderlich, auch solche heranzuziehen, die am Rande stehen oder ausgestiegen sind. Lehrerrolle Unter den Interviewpartnern und -partnerinnen befinden sich drei, die als ausgebildete Lehrer arbeiten oder sich in einem Lehramtsstudium befinden. Es wird zu fragen sein, wie sich ihr Zugang zum und ihr Sprechen über Lernen von jenem der anderen unterscheidet? Bildungsprozesse in anderen künstlerischen Praxen der Hip Hop-Kultur Breaking ist nur ein Element einer interdisziplinären kulturellen Praxis. Die Frage, was für das Lernen tanzspezifisch und was ein Charakteristikum der gesamten Kultur ist, lässt sich nur über Zeugnisse von Personen veranschaulichen, die in anderen Bereichen wie Writing oder Rapping aktiv sind.
A uf dem W eg zur Theoriebildung Das bisherige Material eröffnet den Blick auf eine reichhaltige, sich selbst regulierende Lernkultur mit hoher Sogwirkung. Die B-Girls und -Boys verpflichten sich zu enormem Zeitaufwand, fordern sich bis an die körperlichen Grenzen, suchen den Austausch auf tänzerischer Ebene ebenso wie sie nach Begriffen, Geschichte und Hintergründen forschen. Es gibt eine Fülle von Elementen, welche die Motivation aufrechterhalten. Keimzelle sowohl der Entwicklung dieser Kultur wie auch von Bildungsprozessen ist die Nachahmung.
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Nachahmung in der Differenz Nachahmung und Differenz, Imitation und Kreativität sind beim Breaking aufs engste miteinander verbunden. Dieser Prozess gestaltet sich aus der Perspektive eines B-Boys folgendermaßen: »Das, was du siehst und das, was du machst, sind komplett zwei verschiedene Bilder«. Durch die Imitation entstünde ein individueller Ausdruck. »[…] das ist ja eigentlich dein eigenes Gefühl, was du dann erzeugst«. Die Bewegung nimmt »eine Dimension in dir ein« und »wird ein Teil von dir«. Er betont, dass es geradezu kontraproduktiv wäre, eine Bewegung »eins zu eins« beigebracht zu bekommen, denn »du musst ja diesen Trick in deinem Körper selbst platzieren […] Aber wenn jemand anderes diesen Trick bei dir in deinen Körper platziert, dann wirkt es wie Falschgeld.« Mit diesem Kreativitätsprozess müsse man sich selbst beschäftigen, nur so entstünde etwas Eigenes und Authentisches (»der Künstler«). Gleichzeitig wird aber die Welt zur ständigen Quelle für eben diese Nachahmungsprozesse. Das trifft nicht nur auf die Tanzbewegungen zu, die man in den Battles oder auch in Trainings vorfindet, sondern auf potenziell alles, z.B. das Ticken einer Uhr, das Klappern von Geschirr oder das Summen einer Fliege. Das kann so weit gehen, dass Anlässe sogar inszeniert werden: »Ich bin ein Gestensammler« (»der Künstler«), sagt einer der Protagonisten und bringt Interaktionspartner im Alltag humorvoll in ungewohnte Situationen, um seine Sammlung zu erweitern. Diese Ebene der Nachahmung in der Differenz lässt sich mit Theorien zum Begriff Mimesis in Bezug bringen, wie sie u.a. von Christoph Wulf für die Pädagogik eingebracht wurden. Das folgende Zitat gibt einen Einblick in die Bezüge zu dieser Forschungsarbeit, die noch eine große Rolle spielen werden, aber an dieser Stelle nur angedeutet werden können: »Die mimetische Handlung hat zeigenden und darstellenden Charakter; ihre Aufführung erzeugt wiederum eigene ästhetische Qualitäten. Das für performative Handlungen relevante praktische Wissen ist körperlich und ludisch sowie zugleich historisch und kulturell; es bildet sich in face-to-face Situationen und ist semantisch nicht eindeutig; es hat imaginäre Komponenten, lässt sich nicht auf Intentionalität reduzieren, enthält einen Bedeutungsüberschuss und zeigt sich in den rituellen Inszenierungen und Aufführungen von Pädagogik, Religion, Politik und alltäglichem Leben.« (Wulf/Zirfas 2007: 32)
In der bisherigen Materialauswertung ist auffallend, dass – wie sich dies schon im Begriff Foundation ankündigt – identitär/soziale, ästhetische und ethische Prinzipien zusammenwirken und eine Art Gravitationsfeld des Lernens ausmachen, dessen Zelle wir hier »Nachahmung in der Differenz« nennen wollen und die im Folgenden in den drei Dimensionen skizziert wird.
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Nachahmung in der Differenz und die identitär/soziale Dimension Das Urbild der sozialen Dimension ist der battle circle oder der Cypher bzw. Cipha. »›Cipha‹ in der HipHop-Kultur leitet sich von der Sprache der Five Percent Nation of Islam (auch bekannt als Nation of Gods and Earths), einer in den USA heimischen Variante des Islam ab. In diesen Kreisen bezeichnet der Begriff unter anderem Räume des Lernens, der Entstehung und Mitteilung von Wissen. […] In Supreme Mathematics, dem konzeptionellen Rahmenwerk der Five Percenter, ist »cipher/Ziffer« die Null oder »0« (»sifr« auf Arabisch), ein Ganzes oder ein vollständiger Kreis, bestehend aus: Wissen (120 Grad), Weisheit (120 Grad) und Verständnis (120 Grad). Da die Five Percent Nation in den African-American Milieus der 1970er und 1980er stark präsent war, haben ihre Terminologie und ihre kulturellen Praktiken die Bewegung des HipHop nachhaltig geprägt.« (Alim et al. 2012: 58)
Cypher ist der Ort der Präsentation, des Lernens und Lehrens im Breaking. Seinen Ursprung hat der Kreis im Kontext informeller Straßeneckenkulturen so genannter Inner-city-Ghettos: Ein interessantes Ereignis (z.B. Kampf oder eben Tanz) geschieht, Menschen bleiben stehen und durch eine spontane Kreisbildung entsteht dabei die höchstmögliche Aufmerksamkeit. Diese Urform ist zentral im Hip Hop: B-Boys und -Girls treten mit ihrer Crew im Cypher in einer Face-to-Face-Situation gegeneinander an. Der Kreis spielt aber auch schon in der ersten Begegnung mit dieser Tanzform eine Rolle, weil Üben und Aufführen keine im üblichen Sinne getrennten Kategorien darstellen. Er ermöglicht das Gefühl von Zughörigkeit, ist aber auch der Raum, in dem man sich zeigt und der einem Respekt abringt. Diese Form lässt aber auch erst einmal offen, wer wann und wie oft in den Kreis tritt. Hier findet ein ständiger Nachahmungs- und Kreationsprozess statt. Der Cypher kann ebenso zu motivierendem Training genutzt werden – die eigenen Bewegungen werden quasi durch die Gruppe »überprüft«: vom Austausch über bestimmte Bewegungsmuster bis hin zum Wettkampf (Battle), der zum starken Antrieb und Motor werden kann. Der Wettbewerbsdruck im Cypher fordert von den B-Boys und -Girls ein hohes Maß an Kontrolle, Aufmerksamkeit, Reaktions- und Improvisationsvermögen sowie strategisches Denken (Schloss 2009: 96). Es geht permanent darum, zu reagieren, herauszufordern oder herausgefordert zu werden und die eigenen Skills zu verbessern, um einen individuellen Tanzstil zu finden, »mit dem keiner klar kommt« (Rose 1994: 153). Der Cypher ist die Metapher für die soziale Dimension der Tanzart, durch die direkte Anwesenheit der Gruppe, aber auch in Form einer Vernetzung über die konkreten Orte hinweg (Globalisierung), die intensiv gepflegt wird. Deutlich wird aber auch eine Anbindung an die Kultur im Sinne
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einer Vergewisserung der Entwicklung, einer Suche nach den Ursprüngen. Das Interesse an der Geschichte ist enorm groß und die Protagonistinnen und Protagonisten beschreiben, wie sie »diggen«, graben, um an das tänzerische Wissen der Creators heranzukommen.
Nachahmung in der Differenz und die ästhetische Dimension Die Notwendigkeit, über die Basics Bescheid zu wissen, wird auch in der ästhetischen Dimension deutlich. Ihren individuellen Tanzstil kreieren die BGirls und -Boys, indem sie vorhandene Tanz- und Bewegungsmuster zunächst imitieren und anschließend verändert in ihr eigenes Bewegungsrepertoire übernehmen. Man erwirbt die tänzerischen Basics und variiert sie. Ein reines Nachahmen dieser Variationen ist in der gesamten Hip Hop-Kultur verpönt. Dies würde als »Biting« gerügt oder gar abgestraft werden. Nachahmung in der Differenz hingegen gilt als Grundlage der eigenen tänzerischen Individualität (»Flipping«). Geflippt werden kann nahezu jede Tanz- oder Bewegungskultur: Es geht ganz allgemein darum, die vorgefundenen Moves zu rekombinieren und sie durch solche z.B. aus Martial Arts, Bodengymnastik, Pop-Tänzen oder sogar Computerspielbewegungen zu erweitern, zu verbessern und zu personifizieren (Pabon in Cooper 2004: 210). Gleichzeitig ist für die B-Girls und -Boys trotz des Battle-Kontexts der tänzerische Ausdruck zentral; die Bewegung selbst, die Art, wie auf den Rhythmus reagiert und er in die Bewegung integriert wird, das Artistische – all dies muss tänzerisch ausgeführt werden. So könnte ein B-Boy zwar die komplizierteren Powermoves ausführen, aber trotzdem verlieren, weil der oder die Andere mehr Style hat. Style ist aber nicht allein eine ästhetische Kategorie. Damit wird gleichzeitig eine davon unlösbare soziale und identitäre Dimension beschrieben. »Es geht um Style und Style ist Geschichte. [Und] Style ist natürlich optimalerweise […] die Personifizierung von dir – du in deinem Element!« (»der Geschäftsmann«). In der Repräsentation seines eigenen Styles stellt sich das Individuum zur Disposition und muss seine Zugehörigkeit zur Hip Hop-Kultur als ein kulturelles Netzwerk »unzähliger Geschichten – ›eingeschrieben‹ und tradiert durch und in Bewegungsabläufe(n)« (Kimminich 2003a: 87) beweisen, indem es diese Bewegungen nicht nur »korrekt« nachahmt, sondern kunstfertig variiert, erweitert oder verbessert. Im performativen Akt des Flipping präsentiert sich ein Individuum jedoch nicht nur selbst, sein Wissen über und seine Verbundenheit mit der Kultur. Es wird gleichzeitig Träger dieser Kultur, weil es in dem Augenblick, in dem es seinen eigenen Style findet, die Kultur bewahrt, indem es sie ständig weiterentwickelt.
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Nachahmung in der Differenz und die ethische Dimension Die ethische Dimension ist vor allem in der Beschreibung von Foundation schon angeklungen. Gerade weil Breaking auf Nachahmung in der Differenz basiert, werden zweierlei Verpflichtungen besonders stark ge- und erlebt: 1. Die Tänzer und Tänzerinnen pflegen die Achtung vor den Urhebern von Moves und beschreiben den inneren Auftrag, die Bewegungen am besten authentisch kennenzulernen, ihnen nachzuforschen und sich die Geschichte dahinter anzueignen. Dies führt zu einer lebhaften Reise- und Austauschtätigkeit einer mittlerweile international stark vernetzten Szene. 2. Die Beteiligten fühlen sich verpflichtet, »etwas zurückzugeben«. »Each one teach one« gilt als Motto. Mit diesem Prinzip wird deutlich gemacht, dass man über die Tanzperformance und das Lehren die Kultur weiterträgt, dass jeder – ungeachtet seines Alters und seiner Erfahrung – jemandem etwas zeigen kann, wenn das tänzerisch qualitätsvoll, interessant und neu erscheint. Im Cypher können jederzeit Lehrer- und Schülerrolle wechseln.
Z um S chluss Das hier skizzierte Projekt ist in Hinblick auf die Theoriebildung im Prozess und noch nahe am Material angesiedelt. Bildungsprozesse im Breaking und insbesondere ihre ästhetische Dimension sind bisher in der Forschung noch kaum wahrgenommen worden. Über diese Forschungsprojekt sollen Einblicke in die Mikrostruktur performativer Aneignungsprozesse möglich und ihre Transformation von einem anfänglich flüchtigen Zustand des Werdens zu einer lokal homologen und global agierenden Kultur beschreibbar gemacht werden. Lernen und das Entstehen dieser kulturellen Praxis sind untrennbar miteinander verbunden. Als Keimzelle der Bildungsprozesse hat sich »Nachahmung in der Differenz« entpuppt. Von hier aus lassen sich viele weitere Aspekte beleuchten. Allein die über die Auswahl der Interviewpartner und -partnerinnen eröffneten Perspektiven auf Bildungsprozesse, wie die unterschiedliche Gestaltung des persönlichen Zugangs zum Breaking, Fragen von Gender und Migration, die Wahrnehmung von Generationswechseln in der Szene oder der Blick von innen oder außen auf sie versprechen Erkenntnisse zu den Bedingungen des Lernens und seiner selbstregulierenden Dynamik. Es ist naheliegend, die Beobachtungen und Analysen in dem hier beschriebenen Feld mit Studien in Beziehung zu setzen, die zu informellen Bildungsprozessen (z.B. Green 2002) oder auch zum Konzept der »Communities of Practice« (Lave/Wenger 1991) vorliegen und in weiterer Folge über die Bedeu-
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tung solcher Formen des Lernens für den formalen Bildungsbereich nachzudenken.5 »Teilhabe und Gerechtigkeit« beginnen schon bei der Wahrnehmung. Ein genauer Blick auf diese kulturelle Praxis trägt aus unserer Sicht auch dazu bei, Bildungsprozesse »von unten« ernst zu nehmen und sie als Teil einer Kultur zu verstehen, in der man bereits mit dem ersten Lernschritt zu ihrem Träger wird.
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5 | Seit der Erstveröffentlichung dieses Artikels sind weitere Texte mit ersten Ansätzen entstanden, diese Befunde in pädagogische Kontexte zu überführen (Rappe/Stöger 2014, 2016).
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Michael Rappe/Christine Stöger
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Transkulturelle Bildung im Musikvideo Kleidung als Transgression Nika Daryan/Birgit Althans
E inleitendes Das Nichtidentische (Adorno 1990) des Kulturellen tritt zunehmend in Erscheinung. Ontologische Bedingung von Transgressionen im Vollzug kultureller Bildung ist die natürliche Künstlichkeit (Plessner 1975) und die Habitualisierung »der Erkenntnis, dass die Natur selbst ein künstliches Terrain ist, das offen ist für immer neue Mutationen« (Negri/Hardt 2002: 227). Hierbei bezeichnet ›Transgression‹ das Moment der Verwandlung kultureller Bildung; dieses Moment ist zu beschreiben als eine mimetische Leistung in der praktischen Welterzeugung (Wulf 2014c). Jedoch steht das Präfix ›trans‹ nicht für die einfache Wiederholung oder Rückführung der Praxis auf den Bezugspunkt, sondern für die Verwandlung der Bezüge (Göhlich/Zirfas 2011) als Konstitution eines veränderten mimetischen Weltzugangs (Gebauer/Wulf 2003). Dieser Sachverhalt ist äußerst bedeutsam für die Konzeption eines Begriffs von Transkulturalität (Welsch 2001; Zirfas/Göhlich/Liebau 2006) und bezieht sich auf die verschiedenen Dimensionen des Kulturellen wie ethnische, sprachliche, nationalstaatliche, religiöse sowie geschlechtliche Elemente. Transkulturalisierung ist eine kontingente und emergente Verflechtung des Symbolischen, die sich auch als Transgression von Geschlechtlichkeit präsentiert und auf postfeministische Bewegungen verweist, da die geschlechtlichen Traditionen bildtechnologisch und losgelöst vom formalen Gender-Diskurs infrage gestellt werden. Um sich der (transkulturellen) Bildung einer ›postfeministischen Ästhetik‹ erziehungs- und bildungswissenschaftlich anzunähern, werden im Folgenden Fragmente kleidungspraktischer Genderinszenierung im Musikvideo explorativ skizziert.
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Nika Dar yan/Birgit Althans
K leidungspr a xis als G eschlechterinszenierung Die Medialität der Kleidung bzw. Mode wird im Zuge des 18. Jahrhunderts zunehmend als Transmission geschlechtlicher Identität pädagogisch problematisiert. Der Körper wird als Medium beschrieben, welcher zusammen mit seiner Kleiderhülle in der neu entstandenen Anonymität der bürgerlichen Öffentlichkeit als theatral agierender Zeichenträger (Sennett 1991) der Geschlechtlichkeit fungiert, wobei die Kleidung den Habitus markiert, verbirgt und erzeugt (Gebauer 1982). Auch Jean Jacques Rousseau beklagt in seinem ersten Bildungsroman Julie oder die neue Heloise die maskierende Funktion der Kleidung der Aristokratie in Paris, welche die sekundären Geschlechtsmerkmale zwar einerseits durch mechanische Gerätschaften wie Reifröcke und Mieder betont, andererseits dazu beiträgt, dass sich insbesondere die Frauen unter ihrer Kostümierung als Frauen in Gesten, Stimme und Blicken wie Männer benehmen und zu einem »Götzenbild der Mode« avancieren, das ihre natürliche Person verberge. »Ihre Größe, ihr Umfang, ihr Gang, ihre Brust, ihre Farben, ihre Miene, ihr Blick, ihre Reden, nichts von alledem gehört ihr […] und sähe man sie in ihrem natürlichen Zustande, man würde sie nicht erkennen« (Rousseau 1761/1988: 281). Er beklagt weiter: »Die Gesellschaft gibt ihnen gleichsam [insbesondere durch ihre Kleidung, B. A.] ein von dem ihrigen verschiedenes Wesen« (ebd.: 280f.). Und: »Meiner Meinung nach könnten sie hundertmal eher verdienstvollere Männer als liebenswürdige Frauenzimmer sein« (ebd.: 286). Die durch Rousseau in seinem zweiten Bildungsroman Emile oder über die Erziehung (1764/1971) etablierte Anthropologie verfestigt die modernen Geschlechterunterschiede (Althans 2000: 315ff.) und soll die von ihm in den Pariser Salons konstatierte Ähnlichkeit der Geschlechter bekämpfen. Die geschlechtliche ›Lesbarkeit‹ der Kleidung in Differenz zu der sich darunter befindlichen Person, die damit verknüpfte Differenz zwischen Schein und Sein wird somit durch Rousseau zu einem modernen Bildungsziel. Dieses Ziel wird durch qua Geschlecht differierende Kleidungsstile und durch den unterschiedlichen Gebrauch der Vorschriften und Adressierungen der Mode verwirklicht. Der dreiteilige Herren-Anzug wird als biegsame wollene Rüstung für jede Gelegenheit im Alltags- und Geschäftsleben etabliert, verändert seine Form über fast anderthalb Jahrhunderte kaum (Hollander 1995) und verweist damit auf die Beständigkeit des männlichen Charakters; während die Frauen mit ihrem flüchtigen und beeinflussbarem Wesen sich den ›Wellen‹ und wechselnden Stilen der Mode ausliefern, zugleich mit ihrem Gebrauch und ihrer Präsentation von modischen Kleidungsstücken mit ihrer Körperlichkeit spielen können (Vinken 2013). Materialität und Körperlichkeit verflechten sich mimetisch zu symbolischen Grenzen zwischen den Geschlechtern. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird das der Weiblichkeit zugesprochene ludische Element des Sich-Kleidens noch mehr als bisher zum »interdis-
Transkulturelle Bildung im Musikvideo
kursiven Kulturthema« und es entstehen »mediale und systemische Wechselwirkungen« (Wenrich 2015: 14) zwischen Kleidung und bildender Kunst, Film und Architektur, wodurch Kleidung als Mode in Erscheinung tritt und sich zunehmend transversale Praxen (Guattari 1976) des Sich-Kleidens konstituieren. »Kleidung, wenn sie zu Mode und damit zur kulturellen Praxis als ästhetische Übereinstimmung mit und Formensprache in einer jeweiligen Epoche wird, besitzt dann eine ihr eigene Medialität als Vermitteltheit. […] Die vestimentären Belege der Mode zeigen, dass sie in ihrer Medialität vor allem im 20. und frühen 21. Jahrhundert diskursive Umgebungen zusammen mit bildender, angewandter und darstellender Kunst als Referenz inszenieren und darin unterschiedliche Narrative des gesellschaftlichen Gefüges interpretieren« (Wenrich 2015: 15).
Mode als kulturelle Praxis wird zu »einer an der Kunst orientierten Performativität der Präsentation« (ebd.), insbesondere in ästhetischen Inszenierungen, die sich im Zuge des 20. Jahrhunderts zunehmend in Musikvideo-Formaten verdichten. Ein signifikantes Beispiel hierfür ist der ›King‹ Elvis Presley als ein Wegbereiter der bildtechnologischen Pop-Kultur. »Elvis Presleys vom Unterleib gesteuerte Sprünge, seine Tauch- und Kreisbewegungen, mit denen er in alle Richtungen vorstieß, verliehen der Ungeheuerlichkeit einer universellen Rock-’n-Roll-Bewegung materielle Substanz. Ein Körper, der die Gesetze der Konventionen wie der Schwerkraft überwinden kann, – so die Botschaft – ist eine Verheißung und ruft zur Nachahmung auf. Brisant an dieser Geste des Widerstands war jedoch, dass sie etwas Hybrides zelebrierte. Einerseits machte Elvis Presley die subversive Anziehungskraft der schwarzen Musikkultur sichtbar, die vor ihm im weißen Mainstream keine breite Aufmerksamkeit erhalten hatte. Er ahmte ganz bewusst die Gesten der schwarzen Bluessänger aus den Clubs vom Memphis nach und benannte dieses Vorbild auch öffentlich, doch die Einzigartigkeit dieser Diva bestand in der Art und Weise, wie er Rhythm & Blues, mit Country und Western, Hillbilly Rock und Gospels schwarzer wie weißer Couleur zu kombinieren verstand. Seine Musik war einzigartig, weil sie gerade nicht ethnisch eindeutig war, sondern auf kulturellem Crossover basierte – vor seinen Fernsehauftritten hielten viele DJs, die ihn noch nie gesehen hatten, für einen Schwarzen. […] Elvis Presley wurde aber auch deshalb zum Skandal, weil er in seiner Imitation schwarzer Sänger die Verkörperung männlicher Virilität mit weiblicher Verletzlichkeit, Zärtlichkeit und Liebenswürdigkeit verband. Wenn die Hüftschwünge und das laszive Spiel mit dem Mikrophon einem ungezügelten männlichen Sexualverlangen Ausdruck verlieh, so hatte die völlige Hingabe an das Publikum etwas Weibliches. […] In ›Hound Dog‹ singt er davon, daß er von einer Geliebten verletzt wurde. Er übernimmt hier als weißer Mann den Song einer schwarzen Sängerin, die von der Verletzung einer Frau durch ihren Geliebten berichtet, und macht damit von Anfang an klar, daß er – die Diva – zwischen den Feldern steht und sie alle in seiner Person zusammenhält. […] Die
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Nika Dar yan/Birgit Althans von ihm so selbstironisch und zugleich leidenschaftlich inszenierte Lust an exhibitionistischer Darbietung sprengte jeden ethnischen und geschlechtsspezifischen Gegensatz« (Bronfen 2002: 158).
Elvis Presley etabliert bei seinen frühen Auftritten durch seine exorbitante körperliche Darbietung auch die Erotisierung des ›kernigen‹ – wenn nicht ›kerligen‹ – Signalements männlicher Funktions- und Alltagskleidung wie eng an den Körpern anliegenden Jeans, dem unter dem offenen Hemd auf blitzendem weißem Unterhemd und der schwarz-ledernen Motorradjacke. Diese Kleidungspraxis wird später auch vom ›King of Pop‹ Michael Jackson bewusst zitiert. Die ›normalen‹ männlichen Kleidungstücke werden in der ästhetischen Inszenierung als Insignien einer ›normal-männlichen‹, heterosexuell orientierten Identität getragen, einer männlichen Identität, die angezogen wird – als ikonische Maske eines verborgenen Selbst. Die Kleidungsstücke dienen der identitätslogischen Transgression in ein Image, das vom Künstler körperlich aufgeführt und mithilfe der Hüllen, mit denen er seinen Körper umgibt, von anderen lesbar wird. Solch eine Transkulturalisierung bringt auch der ›Boss‹ Bruce Springsteen zum Ausdruck, als eine weitere Pop-Ikone heterosexueller weißer amerikanischer Männlichkeit. »Als in meinen Zwanzigern mein Song und meine Geschichte langsam Gestalt annahmen, suchte ich nach der Stimme, die ich mit der meinen vermischen könnte, um davon zu erzählen. Es ist der Moment, in dem man durch Kreativität und Willenskraft die widerstreitenden Stimmen der Kindheit zurückholen, umarbeiten und neu gebären kann, sie in etwas Lebendiges umformen kann, das voller Kraft ist und dem Licht zustrebt. Ich repariere, das ist Teil meines Jobs. Und deshalb zog ich mir, der ich mir im ganzen Leben nie die Hände schmutzig gemacht habe, die Kleider eines Fabrikarbeiters an, die Kleider meines Vaters, und ging zur Arbeit« (Springsteen zit.n. Ford 2016: 11).1
Tr ansgression von I dentität im M usik video – eine postfeministische P erspek tive ? Jens Balzer ist in Pop. Ein Panorama der Gegenwart (2016) ähnlichen Zusammenhängen zwischen aktuellen Pop-Musikstilen und deren Präsentation und ihrem Zusammenhang mit strukturellen Transformationen der Geschlechterinszenierung nachgegangen. Er zeigt – mit fundiertem Rekurs auf poststrukturale und aktuelle Gendertheorien – nicht nur die Reste der ästhetischen Inszenierung heroischer und postheroischer Männlichkeit im Pop (The Strokes, 1 | Ford, Richard (2016): Ein überwältigender amerikanischer Traum. Süddeutsche Zeitung 27.09.2016, S. 11.
Transkulturelle Bildung im Musikvideo
Rammstein und Bushido), sondern beschreibt am Beispiel von Beyonce, Lady Gaga und Helene Fischer »die Geburt eines nihilistischen Postfeminismus« (Balzer 2016: 10). Praxen des Sich-Kleidens sind neben dem »extremen musikalischem Eklektizismus« (ebd.), der »wie der Normalzustand einer musikalischen Gegenwart wirkt, in der alle Gattungsgrenzen, Traditionen vollständig verflüssigt sind« (ebd.) Fundament neuartiger Formen feministischer Praxen, beispielweise die Performance von Helene Fischer: »Zu Beginn des Konzerts trägt Helene Fischer eine den Po betonende Samtschlaghose in Sauerkirschrot sowie eine teiltransparente Netzbluse, unter der kein Büstenhalter zu erkennen ist; ihre Brüste kaschiert sie stattdessen durch eine Applikation durch Hahnenfedern. Zu dem vierten Stück ›Mitten im Paradies‹ kleidet sie sich in ein knappes schwarzes Sporthöschen, während ihre Tänzer in Boxershorts und mit bloßem Oberkörper um sie herumhüpfen; das Paradies scheint sich Helene Fischer mithin als eine Art niemals endenden Fitnesskurs mit halbnackten Männern vorzustellen. Zu dem fünften Stück ›In diesen Nächten‹ zieht sie sich einen Lederrock an, der farblich an alte englische Sofas erinnert; er ist dermaßen eng, dass es Fischer schwerfällt, damit zu laufen, und sie im Folgenden zumeist auf einem Laufband über die Bühne bewegt werden muss« (ebd.: 207).
Helene Fischer inszeniert sich keineswegs nur als heterosexuelle, männliche Phantasien bedienende vestimentäre Projektionsfläche, sondern setzt, ähnlich wie Bruce Springsteen, mit ihrer Kleidungspraxis und ihrem akrobatischen Tanz »auf die Ästhetik des ›hard working girl‹« (ebd., 2016, S. 209). Sie ist stolz darauf, dass sie in der Darbietung körperlicher Verausgabung live singen kann und hierbei an den frühen Elvis Presley erinnert. Indem sie Medleys aus Queen-Songs wie We are the Champions präsentiert und dabei »mit dramatischer Geste den ersten großen offen schwul lebenden Rockstar Freddie Mercury« (ebd.: 212) performativ interpretiert erzeugt sie mit ihrer Kleidungspraxis eine transversale Geschlechterinszenierung, die auch mit der einzigartigen Kleidungspraxis von Lady Gaga als Prototyp postfeministischer Ästhetik amalgamiert. Von Jens Balzer in einem Interview gefragt, ob dies mit Absicht geschehe, antwortet sie mode- und stilorientiert: ›Das war eher Zufall. Mir stehen solche Schultern, die ein bisschen extremer ausgepolstert sind, und dann war das komplett mit Glitzer‹. […] Andererseits freute Fischer sich über die Aufmerksamkeit, die ihr dank solcher exaltierten Kostüme aus queeren Publikumskreisen entgegengebracht wurde: ›Herrlich, das ist echt irre, wie sich mein Publikum in den letzten Jahren verändert hat! Da ist alles dabei. Auch Schwule und Lesben. […] Ich kann nicht sagen, dass das bewusst gesteuert ist. Aber es hat mit dem Outfit, mit der jeweiligen Choreographie zu tun‹« (Fischer zit.n. Balzer 2016: 212).
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Balzer interpretiert dies als hegemoniale Transgression und Ausübung ästhetischer Herrschaft im Universum des Pop in Form eines »endlose[n] Spiel[s] mit Pop-Zitaten […]. Für Fischer geht es vor allem darum zu zeigen, dass alles, aber auch wirklich alles, zu ihr passt – und das heißt: dass alles sich restlos ihrer ästhetischen Herrschaft untertan machen« lässt (ebd.: 212ff.). Und er schließt daraus auf seine These eines durch Fischer personifizierten und für ihre Karriere instrumentalisierten ›nihilistischen Postfeminismus‹: »So werden die Elemente einer queeren oder anderweitig transgressiven Ästhetik, mit denen Helene Fischer ihre Shows, ihre Selbstinszenierung und ihr Körperbild schmückt. Einerseits in den Mainstream gehoben als etwas, an dem auch der gemeine Schlagerfreund seinen Spaß haben kann – was sich als Fortschritt werten lässt. Indem Fischer jenen Elementen andererseits einen klar definierten Platz in einem nur von ihr beherrschten Rollenspiel zuweist, bereinigt sie diese gründlich von jedem politischen Gehalt und damit auch von jeder dauerhaften Bedeutung; die Position der vollendeten weiblichen Souveränität über den Pop erringt sie gewissermaßen mit den Mitteln eines nihilistischen Postfeminismus« (ebd.: 214f.).
Das im Musikvideo auch politisch-postfeministisch performt wird, zeigt die britisch-tamilische Sängerin und Rapperin M.I.A. (Mathangi Maya Arulpragasam). Nach eigener Aussage wird sie an der Universität ausgegrenzt, weil sie sich »mit den alten Feministinnen« (M.I.A. zit.n. Gross 2016: 13) anlegt.2 »Deren Diskussionen fand ich stinklangweilig und ermüdend, also habe ich Rap-Videos ins Seminar gebracht, in denen haufenweise nackte Frauen rumrannten. Das empfand ich als eine interessantere Grundlage für feministische Diskussionen. ›Okay, dieses Video läuft bei MTV rauf und runter, denn es gibt jetzt diesen Sender MTV. Mit den Körpern dieser Mädchen wird haufenweise Kohle gemacht!‹ Da ist all diesen Superintellektuellen die Brille runtergefallen« (ebd.). In ihrer ästhetischen Inszenierung, wie etwa im Musikvideo Bad Girls (2012), setzt sie neben ihrem Gesang ihren eigenen, durch transkulturelle Kleidung gleichzeitig dezent verhüllten wie provokant – mit Metall-Bustier à la Madonna – inszenierten Körper ironisch ein. Sie präsentiert zusammen mit anderen Tänzerinnen mimetisch verfremdete Zitationen ›orientalischer‹ Männlichkeit und rahmt und karikiert damit klischeehafte Inszenierungen als transversales Imponiergehabe (Bild 1). M.I.A. weiß um die Mächtigkeit digitaler Bilderwelten – die »Sprache der Tweets und Facebook-Posts bestimmen den Diskurs« (ebd.). Im Musikvideo Borders (2016), als eine ästhetische Inszenierung von Flucht-Momenten, fragt sie nach dem Sinn von Grenzen – »Borders, 2 | Gross, Torsten (2016): »Ich bin alles und nichts«. Die Sängerin M.I.A. über die verschiedenen Gesichter des Rassismus, die Macht des Internets sowie den Brexit und seine Folgen. Süddeutsche Zeitung 09.09. 2016, S. 13.
Transkulturelle Bildung im Musikvideo
whats up with that?« – und performt Nichtidentisches und Transversales. Sie instrumentalisiert in der bildtechnologisch erzeugten ästhetischen Inszenierung ihres Körpers und ihrer Kleidung kulturelle Identität und begegnet gewaltförmigen Distinktionen, die sie aufgrund ihres Aussehens und ihrer Herkunft selbst erfahren hat – in Sri Lanka als Tamilin, in Indien aufgrund ihrer Kaste, in England aufgrund ihrer sozialen und ethnischen Herkunft – mit ihrer postfeministischen Ästhetik. »Identität unterliegt einem stetigen Wandel, sie ist sowohl von der Perspektive der anderen abhängig wie von meiner eigenen. Und diese Perspektiven können sich jederzeit ändern. Jeder von uns kann vom einen auf den anderen Moment gezwungen sein, woanders hinzugehen. Weil man ausgebombt wird oder schlicht und ergreifend keine Wahl hat. Aus wirtschaftlichen Gründen, der Ausbildung, des Jobs oder der Kinder wegen. Es gibt keine Sicherheiten, alles ist immer in Bewegung. Und diese ständigen Veränderungen beeinflussen den Charakter, die Identität« (ebd.).
Bild 1: Lady Gaga/Helene Fischer/M.I.A.// Bildkonfiguration, Musikvideos-Screenshots-Zuschnitte/2016
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Tr anskultur alisierung der G eschlechtlichkeit im M usik video Transkulturelle Bildung im Musikvideo als aktuelle Arena ästhetischer Inszenierung (Zirfas 2015) hebt die Relation zwischen Körper, Kleidung und Geschlecht hervor. Bildtechnologisch konstituieren sich weitere Orte, welche als mimetische Weltzugänge (Gebauer/Wulf 2003) bildend sind. Folglich ist die Musikvideo-Praxis auch als Technologie der Geschlechtlichkeit (Lauretis 1987) zu begreifen. Die kleidungspraktische Transgression im Musikvideo verweist auf eine Unordnung geschlechtslogischer Kategorien. Diese Verwandlung geschlechtslogischer Kategorien lässt sich mithilfe mediologischer Heuristiken erziehungs- und bildungswissenschaftlich verorten (Daryan 2017). Mediologisch (Debray 2003, 2007, 2008) bedingt die mediale oder technische/technologische Beschaffenheit eines Gegenstands auch immer den Inhalt. Im Sinne Marshall McLuhans (1994) ist das Medium die Botschaft. D.h., dass die vorgestellten transversalen Kleidungspraxen und die Konstitution transkultureller Bildung erst im Medium des Musikvideos möglich werden und mediologisch evident ist, dass sich ohne diese Bildtechnologie keine geschlechtslogische Transkulturalisierung vollzogen hätte. Die Figurationen verwirklichen sich erst in der bildtechnologisch erzeugten Medialität des Musikvideos oder sie instituieren sich erst in diesem bestimmten Klangbildraum (Keppler 2006). Transkulturelle Kleidungspraxen sind auch mimetische Begegnungen mit dem anderen Geschlecht, die eine kreative Anähnlichung an das weibliche oder männliche Andere, ohne Aufhebung der Differenz ermöglichen. Die Plastizität des eigenen Körpers (Althans 2014) wird sichtbar und ludisch erfahrbar (Gebauer/Wulf 2003). Die modische oder kleidungspraktische Bildung von Geschlecht verweist auf eine Emanzipation von Individuen gegenüber traditionellen Geschlechterrollen, auf Formen der Inkorporierung des geschlechtlich Anderen – es findet eine Überwindung traditioneller Distinktionen (Bourdieu 1987) statt und eine Zunahme ästhetischer Komplexität breitet sich aus, die neue Formen von Weiblichkeit, Männlichkeit und Neutralität/Androgynität entstehen lässt. Transkulturelle Kleidungspraxen in der mimetischen Bezugnahme auf Figurationen von Körperbildern in Musikvideos, sind Formen eines Körperlernens (Althans 2009), die die Habitualität erweitern (Daryan 2017) und ein ästhetisches Wissen bezüglich geschlechtslogischer Figurationen, beispielsweise bezüglich dualistischer Formen von Geschlechtlichkeit inkorporierbar wird. Eine Bedingung der kleidungspraktischen Auflösung einer dualistischen Geschlechtslogik in ästhetischen Inszenierungen ist die strukturelle Etablierung modischer Kompetenz (Lehnert 2013). Der Begriff der modischen Kompetenz verweist darauf, dass Kleidungspraktiken vorrangig in ihrer ästhetischen Wirksamkeit wahrgenommen und auch als ludische Praxen der reflexiven Aushandlung für die Konstitution von neuen Geschlechtsfigu-
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rationen habituell instrumentalisiert werden – hierbei bezeichnet transkulturelle Bildung von Geschlechtlichkeit Prozesse, in denen männliches und weibliches nicht mehr kategorisch voneinander getrennt werden können. Damit löst sich die traditionelle Funktion von geschlechtsbildenden Kleidungspraxen und die damit einhergehende Macht symbolischer Ordnungsmuster der Moderne auf. Diese fungieren nicht mehr als Repräsentation von Weiblichkeit oder Männlichkeit, sondern als Präsenz ästhetischer Differenzen (Gumbrecht 2012) transkultureller Identitäten. Transgression im Musikvideo als bildtechnologische Transformation symbolischer Ordnungsmuster verweist auf die Auflösung eines dualistischen Verständnisses von Geschlechtlichkeit. Die traditionellen geschlechtslogischen Kategorien (Daryan/Kraus 2013) verwandeln sich von einer dualen Ordnung hin zu einer komplexen Ordnungsmatrix; diese chaotische Ordnungsmatrix (Guattari 2014) lässt sich nicht mehr nur mit einer modernen feministischen Infragestellung patriarchaler Hegemonie begreifen, die sich im Zuge den 20. Jahrhunderts in politischen Diskursen etabliert hat, indem frauenfeindliche und weiblichkeitskonstruierende Dimensionen bestimmter weiblicher (Kleidungs-)Praxen fokussiert werden. Denn im Musikvideo wird keine geschlechtslogische Kritik an habitueller oder alltäglicher Kleidung inszeniert, sondern die ästhetische Reinterpretation im Medium (Hörl 2011), die Inszenierung einer imaginären Figur, in der Geschlecht ein Element der künstlerischen Komposition ist, vollzieht sich. Diese Reinterpretation ist zu begreifen als eine ästhetische Mündigkeit (Zirfas 2009) und nicht als ein geschlechtslogischer Wiederstand. Denn die geschlechtslogische Transgression in der ästhetischen Inszenierung wird im Vollzug mimetischer Bezugnahmen zu einer zunehmenden transkulturellen Reorganisation männlicher und weiblicher Strukturmuster führen, so die abschließende These. Imaginationstheoretisch (Castoriadis 1990; Kamper 1986, 1990; Wulf 2014a) haben die Imagination und das Imaginären in bildtechnologischen Formaten (Pfeiffer 1999, 2006: 233) wie auch Musikvideos eine besondere Mächtigkeit im Gegensatz zum Theater als eine normative Technik kultureller Bildung. Durch den informellen Charakter bildtechnologisch erzeugter Pop-Kulturalität entstehen Freiräume und Leerstehlen, die mimetische Prozesse ermöglichen, sodass die unnormative oder untraditionelle Strukturierung der Bildung in der digitalen Welt (KMK 2016) nicht als ein Mangel an ästhetischer Rahmung, sondern als aktuelle Potenzialität von Kreativität zu qualifizieren ist; denn nur in der Hegemonie eines engen Ästhetik-Verständnisses ist eine bestimmte geringe ästhetische Rahmung evident (Daryan 2017). Diese These ist insoweit erziehungs- und bildungswissenschaftlich bedeutsam, da die schulinstitutionelle Realität immer noch vom Menschenbild (Wulf/ Zirfas 2014b) beherrscht wird, dass geschlechtslogische Kleidungsformen
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a priori gegeben sind und, dass Geschlecht und damit geschlechtslogische Praktiken geschlossene und biologisch legitimierte Kategorien sind. Dadurch wird schulinstitutionell ein naives modisches Bewusstsein erzeugt. Das Spannungsverhältnis zwischen formaler Institutionalität als Orte eines dualistischen und homogenen Verständnisses von Geschlecht und informellen Orten wie Musikvideos als Technologien transversaler Geschlechtlichkeit konstituiert Ambivalenzen; die Gleichzeitigkeit von neuartigen bildtechnologischen Ästhetiken und formaler Ästhetik kann gewaltförmig sein (Daryan 2016), da sich in beiden Atmosphären (Böhme 1995) geschlechtslogische Setzungen vollziehen. Folglich verweisen aktuelle geschlechtslogische Praktiken darauf, dass nicht die Distinktionskraft von Kleidungspraxen schwindet, sondern sich auf eine neue Art und Weise zuspitzt. Denn parallel zu der Verflüchtigung verfestigen sich weitere kleidungsgegenständliche Distinktionspraxen. Die Kontingenz und Emergenz der Genderinszenierung, die sich im Tragen von Kleidungsstücken manifestieren, verdichten sich als bildtechnologische Präsenz und zeigen, dass Geschlecht nicht nur eine biologische, religiöse oder nationale Bedingung ist, sondern vielfältig ästhetisch inszeniert wird und Menschen prinzipiell oder potenziell imstande sind einen individuellen Bezug zur geschlechtslogischen Strukturierung des Selbst-, Anderen- und Weltverhältnisses (Kokemohr 2007; Koller 2012; Ricken 2006) zu setzen und damit auch zwangsläufig ein Verständnis für Transkulturalität zu bilden. Die formal legitimierte Macht bestimmter Kleidungspraxen, als konstitutives Element für die Reproduktion einer bestimmten symbolischen Ordnung, wird in Musikvideos ästhetisch infrage gestellt. Im Zuge dieser informellen Infragestellung wird ein Umgang mit neuen Formen von Geschlechtsidentität zu einer weiteren Herausforderung innerhalb (trans-)kulturellen Bildung und erfordert ein pädagogisches Verhältnis zu transversalen Kleidungspraxen. Eine schulinstitutionell gerahmte (transkulturelle) Bildung im Musikvideo als aktuelle Form kultureller Bildung zeigt sich aus der vorgestellten Perspektive als Möglichkeit ein transkulturelles Verständnis von Kleidung zu bilden, um stärker als bisher Differenz und Alterität schulinstitutionell sichtbar zu machen. Die Habitualisierung von Geschlechterinszenierungen in einer transkulturellen Atmosphäre instituiert kein dualistisches Verständnis von Geschlechtlichkeit in Form einer harten und geschlossenen in sich homogenen und abgrenzenden Gegenüberstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit. Durch die pädagogisch gerahmte Bildung der natürlichen Künstlichkeit kann dem »Druck globaler Uniformisierungsprozesse« (Wulf 2014b: 78) entgegenwirkt werden. Somit können transkulturelle Kleidungspraxen zu Förderung von Inklusion beitragen. Die erziehungs- und bildungswissenschaftliche Analyse von Musikvideos ermöglicht es, Bildung in der digitalen Welt stärker als es bisher geschehen ist in den aktuellen Diskurs zur Kulturellen Bildung zu inkludieren. Die vornehmlich in der digitalen Welt etablierte Bezeichnung
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Gender Bending, als eine mächtige symbolische Kategorie, zeigt, dass ästhetische Modelle Kultureller Bildung der digitalen Beschleunigung (Virilio 1998) symbolischer Figurationen Rechnung zu tragen haben.
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Bildung im Supermarkt Eine pädagogische Lektüre von David Wagners Roman ›Vier Äpfel‹ André Schütte »Alle Wege von 68 führen letzten Endes in den Supermarkt.« (Peter Sloterdijk)
In ihrem kürzlich erschienenen Aufsatz ›Halbbildung im Supermarkt‹ üben Daniel Burghardt und Jörg Zirfas ›Kritik an der kulinarischen Entmündigung‹, wie es im Untertitel heißt. Ihr Verdacht lautet, dass heutige Konsumenten tendenziell daran gehindert würden, einen eigenständigen und kreativen Umgang mit Nahrungsmitteln kultivieren zu können. In dezidiert ideologiekritischer Absicht beziehen sich die Autoren in ihrer Analyse auf die Bildungs- und Ökonomiekritik Theodor W. Adornos und dessen Rede von der Hallbildung als vom Fetischcharakter der Ware ergriffenem Geist. »Die These lautet nun, dass der Käufer im Supermarkt heute mit Lebensmitteln konfrontiert ist, die ganz ›Geist‹ geworden zu sein scheinen, weil sie nach dem reinen Fetisch des Marktes fast als bloße Zeichenträger funktionieren« (Burghardt/Zirfas 2016: 246). Nahrungsmittel würden qua ›Warenästhetik‹ zu »metaphysische[n] Medien« (ebd.: 248), die den Konsumenten systematisch um das betrügen, was sie ihm versprechen: (kulinarische) Mündigkeit. Burghardts und Zirfas’ Conclusio lautet: »Es gibt kein richtiges Einkaufen im falschen Supermarkt« (ebd.: 261). In einem Vortrag Adornos mit dem Titel ›Kultur und Culture‹ findet sich folgende bemerkenswerte Passage, in welcher der Autor über seine Erfahrungen in Amerika spricht: »Kommt man nach Amerika, so ist wahrscheinlich doch eine der stärksten Erfahrungen die überwältigende Fülle von Gütern, die einem dort angeboten wird. […] Es steckt darin etwas vom Schlaraffenland. Sie müssen nur einmal durch einen sogenannten SuperMarket […] gehen […] und Sie werden irgendwie – das Gefühl mag noch so trügerisch und oberflächlich sein –, Sie werden das Gefühl haben: es gibt keinen Mangel mehr, es
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André Schütte ist die schrankenlose Erfüllung der materiellen Bedürfnisse überhaupt« (Adorno 2003: 64f.).
Bei aller von Adorno bekannten kritischen Reserve gegenüber dem ›Bestehenden‹ kann er dem Bestehen von Supermärkten durchaus etwas abgewinnen. Sie sind nicht nur ›falsch‹. In Supermärkten steckt auch etwas vom Schlaraffenland. Dieses stellt bekanntlich nicht nur eine kulinarische, sondern auch eine soziale Utopie dar: eine Welt ohne materiellen Mangel. Adorno geht noch einen Schritt weiter. Er mahnt sein deutsches Publikum, dieses im Supermarkt verkörperte Ideal vom Schlaraffenland keineswegs bloß exklusiv dem american way of life zuzuordnen. Er fährt fort: »Aber hier sollten wir uns sehr ernst fragen: enthält nicht alle Kultur in unserem europäischen Sinn, dem der geistigen Kultur [sic] etwas wie eine Anweisung auf diese utopische Erfüllung« (Adorno 2003: 64)? Für Adorno verweist auch das europäisch geprägte Verständnis von Kultur auf die Idee einer ›schrankenlosen Erfüllung der materiellen Bedürfnisse überhaupt‹. Diese Idee manifestiert sich – unter anderem auch – im Supermarkt. Meine Fragen lauten: Was bedeutet dies nun für die Idee der Bildung, die Adorno ja bekanntlich als »Kultur nach der Seite ihrer subjektiven Zueignung« (Adorno 1975: 67) bestimmt? Gibt es vielleicht doch ein richtiges Einkaufen – oder, wie ich sagen möchte: Konsumieren im Supermarkt? Wie realisiert sich Bildung im Supermarkt? Um diese Fragen beantworten zu können, werde ich jedoch die Gefilde der Kritischen Theorie verlassen und einige zeitgenössische kulturwissenschaftliche Ansätze und Methoden heranziehen. Meine These ist, dass der Supermarkt spezifische Möglichkeiten von Bildung eröffnet, die ich ›konsumästhetisch«‘1 nennen möchte. Zuerst werde ich den konsumtheoretischen Standpunkt erläutern, aus dem heraus ich argumentiere und der zugleich eine Bestimmung des Supermarkts als konsumkulturellen melting pot zulässt. Sodann werde ich anhand der Lektüre eines literarischen Beispiels2 1 | Die Rede von Konsum- statt von Warenästhetik hat Gründe, die Heinz Drügh treffend bestimmt: »Anders als beim Begriff der Ware, mit dem man ein Objekt fokussiert, nimmt man mit dem Konsum darüber hinaus immer auch Handlungsformen sowie eine Sphäre in den Blick, die von Waren und ihrer Aneignung geprägt ist« (Drügh 2015: 78). 2 | Zur Methodologie und dem epistemologischen Status ›pädagogischer Lektüren zeitgenössischer Romane‹ vgl. vor allem Koller 2014 und Rieger-Ladich 2014. Kollers und Rieger-Ladichs Spur möchte ich im Folgenden aufnehmen, sie jedoch anders akzentuieren: Beide gehen davon aus, dass literarische Texte vor allem »das Scheitern von Erziehung und Bildung bzw. die Diskrepanz zwischen pädagogischen Aspirationen und den tatsächlichen Folgen erzieherischen Tuns« thematisieren, während pädagogische Texte »das Gelingen pädagogischer Bemühungen« (Koller 2014: 343) fokussierten. Im Hinblick auf das hier zu behandelnde Thema stellt sich der Sachverhalt aber genau um-
Bildung im Supermarkt
den spezifischen Erfahrungen nachgehen, die Supermärkte ermöglichen, um diese dann schließlich bildungstheoretisch zu deuten.
K onsumästhe tik und S upermark t Die ›Kritik der Warenästhetik‹ hat eine lange Tradition. Der gleichnamige stilbildende Verkaufsschlager stammt von dem Philosophen Wolfgang Fritz Haug. Dieser geht davon aus, dass die Ästhetik der Waren – ihre Verpackung, Werbung usw. – auf ein »Gebrauchswertversprechen« (Haug 1971: 17) bezogen ist, das freilich nicht erfüllt wird. Insofern erzeuge Warenästhetik »Schein, auf den man hereinfällt« (ebd.: 152f.). Dem Kunstsoziologen Wolfgang Ullrich zufolge laufe dieser Ansatz heute in die Leere, da er die spezifische Struktur zeitgenössischer Waren verfehle. Haug stehe in einer bis auf Platon zurückreichenden Traditionslinie, die nicht zwischen Lügen und Fiktionen unterscheide: »Sind die Lügen, die der Werbung vorgehalten werden, nicht in Wahrheit Fiktionen, die, ähnlich wie das bei den Künsten der Fall ist, wichtige Funktionen erfüllen« (Ullrich 2009: 15)? Ullrich geht davon aus, dass Kaufentscheidungen heute weniger vom Gebrauchswert der Waren abhängig gemacht würden als vielmehr davon, was er deren ›Fiktionswert‹ nennt: Produkte »weisen als Teil eines Lebensstils oder Zeitgeists über sich hinaus, mit ihnen werden gezielt Assoziationen geweckt. Damit aber bieten sie Inszenierungen von Emotionen, Handlungen, Situationen […]. Sie sind – auf welchem Niveau auch immer – genauso eine Leistung der Einbildungskraft wie der Plot eines Films oder eine Romanfigur« (Ullrich 2013: 10).
Und so betont auch der Literaturwissenschaftler Heinz Drügh, »wie sehr Waren, ihre Bilder und ihr Konsum eine kulturbildende, -ordnende und -interpretierende Funktion besitzen« (Drügh 2015: 14). Der Supermarkt mit seiner Warenfülle stellt nach Drügh in diesem Zusammenhang daher einen besonderen Ort dar, weil er eine »Blaupause unserer Wünsche und unserer sozialen Existenz« (ebd.: 56) darstellt: »Waren sind […] gute Indikatoren für die Kräfte einer Kultur, denn es gibt sie doch nur so lange, wie Menschen sie kaufen, und das heißt in der Konkurrenz unzähliger ähnlicher Produkte etwas Spezielles mit ihnen verbinden« (ebd.: 77). gekehrt dar: Pädagogische Texte betonen eher die Unmöglichkeit oder zumindest Unwahrscheinlichkeit ›richtigen Konsumierens‹ (vgl. neben Zirfas/Burghardt auch etwa Liessmann 2014). Das irritierende Potenzial des gewählten literarischen Beispiels besteht daher darin, dass er dort Hinweise auf gelingende pädagogische Prozesse gibt, wo Pädagogen nur deren Scheitern konstatieren können.
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Insofern ist der Supermarkt mehr als eine »Nahrungskonsumanstalt« (Burghardt/Zirfas 2016: 245). Er ist ein komplexer, weil ambivalenter Ort: Einerseits kann er als Ort dystopischer Entfremdung und Unfreiheit, andererseits als Ort utopischer Erfüllung materieller Bedürfnisse wahrgenommen werden.
›V ier Ä pfel‹ von D avid W agner Die Handlung von David Wagners Roman 4 Äpfel vollzieht sich an einem Ort. Zu Romanbeginn durchtritt der Ich-Erzähler die Schiebetür eines Berliner Supermarktes, um diesen erst am Ende des Romans wieder zu verlassen. Dazwischen folgt man dem inneren Monolog des Erzählers beim Durchqueren des Marktes. Seine Gedanken umkreisen den Supermarkt und dessen Warenwelt. Diese veranlasst ihn dazu, Reflexionen über sich selbst und den Kulturzustand im Allgemeinen anzustellen, sich seiner Kindheit und der verflossenen Liebe zu L. zu erinnern. Im Roman finden sich aber auch 52 Fußnoten. Sie dienen dazu, das im Basistext Ausgedrückte anekdotisch auszuschmücken oder mit intersubjektiv überprüf baren Informationen anzureichern. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass dieses eigentümliche Schwanken zwischen (subjektiver) Involviertheit und (objektivierender) Distanziertheit nicht nur die erzähltechnische Ebene des Textes, sondern auch das Verhältnis des Erzählers zum Supermarkt, seinen Produkten und dem Konsum charakterisiert. Dem Erzähler zufolge lasse sich am Supermarkt und seinem Warenangebot »der Geisteszustand unserer Kultur« (Wagner 2009: 115) ablesen. Weil in Supermärkten alles zu finden ist, »womit und wovon wir leben« (ebd. 96), seien diese die »genauesten und detailliertesten Abbilder« unserer Zeit. Der Erzähler imaginiert Folgendes: »Auf einmal sehe ich, woher die Dinge kommen, die Kiwis aus Neuseeland, die Erdbeeren aus Andalusien, ich sehe einen Trickfilm der Handelswege und Warenströme« (ebd. 63). Und so bildet der Supermarkt auch ein Abbild der Problemlagen des Zeitalters, denen es sich zu stellen gilt: »Auf den Regalen findet sich die halbe Welt, wer hier einkauft, darf kein Globalisierungsgegner sein, und ich ahne schon, gleich befällt mich wieder mein schlechtes Gewissen, daß ich mir mein Obst und Gemüse nicht selber anbaue« (ebd.). Diese Aussteiger-Phantasie bleibt jedoch Andeutung. Der Erzähler bekennt, dass er »kein einziges dieser Produkte selbst herstellen« könne und »ohne den Supermarkt […] verhungern« (ebd. 64) müsste. Die eigentümliche Spannung in der Haltung zwischen Faszination und kritischer Distanz dem Supermarkt gegenüber drückt sich beim Erzähler, der vielleicht auch Adorno-Leser ist, so aus: »ich bin im Schlaraffenland, alles ist da. So viel zu essen, und ich habe gar keinen Hunger, so viel zu trinken, und ich habe gar keinen Durst« (ebd. 12).
Bildung im Supermarkt
Welche Bedeutung haben nun Produkte und deren Konsum für den Erzähler? »Ich weiß nicht mehr, wie ich heiße und wie alt ich bin« (ebd. 62), bemerkt Wagners Erzähler mehrmals. Tröstlich stellt er jedoch fest: »meine Marken sind noch bei mir« (ebd. 69) – und er ist vermittels der Marken auch bei sich. Für Wagners Erzähler stellen die Supermarktprodukte »emotionale Biografiemarker« (Ullrich 2013: 10) dar, die zum einen der Selbstvergewisserung, zum anderen auch dem Spiel mit der eigenen Biografie dienen. Produktkonsum bringt aber nicht nur Identität und eine individuelle Biografie hervor. Er hat nicht nur eine kommunikative, sondern auch eine sozial-distinktive Funktion. Der Erzähler berichtet davon, dass der Geruch von Weichspüler ein »Sozialindikator« sei: »ab einem bestimmten Bildungsniveau sei Weichspüler verpönt«, habe ihm L. berichtet (Wagner 2009: 87). In Produkten »verdichtet sich Lebenserfahrung« (Ullrich 2013: 10): Beim Anblick einer Packung Spinat befallen den Erzähler die spezifischen Entfremdungsängste und Desolidarisierungserfahrungen, die klassischerweise mit dem Kapitalismus und der wissenschaftlich-technologischen Zivilisation verbunden werden: »Spinat, so vermutete ich als Kind, ist wahrscheinlich gar kein Gemüse, denn es kommt aus keinem Garten, sondern wird, deshalb ist es schließlich tiefgefroren, in einer Fabrik produziert – woraus, wollte ich nicht genau wissen. Es mußte etwas sein wie Soylent Green, und Soylent Green ist Menschenfleisch, erfuhr ich, Jahre später, aus dem gleichnamigen Film« (Wagner 2009: 17).
Wagners Erzähler hat also ein reflektiertes und differenziertes Verhältnis zum Konsum. Auf der anderen Seite stößt er auf Produkte, die für genau solche Konsumenten konfektioniert zu sein scheinen: »Ich glaube, ich habe noch nie so natürlich und echt wirkende Eier gesehen, sie müssen von sehr glücklichen Hühnern stammen […]. Ich möchte sie haben, diese Eier« (ebd. 114). Die von solchen Produkten ausgehenden Appelle lösen bei Wagners Erzähler jedoch auch Gefühle moralischer Überforderung aus: »Kaufe ich richtig ein? Kaufe ich das Richtige? Kaufe ich gerecht? […] Ist das Produkt recycelbar? Wurde es kohlendioxidneutral produziert? Ist es chlorgebleicht? Genverändert? Unter Verwendung von Tropenholz hergestellt« (ebd. 66f.)? Anders als Zirfas und Burghardt geht Wagners Erzähler sehr wohl davon aus, dass es ein richtiges Einkaufen im Supermarkt gibt. Dieses richtige Einkaufen wird von ihm mit ganz bestimmten Kriterien assoziiert, die um den Topos ›Nachhaltigkeit‹ kreisen. Und mehr noch: Wagners Erzähler nimmt das richtige Einkaufen gar als eine moralische Pflicht wahr, was ihn zu einer rigorosen Selbstprüfung und Selbstermahnung motiviert: ›Kaufe ich richtig ein? Kaufe ich das Richtige?‹ Beantworten kann der Erzähler diese Fragen freilich nicht. Er weiß aber von L., dass es innerhalb der »besten Kreise der Umwelt-
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avantgarde« (ebd. 87) zu einer wachsenden Nachfrage nach indischen Waschnüssen gekommen sei, was dazu geführt habe, dass die dortige Landbevölkerung preisanstiegsbedingt »inzwischen auf ganz gewöhnliche, am Ende nicht einmal phosphatfreie Waschmittel umgestiegen sei« (ebd. 87). Dies bringt ihn auf die Idee, wem und wozu die Moralisierung des Konsums auch dient: »In einem Bioladen kaufe ich mich von meinem schlechten Gewissen frei« (ebd. 67). Produkte und ihre Fiktionen nähren bei Wagners Erzähler nicht nur die Hoffnung auf eine bessere Welt mit leichterem Gewissen, sondern lassen ihn auch ein anderes Leben imaginieren. Mit einem Ice-Crusher etwa verbindet der Erzähler eine ebenso tröstliche wie grundlegende Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen: Er fragt sich bei dessen Anblick, »ob sich mein Leben beim Kauf eines solchen Geräts nicht völlig ändern müßte. Bis kurz davor hatte ich zwar nicht gewußt, daß mir ein Ice-Crusher fehlte, schon aber sah ich L. und mich mit Mojitos in der Hand auf dem Deck einer Yacht […], der neue Ice-Crusher als Talisman des schönen Lebens mit auf dem Bild« (ebd. 88). Ein digitales Springseil hat – um ein letztes Beispiel zu nennen – einen so hohen Fiktionswert für den Erzähler, dass sich vor seinem inneren Auge eine filmisch-traumähnliche Sequenz entwickelt: »Noch bevor ich es durch die transparente Blisterverpackung näher gemustert hatte, sah ich mich schon in professioneller Sportbekleidung, die ich gar nicht besitze, verschwitzt im Keller eines Hauses, das ich gar nicht kenne, im Übungsraum trainieren, sah mich in einem engen T-Shirt, unter dem sich meine Bauchmuskeln wie Heizrippen abzeichneten, mit muskulösen Oberschenkeln und Waden, wie ich sie gar nicht habe, hinauf in einen hellen Wohnbereich kommen, sah mich, mir selbst nur ganz entfernt ähnlich, in einem völlig anderen Leben und hörte mich zu einer mir unbekannten blonden Frau, die in einer offenen, amerikanischen Küche stand, Hallo Liebling sagen. Diese meine Gattin, die nichts, aber auch gar nichts mit L. gemeinsam hatte und mich auch Liebling nannte, fragte dann, ob ich nicht einen Teller Gazpacho essen wolle. Ja, sagte ich in dieser Phantasie, und schon im nächsten Augenblick sah ich uns beide halbnackt auf der Küchenarbeitsfläche liegen, erstaunt, daß ich weder wußte, wann wir geheiratet hatten, noch woher wir uns kannten und in welchem Jahr wir in dieses Haus gezogen waren […]. Überhaupt keine Erinnerung zu haben gehörte zu dieser Phantasie, in der ich meiner viel zu laut stöhnenden Frau, deren Namen ich ebenfalls nicht wußte, die Jogginghose nicht einmal ganz herunterzog, auch sie war gerade erst vom Sport gekommen, sie sagte noch: Paß auf, es ist die Kaschmirtrainingshose, aber ich achtete nur darauf, ob sie, diese gutaussehende, nach frisch gepreßtem Apfelsaft riechende Frau, kurz vor ihrem Orgasmus nicht vielleicht meinen Namen wisperte oder schrie, ich hätte doch gern gewußt, wie ich heiße und wer ich eigentlich bin« (ebd. 54f.).
Bildung im Supermarkt
D er M ensch und die k äuflichen D inge – eine bildungstheore tische P erspek tive In der konsumästhetischen Erfahrung des Erzählers mit dem Springseil verdichten und verweben sich Geschlechterstereotype mit den Versprechungen des zeitgenössischen Kapitalismus zu Hochglanzbildern von kaum überbietbarer Klischeehaftigkeit: Dem Erzähler sind ›Bauchmuskeln wie Heizrippen‹ gewachsen, sein Schweiß ist nicht der Lohnarbeit, sondern einer Fitnessübung geschuldet, reich ist er aber trotzdem. Seine blonde Frau kocht für ihn, sie möchte und kann von ihm sexuell befriedigt werden. Die Ironie dieser konsumästhetischen Erfahrung liegt in ihrer exzessiven Übertreibung. So schreibt John Fiske: »Exzess beinhaltet Elemente von Parodie, die es ermöglicht, sich über das Konventionelle lustig zu machen […], um deren Normen gegen sich selbst zu wenden« (Fiske 2013: 176). So besehen führt die Springseil-Imagination das Leben im Hochglanzformat als Verblendungszusammenhang vor. Aber wer oder was blendet hier wen? In seinem aktuellen Buch entrüstet sich Byung-Chul Han über die zeitgenössische »Flut von Reiz und Erregung« (Han 2015: 59). Resignativ stellt er fest: »Konsum und Sexyness bedingen einander« (ebd.: 61). Anders als Han hat Wagners Erzähler weder moralische Entrüstung noch Hoffnung auf eine ›Errettung des Schönen‹ nötig, von dem laut Han angeblich kein Reiz – auch keiner für Bildungsbürger – ausgehe. Es ist vor diesem Hintergrund also durchaus nicht ausgemacht, ob der Erzähler die Klischeebilder seiner konsumästhetischen Erfahrung der konventionellen Konsumkultur oder der konventionellen Kritik an ihr entnimmt. Hierin mag auch begründet liegen, dass Wagners Erzähler keinen Versuch unternimmt, seine vom Springseil ausgelöste Faszination von der Fiktion eines anderen Lebens zu verbergen. Gemeinsam mit Phillip Knobloch habe ich an anderer Stelle über die Möglichkeit von konsumästhetischen Bildungsprozessen nachgedacht (vgl. Knobloch/Schütte 2016). Unserer Ansicht nach besteht ein konsumästhetischer Bildungsprozess in einer paradoxen Bewegung, die sich einerseits durch eine fasziniert-affirmative Haltung zum jeweiligen Produkt und seinen Fiktionen auszeichnet, gleichzeitig jedoch ironisch-kritisch distanziert bleibt. Ich denke, dass die konsumästhetische Erfahrung des Erzählers mit dem digitalen Springseil diese Haltung prägnant veranschaulicht. Die im Roman beschriebene Haltung des Erzählers zum Supermarkt und seinen Produkten kann mit dem Journalisten Thomas Edlinger als ›postkritisch‹ bezeichnet werden: Eine solche Haltung »wirkt unkritisch, ist aber im Unterschied zum stumpfen Konformismus durch das Scheitern einer bestimmten Kritik motiviert und unterlässt daher auf begründete Weise den kritischen Ausdruck […], der nur mehr als durchschaubare und eitle Pose gilt« (Edlinger 2015: 287).
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Die konsumkulturellen Erfahrungen des Erzählers lassen sich jedenfalls nicht mehr »anhand der überkommenen Achsen progressiv/konservativ oder kritisch/affirmativ einordnen« (ebd.). Und so spricht Edlinger solchen Erfahrungen auch entsubjektivierendes Potenzial zu. Denn sie ermöglichten es, »sich von der falschen Vorstellung zu befreien, sich qua modischer (bzw. kritischer, A.S.) Differenz der Uniformität entziehen zu können« (ebd.). Eine solche grundlegende Veränderung hat auch Wagners Erzähler biografisch vollzogen: Sein ehemals kritisches Verhältnis zur Konsumkultur hat sich, wie er zu Beginn des Romans berichtet, in ein postkritisches Verhältnis transformiert. Denn bevor er »[h]eute aber […] durch die leise zur Seite gleitende Schiebetür« des Supermarkts tritt, erinnert er sich im referenzreichen ersten Satz des Romans: »Lange bin ich gar nicht gern in Supermärkte gegangen« (Wagner 2009: 7).
Z usammenfassung und A usblick Die ›Hingabe an die Sache‹ (Horkheimer) findet bildungstheoretisch breite Anerkennung –nicht aber, wenn ›die Sache‹ käuflich ist. Diesem Misstrauen kann eine Lektüre von David Wagners Roman entgegenwirken. Der Supermarkt kommt in Wagners Roman nicht bloß als »Stätte [] des Zweckmäßigen und Funktionellen« (Burghardt/Zirfas 2016: 245) in den Blick, sondern als ein Ort, der »das Imaginäre der Überflussgesellschaft zum Sprechen bringen« lässt (Drügh 2015: 120). Er bietet einen Zugang zu »virulenten und zur Verhandlung drängenden Zonen der Gegenwartskultur« (ebd.: 77). Die gängigen Ängste der Kulturkritiker vor den angeblich infantilisierenden, uniformierenden und paralysierenden Tendenzen des Konsumierens (vgl. etwa Liessmann 2014: 113) kann der Roman ebensowenig bestätigen. In ihm wird das Konsumieren als komplexer Akt portraitiert, vermittels dessen sich der Erzähler über sein Verhältnis zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen und zur Welt verständigen bzw. sich zu diesen Verhältnissen selbst noch einmal verhalten kann. So zeigt der Roman, wie Konsumprodukte etwa Kindheitserinnerungen hervorrufen oder wie sie den Erzähler dazu veranlassen, über vergangene und mögliche Liebesbeziehungen nachzudenken. Ferner zeigt er, dass und wie Konsumprodukte auch soziale Erwartungen, bspw. den moralischen Apell zum ›richtigen Einkaufen‹, repräsentieren – wozu sich Wagners Erzähler ebenfalls in einer bestimmten Weise verhält. Schließlich führt der Roman vor Augen, wie sehr sowohl Konstitution als auch Verflüssigung von Welt- und Selbstverhältnissen durch Konsumprodukte und konsumästhetische Erfahrungen vermittelt sind. Wagners Roman – und hierin liegt sein produktiv-irritierendes Potenzial für die erziehungswissenschaftliche Reflexion – ermöglicht es, den
Bildung im Supermarkt
Supermarkt als Ort, seine Produkte als Medien und das Konsumieren als Vollzugsform von Bildung zu charakterisieren. Eine Theorie konsumästhetischer Bildungsprozesse gewinnt damit eine »empirisch-phänomenale Referenz« (Wimmer 2014: 411). Jedoch lassen sich auch weitere anthropologische wie bildungstheoretische Anschlüsse aufzeigen: Käte Meyer-Drawe hat auf die ›Illusionen von Autonomie‹ des modernen Subjekts aufmerksam gemacht. Diese werden, so möchte ich ergänzen, im Zeitalter der Kulturindustrie von ›Illusionen von Heteronomie‹ flankiert, wenn das moderne Subjekt mit Dingen in Berührung kommt, die Warenform tragen. Beiderlei Illusionen setzen voraus, dass »die Sortierung von Subjekt und Objekt als perfekt hingenommen wird« (Meyer-Drawe 1990: 94). Wagners Roman kann anschaulich vor Augen führen, was Meyer-Drawe als »spannungsreiche Verflechtung zwischen individualer Erlebniswelt und allgemeiner Wahrnehmungswelt« (ebd.: 97f) charakterisiert: Einerseits sind die Imaginationen des Erzählers so stark biografisch vermittelt, dass sie mitnichten vollständig durch die Produkte determiniert erscheinen. Andererseits ist es jedoch auch nicht willkürlich, dass sie sich an den Produkten entzünden, an denen sie sich entzünden. Nehmen wir die Springseil-Fiktion: Der Traum von einem ganz anderen Leben ist zum einen durch die traumatische Erfahrung des Verlassen-Werdens bedingt. Zum anderen hätte sich diese Fiktion aber wohl nur schwerlich etwa an einer Packung Tiefkühlspinat entzünden können, die ja wiederum eine andere Fiktion auslöst. Dass es ein digitales Springseil ist, das eine derartige Fiktionalisierung ermöglicht, erscheint keineswegs zufällig. Ich schließe mich daher Meyer-Drawes Schlussfolgerung an: »Weder die Akteure noch die Dinge sind ruhende Pole einer ansonsten wechselhaften Beziehung. Sie formieren sich allererst in spezifischen Konstellationen, durch die sie bestimmt werden, ohne von ihnen hervorgebracht zu werden« (ebd.: 99). Auch Arnd-Michael Nohl hat die Bedeutung von Dingen für Bildungsprozesse herausgestellt. Unter Berufung auf Pragmatismus und Wissenssoziologie bestimmt Nohl den von Meyer-Drawe beschriebenen »intermediäre[n] Bereich« (ebd.: 98) begrifflich als ›konjunktiven Transaktionsraum‹, in dem »Menschen und Dinge aufeinander (ab)gestimmt werden« (Nohl 2013: 34). Bildung geht für Nohl mit der Entstehung neuer konjunktiver Transaktionsräume einher. Eine Theorie konsumästhetischer Bildungsprozesse kann hier ansetzen, Nohls ›Pädagogik der Dinge‹ aber auch im Hinblick auf ästhetische Bildungsprozesse weiterdenken. David Wagner gibt der spezifischen Stimmung, die durch einen Besuch des konjunktiven Transaktionsraums ›Supermarkt‹ möglich wird, eine literarische Form. Wagners Erzähler macht zwar eine »Erfahrung von Differenz« (ebd.: 35), aber weder entdeckt er neue Dingfunktionen noch transformiert er seine Lebensorientierung, wie Nohl es im Hinblick auf Bildungsprozesse für notwendig hält (vgl. Nohl 2011). Weder IceCrusher noch digitalem Springseil werden neue Funktion abgerungen, ihre
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jeweiligen ›Gebrauchswerte‹ stehen nicht im Vordergrund. Wichtig sind ihre Fiktionswerte. Sie regen die produktive Einbildungskraft des Erzählers an und ermöglichen ihm so ein spielerisches Welt- und Selbstverhalten, das ihm ermöglicht, »sich zu den Selbst- und Weltverhältnissen noch einmal in ein Verhältnis zu setzen« (Schäfer 2009: 51). Anderswerden ist im Licht einer solchen ästhetischen Erfahrung zwar »möglich, aber nicht notwendig« (Weiß 2005: 86). Die durch das Springseil eröffnete Fiktion des Andersseins wird vom Erzähler in paradoxaler Wendung zugleich affirmiert und nicht-affirmiert: Die faszinierte Hingabe an die Fiktion eines ›völlig anderen Lebens‹ antwortet auf seinen Wunsch nach grundsätzlicher Transformation seiner Welt- und Selbstverhältnisse. Durch die exzessive Übertreibung dieser Transformationsfiktion setzt er sich zu diesem Wunsch selbst wiederum in ein Verhältnis kritisch-ironischer Distanziertheit. Damit imaginiert der Erzähler ein Selbst, das sich nicht »im Bezugsraum dessen, was in den symbolischen Repräsentationsweisen von Selbst und Welt gängig ist, verorten« lässt, sondern sich »auf der Grenze dieser Repräsentations- und Identifikationsmöglichkeiten platziert«. Dies wird auch dem Erzähler gewahr: »ich hätte doch gern gewußt, wie ich heiße und wer ich eigentlich bin« (Wagner 2009: 55). Er imaginiert ein Selbst, »das sich nicht im Horizont möglicher Selbstverhältnisse identifizieren lässt« (Schäfer 2009: 46). Es steht zu vermuten, dass besonders die Kunst es vermag, solch ›unmögliche Selbstverhältnisse‹ aufzuzeigen.
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Bildung im Supermarkt
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Kulturelle Bildung in Kontexten von Ethik, Politik und Kritik
Kulturalisierungskritik als Gegenstand und Aufgabe rassismuskritischer Bildung Lisa Freieck/Tatjana Kasatschenko
Die spiegelbildlichen Zusammensetzungen »Kulturelle Bildung – Bildende Kultur« im Titel dieses Sammelbandes sind als Absteckung eines spannungsreichen Themenfelds zu verstehen, da sie jeweils unterschiedliche Akzente des inhaltlichen Zugangs zum begrifflichen Zusammenhang von Bildung und Kultur betonen. Während es sich dabei im erstgenannten Fall um eine Attributierung des Bildungsbegriffes durch den der Kultur handelt, die eine Vielzahl von gesellschaftlichen Ausdrucksformen wie Kunst, Literatur, Musik und Architektur in den Blick nimmt, wechselt der Kulturbegriff im zweiten Fall seine syntaktische Zuständigkeit: Er wird zum Subjekt und damit zum Akteur jener gesellschaftlichen Prozesse und Verhältnisse, die durch ihn beschrieben werden. Astrid Messerschmidt hält hierzu fest, dass Kultur als rhetorischer Bezugspunkt und Argument »zu einem heiß umkämpften Terrain geworden [ist]« und »auf der globalen politischen Bühne und im nationalen Kontext für Identitätsmarkierungen in Stellung gebracht [wird]« (Messerschmidt 2008a: 5). Angesprochen ist in diesem Fall also weniger der Aspekt von Kultur als ideengeschichtlichem Phänomen sich wandelnder Gestaltungspraktiken, sondern ein machtreflexives Verständnis von Kultur als Diskurs: die Frage, wie gesellschaftlich über Kultur gesprochen wird und welche nationalstaatlichen Grenzziehungen und normativen Setzungen mit dieser Rhetorik einhergehen. Das Verständnis von Kultur als Diskurs machtvoller Identitätskonstruktionen bildet den Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen zum Ansatz rassismuskritischer Bildung. Rassismuskritik setzt sich in der deutschsprachigen Pädagogik kritisch mit interkulturellen1 Bildungskonzepten auseinander 1 | Neben interkulturellen Bildungskonzepten sind als weitere Abgrenzungsfolie handlungsorientierte Konzepte aus der antirassistischen Menschenrechtsbildung zu nennen, von denen sich der Ansatz rassismuskritischer Bildung als »kritische Distanz gegenüber der eigenen Theoriebildung und der eigenen Praxis« (Broden 2009: 132) maßgeblich unterscheidet.
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Lisa Freieck/Tatjana Kasatschenko
und stellt diesen eine postkoloniale und kulturwissenschaftliche Perspektive gegenüber. Im Folgenden wird die Problematik eines essentialistisch verstandenen Kulturbegriffs in Diskursen um Migration und Bildung skizziert und anschließend mit ausgewählten Ansatzpunkten rassismuskritischer Bildungskonzepte in Beziehung gesetzt.
V on K ultur über K ultur alisierung zu K ulturr assismus In der pädagogischen Fachliteratur findet der Kulturbegriff als diskursiv positives Element seinen Eingang um die 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts. Interkulturelle pädagogische Konzepte rücken primär den Begriff Kultur als zentrale Differenzdimension im Diskurs um Migration und Bildung in den Blick. In Abgrenzung und als formulierte Kritik an einer ausländerpädagogischen Defizitperspektive2 auf zugewanderte Schüler_innen setzt Interkulturelle Pädagogik auf die Anerkennung von kulturellen Differenzen. Zur Aufgabe wird die Vermittlung zwischen (scheinbar) klar abgrenzbaren kulturellen Sphären auf der Grundlage von Verstehensprozessen und dem Wissen um die Andersartigkeit ›der Anderen‹. Auch aktuell lassen sich unter dem Stichwort ›interkulturelle Kompetenz‹ nach wie vor zahlreiche Fortbildungen, Workshops und Fachliteratur für Klientelen verschiedenster Arbeitsfelder, aber auch explizit für den Bereich pädagogischer Professionalisierung vorfinden. Gemeinsam ist diesen Konzepten die Vorstellung einer grundsätzlichen Unterschiedlichkeit der Kulturen. Folgt eine solche Beobachtung dem diskursanalytischen Begriff des Dispositivs nach Michel Foucault, dann ist dieses Wissen um die ›Fremdheit der Anderen‹ jedoch nicht trennbar von Macht, da das Wissen und das Gewusste seinen Gegenstand und sein Subjekt als solche erst performativ hervorbringen (vgl. Foucault 1981: 74). Aus einer ähnlichen Perspektive äußert sich auch Anne Broden über die Konzeption interkultureller Fortbildungsangebote: »[D]iese Wissensbestände haben eine Crux: Durch die Vermittlung ›technischen‹ Wissens werden die Anderen als Andere erzeugt: Die mit dem technischen Wissen [A]usgestatteten […] werden dem Anderen begegnen. Sie werden sehen, hören, wahrnehmen und interpretieren, was sie […] über den ›Fremden‹ erfahren haben; sie werden ihren Blick, ihre Wahrnehmung an das Gelernte angleichen und Aspekte, die diesen Wissensbeständen widersprechen, werden sie ausblenden. Sie werden sich […] ein Bild vom ›Fremden‹ machen – und siehe da, es funktioniert: Überall begegnet ihnen eben dieser ›Fremder‹. Verstehen konstruiert den Anderen.« (Broden 2009: 122, Hervorh. i.O.) 2 | Dies bezieht sich auf pädagogische Maßnahmen zur Schuleingliederung während der Arbeitsmigration der 1960er Jahre.
Kulturalisierungskritik als Gegenstand und Aufgabe rassismuskritischer Bildung
Die Ordnung des Wissens und der Diskurs sind demnach spezifische in dem Sinne, als sie binär strukturiert sind und Macht als hierarchische Verhältnisse einschließen. Wenn es ein scheinbares Wissen um ›die Anderen‹ gibt, lässt sich auf der anderen Seite auch etwas über ›uns‹ aussagen und ein ›Wir‹ bewusst wahrnehmen. Das ›Wir‹ ist die Bezugsgröße, der ›Bestimmer‹ über sich selbst als wirkende Norm, von welcher die Unterschiedenen abweichen. Kulturelle Differenz wird den jeweils ›Anderen‹ zugewiesen; »es sind die ›Anderen‹, die [kulturell] markiert werden« (Kasatschenko 2015: 29). Die Definitionsmacht darüber, wer als ›kulturell anders‹ und ›fremd‹ gilt, hat derjenige inne, welcher sich in einer überlegereren Machtposition befindet: »Insofern geht es im Fremdheitsdiskurs niemals nur um Fremdheit, sondern gleichzeitig um Ungleichheit, [denn] jedes Umgehen mit Fremdheit findet im Gefüge von Machtverhältnissen statt, in einer Dominanzkultur, in der soziale Verhältnisse durch Über- und Unterlegenheit gekennzeichnet sind« (Messerschmidt 2009: 80). In Anordnung von Über- und Unterlegenheit bewegen sich Wir- und SieZuschreibungen auch deshalb, weil den als ›kulturell Anderen‹ Markierten all diejenigen Eigenschaften zugeschrieben werden, die vom eigenen Selbstbild abgegrenzt werden (sollen). In öffentlichen Migrationsdiskursen lässt sich dies aktuell prägnant anhand des Sprechens über patriarchale und gewaltförmige Muslime und kontrastierend dazu über emanzipierte und fortschrittliche Einheimische wahrnehmen. In pädagogischen Settings finden wir den Verweis auf kulturelle Differenzen meist (erst) dann, wenn pädagogische Bemühungen scheitern und eine geeignete Erklärung hierfür notwendig wird (vgl. Mecheril 2004: 14). Kultur ist kein neutraler Begriff, ebenso wenig wie kulturelle Differenz kein neutrales Medium darstellt, sondern »vor allem ein Konzept, mit dem Politik gemacht wird« (Yildiz 2009: 187). Kultur bzw. die Kulturalisierung von Personen und Personengruppen wirkt auch als Prognose über schulische Leistungsfähigkeit und entscheidet über reale Bildungsverläufe pädagogischer Adressat_innen (vgl. Weber 2008) sowie spätere berufliche und soziale Positionierungen. Dadurch verdecken Kulturalisierungstendenzen institutionelle und strukturelle Barrieren, denen als migrantisch identifizierte Kinder und Jugendliche ausgesetzt sind, und verlagern den Bildungserfolg und insbesondere den Misserfolg auf eine rein individuelle Ebene (vgl. Radtke/Gomolla 2007). Zudem erweisen sich Argumentationsmuster und Erklärungsstrategien mit dem Rückgriff auf ›Kultur‹ als deterministisch, da der Verweis auf kulturelle Zugehörigkeit naturalisierend zur Festschreibung von individuellen Denk- und Handlungsmöglichkeiten und nicht zuletzt zum Absprechen von Bildsamkeit führt. Es handelt sich hierbei also um eine gesellschaftsstrukturierende Differenzkategorie, die – in den Mantel von natürlicher Ungleichheit gekleidet – Ungleichbehandlung wiederum legitimiert. Diese Legitimationslegende, welche die herkunftsbezogene Ungleichbehandlung von Personen
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rational zu begründen versucht, obwohl die Gesellschaft von der grundsätzlichen Gleichheit aller Anwesenden ausgeht, ist bekannt als Rassismus. Albert Memmi beschreibt Rassismus als »die verallgemeinerte und verabsolutisierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien […] gerechtfertigt werden sollen« (Memmi 1992: 168). Birgit Rommelspacher spricht in ähnlicher Weise von Rassismus, gerade wenn es darum geht, »sich gegenüber anderen abzugrenzen, vorausgesetzt diese Markierungen dienen dazu, soziale, politische und wirtschaftliche Handlungen zu begründen, die bestimmte Gruppen vom Zugang zu materiellen und symbolischen Ressourcen ausschließen und dadurch der ausschließenden Gruppe einen privilegierten Zugang sichern« (Rommelspacher 2009: 25). Der europäische Rassismus selbst, und damit die Ungleichwertigkeitskonstruktion von Menschengruppen durch ›Rassen‹, ist eine Erfindung der Moderne, um insbesondere die koloniale Expansion, gleichzeitig aber auch die Etablierung eines westlich-bürgerlichen Wertesystems zu begründen. Bereits in Bezug auf den Kolonialrassismus handelt es sich nicht nur um eine rein biologistisch begründete Ideologie, sondern immer auch um eine binär strukturierte kulturelle »Praxis des Vergleichens« (Höhne 2001: 199), bei der die Konstruktion der nicht-europäischen ›Anderen‹ als projektive Abgrenzungsfolie in Erscheinung tritt.3 Die argumentative Ersetzung des gesellschaftlich diskreditierten Rassenbegriffs durch den der Kultur, die sozialwissenschaftlich bereits seit den 1950er Jahren kritisch beobachtet wird,4 macht diese kulturelle Komponente explizit: Sie ermöglicht gegenwärtig einen Rassismus, der zwar ohne ›Rassen‹ fungiert, Kultur aber zu ihrem Äquivalent macht (vgl. Messerschmidt 2008: 5). Es ist der kulturelle Rassismus, der »Differenz-, Ungleichheits- bzw. Ungleichwertigkeitspostulate mit dem Verweis auf kulturelle Unterschiede [rechtfertigt] und […] damit eine zeitgemäße Begründung und Legitimation der Forderung nach Aufrechterhaltung von Ungleichheiten zwischen Staatsbürgern und Nicht-Staatsbürgern, Einheimischen und Migranten bereit[stellt]. Dabei werden vermeintlich kulturellen Merkmalen genau diejenigen Eigenschaften zugeschrieben, die im klassischen Rassismus vermeintlich natürlichen Merkmalen zugeschrieben wurden – insbesondere die des determinierenden und Individuen nicht verfügbaren Erbes« (Scherr 2009: Online-Ressource).
3 | Schon bei Edward Said und Gayatri Chakravorty Spivak als genuine Vertreter_ innen der Postkolonialen Theorie wird dieses Argumentationsprinzip mit jeweils unterschiedlichen Zugängen anhand des Schlüsselkonzepts Othering diskutiert (vgl. Castro Varela/Dhawan 2015: 96ff. und 156ff.). 4 | So schreibt bereits 1955 Theodor W. Adorno: »Das vornehme Wort ›Kultur‹ tritt anstelle des verpönten Ausdrucks ›Rasse‹« (Adorno 1998: 277).
Kulturalisierungskritik als Gegenstand und Aufgabe rassismuskritischer Bildung
Interkulturelle Pädagogik rückt die ›Abweichung‹ bzw. ›die Migrant_innen‹ in den Fokus des Interesses, während sie ›den Menschen‹ ausschließlich als Normalität und in seiner Norm behandelt.5 Personen mit Migrationsgeschichte, insbesondere Kinder und Jugendliche, sind in pädagogischen Handlungsräumen mit permanenten Grenzziehungen und Ausschlüssen konfrontiert. Die Betonung von kultureller Differenz macht die als different Markierten zu ›Anderen‹ und Nicht-Dazugehörigen: Angesprochen im Sinne eines exotischen Sonderstatus, werden Migrant_innen jenseits einer (imaginierten) gesellschaftlichen Gemeinschaft positioniert – und damit auf ein subjektiv einschränkendes Identifikationsangebot reduziert.6 Verwehrt wird ihnen somit die Anerkennung von komplexen Mehrfachzugehörigkeiten und hybriden Identitätskonstruktionen als Ausdruck realer migrationsgesellschaftlicher Verhältnisse. Entgegen ihrem positiven Anspruch können interkulturelle Bildungskonzepte in dem hier skizierten Sinne von Beginn an zu einer Reproduktion von Ungleichheit beitragen und damit einer zeitgemäßen migrationsgesellschaftlichen Pädagogik nicht gerecht werden. Gerade vor dem Hintergrund solcher Widersprüche zeigt sich das Grunddilemma interkultureller Bildung und ihrem essentialistischen Bezug auf Kultur als pädagogischer Unterscheidungskategorie: Sie befindet sich in systematisch begründeten »Sackgassen der Kulturalisierung« (Messerschmidt 2009: 109).
R assismuskritische O rientierungen in gesellschaf tlichen D ominanz verhältnissen Eben diese fachinternen Sackgassen sind es, an denen rassismuskritische Perspektiven auf Bildung und Migration ihren programmatischen Ausgangspunkt nehmen. In Abgrenzung zu den stark handlungsorientierten Konzepten um Interkulturalität beziehen diese sich nicht auf einen kompensatorisch formulierten ›Umgang mit Migrant_innen‹, sondern auf die Frage, wie »die Option der natio-ethno-kulturellen Differenzierung« (Mecheril/Melter 2010: 172) im migrationsgesellschaftlichen Raum hergestellt und als machtvolles System von Ein- und Ausschlüssen normalisiert wird. Rassismuskritik bewegt sich dabei an der Schnittstelle zwischen pädagogischer Vermittlung, Professionalisierung und Wissenschaftstheorie: Sie kann als Entwicklung einer 5 | Dies gilt nach Foucault jedoch nicht nur für Pädagogik als Fachwissenschaft, sondern für die Humanwissenschaften im Gesamten (vgl. Foucault 1974). 6 | In alltäglichen Interaktionen vollzieht sich die Betonung und Grenzziehung durch Identifikationsrituale. Fragen wie beispielsweise »Wie macht man das bei euch?« oder »Woher kannst du so gut Deutsch?« positionieren die Angesprochenen außerhalb der gesellschaftlichen Normalität und selbstverständlichen Zugehörigkeit.
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selbstreflexiven »Standpunktsensibilität« verstanden werden, »die eigene Verstrickungen, Vor- und Nachteile sowie […] Verantwortungsübernahme in einer von Rassismen und anderen Herrschaftsformen strukturell beeinflussten Gesellschaft berücksichtigt« (ebd.). Es geht rassismuskritischen Bildungskonzepten jedoch nicht alleine um die aktuelle Bestandsaufnahme gesellschaftlicher und fachimmanenter Diskurse, sondern vor allem auch um eine weitreichende kulturgeschichtliche Perspektive: die Vermittlung von historisch-systematischem Wissen über Herrschaft, kulturelle Dominanz und strukturelle Diskriminierung.
Kritisch-dekonstruktive Befragung: Rassismus und postkoloniale Kontinuitäten Der Kolonialismus, legitimiert mitunter durch die Erfindung aufklärerischer Rassentheorien, ist ein System, das in sämtlichen Gesellschaften Westeuropas tiefe Spuren hinterlassen hat. Eine wesentliche Aufgabe rassismuskritischer Bildung besteht darin, diese Strukturen einer »dekonstruktive[n] Lektüre« (Mecheril/Melter 2010: 177) zu unterziehen und der Frage nachzugehen, inwieweit kolonialpolitische Organisationsformen und geschichtlich vermittelte Bilder von kultureller Über- und Unterlegenheit auch gegenwärtig noch immer wirksam sind. Vor allem gilt es hierbei zu berücksichtigen, dass die westlichen Nationalstaaten maßgeblich aus dem Kolonialismus sowie der Erstarkung des europäischen Bürgertums hervorgegangen sind und insofern strukturell auch ein entsprechendes Selbstverständnis und Interessenverhältnis abbilden. Der aufklärerische Gleichheitsgedanke als Ausdruck westlich-kultureller Identität erweist sich hierbei als Prämisse, die sich hauptsächlich durch strukturelle Ausschlüsse konstituiert. Insbesondere das moderne Staatsbürgerschaftskonzept kann als historischer Ausgangspunkt verstanden werden, um unter der Vorstellung von ethnisch-kultureller Homogenität und aufgrund von territorialer Abstammung unterschiedlich privilegierte Zugänge zu materiellen Ressourcen zu legitimieren und damit letztlich Migration als einen gesellschaftlichen Problemzustand zu fixieren (vgl. Castro Varela/Dhawan 2015: 48).7 Pädagogisch gilt es nun in diesem Zusammenhang, »die Strukturen und Prozesse von Bildungsinstitutionen, das in ihnen verfestigte institutionelle Wissen, ihre Selbstverständlichkeiten und Handlungsroutinen zum Thema zu machen« (ebd.: 173). Für eine solche Analyse ist es unverzichtbar, Ausschlüsse nicht nur in materieller, sondern vor allem auch in symbolischer Hinsicht 7 | Eklatant kommt dies aktuell etwa dann zum Vorschein, wenn es um staatliche Gesetzgebungen hinsichtlich Flucht und Asyl geht, bei denen die Residenzpflicht im Widerspruch zum Menschenrecht auf Bewegungsfreiheit steht (vgl. Mecheril/Melter 2010: 176f.).
Kulturalisierungskritik als Gegenstand und Aufgabe rassismuskritischer Bildung
sichtbar werden zu lassen. Die abstrakte und historisch gestellte Frage nach ›dem Subjekt der Aufklärung‹ kann dabei z.B. auch auf die durchaus präzise Frage übertragen werden, wer die im deutschen Bildungssystem didaktisch und curricular adressierte ›Durchschnittsklientel‹ ist: In beiden Fällen handelt es sich um Vertreter_innen der weißen bürgerlichen Mittelschicht, die als unausgesprochene Norm vorausgesetzt werden. Gerade Schulen liegt mit dieser monokulturellen Ausrichtung eine strukturell benachteiligende Konstellation zugrunde, »die andauernd trennt zwischen einem ›Wir‹ der national Zugehörigen und einem ›Sie‹ derer, die nicht selbstverständlich dazu gehören können« (Messerschmidt 2008a: 12). Dabei bleiben institutionelle Diskriminierungspraktiken in der Regel gerade deshalb unerkannt, weil sie auf »kollektive kulturelle und historische Wissensbestände« zurückgreifen, »die als Common Sense in die Normalität eingehen und daher nicht mehr begründungsbedürftig sind« (Weber 2008: 47). Das Denken in binären Spaltungen gehört zu einer kulturgeschichtlich objektivierten Routine – und häufig geht es auch mit einem spezifischen Alltagswissen um Migration einher. Komplementär zu positiven Proklamationen ist in aktuellen einwanderungspolitischen Debatten auch verstärkt eine Rhetorik der Abwehr zu beobachten, die argumentativ an rassistische Abstammungsvorstellungen anknüpft und anhand von »Grenzziehungen […] entlang der kulturell bestimmten Herkunft« (Messerschmidt 2008: 6) einer nationalstaatlichen Überfremdungslogik Vorschub leistet. In ihrer Funktion als Wissensvermittlerin hat die Institution Schule daher nicht nur die curricularen Bildungsinhalte, sondern vor allem auch das in diesen implizierte Wissen in den Blick zu nehmen, das dominante Auffassungen über gesellschaftliche Wirklichkeit umfasst und damit zu ihrer Reproduktion beiträgt. Vor diesem Hintergrund erweist es sich als notwendig, neben dem Kolonialismus selbst auch den Nationalsozialismus als wichtigen historischen Problemhorizont zu beleuchten, um die Wirksamkeit rassistischer Denkmuster zu verdeutlichen. Diese Verknüpfung ist keineswegs als kausale Gleichsetzung oder gegenseitige Relativierung beider Geschichtszusammenhänge zu verstehen – vielmehr weist sie darauf hin, dass sowohl vom Kolonialismus als auch vom Nationalsozialismus als einschneidenden »historischen Erfahrungen Nachwirkungen in der Gegenwart wahrnehmbar sind […] von denen ausgehend die Frage nach dem Ort eines postkolonialen Gedächtnisses in einer postnationalsozialistischen Gesellschaft gestellt werden kann« (Messerschmidt 2008b: 42). Anders formuliert: Der gesellschaftliche Zustand nach dem Nationalsozialismus ist die ›Brille‹, durch die Kolonialismus zeitgeschichtlich betrachtet wird. Die Transformation kolonialrassistischer Reinheitsdiskurse durch die völkisch fundierte NS-Rassenpolitik zeigt sich demnach als wichtiger Anknüpfungspunkt, »um die im Namen rassistischer Ideologien und imperial-politischer Projekte ausgeübter Gewalt nuancierter sichtbar zu machen«
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(Castro Varela/Dhawan 2015: 76f.), gleichzeitig aber auch, um nationalkulturelle Verdrängungsprozesse und rassistische Reproduktionen im Umgang mit rassistischer Herrschaftsgeschichte zu benennen. Astrid Messerschmidt bemerkt, dass die bundesdeutsche Erinnerungsarbeit und Bildungspolitik um den Holocaust von einem nationalen Rehabilitierungsanspruch getragen wird, der dazu neigt, koloniale Ausbeutung und Unterdrückung als geschichtliche Problemhorizonte der heutigen BRD zu dethematisieren und gleichzeitig den NS als historisch eingegrenzte Episode ins Bild zu setzen. Zudem macht sie die Beobachtung, dass sich gerade in diesem Zusammenhang auch koloniale Projektionsmuster zeigen, indem die (irrtümlich) als erfolgreich angesehene Aufarbeitung der NS-Verbrechen als einwanderungspolitisches Argument für die kulturelle Trennung zwischen einer ›demokratisch geläuterten‹ Nationalgemeinschaft und ›demokratisch rückständigen‹ Migrant_innen in Anschlag gebracht wird (vgl. Messerschmidt 2008b: 52). Rassismus und Antisemitismus als strukturell und ideologisch in der deutschen Gesellschaft verankerte Unterscheidungsformen werden auf diese Weise jeweils ausgeblendet: Der einseitige Fokus auf die NS-Geschichte lenkt von postkolonialen Kontinuitäten ab, während sekundärer Antisemitismus in der BRD ausschließlich als Problem kultureller Minderheiten repräsentiert wird. Im Interesse einer dekonstruktiven zeitgeschichtlichen Bildungsarbeit gilt es daher, beide historischen Problemhorizonte sowohl in ihrer gegenseitigen Verwobenheit als auch hinsichtlich ihrer damit verbundenen Rezeptionstendenzen in den Blick zu nehmen, »ohne dass die eine Geschichte aus der anderen abzuleiten oder zu erklären wäre« (ebd.: 42).
Intersektionale Mehrebenenanalyse: Rassismus im System von Ungleichwertigkeit Ausgehend von einer kritisch-dekonstruktiven Auseinandersetzung mit Rassismus als historisch gewachsenem Dominanzverhältnis, finden rassismuskritische Bildungskonzepte einen weiteren Anknüpfungspunkt im menschenrechtspolitischen Ansatz der Intersektionalität (Crenshaw 1989), der in feministischen Theorien bereits fest zum methodologischen Standardrepertoire gehört.8 Ohne die vielfältigen und z.T. konträren Rezeptionslinien dieses Ansatzes diskutieren zu können, soll hier ein grundsätzliches Argument intersektionaler Theoriezugänge hervorgehoben werden: Im Sinne einer machtund herrschaftskritischen »Mehrebenenanalyse« (Winkler/Degele 2009: 11) plädiert Intersektionalität für den Anspruch, Rassismus nicht als isolierte 8 | Vor seiner sozialwissenschaftlichen Etablierung fand der Intersektionalitätsansatz im deutschsprachigen Feminismus jedoch auch wichtige Impulse durch Birgit Rommelspachers Konzept der Dominanzkultur (Rommelspacher 1995).
Kulturalisierungskritik als Gegenstand und Aufgabe rassismuskritischer Bildung
Unterscheidungsform, sondern auch in seiner systematischen Verschränkung mit weiteren sozialen Ungleichheitsverhältnissen wahrzunehmen. Insbesondere (Hetero-)Sexismus und Klassismus müssen als wirkmächtige Unterscheidungsdimensionen verstanden werden, die Rassismus in seinem spezifischen Ungleichwertigkeitsdenken historisch wie aktuell bedingen und potentiell verfestigen. Zuschreibungen und Diskriminierungen entlang von rassismusrelevanten Kategorien wie natio-ethno-kultureller Herkunft, Hautfarbe oder Religion können demnach durch systematisch anders gelagerte Unterscheidungskategorien wie Geschlecht, Sexualität und Klasse9 einerseits unterstützt, anderseits aber auch als solche überhaupt erst begründet werden. Dies gilt dann, wenn sie dazu dienen, ein vermeintliches ›Anderssein‹ in besonderer Weise zu markieren und gesellschaftliche Partizipationsunterschiede zwischen Personengruppen als Ergebnis ›natürlicher‹ Dispositionen auszuweisen. Besonders in Bezug auf antimuslimischen Rassismus ist ein solcher Einwand von zentraler Bedeutung, da er aufzeigt, wie die rassistische Markierung muslimisch identifizierter Personengruppen als Angehörige einer ›rückständigen‹ und ›undemokratischen‹ Kultur in den meisten Fällen konkret funktioniert: Es wird deutlich, dass derlei Unterscheidungsprozesse ohne die Projektion patriarchaler Geschlechterstereotypen und entsprechenden »Forderungen nach einer paternalistischen Fürsorge« (Shooman 2015: 55) praktisch nicht zu denken sind. Nicht selten sind es zudem genau jene Argumente, die etwa bildungspolitisch für eine soziale Diagnose mangelhafter Integrationsund Leistungsbereitschaft herangezogen werden. Gleichzeitig verdeutlicht Intersektionalität als Ansatz aber auch, wie angesichts eines rein kulturalistisch geführten Diskurses um Migration geschlechts- und klassenspezifische Ungleichheitsverhältnisse als Strukturmerkmale westlich-demokratischer Gesellschaften systematisch nivelliert werden (vgl. ebd.). Insofern kann ein intersektionaler Zugang zum Thema Rassismus nicht zuletzt auch dabei helfen, den benannten Kulturalisierungssackgassen nicht erneut in die Falle zu gehen: Gerade weil die Dekonstruktion essentialistischer Kulturzuschreibungen für Rassismuskritik ein solch zentrales Anliegen ist, birgt sie die Gefahr, mit diesem einseitigen Kritikfokus auch immer wieder dasselbe Erklärungs- und Unterscheidungsmuster zu reproduzieren. Demgegenüber ist mit dem Ansatz der Intersektionalität ein Verständnis von Kulturalisierungskritik angesprochen, das sich jeder Vorstellung von homogenen Identitätszugehörigkeiten widersetzt und auf »die prinzipielle Unabgeschlossenheit möglicher Differenzkategorien« (Winker/Degele 2009: 16) hinweist: Erst wenn Bedeutungskämpfe und Widersprüche innerhalb der Kategorie Kultur sichtbar gemacht
9 | Diskutiert werden zahlreiche weitere Unterscheidungskategorien wie z.B. Alter oder (Dis-)Ability (vgl. Winker/Degele 2009: 11).
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werden, hat eine rassismuskritische Analyse auch das Potential, kulturrassistische Argumentationen tatsächlich zu durchbrechen.
A usblick : R assismuskritik als W iderstandskultur Für eine rassismuskritische Ausrichtung von Pädagogik ergibt sich daraus zusammenfassend die Aufgabe, ihrem Gegenstand, ihren Adressat_innen sowie ihren gesellschaftlichen und strukturellen Rahmenbedingungen selbstkritisch und differenzreflexiv entgegenzutreten. Methodologisch bedeutet dies, den Ausgangspunkt des pädagogischen Sprechens und Handelns in einer Weise sichtbar werden lassen, die normative Deutungshoheiten und performative Wirkungen von pädagogischen Settings konsequent offenlegt und als solche hinterfragbar werden lässt. Pädagogische Theoriebildung und (Forschungs-)Praxis ist demnach grundsätzlich verbunden mit der Frage, wer sich aus welcher Position über wen äußert und welche produktiven Effekte ein solches Tun für die Herstellung migrationsgesellschaftlicher Ordnungen haben kann (vgl. Broden 2009: 123). Hierbei ist es auch notwendig, Differenzen nicht zu leugnen: Es geht nicht darum, ›differenzblind‹ von einer Gleichheit aller Anwesenden auszugehen, da Gleichheit in einer durch Rassismus strukturierten Gesellschaft als Gerechtigkeit nicht gegeben ist. Wichtiger ist es, differente Selbstkonzepte und Erfahrungen im Kontext von Macht- und Herrschaftsbeziehungen anzuerkennen und sie thematisch werden zu lassen. Geschlechtliche, kulturelle und vielfältige andere Zuordnungen sowie damit einhergehende Diskriminierungen machen es unabdingbar, Differenzen als ungleichheitsgenerierende Kategorien in den Blick zu nehmen. Gleichzeitig ist die Frage danach zu stellen, wann und in welchem Kontext die Hervorhebung von Differenz lediglich eine Reproduktion und Festschreibung von Unterschieden bewirkt. So gilt es beispielsweise gerade »die Rede von ›kulturellen Unterschieden‹ und von ›kulturellen Identitäten‹ auf ihr Verhältnis zu rassistischen Unterscheidungen [zu] befrag[en]« (Mecheril/Melter 2010: 168) und die hierarchisierenden Funktionsweisen von Differenzkategorien als solche in den Blick zu nehmen. Selbstkritik meint daher immer nicht nur eine reflexive Kritik auf individueller, sondern auch struktureller und gesellschaftlicher Ebene. Im Kontext institutioneller Bildungsarbeit wäre damit zu beginnen, sich selbst als Teil von Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu begreifen und dies in den Fokus kritischer Reflexion zu stellen. Dies umfasst sowohl eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbstbild als auch mit den gesellschaftlichen Erwartungen, die von außen an die Pädagogik herangetragen werden. Dazu gehört auch, sich von der gesellschaftspolitisch forcierten Vorstellung homogener Zielgruppen zu distanzieren und bestehender Heterogenität gerecht zu werden, ohne einem Muster der Problematisierung ›der Anderen‹ zu verfallen:
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In einer durch Widersprüche und Vagheiten gekennzeichneten Gesellschaft hat rassismuskritische Pädagogik den Auftrag, Raum für die Uneindeutigkeit und Veränderbarkeit von Zugehörigkeiten zu schaffen. Dieser letztgenannte Aspekt führt abschließend zu einer wichtigen Relativierung: Der Blick auf Rassismus als einem diskursiven Strukturprinzip sollte nicht dazu verleiten, pädagogisches Handeln innerhalb dieser Strukturen als wirkungslos zu verwerfen und sich vom normativen Anspruch einer rassismusfrei(er)en und demokratischen Gesellschaft zu verabschieden. Vielmehr gilt es, gezielt nach Irritationen und Leerstellen innerhalb der benannten Verhältnisse zu suchen, die unterhinterfragte Normvorstellungen brüchig werden lassen und damit auch eine aktive Intervention in das Bestehende erlauben. Nicht zuletzt bedeutet dies, das gestalterische Potenzial von Pädagogik als solches auch tatsächlich ernst zu nehmen: Kulturalisierungskritik sollte nicht nur ein Gegenstand sein, mit dem sich Pädagogik im Sinne eines ›akademischen Selbstzwecks‹ inhaltlich befasst, sondern gleichzeitig auch als selbst als kulturelle Praxis verstanden werden, die etwas bewegt. Deswegen ist dieser Ausblick bewusst plakativ mit »Rassismuskritik als Widerstandskultur« überschrieben – ebenso wenig, wie Rassismus als Fehleinstellung einzelner Individuen angemessen beschrieben ist, lässt sich festhalten, dass »Menschen […] ›Deppen der Ordnungen‹ [sind]. Sie sind grundsätzlich in der Lage, sich zu den Ordnungen zu verhalten, die Wirkung dieser Ordnungen zu suspendieren. Ordnungen unterliegen Wandlungen, nicht zuletzt aufgrund der Kämpfe, die um sie (und in ihnen) geführt werden, sie verschieben sich und sind verschiebbar. Diese Kontingenz rassistischer Ordnungen ist Voraussetzung rassismuskritischer Pädagogik« (Broden/Mecheril 2010: 16f.).
L iter atur Adorno, Theodor W. (1998): »Schuld und Abwehr«, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 9.2: Soziologische Schriften II. Darmstadt, S. 121-324. Broden, Anne/Mecheril, Paul (2010): »Rassismus bildet. Einleitende Bemerkungen«, in: dies. (Hg.), Rassismus bildet. Bildungswissenschaftliche Beiträge zu Normalisierung und Subjektivierung in der Migrationsgesellschaft, Bielefeld, S. 7-23. Broden, Anne (2009): »Verstehen der Anderen? Rassismuskritische Anmerkungen zu einem zentralen Topos interkultureller Bildung«, in: Wibke Scharathow/Rudolf Leiprecht, Rudolf (Hg.), Rassismuskritik: Bd. 2: Rassismuskritische Bildungsarbeit, Schwalbach, S. 119-134. Castro Varela, María do Mar/Dhawan, Nikita (2015): Postkoloniale Theorie. Eine kritische Einführung, Bielefeld.
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Kulturalisierungskritik als Gegenstand und Aufgabe rassismuskritischer Bildung
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Jenseits von Formalästhetik, Stilgeschichte und Meisterschaftsgenealogien? Auf der Suche nach einer repräsentationskritischen Kunstvermittlung Katja Hoffmann
R epr äsentation – M acht – I dentität Was meint eine »repräsentationskritische Kunstvermittlung«? Mit dem etwas sperrigen Begriff »Repräsentationskritik« beziehe ich mich auf eine mittlerweile im angloamerikanischen Diskurs der Cultural Studies kanonisierte Position: jene von Stuart Hall. Der in Jamaica 1932 geborene, 2014 in London verstorbene Soziologe gilt als einer der Mitbegründer und Hauptvertreter der Cultural Studies, er war Mitherausgeber der Zeitschrift ›New Left Review‹, eines der einflussreichsten Organe unter der ›Neuen Linken‹ in Großbritannien seit den 1960er Jahren. Hall beschäftigte sich in seiner Forschung vor der Folie marxistischer Theoriebildung vor allem mit kulturellen Praktiken, ihren Aus- und Eingrenzungsmechanismen. Er untersuchte, wer in kulturellen Aushandlungsprozessen Deutungshoheit besitzt, wie diese Deutungshoheit bestimmten Diskursteilnehmern zugesprochen und damit anderen abgesprochen wird. Kultur begreift er – sehr weit gefasst – als Aushandlungsprozess von Bedeutung, der sich zwischen unterschiedlichsten Formen der medialen Repräsentation formiert, durch Machtstrukturen geprägt ist und innerhalb dessen Identitäten ausgebildet werden. Das Bezugssystem von Repräsentation, Macht und Identität bildet ein zentrales Fundament seiner theoretischen Überlegungen zur Kultur (vgl. u.a. Hall 1994, 2000, 2004). Eines seiner zentralen Forschungsfelder ist die populäre Kultur. Wer wird hier inkludiert, wer exkludiert? Wie und warum? Es geht also um Mechanismen der Exklusion und Inklusion. Stuart Halls Ansatz lässt sich vor diesem Hintergrund vielleicht am treffendsten unter dem Begriff der »Repräsentationskritik« fassen. Mit dieser kurzen Skizze ist die Blickrichtung, die Zielperspektive, meiner Suche umrissen.
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S chulbuch , K anon und R epr äsentationskritik Meine Untersuchung bezieht sich auf die ›Kunstvermittlung‹. Es geht mir insbesondere um die schulische Kunstvermittlung und hier um ganz spezifisches Material: Schulbücher für den Kunstunterricht. Dabei beziehe ich mich auf eine Auswahl der aktuellsten Lehrwerke von Klasse 5 bis in die Oberstufe aus dreien der wichtigsten und größten deutschen Schulbuchverlage: Klett, Schroedel und Schöningh (wobei die beiden letzteren zur Westermann-Verlagsgruppe zählen und damit ökonomisch nicht als selbstständige Verlage gelten können.)1 Was hat die Thematisierung der Verlage und ihrer Lehrwerke nun mit der oben skizzierten Repräsentationskritik zu tun? Bedeutend für meine Untersuchung ist, dass insbesondere Schulbuchverlage aufgrund ihrer Distributionsnetzwerke in die wichtigsten Bildungsinstitutionen, nämlich Schulen und Hochschulen, ein spezifisches Machtgefüge darstellen: Sie dirigieren kulturelle Bildungsinhalte – und damit auch ein ganz bestimmtes, ausgewähltes Wissen – nach Auflagenhöhen und nach den jeweiligen Verteilungsschlüsseln an Schulen bzw. Hochschulen. Durch die beständige Wiederholung von in den Büchern aufgehobenem Wissen etabliert sich ein Kanon, verstanden als ein Wissensbestand einer Gruppe, der als hoch relevant anerkannt wird und für diese Gruppe identitätsstiftende Funktion hat (vgl. u.a. Heydebrand 1998, Hoffmann 2013: 136ff.). Vor diesem Hintergrund tragen folglich auch Schulbuchverlage maßgeblich zur Ausbildung eines Kanons bei und damit ebenso zur Deutung und Konstruktion von Kultur. Kunst-Schulbücher etablieren und stabilisieren schließlich Wissensbestände, sprechen damit spezifischen Inhalten Relevanz zu, wohingegen andere Inhalte als eher irrelevant erachtet und damit weniger sichtbar werden.2 Das Wissen, was in diesen Publikationen steckt, wird an die nächste Generation – also die Schülerschaft – weiter vermittelt, was eine maßgebliche Vorraussetzung für einen Kanonisierungsprozess und damit für den Identitätsbildungsprozess einer Gruppe darstellt. Erste Bilanz: Die in Kunst-Schulbüchern aufgehobenen Inhalte sowie die Methoden ihrer Aneignung, etwa des Sprechens und Abbildens, – schlicht Arten und Weisen unterschiedlicher medialer Repräsentation – prägen das Wissen einer Gesellschaft und ihrer Kultur. Wenn Wissensbestände also machtvoll 1 | Ein weiterer wichtiger Verlag, den man in einem weiterführenden Forschungsvorhaben in den Blick nehmen müsste, wäre Cornelsen mit seiner Kunst-Schulbuch-Reihe ›Kunst entdecken‹ (Band 1-3) und auch dessen im Februar 2016 erschienenes Schulbuch ›Grundwissen Kunst‹ für die Sekundarstufe 2. 2 | Zur dispositiven (machtvollen) Anordnung von Wissen vgl. auch: Foucault 1981, 1978.
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auf die Ausbildung von Identität wirken, indem sie Bedeutung produzieren, scheint es gerade für Lehrkräfte angebracht, sich mit diesen Wissensordnungen kritisch auseinanderzusetzen, die nicht zuletzt auch in Schulbüchern konstituiert werden. Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Überlegungen werden im Folgenden 10 aktuelle Lehrwerke für den Kunstunterricht genauer in den Blick genommen.
R epr äsentationskritik I: zu L ehrwerken aus dem S chroedel-V erl ag Gattungsbegriff – Werkbegriff – Kunstbegriff Drei Schulbücher aus dem Schroedel-Verlag mit dem Titel »Bildende Kunst« (Band 1-3) von Michael Klant und Josef Walch herausgegeben, sind gattungstypologisch gegliedert – das betrifft sowohl die neueren Ausgaben, die zwischen 2008 und 2010 erschienen sind (Klant/Walch: 2008/2009/2010), als auch jene aus den 1990er Jahren, die um 2000 nochmals neu aufgelegt wurden. Die Ordnungsstruktur gliedert sich in die folgenden Kapitel: • • • • •
Farbe/Malerei Grafik/Zeichnung Plastik/Skulptur Architektur Medien
Lediglich der dritte Band, der für die Oberstufe vorgesehen ist, wurde um das Kapitel »Perspektive« und »Kunstgeschichte« erweitert (Klant/Walch: 2010). Von Band 1 bis Band 3 lässt sich festhalten, dass eine Ausdifferenzierung stattfindet: Das exemplarisch dargestellte Kunstschaffen im Laufe der Geschichte endet in Band 3 mit einer Übersicht über eine Kunstgeschichte der Epochen und Stile. Hier zeigt sich bereits ein sehr traditionelles, kunsthistorisches Ordnungsmodell, das nach Stilen und zudem in die klassischen Gattungen unterteilt ist. Folglich gründet auf dieser Aufteilung der Gattungen und Stile auch der in den Bänden vermittelte Werk- und Kunstbegriff. Das verdeutlicht sich beispielhaft am Auf bau der Unterkapitel: Fast jedem Kapitel liegt mindestens ein einzelnes Werk eines Künstlers als Ausgangspunkt und Anlass für eine praktische Aufgabenstellung zu Grunde. Der Kapitelauf bau strukturiert sich wie folgt: Pro Thema mindestens ein oder zwei Werke, eine kurze Werkbeschreibung, die bereits die dann anschließende, als »Anregung« betitelte, ausformulierte Aufgabenstellung im Blick hat (vgl. u.a. Klant/Walch 2008).
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Auf der gezeigten Doppelseite aus dem Band 1 der Schulbuch-Reihe wird die Farbe Blau thematisiert (vgl. ebd: 24-25), wobei Lovis Corinth mit seinem Bild ›Luzerner See‹ (1924), auf der rechten Seite, im Mittelpunkt steht. Abb. 1: Doppelseite eines Kunst-Schulbuches für die Unterstufe: Untersuchung von Farbwirkungen und Farbeinsatz am Beispiel eines Werks von Lovis Corinth.
Quelle: Klant, Michael/Walch, Josef (2008): Bildende Kunst 1, Braunschweig: Schroedel, S. 24/25
Das Werk, hier das Gemälde, kann eindeutig einem einzelnen Schöpfer, einem Künstlersubjekt zugeordnet werden. Es wird durch die Begrenzung der Bildfläche anschaulich definiert. Ihm ist eine eindeutige Autorschaft zugewiesen. Werk und Künstler können folglich als kohärente Identitäten wahrgenommen werden. Der Werkbegriff ist in dieser ›Anordnung‹ – im Sinne eines Dispositivs – an einen Status von Originalität gebunden, der auf der Meisterschaft des ausgewiesenen Künstlers beruht. Kontextualisierungen, die die Variabilität des Kunstbegriffs vor dem Hintergrund der Möglichkeiten von Reproduktion, im Zusammenhang von Werkstatt und kollektiven Arbeitszusammenhängen oder auch institutionellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zum Thema machen, bleiben dabei unberücksichtigt.
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Abstraktion – Autonomie – Form: eine Kunstgeschichte der Moderne Untersucht man exemplarisch, welche Künstler und Künstlerinnen in den genannten Schulbüchern im Kapitel ›Farbe/Malerei‹ vertreten sind, so zeigt sich, dass die Auswahl einem impliziten Kunstgeschichtsmodell folgt, das insbesondere in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts häufig in Museen, Ausstellungen und kunsthistorischen Überblicksbänden vorzufinden ist: Es ist die Erzählung einer vorwiegend formalästhetischen Kunstgeschichte der Moderne, die sich vor allem mit der autonomen Entwicklung abstrakter Formen beschäftigt (vgl. hierzu u.a. Hoffmann 2013: 71-116). In Band 1 wird das Thema ›Farbe/Malerei‹ unter anderem durch Lovis Corinth, Paul Klee und van Gogh repräsentiert (vgl. Klant/Walch: 2008: 24, 26, 28). Abb. 2: Drei Seiten eines Kunst-Schulbuches zum Thema ›Farbe‹ am Beispiel ausgewählter Vertreter der klassischen Moderne (von links nach rechts: Lovis Corinth, Paul Klee, Vincent van Gogh).
Quelle: Klant, Michael/Walch, Josef (2008): Bildende Kunst 1, Braunschweig: Schroedel, S. 24/26/28
Die Auseinandersetzung mit ›Farbe‹ wird entlang einer tendenziell abstrakten Geschichte der Kunst organisiert. Die Farben ›Blau‹, ›Rot‹ und ›Gelb‹ werden anhand von Einzelwerken dieser Künstler behandelt und leiten über in eine praktische Aufgabenstellung. Zudem fehlt Paul Cézanne in diesem ersten, großen Kapitel nicht. In vielen Kunst-Schulbüchern (vgl. u.a. Thomas/Seydel/ Sowa 2014), aber auch in einer spezifischen Lesart der Kunst des 20. Jahrhunderts (vgl. Hoffmann 2013: 71-116) wird er häufig als sogenannter ›Wegbereiter‹ oder auch ›Vater der Moderne‹ tituliert. In diesem spezifisch historischen Diskurs stilisiert man eine Gründerfigur zum Ursprung und Ausgangspunkt der abstrakten Kunst.
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In Band 2 des Schroedel-Verlags ist man zudem im Kapitel ›Farbe/Malerei‹ innerhalb von 19 Unterkapiteln fast ausschließlich mit abstrakter Malerei konfrontiert – sofern man nach Positionen im 20. Jahrhundert sucht (vgl. Klant/ Walch 2009). Stilgeschichte wird hier durch die Begriffe ›Impressionismus‹ und ›Expressionismus‹ angebahnt. Abb. 3: Sechs Seiten eines Kunst-Schulbuches aus dem Kapitel ›Farbe/Malerei‹. Die Malerei des 20. Jahrhunderts wird hier beinahe ausschließlich als eine Geschichte der Abstraktion erzählt.
Quelle: Klant, Michael/Walch, Josef (2009): Bildende Kunst 2, Braunschweig: Schroedel, S. 12/18/28/29/30/32
So liefert der Impressionismus im zweiten Band des Schroedel-Verlages implizit die Vorlage für die später bebilderte abstrakte Malerei der sogenannten ›Klassischen Moderne‹ über den Expressionismus Gabriele Münters (vgl. Abb. 3, obere Reihe, mittig), aber auch Ernst Ludwig Kirchners. Innerhalb des Kapitels wird die Reihe fortgeführt über Pablo Picasso und Alexej Jawlensky (vgl. Abb. 3, obere Reihe: rechts, untere Reihe: links) sowie Auguste Herbin (vgl. Abb 3, untere Reihe: links). Dann folgt Max Bill, daran anschließend der Abstrakte Expressionismus: Er wird ›stilsicher‹ und exklusiv durch Jackson Pollock vertreten (vgl. Abb. 3, untere Reihe: links).
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Bemerkenswert ist: Dieses in den hier thematisierten Schulbüchern zu Grunde gelegte Geschichtsmodell, das – mehr oder weniger explizit – primär formalästhetisch ausgerichtet ist und vorwiegend entlang der Gattung Malerei argumentiert, folgt einem relativ exklusiven teleologischen Kunstgeschichtsmodell, in dem sich die Kunst von einem mimetischen Abbildungsvorgang hin zur Abstraktion entwickelt. Unberücksichtigt bleibt in den Schulbüchern jedoch, dass sich diese Lesart einer Kunstgeschichte der Moderne in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr populär etabliert hatte und zwar vor allem vor dem Hintergrund einer Rehabilitierung der im Nationalsozialismus verleumdeten Künstler und Künstlerinnen, die unter dem Label ›entartete Kunst‹ diffamiert worden waren. Darüber hinaus wurde dieses Entwicklungsmodell der Kunst im Zuge des Kalten Krieges und seiner kulturpolitischen Frontstellung zwischen Ost und West mindestens bis in die 1960er Jahre verlängert: der Abstrakte Expressionismus und die Informelle Malerei standen dafür Pate. Unter anderem forcierten die ersten drei Documenta-Ausstellungen (1954, 1959, 1964) dieses Modell (vgl. Hoffmann 2013: 72ff.): Hatte doch der Kunsthistoriker Werner Haftmann genau diese Konzeption einer abstrakten Moderne in seinem prominenten Band ›Malerei des 20. Jahrhunderts‹ im Jahr 1954 entfaltet und der Konzeption der Kasseler Kunstausstellung zu Grunde gelegt. Aber auch innerhalb des US-amerikanischen Diskurses um den Abstrakten Expressionismus und dessen Historisierung stand diese Geschichte einer abstrakten Moderne im Fokus und wurde vor allem am Museum of Modern Art durch Alfred Barr und Clement Greenberg vertreten. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Kunst-Schulbücher aus dem Schroedel-Verlag wie eine didaktisch reduzierte Ahnengalerie einer ganz spezifischen, autonomisierten Kunstgeschichte der Moderne, entlang genialistischer Meisterleistungen.3
»Why Have There Been No Great Women Artists?« – Meisterschaftsgenealogien Es fällt zudem auf, dass die hier zu Grunde gelegte Kunstgeschichte einer abstrakten Moderne vorwiegend entlang männlicher, weißer europäischer bzw. US-amerikanischer Künstler organisiert ist. In Band 1 der Schulbuch-Reihe 3 | Im Band 3 liegt der Schwerpunkt verstärkt auf der Visualisierung von räumlicher Perspektive, insofern spielt die Malerei der Moderne im Hinblick auf die Abstraktion eine weniger starke Rolle. Aber auch hier kann man die These vertreten, dass das bereits erwähnte Geschichtsmodell implizit zum Tragen kommt: denn mit der Thematisierung der Perspektive wird zunächst ein mimetisches Abbildungsverhältnis in der Geschichte der Kunst zu Grunde gelegt (Giotto, da Vinci etc.), das dann in der Malerei der Moderne einen Bruch erfährt. Dies wird wiederum auch im Band 3 durch einzelne abstrakte Positionen (u.a. Léger, O’Keefe, Niemeyer, Mondrian) begründet.
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›Bildende Kunst‹ wird im Kapitel zur Farbe bzw. Malerei keine einzige weibliche Künstlerin thematisiert (vgl. Klant/Walch 2008), in Band 2 finden sich unter den rund 15 thematisierten Positionen für die Malerei der Moderne lediglich 2 Frauen (vgl. Klant/Walch 2010). Ein weiterer Band mit dem Titel ›Grundkurs Kunst 1‹ aus dem SchroedelVerlag, ebenfalls von Michael Klant und Josef Walch (2013) herausgegeben,4 bezieht sich exklusiv auf die Gattungen Malerei, Grafik und Fotografie. Bemerkenswert ist auch hier, dass innerhalb der Malerei des 20. Jahrhunderts unter den insgesamt mindestens 40 thematisierten Künstlern lediglich 2 Frauen auftauchen: Maria Lassnig und Georgia O’Keefe – wobei die letztere eine der wenigen Künstlerinnen darstellt, die Haftmann in seine bereits erwähnte Publikation ›Malerei im 20. Jahrhundert‹ aufgenommen hatte.5 Auch das Lehrwerk ›Grundkurs Kunst +‹ mit dem Untertitel ›Basiswissen, Kunstgeschichte und Bildkompetenz‹ aus dem Schroedel Verlag steht diesem geschlechtsspezifischen Ungleichgewicht in nichts nach. Auch dieser Band erscheint unter gleicher Herausgeberschaft (vgl. Klant/Walch 2015). Zwar öffnet sich das Kapitel mit dem Titel ›Wege zum Beruf – Künstler und Künstlerinnen‹ einer stärkeren Kontextualisierung des Kunstbegriffs – weg von einem essentialistischen und naturalisierenden Ansatz, hin zu einer Thematisierung gesellschaftlicher Kontexte –, denn hier beschäftigt man sich mit den exklusiven Rahmenbedingungen der Künstlerausbildung vor allem anhand des traditionellen Kunstakademiebetriebs. Allerdings werden auch in diesem Kapitel die Ungleichgewichte in Bezug auf das Geschlechterverhältnis überhaupt nicht thematisiert. Hätte man doch die beschränkten historischen Ausbildungsmöglichkeiten für Frauen zur Diskussion stellen können, wie sie (nicht zuletzt) bereits Linda Nochlin 1971 in ihrem berühmten Aufsatz mit dem polemisch formulierten Titel ›Why Have There Been No Great Women Artists?‹ formuliert hatte.
4 | Erstmalig erschien der Band 1988, wurde dann 2002 erneut aufgelegt und dann in kaum veränderter Form 2013 nochmals unter den genannten Namen herausgebracht. 5 | Insofern ließe sich Kathrin Sohns These »Die Kunst ist männlich« auch für die genannten Lehrwerke bestätigen. In ihrem diskursanalytischen Ansatz hat die Autorin Gegenstandsbereiche des Kunstunterrichts, dessen curriculare Vorgaben und die Inhalte von Abituraufgaben in Baden Württemberg im Hinblick auf genderspezifische (Macht-)Asymmetrien untersucht (vgl. Sohn 2015).
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R epr äsentationskritik II: zu L ehrwerken aus dem K le t t -V erl ag Subjekte statt Objekte? Grundsätzlich sind auch die KUNST-Arbeitsbücher aus dem Klett-Verlag so strukturiert, dass sie sich von der Unter- über die Mittel- bis zur Oberstufe verstärkt kunsthistorisch ausdifferenzieren – ganz ähnlich wie die SchroedelBände. Bei den von Hubert Sowa, Alexander Glas und Fritz Seydel6 zwischen 2008 und 2010 herausgegebenen Bänden stehen allerdings zunächst – innerhalb von Band 1 (2008) und Band 2 (2010) – verstärkt an den Lernenden orientierte Projekte im Vordergrund. Hier lässt sich eine deutliche Differenz zu den Schroedel-Bänden feststellen: Die KUNST-Arbeitsbücher ermöglichen vermehrt individualisierte Zugänge zu ganz verschiedenen Verfahrensweisen der künstlerischen Praxis und eröffnen dadurch multiperspektivische Zugänge zur ›Geschichte der Kunst‹. Eine strenge Gattungstypologisierung wird hier – auch anders als bei den Bänden im Schroedel-Verlag – aufgebrochen. Gegenstände aus populärer Kultur und Kunst verschränken sich verstärkt miteinander. Im ersten Band der KUNST-Arbeitsbücher weisen die Kapitel weder Begriffe aus einer ›Stilgeschichte der Kunst‹ auf (wie etwa ›Impressionismus‹ und ›Expressionismus‹ bei Schroedel), noch fokussieren sie exklusiv formalästhetische Zugänge innerhalb der künstlerischen Praxis (vgl. Sowa et al. 2008: 8ff.). Sie sind subjekt-orientierter angelegt, was sich bereits an den sieben Überschriften der Großkapitel verdeutlicht, die eine individuelle und subjektivierte Wahrnehmung in den Mittelpunkt stellen: 1. Die gehören mir; 2. Wir feiern Feste; 3. Ich sehe mich; 4. Das fühle ich; 5. Ich schaue genau hin; 6. Ich porträtiere andere; 7. Ich halte Bewegung fest. Kapitel 1 mit dem Titel ›Die gehören mir‹, enthält Unterkapitel wie ›Ein Tier gern haben‹ (ebd.: 10ff.) oder auch ›Zuneigung zeigen‹ (ebd: 12ff.). Das sicher (nicht zuletzt) für Kinder in der Unterstufe wichtige und große Thema ›Beziehung‹ wird hier mit unterschiedlichen bildnerischen Zugängen entfaltet: projektorientiertes Vorgehen, bei dem sowohl fotografische, plastische, malerische, aber auch szenische Inszenierungsmöglichkeiten vorgestellt werden, eröffnen ein breites Spektrum für die individuelle Auseinandersetzung mit dem Thema und für die Erprobung künstlerischer Arbeitsweisen.
6 | Der erste Band (2008) wurde zusätzlich mit Bettina Uhlig publiziert. Personelle Überschneidungen der Herausgeberschaft bestehen mit dem Forschungsverbund IMAGO, vgl. hierzu auch Glas et al. (2015). Die Publikation kann vertiefend die inhaltlichkonzeptionelle Ausrichtung der KUNST-Arbeitsbuch-Reihe erschließen.
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Die Vermittlung einer autonomen, formalästhetischen oder stilgeschichtlichen Geschichte der Kunst steht hier folglich nicht im Vordergrund. Vielmehr rücken die subjektiven Anlässe künstlerischer Produktion in unterschiedlichen zeitgenössischen, aber auch historischen Kontexten in den Blick – dabei werden aber zugleich die Gegenstände einer bereits kanonisierten Kunstgeschichte nicht vollständig ad acta gelegt. Auch der Band 2, der für die Mittelstufe entworfen wurde, nimmt Bezug auf klassische Inhalte der Kunstgeschichte (vgl. Sowa et al. 2010), aber auch dieser ist im Vergleich mit den Schroedel-Büchern viel weniger an einem kanonisch-bildungsbürgerlichen Wissen orientiert. Vielmehr greift er Bezüge zur Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler auf. Das wird vor allem an Folgendem deutlich: Das erste Großkapitel des Bandes stellt unterschiedliche ›Arbeitsvorhaben‹ vor, die jeweils separat in einem Unterkapitel behandelt werden, beispielsweise »Eine Ausstellung einrichten«, »ein Wissensposter oder eine Präsentation gestalten«. Anknüpfend an das jeweilige Projekt wird dann jedesmal ein potentielles Berufsfeld skizziert: So etwa bei der Auseinandersetzung mit dem Thema ›Ausstellung‹ das Berufsfeld ›Modellbau‹ (ebd.: 57), bei der Gestaltung von Präsentationen, das Berufsfeld ›Grafikdesign‹ (ebd.: 81). Eine erste Diagnose: Aktuelle (möglicherweise auch nur unterstellte?) Lebensweltorientierung wird hier vermehrt gegenüber kanonischen Bildungsinhalten favorisiert. Unter einer repräsentationskritischen Perspektive ließe sich folgende These diskutieren: Die Struktur der beschriebenen Lehrwerke aus dem Klett-Verlag, insbesondere der Band 2 für die Mittelstufe, steht symptomatisch für eine verstärkte Ökonomisierung des Bildungssektors: Im Zuge der Bologna-Reform stehen vor allem Kompetenz- und Output-orientierte Bildungsgänge, eine möglichst hohe Garantie für ›Employability‹ und damit auch die verstärkte Fokussierung auf Berufsfelder im Mittelpunkt. Das hat zur Folge, dass ehemals kanonische bildungs(-bürgerliche) Wissensbestände – also eine im traditionellen Sinne ›Kulturelle Bildung‹ – weniger im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Kunst- und bildhistorische Bezugnahmen treten zu Gunsten zeitgenössischer, anwendungsorientierter Praxisbeispiele vermehrt in den Hintergrund. Das KLETT-Arbeitsbuch versucht offensichtlich im komplexen Feld der Ansprüche zwischen ›Bologna‹, ›Bildung‹, ›individueller Differenzierung‹ und pädagogisch-didaktischer Begründbarkeit eine Gratwanderung zu bewerkstelligen.
Oberstufe, Kanon und eurozentristische Kunstgeschichte Interessant ist, dass der letzte Band der Reihe, das KUNST-Arbeitsbuch 3, das für die Oberstufe konzipiert ist, die konservativste Struktur im Hinblick auf kanonische Bildungsinhalte aufweist (vgl. Sowa et al. 2009). Wenn also der
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Selektionsmechanismus des deutschen Bildungssystems qua Abitur greift, dann wird offensichtlich verstärkt ein bildungsbürgerlicher Kanon (und damit auch seine spezifischen Exklusionsmechanismen) unter dem Titel ›Orientierungswissen Kunstgeschichte‹ aufgerufen (vgl. ebd: 6ff.): So ist der dritte Band wiederum nach einer epochen- bzw. stilgeschichtlichen Kunstgeschichte und damit westlich-eurozentristisch ausgerichtet. Er orientiert sich vorwiegend an einer ›autonomen Geschichte der Form‹ – was hier insbesondere an Kapitel 1 deutlich wird (vgl. ebd: 6ff.). Kunstgeschichte wird erneut als männliche Ahnengenealogie, als eine ›Geschichte der Väter‹ bzw. ›Meister‹ rekapituliert: auch Paul Cézanne wird hier als »Wegbereiter der Moderne« tituliert (vgl. ebd.: 38). Keine einzige weibliche Künstlerin taucht in dieser Kunstgeschichtsschreibung auf – auch nicht im 20. Jahrhundert. Bemerkenswert ist zudem, dass diesem dritten Band eine weitere Publikation beigestellt ist, der sogenannte ›KUNST-Bildatlas‹, 2014 von Karin Thomas, Fritz Seydel und Hubert Sowa herausgegeben. Es ist ein aufwändig verlegter Bildband, mit einem ebenfalls epochengeschichtlichen Überblick, der die Kunstentwicklung im Laufe der Geschichte illustrieren soll. Eine Zeitleiste ist dem Band als prologischer Vorspann vorangestellt. Der Ausschnitt zwischen 1860 und 1920 visualisiert »die Kunst auf dem Weg in die Moderne« (Sowa et al. 2014: o.S.): Einzelne Ikonen einer westlich-eurozentristischen Kunstgeschichte illustrieren die Etappen mit miniaturhaften Abbildungen kanonischer Werke der ›Meister‹, so etwa von Monet, van Gogh und Picasso. Anhand der dann folgenden exemplarisch-skizzenhaften Einzelwerkbesprechungen auf jeweils einer Doppelseite wird dann diese Geschichte der Kunst manifestiert. Karin Thomas, die Mitherausgeberin des KUNST-Bildatlas ist vor allem durch ihren kunsthistorischen Überblicksband mit dem Titel ›Bis heute. Stilgeschichte der bildenden Kunst im 20. Jahrhundert‹ bekannt geworden. So verwundert es nicht, dass in ganz ähnlichem Duktus auch der KUNST-Bildatlas aus dem Klett-Verlag verfasst ist: Auch er konstruiert eine weitgehend formalästhetisch und (manchmal nur vermeintlich) nach Stilen argumentierende, autonome westlich-eurozentristische Kunstgeschichte, die sich vielfach der Entstehungskontexte ihrer Werke entledigt und ebenso kursorisch, wie selbstverständlich eine vermeintlich unhintergehbare kunsthistorische Chronologie entwirft. Auch dieser Bildatlas konstruiert – im Sinne von Roland Barthes – einen Mythos und damit eine naturalisierte, eine essentialistische Geschichte der Kunst: Der Mythos gehe von der Geschichte zur Natur über, entledige sich der Widersprüche, »Die Dinge«, so Roland Barthes, »machen den Eindruck, als bedeuteten sie von ganz allein.« (Barthes 1964: 131ff.) Im Hinblick auf geschlechtsspezifische Machtasymmetrien kann die Publikation folglich ebenfalls blinde Flecken verzeichnen (vgl. Sowa et al. 2014: 20-137): Von den 84 Künstler(!)-Kapiteln zwischen ›Postmoderne‹ und den
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sogenannten ›Wegbereitern der Moderne‹ sind lediglich 2 Kapitel weiblichen Künstlerinnen gewidmet: Paula Modersohn-Becker und Käthe Kollwitz treten als marginalisierte Vertreterinnen einer ›männlichen Moderne‹ und ›Postmoderne‹ auf den Plan. Auch hier wird Meister(!)schaftsgeschichte geschrieben.
R epr äsentationskritik III: zu L ehrwerken aus dem S chöningh -V erl ag Zwischen Essentialismus und Relationalität Abschließend möchte ich auf eine Publikation aus dem Schöningh-Verlag eingehen, die von Franz Billmayer, Martin Oswald und Ernst Wagner herausgegeben wurde (Wagner/Billmayer/Oswald 2013). Ihr Titel ist Programm: ›Kunst im Kontext‹, ein Arbeitsbuch für die Oberstufe.7 Zwar wird auch hier kanonische Kunstgeschichte anhand von vorwiegend männlichen Künstlern des 20. und 21. Jahrhunderts rekapituliert – und auch hier wiederum gattungstypologisch organisiert. Jedoch scheint mit dieser Publikation ein repräsentationskritischer Zugang am weitesten verwirklicht zu sein. Im Gegensatz zu den erläuterten Lehrwerken aus den Verlagen Klett und Schroedel werden in diesem Band vermehrt weibliche Künstlerinnen rezipiert – wenngleich immer noch in auffälliger Minderheit, obwohl es sich um eine Schulbuch handelt, das sich exklusiv auf die Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts bezieht 8: Georgia O’Keefe, Rebecca Horn, Christo und Jean Claude, Valie Export und Marina Abramovic,
7 | Ein weiterer Oberstufenband, der vermutlich im Wettbewerb der Schulbuchverlage notwendig war, kann als Pendant zu dem hier erörterten gelten: Moderne Kunst. Zugänge zu ihrem Verständnis, hg. von Joachim Kirschenmann und Martin Oswald, im KlettVerlag 2014 erschienen. Hier liegt der Fokus – neben der üblichen Deklination von kanonischen, meist männlichen Vertretern der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts – vor allem auf der Reflexion künstlerischer Produktion ab 1990. Unter dem Titel ›Spätmoderne und Postmoderne‹, ›Zweite Moderne‹ oder auch ›oszillierende Moderne‹ werden hier Veränderungen/Verschiebungen der künstlerischen Produktionsweisen thematisiert, so etwa im Hinblick auf zeitgenössische mediale Entwicklungen, aber auch im Bezug auf ein erweitertes Raumverständnis. Die Zugänge scheinen mir allerdings für Schülerinnen und Schüler viel weniger eingängig als in dem Schöningh-Band von Wagner/Billmayer/ Oswald (2013). 8 | Ferner: Auch das die hier untersuchten 10 Lehrwerke bis auf 2 Ausnahmen (Bettina Uhlig, Karin Thomas) weitgehend exklusiv von männlichen Herausgebern, die in der Kunstdidaktik tätig sind, publiziert werden, kann man als symptomatisch für ein machtasymmetrisches Geschlechterverhältnis deuten.
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Maria Lassnig und sogar die Guerrilla Girls finden hier als weibliche Kunstschaffende Eingang. Der erste Teil ›A‹ mit dem Titel ›Kunst, Werk, Produkt – Ausgewählte Positionen des 20./21. Jahrhunderts‹ befasst sich exklusiv mit Einzelwerken und deren KünstlerInnen (ebd: 10ff.). Zugleich wird hier ein kohärenter Werkbegriff durch die Einführung der Bezeichnungen ›Produkt‹ und ›Position‹ relativiert. Dies markiert eine Deutungsverschiebung und gegenüber einem essentialistischen Kunstbegriff: rückt doch der Begriff ›Produkt‹ die Arbeitsbedingungen und ökonomischen Kontexte, die Bezeichnung ›Position‹ das relationale Verhältnis zu anderen Positionen und damit die Möglichkeit der historischen Transformation des Kunstbegriffs in den Blick. Am bemerkenswertesten ist allerdings der zweite Teil ›B‹ der Publikation mit dem Titel ›Herstellen, Vermitteln, Wahrnehmen – Das Kunstsystem heute‹ (vgl. ebd: 244ff.). Dieser zweite Teil fokussiert tatsächlich eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem Kunstbetrieb und den Mechanismen seiner Bedeutungsproduktion. Er steht einem repräsentationskritischen Zugang zur Kunst offensichtlich am nächsten: Teil ›B‹ erläutert beispielsweise im ersten Kapitel unter dem Titel ›Herstellen‹ unterschiedliche Produktionskontexte von Kunst, etwa in traditioneller Atelierarbeit (ebd.: 251), bei Künstlerpaaren (ebd.: 255), aber auch in Künstlerkollektiven (ebd.: 263), ebenso wie Kommerzialisierungsaspekte des Kunstsystems am Beispiel Warhol thematisiert werden (ebd.: 259). Kapitel 3 erörtert unter dem Titel ›Vermitteln: Kuratoren, Händler, Lehrer‹ diverse Vermittlungskontexte vom ›White Cube‹ (ebd.: 300) über internationale Großkunstausstellungen (ebd.: 305ff.), wie etwa der Biennale und der Documenta, bis hin zur Thematisierung des Kunstmarkts zwischen Galeriebetrieb und Kunstmesse (ebd.: 311ff.). Zudem beschäftigt sich dieses Kapitel in einem Exkurs mit Kunst in totalitären Systemen am Beispiel des NS (ebd.: 331). Bedeutende Köpfe der Kunstdidaktik rücken in den Blick: so etwa Gunter Otto und Gert Selle (ebd.: 323ff.) – aber auch hier ist bemerkenswert: weibliche Autorschaft ist ausgeklammert.9 Kapitel 4 widmet sich unter dem Titel ›Wahrnehmen: Liebhaber, Kritiker, Wissenschaftler‹ der Kunstgeschichte und ihren methodischen Zugängen, aber auch dem Kunstdiskurs am Beispiel der Kunstkritik. Die inhaltliche Struktur dieser Publikation zeigt: Kunst tritt in diesem Schulbuch offensichtlich viel weniger als ›naturalisierte Geschichte‹ in Erscheinung. Kunst bzw. ›das, was man unter Kunst verstehen kann‹ (aber nicht selbstverständlich muss) wird als ›Aushandlungsprozess von Bedeutung‹ zwischen unterschiedlichen Akteuren sichtbar, verstehbar, damit kritisierbar und 9 | So etwa war Helga Kämpf-Jansen Zeitgenossin und kann zur gleichen Generation von KunstdidaktikerInnen gezählt werden wie bspw. Gerd Selle.
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auch verhandelbar. Die Identitätslogik eines genealogisch verstandenen, westlich-eurozentritischen Kunstbegriffs wird hier mit der Differenzlogik eines als relational verstandenen Kunstbegriffs konfrontiert. Die in diesem Schulbuch zu Grunde gelegte kunstdidaktische Perspektive, die verstärkt die Kontexte einer ›allgemeinen visuellen Kultur‹ in den Blick nimmt, sind für Billmayers Position – und Mitherausgeber dieses Schulbuches – zentral: Nicht das ›Bild‹ oder das ›Werk‹ steht im Zentrum, sondern die Situation, in der es verwendet wird, und das Problem, das mit ihm gelöst werden soll.« (Billmayer 2015, 44) Dennoch – auch dieser Band ›markiert‹ einen blinden Fleck, den man ebenso für alle genannten Publikationen herausarbeiten kann: Es ist der eurozentristische Blick auf eine westliche Kunstgeschichte, der weitgehend exklusiv die Kunstproduktion in den westlichen EU-Staaten und in den USA ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Hier wird eine relativ totalisierende Kunstgeschichte konstruiert. Sie argumentiert ›von der Antike bis in die Gegenwart‹ weitgehend entlang dieser territorialen Beschränkungen. Würde man diese exklusive Auswahl und methodischen Zugriffe mit Ansätzen aus den Postcolonial Studies quer lesen, könnte man weitere, dringend notwendige Konzepte für eine repräsentationskritische Kunstvermittlung entwickeln. Es ginge dabei nicht darum, wie etwa im besprochenen KUNST-Bilderatlas des Klett-Verlags – oder auch in dessen KUNST-Arbeitsbuch 3 für die Oberstufe – außereuropäische Kunst tendenziell stilgeschichtlich oder als ›historische Folklore‹ zu rezipieren (vgl. Sowa et al. 2014: 8f.), sondern eben genau diese Formen der Aneignung kritisch in den Blick zu nehmen. Publikationen wie etwa Edward Saids Studie zum Orientalismus, aber auch die in der Nachfolge von Stuart Hall entwickelten Ansätze etwa von Kobena Mercer oder Gayatri Spivak könnten Ausgangspunkte liefern.10 Für die kunstpädagogische Debatte hat bereits u.a. Ansgar Schnurr (2014; Lutz-Sterzenbach et al. 2013), ferner Paul Mecheril (2012), den wichtigen Diskurs um (Post)Migration und komplexe Zugehörigkeitsordnungen eröffnet.
10 | Zudem könnten kunsthistorische Positionen, die mit postkolonialen Ansätzen arbeiten, verstärkt wahrgenommen werden: so etwa jene von Viktoria Schmidt-Linsenhoff oder Christine Peiltre, um innovative kunstdidaktische Konzepte für Schulbücher zu entwickeln.
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A bschluss : Ö ffnung Kulturbegriff(e) Im Hinblick auf das Tagungsthema ›Kulturelle Bildung – Bildende Kultur‹ scheint gerade vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen und kulturellen Vorraussetzungen von Globalisierung und Migration ein multiperspektivischer Ansatz von Kultureller Bildung von Nöten, die einen breiteren Kulturbegriff im Blick hat als einen exklusiv eurozentristischen und tendenziell hochkulturellen. Nur in dieser Öffnung kann sich eine Gesellschaft den Herausforderungen einer von Migration, aktuell vor allem von Flucht geprägten Gesellschaft stellen.11 An einen traditionellen Kulturbegriff gebundene Identitätskonzepte müssen dann folglich neu verhandelt werden. Identität wäre dann gleichfalls nicht essentialistisch (also auch nicht exklusiv nationalistisch oder territorial), sondern relational zu denken.
Kanon und Kanonkritik Eine abschließende und zugleich für die Diskussion zu öffnende Frage wäre: Wie lässt sich ein Bildungsprozess, wie lässt sich Kulturelle Bildung denken oder gar strukturieren, die möglicherweise beides im Blick hat, sowohl kanonische Inhalte als auch repräsentationskritische Aspekte? Es ginge darum, nicht das Eine zu Gunsten des Anderen ad acta zu legen. Tom Holert beschäftigt sich in der Dezember 2015 Ausgabe der Zeitschrift ›Texte zur Kunst‹ zum Thema ›Kanon‹ mit den Fallstricken der Kanonkritik. Ihm schwante Anfang der 1990er Jahre, als er Redaktionsmitglied der Zeitschrift wurde, dass sich mit der zum Ziel gesetzten Negation und Dekonstruktion des Kanons, unweigerlich ein Gegenkanon formieren würde, der seinerseits das Potential hätte, »schlicht kanonisch zu werden« (vgl. Holert 2015: 37). Er kommt zu dem luziden Schluss: »Ich kenne keine Alternative zu der Alternative von Einrichtung und Abrüstung des Kanons. Ich will aber, dass jedes Entwerfen und Verwerfen eines Kanons innerhalb eines unausweichlichen Kanonsystems eine Funktion in einem übergeordneten Projekt erfüllt. Kanonizität hat das Potenzial, soziale Zusammenhänge (Kommunikation) zu gefährden und zu garantieren.« (Ebd. 39) Mein Fazit wäre also: Im Gespräch bleiben, sich der Überprüfung stellen. Auf beiden Seiten. Und damit: Auf der Suche bleiben.
11 | Vor allem dann, wenn Parteien wie etwa die AFD erneut einen exklusiven, traditionell abendländisch-europäischen Kulturbegriff einfordern (vgl. die Süddeutsche vom 31.03.16: »Das versteht die AfD unter Kultur«).
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L iter atur Barthes, Roland (1964): Mythen des Alltags, Frankfurt a.M. Billmayer, Franz: (2014) »Das Ganze, nicht nur ein Teil. Visuelle Kultur als Neue Orientierung.«, in: Torsten Meyer/Gila Kolb (Hg.), What’s next? Art Education, Ein Reader, München, S. 41-44. Foucault, Michel (1981): Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. (Erstausgabe 1969). Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin. Glas, Alexander/Heinen, Ulrich/Krautz, Jochen/Miller, Monika/Sowa, Hubert/Uhlig, Bettina (Hg.) (2015): Kunstunterricht verstehen. Schritte zu einer systematischen Theorie und Didaktik der Kunstpädagogik, München. Hall, Stuart (2004): Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4, Hamburg. Hall, Stuart (2000): Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt. Ausgewählte Schriften 3, Hamburg. Hall, Stuart (1994): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Hamburg. Heydebrand, Renate von (Hg.) (1998): Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, Stuttgart. Hoffmann, Katja (2013): Ausstellungen als Wissensordnungen. Zur Transformation des Kunstbegriffs auf der Documenta 11, Bielefeld. Holert, Tom (2015): »Lob der Unbescheidenheit. ›Kanon-Politik‹ (1992) revisited«, in: Texte zur Kunst Jg. 25 H100, S. 36-39. Klant, Michael/Walch, Josef (2002): Grundkurs Kunst 1: Malerei/Grafik/Fotografie. Braunschweig (Erstausgabe 1988). Klant, Michael/Walch, Josef (2008): Bildende Kunst 1, Braunschweig. Klant, Michael/Walch, Josef (2009): Bildende Kunst 2, Braunschweig. Klant, Michael/Walch, Josef (2010): Bildende Kunst 3, Braunschweig. Klant, Michael/Walch, Josef (2015): Grundkurs Kunst +. Basiswissen, Kunstgeschichte, Bildkompetenz, Braunschweig. Lutz-Sterzenbach, Barbara/Schnurr, Ansgar/Wagner, Ernst (Hg.) (2013): Bildwelten remixed. Transkultur, Globalität, Diversity in kunstpädagogischen Feldern, Bielefeld. Mecheril, Paul (2012): »Ästhetische Bildung und Kunstpädagogik. Migrationspädagogische Anmerkungen«, in: Art Education/Research Jg. 3 (6). Schnurr, Ansgar (2014): Postmigrantische Kunstpädagogik, in: Torsten Meyer/ Gila Kolb (Hg.) (2015): What’s next? Art Education, Ein Reader, München, S. 301-304.
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Kultur und Bildung – eine herrschaftskritische Betrachtung mit den Cultural Studies Daniel Krenz-Dewe
In diesem Beitrag wird der sozial- und kulturtheoretische Ansatz der Cultural Studies herangezogen, um einen Blick auf das Verhältnis von Kultur und Subjekt im Kontext von (kultureller) Bildung zu werfen. Ich möchte dabei vorschlagen, reflexiv-herrschaftskritische Bezugnahmen auf Subjektpositionen als Teil kultureller Bildungsprozesse zu verstehen. Dazu werden zunächst die allgemeine herrschaftskritische Perspektive und der Kulturbegriff der Cultural Studies skizziert und im zweiten Schritt ein damit verbundenes Kritikverständnis erläutert. Im darauf folgenden Schritt wird die Frage angesprochen, wie sich im Rahmen der Cultural Studies politisch-kritische Veränderung denken lässt. Dazu wird die Figur der Artikulation und Re-Artikulation von Subjektpositionen bei Stuart Hall aufgegriffen und diskutiert. Im vierten Schritt wird das bildungstheoretische Potenzial reflexiv-herrschaftskritischer Bezugnahmen auf Subjektpositionen aufgezeigt und im letzten Schritt auf den Kontext der Kulturellen Bildung bezogen.
P erspek tive und K ulturbegriff der C ultur al S tudies Kultur und Bildung rangieren innerhalb von vielfältigen und einander überkreuzenden Herrschaftsverhältnissen. Beide können zugleich als Felder politischer Auseinandersetzungen verstanden werden. Darauf wird in der Tradition der Cultural Studies verwiesen. Empirische und theoretische Fragestellungen werden in dieser Tradition von einem politisch-kritischen Motiv getragen. Von Interesse ist der Zusammenhang von Bedeutung und Macht, wobei Kulturanalyse und Herrschaftsanalyse verbunden werden. Oliver Marchart (2008: 16) schreibt, dass die Cultural Studies sich nicht über einen bestimmten Gegenstandsbereich definieren, sondern über ihre spezifische politische Perspektive. Dies erschließt sich, wenn man ihren Kulturbegriff beleuchtet:
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Daniel Krenz-Dewe »›Kultur‹ [stellt] für die Cultural Studies alles andere als den Sammelbegriff für das Wahre, Schöne und Gute dar […]; sie ist aber auch nicht der neue Sammelbegriff für das Amüsante, Laute und Bunte. Vielmehr wird Kultur den Cultural Studies fragwürdig. Das Kulturelle verliert seine Unschuld.« (Ebd.: 12)
Mit dem Bild vom Verlieren der Unschuld wird darauf verwiesen, dass das Kulturelle nicht von politischen Auseinandersetzungen zu trennen ist. Das Politische und das Kulturelle durchdringen sich im Verständnis der Cultural Studies gegenseitig. Mit dem Politischen ist im groben Anschluss an postfundamentalistische Theorien die Dimension einer grundlegenden Umstrittenheit und Durchgesetztheit jeder Ordnung des Sozialen gemeint, welche durch die Herstellung von (partiellen) Konsensen im vorherrschenden Alltagsbewusstsein immer nur vorübergehend und brüchig verdeckt werden kann (vgl. bspw. Marchart 2002). Kultur wird als soziale Praxis verstanden, als etwas, das sich in einem ständigen dynamischen Prozess befindet. Hiermit verbindet sich die Sichtweise, Kultur als das Gewöhnliche zu betrachten, die sich in der Frühphase der Cultural Studies in den 1950er Jahren in der Hinwendung zur Populärkultur ausdrückte. Raymond Williams betrachtete Kultur als Alltagspraxis und zugleich als »ganze Lebensweise« und zwar nicht nur in Bezug auf die bürgerlichen Milieus, sondern auf alle gesellschaftlichen Schichten. ›Ganze Lebensweisen‹ beinhalten allerdings auch die Dimension von Kampf und Konflikt, worauf E.P. Thompson in einer Kritik an Williams zu Beginn der 1960er Jahre mit Verweis auf Marx und Gramsci hingewiesen hatte (vgl. Marchart 2008: 51ff.). Diesem Impuls folgt auch die heutige Sichtweise der Cultural Studies, nach der innerhalb des Kulturellen macht- und widerspruchsvolle Differenzordnungen und soziale Identitäten bzw. Subjektpositionen hergestellt werden. Mit ›soziale Identitäten‹ ist bspw. die gesellschaftliche Positionierung als ›Frau‹ oder ›Mann‹ und als ›homosexuell‹ oder ›heterosexuell‹ gemeint. In Bezug auf die Analyse von Alltagspraktiken rückt Kultur als System machtvoller Unterscheidungen in den Blick. Hier zeigt sich die Verschränkung des Kulturellen und des Politischen konkret: »Differenzordnungen sind […] wirkungs- und machtvoll, weil sie, wie etwa die Unterscheidung zwischen ›Migranten‹ und ›Nicht-Migranten‹ […] viele wenn nicht alle Menschen eines zeit-räumlichen, historisch-kulturellen Kontextes betreffen, und weil sie den positiven oder negativen Rahmen darstellen, in dem sich Selbstverständnisse der Menschen bilden. Differenzordnungen führen Unterscheidungen ein, die das gesellschaftliche Geschehen symbolisch und materiell, diskursiv und außer-diskursiv für Mitglieder von Gesellschaften begreifbar machen. […] in ihnen wird folgenreich unterschieden, […] in ihnen bilden sich Routinen des Körpers, der Sprache, des Denkens
Kultur und Bildung aus, die den eigenen Platz in einer sicher nicht starren, aber gut gesicherten Reihe von hierarchisch gegliederten Positionen wiedergeben.« (Gottuck/Mecheril 2014: 100)
Innerhalb des Kulturellen geht es um politisch bedeutsame Unterscheidungen, wie etwa »zwischen denen, die legitim privilegiert und legitim deprivilegiert sind« (ebd.: 88). Cultural Studies verstehen Kultur also als »ein Feld von Machtbeziehungen« (Marchart 2008: 16), in welchem Differenzordnungen und soziale Identitäten bzw. Subjektpositionen produziert und reproduziert werden, aber auch kritisch herausgefordert und verändert werden können.
K ritik und I ntervention in den C ultur al S tudies In den Cultural Studies wird davon ausgegangen, dass Menschen nicht nur passiv oder gar ohnmächtig sind, sondern im Rahmen gegebener Bedingungen auf ihre jeweilige Lebenssituation Einfluss nehmen können. Dieses Interesse an der Aktivität der Subjekte, deren mögliche Handlungsspielräume immer wieder herausgearbeitet werden, verbindet sich mit einem Interventionismus: Die Analyse zielt darauf ab, Wissen zu produzieren, welches Machtbeziehungen zu verstehen und damit zu verändern ermöglicht. Es soll dazu beitragen, Menschen zu ermächtigen, ihre Lebensumstände selbst gestalten zu können – insofern wird an einem Emanzipationsparadigma zwar durchaus festgehalten, jedoch nicht ungebrochen: »Obwohl Cultural Studies keinen Anspruch auf Totalität oder Universalität erheben, versuchen sie dennoch, ein besseres Verständnis davon zu entwickeln, wo ›wir‹ uns befinden, so dass ›wir‹ an einen anderen, hoffentlich besseren Ort gelangen können. Wobei allerdings die Frage, was besser ist und wie Entscheidungen getroffen werden, wie auch die Frage wer ›wir‹ sind, offen gelassen wird.« (Grossberg 1999: 58)
Cultural Studies möchten Theorie zur Verfügung stellen, wollen gewissermaßen ›aufklären‹, wobei in Rechnung gestellt wird, dass die eigene Arbeit nicht außerhalb gesellschaftlicher Machtkämpfe um »Wahrheit« und »Wirklichkeit« verortet ist. Die eigene Erkenntnisposition und die politischen und sozialen Positionen der Forscher_innen werden als Teil gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse betrachtet. Zugleich wird betont, dass die eigene Subjekthaftigkeit, der eigene Erkenntnisstandpunkt und der eigene Kritikstandpunkt notwendigerweise kontingent und damit prekär bleiben werden. Trotz dieses Wissens um einen prekären Standpunkt, werden Normativität und interventionistische Absicht nicht aufgegeben. Die Einsicht in die Kontingenz von ›Wahrheit‹ und ›Wirklichkeit‹ wird vielmehr in Bezug auf die Kontingenz jeder sozialen (Differenz-)Ordnung (sowie auch der darin hervorgebrachten Subjek-
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tivitäten und Subjektpositionen) herrschaftskritisch gewendet und gerade als Chance von Veränderung aufgegriffen (vgl. Marchart 2008: 11ff.). Kritik und politische Absicht können dann allerdings keine allgemeine, kontextungebundene Autorität beanspruchen. Ich verstehe dies als Basis der Denkweise einer reflexiven Herrschaftskritik, die für meine Lesart der Cultural Studies zentral ist.1 Dies beinhaltet eine (subjekt- und erkenntniskritisch informierte) Idee von Emanzipation, ohne festlegen zu können oder zu wollen, was die Bedingungen dafür sind und die zugleich versucht, nicht selber zu einem (gewaltvollen) Regime zu werden. Ein solches reflexives Kritikverständnis (vgl. auch Mecheril et al. 2013) bietet sich für bildungstheoretische Überlegungen und für ein Nachdenken über Kulturelle Bildung an.
A rtikul ationen und R e -A rtikul ationen von S ubjek tpositionen und D ifferenzordnungen Vor dem Hintergrund dieser Charakterisierung eines reflexiv-herrschaftskritischen Ansatzes soll anhand der Figur der Re-/Artikulation von Subjektpositionen und Differenzordnungen bei Hall dargestellt werden, wie sich in den Cultural Studies gesellschaftliche Veränderung denken lässt. Mit dem Begriff der Subjektpositionen wird die gesellschaftliche Verortung eines Individuums innerhalb von Macht- und Herrschaftsverhältnissen bzw. innerhalb von Differenzordnungen bezeichnet (vgl. Hall 1994: 28ff.). Subjektpositionen gründen sich häufig in binären Differenzen. So z.B. werden Menschen durch Rassismus, der hier als ein gesellschaftliches Verhältnis und nicht individualisier- und psychologisierbar als Einstellung oder Vorurteil verstanden wird, als Andere und Nicht-Andere produziert. Dies geht einher mit einer gesellschaftlichen Über- und Unterordnung, also Privilegierung auf der einen Seite und Benachteiligung bzw. Diskriminierung auf der anderen Seite. Auf diese Weise werden ungerechte gesellschaftliche Verhältnisse hergestellt, zum Ausdruck gebracht und legitimiert. Menschen verstehen ihre eigenen Erfahrungen jedoch häufig – und legitimerweise – zunächst als etwas Individuelles und erleben ihre gesellschaftliche Positioniertheit als ihre persönliche Identität. Gesellschaftliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse sind so durch die Hervorbringung von Subjektpositionen in die Subjektivität der Menschen eingeschrieben. Insofern wird mit den Begriffen der Subjektpositionen, bzw. der 1 | In eine solche Denkweise muss allerdings die Rede von ›Herrschaft‹ mit einbezogen werden. Auch die Qualifizierung von sozialen Beziehungen als »Herrschaft« beruht letztlich auf kontingenten Setzungen, kann also nicht kontextungebunden stattfinden und bedarf immer wieder einer ›Verflüssigung‹ und erneuter Vergewisserung durch Reflexion, Kontextualisierung, plurale Perspektiven und offene Diskussion.
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gesellschaftlichen Positioniertheit gerade keine essentialistische Denkweise der sozialen und kulturellen Identitäten von Menschen oder Gruppen aufgerufen. Zugleich soll jedoch nicht suggeriert werden, es handele sich um frei wählbare Verortungen. Bei der Analyse von machtvollen Subjektivierungsweisen und Positionierungen und mit der Frage nach widerständigen Praktiken arbeitet Hall mit dem Begriff der Artikulation: »Eine Artikulation ist eine Verknüpfungsform, die unter bestimmten Umständen aus zwei verschiedenen Elementen eine Einheit herstellen kann. Es ist eine Verbindung, die nicht für alle Zeiten notwendig, determiniert, absolut oder wesentlich ist. Man muss sich fragen unter welchen Bedingungen kann eine Verbindung hergestellt oder geschmiedet werden? Die so genannte ›Einheit‹ eines Diskurses ist in Wirklichkeit die Artikulation verschiedener, unterschiedlicher Elemente, die in sehr unterschiedlicher Form reartikuliert werden können, weil sie keine notwendige ›Zugehörigkeit‹ haben.« (Hall 2000: 65)
Artikulation meint eine Beziehung, die zwar kontingent, aber dennoch real und wirkmächtig ist. Diskurse, die machtvolle Subjektivierungsweisen beinhalten, werden in diesem Verständnis getragen durch die Verknüpfung von Bedeutungen zu Bedeutungsketten. So kann z.B. die gesellschaftlich dominante Vorstellung von »Männlichkeit« als eine Verknüpfung von ganz unterschiedlichen bedeutungstragenden Elementen betrachtet werden, die erst innerhalb einer Bedeutungskette bzw. einer Relation wirkmächtig werden – inklusive der Aufrechterhaltung von damit verbundenen Machtverhältnissen. Die soziale Identität von Subjekten kann hier selbst als Artikulation, also als nicht-notwendige aber wirkmächtige Verknüpfung verstanden werden. Die Möglichkeit der Neuverknüpfung bzw. Re-Artikulation von Bedeutungsketten jedoch besteht: »Eine bestimmte ideologische Kette wird ein Ort des Kampfes, nicht nur, wenn Menschen versuchen, sie durch ein alternatives Set von Begriffen zu ersetzen, aufzubrechen oder zu bestreiten, sondern auch wenn sie das ideologische Feld unterbrechen und dessen Bedeutung zu wechseln versuchen, indem sie seine Verbindung verändern oder re-artikulieren, etwa aus einem Negativum ein Positivum machen.« (Hall 2004: 62)
Hall bezieht dies auf den Begriff »Schwarz« und die damit verbundene Subjektposition innerhalb der gesellschaftlichen Veränderungen und Auseinandersetzungen im Prozess der Dekolonisation im Jamaika der 1960er und 1970er Jahre. Eine kritisch-verändernde Re-Artikulation von Bedeutungsketten, also das Herstellen von neuen Verbindungen, wird hier als gesellschaftliche Veränderung deutlich. Es können auch andere Beispiele herangezogen werden, wie etwa der politische Einsatz des Begriffs »Queer« und weitere Begriffe, die von
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sozialen Bewegungen für Ihren Kampf um Veränderung benutzt werden. In Halls Beispiel schafft dies nicht nur politisch neue Spielräume, sondern auch neue Subjektpositionen, von denen aus ein intelligibles Sprechen möglich ist. Sowohl die Artikulation bestehender als auch eine kritische Re-Artikulation von Differenzordnungen und Subjektpositionen geschehen im Medium des Kulturellen als einem unablässig im Prozess befindlichen System machtvoller Unterscheidungen und bleiben dabei stets von alltäglicher sozialer Praxis abhängig.
R efle xiv - herrschaf tskritische B ezüge auf S ubjek tpositionen und D ifferenzordnungen 2 Inwiefern kann eine reflexive Bezugnahme auf Subjektpositionen kritische Veränderungsprozesse – im Sinne des Herstellens neuer Artikulation – befördern? Und können dadurch weniger ungerechte Subjektpositionen, die also mit weniger Diskriminierung und weniger Privilegierung einhergehen, ermöglicht werden? Inwieweit könnte dies in der Kulturellen Bildung aufgegriffen werden? Die beiden Erziehungswissenschaftler Peter McLaren und Henry Giroux, die sich beide in den Cultural Studies verorten, stellen Überlegungen zum Zusammenhang von Sprache, Diskurs, Erfahrung und Subjektivität an: In kritischer Pädagogik müsse analysiert werden, wie Sprache genutzt wird, um bestimmte Subjektpositionen und Lebensweisen zu privilegieren und andere zu diskriminieren (vgl. McLaren/Giroux 1997: 20). Diese Analysen können in pädagogischen Zusammenhängen eingebracht werden und sich zugleich auch auf das Geschehen innerhalb dieser Zusammenhänge selbst beziehen, so bspw. auf die kulturell bildenden Schulfächer oder die außerschulische Kulturelle Bildung, wie sie etwa in Musikschulen stattfindet. McLaren und Giroux sprechen davon, dass »reading formations«, also Wahrnehmungsschemata der sozialen Welt nicht einfach dupliziert werden sollten. In diesem Zusammenhang bezeichnen sie »Critical Literacy« als eine entscheidende Fähigkeit. »Students need to learn how to read not as a process of submission to the authority of the text but as a dialectic process of understanding, criticizing, and transforming. They need to write and rewrite the stories in the texts they read so as to be able to more readily identify and challenge, if necessary, how such texts actively work to construct their own histories and voices.« (Ebd.: 30) 2 | Einige Ausführungen in diesem Abschnitt werden in ähnlicher Weise in einem gemeinsam mit Sara Poma Poma verfassten Aufsatz veröffentlicht (Krenz-Dewe/Poma Poma 2016).
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›Text‹ kann hier in einem weiten Sinn als der Text des Sozialen verstanden werden, es geht aber auch konkret um die Beschäftigung mit Literatur, Theater und Musik. Das Alltagsleben selbst soll kritisch ›gelesen‹, also eine analytische Sichtweise eingeübt werden. Critical Literacy kann verstanden werden als reflexive Bezugnahme auf Subjektpositionen innerhalb hegemonialer Differenzordnungen. Es sei eine Lese- und Schreibfähigkeit, die den Fokus legt auf Interessen und Voraussetzungen innerhalb von Wissen und dabei hegemoniale Codes erkennen lernt, so McLaren und Giroux (vgl. ebd.), also auch Positioniertheit, Privilegierung und Benachteiligung, sowie deren historische Dimension in den Blick bekommt. Subjektpositionen sollen in ihrem historischen Gewordensein hinterfragbar werden und ihr Platz in hegemonialen Differenzordnungen erkennbar werden. Die Autoren schreiben, dass der Kampf um Benennung und Transformation von Erfahrung eines der wichtigsten Themen kritischer Pädagogik und des Kampfes um soziale Veränderung sei. Bedeutungen zu transformieren setze voraus, Erfahrungen benennen und kritisch untersuchen zu können, welche Voraussetzungen ihnen zugrunde liegen. In Bezug bspw. auf diejenige Differenzordnung, die zwischen Menschen »mit« und »ohne Migrationshintergrund« unterscheidet und beide Positionen zugleich erst produziert, könnte es darum gehen, in kritischer Einstellung ›lesen‹ zu lernen, »aufgrund welcher kulturellen Praktiken in pädagogischen Zusammenhängen zwischen ›MigrantInnen‹ und ›Nicht-MigrantInnen‹ unterschieden wird, auf Grund welcher Bedingungen ›MigrantInnen‹ als MigrantInnen wahrgenommen werden, wie Kinder lernen, sich als ›Nicht-AusländerIn‹ oder ›Fremde‹ zu verstehen und wie in alltäglichen Praxen innerhalb und außerhalb der offiziellen Orte neue, ›widerständige‹ Formen der Überschreitung der traditionellen Grenzen erprobt und eingeübt werden, eine Erkundung also der Praxen, Lebensweisen und Geschichten, die sich dem eindeutigen Unterscheiden entziehen« (Mecheril 2015: online).
Im Zusammenhang mit dem Einüben eines reflexiv-analytischen Blicks auf Differenzordnungen und kulturelle Praxen ihrer beständigen Produktion im Alltag könnte in kulturellen Bildungsangeboten bspw. ein Wissen darüber erarbeitet werden, welche Begriffe zur Bezeichnung von Menschen in Theaterstücken oder Songtexten auftauchen. Im Anschluss kann diskutiert werden, ob und warum diese Begriffe und die damit verbundenen Zugehörigkeits- bzw. Differenzordnungen problematisch sind. So könnte es ermöglicht werden, alternative Identifizierungen zu entwickeln, die diskriminierende wie privilegierende Subjektpositionen in Frage stellen. Hier könnte es bspw. um eine Intelligibilisierung, Anerkennung und Aufwertung der Erfahrung der Mehrfachzugehörigkeit gehen, wie Paul Mecheril mit der Perspektive der Migrationspädagogik nahegelegt hat (vgl. Mecheril et al. 2010: 185).
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Ich verstehe die Benennung von Subjektpositionen als einen Schritt zur Offenlegung der Kontingenz dieser Positioniertheit und der damit verbundenen Differenzordnungen, wodurch wiederum eine Veränderung dieser Ordnungen befördert werden kann. Die Benennung von Subjektpositionen birgt dabei jedoch die Gefahr, machtvolle Unterscheidungen durch die Benennung zu bestätigen und zu bekräftigen. Eine reflexiv-herrschaftskritische Bezugnahme auf Subjektpositionen sollte demzufolge auch eine dekonstruierende Perspektive prominent machen – bspw. durch die Thematisierung des Aspekts, dass persönliche Erfahrungen zwar mit gesellschaftlicher Positioniertheit artikuliert sind, aber darin niemals aufgehen. Eine Anerkennung von Differenz sollte gegenüber der Verfestigung der mit Differenz möglicherweise verbundenen Über- und Unterordnung aufmerksam sein. Diese sollten durch die Fluchtlinien von Hybridität und der Prozesshaftigkeit von Identitäten, die binäre Differenz-Schemata wie in der angedeuteten Perspektive der Mehrfachzugehörigkeit schwächen, relativiert werden (vgl. ebd.: 187ff.). Critical Literacy gewinnt dabei ein aktiv-veränderndes Moment: Es kann gelernt werden, dass Bedeutungen geändert werden können (vgl. McLaren/Giroux 1997: 26) – eine Praxis, die zur Re-Artikulation von Bedeutungsketten beitragen kann. Durch den so verstandenen Bezug auf Subjektpositionen könnte es gelingen, die mit ihnen verbundenen Differenzordnungen bzw. Macht- und Herrschaftsverhältnisse im Alltagsleben bewusst(er) zu machen. Zu beachten ist allerdings, dass das Subjekt seine gesellschaftliche Positioniertheit durch Bewusstmachung nicht kurzerhand abschütteln kann. Benachteiligung und Privilegierung können nicht allein im Rahmen von Bildung überwunden werden, solange der gesellschaftliche Kontext, der sie trägt, nicht verändert wird. Die Veränderung alltäglicher (Bildungs-)Praxen beeinflusst jedoch auch diesen Kontext und sollte keineswegs als bedeutungslos erachtet werden.
R efle xivität in kritisch - kulturellen B ildungsprozessen Ich möchte zur Diskussion stellen, inwieweit reflexive Bezüge auf Subjektpositionen als Teil Kultureller Bildung gedacht werden können, sofern man ein Kulturverständnis im Sinne der Cultural Studies zugrunde legt. Marchart (2008) fasst zusammen: »Ziel der Cultural Studies ist es, […] die Kontingenz und Machtbasiertheit jeder kulturell reproduzierten Identität zu analysieren und sie offen zu legen. Denn erst durch die Erkenntnis, dass die vielfachen Verhältnisse von Dominanz und Unterordnung […] auch anders geordnet sein könnten, dass sie konstruiert und kontingent, nicht naturgegeben und notwendig sind, wird uns ermöglicht, diese Verhältnisse zu hinterfragen, herauszufordern und zu verändern.« (14f.)
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Es sei an dieser Stelle einmal dahingestellt, ob verändernde – auch herrschaftskritische! – Praxen im Alltagsleben nicht auch ohne (explizite) Analyse und Reflexion stattfinden. Für eine kritische Kulturelle Bildung könnte der von Marchart umrissene Zielhorizont allerdings als Möglichkeit übersetzt werden, die Einsicht in die Veränderbarkeit von Subjektpositionen und Differenzordnungen und die Wahrnehmung und Erfahrung dieser Veränderbarkeit als eine normative Bahnung von kulturellen Bildungsangeboten zu verstehen. Ohne dabei in »pädagogische Herstellungsphantasien« (Reichenbach 2000: 126, zit.n. Bünger 2007: 161) zu verfallen, könnte ein dementsprechender professioneller Blick3 für das Kulturelle weiterentwickelt werden, indem gefragt wird: Was passiert unter Zutun der Nutzer_innen von kulturellen Bildungsangeboten und unter Zutun der dort tätigen Professionellen mit diesen Nutzer_innen und Professionellen? – Wobei die Professionellen genauso wie die Nutzer_innen in vielfacher Weise gesellschaftlich positioniert sind.4 – Was passiert also im kulturellen Raum des jeweiligen Bildungsangebots im Zusammenhang mit machtvollen Subjektpositionen und Differenzordnungen? – ganz gleich, ob wir uns in einer Jugendkunstschule, im schulischen Musikunterricht oder in einem Theaterprojekt in der offenen Jugendarbeit befinden. Erforderlich ist hier ein Blick, der die kulturelle Ebene im (pädagogischen) Alltag ›lesen‹ kann. Gerade Kulturelle Bildung scheint dafür prädestiniert zu sein, da es in ihr ohnehin um die Wahrnehmung der eigenen Wahrnehmung und auch darum geht, sich selbst in ein (neues) Verhältnis zu dieser Wahrnehmungswahrnehmung zu setzen. Kulturelle Bildung sei somit auf »eine andere Weise des Sehens gerichtet« und eine »verschiebende Erkundung von Ordnungen« könne hier prominent in den Fokus rücken, so Mecheril (2015). Auch Max Fuchs legt diesen Zusammenhang nahe: Es sei gerade im Kontext der Kulturellen Bildung »nicht uninteressant, dass das Spannungsverhältnis zwischen Veränderungen im Verständnis des Subjekts auf der einen Seite und gesellschaftlichen Veränderungen auf der anderen Seite immer auch in den Künsten bearbeitet wurde« (Fuchs 2008: 88). Fuchs argumentiert, dass Kulturelle Bildung einen 3 | Mit Aufrufen des Stichworts der Professionalisierung soll nicht die fragwürdige Vorstellung bestärkt werden, dass sich die Auswirkungen pädagogischen Handelns und damit das pädagogische Gegenüber durch bestimmte Formen dieses pädagogischen Handelns letztlich »in den Griff« bekommen ließen (vgl. kritisch Wimmer 1996: 422). 4 | Chadi Bahouth (2015) fordert in Bezug auf interkulturelle Öffnungsprozesse eine bewusst gestaltete Veränderung der Repräsentationsverhältnisse in den Institutionen der Kulturellen Bildung. Dabei sei die Einführung von Quoten sinnvoll, sodass nicht nur die Perspektiven der in Bezug auf die Differenzordnung des Rassismus privilegierten Gruppen zur Geltung kommen – insbesondere dann, wenn einer (interkulturellen) Kulturellen Bildung aufgebürdet wird, Teilhabe für alle in der Migrationsgesellschaft zu ermöglichen.
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Umgang mit der kulturellen Dimension der Gesellschaft betreffe, und dass dies weit über die traditionellen Künste hinausgehe, wobei es zugleich Aufgabe sei, eine zeitgemäße Vorstellung über dieses Kulturelle zu entwickeln (vgl. ebd.: 103). In diesem Sinne der Entwicklung einer zeitgemäßen Vorstellung über das Kulturelle lässt sich noch einmal auf McLaren und Giroux (1997) zurückkommen, die anmahnen, dass Critical Literacy in die gelebten Bedingungen der Schüler_innen eingebettet werden sollte (vgl.: 36). Hier kann mit der Frage angeschlossen werden, welche kulturellen Praxen und Kulturproduktionen und welche rezeptiv- und produktiv-aneignenden Formen durch pädagogische Thematisierung und Adaption in der durch vielfache Differenz- und Ungleichheitsverhältnisse geprägten Gegenwartsgesellschaft gewürdigt werden und welche nicht. Etwa könnten (Populär-)Kulturproduktionen mit Bezügen zu diversen geopolitischen Kontexten zum Gegenstand werden – ohne dabei in Banalisierung, Instrumentalisierung und Exotisierung zu verfallen und ohne die Kontexte historischer und gegenwärtiger globaler post- und neokolonialer Herrschaftsverhältnisse sowie deren Umkämpftheit auszuklammern5. Dies verbindet sich mit der in den Cultural Studies vertretenen Forderung nach einer Demokratisierung aller Lebensbereiche (vgl. Marchart 2008: 33) – wiederum ohne dabei schon voraussetzen zu können oder zu wollen, was Demokratisierung im je Konkreten bedeutet und wer das Subjekt von Veränderungsprozessen sein mag. Das damit wieder aufgerufene Kritikverständnis trägt somit zu einer bildungstheoretischen Perspektive bei, die die Möglichkeiten insbesondere der Kulturellen Bildung mit einem Umgang mit Kontingenz, im Sinne auch eines Umgangs mit dem Politischen als dem Unentschiedenen aber Bedeutsamen und Machtvollen, in Verbindung bringt. Selbst-, Welt- und Anderenverhältnisse können sich im Medium kultureller Bildungsprozesse, aufgrund der dort möglicherweise prominent stattfindenden Konfrontationen mit der Wahrnehmung der eigenen Wahrnehmung sowie der Wahrnehmung des prekären Charakters sowohl der Wahrnehmung als auch der Wahrnehmungswahrnehmung und damit auch der Unverfügbarkeit von Selbst und Welt, als kontingent offenbaren (vgl. Mecheril 2012: 5). Diese Kontigenzerfahrungen können in Bezug auf Subjektpositionen und Differenzordnungen und die damit verbundenen
5 | Insbesondere in der rassismuskritischen Bildungsarbeit lassen sich Zugänge finden, die mit dem Einbezug von Geschichte, Sprache, Theorie sowie eigenen Erfahrungen und (Familien-)Biografien von Teilnehmenden arbeiten und auch die notwendige Involviertheit und Positioniertheit von sowohl Teilnehmenden als auch Bildner_innen einbeziehen (vgl. bspw. Linnemann et al. 2013, sowie den Beitrag von Lisa Freieck und Tatjana Kasatschenko in diesem Band).
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Privilegien und Benachteiligungen im Sinn der Perspektive einer reflexiven Herrschaftskritik geradezu als Chance der Veränderung aufgegriffen werden.
L iter atur Bahouth, Chadi (2015): »Diversität – eine Frage der Quote«, in: Susanne Keuchel/Viola Kelb(Hg.), Diversität in der Kulturellen Bildung, Bielefeld, S. 103-113. Bünger, Carsten (2007): »Von erschöpften Künstlern und prekären Dilettanten. Gegenwärtige Subjektivität und kritisch-politische Bildung«, in: Michael Wimmer/Roland Reichenbach/Ludwig Pongratz (Hg.), Gerechtigkeit und Bildung, Paderborn, S. 159-176. Fuchs, Max (2008): Kulturelle Bildung. Grundlagen – Praxis – Politik, München. Gottuck, Susanne/Mecheril, Paul (2014): »Einer Praxis einen Sinn zu verleihen, heißt sie zu kontextualiseren. Methodologie kulturwissenschaftlicher Bildungsforschung«, in: Florian von Rosenberg/Alexander Geimer (Hg.), Bildung unter Bedingungen kultureller Pluralität, S. 87-108. Grossberg, Lawrence (1999): »Was sind Cultural Studies«, in: Karl Heinz Hörning/Rainer Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt a.M., S. 43-83. Hall, Stuart (1994): »Kulturelle Identität und Diaspora«, in: Ders., Rassismus und kulturelle Identität, Ausgewählte Schriften, Bd. 2. Hamburg, S. 26-43. Hall, Stuart (2000): »Postmoderne und Artikulation«, in: Ders., Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt, Ausgewählte Schriften, Bd. 3. Hamburg, S. 52-77. Hall, Stuart (2004): »Bedeutung, Repräsentation, Ideologie. Althusser und die poststrukturalistischen Debatten«, in: Ders., Ideologie, Identität, Repräsentation, Ausgewählte Schriften, Bd.4. Hamburg, S. 34-65. Krenz-Dewe, Daniel/Poma Poma, Sara (2016): »Machtkritisch – undogmatisch – reflexiv. Impulse aus den Cultural Studies für eine kritische politische Bildung«, in: Michael Görtler/Mathias Lotz/Marc Partetzke/Sara Poma Poma/Marie Winckler (Hg.), Standpunkte und Perspektiven, Schwalbach a.Ts. (in Vorbereitung, Artikel akzeptiert). Linnemann, Tobias/Mecheril, Paul/Nikolenko, Anna (2013): »Rassismuskritik. Begriffliche Grundlagen und Handlungsperspektiven in der politischen Bildung«, in: ZEP – Zeitschrift für internationale Bildungsforschung und Entwicklungspädagogik, 36, H 2, S. 10-14. Marchart, Oliver (2002): Gesellschaft ohne Grund. Laclaus politische Theorie des Post-Fundationalismus. Einleitung des Herausgebers zu Ernesto Laclau: Emanzipation und Differenz, Wien, S. 7-15.
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Werkzeug, Bild und Grab Hans Jonas’ Kulturanthropologie und ihre ethischen Implikationen Jürgen Nielsen-Sikora
H ans J onas . P erson und P hilosophie Der jüdische Philosoph Hans Jonas (1903-1993) zählt zu den bedeutenden Denkern des 20. Jahrhunderts. Beeinflusst von seinen Lehrern Edmund Husserl, Martin Heidegger und Rudolf Bultmann, gelangte er als Begründer einer Ethik der Verantwortung für die technologische Zivilisation zu Weltruhm. Seine Ethik verbindet er mit lebensweltlichen Intuitionen und normativen Gehalten der hebräisch-biblischen, der jüdischen und der christlichen Überlieferung. Motive und Denkfiguren der mittelalterlich-aristotelischen und anderer metaphysischer Traditionen aufgreifend, stellt seine Philosophie kritische Fragen an die technologischen Errungenschaften der Gegenwart. Der Begriff der Verantwortung wird in seiner Philosophie zum Synonym einer neu hervorgetretenen Pflicht im Antlitz der Drohungen der Moderne und ihrer kausalen Reichweite in die Zukunft. Hans Jonas’ Denken nimmt seinen Ausgang in der Kritik der Gnosis, jener religionsgeschichtlichen Bewegung im zweiten und dritten Jahrhundert nach Christus, die sich aus einer Fülle mythischer Spekulationen und soteriologischer Kultpraxis zusammensetzte. Die Weltfremdheit der Gnostiker liest er vor der Folie der politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der 1920er und 1930er Jahre. Diese Kritik, die trotz der regen Verwendung existenzphilosophischer Begriffe implizit auch eine Kritik an seinem Lehrer Martin Heidegger war, mündet zunächst in seiner Philosophie des Lebens als Antwort auf die lebensfeindliche Haltung der Gnostiker. Auf dem Höhepunkt seines Schaffens entwickelt sich daraus seine Ethik der Verantwortung, jene weltbekannte politische Theorie in der Hochphase des Kalten Krieges, die die Dimension der Zukunft in moralische Überlegungen mitberücksichtigt sehen möchte.
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Darin bezieht sich Jonas insbesondere auf Kants kategorischen Imperativ und bemängelt, dass Kants Handlungsmaxime überhaupt nicht damit rechne, »daß das Glück gegenwärtiger und nächstfolgender Generationen mit dem Unglück oder gar der Nichtexistenz späterer Generationen erkauft wird – so wenig, wie schließlich im Umgekehrten, dass die Existenz und das Glück späterer Generationen mit dem Unglück und teilweise sogar der Vertilgung gegenwärtiger erkauft wird« (Jonas 1979: 35). Das Gebot einer Fortexistenz der Menschheit lasse sich aus Kants Maxime der Selbsteinstimmigkeit, in der die eigene Maxime allgemeines Gesetz werde, nicht ableiten und sei nur metaphysisch begründbar. Zu begründen sei insofern der folgende Imperativ: »Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.« (Ebd.: 36) Das Prinzip Verantwortung ist der Versuch einer solchen Begründung. Die Ethik leitet er aus einer Theorie des Organismus ab. Grundgedanke ist, dass es eine Stufenfolge des Lebens gibt, die im menschlichen Denken gipfelt. Hierbei setzt sich Jonas kritisch mit Darwins Evolutionstheorie und Descartes’ Dualismus-These auseinander, wobei er den Organismus gegen beide »als eine Funktion des wechselnden Stoffes« (Jonas 1997: 148) interpretiert. Schon in der einfachsten Form des Organismus sei Freiheit als ontologischer Wesenscharakter des Lebens vorhanden. Mit dieser Freiheit gingen Zweckhaftigkeit, Selbstinteresse und Zukunftsbezogenheit einher. Sein Fazit: »Es gibt keinen Organismus ohne Teleologie; es gibt keine Teleologie ohne Innerlichkeit; und: Leben kann nur von Leben erkannt werden.« (Ebd.: 169)
D ifferentia specifica des M enschen »Das anspruchsvolle philosophische Werk von Hans Jonas ist in Deutschland […] nur selektiv aufgenommen worden […], seine philosophisch-anthropologischen Arbeiten harren […] noch einer produktiv weiterführenden Rezeption«, schrieb Jürgen Habermas (2014: 18) vor ein paar Jahren über den jüdischen Denker. Schauen wir uns dies einmal genauer an. Jonas’ ontologische Auslegung biologischer Phänomene ist die nicht zuletzt auf naturwissenschaftlichen Beobachtungen beruhende Skizze einer fortschreitenden Stufenleiter von Freiheit, Macht und Wissen. Ihre Methode ist zugleich biologische Beschreibung des Lebens und philosophische Spekulation über seinen Wert. Zentrale These der Aufsätze ist, dass das Organische das Geistige präfiguriere, der Geist jedoch auch »in seiner höchsten Reichweite Teil des Organischen« (Jonas 1997: 15) bleibt. Es gibt in dieser Stufenfolge einen Zuwachs an Perzeption und Motilität. Die Stufen des Lebens sind voneinander abhängig, miteinander verbunden und gipfeln im Menschen. Schon der einfache Stoffwechsel zeigt Anzeichen von Freiheit und Zukunftsfähigkeit. Doch erst das
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menschliche Maß an Freiheit, Macht und Wissen macht es erforderlich, sich dem Ausmaß ihrer Wirkungen zu stellen. Die Frage nach der Verantwortung des Menschen scheint auf. Die von Jonas inaugurierte und auf den französischen Philosophen Henri Bergson zurückgehende Stufenleiter des Lebens wirft schließlich die Frage nach der differentia specifica des Menschen auf. Dass der Mensch Anteil am Animalischen hat, hält Jonas mit Aristoteles, Darwin und Carl von Linné fest. Doch was zeichnet den Menschen als Menschen aus? Was ist das Transanimalische im Menschen? Jonas geht dieser Frage nach und kommt zu dem Schluss, dass es keinen Wesensunterschied zwischen Mensch und Tier gibt. Doch gemäß seiner Idee einer Stufenleiter des Lebens gibt es zumindest einen graduellen Unterschied, der in der Fähigkeit gipfelt, für sein Handeln Verantwortung zu tragen. Verantwortung zu übernehmen heißt immer auch: Eine Antwort zu geben auf eine bestimmte Frage, ein Urteil zu fällen über eine bestimmte Situation. Und nichts läge nun näher als den Menschen als ζῷον λόγον ἔχον, als das Tier, das Sprache hat, zu charakterisieren. Jonas umgeht dieses Moment ganz bewusst, »da es philosophisch alles andere als einfach ist, seine frühmenschlichen Anfänge uns auch direkt nicht sichtbar sind, während die sichtbaren Artefakte das Sprechen schon indirekt mitbezeugen: Ihre Hervorbringer müssen sprechende Subjekte gewesen sein« (Jonas 1994: 37). Deshalb setzt Jonas auf die Analyse solcher Artefakte. Denn ein vergrößertes Gehirn, die Hand, ein aufrechter Gang zeigen ihre Bedeutung in dem, was sie leisten. Und so geht es Jonas um die Zeugnisse sichtbarer Artefakte: Werkzeug, Bild und Grab als jene Artefakte, die die Grundkoordinaten einer philosophischen Anthropologie ausmachen. Warum?
A rtefak te menschlicher K ultur Das Werkzeug Das Werkzeug ist ein künstlich hergerichtetes Objekt, das als Mittel zwischen handelnde Person und behandeltem Gegenstand tritt. Zum Bearbeiten gedacht, ist das Werkzeug bereits selbst bearbeitet. Sein Zweck ist verschieden, seine Herstellung mag weitere Werkzeuge erfordern, so dass Jonas von einer doppelten Vermittlung des Umgangs mit der Welt, von einer Vermittlung in steigenden Potenzen spricht. Der Mensch als Werkzeug herstellendes und Werkzeuge nutzendes Wesen ist homo faber. Das Werkzeug entspringt keiner organischen Funktion des Menschen und ist gerade dadurch ein menschliches Mittel: »Die Organfremdheit des künst-
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lichen Mittels ist die Kehrseite der Freiheit seiner Erfindung.« (Jonas 1994: 38)1 Die der menschlichen Einbildung vorschwebende Form wird der Materie aufgezwungen, indem der Mensch mit dem Werkzeug die Welt bearbeitet. Die Kraft menschlicher Vorstellung, die Phantasie und die Kontrolle der Hand spielen hierbei ineinander. Nehmen wir den Hammer: In der Tradition des Aristoteles definiert Jonas den Zweck des Hammers im »Mit-ihm-hämmern-Können« (Jonas 1979: 107). Der Hammer wurde geschaffen, damit jemand mit ihm hämmert. Dieser Zweck des Hammers ist ein Teil des Begriffs des Hammers. Der Zweck ist nicht unabhängig vom geschaffenen Ding, geht diesem aber voraus. Denn der Hammer ist entstanden, um zu hämmern. Die Idee des Hämmerns war gewissermaßen die Ursache für den Bau des Hammers. »Der Begriff liegt dem Gegenstand zugrunde« (ebd.), sagt Jonas. Allerdings kann die Existenz des Hammers auch unabhängig von seinem Zweck sein. Dann handelt es sich bloß um ein Ding mit einem ganz bestimmten Aussehen. Auch trägt der Hammer nicht selbst den Zweck des Hämmerns in sich, sondern den Zweck kann nur derjenige erkennen, der den Hammer zum Hämmern benutzt: »Dies ist so bei allen leblosen Geräten: der ihnen als Kunstprodukt wesentliche Zweck ist doch nicht der ihre.« (Ebd.: 108) Beim Werkzeug freilich ist der Übergang zwischen tierischer und menschlicher Leistung fließend, denkt man nur an den Menschenaffen, der einen Stock als Werkzeug zu nutzen vermag.
Das Bild Einen solch fließenden Übergang lässt er in Bezug auf die zweite Eigenart menschlicher Kulturleistung nicht gelten. Es geht um das Bildmachen: »Ein bildmachendes Wesen ist eines, das entweder dem Herstellen nutzloser Dinge frönt oder Zwecke außer den biologischen hat oder die letzteren noch auf andere Weise verfolgen kann als durch die instrumentale Verwendung von Dingen.« (Jonas 1994: 39) Ein Bild versteht Jonas als »absichtlich hergestellte Ähnlichkeit mit der visuellen Erscheinung eines Dings« (ebd.: 40). Das originale Ding soll hierbei weder wiederholt noch vorgetäuscht werden. Ein Bild soll lediglich »darstellen« und eine Wahrnehmung von Ähnlichkeit hervorrufen. Im Gegensatz zum Tier, das nur die Wirklichkeit kenne, könne der Mensch zwischen Realität und Repräsentation unterscheiden: »Wo wir bloße Ähnlichkeit wahrnehmen, 1 | Vgl. dazu Heinrich Popitz: Epochen der Technikgeschichte. Tübingen 1989. Ders.: Der Aufbruch zur Artifiziellen Gesellschaft. Zur Anthropologie der Technik. Tübingen 1995. Hans Blumenberg: Schriften zur Technik. Hg. von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler. Frankfurt a.M. 2015.
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nimmt das Tier entweder ein Selbes oder ein Anderes wahr – aber nicht beide in einem, wie wir es in der Erfassung der Ähnlichkeit tun.« (Jonas 1999: 279) Voraussetzung für die Unterscheidung von Realität und Repräsentation ist das Imaginations- und Erinnerungsvermögen des Menschen: Erinnerung transzendiert bloßes »Gedächtnis durch das freie Reproduktionsvermögen der Einbildung, das die Bilder der Dinge in seiner Gewalt hat. Dass es sie nach seinem Willen auch sich anders vorstellen kann, folgt fast notwendig daraus, dass es sie in Loslösung von aktueller Sensation und damit von der widerspenstigen Tatsächlichkeit des Selbstseins der Objekte hat.« (Ebd.: 285) Der Blick erfasst nicht nur eine punktuelle Erfahrung, er wird vielmehr zu einer Dimension, worin mannigfaltige Dinge auf einmal erschaut werden können. Und durch »den wandernden Blick der Aufmerksamkeit« kann »jedes mit jedem in Beziehung gesetzt werden« (Jonas 1999: 247). Deshalb eröffnet die sich bietende Mannigfaltigkeit durch einen einzelnen Blick dem Menschen zugleich eine Auswahl möglicher Handlungen. Denn das Sehen, die Imagination, ist der ideale Fernsinn. Das Sehen ist der einzige Sinn, »bei dem der Vorteil nicht in der Nähe, sondern in der Distanz liegt« (ebd.: 254). Die Welt zeigt sich dem Menschen sowohl über eine räumliche als auch – in der Imagination – über eine zeitliche Distanz hinweg. Wissen auf Entfernung bedeutet insofern auch Vorauswissen: »Das noch unverpflichtete Hinausreichen in den Raum ist Zeitgewinn für anpassendes Verhalten: ich weiß frühzeitig genug, womit ich zu rechnen habe. Die Wahrnehmung ferner Objekte bedeutet daher einen unmittelbaren Zuwachs an Freiheit durch den schieren Zuwachs an zeitlichem Spielraum für etwaiges Handeln, den die Entfernung vom Gegenstand des Handelns erlaubt.« (Ebd.: 248) Die menschliche Fähigkeit, den Dingen in der Imagination nachzusinnen, sich ein Bild von etwas zu machen, kennzeichnet für Jonas insofern die menschliche Freiheit: Eine »Freiheit der Distanz und der Herrschaft zugleich« (ebd.: 242). Das Bildmachen wird hierbei zum symbolischen Noch-einmal-Machen der Welt. Der Mensch als Bilder herstellendes und Bilder imaginierendes Wesen ist homo pictor. Seine Fähigkeit der Imagination hat einen zeitlichen Bezug: Der Mensch kann sich ein Bild auch von der Zukunft machen. Und weil er es kann, ist er dazu aufgerufen, dies auch zu tun.
Das Grab Das Bild ist aber auch Kommunikations- und nicht zuletzt Belehrungsmittel. Anders ist dies beim Grab, das noch nutzloser scheint als das gefertigte Bild und ein genuin menschliches Artefakt ist, da kein Tier seine Toten bestattet. Das Gedenken an die Toten ist eine einzigartig menschliche Kulturleistung. Es markiert den Übergang vom Sinnlichen ins Übersinnliche. Bei der Bestattung seiner Toten wird der Mensch insofern zum homo metaphysicus.
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Der Mensch weiß als einziges Wesen, dass er sterben muss. Er kann darum auch nicht anders als über seinen Tod nachzusinnen. Das Grab ist nicht zuletzt ein Ort der Reflexion seines Nachdenkens über Leben und Tod. Setzt sich der Mensch in der Handhabung seiner Werkzeuge und in der Herstellung seiner Bilder ins Verhältnis zur Welt, so setzt er sich bei der Herrichtung seiner Gräber in Beziehung zu sich selbst und versteht sich als Teil eines Seinsganzen. Gräber sind Gedenkstätten und wahren die Erinnerung. Sie verwandeln ein flüchtiges Jetzt in ein Dasein der Kontinuität. Möglich, dass es, wie Hans Jonas glaubt, eine Art Chronik der Dinge gibt, in der nichts verlorengeht: »Ich glaube, die Seele ist die Seele dieses Leibes. Auch der Geist ist der Geist dieser leib-seelischen Einheit. So glaube ich also nicht, daß die individuelle Person mit dem Untergang, mit dem Sterben des Leibes irgendwo und irgendwie weiterleben kann. Was ich allerdings zu glauben geneigt bin […] ist, daß alles, was wir tun, unsere Taten, unsere Entscheidungen, unsere Schuld, in irgendeiner Form auch weiterlebt; daß das irgendwo registriert wird, dass es eine Art Chronik der Dinge gibt, in der nichts verlorengeht. Und das hat eine bestimmte sittliche Bedeutung […] Ich habe meine starken Gründe zu glauben, daß die Vergangenheit nicht ein pures Nicht-Sein ist. Eine Vergangenheit sammelt sich an, sättigt sich mit dem Geschehenen, insbesondere mit dem Gedächtnis unserer eigenen Taten. Und das ist ein Teil der Verantwortung.« (Jonas 1991: 144f.)
K ultur und E thik In seinem schon erwähnten Hauptwerk »Das Prinzip Verantwortung« fließen die kulturanthropologischen Prämissen in die Ethik ein. Gleich zu Beginn des Buches heißt es, der Mensch der Moderne sei wie Prometheus. Der Titan Prometheus gilt nicht nur als Freund der Menschen, er ist auch Stifter der menschlichen Kultur und Überbringer des Feuers. Prometheus bedeutet wörtlich: der Vorausdenkende. Da er sich dem Willen des Göttervaters Zeus widersetzt, lässt dieser ihn an einen Felsen ketten. Jeden Tag kommt fortan der riesige Adler Ethon, um von der Leber des Bestraften zu fressen. Das Schicksal des unsterblichen Prometheus will es jedoch, dass die Leber immer wieder nachwächst. Nach langer Zeit wird er von Herakles erlöst und von den Ketten befreit. Doch muss er als Zeichen seiner Niederlage fortan einen steinernen Ring tragen. Prometheus gilt als »Symbol der Emanzipation des fanatischen Menschen von göttlicher Gewalt« (Jonas 2015: 645). Jonas interpretiert Prometheus als einen endgültig entfesselten Prototypen der Moderne. Die Wissenschaft habe ihm nie gekannte Kräfte und die Wirtschaft einen rastlosen Antrieb verliehen. Kurz: Der Mensch hat sich zum Maß aller Dinge gemacht. Die Möglichkeiten, die mit den wissenschaftlich-
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technischen Errungenschaften einhergehen, rufen, so Jonas, nach einer Ethik, die dem Umstand gerecht wird, dass mit den Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte zahlreiche Bedrohungen für den Menschen aufgetreten sind. Die Unterwerfung der Natur habe vor der Unterwerfung des Menschen durch den Menschen nicht Halt gemacht. Dies, so Jonas weiter, sei eine Situation, die man bis dato nicht kannte. Insbesondere die Auswirkungen, die kollektive Taten nach sich ziehen, habe noch keine Theorie wirklich ausreichend durchdacht. Eine solche verlange nämlich, die möglichen Gefahren in den Blick zu nehmen und von diesem Standpunkt aus eine neue Ethik zu entwickeln, die der gegenwärtigen Situation des Menschen gerecht wird. Die drohenden Gefahren öffneten dem Menschen allererst das Auge, um erkennen zu können, »was auf dem Spiel steht« (Jonas 1979: 8). Es geht Jonas aber nicht nur um das nackte Überleben der Menschheit, sondern immer auch um die Frage, was der Mensch ist resp. sein soll: Ethik und Philosophische Anthropologie gehen Hand in Hand. Der spekulative Blick in die Zukunft kommt bei Jonas, wie geschildert, nicht ohne Metaphysik aus. Die Frage, warum Menschen auch in Zukunft sein sollen, ließe sich anders nicht sinnvoll beantworten. Die Metaphysik, also das, was nach der Physik folgt, fragt seit der Antike nach den ersten Gründen, den allgemeinen Strukturen, Gesetzmäßigkeiten und Prinzipien sowie nach Sinn und Zweck allen Seins. Bei den letzten Fragen der Metaphysik geht es um Wandel und Bestand der Menschen, der Dinge und der Welt. Die Metaphysik versucht, Erkenntnisse jenseits der Grenzen sinnlicher Erfahrung zu liefern. Metaphysische Untersuchungen verzichten bewusst auf jegliche Empirie in ihren Begründungen. Aus solch einer metaphysischen Sicht heraus möchte Jonas der Frage nachgehen, welche Pflichten sich aus der neuen Situation im Zeitalter der Technologie und den unendlich großen Dimensionen von Wissen und Macht ergeben. Dazu will er die Folgen und Nebenwirkungen kollektiven Handelns genauer unter die Lupe nehmen. Vor allem dort, sagt er, wo Handlungen eine Unumkehrbarkeit der Ereignisse evozieren, trete die Verantwortung des Menschen auf den Plan. Das sei der Untersuchungsgegenstand seines »Tractatus technologico-ethicus« – so der ursprüngliche Arbeitstitels des »Prinzip Verantwortung«. Jonas kommt auch hier auf das Wesen der Technik zu sprechen. Er ist der Überzeugung, die Gegenwart habe den Fortschritt der Technik als höchstes Ziel der Menschheit ausgewiesen. Der »Beruf« des Menschen im Allgemeinen sei auf dieses Ziel hin ausgerichtet. Damit ginge eine maximale Herrschaft des Menschen über die Dinge und die Natur einher. Der Vollzug dieser Herrschaft geschehe durch den Homo faber, der aktiv in die Umwelt eingreift und sie somit verändert. Jonas erblickt im Homo faber jene anthropologische Konstante des Menschseins, die im Zeitalter der Technik herausragende Bedeutung
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gewinnt. Somit wird auch die Technik eminent wichtig im Kontext ethischer Überlegungen zur gegenwärtigen Situation des Menschen. Denn die permanente Rückwirkung auf das, was die Technik selbst hervorgebracht hat, wird zum Paradigma einer neuen Zeit, in der der Mensch durch die Herstellung technischer Erzeugnisse besondere Macht erlangt. Brisant ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass der Mensch all das auch herstellt, was er herzustellen in der Lage ist. Der Mensch ist durch die moderne Entwicklung der Technik zum Kollektivtäter geworden. Seine Taten reichen in eine unbestimmte Zukunft hinein. Damit wird kollektives Handeln ethisch relevant.
R esümee Zusammenfassend lässt sich mit Hans Jonas festhalten: »Das Werkzeug sagt uns, daß hier ein Wesen, von seiner Notdurft zum Umgang mit der Materie angehalten, dieser Notdurft in künstlich vermittelter, erfindungsbedingter und verbesserungsoffener Weise dient. Das Bild sagt uns, daß hier ein Wesen […] den Inhalt seiner Anschauung sich selbst darstellt, variiert und um neue Formen vermehrt […] Das Grab sagt uns, daß hier ein Wesen, der Sterblichkeit unterworfen, über Leben und Tod nachsinnt, dem Augenschein Trotz bietet und sein Denken ins Unsichtbare erhebt – Werkzeug und Bild in dessen Dienst stellend.« (Jonas 1994: 48) Paradigmatisch ist dieses genuin menschliche Kennzeichen in Sophokles’ Antigone verkörpert. Antigones Mut, gegen den Willen Kreons dem Bruder ein Grab anzulegen, zeigt, dass der besondere Umgang mit den Toten etwas spezifisch Menschliches, ja zutiefst Humanes ist. Das Begräbnis ist ein transanimalischer Akt par excellence, der den Menschen als Menschen auszeichnet. Welche Pflichten erwachsen aus dieser kulturanthropologischen Sicht? Der Mensch kann sich, wie wir gesehen haben, ein Bild machen über die möglichen Folgen seiner Handlung. Er kann sich vorstellen, was passiert, wenn diese oder jene Handlung durchgeführt wird. Es ist ihm möglich, Zustände zu antizipieren, die noch nicht eingetreten sind. Und er kann sich die Folgen solcher Zustände bewusst machen: Was bedeutet es, ein bestimmtes Gesetz zu erlassen? Welche Folgen wird dieses Gesetz nach sich ziehen? Wie lassen sich gesellschaftliche Zustände durch politische Einwirkung verbessern? Das sind Fragen, die den Alltag eines politisch handelnden Menschen unweigerlich begleiten. Welche Wirkung hat mein pädagogisches Handeln? Welche Vorbildfunktion habe ich als Erwachsener gegenüber Kindern? Wie schütze ich meine Kinder vor schlechten Einflüssen? Das sind Fragen, die sich Eltern und all jene, die in Bildungseinrichtungen arbeiten, immer wieder stellen müssen.
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Jonas’ Anthropologie entwickelt zwecks Beantwortung dieser Fragen eine Stufenfolge des Lebens, in der Erfindungs- und Einfallsgabe, Repräsentationsvermögen und Glaube zu den Grundmomenten einer wachsenden Freiheit des Menschen werden. Ziel seiner philosophischen Biologie ist es, die durch die cartesische Philosophie zerschlagene, psychophysische Einheit des Lebens zu rehabilitieren. Sein Kerngedanke, dass bereits in der primitivsten Form des Lebens durch den Stoffwechselprozess keimhaft Freiheit, Autonomie, Beziehungsfähigkeit und Sterblichkeit angelegt seien, schlägt sich in der Praxis politischen und pädagogischen Handelns nieder. Denn wer über so zahlreiche Kompetenzen wie der Mensch verfügt, muss bedachtsam mit seinen Möglichkeiten umgehen. Die Distinktion des einfachen Organismus gipfelt im menschlichen Denken, und damit letztlich in Wissen und Macht. Jonas’ Stufenfolge des Lebens ist insofern Philosophie des Organismus und des Geistes; sie ist Politische Theorie und Pädagogik zugleich. Das Organische präfiguriert in diesem Modell schon auf der niedrigsten Entwicklungsstufe das Geistige und somit die Freiheit. Andererseits bleibt auch in der höchsten Form der Geist stets Teil des Organischen. Kurzum: Politik und Pädagogik haben Auswirkungen nicht nur auf das Denken, sondern gleichwohl auf den Körper des Menschen. Dabei hebt Jonas die Weltoffenheit des Menschen hervor: Durch die Schaffung von Werkzeug, Bild und Grab übersteigt menschliches Handeln alles Tierische und macht ihn zugleich offen für Gut und Böse, für politische Unterdrückung und schwarze Pädagogik. Jonas verlangt dementsprechend von uns Menschen einen vernünftigen, humanen Umgang miteinander. Angesichts der durch Umweltverschmutzung und Biomedizin hervorgerufenen Probleme, aber auch angesichts des Machtraumes, in dem der Mensch mittels neuer Technologien handelnd die Welt verändert, ist zudem eine neue Form der Demut – insbesondere gegenüber der Natur – und ethische Regulierung seiner Macht gefordert. Das Herzstück seiner Kulturanthropologie hat an Aktualität nichts eingebüßt: Wir müssen Zukunft menschlich gestalten!
L iter atur Blumenberg, Hans (2015): Schriften zur Technik. Hg. von Alexander Schmitz und Bernd Stiegler, Frankfurt a.M. Habermas, Jürgen (2013): Im Sog der Technokratie. Kleine politische Schriften XII, Frankfurt a.M. Jonas, Hans (1979): Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt a.M. Jonas, Hans (1986): Gnosis und spätantiker Geist. Von der Mythologie zur mystischen Philosophie. Zweite Auflage, Göttingen.
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Jonas, Hans (1991): Erkenntnis und Verantwortung. Gespräch mit Ingo Hermann, Göttingen. Jonas, Hans (1994): »Werkzeug, Bild und Grab. Vom Transanimalischen im Menschen«, in: Ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, Frankfurt a.M. Jonas, Hans (1997): Das Prinzip Leben. Ansätze zu einer philosophischen Biologie, Frankfurt a.M. Jonas, Hans (2015): Das Prinzip Verantwortung. Kritische Gesamtausgabe, Erster Teilband: Grundlegung. Hg. von Dietrich Böhler und Bernadette Hermann, Freiburg. Nielsen-Sikora Jürgen (2017): Hans Jonas. Leben, Werk und Zeit, Darmstadt. Popitz Heinrich (1995): Der Auf bruch zur Artifiziellen Gesellschaft. Zur Anthropologie der Technik, Tübingen. Popitz, Heinrich (1989): Epochen der Technikgeschichte, Tübingen.
Mit Kultureller Bildung zur Teilhabe
Anerkennung, Teilhabe und die Entwicklung des Selbstkonzeptes der Schüler*innen Pädagogische Leitmotive von Förderschullehrer*innen an Schulen mit dem Profilschwerpunkt Kulturelle Bildung Sigrun Mützlitz
Der vorliegende Text beschreibt die pädagogischen Leitmotive von Lehrer*innen an Förderschulen mit dem Profilschwerpunkt kulturelle Bildung. Anerkennung und Teilhabe zu fördern sowie die Schüler*innen bei der individuellen Entwicklung eines positiven Selbstkonzeptes zu unterstützen, gehört zu den pädagogischen Zielsetzungen, die von den Lehrkräften insbesondere – wenn auch nicht ausschließlich – im Feld der kulturellen Bildung angestrebt werden. Dabei wird von den Lehrer*innen eine ›Wahlverwandtschaft‹ zwischen diesen Zielen und künstlerisch-kreativen Erfahrungs- und Ausdrucksformen angenommen. Im Folgenden wird zunächst kurz die Untersuchung skizziert, auf deren Daten der empirische Teil des vorliegenden Textes basiert. Auf die theoretischen Bezüge werde ich weiter unten im Text näher eingehen.
F örderschulen im hessischen P rogr amm K ultur S chule Im Herbst 2015 wurde die Untersuchung an zwei Förderschulen durchgeführt, die seit Sommer des Jahres an der dritten Staffel des hessischen Programms KulturSchule1 als erste Förderschulen überhaupt teilnehmen. Beide Schulen waren somit neu im Programm, verfügten aber bereits über eine langjährige ›Geschichte‹ kultureller Bildung vor der Programmbewerbung. Die Schulen unterrichten Schüler*innen unterschiedlicher Förderschwerpunkte: geistige Entwicklung, körperliche und motorische Entwicklung, sowie – zum Untersu1 | Zum Programm KulturSchule Hessen vgl. Ackermann, Heike et al. (2015): KulturSchule. Kulturelle Bildung und Schulentwicklung. Wiesbaden.
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chungszeitpunkt auslaufend – emotionale und soziale Entwicklung. Die Mehrzahl der Schüler*innen kann dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung zugerechnet werden, auch wenn häufig ein komplexeres Einschränkungsmuster (z.B. in Kombination mit starken körperlichen Beeinträchtigungen oder Problemen im Verhaltensbereich) vorliegt. Die Untersuchung wurde anhand von teilnehmenden Beobachtungen, leitfadengestützten Interviews und Dokumentenanalysen durchgeführt. Die leitende Forschungsfrage war dabei zunächst, wie die Schulen das Programm für die Weiterentwicklung der kulturellen Bildung sowie als Schulentwicklungsimpuls nutzen. Die Auswertung der Daten erfolgte mit Hilfe einer von A. Clarke (2005/ dt. 2012) entwickelten Form der Grounded Theory, der Situationsanalyse. Im Laufe der Auswertung stellten sich Konzepte als relevant heraus, die – wie es ja für die Grounded Theory typisch und intendiert ist – erst aus den Daten heraus entstanden. Diese Arbeit mit den ›emerging sensitizing concepts‹ innerhalb der Situationsanalyse habe ich an anderer Stelle näher beschrieben2. Die sich dabei konkretisierenden Konzepte bezogen sich vor allem auf die pädagogischen ›Leitmotive‹ bzw. ›Orientierungspunkte‹, die – implizit oder explizit – die pädagogische Arbeit an den Schulen und auch die Verankerung der kulturellen Bildung dort beeinflussen. Diese sind somit nicht spezifisch für die kulturelle Bildung an den Schulen, aber – so die Einschätzung der befragten Mitarbeiter*innen – durch kulturelle Bildung besonders gut umzusetzen. Man könnte die Sichtweise der Akteur*innen an der Schule so interpretieren, dass sie einem ›emanzipatorischen‹ Grundgedanken folgen, der sich mit den Konzepten »Entwicklung des Selbstkonzeptes der Schüler*innen«, »Anerkennung« sowie »Partizipation/Teilhabe« konkreter fassen lässt und sich dabei eine ›Wahlverwandtschaft‹ zwischen diesen und der kulturellen Bildung herausgebildet hat. Wie sich diese anhand der vorliegenden Untersuchung nachzeichnen lässt, soll im Folgenden zunächst anhand der Selbstkonzeptentwicklung gezeigt werden.
E nt wicklung des S elbstkonzep tes Für den Begriff des Selbstkonzeptes existieren v.a. in der Psychologie unterschiedliche Definitionen (vgl. etwa Rogers 2009; Mummendey 2005; Theiß 2005; Zimbardo 2004). Gemeinsam ist diesen, dass sie – wie exemplarisch etwa Städtler – die Bedeutung der subjektiven Perspektive betonen: »Selbstkonzept ist die Gesamtheit der kognitiven Repräsentationen der eigenen Per2 | Mützlitz (2016): »Situationsanalyse und ›emerging sensitizing concepts«, unveröffentlicht.
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sönlichkeit bzw. des Selbst. Der Begriff ist einerseits weiter als derjenige der Persönlichkeit, da er nicht nur Eigenschaften zum Inhalt hat, andererseits enger, da er lediglich die subjektive Sicht der Persönlichkeit beinhaltet.« (Städtler 2003: 347) Selbstkonzepte entstehen durch die Sicht auf sich selbst (des I auf das Me bei Mead) und zugleich sind die significant others für die Etablierung des Selbstkonzeptes von zentraler Bedeutung (Mead 1934). Unterschiedliche Bestimmungsversuche des Selbstkonzeptes weisen wiederkehrende Merkmale auf (vgl. Hoppe 2012: 31f). Sie kennzeichnen das Selbstkonzept als die Gesamtheit von Einstellungen gegenüber der eigenen Person, es wird als aus kognitiv-deklarativen und affektiven Komponenten bestehend angesehen, wobei sich die kognitiven Prozesse v.a. als Selbstbeschreibung oder Selbstbewertung und die affektiven Prozesse als Selbstwertgefühl oder Selbstakzeptanz äußern. Außerdem umfasst das Selbstkonzept selbstwahrgenommene Kompetenzen bzw. bereichsspezifische Fähigkeiten als eine zusätzliche Dimension. Zu betonen ist des Weiteren die Prozesshaftigkeit der Selbstkonzeptentwicklung. Eine solche ›hat‹ man zwar, aber durch die andauernden Auseinandersetzung mit der Umwelt sowie den immer neuen oder neu reflektierten Erfahrungen mit dem Selbst kann es jedoch Veränderungen unterworfen sein (vgl. Marcia et al. 1993). Zugleich gewinnt es im Laufe der Entwicklung gerade während der Adoleszenz zunehmend an Stabilität und Differenziertheit (Marsh/Shavelson, 1985).
S elbstkonzep ts - und I dentitätsent wicklung : negative A t tribuierungen von M enschen mit geistiger B ehinderung Die Begriffe Selbstkonzept und Identität sind eng miteinander verbunden: Berücksichtigt man die ›Doppelbindung‹ sowohl von Selbstkonzept und Identitätsentwicklung an intrapersonale Prozesse und an soziale Interaktionszusammenhänge, so kann Identität verstanden werden als das »Ergebnis eines individuellen Prozesses der Selbstwerdung und zugleich eines sozialen Prozesses« (Klauß 2012: 1). Zentrale Fragen der Selbstkonzeptentwicklung lauten: »Wer bin ich«, »Was bin ich« und »Wie bin ich«. Diese überschneiden sich weitgehend mit den Identitätsfragen, da das Selbstkonzept sowie das Selbstwertgefühl aus psychologischer Sichtweise den Kern der Identität bilden (vgl. Hoppe 2012). Die bereits angesprochene Bedeutung der significant others und der sozialen Bezüge bei der Selbstkonzeptentwicklung kann ebenfalls als ›reflexive‹ Identitätsentwicklung verstanden werden. Dies meint, dass ein Mensch sich selbst, seine Erfahrung, aber auch die Anforderungen und Einschätzungen anderer reflektiert und dazu nutzt, sich ein Bild von sich zu machen. In der Interaktion mit der Umwelt entwickelt das Individuum außerdem seine
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›Kontrollüberzeugung‹, also die Vorstellung davon, was man selbst regeln, bestimmen, beeinflussen und bewirken kann (vgl. Frey 1987). Für Menschen mit geistiger Behinderung wurde in diesem Zusammenhang bestritten, dass sie bestimmte Entwicklungen überhaupt durchlaufen. Dies ist z.B. bei Differenz- und Defekttheorien der Fall (vgl. Perrig-Chiello 1999). »Defekttheorien gehen davon aus, dass bestimmte kognitive Prozesse bei Kindern mit geistiger Behinderung gar nicht durchlaufen werden, wohingegen Differenztheorien hier keinen direkten Wegfall konkreter Entwicklungsphasen, aber eine geringere Ausprägung einzelner kognitiver Entwicklungsprozesse im Unterschied zu normal entwickelten Kindern postulieren.« (Schuppener 2005: 20) Menschen mit einer geistigen Behinderung erhalten dann z.B. nicht nur die Zuschreibung »geistig behindert«, sondern auch die Zuschreibung »identitätslos« (Hoppe 2012: 41). Dieser Argumentation liegt die Überlegung zu Grunde, dass die Entwicklung von Selbstkonzept und Identität wie beschrieben eng mit bestimmten Entwicklungsprozessen und mit der Interaktionsfähigkeit verbunden sind. Identitätslos impliziert somit gleichzeitig das Etikett handlungsunfähig (vgl. Frey 1987). Dies wiederum hat die Folge, dass Menschen mit geistiger Behinderung als dialog-, interaktions- und beziehungsunfähig deklariert werden (vgl. Hoppe 2012: 41). In Bezug auf das Selbstkonzept würde dies bedeuten, dass Menschen mit geistiger Behinderung nicht über die Fähigkeit verfügen, sich (zu sich) selbst zu positionieren und keine subjektiven Aussagen über ihr Selbst treffen können. Damit wäre ebenfalls keine Selbstkonzeptentwicklung möglich.
G egenposition eines E nt wicklungsmodells Im Gegensatz zu dieser defizitorientierten Unterscheidung steht das »gemeinsame Entwicklungsmodell« (Perrig-Chiello 1999). Dieses geht davon aus, dass Entwicklungsverläufe von Kindern mit und ohne geistige Behinderung grundsätzlich den gleichen Mechanismen unterliegen. Für Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen mit geistiger Behinderung ergeben sich in den Entwicklungsverläufen lediglich dadurch Unterschiede, dass die Passung von Umweltbedingungen mit den Kompetenzen und Bedürfnisse der oder des Betreffenden sich schwieriger gestalten kann (vgl. ebd.), wodurch es zu Verzögerungen oder Störungen in der Selbstkonzeptentwicklung kommen kann. Aus dieser Sicht kann von »prozessuralen Entwicklungsparallelen« im Rahmen der Entstehung, Veränderung und Beschädigung einer Identität (Schuppener 2005: 41) sowie von »Entwicklungsparallelen des Selbstkonzeptes« (ebd.: 57) bei allen Menschen ausgegangen werden. Somit verfügt jeder Mensch, unabhängig von einer Behinderungszuschreibung, über eine Identität. Es wird weiterhin
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vermutet, dass sich inter- und intraindividuelle Unterschiede lediglich eher im Identitätserleben ergeben, d.h. bei der bewussten Auseinandersetzung mit dem Selbst und dessen Erfahrungsgehalten (vgl. Hoppe 2012).
K ulturelle B ildung als M edium der E rfahrung von S elbst und W elt Aus der Sicht der befragten Lehrer*innen lässt sich eine Herangehensweise rekonstruieren, die darauf zielt, Erfahrungen dem Bewusstsein zugänglich zu machen, durch die Identitätserleben und positives Selbstkonzept möglich werden. Die Erfahrungsmöglichkeiten in künstlerischen und kreativen Kontexten sind dabei geeignet, »sich auf sich selbst und den eigenen Ausdruck zu konzentrieren« (CQL, 77) und »den eigenen Geschmack, eigene Vorlieben entwickeln zu können« (CQL, 79). Letzterem wird insbesondere für die Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung große Bedeutung zugemessen, da ihnen aufgrund ihrer Einschränkungen viele Entscheidungen von anderen in Schule, Familie oder stationärer Unterbringung abgenommen bzw. entzogen werden (»weil es gerade im Bereich geistige Entwicklung häufig dieses Überstülpen gibt« (ebd.)). Die für die Selbstkonzeptentwicklung zentralen Punkte »sich mit sich selbst anfreunden, sich selbst kennen lernen«; »mir etwas aneignen, was mich zufrieden und glücklich macht« (AON, 25) sowie die Gelegenheit, eigenen Fähigkeiten, Ausdrucksmöglichkeiten zu erleben (vgl. AON, 71) werden als in der kulturellen Bildung besonders gut umsetzbar angesehen, da dort weniger eine Begrenzung auf einzelne Kompetenzbereiche oder Zugangswege vorgegeben ist, als dies oft im stärker kognitiv angelegten herkömmlichen schulischen Unterricht der Fall ist. Vielmehr werde durch die künstlerische und ästhetische Bildung »die ganze Persönlichkeit angesprochen und kann eingebracht werden« (BPM, 28). Zugang zu den eigenen Gefühlen finden und sich als kompetent erleben (vgl. ESJ, 90), werden von den Lehrer*innen als weitere Erfahrungsmöglichkeiten gesehen, die sich den Schüler*innen insbesondere durch kulturelle Bildung bieten. Damit einher geht eine teilweise Modifikation des herkömmlichen schulischen Leistungsgedankens, die in der schulischen Praxis einen möglichen Weg »weg von Defizitorientierung« und »Förderungsdruck« (ESJ, 106) gangbar erscheinen lässt. Die o.a. sozialen Bezüge der Selbstkonzeptentwicklung stehen darüber hinaus in den Erfahrungen der Lehrkräfte mit der Anerkennungsthematik in enger Wechselwirkung. Geht man von Honneths Konzept der drei Sphären der Anerkennung – Liebe/leibliche Integrität, Recht/normatives Selbstverständnis als Subjekt von Rechten und Solidarität/Soziale Wertschätzung (vgl. Honneth 1992) – aus, lässt sich die gesellschaftliche Situation von Menschen mit geis-
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tiger Behinderung sowohl im Kontext der sozialen wie auch der rechtlichen Anerkennung diskutieren.
S oziale A nerkennung Soziale Identität wird »teilweise von der Anerkennung und Nichtanerkennung, oft auch von der Verkennung durch andere geprägt, sodass ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen wirklichen Schaden nehmen, eine wirkliche Deformation erleiden können, wenn die Umgebung oder die Gesellschaft ein einschränkendes, herabwürdigendes und verächtliches Bild ihrer selbst zurückspiegelt. Nichtanerkennung oder Verkennung kann Leiden verursachen, kann eine Form von Unterdrückung sein, kann den anderen in ein falsches, deformiertes Dasein einschließen.« (Taylor 1997: 13f.) Die Erfahrungen von Schüler*innen mit geistiger Behinderung sind oftmals von unterschiedlichen Formen der ›Nicht-Anerkennung‹ geprägt, die von ›wohlmeinender Bevormundung‹ bis hin zum offenen Infragestellen der individuellen Persönlichkeit reichen. Setzt man Honneths Konzept der Anerkennungssphären mit den Bereichen schulischer Bildung in Verbindung, so liegt es nahe, als Modus der Anerkennung die rechtliche Anerkennung und die solidarische Zuwendung in den Blick zu nehmen. Ersterer spielt derzeit insbesondere im Zusammenhang mit der UN-Behindertenrechtskonvention und dem umfassenden Recht auf (inklusive) Bildung eine wichtige Rolle; für die hier diskutierte Fragestellung ist v.a. die solidarische Zuwendung als positive Form der Anerkennung in der Sphäre der sozialen Wertschätzung von Bedeutung. Durch solidarische Zuwendung »erfährt der einzelne Mensch Achtung und Wertschätzung für sein individuelles Sosein und seinen jeweiligen Beitrag zu einem Gemeinwesen und lernt, sich selbst wertzuschätzen« (Dederich 2013: 3). Analog zum rechtlichen Anerkennungsverhältnis verfügt auch die solidarische Anerkennung über eine überindividuelle Struktur: »Bei der sozialen Wertschätzung […] welche sich dadurch auszeichnet, dass die Subjekte wechselseitig an ihren unterschiedlichen Lebenswegen und -projekten teilnehmen […], kommen die konkreten Eigenschaften einer Person in Form von gesamt-gesellschaftlich relevanten Fähigkeiten zum Ausdruck […]. Nach Honneth kann diese Anerkennungsform nur unter der Voraussetzung begriffen werden, dass ein Wertehorizont hinzugedacht wird […]; ansonsten wäre es gar nicht möglich zu bestimmen, was als eine wertvolle Leistung bzw. als gesellschaftlicher Beitrag gelten könne.« (Stojanov 2006: 141)
Dieser geteilte Werthorizont fällt nun in vielen gesellschaftlichen Bereichen, wie z.B. dem Leistungsbegriff in der Arbeitswelt oder auch der Betonung von
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formalen, standardisierten Kompetenznachweisen im Bildungsbereich, so aus, dass Menschen mit geistiger Behinderung als nicht beteiligungs- und damit auch nicht anerkennungsfähig aus den gesellschaftlichen Interaktionszusammenhängen herausfallen; sie werden gewissermaßen (nicht nur) in Anerkennungsfragen praktisch unsichtbar. Aus Sicht der befragten Lehrkräfte stellt sich diese Situation im Kontext künstlerischer und kreativer Aktivitäten anders dar, dort haben, so die Einschätzung, die Schüler*innen die Möglichkeit, »gesehen zu werden« (AON, 75) und sich auch außerhalb des gewohnten Rahmens »etwas zu trauen« (ESJ, 108). Damit verbunden ist ein Wechsel von der Unsichtbarkeit zur Sichtbarkeit: »Ich hinterlasse Spuren. Ich mache etwas, was sichtbar ist, was schön ist, was ästhetisch ist« (KXE, 80).
Teilhabe /Partizipation Vor diesem Hintergrund lässt sich kulturelle Bildung an Förderschulen mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung auch als ein Medium beschreiben, in dem Teilhabe und Partizipation sein können. So kann zum einen bereits der Kontakt mit bzw. das Wissen um Kunst und Kultur auch außerhalb der Schule, in Museen und Theatern3, als wiederkehrende Erfahrung (vgl. LYD, 66) ein Baustein zu mehr gesellschaftlicher Teilhabe sein. Zum anderen kann die Erfahrung, »gemeinsam mit anderen etwas zu gestalten, Spaß zu haben, die Geschichten [in einem Theaterprojekt] zu erfinden« (ESJ, 118), wie die Schüler*innen sie z.B. in inklusiven Kunstprojekten machen können, dazu beitragen, sich in Kontakt mit anderen, jenseits der Dichotomie behindert – nichtbehindert zu erleben und so als gleichberechtigt Teilhabende*r und Mitwirkende*r soziale Anerkennung zu erfahren. »Wir wollten, dass die Gruppe miteinander etwas herstellt. […] So, dass da wirklich eine Kooperation auch zwischen den Kindern möglich war. Und das, finde ich, ist Partizipation und Teilhabe und das geht durch Kultur. Es geht durch Tanz, es geht durch Musik, es geht durch Theater, aber es geht nicht, wenn wir einfach nur Ausflüge zu irgendwas gemeinsam machen. Die Kinder müssen gemeinsam an einem Gegenstand arbeiten« (KXE, 68).
3 | Beide untersuchten Schulen nehmen seit Jahren an den Wiesbadener Theatertagen teil.
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L iter atur Die mit den Abkürzungen AON, KXE, LYD, BPM, ESJ bezeichneten Passagen stellen die anonymisierten Zitate von Mitarbeiter*innen der untersuchten Schulen dar. Clarke, Adele A. (2012): Situationsanalyse: Grounded Theory nach dem Postmodern Turn, Wiesbaden. Dederich, Markus (2013): Anerkennung. www.inklusion-lexikon.de/anerken nung_dederich.php Frey, Hans-Peter/Hauser, Karl (1987): Identität. Entwicklungen psychologischer und soziologischer Forschung, Stuttgart. Haußer, Karl (1989): »Identität«, in: Günter Endruweit/Gisela Trommsdorff (Hg.), Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, S. 279-281. Honneth, Axel (1992): Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a.M. Hoppe, Garnet Katharina (2012): Selbstkonzept und Empowerment bei Menschen mit geistiger Behinderung, Freiburg. Lohaus, Arnold/Vierhaus, Marc (2015): Entwicklungspsychologie des Kindesund Jugendalters, Berlin. Marcia, James E./Waterman, Alan S./Matteson, David R./Archer, Sally L./Orlofsky, Jacob L. (1993). Ego identity. A handbook for psychological research, New York. Marsh, Herbert W./Shavelson, Richard J. (1985). »Self-concept: Its multifaceted, hierarchical structure«, in: Educational Psychologist, 20, S. 107-125. Mead, George Herbert (1934): Mind, Self and Society. From the Standpoint of a Social Behaviorist, (hg. v. Morris, Charles W.), Chicago. Mummendey, Hans-Dieter (2005): Psychologie der Selbstdarstellung, Göttingen. Mummendey, Hans-Dieter (2006). Psychologie des Selbst. Theorien, Methoden und Ergebnisse der Selbstkonzeptforschung, Göttingen. Perrig-Chiello, Pasqualina (1999): »Differenztheoretische versus entwicklungstheoretische Ansätze zur Erklärung der geistigen Behinderung: Neue Erkenntnisse zu einer alten Debatte«, in: Heilpädagogische Forschung (25) Nr. 2, S. 86-92. Rogers, Carl (2009): Eine Theorie der Psychotherapie, der Persönlichkeit und der zwischenmenschlichen Beziehungen, München. Schuppener, Saskia (2005): Selbstkonzept und Kreativität von Menschen mit geistiger Behinderung, Bad Heilbrunn. Städtler, Thomas (2003). Selbstkonzept. Lexikon der Psychologie, Stuttgart, S. 347. Stojanov, Krassimir: (2006). Bildung und Anerkennung. Soziale Voraussetzungen von Selbst-Entwicklung und Welt-Erschließung, Wiesbaden.
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Taylor, Charles (1997): Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a.M. Theiß, Denise (2005): Selbstwahrgenommene Kompetenz und soziale Akzeptanz bei Personen mit geistiger Behinderung, Bad Heilbrunn. Zimbardo, Philip G. (2004): Psychologie, Berlin.
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Teilhabe an Kultureller Bildung Bildungssprache als Leitvokabel im aktuellen bildungspolitischen und pädagogischen Diskurs Gesa Siebert-Ott
S pr achliche und kulturelle V ielfalt als Thema der L ehrerbildung Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration vertritt in einer aktuellen, gemeinsam mit dem Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache der Universität Köln verfassten Publikation zum Thema ›Lehrerbildung in der Einwanderungsgesellschaft – Qualifizierung für den Normalfall Vielfalt‹ im September 2016 die folgenden Thesen zum Umgang mit sprachlicher und kultureller Vielfalt in der Lehrerbildung: 1. »Zuwanderung ist für das deutsche Schulsystem kein neues Phänomen. Bundesweit hat etwa jedes dritte Schulkind einen Migrationshintergrund. 2. Lehrkräfte in Deutschland lernen aber oft nicht, wie sie auf kulturelle und sprachliche Unterschiede im Klassenzimmer angemessen reagieren können. 3. Lehrerausbildung: In nur sechs Bundesländern lernen alle angehenden Lehrkräfte systematisch den Umgang mit sprachlicher und kultureller Vielfalt. 4. Lehrerbildung: Es gibt zu wenige wirksame Qualifizierungsangebote, Fortbildungen sind oft zu kurz und praxisfern. 5. Der kompetente Umgang mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen sollte ein zentrales Lernziel für alle Lehrkräfte sein; die Lehrerbildung muss entsprechend angepasst werden.« (Sachverständigenrat deutscher Stiftungen 2016: 4) Nordrhein-Westfalen gehört zu den unter Punkt 3 genannten Bundesländern, in denen alle angehenden Lehrkräfte in der Lehrerausbildung systematisch für
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den Umgang mit sprachlicher und kultureller Vielfalt sensibilisiert werden. Das Lehrerausbildungsgesetz verlangt hier von allen Lehramtsstudierenden in den neuen Bachelor- und Master-Studiengängen Leistungen im Umfang von mindestens sechs Leistungspunkten im Bereich ›Deutsch für Schülerinnen und Schüler mit Zuwanderungsgeschichte‹, zusätzlich sind in der Novellierung des LABG fünf Leistungspunkte pro Fach für »inklusionsorientierte Fragestellungen« vorgesehen. Nordrhein-Westfalen fördert aktuell außerdem den Auf bau von weiterbildenden Studienangeboten für »Deutsch als Zweitsprache« an den lehrerausbildenden Universitäten des Landes.
Ü ber die N ot wendigkeit eines professionellen U mgangs mit sprachlicher und kultureller V ielfalt Auch wenn durch die oben genannten Maßnahmen der kompetente Umgang mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen als ein zentrales Lernziel für alle Lehrkräfte gesetzlich etabliert und in der Umsetzung unterstützt wird, verweist der Untertitel der oben zitierten Publikation des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration Qualifizierung für den Normalfall Vielfalt grundsätzlich eher nicht auf einen Ist-Zustand, sondern auf einen Soll-Zustand. In den oben zitierten Thesen werden Widersprüche in der Gestaltung von Schule in der Einwanderungsgesellschaft deutlich: Obwohl bundesweit inzwischen fast jedes dritte Kind einen Migrationshintergrund hat, lernen Lehrkräfte in Deutschland oft nicht, wie sie auf kulturelle und sprachliche Unterschiede im Klassenzimmer angemessen reagieren können, d.h. die Qualifizierung für den Normalfall findet tatsächlich nicht oder jedenfalls nicht hinreichend statt. Gogolin charakterisiert dieses Phänomen schon 1994 in ihrer gleichnamigen Publikation als monolingualen Habitus der multilingualen Schule. Tatsächlich sind in der Lehreraus- und Fortbildung wie auch in der Schulpraxis schon seit Mitte der 1960er, zunehmend Kinder aus Familien mit Migrationsgeschichte in Schulen in Deutschland aufgenommen wurden, Anstrengungen unternommen worden, die dazu beitragen sollten, auf die sprachliche und kulturelle Vielfalt im Klassenzimmer professionell zu reagieren und nicht nur nach bestem Wissen und Gewissen zu improvisieren. Dass die Forderung, Lehrkräfte für den Normalfall sprachliche und kulturelle Vielfalt zu qualifizieren, nicht längst durch geeignete bildungspolitische Maßnahmen auf Länder und – soweit eine Beteiligung des Bundes hier im gesetzlichen Rahmen möglich ist – auch auf Bundesebene systematisch und strukturiert umgesetzt wurde, hängt m.E. auch mit der Bewertung dieser Thematik in der öffentlichen Diskussion zusammen. Die Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei, bzw. sich als Einwanderungsgesellschaft verstehen solle,
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wurde kontrovers diskutiert. So wurde die Frage, wie angemessen mit dem Phänomen sprachliche und kulturelle Vielfalt in der Schule umzugehen sei, zwar kontinuierlich von Expertinnen und Experten in den Bildungswissenschaften, den Fachdidaktiken und von einem mit bildungspolitischen Fragen in Politik und Verwaltung befassten Personenkreis diskutiert. Es wurden über die Zeit auch viele Konzepte zum Umgang mit sprachlicher und kultureller Vielfalt in Bildungseinrichtungen vom Kindergarten bis zur Universität entwickelt und erprobt. Eine nachhaltige Wirkung der hier entwickelten Konzepte auf den gesellschaftlichen Umgang mit sprachlicher und kultureller Vielfalt wurde nicht zuletzt durch den Projektcharakter vieler dieser Maßnahmen behindert. Dies trug mit dazu bei, dass in einer an bildungspolitischen Fragen interessierten (medialen) Öffentlichkeit solche Fragen zumeist dann auf ein besonderes Interesse stoßen, wenn die Diskussion brisant wird, wie etwa bei der Veröffentlichung der Ergebnisse der ersten PISA-Studie zur Lesekompetenz von 15-Jährigen in Deutschland. Im internationalen Vergleich erwies sich das Bildungssystem in Deutschland hier als nicht sonderlich erfolgreich, Schülerinnen und Schülern aus bildungsfernen Familien und/oder aus Familien mit Migrationsgeschichte am Ende der Pflichtschulzeit eine für die Bewältigung alltäglicher Anforderungen hinreichende Lesekompetenz (reading literacy) zu vermitteln. Expertenwissen alleine scheint allerdings kaum in der Lage, notwendige gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen. So konstatiert Sieber (2003: 4): »Die PISA-Untersuchungen haben einer breiteren Öffentlichkeit etwas ins Bewusstsein gerückt, was unter Fachleuten eigentlich längst bekannt ist: Noch zu keiner Zeit war Sprachförderung so nötig und so wichtig wie in der Gegenwart.« Sieber (2003) begründet seine These mit der Feststellung, dass die sprachlichen Anforderungen in unserer Gesellschaft ständig komplexer werden und dass diese Anforderungen an einen ständig wachsenden Personenkreis gerichtet werden, vgl. hierzu neuerdings auch Feilke (2014). In den von Sieber in seinem Beitrag formulierten Perspektiven für die Sprachförderung wird für die Erstsprache die Entwicklung von Kompetenzbeschreibungen gefordert, wie sie mit dem Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen für Fremdsprachen bereits zur Verfügung stehen. Dabei geht Sieber auch auf die in der PISA-Studie ausgemachten Bildungsverlierer ein, d.h. Gruppen von Schülerinnen und Schülern, die überproportional häufig im nationalen Vergleich zu den Lesekompetenzen von 15-jährigen Schülerinnen und Schülern – gemessen an der Gesamtstichprobe – (deutlich) unter dem Durchschnitt liegen. »Lesen ist eine Schlüsselqualifikation. Deshalb können wir uns den ›Luxus‹ einer sprachlich ungebildeten Minderheit nicht mehr leisten. Es ist nicht mehr das lehrbuchmässig (sic!) in den Siebzigerjahren definierte katholische Mädchen vom Land, das aus den
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Gesa Sieber t-Ott Bildungsangeboten herausfällt. Heute ist es – das zeigen die PISA-Resultate mit aller Deutlichkeit und zwar für Deutschland wie die Schweiz – der männliche, ausländisch geprägte Jugendliche aus einem bildungsfernen Elternhaus.« (Sieber 2003: 15)
Die Faktoren Gender, kulturelles Kapital der Familie und Migrationsgeschichte entfalten ihre Wirksamkeit auch dann, wenn sie einzeln auftreten und werden in der einschlägigen Forschung auch durchaus getrennt voneinander diskutiert. Dies geschieht etwa in der Lesesozialisationsforschung in der Beschäftigung mit der Frage nach genderorientierten Lektüreangeboten für Kinder und Jugendlichen, verbunden mit der Frage, welche Mädchenbilder und Jungenbilder hier vermittelt werden und wie man speziell auch die Lesemotivation und die Lesekompetenz von Jungen schulisch gezielt fördern kann. Auf eine bundesweit in allen Ländern der Bundesrepublik Deutschland entsprechend systematisch angepasste Lehrerausbildung und entsprechende regelmäßige Angebote zur Weiterqualifizierung für Lehrkräfte an Schulen und in der Erwachsenenbildung müssen wir allerdings nach Einschätzung der Studie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen (2016) dennoch wohl noch warten. Dies ist umso brisanter als mit der Ost-Erweiterung der europäischen Union und dem starken Zustrom von Flüchtlingen in die Europäische Union im Jahr 2015, die Frage, ob wir es schaffen, dass besonders auch diese neu zugewanderten Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen eine qualifizierte sprachliche Bildung erhalten, zu den Fragen gehört, die in der (medialen) Öffentlichkeit zunehmend kritisch diskutiert werden. Es entsteht gegenwärtig offenbar (wieder) bei manchen Bürgerinnen und Bürgern der Eindruck, diese Situation sei nicht beherrschbar und sprachliche und kulturelle Vielfalt an Schulen in Deutschland sei nicht als der Normalfall, sondern vielmehr als eine Art Ausnahmezustand anzusehen. Zu dieser Einschätzung mag beitragen, dass die Gruppe der männlichen, ausländisch geprägten Jugendlichen aus einem bildungsfernen Elternhaus, die bereits in der Diskussion der Ergebnisse der ersten PISA-Studie als diejenige Gruppe ausgemacht wurde, die – wie Sieber es formuliert – aus den Bildungsangeboten herausfiel (Sieber 2003: 15), auch unter den neu Zugewanderten besonders stark vertreten ist Sieber (2003: 15) stellt in seinem Beitrag bei der Diskussion möglicher Ursachen für die im internationalen Vergleich besonders hohe Selektivität des deutschen Bildungssystems auch die Frage, ob das Festhalten an bildungsbürgerlichen Traditionen mit eine Ursache dafür sein könne, dass die junge Menschen aus den genannten Gruppen »die ihnen zustehende und gesellschaftliche notwendige sprachliche Bildung« nicht erhielten. Zentraler Bestandteil dieser sprachlichen Bildung muss nach Sieber die Entwicklung literaler Kompetenzen sein, dazu gehört seiner Auffassung nach die Entwicklung von »Welt-, Sprach- und Handlungswissen«, welches erforderlich ist »damit Texte verstanden werden
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können und damit auch schreibend darauf reagiert werden kann« (vgl. hierzu auch Feilke 2014; Siebert-Ott et al. 2015; Decker/Siebert-Ott 2016). Der Anspruch, dass »soziale Herkunft und der sprachlich-kulturelle Hintergrund von Schülerinnen und Schülern […] nicht über Erfolg oder Misserfolg ihrer schulischen Ausbildung entscheiden« (Burckhart 2014: 5) sollte mit Blick auf die in unserer Verfassung enthaltenen Gleichheitsgrundsätze und Benachteiligungsgebote eigentlich unstrittig sein. Sprache wird in diesem Zusammenhang von Burckhardt in seinem Vorwort zu der Studie Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache – Was leistet die Lehrerbildung als »der zentrale Zugang zur Wissensvermittlung – zur Bildung insgesamt – und damit das Fundament für den weiteren Bildungserfolg« (ebd.) bezeichnet. Daraus leitet Burckhart (ebd.) u.a. die folgenden Kriterien für das Anforderungsprofil von Lehrkräften ab: • die Fähigkeit mit heterogenen, von kultureller Vielfalt geprägten Lerngruppen erfolgreich umzugehen, • die Fähigkeit, die Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern vor dem Hintergrund des demographischen Wandels zu fokussieren, • die Bereitschaft, die hierzu erforderlichen interkulturellen und didaktischen Kompetenzen besonders auch im Bereich der Förderung des Spracherwerbs und des Sprachverständnisses, speziell auch mit dem Fokus auf ›Deutsch als Zweitsprache‹ zu entwickeln. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Diskussion um den Umgang mit Flucht-Migration in Deutschland und in den europäischen Partner-Staaten gewinnt die Überlegung, dass Lehrkräfte hier als Multiplikatoren eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe übernehmen können, wenn es ihnen gelingt, »Wertschätzung und Akzeptanz von Diversität und Vielfalt« zu entwickeln und zu vermitteln (Burckhart 2014: 5), noch zusätzlich an Bedeutung. Dass speziell die Förderung der sprachlichen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler zum Anforderungsprofil von Lehrkräften gehört, entspricht offenbar aber auch überwiegend der Sicht der Lehrerinnen und Lehrer, wie die IPSOSStudie zur Einstellung von Lehrerinnen und Lehrern zum Thema ›Sprachförderung‹ ergab: Befragt wurden in dieser Studie 512 Lehrerinnen und Lehrer an 394 allgemein-bildenden Schulen in Deutschland mit halbstandardisierten Interviews. Die Stichprobe wurde nach dem Quotenverfahren durchgeführt, um ausreichend große Analyseteilzielgruppen im Hinblick auf Region, Schulformen usw. bilden zu können (Becker-Mrotzek et al. 2012: 3). 83 % der befragten Lehrerinnen und Lehrer unterrichten Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, 70 % der befragten Lehrerinnen und Lehrer unterrichten Schülerinnen und Schüler, die nach ihrer Einschätzung einen besonderen Sprachförderbedarf haben. Der Aussage »Sprachförderung ist generell
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sinnvoll und wichtig« stimmten 96 % der Befragten zu, der Aussage »Auch in nicht-sprachlichen Fächern ist Sprachförderung sinnvoll« stimmten 82 % zu, nur 18 % stimmten dieser Aussage nicht zu (Becker-Mrotzek et al. 2012: 10). Dagegen fühlten sich nur 33 % der Befragten gut oder sehr gut auf diese Aufgabe vorbereitet, 66 % der Befragten dagegen fühlten sich weniger gut oder sogar schlecht auf diese Aufgabe vorbereitet (Becker-Mrotzek et al. 2012: 7).
B ildungsspr ache als L eit vok abel in ak tuellen bildungspolitischen und fachlichen D iskursen – über den U mgang mit spr achlicher und kultureller V ielfalt im U nterricht In der einschlägigen bildungswissenschaftlichen und fachwissenschaftlichen Diskussion wird dem Thema Bildungssprache und der Verknüpfung von sprachlichem und fachlichem Lernen in Unterrichtsdiskursen eine zentrale Bedeutung beigemessen. Wichtig in diesem Fachdiskurs ist die Unterscheidung von alltagssprachlichen und bildungssprachlichen Fähigkeiten: »Vielen Schülerinnen und Schülern, die sich im Alltag ohne Probleme verständigen können, fehlt es aber an den nötigen bildungssprachlichen Fähigkeiten (Hervorhebung GSO). Ihnen fällt es schwer, im Unterricht Sachtexte zu verstehen oder selber verständliche Texte zu schreiben. Weiterhin fällt es ihnen schwer, im Unterrichtsgespräch Zusammenhänge zu begreifen und zu erklären. Unter diesen Schülern befinden sich solche ohne und mit Migrationshintergrund.« (Becker-Mrotzek et al. 2012: 2)
Die Verbindung von sprachlichem und fachlichem Lernen und die Anforderungen des Fachunterrichts an die sprachlichen Kompetenzen der (angehenden) Lehrerinnen und Lehrer und an die sprachlichen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler sind in jüngster Zeit verstärkt Gegenstand fachlicher Diskurse in den Fachdidaktiken und den Erziehungswissenschaften sowie den international vergleichenden Bildungswissenschaften. Für die Sprache des Lehrens und Lernens finden sich in der internationalen Diskussion Begriffe wie Language of Schooling oder Academic Language. Im deutschen Sprachraum finden sich für die Sprache des Lehrens und Lernens daneben Begriffe wie Bildungssprache, Schulsprache und Unterrichtssprache. Die Diskussion um die Bedeutung eines für den Bildungserfolg relevanten sprachlichen Registers kann im Hinblick auf die Erstsprache in Deutschland auf die Rezeption der Studien des britischen Soziologen Basil Bernstein seit den 1960er Jahren und im Hinblick auf die Zweitsprache auf die verstärkte Rezeption der Studien des kanadischen Bildungsforschers Jim Cummins seit den 1980er Jahren zurückgeführt werden (Siebert-Ott 2001). Auf die Bedeutung
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eines für den Bildungserfolg relevanten, spezifischen Sprachregisters weisen Becker-Mrotzek et al. (2013) in der Einleitung zu dem von ihnen herausgegebenen Sammelband »Sprache im Fach – Sprachlichkeit und fachliches Lernen« hin, in dem das Thema aus der Perspektive verschiedener Fachdidaktiken aus dem geisteswissenschaftlichen und dem gesellschaftswissenschaftlichen sowie dem mathematisch-naturwissenschaftlichen Bereich beleuchtet wird. Die Beherrschung dieses Registers wird nach Becker-Mrotzek et al. (2013) zwar erwartet, aber nicht unbedingt immer auch explizit gemacht: »Wir haben es hier mit einem spezifischen Sprachregister zu tun, das typisch für den differenzierten Fachunterricht ist und dessen Beherrschung durch die Schülerinnen und Schüler von Seiten der Institution Schule in der Regel erwartet wird – ohne dass dies explizit gemacht oder in seinen Implikationen ausformuliert wird. Andererseits ist dieses Sprachregister in seiner Struktur und Eigenart noch nicht systematisch und umfassend beschrieben. Für viele Kinder und Jugendliche mit und auch ohne Migrationshintergrund stellt sich diese Erwartungshaltung der Schule deshalb oft wie ein ›geheimes Curriculum‹ dar, an dem viele Lernende durch Unkenntnis oder durch mangelnde Unterstützung beim Erwerb dieses Sprachregisters scheitern.« (Becker-Mrotzek et al. 2013: 7)
Becker-Mrotzek et al. (2013: 7) verwenden für dieses Sprachregister neben dem Begriff Bildungssprache auch den Begriff Schul- bzw. Unterrichtssprache und setzen dem auch den Begriff alltägliche Wissenschaftssprache (im Sinne von Ehlich 1999) gleich. Feilke (2012a) dagegen unterscheidet in seinem Beitrag »Bildungssprachliche Kompetenzen – fördern und entwickeln« klar zwischen Bildungssprache und Schulsprache, was er am Beispiel der Erörterung als einer im Deutschunterricht vermittelten Textform und dem Erörtern als sprachlicher Handlung darlegt: »Das Erörtern als Handlung ist eine bildungssprachliche Funktion; sie spielt in vielen Kontexten und Texten eine Rolle, und im Deutschen haben sich hierfür spezielle grammatische Konstruktionen, lexikalische Ausdrücke und Textroutinen historisch ausgebildet, deren Erwerb für viele Schüler schwierig ist. Sie müssen auf die Teilhandlungen bezogen werden, aus denen das Erörtern textlich komponiert wird: z.B. Positionen aus unterschiedlichen Texten zu referieren, Gegensätze auszudrücken, Sachverhalte als Möglichkeiten und Annahmen zu formulieren usw. Hier handelt es sich um Fähigkeiten, die schon in der Grundschule gefördert werden können und die später zur Voraussetzung für höhere Bildungsziele werden.« (Feilke 2012a: 5f.)
Das Erörtern wird hier also als eine sprachliche Handlung mit einer bestimmten Funktion beschrieben. Feilke (2012a, 2012b) bezeichnet solche sprachlichen Handlungen auch als Textroutinen (vgl. hierzu auch Schmölzer-Eibinger et al. 2013). Charakteristisch für Textroutinen ist danach die Verknüpfung
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einer sprachlichen Handlung mit einem bestimmten sprachlichen Ausdruck (Routineausdruck), diese Verknüpfung wird konventionell in bestimmten Handlungskontexten benutzt. So wird z.B. in wissenschaftlichen Diskursen die sprachliche Handlung ›Behaupten‹ von ›Experten‹ negativ konnotiert mit ›etwas sagen, ohne gute Gründe dafür anführen zu können‹. Dagegen nutzen Novizen in akademischen Diskursen die Formulierung »X behauptet y« häufig auch, um auf sprachlichen Handlung von X Bezug zu nehmen, in denen ihrer Einschätzung nach von X gute Gründe für eine bestimmte Position vorgetragen werden. Ein solcher Sprachgebrauch kann in akademischen Diskursen zwischen Experten und Novizen zu Missverständnissen führen. Wie einschlägige Studien zeigen, passen Studierende ihren Sprachgebrauch zunehmend den in der jeweiligen wissenschaftlichen Community geltenden Konventionen an (vgl. Decker/Siebert-Ott 2016). Im Varietätenraum (Diasystem) von Einzelsprachen (vgl. hierzu Löffler 2010) wird Bildungssprache zunächst der funktionalen (diaphasischen) Dimension zugeordnet und auch als Funktiolekt bezeichnet. Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Diskussion um Bildungspartizipation und Bildungsgerechtigkeit ist es aber wichtig, Bildungssprache als sprachliche Varietät auch mit der sozialen (diastratischen) Dimension des Varietätenraums einer Sprache in Beziehung zu setzen, worauf Gantefort (2013: 72f.) ausdrücklich aufmerksam macht. Bildungssprache hat demnach eine Doppelfunktion als Soziolekt und als Funktiolekt: »Mit Blick auf den heutigen Gebrauch des Begriffs – bezogen auf einem Diasystem wie dem Deutschen untergeordnete sprachliche Varietäten […] – lassen sich zwei mögliche Verwendungsweisen unterscheiden: Aus einer eher soziologischen bzw. soziolinguistischen Perspektive werden damit Phänomene gesellschaftlicher Stratifikation fokussiert […]. Sie dient demnach Angehörigen privilegierter gesellschaftlicher Gruppen unter anderem dazu, ihren eigenen gesellschaftlichen Status zu markieren und sich gegenüber anderen Gruppen abzugrenzen […]. Ist demgegenüber von einer ›Bildungssprache der Schule‹ die Rede, so bezieht sich der Begriff aus erziehungswissenschaftlich-linguistischer Perspektive auf den Zusammenhang zwischen Lernen und Sprache […]; unabdingbare Voraussetzung für erfolgreiches Lernen ist demnach eine hinreichend ausgebildete sprachliche Ausdrucks- und Verstehensfähigkeit als bildungssprachliche Kompetenz, deren perzeptuell wahrnehmbares Produkt bildungssprachliche Register darstellen.« (Gantefort 2013: 72f.)
Mit der Funktion von Bildungssprache als Ressource im Sinne einer unabdingbaren Voraussetzung für erfolgreiches schulisches Lernen setzt sich auch Feilke (2012a) in seinem Beitrag »Bildungssprachliche Kompetenzen – fördern und entwickeln‹ auseinander. Feilke geht dabei zum einen auf bestimmte, besonders auch für Lehr-/Lerndiskurse relevante sprachliche Handlungen wie
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Explizieren, Diskutieren, Verallgemeinern und Verdichten, dem eine besondere Funktion zukommt, ein. Explizieren bedeutet nach Feilke (2012a, 8) »Sachverhalte und ihre Zusammenhänge für den Leser möglichst nachvollziehbar, d.h. explizit darstellen und fokussieren«, vgl. dazu die folgenden Beispiele: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.
Es regnete stark. Sie blieb zuhause. Es regnete stark. Sie lief aus dem Haus. Die Wäsche hing noch draußen. Es regnete stark. Daher blieb sie zuhause. Es regnete stark. Dennoch lief sie aus dem Haus, denn die Wäsche hing noch draußen. Weil es stark regnete, blieb sie zuhause. Obwohl es stark regnete, lief sie aus dem Haus, weil die Wäsche noch draußen hing. Wegen des starken Regens blieb sie zuhause. Trotz des starken Regens lief sie aus dem Haus, weil die Wäsche noch draußen hing.
Bei den Beispielen (1) und (2) liegt nach Feilke kein Explizieren im Sinne seiner Definition vor. Der Hörer/Leser kann einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Regen und dem Zuhause-Bleiben aufgrund seines Weltwissens zwar vermuten: Starker Regen gilt gemeinhin als ein möglicher Grund für ein Zuhause-Bleiben. Es kann allerdings auch triftige Gründe für das Verlassen des Hauses auch bei starkem Regen geben, vgl. Beispiel (2). Der Sprecher/ Schreiber kann solche Zusammenhänge auch implizit ausdrücken wollen, er nutzt aber keine sprachlichen Mittel, um diese Zusammenhang tatsächlich sprachlich zu explizieren. Anders verhält es sich in den Beispielen (3)-(7): Hier wird sprachlich explizit ein ursächlicher Zusammenhang hergestellt zwischen dem Regen und dem Zuhause-Bleiben bzw. dem Regen und dem Verlassen des Hauses. Dafür nutzt der Sprecher/Schreiber Konnektoren wie daher, dennoch, denn, weil, obwohl. Zusätzlich liegt in Beispiel (7) und (8) eine Verdichtung in Form einer Integration zweier Sätze mit Hilfe einer Substantivierung des Verbs regnen vor: Der erste Hauptsatz aus Beispiel (1) und (2) wird jeweils als adverbiale Bestimmung eingeleitet durch die Präposition wegen bzw. trotz Bestandteil des folgenden Hauptsatzes Sie blieb zuhause bzw. Sie lief aus dem Haus. Auch wenn keine Konnektoren verwendet werden, um zwei oder mehr Ereignisse miteinander in Verbindung zu bringen, genügt unser Weltwissen offenbar häufig für eine plausible Interpretation einer Folge von Äußerungen. Im alltäglichen Sprachgebrauch würde man daher wohl eher eine Äußerung wie in Beispiel (2), als Äußerungen wie in den Beispielen (3) und (8) erwarten. Äußerungen wie in den Beispielen (1) und (2) werden daher, auch wenn sie medial schriftlich vorliegen als konzeptionell mündlich charakterisiert, Äußerungen wie in den Beispielen (3) bis (8) werden dagegen als konzeptionell
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schriftlich charakterisiert, auch wenn sie medial mündlich realisiert werden (Koch/Oesterreicher 1986; Günther 2010). Günther (2010) legt in seinem Beitrag »Erziehung zur Schriftlichkeit« dar, dass Kinder regelmäßig Zugang zu konzeptioneller Schriftlichkeit haben können, lange bevor sie selbst lesen und schreiben lernen, das Vorlesen in der Familie und überhaupt der Sprachgebrauch in der Familie kann dazu einen wichtigen Beitrag leisten (vgl. Schindler/Siebert-Ott 2014; Siebert-Ott 2011; Feilke 2012a).
F a zit Ziel des vorliegenden Beitrags war es, mit Bezug auf einschlägige, aktuelle Fachdiskurse deutlich zu machen, dass Bildungssprache sowohl Fundament eines gelingenden Bildungsprozesses als auch Hürde für einen gelingenden Bildungsverlauf sein kann. Diese Ambivalenz wird auch in den Überlegungen von Sieber deutlich, der einerseits die Entwicklung von Textkompetenz als wesentlich für den Bildungserfolg ansieht, andererseits im Festhalten an bildungsbürgerlichen Traditionen auch Hürden für den Bildungserfolg sieht. Schule und Hochschule stehen vor der Herausforderung, die Entwicklung bildungssprachlicher Kompetenzen zu fördern, ohne sie zu Hürden im Bildungsverlauf werden zu lassen.
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UnVermittelt: Benachteiligungen als Herausforderung für die berufsbildungswissenschaftliche Forschung Ästhetische Zugänge an Berufskollegs? Katharina Gimbel In diesem Beitrag stelle ich zentrale Dimensionen der interdisziplinären Konstellation im Kontext des regionalen Forschungsprojektes »Jugend inklusiv im Kreis Olpe – Entwicklung und Erprobung eines potenzialgenerierenden Curriculums für Kriegsflüchtlinge und Asylbewerber am Berufskolleg des Kreises Olpe« zur Diskussion. Es handelt sich um ein gemeinsames Projekt der Arbeitsbereiche Berufs- und Wirtschaftspädagogik und Bildende Kunst und ihre Didaktik der Universität Siegen sowie des Kreises Olpe, des Berufskollegs des Kreises Olpe und der Jugendkunstschule kunsthaus alte mühle e.V. in Schmallenberg. Unter Bezugnahme auf das Projekt formuliere ich meine Gedankengänge aus einer curricularen Perspektive, die im Schnittfeld der theoretischen Bezüge beider Arbeitsbereiche positioniert ist. Zur Veranschaulichung dieser Bezüge werden Einblicke in das Forschungsprojekt an ausgewählten Stellen des Beitrags herangezogen. Zunächst gilt es, die hier zugrunde liegende curriculare Erkenntnisorientierung als eine, die auf Vermittlung abstellt, zu skizzieren und dabei auch den verwendeten Curriculum-Begriff auszuführen. Es folgt eine knappe Annäherung an das Phänomen der Benachteiligungen als ein Problem der unangemessenen Ansprache und die damit verbundene Notwendigkeit, über gesellschaftliche Teilnahme1 neu nachzudenken. Anschließend werden ausgewählte Konzepte aus dem kunstpädagogischen Kontext, denen eine ästhetisch1 | Buchmann und Bylinski verweisen diesbezüglich auf das Subsidiaritätsprinzip, das als ein Grundmotiv in der Kontinuität des deutschen sozial- und wohlfahrtstaatlichen Handelns stehe. »In ihm enthalten ist das Prinzip der Verpflichtung, das unter den Bedingungen des New Public Managements konkretisiert wird zu einem Prinzip der Verpflichtung zur Mitwirkung. Entsprechend kann bei einer Mitwirkungs-Verweigerung auch
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forschende Perspektive zugrunde liegt, schlaglichtartig beleuchtet. Darauf bezogen thematisiere ich in exemplarischer Weise Potenziale des im Projekt vollzogenen und aus dem kunstpädagogischen Bezugsrahmen entlehnten ästhetischen Zugangs (Mapping), die für die Gestaltung von Curricula mit Inklusionsanspruch2 bedeutsam sein können. Abschließend werden (berufs-)bildungswissenschaftliche3 Herausforderungen skizziert, die zu bearbeiten sind, verfolgt man die hier gewählte Perspektive mit interdisziplinärem Anspruch weiter.
C urricul are P erspek tive : S ubjek t-W elt-V ermit tlung Der Begriff »Curriculum« löste seit Ende der 1960er-Jahre die Begriffe »Lehrplan« oder »Ausbildungsplan« ab, was allerdings nur bedingt auf die Internationalisierung von Bildungspolitik und Erziehungswissenschaft zurückzuführen, vielmehr der Bildungsgangperspektive geschuldet sei (vgl. Huisinga/ Lisop 2005: 35). Laut Buchmann (2013: 295) sind Curricula »Bildungsgangkonstruktionen mit Zielvorgaben, zeitlicher und inhaltlicher Strukturierung, Abschlüssen usw., die als Repräsentation von Welt der nachwachsenden Generation Weltaufschluss, Weltverstehen und damit letztlich Gestaltung von Welt ermöglichen sollen«. Der Titel »UnVermittelt« verweist nun im bildungswissenschaftlichen Sinn zum einen darauf, Vermittlung als zentrale Kategorie professionellen pädagogischen Handelns zu begreifen, und zum anderen wird mit der möglichen Lesart »Unvermittelt« auch auf Indizien für ihr Nichtgelingen Bezug ein Leistungsausschluss erfolgen. Das neue Integrationsprinzip Teilnahme substituiert insofern das bisherige Integrationsprinzip Teilhabe« (Buchmann/Bylinski 2013: 155). 2 | »Es sei an dieser Stelle auf den sozialwissenschaftlichen Diskurs um den Inklusionsbegriff verwiesen (Parsons, Luhmann, Habermas), welcher chronologisch dem erziehungswissenschaftlichen Inklusionsdiskurs vorausging und diesen inhaltlich prägt. Der hier verwandte Inklusionsbegriff setzt an dem Habermasschen Verständnis an, welches ausgehend von der Frage nach identitätsstiftenden Momenten in demokratischen Gesellschaften eine differenzsensible Inklusion von Heterogenität über die offenen Prozesse demokratischer Meinungs- und Willensbildung postuliert. Auf Basis dieses Verständnisses wird Inklusion in diesem Beitrag erziehungswissenschaftlich als das systematische Entwickeln und Entfalten von menschlichen Potenzialen mit dem Ziel gesellschaftlicher Teilnahme verstanden.« (Buchmann/Diezemann 2014: 258; siehe auch: Huisinga 2015: 64). 3 | Mit Bezug auf Buchmann (2007) verwende ich den Terminus Bildungswissenschaft synonym für Erziehungswissenschaft und Berufsbildungswissenschaft statt Berufsund Wirtschaftspädagogik.
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genommen: konkret auf das Phänomen der Benachteiligungen. Nachfolgend werde ich den Versuch unternehmen, das dabei zugrunde liegende Verständnis von Vermittlung kompakt zu fassen. Dabei beziehe ich mich auf die erziehungswissenschaftliche Denkfigur der Subjekt-Welt-Vermittlung, nach der Vermittlung immer als Implikation und niemals als Trivialfigur zu sehen ist (vgl. Huisinga/Buchmann 2006: 30ff.). Demgemäß gehe es bei dem Ausdruck »Wissen vermitteln« nicht darum, etwa Fachwissen beizubringen. Hingegen sind die Vermitteltheit der Lehrpläne und deren Vermittlungsfunktion nach Huisinga und Buchmann (2006: 31) von den folgenden beiden Punkten aus gut zu verstehen: Die Frage nach »der Ablösung einer funktionalen zugunsten einer intentionalen Erziehung« im Hinblick auf die »Herauslösung bzw. die Freisetzung des in unmittelbare Lebenszusammenhänge eingebundenen Lernens bzw. Qualifizierens« (ebd.). Unter Bezugnahme auf Lisop (1969) verweisen Huisinga und Buchmann darauf, »dass eine in den unmittelbaren Lebenszusammenhängen sich realisierende Qualifizierung keines Lehrplans und auch keiner besonderen Lerninstitution bedurfte« (ebd.). Im Zuge der vollendeten Freisetzung funktionalen Lernens entwickle sich das Problem der Einheit von unmittelbarem und vermitteltem Lernen. Konstitutive Grundlage der Bildungstheorie sei die Auffassung dieser Einheit (vgl. Huisinga/Buchmann 2006: 31). Die Frage danach, in welcher Beziehung die Subjekte zur Welt stehen: die Subjekt-Welt-Vermittlung. Die Beziehung ist, einfach formuliert, eine doppelte. »Auf der einen Seite ist das Subjekt Objekt von Welt, insofern es Gestaltetes ist. Auf der anderen Seite ist es Subjekt und damit Gestalter von Welt.« (Ebd.) Demnach geht es bildungstheoretisch immer um die Frage des Grades von Aufklärung, Reflexion und Kritik gegenüber dem Objektsein, folglich um Emanzipation und Autonomie im Hinblick auf die Weltgestaltung. Holzkamp beschreibt diesen Zusammenhang mittels der Begriffe Weltaufschluss, Verfügungserweiterung und erhöhte Lebensqualität (vgl. Holzkamp 1995: 190 zit.n. ebd.). Weltaufschluss, Verfügungserweiterung und Gestaltung von Welt ergeben sich unter funktional-erzieherischen Bedingungen eo ipso. Wenn das Lernen aus dem unmittelbaren Lebenszusammenhang, etwa aus Gründen der zunehmenden Komplexität von Welt, heraustritt, bedarf es einer sinnbezogenen Vermittlungsleistung und demnach einer Repräsentation von Welt, die den Rückbezug auf den Lebenszusammenhang erlaubt. Diese Repräsentationen erfüllen ihre Vermittlungsfunktion zwischen Subjekt und Welt nur, wenn sie sich gemäß des gesellschaftlichen Wandels stets in Bewegung konstituieren. Demnach können unangemessene Repräsentationen – man kann auch sagen, unangemessene Lernfelder oder Lernprojekte – auch die Prozesse von Weltaufschluss, Verfügungserweiterung und Gestaltung erschweren oder gar
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verhindern, weshalb disziplinär die Repräsentationsfrage immer vor der Methodenfrage zu klären wäre. (Huisinga/Buchmann 2006: 31) Derzeit sollte über die Angemessenheit gängiger Curricula gestritten werden, da die Vermittlung in obigem Sinn für einen zunehmenden Teil der nachwachsenden Gesellschaft nicht gelingt. So erreichen gängige Curricula offensichtlich einen erheblichen Teil der nachwachsenden Generation weder emotional noch sozial oder kognitiv (vgl. Buchmann 2006: 63). Das sogenannte Übergangssystem ist dafür ein Indiz.4 Es bezeichnet alle Maßnahmen für junge Menschen ohne allgemeinen Schulabschluss bzw. mit einem Schulabschluss, der nicht in ein Ausbildungsverhältnis oder die Erwerbsarbeit geführt hat. Insofern sind die Internationalen Förderklassen dem schulischen Teil dieses Übergangssystems zuzuordnen. Im Forschungsprozess wird die Gruppe der Benachteiligten – hier Flüchtlinge und Asylbewerber – stellvertretend als Gruppe, in der Problemlagen in verdichteter Form auftreten (wie z.B.: Notwendigkeit einer Sozialraumorientierung, des Spracherwerbs sowie einer Berufswahlorientierung), in den Blick genommen. Problemlagen also, die prinzipiell für alle Schülerinnen und Schüler relevant sind. Bei der Suche nach curricularen Alternativen fokussiere ich nicht auf die verbreiteten Defizitzuschreibungen in Bezug auf Benachteiligte, sondern argumentiere gesellschaftstheoretisch von Transformationsprozessen aus: Berücksichtigt man in der curricularen Arbeit beispielsweise die wissenschaftlich vielfach dokumentierte steigende Tendenz einer Ästhetisierung des Alltags – wie sie sich etwa nach Haug u.a. in der Warenästhetik (Haug 2009) zeigt? Auch nach Knieper und Müller (2004: 7), die davon ausgehen, dass »die heutige Politikvermittlung kaum mehr logozentriert, sondern primär ikonozentriert« stattfindet und damit die Bedeutung von visueller Kommunikation untermauern, stellt sich die Frage nach geeigneten Zugängen zu Heranwachsenden erneut: Erfüllen gängige (Schul-)Curricula den Anspruch der in diesem Fall ästhetischen Lebensweltorientierung überhaupt noch? 4 | Diesbezüglich weist der nationale Bildungsbericht »Bildung in Deutschland 2016« auf die »Qualitative Rückläufigkeit mit wenig struktureller Bewegung im Berufsbildungswesen in den letzten Jahren« hin und problematisiert, dass diese strukturelle Immobilität alles andere als selbstverständlich sei. »Insbesondere mit Blick auf den geringen Rückgang im Übergangssystem nach 2011 ist sie insofern erklärungsbedürftig, als sich in den letzten Jahren erhebliche für die Berufsbildung relevante Bewegungen im Bildungs- und Beschäftigungssystem vollzogen haben.« Laut Bericht hatte das Übergangssystem im Jahr 2011 281.662 Schülerinnen und Schüler als Neuzugänge, im Jahr 2015 lag deren Zahl bei 270.783 Schülerinnen und Schülern. (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016: 102)
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Unter Berücksichtigung der skizzierten Transformationsprozesse sind neue lebensweltlich orientierte Zugänge zu Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu suchen und im Rahmen der Lernfeldorientierung5 interdisziplinär umzusetzen. In diesem Kontext sieht die Forschergruppe des Projektes ein großes Potenzial für ästhetisch-sinnstiftende Curricula. Solche stellen eine Alternative zu gängigen Schulcurricula dar, ohne dabei Bildungsziele aufzugeben. Hierin zeigt sich meine spezifische Sicht auf Kulturelle Bildung: sie eben nicht aus der Verantwortlichkeit im Rahmen gesellschaftlicher Reproduktion zu entlassen. Mein Anliegen besteht darin, eine verstetigte Perspektive zu entwickeln und umzusetzen, um die Realisierung lebensweltlicher Bezüge in pädagogischen Settings mittels ästhetisch-sinnstiftender Zugänge an Berufskollegs dauerhaft über Einzelprojekte hinausgehend zu gewährleisten. Dabei gilt es, Kulturelle Bildung dahingehend auszuloten, ob sie mit ihren spezifischen Weltzugangsweisen (u.a. Fuchs 2014: 218) eine Vermittlung ermöglichen kann, die gesellschaftliche Teilnahme sichert. Diesen Zusammenhang zeige ich im Folgenden exemplarisch an dem kunstpädagogischen Bezugsfeld und Einblicken in das Projekt.
M e thodisches S e t ting und kunstpädagogischer
B ezugsr ahmen
Im Forschungsprojekt wurden Primär- und Sekundärdatenanalysen entsprechend der empirischen (Berufs-)Bildungsforschung miteinander verzahnt. Konkret ist das Projekt der ethnografischen Feldforschung zuzuordnen, in dem das aus dem kunstpädagogischen Bezugsrahmen entlehnte Mapping als ästhetisch-sinnstiftender Zugang und curriculares Projekt gleichermaßen fungierte (vgl. Buchmann/Gimbel 2015: 75). Unsere Forschergruppe ging von der begründeten Annahme aus, dass alternative Curricula nicht am »grünen Tisch« konstruiert werden können, sondern im Feld gemeinsam mit der Zielgruppe zu entwickeln sind (vgl. Buchmann/Huisinga 2012). Anregungen dazu wurden im Projekt dem kunstpädagogischen Bezugsrahmen entlehnt, in welchem es Konzepte gibt, denen eine ästhetisch-forschende Perspektive im Rahmen eines Feldzugangs (Lebensweltzugang) gemeinsam ist (vgl. Heil 2012: 27f.), wobei jeweils Unterschiedliches fokussiert werden kann, etwa Räume oder Dinge: Ästhetische Forschung (vgl. Kämpf-Jansen 2001, Blohm 1997), Künstlerische Feldforschung (vgl. Brenne
5 | Fächerübergreifendes curriculares Prinzip mit konkretem Handlungsfeldbezug an beruflichen Schulen, das 1996 durch die KMK implementiert wurde.
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2004), Mapping und Kartierung (vgl. Busse 2007, Heil 2007), womit einige der betreffenden Konzepte genannt sind. Nach Heil (2012: 28) handelt es sich dabei auch um Konzepte, die mit dem Ansatz des forschenden Lernens verwandt sind. Sie können gleichsam als eine kunstpädagogische Fortführung des Ansatzes der Spurensicherung gesehen werden. Der Begriff Spurensicherung wurde 1974 von Metken (1996: 9) anlässlich einer Ausstellung im Hamburger Kunstverein entwickelt. Er bezeichnet künstlerische Verfahrensweisen, die sich auf scheinbar forschende Weise mit anthropologischen Fragen auseinandersetzen und dafür verschiedene Wissenschafts- und Alltagspraxen modifizieren (vgl. Metken 1977: 11ff.). Nach Metken (vgl. ebd.: 21ff.) kann dabei u.a. eine intensive Auseinandersetzung mit den möglichen Erinnerungen an die vermeintlich eigene Kindheit stattfinden, wie etwa in den frühen Arbeiten von Christian Boltanski. In solchen Ausformungen des erweiterten Kunstbegriffs werden ethnografische Forschungsmethoden gleichsam künstlerisch uminterpretiert. Unter Bezugnahme auf Heil (2012: 9f.) sind diese Ethnografien Beschreibungen »kleiner Lebenswelten«, die über ästhetisch-forschende Auseinandersetzungen mit der jeweiligen Lebenswelt erfolgen können, um Erfahrungen zu ordnen und zu systematisieren. So würden fremde oder eigene Kulturen mitsamt ihrer kulturellen und sozialen Praktiken erforscht. Auch in der ästhetisch vollzogenen ethnografischen Feldforschung sei der Zugang zum Feld nicht offensichtlich, sondern entstehe erst im Forschungsprozess.
Partizipative F orschung mit ästhe tischen Z ugängen Am 09. Dezember 2014 wurde vom Schulministerium in NRW durch Zustimmung des Schulausschusses im Düsseldorfer Landtag die veränderte »Verordnung über die Ausbildung und Prüfung in den Bildungsgängen des Berufskollegs« (Ministerium für Schule und Weiterbildung in Nordrhein-Westfalen 2015) erlassen, die am 01. August 2015 in Kraft trat. Vor allem die Neuerungen in Anlage A, § 22 Absatz 3 waren für das Projekt von besonderer Bedeutung, heißt es doch darin: »Für berufsschulpflichtige Jugendliche mit Zuwanderungsgeschichte, die erstmals eine deutsche Schule besuchen und nicht über die erforderlichen Sprachkenntnisse für die erfolgreiche Teilnahme am Unterricht in der Regelklasse verfügen, werden bei Bedarf mit Zustimmung der oberen Schulaufsichtsbehörde Internationale Förderklassen im Rahmen der Ausbildungsvorbereitung eingerichtet. Eine Aufnahme ist auch möglich, sofern die Jugendlichen die Sekundarstufe 1 nur kurz besucht haben und eine Teilnahme in einer Regelklasse des Berufskollegs auf Grund der mangelnden Sprachkenntnisse nicht möglich ist.« (Ebd.: 13)
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Daraufhin wurde am Berufskolleg des Kreises Olpe eine erste Internationale Förderklasse mit zunächst 21 Schülerinnen und Schülern eingerichtet, der weitere folgten. Die Forschergruppe hat gemeinsam mit der ersten Internationalen Förderklasse einen ästhetisch-forschenden Lebensweltzugang über ein Mapping realisiert, um ein potenzialgenerierendes Curriculum entwickeln und erproben zu können. Es gibt begründete Hinweise dazu, dass Mapping in besonderer Weise eine Beschäftigung mit den Fragen einer vernetzten Bildung im Sozialraum erlaubt. In Anlehnung an Frank (2013: 189) ermöglichen Konzepte, denen eine ästhetisch-forschende Perspektive gemeinsam ist, dass sich Heranwachsende mit Identitätskonstruktionen befassen und eigene Entwürfe erproben können. Die jeweils eigenen Entwürfe lassen sich wiederum mit Fremdsichten kontrastieren. Mit Mapping bezeichnet Pazzini (2008: 528) das Anfertigen von ästhetischen Karten, von Orientierungen, wozu auch das Sammeln von Informationen, von Dingen und Ähnlichem gehöre. Laut Preuss (2008: 35f.) ist das Suchen und Auffinden von Heterotopien im Foucault’schen Sinne ein wesentlicher Bestandteil des Mapping-Prozesses. Dies impliziert, »dass Vorannahmen und Einstellungen zu bzw. in Räumen kritisch hinterfragt werden müssen« (Hofmann 2015: 149). Mapping erlaubt die Nutzung unterschiedlicher Darstellungsverfahren, um vorhandene Erfahrungen sichtbar zu machen, welche ihrerseits dazu anregen, sich bewusst auf neue Erfahrungen einzulassen und diesen eine eigene Form zu geben (vgl. Preuss 2008: 15ff.). Somit werden »Erfahrungen niedergelegt und Anregungen zum Niederlegen von Erfahrungen gegeben«, womit Mapping auch etwas Nachträgliches hat (Pazzini 2008: 527). Besonders nichtsprachliches Wissen spielt beim Anfertigen der ästhetischsinnstiftenden Mappen und Karten eine Rolle, wenngleich diese auch Sprachanlässe und somit einen Zugang zum Spracherwerb ermöglichen können, wie im Projekt gezeigt werden konnte (siehe Buchmann et al. 2016). So entstanden im Rahmen des Mapping-Prozesses 6, der u.a. für die Zielgruppe geeignete Sprachanlässe aufzeigte, auch Wort-Bild-Karten, die wiederum für die jungen Menschen mit Fluchterfahrungen Sprachanlässe boten, die sie sowohl analog in Kartenform als auch in digitaler Form über ein Sprachlernprogramm für Smartphones zum gezielten Spracherwerb nutzten. So erlaubte das Mapping durch die im Prozess entstandenen Bilder und anderen Medien Rückschlüsse auf für die Zielgruppe relevante Repräsentationen des Sozialraums und der Lebenswelten. Diese Repräsentationen sind die
6 | Ästhetische Produkte des Projektes sowie das spezifische wissenschaftlich-interdisziplinäre Setting wurden gemeinsam mit den jungen Menschen mit Fluchterfahrungen in der Ausstellung Bildwelten|Was haben SchülerInnen einer Internationalen Förderklasse mit »Lieben im Krieg« gemeinsam?(Juli 2016) gezeigt und thematisiert.
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Grundlage für die Entwicklung von innovativen curricularen Zugängen, die Sinnstiftung ermöglichen. Insofern wurde das dem kunstdidaktischen Kontext entlehnte Mapping von der Forschergruppe in doppelter Hinsicht transferiert, erprobt und ausgewertet (vgl. Buchmann/Gimbel 2015: 75): Mapping als transdisziplinäre Erkenntnisstrategie während des Feldzugangs in Form eines lebensweltbezogenen, ästhetischen Zugangs zur Zielgruppe. Mapping als Gegenstand eines neuen ästhetisch-sinnstiftenden Curriculumfeldes, das zu einer sinnstiftenden Subjekt-Objekt-Vermittlung beitragen kann. Insgesamt geht es also darum, zur »Lösung« drängender gesellschaftlicher Fragestellungen aus einem subjektwissenschaftlichen Erkenntnisinteresse heraus disziplinäre Grenzen zugunsten einer neuen Wissensarchitektur zu überwinden (vgl. Buchmann/Kell 2013: 214). Dabei ist intendiert, angemessene Repräsentationen zu finden, die den Schülerinnen und Schülern gerecht werden. In Anlehnung an das Projektprinzip bei Dewey (1935) wird das Lernen dabei an realen gesellschaftlichen Gegenständen entwickelt, die dann selbst gesellschaftliche Relevanz erhalten. Derartige Erkenntnisse für die Curriculumkonstruktion können, wie im Projekt gezeigt wurde, durch ästhetische Zugänge zur Lebenswelt der Zielgruppe generiert werden, um Spracherwerb, Sozialraumorientierung und Berufswahlorientierung anzuregen. Das Verfahren geht über den funktionalen Erwerb von Kulturfertigkeiten hinaus, entspricht vielmehr dem Prinzip einer Kultur, Politik und Ökonomie einschließenden (Grund)Bildung. Diese Verschränkung ist zum einen aufgrund von zeitlichen Gründen notwendig, da die jungen Menschen mit Fluchterfahrungen aufgrund einer dies betreffenden rechtlichen Vorgabe lediglich bis zum Ende der Teilzeit-Berufsschulpflicht – in der Regel maximal zwei Jahre – an den Berufskollegs verweilen dürfen. Zum anderen ermöglicht die Verschränkung (unabhängig von zeitlichen Gründen) im Kontext eines wie im Projekt zu realisierenden Spracherwerbs erst eine Subjektentwicklung, die über den Erwerb von funktionalen Kulturfertigkeiten hinausgeht.
(B erufs)B ildungswissenschaf tliche H er ausforderungen als A usblick Es geht aus berufsbildungswissenschaftlicher Sicht also darum, Konzepte wie das skizzierte Mapping nicht etwa als Methode, sondern als curriculares Prinzip im Umgang mit Jugendlichen fruchtbar zu machen. In Bezug auf die theoretischen Bezüge ist davon auszugehen, dass über Kulturpädagogik bzw. über kulturelle Bildung sehr unterschiedlich und eben-
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falls häufig ohne Berücksichtigung politischer, wissenschaftlicher oder handlungspraktischer Implikationen und dies auch noch differenziert nach Sparten verhandelt wird (vgl. Fuchs 2014: 210). Zur Großfamilie der kulturellen Bildung gehören auch künstlerische und ästhetische Bildung, auf die »Sinne« bezogene Bildung (vgl. ebd.: 212) und weiter: »Eine Spezialisierung kann dadurch geschehen, dass sich bestimmte pädagogische Teildisziplinen auf bestimmte Weltzugangsweisen konzentrieren, die Kulturpädagogik also etwa auf die Künste, wobei die Plessnersche Erkenntnis der Bedeutsamkeit des Leibes und seiner Sinne eine zentrale Rolle spielt.« (Ebd.: 218) Die vorliegende Perspektive (siehe auch: Buchmann 2013; Buchmann/Gimbel 2015) unternimmt den Versuch, das Verständnis der Kulturellen Bildung als pädagogische Teildisziplin zugunsten einer neuen Rationalität zu überwinden. Somit wird bei der Erarbeitung des theoretischen (berufs)bildungswissenschaftlichen Verfügungswissens, insbesondere »die vergessene Dimension des Ästhetischen« (Mollenhauer 1990: 3) in Bildungsprozessen berücksichtig. Damit kann »Bildung im Rahmen einer realen Utopie inklusiver Wissensarchitekturen« ermöglicht werden (Buchmann/Gimbel 2015: 73). In Anlehnung an Fuchs (2014: 218) bedeutet Bildung dann »nichts Anderes als die konkrete Umsetzung einer anthropologischen Mitgift«, womit jede Pädagogik zur Kulturpädagogik wird. Diese gegebenenfalls provozierend wirkende Behauptung am Ende meines Beitrags pointiert wichtige (berufs)bildungswissenschaftliche Herausforderungen, die zu bearbeiten sind, verfolgt man die hier ausgeführte Erkenntnisperspektive weiter.
L iter atur Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hg.) (2016): Bildung in Deutschland 2016 – Ein indikatorgestützter Bericht mit der Analyse zu Bildung und Migration, Bielefeld. Blohm, Manfred (1997): »Die documenta X als Feld für ästhetische Forschungsprojekte von Schülerinnen und Schülern«, in: BDK-Mitteilungen Heft 3, S. 24-28. Brenne, Andreas (2004): Ressource Kunst – Künstlerische Feldforschung in der Primarstufe – Qualitative Erforschung eines kunstpädagogischen Modells, Münster. Buchmann, Ulrike (2006): »Benachteiligte Jugendliche = Dropouts? Eine berufs- und wirtschaftspädagogische Erkundung der Perspektiven von einem Fünftel der nachwachsenden Generation«, in: Siegen:Sozial, H 2, S. 56-65. Buchmann, Ulrike (2007): Subjektbildung und Qualifikation. Ein Beitrag zur Entwicklung berufsbildungswissenschaftlicher Qualifikationsforschung, Frankfurt a.M.
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Buchmann, Ulrike (2013): »Vom Tagging zur Domäne. Neue curriculare Wege zur Alphabetisierung und Grundbildung Jugendlicher«, in: Vierteljahresschrift für Heilpädagogik und ihre Nachbargebiete (VHN) 4, 82. Jg., S. 294-310. Buchmann, Ulrike/Bylinski, Ursula (2013): »Ausbildung und Professionalisierung von Fachkräften für eine inklusive Bildung«, in: Hans Döbert/Horst Weishaupt (Hg.), Inklusive Bildung professionell gestalten. Situationsanalyse und Handlungsempfehlungen, Münster, S. 147-202. Buchmann, Ulrike/Diezemann, Eckart (2014): »Inklusives Übergangssystem: Wie sie werden, was sei sein könnten. Erkenntnistheoretische Bestimmung und empirische Grundlagen von Bildungsprojekten in Übergängen beruflicher Bildung«, in: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik (ZBW), Bd. 110, H 2, S. 257-273. Buchmann, Ulrike/Gimbel, Katharina (2015): »Zur Dramatik der kulturellen Bildung – als sprachliche Tautologie zugleich wissenschaftliche Referenz für Curricula mit Inklusionsanspruch«, in: Siegen:Sozial, Heft 1, S. 68-79. Buchmann, Ulrike/Huisinga, Richard (2012): Verbundvorhaben »Didaktische Parallelität und Lernortflexibilisierung« (DiPaL) – Mediale Umsetzung des Konzeptes Lernen durch Lehren. Teilvorhaben Evaluation. Abschlussbericht/Förderkennzeichen 01 PF 070 23E, PT-DLR, Bonn/Berlin. Buchmann, Ulrike/Kell, Adolf (2013): »Bildung, Architektur, Künste ein auf(zu)klärender Zusammenhang – oder das Bauhaus als Curriculum?«, in: Ulrike Buchmann/Eckart Diezemann (Hg.), Subjektentwicklung und Sozialraumgestaltung als Entwicklungsaufgabe: Szenarien einer transdisziplinären Realutopie, Frankfurt a.M., S. 201-216. Buchmann, Ulrike/Gimbel, Katharina/Marr, Stefanie (2016): Abschlussbericht – Jugend inklusiv im Kreis Olpe – Entwicklung und Erprobung eines potenzialgenerierenden Curriculums für Kriegsflüchtlinge und Asylbewerber am Berufskolleg des Kreises Olpe. (unveröffentl. Manuskript, Universität Siegen). Busse, Klaus-Peter (2007): Vom Bild zum Ort: Mapping lernen. (=Dortmunder Schriften zur Kunst: Studien zur Kunstdidaktik, Bd. 3), Norderstedt. Dewey, John/Kilpatrick, William H. (1935): »Der Projektplan: Grundlegungen und Praxis«, in: Pädagogik des Auslands, Bd. 6, Weimar. Frank, Hanne (2013): »Kindheitsdinge als Herausforderung – Ästhetische Antwortsuche auf eine Leerstelle«, in: Karl-Josef Pazzini/Andrea Sabisch/ Daniel Tyradellis (Hg.), Das Unverfügbare – Wunder, Wissen, Bildung, Zürich-Berlin, S. 189-197. Fuchs, Max (2014): Subjektivität heute – Transformationen der Gesellschaft und des Subjekts, München. Haug, Wolfgang F. (2009): Kritik der Warenästhetik: Gefolgt von Warenästhetik im High-Tech-Kapitalismus, Berlin.
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Autoreninformationen
Althans, Birgit: Prof. Dr.; Leuphana Universität Lüneburg, Fakultät Bildung, Institut für Bildungswissenschaft; Arbeitsschwerpunkte: Historische und Pädagogische Anthropologie, Gender-Theorien, Performativität und kulturelle Bildung. Bergem, Wolfgang: apl. Prof. Dr.; Universität Siegen, Philosophische Fakultät, Seminar für Sozialwissenschaften; Arbeitsschwerpunkte: Politische Kulturforschung, Politisches System der Bundesrepublik Deutschland und Vergleichende Politikwissenschaft. Bilstein, Johannes: Prof. Dr.; Kunstakademie Düsseldorf; Arbeitsschwerpunkte: Bildungstheorien, Pädagogische Anthropologie, ästhetische Bildung. Blichmann, Annika: Dr.; Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Bildung und Kultur, Lehrstuhl für Historische Pädagogik und Globale Bildung; Arbeitsschwerpunkte: Globales Lernen, Reformpädagogik, Interkulturelle Bildung. Brill, Swaantje: wiss. Mitarbeiterin; Universität Siegen, Fakultät Bildung, Architektur, Künste; Department Erziehungswissenschaft & Psychologie; Arbeitsschwerpunkte: Interkulturelles Lernen im Sachunterricht, Außerschulische Lernorte im Sachunterricht. Ciupka, Anja: AOR wiss. Mitarbeiterin; Universität Siegen, Fakultät Bildung, Architektur, Künste, Department Kunst & Musik; Arbeitsschwerpunkte: Künstlerischer Schwerpunkt: Installation, Skulptur, Zeichnung; Forschungsschwerpunkt: Vermittlung zeitgenössischer Kunst vorm Original. Daryan, Nika: Dr.; Leuphana Universität Lüneburg, Fakultät Bildung, Institut für Bildungswissenschaft; Arbeitsschwerpunkte: Historische und Pädagogische Anthropologie, Mediologie und Nachhaltigkeit.
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Eckes, Magdalena: Dr.; Universität Siegen, Fakultät Bildung, Architektur, Künste, Department Kunst und Musik; Arbeitsschwerpunkte: Alte und neue (Kultur-)Techniken im Kunstunterricht, Individualisierung im Kunstunterricht und Konstruktivismus in der Kunstpädagogik. Engelmann, Sebastian: M.A.; Friedrich-Schiller-Universität Jena, Institut für Bildung und Kultur, Lehrstuhl Historische Pädagogik und Globale Bildung; Arbeitsschwerpunkte: Globales Lernen, Reformpädagogik und Sozialistische Pädagogik. Freieck, Lisa: M.A.; Technische Universität Darmstadt, Institut für Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik; Arbeitsschwerpunkte: Rassismuskritische und migrationsgesellschaftliche Pädagogik, Diskriminierungskritische Menschenrechtsbildung und Social Justice, Kulturelle Bildung im Kontext postkolonialer und postnationalsozialistischer Erinnerungsarbeit. Gimbel, Katharina: wiss. Mitarbeiterin; Universität Siegen, Arbeitsbereiche Berufs- und Wirtschaftspädagogik und Bildende Kunst und ihre Didaktik; Arbeitsschwerpunkte: (Berufs-)Bildungswissenschaftliche Curriculumforschung, Ästhetische (Berufs-)Bildung, Benachteiligtenforschung. Günther, Stephanie: M.A.; Universität Potsdam, Professur für Erwachsenenbildung/Weiterbildung und Medienpädagogik; Arbeitsschwerpunkte: subjektwissenschaftliche Lerntheorie, pädagogische Lernforschung, pädagogisches Handeln. Hammon, Andreas: Dipl.-Ing. Architekt, Pädagoge, Master of School Development; Büro: Architektur & Entwicklungsräume, Verbund: PULS – Raum und Lernen entwickeln, Schweizer Netzwerk Bildung & Architektur; Arbeitsschwerpunkte: kooperative SchulRAUMentwicklung, Aus- und Weiterbildung am Schnittpunkt von Lernen und Raum, F&E zu räumlichen Lernsettings. Heiligtag, Nathalie: Dipl. Päd.; Goethe-Universität Frankfurt, Fachbereich Erziehungswissenschaften, Institut für Pädagogik der Sekundarstufe; Arbeitsschwerpunkte: Professionsforschung und Lehrer*innenbildung, Qualitative Bildungs- und Biographieforschung, Bildungstheorie. Hellinger, Alf: Dr.; Universität Duisburg-Essen, Fakultät für Bildungswissenschaften; Arbeitsschwerpunkte: Kritische Bildungs-/Erziehungstheorie, Pädagogische Elementarprozesse und Disziplinäre Identität.
Autoreninformationen
Hoffmann, Katja: Dr. phil.; Universität Siegen, Fach: Bildende Kunst und ihre Didaktik; Arbeitsschwerpunkte: Kunstvermittlung als Repräsentationskritik, kunstpädagogische Zugänge zu Foto-, Film- und Videokunst des 20./21. Jahrhunderts, Remix und Montage in kunstpädagogischen Bildungsprozessen. Kasatschenko, Tatjana: M.A.; Technische Universität Darmstadt, Institut für Allgemeine Pädagogik und Berufspädagogik; Arbeitsschwerpunkte: Rassismuskritische Bildung und Migration, Postkoloniale Theorie und Gender Studies. Kindermann, Katharina: wiss. Mitarbeiterin; Universität Siegen, Philosophische Fakultät, Seminar für Katholische Theologie, Religionspädagogik; Arbeitsschwerpunkte: Außerschulische Lernorte, Kirchenraumpädagogik und Subjektive Theorien von Lehrkräften. Kosica, Simone: Universität Koblenz-Landau, Campus Koblenz, Fachbereich 1: Bildungswissenschaften, Institut für Grundschulpädagogik; Arbeitsschwerpunkte: pädagogische Raumforschung aus anthropologischer und phänomenologischer Perspektive, nationale und internationale Schulbauforschung, Ästhetik und Bildung. Krenz-Dewe, Daniel: Dipl.-Soziologe und Dipl.-Pädagoge; Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, Doktorand am Center for Migration, Education and Cultural Studies und am Institut für Pädagogik; Arbeitsschwerpunkte: Subjekttheorien, Cultural Studies, Migrationspädagogik. Lipkina, Julia: Dr.; Universität Siegen, Fakultät Bildung, Architektur, Künste, Department Erziehungswissenschaft & Psychologie; Arbeitsschwerpunkte: Bildungstheorie, Identitätstheorie & Biografieforschung. May-Krämer, Susanna: Dipl.Päd.; Julius-Maximilians-Universität Würzburg; Arbeitsschwerpunkte: Philosophieren mit Kindern. Mützlitz, Sigrun: Diplom-Sozialwissenschaftlerin, Lehrerin; Roman-HerzogSchule Brilon, Förderschule für emotionale und soziale Entwicklung, Bildungstheorie und Schulentwicklung. Nielsen-Sikora, Jürgen: PD Dr.; Universität Siegen, Fakultät Bildung, Architektur, Künste, Department Erziehungswissenschaft & Psychologie; Arbeitsschwerpunkte: Bildungsphilosophie, Praktische Philosophie/Ethik, Anthropologie.
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Kulturelle Bildung – Bildende Kultur
Nießeler, Andreas: Prof. Dr.; Universität Würzburg, Institut für Pädagogik; Arbeitsschwerpunkte: Grundschulpädagogik und Theorie des Sachunterrichts, Kulturelles Lernen, Philosophieren mit Kindern. Rappe, Michael: Prof. Dr.; Hochschule für Musik und Tanz; Arbeitsschwerpunkte: Afrodiasporische Musik, Hip Hop-Kultur, Bildungsprozesse in Popkulturen. Reiterer, Stephanie: M.A. Dipl.-Ing.; Universität Regensburg, Institut für Kunsterziehung, Landesarbeitsgemeinschaft Architektur und Schule Bayern e.V.; Arbeitsschwerpunkte: Architekturvermittlung, Architekturdidaktik, Baukulturelle Bildung. Retzar, Michael: Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Erziehungswissenschaften, Institut für Schulpädagogik; Arbeitsschwerpunkte: Kulturelle Schulentwicklung, Partizipative Praktiken an demokratischen Schulen, Schulentwicklung im ländlichen Raum. Riegel, Ulrich: Prof. Dr.; Universität Siegen, Philosophische Fakultät, Seminar für Katholische Theologie; Arbeitsschwerpunkte: außerschulisches religiöses Lernen, individuelle Religiosität Jugendlicher. Sanders, Olaf: Prof. Dr.; Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg, Fakultät für Geistes und Sozialwissenschaften; Arbeitsschwerpunkte: Theorie und Philosophie der Bildung und populärer Kultur, insbesondere des Films und von Fernsehserien. Siebert-Ott, Gesa: Prof. Dr.; Universität Siegen, Philosophische Fakultät, Germanistisches Seminar; Arbeitsschwerpunkte: Didaktik der deutschen Sprache, Deutsch als zweite Sprache und gesellschaftliche Mehrsprachigkeit, Content and Language Integrated Learning – die Verbindung von fachlichem und sprachlichem Lernen. Schluß, Henning: Prof. Dr.; Universität Wien, Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft, Institut für Bildungswissenschaft; Arbeitsschwerpunkte: Systematische Pädagogik und empirische Bildungsforschung. Schluß, Verena: Cellistin und Leiterin Musikschule »Klang-Farbe-Orange« Oranienburg; Arbeitsschwerpunkte: Violoncello, Orchesterleitung, Musikschulleitung.
Autoreninformationen
Schmohl, Tobias: Dr.; Universität Hamburg, Hamburger Zentrum für Universitäres Lehren und Lernen (HUL); Arbeitsschwerpunkte: Bildungsphilosophie, Rhetorik und Bildung, wissenschaftstheoretische, kulturelle und mediale Aspekte der Bildung. Schütte, André: Dr. phil.; Universität Siegen, Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik; Arbeitsschwerpunkte: Bildungsphilosophie, Ästhetische/Kulturelle Bildung, pädagogische Anthropologie. Schröteler-von Brandt, Hildegard: Prof. Dr.-Ing./Stadtplanerin; Universität Siegen, Fakultät Bildung, Architektur, Künste, Department Architektur; Arbeitsschwerpunkte: Stadtplanung und Planungsgeschichte. Specht, Inga: Dr. phil.; Deutsches Institut für Erwachsenenbildung – Leibniz-Zentrum für Lebenslanges Lernen e.V.; Arbeitsschwerpunkte: Kulturelle Erwachsenenbildung, Bildung und Vermittlung in Museen, Programmforschung. Stöger, Christine: Prof. Dr.; Hochschule für Musik und Tanz Köln; Arbeitsschwerpunkte: Musiklehrerbildung, kulturwissenschaftlich orientierte Musikpädagogik, informelle Musiklernwelten. Thompson, Christiane: Prof. Dr.; Goethe-Universität Frankfurt a.M., Fachbereich Erziehungswissenschaften, Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Bildung und Erziehung, Bildungstheorie und Bildungsforschung, pädagogische Prozesse an der Schnittstelle von Kultur, Macht und Sprache. Unterhuber, David: MA; Universität Wien, Fakultät Philosophie und Bildungswissenschaft, Institut für Bildungswissenschaft; Arbeitsschwerpunkte: Verhältnisse von Bildungstheorie und -empirie, Subjektivierung, Körper- und Leibtheorien. Wagner, Bernd: Prof. Dr.; Universität Leipzig, Erziehungswissenschaftliche Fakultät, Arbeitsbereich Sachunterricht – Sozialwissenschaften; Arbeitsschwerpunkte: Interkulturelles Lernen im Sachunterricht, Politisch-historisches Lernen im Sachunterricht, Sammlungsobjekte im Sachunterricht und Frühe Sachbildung. Weiß, Gabriele: Prof. Dr.; Universität Siegen, Fakultät Bildung, Architektur, Künste, Department Erziehungswissenschaft & Psychologie; Arbeitsschwerpunkte: Ästhetische Bildung, Bildungsphilosophie und Kulturwissenschaftliche Pädagogik.
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Kulturelle Bildung – Bildende Kultur
Zeising, Andreas: Dr.; Universität Siegen, Fakultät Bildung, Architektur, Künste, Department Kunst & Musik; Arbeitsschwerpunkte: Geschichte der bildenden Kunst und Kunstvermittlung. Zirfas, Jörg: Prof. Dr.; Universität zu Köln, Humanwissenschaftliche Fakultät, Institut für Anthropologie, Bildungsphilosophie und Pädagogik der Lebensspanne; Arbeitsschwerpunkte: Historische und Pädagogische Anthropologie, Bildungsphilosophie und Psychoanalyse, Pädagogische Ethnographie und Kulturpädagogik.
Kulturmanagement Birgit Mandel (Hg.) Teilhabeorientierte Kulturvermittlung Diskurse und Konzepte für eine Neuausrichtung des öffentlich geförderten Kulturlebens September 2016, 288 S., kart., 27,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3561-4 E-Book: 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3561-8
Oliver Scheytt, Simone Raskob, Gabriele Willems (Hg.) Die Kulturimmobilie Planen – Bauen – Betreiben. Beispiele und Erfolgskonzepte Mai 2016, 384 S., kart., zahlr. farb. Abb., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2981-1 E-Book: 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2981-5
Maren Ziese, Caroline Gritschke (Hg.) Geflüchtete und Kulturelle Bildung Formate und Konzepte für ein neues Praxisfeld September 2016, 440 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3453-2 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3453-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kulturmanagement Björn Lampe, Kathleen Ziemann, Angela Ullrich (Hg.) Praxishandbuch Online-Fundraising Wie man im Internet und mit Social Media erfolgreich Spenden sammelt 2015, 188 S., kart., farb. Abb., 9,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3310-8 als Open-Access-Publikation kostenlos erhältlich E-Book: ISBN 978-3-8394-3310-2 EPUB: ISBN 978-3-8394-3310-2
Andrea Hausmann (Hg.) Handbuch Kunstmarkt Akteure, Management und Vermittlung 2014, 480 S., kart., zahlr. Abb., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2297-3 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2297-7 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2297-7
Steffen Höhne, Martin Tröndle (Hg.) Zeitschrift für Kulturmanagement: Kunst, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft Jg. 2, Heft 2 Oktober 2016, 190 S., kart., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3568-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3568-7
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