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German Pages 288 [289] Year 2015
Eckart Liebau, Jörg Zirfas (Hg.) Schönheit
Ästhetik und Bildung I Hg. von Eckart Liebau und Jörg Zirfas I Band r
Editorial Die Reihe »Ästhetik und Bildung« will die historischen, theoretischen, empirischen und methodischen Grundlagen, die institutionellen Rahmenbedingungen sowie die unterschiedlichen Praktiken im Bereich von Ästhetik und Bildung darstellen und diskutieren. Vor diesem Hintergrund werden die Möglichkeiten ästhetischer Bildung als spezifische Modi der Weltwahrnehmung, des Umgangs mit Anderen und der Persönlichkeitsentwicklung in den Mittelpunkt gerückt. Ein besonderes Interesse gilt dabei den ästhetischen Dimensionen der Körperlichkeit, der Sinnlichkeit, des Geschmacks, der Bildlichkeit und des Performativen sowie den Prozessen ästhetischer Wahrnehmung, Gestaltung und ästhetischen Urteilens; darüber hinaus werden Fragen der Kulturpolitik, der sozialen Bedeutung ästhetischer Haltungen und Praxen sowie der praktischen Bedeutung ästhetischer Bildung in unterschiedlichen Institutionen untersucht. Die Reihe wird im Auftrag des Interdisziplinären Zentrums Ästhetische Bildung der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg von Eckart Liebau und Jörg Zirfas herausgegeben.
EcKART LrEBAU, JöRG ZrRFAS (HG.)
Schönheit Traum - Kunst - Bildung
[transcript]
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© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfaltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Jörg Zirfas Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-83r-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http:jjwww.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: info@ transcript-verlag.de
Inhalt
Ästhetik Eckart Liebau & Jörg Zirfas Ästhetische Bildung und Schönheit. Ein Vorwort........................
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Hans Dicke/ Jan Vermeer: Junge Dame mit Perlenhalsband (1662). Ein Kommentar.................................................................................. 13 Martin Seel Das Glück der Form. Über eine Dimension ästhetischer Bildung................................... 17
Traum Henri Schoenmakers & Andre Studt Theater in der Schule. Der Traum von der Bildung zur Schönheit oder die Schönheit der Bildung als Traum.......... 35 Peter Bubmann & Georg Langenhorst "Und ist doch rund und schön". Gottes(t)raum und Lebenskunst..................................................... 61
Kunst Michael von Engelhardt Identität und Ästhetik...................................................................... 85 Marion Maria Ruisinger Schön oder hässlich? Die Ambivalenz medizinischer Museumsdinge .......................... 119
Hans Dickel "Zu schön, um wahr zu sein?" Die Landschaften des Malers Gerhard Richter............................ 149 Eckhard Roch Das Gute, das Schöne und das Angenehme. Ansätze zu einer Kritik des Schönen in der Musik. ..................... 161 Konrad Kiek Musizieren an der Universität. Ästhetische Bildung oder Freizeitvergnügen? .............................. 189
Bildung
Eckart Liebau Über Geschmack lässt sich (nicht) streiten. Perspektiven ästhetischer Bildung ................................................. 209 Claudia Kugelmann Sport- Gesundheit- Schönheit. Sportlerinnen und Sportler zwischen Identitätszwang und Subversion................... 223 Jörg Zirfas In Schönheit leben und sterben. Ästhetische Bildung der Lebenskunst... ......................................... 239 Peter Ackermann Bildung und Schönheit in Japan..................................................... 269
Autorenverzeichnis ...... .. .. .. .................. .. ... .... ...... .... ......... 287
Ästhetik
Eckart Liebau & Jörg Zirfas
Ästhetische Bildung und Schönheit Ein Vorwort
In Zeiten der Modernisierung und Ökonomisierung, der Effizienzsteigerung und Rationalisierung ein "Interdisziplinäres Zentrum Ästhetische Bildung" zu gründen, scheint mit dem bekannten Kampf gegen die Windmühlen vergleichbar zu sein. Denn der Begriff Ästhetik mit seiner Herkunft aus dem Griechischen aisthesis, Sinneswahrnehmung, der erst im 18. Jahrhundert auf Fragen des Schönen und des Geschmacks bezogen wurde, steht, trotz einiger Versuche ihn in die öffentlichen Debatten einzubringen, immer noch quer zum vorherrschenden, lediglich an rationaler, verstandesmäßiger Erkenntnis orientierten Diskurs. Und der Begriff der Bildung, der seine Wurzeln nicht nur in der griechischlateinischen Antike und dem Christentum, sondern auch im Mystizismus des Mittelalters und dem Neuhumanismus hat, scheint in jüngerer Zeit zugunsten eines nur noch wissenschaftsorientierten, funktionalistischen und produktorientierten Qualifikationsbegriff verabschiedet zu werden. Dieser einseitigen Fehlentwicklung wollen wir entgegenwirken. Denn es ist nach wie vor allem das Schöne und das Angenehme, woran Menschen sich in ihrem Lebensalltag orientieren. Mit der Ästhetischen Bildung stellt das Interdisziplinäre Zentrum der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg daher ganz bewusst eine Dimension menschlichen und sozialen Lebens in den Mittelpunkt, deren Bedeutung kaum überschätzt werden kann. Denn mit der gesellschaftlichen Modernisierung wachsen zugleich die Bedeutung der Ästhetischen Bildung im Blick auf die Allgemeinbildung im Sinne "allgemeiner Menschenbildung" (Humboldt) und der Entfaltung der Subjektivität der Person und ihre Bedeutung im Sinne allgemeiner beruflicher und politischer Qualifikationen ("Schlüsselqualifikationen"), also ökonomischer H andlungsfähigkeit und politischer Mündigkeit. In beiden Hinsichten, in bildungs- wie in qualifikationstheoretischer Hinsicht stellt die Ästhetische Bildung also ein zentrales Moment dar.
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ÄSTHETIK
Denn ästhetische Wahrnehmung, Erfahrung und Praxis stellen Weltzugänge eigener Art dar, die sich von naturwissenschaftlichtechnischen, hermeneutisch-geschichtlichen, strategischen und diskursiv-normativen Weltzugängen unterscheiden. Alle öffentlichen und privaten Handlungsfelder, sozialen Gruppen und soziokulturellen Milieus, die Erfahrung des Eigenen und Fremden, die Entwicklung und Darstellung von Identität, die Artikulation und kulturelle Ausgestaltung existentieller Lebenserfahrungen, der Lebensalltag und dessen Transzendenz sind auf grundlegende Weise durch ästhetische Prozesse mitbestimmt. Ästhetische Bildung umfasst in ihrer aktiven wie rezeptiven Komponente alle Formen der Bildung durch kulturelle Aktivitäten und Darstellungsformen, Kenntnisse von Kunst und Kultur, Ausdifferenzierung von Wahrnehmungsformen und Geschmacksbildungen, die Befähigung zu Bewegung, Spiel und Geselligkeit, zur ästhetischen Urteilskraft, zu Imagination und Kritik, die Erschließung von (neuen) Ausdrucksformen und Handlungsperspektiven und die Reflexion künstlerischer und kultureller Prozesse und Resultate. Die Unterscheidungen zwischen dem Schönen und dem Hässlichen, dem Angenehmen und dem Unangenehmen sind für alles Wahrnehmen und Handeln fundamental. Anthropologisch bilden sie die Grundlage aller späteren Unterscheidungen. Ästhetische Bildung ist ein zugleich aisthetischer, kognitiver, imaginativer, körperlich-leiblicher und performativer Prozess. Ästhetische Bildung ist Grundbildung. Ihre Erforschung und ihre Förderung kann nur interdisziplinär gelingen. Das Interdisziplinäre Zentrum Ästhetische Bildung will sich daher unter mehreren Perspektiven mit ästhetischen Bildungsprozessen beschäftigen: • Erstens geht es um eine interdisziplinäre Perspektive, die die für eine Theorie und Praxis der ästhetischen Bildung bedeutsamen Konvergenzen und Divergenzen unterschiedlicher Disziplinen anhand zentraler Komponenten herausarbeitet. Das Interesse an Performativität verbindet die Theater- und Medienwissenschaft mit der Sportwissenschaft, der Praktischen Theologie und der Pädagogik und den Didaktiken. Das Interesse an der Bedeutung von Ritualen ist der Soziologie, der Sportpädagogik, der Japanologie und der Kunstgeschichte gemeinsam. Der Bildbegriff bietet sich als Schnittstelle zwischen Praktischer 10
ECKART LIEBAU & JöRG ZIRFAS: ÄSTHETISCHE BILDUNG UND SCHÖNHEIT
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Theologie, Kunstgeschichte, Philosophie und Pädagogik an. Das Interesse am Körper bildet eine zentrale Schnittstelle der Geschichte der Medizin, der Sportwissenschaften, der Theaterund Medienwissenschaften und der Musikwissenschaft. Der Körper ist aber auch ein zentrales Thema in den Arbeits- und Technikwissenschaften, der Pädagogik, der Psychologie, der Biologie, der Medizin usw. Zweitens interessiert uns soziologisch und pädagogisch auf der Mikroebene die Entwicklung und Bildung subjektiver ästhetischer Haltungen und deren soziale Bedeutung. Auf der Mesoebene geht es um die Beziehungen zwischen Bildungs- und Kulturpolitik bzw. Bildungs- und Kulturmanagement und den Institutionen der praktischen ästhetischen Bildung. Auf der Makroebene steht die Bedeutung ästhetischer Praktiken und Haltungen für die Gesellschaft im Ganzen im Mittelpunkt. Und selbstverständlich muss es auch um die Zusammenhänge zwischen diesen Ebenen gehen. Drittens wollen wir einer pragmatischen Perspektive nachgehen, die die Beziehungen zwischen Theorie und Praxis in den Mittelpunkt rückt. Dabei handelt es sich um die Analyse der Beziehungen zwischen Ideologien, Zielen, Mitteln im Bereich der ästhetischen Bildung und ästhetischer Wahrnehmung, Erfahrung und Urteilsbildung. Viertens soll eine interkulturelle Perspektive Inter- und Transkulturalität sowohl zum Thema von ästhetischer Bildung machen als auch vergleichende Analysen der internationalen Diskussionen über die Rolle der ästhetischen Bildung in verschiedenen Bildungseinrichtungen vorsehen. In verschiedenen Ländern (z.B. Großbritannien, Niederlande, Skandinavische Staaten) finden bereits Experimente statt, die sich mit einer deutlichen Stärkung und zugleich offeneren Auffassungen von ästhetischer Bildung befassen. Alle diese analytischen Perspektiven zielen schließlich, fünftens, auf eine angewandte Perspektive. Ein zentrales Anliegen des Zentrums ist die Stärkung der ästhetischen Bildung in allen einschlägigen Praxisbereichen. Das Zentrum kann seinen Aufgaben daher nur in enger Verbindung mit der pädagogischen und der kulturellen Praxis gerecht werden.
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ÄSTHETIK
Das "Interdisziplinäre Zentrum Ästhetische Bildung" geht diesen Aufgaben u.a. durch regelmäßige Zusammenarbeit der Mitwirkenden in Forschung und Lehre, durch Tagungen, Kolloquien, Forschungsprojekte und auch durch Ringvorlesungen nach. Dieser Band eröffnet die Publikationsreihe des Zentrums "Ästhetik und Bildung". Er geht zurück auf die Universitätsringvorlesung "Schönheit" vom Sommersemester 2006, mit der das Zentrum sich erstmals an die universitäre und die allgemeine Öffentlichkeit gewandt hat. Im Mittelpunkt steht der Zusammenhang der Schönheit mit dem Traum, der Kunst und der Bildung. Schönheit braucht den Traum als Ort der Erscheinung und des Scheins des Schönen, als Glück verheißende Wunscherfüllung, die das Begehren entzündet. Der Traum der Schönheit birgt die Versprechen der Unvergänglichkeit und Unwiderstehlichkeit, aber auch den Alptraum des Schrecklichen, der nach Rilke der Anfang des Schönen ist. Schönheit braucht aber auch die Kunst als Ort der Sichtbarwerdung der Schönheit. Jahrhunderte lang galten Kriterien wie Einheitlichkeit, Symmetrie, Harmonie, "edle Einfalt, stille Größe" (Winkelmann) als konstitutive Momente einer schönen Kunst. In der Moderne dient die Kunst nicht mehr die Schönheit, sondern dem Spiel mit ihr. Und schließlich braucht die Schönheit auch Bildung- sei es als rezeptive Bildung der Wahrnehmung, Erfahrung und Interpretation von Schönheit als Kunst- oder Naturschönheit; sei es als produktive Bildung der Formung und Gestaltung des Schönen, nicht zuletzt des schönen Lebens. Die Erkenntnis und Praxis des Schönen ist ohne Geschmacksbildung nicht zu haben. Wir danken dem Rektor der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Karl-Dieter Grüske und dem Staatssekretär Herrn Karl Preller (Bayerisches Staatsministerium für Kultus und Unterricht) für die Unterstützung bei der Einrichtung und Eröffnung des Interdisziplinären Zentrums Ästhetische Bildung. Und wir danken Daniel Burghardt für seine Mitwirkung bei der Erstellung der Druckvorlage.
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Hans Dickel
Jan Vermeer: Junge Dame mit Perlenhalsband (1662) Ein Kommentar
Die Verbindung zwischen dem Thema "Schönheit" und dem Motiv der "Jungen Dame mit Perlenhalsband" in Jan Vermeers Gemälde von 1662 leuchtet unmittelbar ein. Und doch kann man beim zweiten Blick fragen: Ist die junge Dame selbst als Verkörpe13
ÄSTHETIK
rung der Schönheit gemeint oder ist sie für uns eine Reflexionsfigur, die der Frage nachsinnt, was die Schönheit sei? Da sie im Profil dargestellt ist, kann sie beides nur zur Hälfte sein. Unser Blick erreicht sie im Bild nur von der Seite und ihr Blick geht aus dem Bild zur Seite heraus - weil sie dort etwas sieht: die Schönheit und die Wahrheit. Vermeer zeigt uns eine kostbar gekleidete junge Dame, sie trägt eine Atlasjacke aus gelber Seide, die mit Kragen und Bordüre aus Hermelinfell verziert ist. Sie hat sich mit einem Perlenhalsband geschmückt und bindet sich offenbar ihre Jacke, auf oder zu. Vor ihr liegen auf einem Schminktisch Quaste und Puderdose. Sie schaut in einen Spiegel an der Wand, den wir nicht sehen können - und/ oder auf ein Fenster, durch das helles Licht in den Raum scheint. Als Betrachter des Bildes kreuzen wir ihren Blick, schauen auf eine leere Wand, die das Licht in fein gemalten N uancen von Gelb aufleuchten lässt. Die Reflektion des Sonnenlichts aus dem Fenster ist heller als das verschattete Abbild im Spiegel und der dunkle Schminktisch. Wer mag, kann darin eine religiöse Mitteilung lesen, die Aufforderung, an das Licht des Lebens zu denken und nicht in Eitelkeit den Glanz von Schönheit und Reichtum zu bewundern, die vergänglich sind. Ich betone, man kann es so sehen, man muss es nicht so sehen. Auch die Perle ist ein ambivalentes Zeichen, für Eitelkeit, aber auch für Keuschheit, sie kann Laster und Tugenden gleichermaßen anzeigen. Sie ist das Attribut der Heiligen Margaretha, der Patronin aller Schwangeren, so dass man unter der weit fallenden Hermelinjacke der jungen Dame ein gerundetes Bäuchlein vermuten darf. Die Qualität der Malerei Vermeers liegt nun gerade darin, dass er alle diese bedeutsamen Anspielungen kennt und im Bild aufruft, ohne jedoch eine belehrende Aussage zu fixieren, wie es die meisten Genremaler seiner Zeit tun. Im Gegenteil, wir schauen auf die leere Mitte seines Gemäldes, in der der Widerschein des Lichts zu sehen ist, ein Schimmern, das zuerst ein kunstvolles Virtuosenstück des Malers ist, bevor es eine religiöse Aussage vermittelt. Dabei durchkreuzt man die Blicke der jungen Dame, den in den Spiegel und den durch das Fenster, also denjenigen auf ihre sinnliche Schönheit und den auf das Licht des Lebens, welches durch die Glasscheibe gemildert in den Raum dringt. Spiegel und Fenster, vor allem solche mit Bleirahmen und Glasmalerei, waren Me14
HANS DICKEL: JAN VERMEER
taphern des Bildes, des Abbildes beziehungsweise des Sinnbildes, der bewusstlosen Abbildung beziehungsweise der bewussten sinnbildlichen Darstellung. Dieser Gegensatz zwischen dem naivem Abbild, das nur dem Sichtbaren gilt, und dem gedanklich reflektierten Bild, das dem Unsichtbaren gilt, begegnet in Vermeers Gemälde noch ein zweites Mal. Im Vordergrund bemerkt man perspektivische Verkürzungen am Stuhl und an der Draperie, die durch die Verwendung der camera obscura, einer Vorstufe des Fotoapparates, zu erklären sind. Auch die niedrige Augenhöhe des Malers, die die Figur monumentalisiert, ist darauf zurückzuführen. Darüber jedoch erhebt sich die kunstvolle Komposition Vermeers: Sie führt über das Sehen, das reflektierte Sehen zum denkenden Sehen und schließlich zum Denken selbst - sie verbindet Schönheit und Wahrheit. Die Verbindung von Schönheit und Wahrheit macht das Bild der jungen Dame mit dem Perlenhalsband für das "Interdisziplinäre Zentrum Ästhetische Bildung" so attraktiv: Es wird daher die Reihe "Ästhetik und Bildung" als Vignette begleiten.
Abbildung Jan Vermeer: Junge Dame mit Perlenhalsband. bpk/Gemäldegalerie, SMB/Jörg P. Anders.
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Martin Seel
Das Glück der Form Über eine Dimension ästhetischer Bildung
Von Bildung ist in diesen Tagen in der öffentlichen Diskussion ständig die Rede. Jedoch steht hierbei die ökonomische und soziale Bedeutung von Bildung im Vordergrund: die Verbesserung der Bildungsanstalten soll dem Standort Deutschland auf die Sprünge helfen und dem sozialen Frieden unter die Arme greifen. Das ist schön und gut, aber doch wohl nicht alles. Weil das nicht alles ist, stellt die Einrichtung eines Zentrums für ästhetische Bildung einen höchst begrüßenswerten Akt des Widerstands gegen einen verflachten Begriff der Bildung dar. Sie enthält das Plädoyer, um es mit Pascal zu sagen, auch und gerade in Sachen Bildung über dem esprit de geometrie den esprit de finesse nicht zu vergessen. Zwar ist dieser Sinn für die N uance, für das Individuelle und Besondere, für das begrifflich Undarsteilbare und Unverfügbare und also für das Unbestimmte im Bestimmten und das Bestimmte im Unbestimmten, nicht generell ein geradewegs ästhetischer Sinn, aber ohne einen wenigstens begleitenden ästhetischen Sinn ist er nahezu nichts. Darüber hinaus aber ist der ästhetische Sinn nicht allein eine Verzierung oder Ergänzung, ein Gleitmittel oder ein Verstärker von Verhältnissen und Fähigkeiten, die aus sich heraus einen guten gesellschaftlichen Nutzen haben; vielmehr eröffnet er denen, die über ihn verfügen, Möglichkeiten des Bewusstseins und Selbstbewusstseins eigener Art. Ästhetische Bildung, verstanden als Aufmerksamkeit für das individuelle Erscheinen der Welt innerhalb und außerhalb der Kunst, macht einen Umgang mit und ein Verhältnis zur Lebenszeit möglich, für den es schlechterdings keinen Ersatz gibt. Über diese existentielle Wurzel des Interesses an ästhetischer Bildung möchte ich hier etwas sagen. Dieses Interesse, so nehme ich an, ist wesentlich ein Interesse an Form - an Formen der Darstellung nicht weniger als an Formen beispielsweise der Natur, die jeder Darstellung spotten. Ein Bewusstsein für Form aber man denke nur an den esprit de geometrie - ist noch nicht als sol-
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ÄSTHETIK
ches ästhetisch. Daher lautet die Frage, die ich stellen möchte, worin einerseits das Bedürfnis nach ästhetischer Form und andererseits das ästhetische Bewusstsein von Form gründet. Hätten wir hierauf eine Antwort, so hätten wir zugleich eine Antwort darauf, was für eine Form wir unserm Leben geben, indem wir ästhetische Bildung erwerben - und was wir von unserer Gesellschaft verlangen, wenn wir bei allem Drang nach ökonomischer, sozialer, seelischer und leiblicher Fitness die Ausbildung eines Gespürs für ästhetische Formen verteidigen.
1. Ästhetische Form, so möchte ich nahe legen, ist wesentlich eine Organisation der Zeit. Diese These soll freilich nicht bedeuten, dass ästhetische Form nicht zugleich eine Organisation des Raums sein könnte. Sie ist es häufig- in der Konstruktion von Skulpturen und Gebäuden, Parks und Straßen, Autos und anderen Schmuckstücken. Vielleicht lässt sich sogar, insbesondere mit Blick auf die Künste, sagen, dass Form immer eine Organisation des Raums ist, man denke nur an den auf unterschiedliche Weise raumfüllenden Klang von Musik oder an den linearen Aufbau von Texten, die sich, gerade wenn sie - wie etwa die Romane von Claude Sirnon eine Fülle des Gleichzeitigen Ereignis werden lassen, in einem langgezogenen Nacheinander entfalten. Zudem könnte man anführen, dass Raum und Zeit grundsätzlich interdependente Begriffe sind: Zeitliche Prozesse sind solche einer Bewegung oder eines Verharrens, räumliche Zustände sind solche einer Dauer oder eines Vergehens. Aber selbst wenn das so ist: wenn Zeit und Raum begrifflich aufeinander verweisen und Formbildungen immer ein zeitliches und räumliches Verhältnis darstellen, selbst wenn es so ist, dass Zeit immer auf Raum und Raum immer auf Zeit bezogen ist, wäre nicht der Raum, sondern die Zeit die Pointe jeder ästhetischen oder künstlerischen Form. Das ist die These, die ich im Folgenden verteidigen möchte. Räumliche Verhältnisse müssen in zeitliche übersetzt und als zeitliche erfahren werden, um als ästhetische Form erfahren werden zu können. Die Umkehrung gilt nicht. Denn ästhetische und künstlerische Formen sind nicht generell dazu da, Räume zu schaffen, jedenfalls nicht in einem buchstäblichen Sinn, sondern Zeit zu geben, und dies in einem durchaus buchstäblichen Sinn. Der Sinn der Form ist die Zeit.
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MARTIN SEEL: DAS GLÜCK DER FORM
2. Auf den ersten Blick dürfte das Gegenteil einleuchtend sein. Eine Schachtel hat diese oder jene Form, je nachdem, wofür sie als Behälter dient. Eine Blüte hat diese oder jene Gestalt, je nachdem, wer für die Reproduktion der Pflanze herbeigelockt werden soll. Der Sinn der Form ist hier einerseits der durch sie geschaffene Raum und andererseits die Art, in der sie sich in einem größeren Raum präsentiert. Sobald wir aber die Aufmerksamkeit auf das Sichdarbieten von Formen im Raum richten, erscheint die Frage nach einem Primat entweder des Raums oder der Zeit deplaziert. Dieser zweite Blick richtet sich auf die ästhetische Valenz der Gestalt von Objekten. Er richtet sich darauf, wie sie einem verweilenden Vernehmen erscheinen. Dieses Erscheinen lässt sich mit Kant als ein Spiel von Erscheinungen verstehen, die ein Gegenstand in dem Raum und in der Zeit seiner Vergegenwärtigung entfaltet. Er zeigt dann nicht nur eine abgegrenzte Gestalt, die sich von anderen Gestalten abhebt, sondern begegnet als ein Spiel von Gestalten, die an ihm verfolgt und vernommen werden können. "Alle Form der Gegenstände der Sinne (der äußern sowohl als mittelbar auch des inneren) ist entweder Gestalt, oder Spiel: im letztem Falle entweder Spiel der Gestalten (im Raume, die Mimik und der Tanz); oder bloßes Spiel der Empfindungen (in der Zeit)." 1 Kants These ist hier, dass ästhetische Wahrnehmung mit einer Aufmerksamkeit für das Spiel von Gestalten oder Empfindungen beginnt, einer Aufmerksamkeit, die durch jenes "Spiel der Erkenntniskräfte" eröffnet wird, das das begriffliche Bestimmen ihrer Gegenstände zugunsten einer Erfahrung ihrer unbegrenzten Bestimmbarkeit sein lässt- und sie damit, wie man mit Baumgarten, Valery und Adorno hinzufügen könnte, in ihrer "Unbestimmtheit" gegenüber dem begrifflichen Denken anschaulich werden lässt. Zwar orientiert sich Kant in der zitierten Passage insgeheim an Lessings Unterscheidung zwischen Raum- und Zeitkünsten, wenn er sagt, das ästhetische Spiel von Gestalten - außerhalb wie innerhalb der Kunst - sei entweder eines im Raum oder in der Zeit. Schon der Begriff eines Spiels von Gestalten aber weist darauf hin, dass das, was im ästhetischen Vernehmen zum Erscheinen kommt, in vielen paradigmatischen Fällen räumliche und zeitliche Ereignisse oder 1
Im zweiten Fall denkt Kant primär an die Musik: Kant 1968: § 14, 305 (B 42).
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ÄSTHETIK
Konstellationen sind. Auf einen zweiten Blick spricht daher alles dafür zu sagen: Die Natur der ästhetischen Form liegt in einem Spiel von Gestalten im Raum und in der Zeit. Auch wenn wir damit vermutlich auf der sicheren Seite sind, lohnt es sich doch, einen dritten Blick auf den Spielplatz der ästhetischen Erfahrung zu riskieren. Die Raum-Zeit-Konstellationen in unterschiedlichen Künsten bieten hierfür reichhaltige Anschauung. Ein Grundprinzip der Architektur ist Raumteilung - die Trennung von Außen- und Innenraum, von Innenräumen untereinander, mit vielfachen Möglichkeiten der Öffnung aller dieser Räume nach innen und nach außen. Mit dieser Abteilung und Aufteilung eines Raums aber entsteht zugleich eine Rhythmisierung und damit eine Einteilung der Zeit der Bewegung in diesem Raum: nicht nur ein Wechsel von Gängen und Orten, die ein Gebäude seinen Nutzern anbietet, sondern auch von Ausblicken und Einblicken, in denen es sich nach außen und innen öffnet und verschließt. Die Unterteilung des Raums ist so zugleich eine Unterteilung möglicher Zeiten des Aufenthalts in ihm. In ähnlicher Weise schaffen Skulpturen einen Ort und eine Zeit des Verweilens in ihrer Gegenwart; durch ihre Geste verändern sie die Anziehungskräfte, denen die Bewegung in ihrer Nähe unterliegt. Den Ort und die Atmosphäre eines Raums prägt auch das künstlerische Bild (Damit folge ich Hegels Einteilung der Künste, wenn auch ohne die falschen Hierarchien, die in sie eingebaut sind). Malerei öffnet nicht allein einen Raum im Raum- einen Raum des Bildes in dem Raum, in dem sich das Bild befindet-, sondern disponiert durch seine internen Konfigurationen zugleich über die Zeit seiner Betrachtung. Musik hingegen ist bis in die kleinsten Phasen der Stille hinein ein zeitliches Ereignis, das jedoch stets den Raum seines Erklingens auf unterschiedliche Weise füllt und somit zugleich das Raumempfinden ihrer Hörer verändert. Eröffnet im Fall der sogenannten Raumkünste der räumliche Zustand immer zugleich ein zeitliches, so bewirkt hier das zeitliche immer zugleich ein räumliches Geschehen. Bei Theater und Tanz freilich macht die ganze Unterscheidung keinen Sinn: Sie sind Bewegungskünste, die sich in einem Imaginationsraum entfalten, der meist auf die eine oder andere Weise von dem Raum ihrer Betrachtung abgegrenzt ist. Solche Abgrenzungen freilich sind in jenen Performances und Installationen nicht mehr zu finden, in denen sich die Betrachter inmitten eines räumlich und zeitlich sich entfaltenden 20
MARTIN SEEL: DAS GLÜCK DER FORM
Werks aufhalten: diese haben hier Teil an der spatialen wie temporalen Ausdehnung einer künstlerischen Operation. Dies trifft auch auf die Zuschauer im Kino zu, mit dem Unterschied allerdings, dass es hier ein virtueller Raum ist, dessen Bewegung sie sehend und hörend verfolgen. Leiblich umfangen von einem Klanggeschehen sind sie einer Bildbewegung ausgesetzt, die sich wie die musikalische in einer Dynamik entfaltet, in der sich visuell Abwesendes fortwährend in Anwesendes und visuell Anwesendes fortwährend in Abwesendes verwandelt. Die beiden Fernsinne werden auf diese Weise in einen und in einem nur der Imagination zugänglichen Raum geleitet, am Leitfaden einer Narration von Ereignissen, die sich so nirgends außerhalb der Leinwand ereignet haben, wie sehr das in den Bildverläufen Sichtbare auch auf reale Schauplätze verweisen mag. Ein eigenes Spiel von Raum und Zeit entfaltet auch die Literatur. Vermöge einer in ihrer Anordnung auffälligen Reihung von Worten vollzieht sich der literarische Text für das lesende Bewusstsein in der Spannung von Erzählzeit und erzählter Zeit und entfaltet dabei oft ein Drama von Begebenheiten, in deren vorgestelltem Raum sich die Lesenden für die Zeit ihres Lesens bewegen. Diese wenigen Stichworte machen auf die unterschiedliche Zeit-Regie aufmerksam, die in den unterschiedlichen Künsten herrscht. Gebäude, Skulpturen, Bilder, Filme, Theaterinszenierungen, Installationen, Literatur und so weiter, in jedem einzelnen ihrer Objekte, erzeugen in dem Raum, den sie bilden oder umbilden, darstellen oder vorstellen, eine jeweils andere Bewegung, der unsere Wahrnehmung für die Dauer unseres Aufenthalts in oder bei ihnen ausgesetzt ist. Sie verlangsamen, beschleunigen, verzögern, raffen, dehnen die Zeit des Ereignisses, zu dem sie im Augenblick ihrer ästhetischen Wahrnehmung werden. Man denke nur an Bill Vialas Video-Installation Two Angels for the New Millennium (ARoS, Aarhus Kunstrnuseum), die in einem dunklen, mit fünf Bildflächen ausgestatteten Raum in extremer Zeitlupe rätselhafte Figuren aus Meeresfluten aufsteigen und in sie eintauchen lässt, an Action-Sequenzen in Filmen wie The Bou rne Supremacy (USA 2004, Regie Paul Greengrass), in denen die hochfragmentierten Handlungsverläufe nicht länger überschaut werden können, oder an den somnambul verlangsamten Blues der Black Ballads von Archie Shepp im Vergleich mit dem hektischen Tanz der Läufe eines Charlie Parker. Zugleich erzeugt jede dieser Küns21
ÄSTHETIK
te eine andere Beteiligung unserer Sinne am Spiel ihrer Gestalten. Mal übernimmt das Ohr, mal das Auge die Führung; mal erfassen sie zusammen einen Sinn oder auch nur eine Bewegung, die keinem Organ allein zugänglich wäre; mal wird beider Rolle verkehrt und vertauscht, wie in Horrorfilmen, wenn wir zu sehen glauben, was wir vorerst nur hören, oder zu hören, was wir vorerst nur sehen. In der Erkundung von Skulpturen, Gebäuden oder Installationen werden nicht selten die übrigen Sinne in dieses Verwirrspiel miteinbezogen. Sogar unser Gleichgewichtssinn kann buchstäblich und metaphorisch aus dem Gleichgewicht geraten, wie bei einem Gang durch die beklemmend schiefgestellte "Achse des Holocaust" in Daniel Liebeskinds Jüdischem Museum in Berlin. Schließlich eröffnen die Materialien und Medien der Künste seit jeher eine Fülle von borderline operations, mit denen die bis dahin etablierten Grenzen zwischen den Künsten gekreuzt und manchmal zu einem exterritorialen Schauplatz des artistischen Erscheinens gemacht werden: in Gebäuden, die Teil einer Landschaft sind, Filmen, die zu Projektionsflächen des Theaters werden, in Bildern, die sich als Skulpturen in den Raum erstrecken, in Erzählungen, in denen die Musik der Worte allen Wortsinn übertönt, in einer Musik, deren Darbietung mit dem Tanz fusioniert. In allen diesen Verfahren leihen uns die Künste eine andere Zeit. Das ist der Sinn ihrer Form. Die Form ihrer Werke gibt uns Zeit; sie lässt uns die Zeit ihrer Form erfahren. Sie verstrickt uns in den Rhythmus ihrer Gestalten. Dadurch nimmt sie uns Zeit, die wir nicht länger zur eigenen Verfügung haben; sie übernimmt ihre Gestaltung für die Weile, in der wir ihrer Bewegung ausgesetzt sind. Die Form der Kunst also gibt uns Zeit, indem sie uns Zeit nimmt, und nimmt uns Zeit, indem sie uns Zeit schenkt. Nicht etwa erhebt sie uns über unsere Existenz in Raum und Zeit, wie es sich Schopenhauer dachte. Vielmehr lädt sie uns im Spielraum ihrer Objekte zu einem besonderen Vollzug der Zeit ein. Sie lässt uns in einer verwandelten Gegenwart sein.
3. Jedoch ist diese Skizze zu grob, um die temporale Bedeutung der ästhetischen Form wirklich zu treffen. Denn es gibt andere Formen der Organisation von Zeit, die nicht in erster Linie dazu geschaffen sind, ästhetische Aufmerksamkeit zu binden. Denken Sie
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nur an die Rhetorik - und also: die sprachliche Form - eines Beitrags wie demjenigen, den Sie gerade lesen: Sie werden hier innerhalb von wenigen Seiten in einer bestimmten Manier zu den Gedanken geführt, die der Autor Ihnen nahe bringen möchte. Sie werden mit einer "wilden" Behauptung überfallen, Sie werden im Zeitraffer durch den Kosmos der Künste geführt, Sie w erden mit einem Exkurs über das Wesen der Zeit unterhalten und am Ende mit einem minimalen Beispiel alleine gelassen. Aber nicht nur diese meine augenblickliche Handlung, jede Handlung bedarf einer gewissen Disposition über die Zeit, in der sie ausgeführt werden soll. Jedoch werden Tätigkeiten wie Staubsaugen, Autofahren oder das Prüfen von Bilanzen nicht darum schon zu ästhetischen Handlungen. Aber nicht nur für überschaubare Handlungen gilt, dass sie sehr unterschiedlichen Arten einer zeitlichen Organisation unterliegen; es gilt auch für die Art, in der Handelnde das Pensum ihrer Arbeit, die Spanne eines Tages und letztlich diejenige ihres Daseins zu verbringen suchen. Von dieser Ethik der Zeit handeln Texte wie Peter H andkes Versuch über den geglückten Tag oder Jacques Derridas Reflexionen über die Möglichkeit, Zeit zu geben (donner le temps) (Handke 1991; Derrida 1993). Kulturelle Praktiken jeder Art, so liegt es nahe zu folgern, sind immer auch Praktiken des Umgangs mit Zeit - eines Umgangs, mit dem Zeit möglichst nicht - oder doch nicht zu sehr vergeudet, möglichst nicht- oder doch nicht durchweg- als leere Periode erfahren wird und also möglichst - oder doch immer wieder - als eine erfüllte Zeit gegeben ist. In dieser ökonomischen oder besser ökumenischen Behandlung von Zeit liegt eine Wurzel aller kulturellen Formgebung und damit allen Stils. Stil nämlich ist ein aufmerksamer Umgang mit Zeit, ob dies nun Arbeits-, Lebens- oder historische Zeit ist.2 Aufmerksam ist dieser Umgang, insofern den fraglichen Abläufen hier eine für die Beteiligten verbindliche, nach innen und außen erkennbare Gestalt und somit eine einprägsame Kontur gegeben wird: etwas, worin sie sich im Fluss der Zeit halten können. Es ist die Leistung des Stils, dem Le2
Auch die "Heterotopien", deren Untersuchung sich Michel Foucault seit Die Ordnung der Dinge verschrieben hat, so ließe sich in einer Untersuchung seiner einschlägigen Texte zeigen, sind immer zugleich Heterochronien, so dass auch in diesem kulturgeschichtlichen und kulturtheoretischen Feld ein Primat des Raumbegriffs vor dem Zeitbegriff unhaltbar ist. Vgl. Foucault 2005a: 931-942 u . ders. 2005b.
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ÄSTHETIK
ben einen sinnenfälligen, mal beschleunigenden, mal verlangsamenden Rhy thmus zu verleihen, durch den das jeweilige Tun sich in seinen Vollzügen gegenwärtig bleibt. Stil in seiner allgemeinsten Form, verstanden als eine arbiträre kulturelle Formung von Situationen des Handelns, ist Bewusstsein dessen, w as wann angebracht ist, und damit ein Bewusstsein von Zeit, das manchmal, in einem immer noch klärungsbedürftigen Sinn, zu einem ästhetischen Bewusstsein wird. Wie aber ist herbei von der Zeit die Rede? Wie stehen wir in der und zu der Zeit, so dass es uns möglich ist, ihren Verläufen die eine oder andere Form zu geben? Was sind das, die "Verläufe der Zeit", die wir durch Formen der unterschiedlichsten Art zu organisieren vermögen? Sie spielen sich innerhalb einer nach den Polen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dimensionierten Zeit ab. In ihr werden Zustände und Ereignisse aus der Mitte einer Gegenwart als vergangen, andauernd und möglicherweise bevorstehend erfahren. Dies ist zugleich die Erfahrung eines gerichteten zeitlichen Verlaufs, indem sich Geschehendes fortwährend in Geschehenes verwandelt und fortwährend bis dahin noch nicht Geschehenes geschieht. Von Zeit in diesem Sinn kann allein aus der faktischen oder möglichen Perspektive von Subjekten die Rede sein, die ihren Prozessen in den Modi der Erfahrung, Erinnerung und Erwartung ausgesetzt sind - von Subjekten also, die eine Position in und zu der Zeit einnehmen, der sie als zeitliche unterliegen. Von dieser Position aus werden das Gerichtetsein zeitlicher Veränderungen und damit deren Irreversibilität begreiflich. Alles, womit wir künftig werden rechnen können oder müssen, ebenso das, was gegenwärtig so und nicht anders ist, wird früher oder später unwiderruflich vorbei, das heißt von einer dann gegenwärtigen zeitlichen Position aus unerreichbar sein. Jede künftige Gegenwart wird einmal aus der Sicht einer anderen künftigen Gegenwart eine vergangene Gegenwart sein. Diese Richtung historischer Zeit aber ist nicht von einem neutralen Standpunkt des Hier und Jetzt gegeben, von dem aus vieles schon längst und anderes noch längst nicht geschehen ist. Denn sie ist stets bedeutsam in dem Verhältnis zu der Richtung, die sich diejenigen, die in einer Gegenwart stehen, in dieser Gegenwart geben (oder zu geben versuchen). Für die Erfahrung biographischer, kultureller und historischer Zeit ist es charakteristisch, dass das, was geschieht, was geschehen ist und was mit unterschiedlicher Wahrscheinlichkeit 24
MARTIN SEEL: DAS GLÜCK DER FORM
geschehen wird, diejenigen, denen es widerfährt oder nicht widerfährt, auf unterschiedliche Weise etwas angeht oder jedenfalls angehen kann - gemessen daran, worum es ihnen in ihrem Leben jeweils geht. Deswegen stellt das Verhältnis von Erfahrung, Erinnerung und Erwartung überhaupt ein Spannungsfeld dar, in dem das, was uns begegnet und begegnet ist, das, was auf uns zukommt und zugekommen ist, ebenso wie das, dem wir entkommen oder nicht entkommen werden, stets darauf bezogen ist, was wir wünschen und wollen, was wir befürchten und erhoffen.3 Die Zeit, um deren Gestaltung und Formung wir uns überhaupt be-
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Heidegger hat in Sein und Zeit den Tod als das exemplarische Ereignis identifiziert, an dem das Eintreten bislang ungeschehener Ereignisse in der Form eines "Vorlaufens auf den Tod" erfahren wird (Heidegger 1979). Der Tod ist das auf uns zukommende Ereignis, im Unterschied zu vielen anderen Umständen, die auf uns zukommen oder auch nicht zukommen können. Als Komplement gehört hierzu das Vonunswegrücken von Ereignissen, die aus unserer Gegenwart als vergangene und s01nit als - für mich oder andere - ehemals zukünftige erscheinen. Beide Bewegungen treffen sich in der spürenden und handelnden Begegnung mit Umständen, die mich hier und jetzt sei es betreffen, sei es unbetroffen lassen. Die Richtung von Ereignissen auf uns zu, an uns vorbei und über uns hinweg, so kann man mit Heidegger sagen, ergibt sich daraus, dass wir in unserem Leben auf etwas gerichtet sind - dass es uns in unserem Dasein um unser Dasein geht: um einen Umgang mit Umständen und Ereignissen entsprechend den Verhältnissen, die wir in unserem Leben erhalten, erreichen und vermeiden wollen. - Deswegen spricht Michael Theunissen im Anschluss an Heidegger von einem "Vollzug der Zeit", durch den Gegenwärtiges auf Vergangenes und Künftiges bezogen wird. "Der synthetisierende Vollzug der Zeit fällt mit dem Selbstvollzug des menschlichen Daseins schlechterdings zusammen. in der Zeit ist das Dasein der Menschen unaufhebbar, sofern es der objektiven Zeitordnung eingefügt bleibt. In sich zeitlich ist es ebenso unaufhebbar, sofern es nur existieren kann, indem es die ,homogene und leere Zeit' in ihre Ekstasen auseinander treibt", das heißt indem es seine Gegenwart in den Horizonten von Vergangenheit und Zukunft erfährt (Theunissen 1991: 285-298). In diesem Sinn unterscheidet sich ein Begriff der homogenen (physikalischen) Zeit - derjenigen, der jedes und alles ausgesetzt ist - von einem Begriff dimensionierter (historischer) Zeit - derjenigen, zu der sich ein seiner selbst bewusstes Dasein notwendigerweise verhält. - Dieser Kommentar lässt offen, wie dimensionierte und homogene Zeit begrifflich zueinander stehen. Heideggers These eines Primats der Ersteren jedoch dürfte schwerlich zu halten sein; plausibler erscheint die Annahme ihrer Interdependenz.
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ÄSTHETIK
mühen können, ist daher immer auch eine Zeit günstiger und ungünstiger, genutzter oder verpasster Gelegenheiten. In ihrem Verlauf entstehen und vergehen Möglichkeiten, die uns befreiend oder bedrängend, animierend oder deprimierend erscheinen. Mit diesen und an diesen Möglichkeiten arbeiten wir, wenn wir unserem Leben die eine oder andere Form zu geben versuchen. Der Sinn der dimensionierten Zeit, so kann man vor diesem Hintergrund sagen, verweist auf einen Sinn für Zeit: darauf, wie Zeit von denen, die in und zu ihr stehen, erfahren wird oder erfahren werden kann. Die so erfahrene Zeit gliedert sich in SinnEinheiten, die ihre Grundlage in der Differenz und Differenzierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft haben. Dieser Grundeinteilung kultureller Zeit entspringen historische, also revidierbare und zu einem gewissen Grad arbiträre Ordnungen des Zeitlichen, die stets mit Deutungen dessen verbunden sind, was sich in ihnen zeitigt - und daher ein weites Feld der Gestaltung zeitlicher Verhältnisse eröffnen. Ich möchte diesamBegriff der Gegenwart erläutern. Was Gegenwart heißt, lässt sich durch bloße Zeitangaben überhaupt nicht erläutern. Wer immer diese Seiten liest, befasst sich "gegenwärtig" mit einem philosophischen Text, was ihn für 40 Minuten in Anspruch nehmen mag. "Gegenwärtig tut sich nichts", kann ein Sportreporter bei der Kommentierung eines Fußballspiels sagen, und wird dabei, wie die meisten der Beteiligten hoffen werden, von einer Gegenwart sprechen, die sich in wenigen Minuten zählen lässt. Wenn es heißt, dass die Wirtschaft gegenwärtig lahmt, ist mindestens von einem Quartal die Rede - verbunden mit der Befürchtung, die Flaute könne weit länger dauern. Wenn ein politischer Kommentator feststellt, dass wir gegenwärtig einen Kampf der Kulturen erleben, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat, mag er von Jahrzehnten oder sogar Jahrhunderten sprechen. Das letzte Beispiel zeigt zugleich, dass es keine klaren Linien gibt, durch die eine historische oder biographische Gegenwart von Vergangenheit und Zukunft abgegrenzt wäre. Die Zukunft hat in vielen Bereichen des Erlebens und Handeins immer schon begonnen, die Vergangenheit wirkt in ihnen oft immer noch nach. Und diese Relationen verändern sich beständig, je nachdem, wie klein oder groß wir den Kreis unserer Gegenwart ziehen, und je nach dem, wie eng oder weit er sich um uns zieht. Sie verändern sich beständig in Relation zu den kleineren oder größeren Handlungs-
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zusammenhängen, die wir jeweils als Gegenwart unseres Tuns und Erlebens verstehen. Mit jeder von ihnen befinden wir uns in einem Geschiebe von realisierbaren und nicht realisierbaren, realisierten und nicht realisierten Möglichkeiten, von solchen, die genutzt und besetzt worden, solchen, die ungenutzt und unbesetzt geblieben sind, und solchen, die zum Guten oder Schlechten genutzt oder ausgelassen werden. Das ist Gegenwart: in einem grundsätzlich unüberschaubaren und unbeherrschbaren Fluss von Ereignissen zu sein, die mehr oder weniger lange währen, einen mehr oder weniger lange und mehr oder weniger stark berühren und betreffen. Wer sich als Teil dieses Flusses erfährt, benötigt Formen, die ihm eine Arbeit an der Zeit und ein Spiel mit ihr erlauben. Er kann nicht anders, als sich zu ihr in unterschiedliche Verhältnisse zu setzen, in denen Zeit kalkuliert und bemessen, gespart und verschwendet, erinnert und vergessen, beschleunigt und gedehnt, gekauft und geschenkt, genommen und gegeben werden kann. In dieses existentielle w ie kulturelle Zeitmanagement greifen ästhetische Formbildung und ästhetisches Formbewusstsein ein. Sie machen Zeit in besonderer Weise spürbar; sie lassen uns Zeit für die Zeit. Sie tun dies, indem sie vergangene, aktuelle oder künftige Gegenwarten in ihrer zeitlichen Verfassung präsent halten, indem sie Objekte entwerfen oder aufsuchen, und dabei immer auch Räume oder räumliche Verhältnisse entstehen lassen, die Konfigurationen von Präsenz zugleich herstellen und herausstellen. Der Sinn der Gegenwart verwandelt sich in einen Sinn für Gegenwart; das ist die grundlegende ästhetische Operation. Es ist die Operation des Künstlers, in seinen jeweiligen Materialien und Medien Formen zu entwickeln, die Konstellationen realisierter und unrealisierter, anwesender und abwesender Möglichkeiten des Vernehmensund Verstehens ausbilden, wie sie für menschliche Gegenwarten kennzeichnend sind. Der Künstler erfindet Objekte, an deren räumlicher und zeitlicher Gegenwart wir einer Gegenwart innewerden. Entsprechend ist es die Operation der ästhetisch Wahrnehmenden, für ein künstlerisches oder außerkünstlerisches Spiel von Gestalten aufmerksam zu sein, die es ihnen erlauben, im Auge einer realen oder imaginierten - und nicht selten einer realen und imaginierten - Gegenwart zu verwei-
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len.4 Nicht erleben wir im Prozess der ästhetischen Produktion und Rezeption eine "Freiheit von der Zeit", wie es Michael Theunissen in der Nachfolge Schopenhauers postuliert und Derrida es an einigen Stellen zumindest nahe legt (Theunissen 1991: 287ff., 292f.; Derrida 1993: z.B. 139). Was wir erleben, ist eine Freiheitfiir die Zeit: ein Freiwerden für die Erinnerung an die Potentialität der Gegenwart unseres und nicht allein unseres Lebens - eine Begegnung mit eigener und fremder Gegenwart, die nicht zuletzt den Sinn hat, die eigene Gegenwart wieder befremdlich und darin bemerkenswert werden zu lassen. Ästhetische Form und ästhetisches Bewusstsein von Form, so verstanden, sind Medien, die es uns erlauben, uns in die Zeit unseres Lebens zu vertiefen, uns in ihr zu verlieren, uns von ihr erschrecken und berauschen zu lassen, wie es die übrigen Techniken des Time-Managements- und mit ihnen nicht wenige Formen des Stils - mehr oder weniger erfolgreich zu verhindern suchen. Ästhetische Form nimmt unsere alltägliche Zeitvergessenheit ein Stück weit zurück, erinnert an das Hier und Jetzt sowohl ihrer selbst als auch der Zustände der Welt, die sie durch ihr Erscheinen sei es intensiviert, sei es imaginiert. Je näher wir der Kunst, je näher wir bedeutenden Kunstwerken kommen, desto weniger bewirkt diese Form eine Bändigung oder Bewältigung der Zeit, die darauf gerichtet wäre, das Bewusstsein unserer Endlichkeit in einen Zustand angenehmer Umnachtung zu hüllen, sondern vielmehr eine Bündelung zeitlicher Zustände, die uns das endliche Dasein als ein Kraftfeld unbekannter und unbewältigter Möglichkeiten und damit als das einzige unendliche Dasein erfahren lässt (s. hierzu Valery 1973: 141145).
4. Ich will nicht schließen, ohne diese letzten Behauptungen wenigstens an einem Beispiel verdeutlicht zu haben. Ich wähle ein kurzes Gedicht von William Carlos Williams aus seinen Collected Earlier Poems (Williams 1989: 90):
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Zum Verhältnis von Gegenwart und ästhetischer Gegenwart vgl. Seel 2000: bes. 160ff. u. 215ff., u. ders. 2006.
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Between Walls
the back wings of the hospital where nothing will grow lie cinders in which shine the broken pieces of a green bottle Hans Magnus Enzensberger hat das Gedicht ins Deutsche übertragen (Williams 1989: 91):
Zwischen Mauern
die Hinterhöfe des KrankenHauses wo gar nichts wächst dort liegt Asche aus der die Scherben einer grünen Flasche glitzern.
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Dies ist ein sehr einfaches, wie formlos erscheinendes, aber natürlich alles andere als formloses Gedicht. Es präsentiert sich als das Notateines zufälligen Blicks; es beschreibt, wie etwas- Asche und Scherben an der Rückseite eines Krankenhauses - in einem bestimmten Augenblick erschienen ist. Es schweigt sich darüber aus, wem dies erschienen ist. Der Leser ist nicht mit den Reaktionen eines lyrischen Ichs, sondern direkt mit dem von diesem Gesehenen konfrontiert, das ihm zur imaginierenden Vergegenwärtigung angeboten wird. Was da zu sehen war, wird in einer Art Zeitlupe vorgestellt, in fünf mal zwei Zeilen, die jeweils drei bis fünf Worte enthalten. Das Gedicht verlangsamt die von ihm wachgerufene Vorstellung eines ebenso unscheinbaren wie unerheblichen Ortes. Aber es verlangsamt nicht nur den flüchtigen Blick, dessen Objekte es protokolliert, es kulminiert in einer verhaltenen rhetorischen Pointe, indem es am Ende die Farbe des Dings nennt, dessen Scherben aus der Asche der grauen Hinterhofszene hervorleuchten. Sie leuchten hervor an einem Ort, an dem, wie der Text sagt, nichts wachsen, nichts grünen, nichts leben wird, in einer Umgebung, in der der Tod stets nahe ist. Aber dieses Erscheinen weist zugleich darauf hin, dass auch das Tote lebt, jedenfalls für jene Betrachter (oder Leser), die sich nicht mit der Fassade des Lebens zufrieden geben, die hinter die Einteilung der Dinge in lebende und tote, erhabene und banale zu blicken verstehen. So gelesen, verwandeln sich die sparsamen Schritte des Gedichts in eine Allegorie nicht nur vom Scheinen des Unscheinbaren, sondern auch von der Schärfe eines Sehens, das die Frontansichten der Welt zerschneidet oder sonstwie zu Bruch gehen lässt, weil es sich die Gelegenheiten seines Verweilens nicht vorschreiben lässt. Jedoch kommt es mir nicht so sehr auf eine Deutung dieses Gedichts an. Es soll mir vor allem helfen, die abstrakte Rede von der "Zeit gebenden" und Gegenwart spendenden Energie von Kunstwerken verständlicher zu machen. Between Walls handelt von einem kurzen Verweilen, wie es selbst ein solches verlangt. Durch seine Form gibt es uns eine Form. Zum einen verlangt es uns ein verlangsamtes Lesen ab, das sich auf die beiläufige Kraft der wenigen Worte einlässt, aus denen es gemacht ist; es gibt uns Zeit für die gelassenen Zeilensprünge, die es vorführt. Zum anderen bietet es eine durch wenige Akkorde gestützte Vergegenwärtigung der von ihm entworfenen Szene an; es gibt uns Zeit, ein Bild des Glitzerns der grünen Scherben zu entwerfen. Drittens stellt es 30
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eine Form der Wahrnehmung zur Verfügung, die sich auch unabhängig von den Zeilen des Gedichts erproben lässt; indem es seine Leser hierzu ermutigt, gibt es ihnen potentielle Zeit für eine rückhaltlos kontemplative Anschauung der Welt (vgl. Seel 1991: Kap. I). In jeder dieser Dimensionen fungiert d as Gedicht als ein Zeitspeicher, der den Lesern ein wenig Zeit nimmt, um ihnen einen Vorrat an Zeit für die Wahrnehmung ihrer selbst und der Welt zu geben. In jeder dieser Hinsichten ist es die Gegenwart des Gedichts als einer fragilen Anordnung von Worten, das einen gesteigerten, veränderten und variierbaren Sinn für Gegenwart weckt. Es gibt uns Zeit für sich, es gibt uns Zeit für etwas und es gibt uns Zeit für anderes. Diese Dimensionen des Form- und mit ihr des Zeitgebens aber, auch wenn ich dies hier nur behaupten und nicht an weiteren Kunstwerken und Kunstformen durchspielen kann, sind in der Konfrontation mit bedeutenden künstlerischen Objekten stets präsent. Als Dank für die Aufmerksamkeit, die wir ihren Formen schenken, gewähren sie uns Aufmerksamkeit für die Zeit, inder-und in der allein- sich das Glück und das Unglück unserer Tage ereignet.
5. Ich habe zu Beginn versprochen, etwas über die existentielle Bedeutung ästhetischer Bildung zu sagen. Ästhetische Bildung, so möchte ich jetzt resümieren, versieht uns mit der Fähigkeit, uns in der Anschauung ästhetischer Formen Zeit für den Augenblick unseres Lebens zu nehmen - Zeit für das Hier uns Jetzt unseres Lebens, zusammen mit einem Gespür dafür, was in der jeweiligen Gegenwart nicht, oder nicht mehr, oder noch nicht gegenwärtig ist. In meiner Betrachtung allerdings ist ein Begriff überhaupt nicht vorgekommen: ausgerechnet derjenige, der der Leitbegriff der Vorlesungsreihe war, aus dem der vorliegende Band hervorgegangen ist - der Begriff des Schönen. Nun fehlt mir zwar hier der Raum, über diesen Begriff noch irgendetwas Erhellendes zu sagen. Ich möchte aber nicht schließen, ohne zu ihm wenigstens ein Wort gesagt zu haben. Erneut, aber jetzt wirklich zum Ietzen Mal, halte ich mich an den Begriff der Form. Wie immer schrecklich, erschütternd, ernüchternd, verstörend oder sonst wie atemberaubend das auch sein mag, was uns in der Gestalt gelungener künstlerischer und betörender außerkünstlerischer Formen be-
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gegnet, es gewährt uns eine Form des Glücks, nämlich das Glück der Form. Dies aber ist jenes Glück, über das wir sprechen, wenn wir sagen, etwas sei schön.
Literatur Derrida, Jacques (1993): Falschgeld. Zeit geben I, München: Fink. Foucault, Michel (2005a): Von anderen Räumen. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits Bd. IV, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 931-942. Foucault, Michel (2005b): Die Heterotopien/Der utopische Körper, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Handke, Peter (1991): Versuch über den geglückten Tag, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Kant, Immanuel (1968): Kritik der Urteilskraft. Werke in zwölf Bänden. Bd. X. Hg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Seel, Martin (1991): Eine Ästhetik der Natur, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Seel, Martin (2000): Ästhetik des Erscheinens, München: Hanser. Seel Martin (2006): Von Ereignissen. In: Ders.: Paradoxien der Erfüllung, Frankfurt a.M.: Fischer, S. 11-26. Theunissen, Michael (1991): Freiheit von der Zeit, Ästhetisches Anschauen als Verweilen. In: Ders.: Negative Theologie der Zeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 285-298. Valery, Paul (1973): Der Unendlichkeitstaktor in der Ästhetik. In: Ders.: Über Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, S. 141-145. Williams, William Carlos (1989): Die Worte, die Worte, die Worte. Gedichte, übertragen von Hans Magnus Enzensberger, Frankfurt a.M. : Suhrkamp.
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Traum
Henri Schoenmakers & Andre Studt
Theater in der Schule Der Traum von der Bildung zur Schönheit oder die Schönheit der Bildung als Traum
Einleitung: Bildung Bildung in Schulen wird in vielen europäischen Ländern noch vor allem als eine kognitive Aktivität aufgefasst, wobei Kenntnisse gesammelt und Kompetenzen in der Anwendung von Kenntnissen entwickelt und geübt werden. Auch im Bereich des Ästhetischen sind Schulen oft noch stark auf kognitive Ziele konzentriert. Dabei wird Ästhetik oft sehr eng aufgefasst, nämlich als eine Sammlung von kanonisierten, d.h. vor allem literarischen Werken. Schüler lernen dabei die plots und stories solcher Werke, sie lernen die oft vorgegebenen Interpretationen, die Daten in Bezug auf die Autoren, auf die Kontexte usw., sie lernen viel, aber sie erfahren wenig. Sie lernen, dass sie ein Werk des Kanons als schön und wichtig betrachten müssen, aber spüren nicht in ihrem Kopf und Körper, warum. Es ist der Traum von Lehrer im musischen Bereich, dass mit der kognitiven Bildung gleichzeitig auch die ästhetische Erfahrung aktiviert wird. Viele Träume sind Betrug; dieser ist einer davon. Eine breitere Auffassung von Bildung richtet sich weniger auf konkret-kognitive Kenntnisse, als viel mehr auf die Entwicklung von Kompetenzen, Haltungen und Reflektionsfähigkeiten. Anstelle von Daten und Fakten auswendig zu lernen, lernen Schüler, Informationen zu recherchieren und kritisch zu verarbeiten, mit Anderen zusammen zu arbeiten, soziale Kompetenz zu entwickeln. Eine solche Änderung, die in Schulsystemen als immer wichtiger angesehen wird, wäre auch im Bereich der musischen Fächer oder des Ästhetischen von großer Bedeutung. Damit verschiebt sich der Fokus von der kognitiven Beschäftigung mit Kunstwerken zur ästhetischen Erfahrung. Gerade bestimmte Herangehensweisen an Theater in der Schule bieten Möglichkeiten, die kognitiven, emotionalen, psychomotorischen und
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reflexiven Aspekte des menschlichen Handeins miteinander zu verbinden und dabei pädagogische Ziele mit ästhetischen zu verknüpfen. Es hat hunderte von Jahren gedauert, bevor Philosophen und Pädagogen den Theaterbesuch und Bildung als vereinbar betrachteten. Wie bekannt, lehnte Plato das Theater in seinem idealen Staat ab, weil die theatrale Abbildung der Wirklichkeit die Wahrnehmer einen Schritt weiter von der Wahrheit hinter der wahrnehmbaren Wirklichkeit wegführt. Auch in den ersten Jahrhunderten des Christentums lehnten die Kirchväter das Theater ab, weil es zu heftige Emotionen bewirkt und (unkontrollierbar) affektive Energien freisetzt. Laut Tertullianus in De Spectaculis erschüttern die heftigen Emotionen, die das Theater verursacht, den Geist zu sehr und verhindern so die christliche Aufgabe, in Ruhe und Frieden zu leben. Auch Augustinus wehrt sich in seinen Bekenntnissen gegen die "Effektstücke", die nur "krankhafte Neugier" befriedigen und Handlungen zeigen, die man "nicht einmal im Träume" sehen möchte. Die Geschichte des Theaters ist über Jahrhunderte auch immer eine Geschichte von theaterfeindlichen Aussagen. Aber neben diesen Ablehnungen von Philosophen und Kirchenvätern gibt es ebenso seit den Anfängen des Theaters in der westlichen Kultur einen anderen roten Faden, in dem die Verbindung zwischen Theater und Bildung positiv betrachtet wird. So behandelt Justina Gregory in ihrem Buch Euripides and the Instruction of the Athenians (1991), anhand des Beispiels von Euripides, die bildende Wirkung, die das Theater für die Polis Athen hatte. Hans-Thies Lehmarm arbeitet in Theater und Mythos heraus, wie die Entwicklung des antiken Dramas als Voraussetzung zur Ausbildung souveräner Interaktionen mündiger Bürger, die auf eine durch das Drama geschärfte Identität verfügten, verstanden werden kann. Und wie bekannt, ist es gerade die Kirche, die Theater seit dem Mittelalter als Mittel einsetzt, und zwar nicht nur als Propaganda-Instrument, um Zuschauer zu belehren, sondern auch und besonders, um die Spielenden lernen zu lassen. Dabei ist vor allem das so genannte Jesuitentheater gemeint: In dem Ratio Studiorium von 1683, also rund 140 Jahre nach Gründung dieses Ordens, können wir die folgende Charakterisierung des Schultheaters lesen. "Es ist moralisch, sozial, pädagogisch und religiös orientiert und in N achahmung der Klassiker geschrieben." Die Schü36
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ler sollten lernen, sich selbstsicher und unabhängig in der Gesellschaft zu verhalten. Dazu sollten sie in Rhetorik begabt und gebildet sein, was nicht nur den Wortgebrauch, sondern auch Gebärden und Haltungen beinhaltet (Toxopeus/Toxopeus 1990: 18; Laeven 1983: 14). Mit "Theater in der Schule" werden in diesem Aufsatz nicht nur Formen von Schultheater gemeint, sondern auch andere Aktivitäten in der Schule, in denen Theater und theatrale Handlungsformen eingesetzt oder thematisiert werden. Die folgenden Aktivitäten werden im Folgenden kurz vorgestellt; dabei werden einige wesentliche Probleme aus einer theaterwissenschaftlichen Perspektive besprochen: • Geschichte und Theorie von Drama und Theater. Es betrifft hier die vor allem rein kognitive Beschäftigung mit dem Theater, die meistens im Literaturunterricht stattfindet. In diesem Zusammenhang werden das Problem der Werktreue und des Bildes von Theater, das die Schule vermittelt, besprochen. • Angewandte Theatralität. Dieser Begriff steht analog für das, was im angloamerikanischen Sprach- und Kulturraum mit den unterschiedlichen Konzepten des Drama in Education und Theatre in Education angedeutet wird. Beide Konzepte werden kurz dargestellt werden, um anschließend für eine Synthese von Drama and Theatre in Education zu plädieren, da der komplementäre Charakter der Aktivitäten in diesen Bereichen offensichtlich ist. • Darstellendes Spiel und Schultheater. Dabei werden diese Theaterformen zum einen als Kunst und zum anderen als ein in sich selbst gerichtetes Ziel betrachtet. Das Problem von Prozess versus Resultat und die Frage, ob diese Art von Theater auch ästhetische Erfahrungen auslösen kann, sollen kurz angesprochen werden.
1. Geschichte und Theorie von Drama und Theater In vielen Schulen findet im Rahmen des Literaturunterrichtes eine Konfrontation mit Aspekten der Dramen- und Theatergeschichte, bzw. der Dramen- und Theatertheorie statt, weil sich relativ viele Dramen zum Kanon der Literaturgeschichte gezählt sehen. Wie im Allgemeinen bei Kunst in der Schule, ist, wie in der Einleitung
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angedeutet, vor allem von Ausbildung im kognitiven Sinne die Rede. Die Aussage von Camus in seinem Aufsatz Der Mythos von Sisyphus, dass, wenn er die Rolle von Jago mal spielen würde, er diese Figur wahrscheinlich besser verstünde, wird im Literaturunterricht noch nicht immer und überall als eine seriöse Annäherung an eine produktive Auseinandersetzung mit Drama und Theater betrachtet. Bei einer rein kognitiven Beschäftigung mit Drama und Theater stellt die oft unbewusste, manchmal gezielte, dann wieder unklare, bzw. unscharfe Vermittlung von Normen und Werten anhand von Dramen und/ oder Theater ein relevantes Problem dar, das die generelle Haltung der Schüler dem Theater oder theatralen Aktivitäten gegenüber und damit das kulturelle Klima in der Schule beeinflussen oder eben bestimmen kann. Diese Möglichkeiten werden vor allem bei zwei Themen sichtbar: (a) bei dem Thema der Werktreue, und (b) bei dem Bild, bzw. der Definition vom (guten) Theater. Die Werktreue
In vielen Besprechungen von Theateraufführungen, vor allem von Texten, die zu dem Kanon gehören, werden implizite oder explizite Normen benutzt, die mit dem Bild, wie die Aufführungen eines klassischen Textes aussehen sollten, zusammenhängen. Um zu illustrieren, wie Literaturwissenschaftler bei Aufführungen eines Dramentextes, von dem sie zu denken wissen, wie er aufgeführt werden soll, sehr unglücklich werden können, wenn sich diese die Erwartungen nicht erfüllt sehen, steht paradigmatisch die Kontroverse um die Inszenierung von Shakespeares A Midsummer Night's Dream von Peter Brook. (Die Tatsache, dass es sich hierbei um eine englischsprachige Debatte handelt, zeigt nur, wie international das Thema der Werktreue diskutiert ist.) In den achtziger Jahren veröffentlichte der Literaturwissenschaftler Anthony Price (1983) in England ein case book über den A Midsummer Night's Dream. Dreizehn Jahre vorher hatte Peter Brook diese Komödie bei der Royal Shakespeare Company inszeniert. Es wurde eine Aufführung, die wegen dem Bruch mit der damaligen Aufführungstradition Theatergeschichte schrieb, und dennoch von Price mit normativen Attributen versehen wurde: In seinem kurzen Überblick der Jahrhunderte langen Aufführungs-
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geschichte spricht Antony Price dauernd von distortions, d.h. von "Verzerrungen" (z.B. Price 1983: 19, 29), woraus man folgern kann, dass der Verwendung eines derartigen Begriffs eine sehr klare Vorstellung davon, w ie das Stück aufgeführt werden soll, unterlegt ist. In diesem Fall werden unter anderen die folgenden Normen sichtbar: man darf den Text nur unverändert und ungekürzt spielen; dabei sollen Aufführungselemente nicht vom Text ablenken, und das, was im Text erw ähnt wird, sollte so genau wie möglich mit Hilfe von realistischen und illusionistischen Darstellungsmitteln auf der Bühne sichtbar sein. Dieses Prinzip des Illusionismus entwickelte sich vor allem seit der Jahrhundertwende von 1900; wegen der neuen Theatertechnik (Drehbühne) und der elektrischen Beleuchtung konnte sich eine Konvention von realistischen oder eben naturalistischen Inszenierungen generieren, die sich dann in Beurteilungszusammenhänge tradiert sieht. Genau 1900 produzierte der englische Regisseur Sir Herbert Tree eine Aufführung, in der er einen Wald teilweise mit realen Bäumen gestaltete, in dem reale Kaninchen durch das Kunstgras herumrannten als wäre es reales Gras, und so den Illusionismus verstärkten (Pearson 1988: 128). Im deutschen Sprachraum war es vor allem Max Reinhardt, nachdem er in 1905 seine erste Produktion des A Midsummer N ight's Dream in dieser realistischen Ästhetik inszenierte, die für diese illusionistische Tradition international maßgebend wurde. Reinhardts 1935 in Hollywood gedrehte Verfilmung verstärkte noch einmal diese über den Theaterbereich hinausreichende Tradition, die auch als Paradigma einer urbanen und bürgerlichen Kultur begriffen werden kann (Marx 2006: 57-61). Standardelemente dieser Aufführungstradition, denen man überall in Europa bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg begegnen konnte, war beispielsweise die semantische Kodierung des Schauplatz "Wald" als eine freundliche, zugleich etwas bedrohliche, jedoch eben auch romantische Umgebung mit Lichtungen, die Liebespaare als nächtliche Picknick Orte im Mondschein dienen. Der Mond, der die Tautropfen als kleine Sterne glänzen lässt, trägt zur romantischen Atmosphäre bei. In diesem Wald tanzen fragile, weiblich aussehende Elfen herum. Diese magische Welt sollte laut Aufführungsdoktrin unbedingt mit der romantischen Musik von Mendelsohn untermalt werden, als ob Shakespeare selbst bereits diese Musik benutzt hätte. Der Handwerker Bottom
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sieht, nachdem er in einem Esel verwandelt wurde, auch tatsächlich eindeutig wie eine Nachahmung eines realen Esels aus. Kurz und gut: Der Illusionismus ist die Norm, wodurch die vielen Szenenwechsel bei fehlenden technischen Voraussetzungen- z.B. eine nicht zuhandene Drehbühne - unheimlich lange dauern konnten. Es war genau diese Tradition, gegen die sich Peter Brook wehrte, und wogegen er in seinem Buch The Empty Space, das er 1968, zwei Jahre vor seiner Aufführung des AMidsummer Night's Dream bei dem Royal Shakespeare Company veröffentlicht hatte, Stellung bezog. Solche Aufführungstraditionen stuft Peter Brook als "tödliches Theater" ein. Das ist für ihn ein Theater, in dem die Stücke eines Klassikers mit einer beinah religiösen Frömmigkeit betrachtet werden, wodurch, wie Glenn Loney in seinem Buch über die Aufführung von Peter Brook schreibt, ShakespeareAufführungen Kultusdiensten oder Opferfesten ähneln. Bei solchen Aufführungen, speziell von Klassikern, scheinen Theatermacher als auch Zuschauer zu wissen, wie sie aussehen sollten. Sie feiern diese gemeinsame Sicherheit und bestätigen sich in einem solchen Ritual gegenseitig, und betonen somit, dass sie zur kultivierten Schicht der Gesellschaft, zur kulturellen Elite gehören. Die Aufführung von Peter Brook kannte keine Standardelemente dieser skizzierten Tradition: Die Bühne ist ein weißer Raum mit einigen weißen Türen in den Wänden. Es gibt nichts zu sehen, was einem Wald ähnelt. In diesem weißen, leeren Raum (man kann den Titel von Peter Brooks Buch Der Leere Raum buchstäblich erkennen und bekommt zusätzlich ein visuelles Statement zur Kunstauffassung des "White Cube") bewegen sich die Figuren, die zu der magischen Elfenwelt gehören, wie Oberon, Titania und Puck, in sehr farbigen Kleidern auf Stelzen oder Trapezen. Mit diesen Hilfsmitteln können sie ohne viel Mühe und Kraft ganz andere Geschwindigkeiten erreichen als die Figuren, die zur Menschenwelt gehören. Solche Mittel, die Diskrepanzen zwischen den zwei Welten andeuten, betonen, dass man mit anderen Kräften als der Menschenwelt, d.h. mit magischen Kräften zu tun hat. Wenn Puck einen Auftrag von Oberon erledigen muss und sagt, "in drei Viertelstunden bin ich um die Welt herum", sieht man ihn intraditionellen Aufführungen wegrennen, weil die Distanz einer realistisch-illusionistischen Weltumrundung zur Eile zwingt. In dieser Aufführung spaziert Puck sehr ruhig und langsam von der 40
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Bühne. Auch eine solche Diskrepanz zwischen Wörtern und Handlungen unterstreicht wiederum, dass wir hier mit Kräften zu tun haben, die nicht in der menschlichen Welt existieren. Diese Diskrepanz aktiviert die Phantasie des Zuschauers und betont die Eigengesetzlichkeit des szenischen Vorgangs. Kritiker waren sich gar nicht einig über die Bewertung dieser Aufführung. Wie erwähnt listete Antony Price in seiner Besprechung der Aufführungsgeschichte die Verzerrungen, distortions, auf. In diesem Fall war er fassungslos. So ist im Stück von einem Esel die Rede. Hier sieht man keinen Esel. Nur ein Mann mit einer schwarzen Kappe über seiner Nase, so dass er aussieht wie ein Clown, der eine Mütze mit Ohren trägt. "Und eben das ist verteidigt worden", so sagt Price (1983: 20) entsetzt. Ein anderer Kritiker fragte Peter Brook bei einer Aufführung 1971 in New York: "Ich möchte wissen, was passiert ist, mit dem Nebel. Im Stück steht, dass es Nebel gibt, als Puck eine Zauberflüssigkeit in die Augen der Geliebten tröpfelt. [... ] Shakespeare sagt das, wie können Sie das weglassen?" (Loney 1974: 25). Was bei solchen Kommentaren und Bewertungen auffällt ist, dass der Traum von der Schönheit der hohen Kunst, die solche Kritiker im Kopf haben, eine Ästhetik betrifft, wobei das Theater den Text vor allem illustrieren sollte. Auch bei der Royal Shakespeare Company selbst war die von Peter Brook gewählte Ästhetik nicht selbstverständlich. Laut dem Text begegnen Oberon und Titania einander bei Mondschein. Die Beleuchter hatten sich auf die Herstellung der Mondscheinbeleuchtung gefreut. Sie gingen davon aus, dass sie die Illusion eines schönen Mondscheins herstellen sollten, es stand ja im Text. Sie wussten, wie sie diesen Mondschein illusionistisch mit ihren technischen Mitteln realisieren konnten, und waren stolz auf ihre Kompetenz. Als nun gegen ihre Erwartung diese Kompetenzen nicht gefragt waren, beklagten sie sich bei Peter Brook: " Wir haben einen so schönen Mondschein, mit einem blauen Spot hier und einem rosafarbigen Spot dort" (Loney 1974: 73). In ihrer Enttäuschung über die Tatsache, dass ihre Kompetenz nicht benötigt wurde, realisierten sie ebenso wenig wie die oben erwähnten Kritiker, dass Shakespeare in seiner Zeit nicht mehr Mittel zur Verfügung standen, als Peter Brook in seiner Aufführung benutzte. Erstens illustriert das Beispiel, dass Normen im Hinblick auf die Frage, wie Werke aus dem Bereich der hohen Kunst aufgeführt werden sollten, vor allem mit Aufführungstraditionen zu 41
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tun haben und weniger mit der Frage wie Shakespeare oder andere Klassiker selbst ihre Inszenierungen gestaltet haben oder gestaltet haben wollten. Die skizzierten Normen, die die Kritiker von Peter Brooks Aufführung anwandten, haben wenig mit Shakespeares Zeit zu tun. Als kennzeichnend für Shakespeare betrachteten sie die Ästhetik der Aufführungen ihrer Eltern oder Grosseltern. Zweitens muss in Zusammenhang mit diesem Beispiel betont werden, dass, auch wenn wir wissen, wie ein klassischer Autor sein Drama aufgeführt hat, und wir das integral nachahmen und rekonstruieren würden, dies nicht garantiert, dass die gleichen historisch verbürgten Bedeutungen und Wirkungen bei den Zuschauern der Gegenwart hervorgerufen werden. Kulturen aus anderen Jahrhunderten sind aufgrundvon geänderten Referenzrahmen und Kodes für uns "fremde" Kulturen. Es ist also ein Missverständnis zu denken, dass die Bedeutungen und Wirkungen eines Textes die gleichen sind als vor vierhundert Jahren; so sind z.B. die antiken Komödien unter heutigen Gesichtspunkten und Vorstellungen von Komik und Humor nur bedingt "komödiantisch". Drittens betont das Beispiel, dass - anders als in der Theoriewelle in der Theaterwissenschaft der siebziger Jahre gedacht wurde - ein Dramentext, und zwar weder der Haupttext (d.h. der Text, den die Figuren in einer Aufführung sprechen), noch der Nebentext (d.h. die Angaben zum Schauplatz, Auftritt und die Regieanweisungen) die theatralen Aufführungszeichen genügend dokumentiert, um zu wissen, wie eine Aufführung aussehen sollte oder könnte. Das ist vor allem dann nicht der Fall bei den Autoren, die auch Theatermacher waren, wie Shakespeare, Moliere, die Tragödien- und Komödiendichter der Antike, die keine Regieanweisungen hinterlassen haben. Schließlich illustriert die Aufführung von Peter Brook eine Haltung, die gerade im Bereich der Kunst, der Wissenschaft und auch im Bereich der Schule wichtig ist, nämlich, dass das, was in der Welt als normal und selbstverständlich gilt, wie in diesem Fall eine bestimmte Aufführungskonvention, kritisch hinterfragt werden sollte.
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HENRI SCHOENMAKERS & ANDRE STUDT: THEATER IN DER SCHULE
Das Bild vom Theater
Zusammenhängend mit dem Problem der Werktreue ist das Bild von Theater, das die Schule vermittelt oder vermitteln kann. Es ist auch hier völlig vom jeweils Lehrenden abhängig, ob Schüler etwas über moderne Entwicklungen im Theater vermittelt bekommen. Im Theater haben aber in den letzten vierzig Jahren die größten Veränderungen seit 2500 Jahren stattgefunden. In den so genannten postmodernen Aufführungen von Theatermachern wie Jan Fahre, Jan Lauwers (Need Company) oder von Gruppen, wie The Wooster Group, Forced Entertainment oder Rimini-Protokoll ist es nicht mehr selbstverständlich, dass Schauspieler Figuren darstellen, oder allgemeiner, dass fiktive Welten gezeigt werden. Das "Als-Ob" -Merkmal, das seit den 70er Jahren noch als wesentlich für Definitionen von Theater betrachtet wurde (z.B. Paul 1971), ist nicht mehr gültig, um Theater von Nicht-Theater zu unterscheiden. Außerdem ist die Aufhebung von logisch-kausalen Beziehungen zwischen Elementen einer Aufführung, oder eben die Eliminierung einer durchgehenden Narrationsstruktur keine Ausnahme mehr. Ähnliche Entwicklungen haben bereits viel länger im Bereich des Theatertanzes stattgefunden (z.B. Brandstetter 2005). Aber Theatertanz spielt noch weniger als Theater eine Rolle in den Ausbildungssystemen, wahrscheinlich weil es keinen einfach zu konstruierenden Zusammenhang mit dem Bereich der Literatur gibt. In einer aktuellen Forschung über die Frage, warum die Tanztheateraufführungen im Vergleich zu Oper und Schauspiel am Staatstheater Nürnberg quantitativ weniger Publikum anziehen, wurde klar, dass dies damit zusammenhängt, dass die Zuschauer einfach keine Vorstellung von modernem Tanztheater haben. Und das lässt sich wiederum aus der Feststellung erklären, dass diese Theaterform, noch weniger als Thea ter und andere Medien, in der ästhetischen Bildung eine Rolle spielt (Strugholz 2006). Sowohl die Haltung zur Werktreue als auch das Bild vom Theater, das in der Schulgemeinschaft vermittelt wird, bestimmen die Normen, Werte und damit die Erwartungen der Schüler über Theater und beeinflussen das kulturelle Klima in einer Schule. Das gilt sowohl für die kognitive Beschäftigung mit Drama und Theater, als auch für den Spielraum, die die künstlerischen oder angewandten Formen von Theater in der Schule bekommen können.
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Es handelt sich letztendlich um eine Haltung zur Innovation, zu dem Fremden, dem Unvertrauten und dem Selbstverständlichen in der Kultur. Es wäre ein interessantes Forschungsprojekt diesen skizzierten Zusammenhang in Schulen zu analysieren; zum einen aus einer Bestandsaufnahme der verwendeten Bücher und Lehrplaninhalte zum Thema Drama und Theater, zum anderen durch eine konkrete Befragung der Schüler, die sie ihre Konfrontation mit theatralen Künsten und Medien beurteilen lässt.
2. Angewandte Theatralität oder nichtaufführungsbezogene theatrale Handlungen Mit dem Begriff von Angewandter Theatralität (im Englischen manchmal als "Applied Theatre", z.B. Thompson 2003, angedeutet) kann man alle Arten von Projekten bezeichnen, in denen theatrale Mittel zwar wesentlich sind, jedoch das dominante Ziel nicht die künstlerisch-theatrale Kommunikation mit Zuschauern ist. Das wichtigste Problem - zugleich auch einer der faszinierendsten Aspekte der Verwendung von theatralen Mitteln und Formen in einem anderen als ästhetischen Rahmen - ist die einander überlagernde Vielfalt an unterschiedlichen Zielsetzungen und Wirkungen, die mit Theater und theatralen Mitteln realisiert w erden können. Theater kann eine ästhetische Erfahrung auslösen und gleichzeitig Bildungsziele realisieren; theatrale Mittel hingegen können für ganz unterschiedliche Ziele, wie beispielsweise die Förderung sozialer Kompetenz und der Persönlichkeitsentwicklung oder politische Bildung, eingesetzt werden. Hier wäre das gleichzeitige Auftreten von ästhetischer Erfahrung ein Nebeneffekt Angewandter Theatralität kann man sowohl innerhalb als auch außerhalb der Schule begegnen. Im englischen Sprachraum, w o es eine lange Tradition und große Vielfalt im Bereich der Angewandten Theatralität innerhalb der Schule gibt, begegnet man Begriffen wie Educational Drama, Drama and Education, Theatre in Education, Creativ e Drama, Dramatic Education, Developmental Drama, Child Drama und Educational Drama (Landy 1982, in Stimpfig 2006: 11). Außerhalb der Schule handelt es sich bei Angewandter Theatralität zumeist um therapeutische Aktivitäten, z.B. im Psychodrama und Soziodrama, die, seit Moreno solche Anw endungen entwickelte, eine Alternative für die auf Freud basierenden Be-
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handlungsmethoden von traumatischen Erfahrungen bieten. So benutzt die Gesellschaft für Theatertherapie den Begriff Theatertherapie als Dachbegriff für alle szenischen, theatralen und interaktiven Formen, die für therapeutische Ziele verwendet w erden (Stimpfig 2006: 12). Im Geschäftsleben und in der Politik sind Business Theatre, Rollenspiel oder Simulationsspiele populär. Solche Methoden werden für das Training von Verkäufern, Managern oder Diplomaten eingesetzt. Auch wenn es ob der Vielfalt an Literatur über Angewandte Theatralität extreme terminologische Schwierigkeiten gibt, und m an dort unterschiedlichen Begriffen für d as gleiche und den gleichen Begriff für unterschiedliche Aktivitäten begegnen kann, sind im Bereich von Angewandter Theatralität und Schule zwei dominante unterschiedliche Tendenzen zu skizzieren, nämlich Theatre in Education und Drama in Education. Theatre in Education
Theatre in Education existiert in England seit Mitte der sechziger Jahre und wurde schnell populär. Es handelt sich dabei um professionelle oder semi-professionelle Theatergruppen von Actor Teachers. Diese Andeutung betont, dass diese Theatermacher sowohl als Lehrer als auch als Schauspieler ausgebildet sind. Sie organisieren und produzieren Aufführungen, die direkt mit Themen im Leh rplan der Schulen zusammenhängen, und spielen auf der Grundlage einer zuvor gezeigten Aufführung mit den Schülern bestimmte Einzelszenen oder Themen durch. Eine andere Möglichkeit ist, dass die Schüler in der Aufführung selbst mitspielen. Eine Vor- und N achbereitung anhand von speziell für die Schulen entwickelten Materialien gehört zum Standardpaket dieser theatralen Aktivitäten. Die Finanzierung läuft über das Kultusministerium und die lokalen Institutionen, die für Bildung verantwortlich sind (McCaslin 1984: 297). Kennzeichnend für Theatre in Education ist, dass eine Aufführung (mit oder ohne aktiv mitspielenden Schülern) ein integrierender Bestandteil der Aktivitäten ist, sodass jedenfalls nicht nur eine rezeptive und kognitive Beschäftigung mit der Them atik stattfindet, sondern die Schüler sich auch aktiv spielend mit der Thematik und den dazugehörenden Standpunkten beschäftigen. Das Spielen hat zwar kein ästhetisches Ziel, kann aber, wie An-
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thony Jackson (1997) dokumentiert, ästhetische Erfahrungen auslösen. Interessant ist vor allem, dass hier ein ästhetisches Phänomen, eine Theateraufführung, als Mittel und Anlass eingesetzt wird, um eine Reihe anderer Ziele, wie u.a. pädagogische, zu realisieren. Ästhetische Erfahrung wird in dieser Zusammenhang nicht als Begegnung mit Schönheit aufgefasst, sondern als die Konfrontation mit und Erfahrung von neuenEinsichten (Jackson 1997). Drama in Education
Für eine Konferenz der London Teachers of Drama fasste Gavin Bolton die Ziele von Drama in Education, nachdem bereits Jahrzehnte über die genauen Ziele diskutiert worden war, in einigen Thesen zusammen. Drama in Education sollte (1) den Schülern helfen, sich selbst und die Welt in der sie leben zu verstehen; es sollte (2) ihnen helfen, zu verstehen, wie und wann (und wann nicht) sie sich an die Welt anpassen sollten; und es sollte (3) ihnen helfen, das Medium Drama verstehen und genießen zu können (McCaslin 1984: 296). Wie sensibel die Diskussionen in den achtziger Jahren noch waren, zeigt die Tatsache, dass sich die unterschiedlichen Gruppierungen innerhalb Drama in Education in diesen zusammenfassenden Thesen ungenügend erkennen konnten. Diejenigen, die vor allem Persönlichkeitsentwicklung als Ziel sahen, erkannten ihre Ziele nicht genügend, aber auch diejenigen, die politische Ziele anstrebten, sahen sich nicht hinreichend erwähnt. O 'Neill u.a. fassten in dem Buch Drama Guidelines (1976: 7) die Änderungen in den theoretischen und praxisorientierten Diskussionen zwischen den vierzigerund den siebziger Jahren als eine Verlagerung vom Interesse an der persönlichen Entwicklung der individuellen Schüler zur Instrumentalisierung des Dramas als einem didaktischen und pädagogischen Mittel, das am meisten wirksam ist, wenn es in dem Rest des Curriculums integriert ist, zusammen. Er schreibt, "Drama" sei nicht länger als ein Zweig von ästhetischer Bildung, sondern als ein einzigartiges didaktisches Instrument zu betrachten, das wichtig für Sprachentwicklung und unschätzbar in der Exploration von anderen Themenbereichen ist. Auffällig in der angloamerikanischen Literatur ist der dichotomische Zug der Argumentation über Zielsetzungen: Entweder
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gilt die Persönlichkeitsentwicklung als Ziel, oder ästhetische Ziele dominieren; entweder ist das Spiel als Lerninstrument für die Analyse der Gesellschaft, oder als rein didaktisches Instrument in Gebrauch. Anders als in den Diskussionen der angloamerikanischen Organisationen auf dem Gebiet der Angewandten Theatralität und des Schultheaters ist in den Niederlanden, wo viele angloamerikanische Konzepte übernommen worden sind, die Diskussion weniger in Entweder/Oder-Positionen geführt w orden. Der Vielfalt an Möglichkeiten, die die Angewandte Theatralität, inklusive Theater als ästhetisches Phänomen, bietet, wird als wichtig angesehen . Die vierjährigen Ausbildungen für Lehrer im Bereich der Angewandten Theatralität und des Darstellenden Spiels haben demzufolge auch eine sehr breite Orientierung, weil sowohl theatrale Formen, womit künstlerische und ästhetische Zielsetzungen, als auch theatrale Formen, womit didaktische und pädagogische Ziele angestrebt werden, Elemente der Ausbildung sind. Die neueste Analyse der unterschiedlichen Aktivitäten im Bereich der Angewandten Theatralität wurde 2006 von Antje Stimpfig angefertigt. Sie selektierte für ihre Analyse diejenigen Aktivitäten im Bereich der Angew andten Theatralität, die dramatisches Spiel für ihre Ziele einsetzt. Sie hat dazu deutsche, angloamerikanische und niederländische Literatur benutzt und arbeitete zudem noch Resultate von empirischen Forschungen mit ein. Ihr Überblick macht noch einmal klar, wie groß die Vielfalt der Ziele ist, und wie sehr bei dramatischem Spiel als Methode eine Reihe von Zielsetzungen nebeneinander gleichzeitig realisiert werden können. Diese Analysen illustrieren wie wenig notwendig eine Entweder Oder- Diskussion letztendlich ist. Um die Vielfalt an Zielsetzungen zu konkretisieren, werden hier die sieben wichtigsten von Stimpfig (2006: 22-27) erwähnten Kategorien der Zielsetzungen zusammengefasst und mit Beispielen erläutert: • Soziale Ziele beabsichtigen die Förderung der sozialen Interaktion und Integration in einer Gruppe. Es handelt sich dabei zum Beispiel um die Förderung von Einfühlungsvermögen, Gruppenkooperation, Kritikfähigkeit und um die Entwicklung einer Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für sich selbst und andere Menschen. • Persönlichkeitsentwickelnde Ziele richten sich auf die Entfaltung und Unterstützung der individuellen Persönlichkeit. Dabei handelt es sich um die Förderung von Selbstbewusstsein,
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Selbstwertgefühl, Akzeptanz der eigenen Persönlichkeit und von Selbstvertrauen. Ästhetische Ziele können in rezeptive, produktive und reflexive ästhetische Ziele differenziert werden. Mit den produktiven ästhetischen Zielen ist die kreative Handlungsfähigkeit, bei rezeptiven die Förderung der sinnlichen Wahrnehmung und bei reflexiven die Ausbildung des kritischen, d.h. hinterfragenden, abwägenden und interpretierenden, Denkens gemeint. Künstlerische Ziele sind die Ziele, "welche zur Förderung der Auseinandersetzung mit der Kunst und im Speziellen mit dem Medium Theater beitragen sollen". Damit kann auch das "Erlernen des Theaterspielens" (ebd.: 25) gemeint sein. Kognitive Ziele sind die Ziele, die eine "Förderung geistiger Aktivitäten wie Denken, Erkennen und Erinnern als Schwerpunkt besitzen", wie zum Beispiel die "Förderung der Konzentrations- und Aufmerksamkeitsfähigkeit sowie der Motivation" (ebd.: 26). Physische/psychomotorische Ziele sind die Ziele, die sich auf "die Förderung der körperlichen, sowie neuro-muskularen Entwicklung" richten. Dazu gehört auch die "Förderung der Fähigkeit zur geistigen und körperlichen Entspannung, welche zur Stressreduzierung führen kann" (ebd.). Emotionale Ziele sind alle Ziele, "welche zur Förderung der geistigen Befindlichkeit beitragen sollen", zum Beispiel die "Förderung des emotionalen Ausdrucks, wodurch inneres Erleben und Gefühle zum Ausdruck gebracht werden" (ebd.: 27).
Es handelt sich also um eine lange Liste von Zielen und dabei sind hier nur sehr wenige Beispiele der vielen möglichen Teilzielsetzungen erwähnt worden. Auch sind dabei die vielen Methoden, die bei jedem Ziel eingesetzt werden können, außer Acht gelassen. Das würde in diesem Kontext zu weit führen. Allerdings ist aber die Frage nach die Beziehungen zwischen Zielsetzungen und Methoden in Bezug auf die praktischen Anwendungen eine sehr wesentliche, vor allem wenn es darum geht, mehr Klarheit über die Mittel, die Lehrende für bestimmte Ziele einsetzen, zu bekommen. Stimpfig hat dazu in ihrer Arbeit sechs interessante Ausbildungskonzepte aus den Bereichen Psychotherapie, Theatre in Education und Drama in Education analysiert. Für jedes stellt sie den theoretischen Hintergrund, den Aufbau und Ablauf, die ange48
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strebten Ziele und die eingesetzten Methoden vor. Die Zielsetzungen und Methoden hat sie in einer Matrix zusammengefasst, um Übereinkünfte und Unterschiede systematisch feststellen zu können. Die Resultate der Analysen begründen dann detailliert, was Praktiker im Bereich von Angewandter Theatralität intuitiv wissen und erfahren haben, nämlich wie leistungsfähig theatrale Spielformen in Ausbildungs- und Therapie-Kontexten sind. Ein kürzlich von Gabriele Czerny entwickeltes Ausbildungskonzept, die so genannte Safari Methode (2004 veröffentlicht in ihrer Dissertation "Theaterpädagogik. Ein Ausbildungskonzept im Horizont personaler, ästhetischer und sozialer Dimension) ist eben in der Lage, alle der von Stimpfig inventarisierten Zielsetzungen zu realisieren. Erstaunlich ist vor allem, wie viele pädagogische Ziele, zum Beispiel im Bereich der sozialen Kompetenz, Persönlichkeitsbildung, Gesellschaftsanalyse und ästhetischer Kompetenz gleichzeitig in demselben Projekt realisiert werden können. Es ist gerade diese derartige Leistungsfähigkeit von Formen der Angewandten Theatralität, die 1984 in englischen Diskursen dazu führte, dass ein führender Theoretiker wie Gavin Bolton, in seiner Veröffentlichung Drama as Education dafür plädierte, Drama und Theater eine zentrale Rolle in den Ausbildungscurricula der Schulen zu geben, weil mit den Formen der Angewandten Theatralität relativ einfach Beziehungen zu allen Kunst- und Literaturfächern hergestellt werden können. Die Rollen- und Simulationsspiele bieten dazu im Prinzip didaktische und pädagogische Möglichkeiten für alle Schulfächer an. Darum wird die Ausbildung in diesem Bereich auch als ein wichtiges Grundlagenfach für alle Lehrerausbildungen betrachtet. In den Niederlanden waren wenige ausführliche Plädoyers notwendig, um "Drama" eine Rolle in den Ausbildungssystemen zu geben, weil, wie oben angedeutet, die Diskussion viel weniger in Entweder/Oder-Positionen geführt wurde. Nachdem bereits 1957 die erste Fachhochschule in dem Bereich der Angewandten Theatralität gegründet worden w ar, entwickelten alle Theaterfachhochschulen seit den siebziger Jahren, neben den Studiengängen für Schauspieler und Regisseure, auch Studiengänge für Dozenten "Drama und Theater" oder "dramatische Bildung" . Heute gibt es in einem Land, das kleiner ist als Bayern, an sieben Orten vierjährige Ausbildungen für das Kunstfach Theater und für den Bereich der Angewandten Theatralität. Absolventen dieser Institu-
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tionen arbeiten u.a. an den Lehrerausbildungen mit, so dass angehende Lehrer mit den Möglichkeiten und Methoden aus dem Bereich der Angewandten Theatralität vertraut gemacht werden. Vor diesem Hintergrund ist es erfreulich, dass die Pädagogik in Erlangen- gemeinsam mit der Theaterwissenschaft- den Studiengang Darstellendes Spiel entwickeln konnte. Hierin liegt ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Professionalisierung von Lehrern im Bereich des Darstellendes Spiels, wodurch dieser Theaterform eine größere Rolle, bzw. überhaupt eine Rolle in der Ausbildung von Schülern bekommen und eine Erweiterung der nur kognitiven Beschäftigung mit Drama und Theater ermöglichen kann. Ein nächster Schritt wäre die Erweiterung der Lehrerausbildung mit anderen Formen von Angewandter Theatralität in einer Ausbildung Theaterpädagogik Damit könnte eine wichtige Grundlage für die Erweiterung der Kernqualifikationen der Lehrer geschaffen werden.
3. Schultheater Unter Schultheater versteht man die theatralen Aktivitäten innerhalb der Schule, wobei die Schüler als Theatermacher auftreten und die Resultate der Vorbereitungen und Proben in einer Theateraufführung einem Publikum zeigen. Leopold Klepacki hat in seiner Dissertation über Schultheater eine Grundlagenstudie geschaffen, in der die theoretischen Hintergründe, die Diskussionen, Positionen und die Möglichkeiten und Probleme von Schultheater aus einer pädagogischen Sicht analysiert werden (Klepacki 2007). Aus einer theaterwissenschaftlichen Perspektive werden hier zwei Probleme angesprochen: Erstens das Problem von Prozessoder Produktorientierung, welches in der Frage zusammengefasst werden kann, ob der Traum einer pädagogisch sinnvollen Bildung zerstört wird, wenn man die Energie auf das Resultat, d.h. auf eine Aufführung richtet. Zweitens die Frage, was die Zuschauer bei einer Schultheateraufführung grundsätzlich anders als bei einer Aufführung von Theaterprofessionals erfahren und wo hierbei (und für wen) von ästhetischer Erfahrung die Rede sein kann.
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Prozess und ProduktPädagogische versus theatrale Qualitäten
In der Diskussion über das Theater in der Schule ist umstritten, ob man überhaupt eine öffentliche Aufführung als Ziel setzen sollte. Die Gegner einer solchen Zielsetzung haben Angst, dass die pädagogischen Ziele bei einer öffentlichen Aufführung wegen dem künstlerisch-theatralen Leistungsdruck vernachlässigt werden könnten. Vor allem das pädagogische Prinzip der Egalität, dass Schüler, die sich für Aktivitäten im Bereich von Schultheater anmelden, auch alle mitmachen dürfen und sich nicht für eine Rolle mittels auditions bewerben müssen, könnte gefährdet sein, so die Annahme. Wenn die künstlerisch-theatralen Ziele dominant sind, könnte das Risiko entstehen, dass bei der Verteilung der Rollen Schüler bevorzugt werden, die sich in ihren schauspielerischen Leistungen bereits positiv von den anderen unterschieden haben. Nicht die persönliche Entwicklung der Schüler sondern die künstlerisch-theatrale Leistung wäre dann Ziel. Selbst dann gibt es gute Gründe, Prozess und Produkt miteinander zu verbinden. Theater ist Kommunikation zwischen Theatermachern und Zuschauern. Wenn man die Vorbereitung einer Aufführung und die dazu gehörenden Probenprozesse nicht mit einer Aufführung vervollständigt, dann fehlt ein Element, das für Theater wesentlich ist, nämlich die kommunikative Perspektive. Da Theater wegen der multimedialen Qualitäten mehr ist als Schauspieler, die auf der Bühne agieren, gibt es im Prinzip gute Möglichkeiten, viele Interessierte sich an einer Theateraufführung beteiligen zu lassen. Für Dekoration, Beleuchtung, Requisiten etc. braucht man nicht nur Beteiligte, die sich darum kümmern, sondern Teilnehmer, die sich von der Perspektive eines gesamten Werkes dafür einsetzen; nur so schafft man eine Homogenisierung aller Beteiligten, d.h. nicht nur die Leute, die als Schauspieler in den Scheinwerfer stehen, sondern auch diejenigen, die für das Licht sorgen, sind für das Endresultat mitverantwortlich. In der Theaterwissenschaft wird bei Aufführungen in zwei Arten von Kommunikation unterschieden: die interne Kommunikation, d.h. die Kommunikation zwischen den Figuren in der theatralen Welt, und die externe Kommunikation, d.h. die Kommunikation zwischen den Theatermachern und Zuschauern. Das Spielen von Rollen kann, wie bei der Behandlung der Angewandten Theatrali-
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tät klar wurde, sehr wohl für pädagogische, soziale und andere kontextuelle Ziele eingesetzt werden. Man spielt dann Rollen, um beispielsweise die verbalen und non verbalen Kommunikationsfähigkeiten oder das Empathievermögen zu fördern, oder um Haltungen, Ideologien und Konflikte von einer Innenperspektive zu verstehen und zu analysieren. Wie bereits betont, ist Theater nicht das Spielen von Rollen, sondern das Zeigen von Objekten und Handlungen vor einem Publikum, um damit eigene Erfahrungen und Einsichten kommunizieren zu können. Viele Mittel, wie Dekor, Kostüm, Beleuchtung, Requisiten funktionieren vor allem, oder manchmal eben nur, in der externen Kommunikation, der Kommunikation zwischen Theatermachern und Zuschauern. Figuren agieren sowohl in der internen als auch in der externen Kommunikation. Diese Beziehung zwischen interner und externer Kommunikation ist ein wesentlicher Bestandteil der Dramaturgie. Nur wenn wir wissen, dass Jago Othello gegenüber lügt, entsteht eine Spannung in der externen Kommunikation, die in der internen nicht existiert, weil die Zuschauer anders als Othello wissen, was die wahre Intention von Jago ist. Othello hat keine Ahnung. Auf dieser Weise entsteht eben bei jedem Satz und bei jeder freundlichen Geste von Jago eine Spannung in der externen Kommunikation. Schauspielen im Rahmen einer Aufführung ist nicht nur das Annähern einer Rolle. Es ist vor allem die Präsentation der Schlussfolgerungen über die Rolle und der Analyse ihrer Funktion im Ganzen der theatralen Mittel. Die Ausrichtung auf eine Aufführung ändert den Fokus während der Probenarbeit. Diese Ausrichtung führt zum Beispiel zu der Frage, wie man mit den Mitteln des Theaters Interesse und Spannung, Aussagen über die Wirklichkeit, Wirkungen und Interpretationen hervorrufen kann. Dieser Fokus bedeutet aber auch, dass man sich als Produktionsteilnehmer - und hier ist es nicht wesentlich, ob man die Hauptrolle spielt, die Dekoration baut oder für die Beleuchtung zuständig ist - als Teil eines Ganzen verstehen sollte. Es ist dieses Ganze, in dem erst Theater als kommunikatives Phänomen zwischen Theatermacher und Zuschauern entsteht. Und die Zuschauer dieses Ganzen sind das entscheidende Kriterium, um bestimmen zu können, ob die intendierten Wirkungen und Bedeutungen tatsächlich als Kommunikation gelungen sind. Ohne eine Aufführung wäre das, was wesentlich für Theater als Kommunikationssystem ist, nicht zu realisie-
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ren. Die Ausrichtung auf eine Aufführung ändert also die Probenarbeit, weil dauernd die Frage auftaucht, was man mit Hilfe der Handlungen und Objekte auf der Bühne bei den Zuschauern erreichen möchte. Damit bekommen die Vorbereitungen und Proben für eine Theateraufführung eine andere Qualität als das Spielen einer Situation, um sich einen Text anzunähern, um gesellschaftliche Verhältnisse und Konflikte besser verstehen zu können oder um andere Ziele aus dem Bereich der Angewandten Theatralität zu realisieren. In A Midsummer Night's Dream können wir sehen, wie sich die Handwerker, die die schreckliche Geschichte von Pyramus und Thisbe einstudieren, um diese letztendlich am Hof in Athen zu zeigen, vom Anfang an der kommunikativen Zielsetzung des Theaters bewusst sind. Dauernd diskutieren sie über die möglichen Effekte und Wirkungen der theatralen Mittel, d ie zu ihrer Auswahl stehen. Wenn einer der Handwerker einen brüllenden Löwen spielen muss, machen sie sich Sorgen, dass die Frauen im Publikum Angst bekommen könnten. Anstatt nun die theatralen Mittel zu ändern, entscheiden sie sich, in einem Prolog zu erzählen, dass der Löwe gar kein Löwe ist sondern nur einer der Handwerker, vor dem man keine Angst zu haben braucht. Sie nehmen als selbstverständlich an, dass die Wirkungen und Effekte, die die Gestalten in der externen Kommunikation bewirken, die gleichen sind wie in der internen Kommunikation. Für Thisbe und für Pyramus ist der Löwe ein tatsächlicher Löwe, die Wand eine tatsächliche Wand, die laut Pyramus "zwischen ihres Vaters und meinem Grund steht". In der externen Kommunikation ist es jedoch eine (mehr oder weniger kreative) Darstellung eines Löwen oder einer Wand. "Dieser Lehm, dieser Putz und dieser Stein zeigen, dass ich jene Mauer bin", so erklärt der Handwerker Schnauz diesen semiotischen Wandlungsprozess (V.l). Auch der Selbstmord von Pyramus könnte Schrecken erwecken, so meinen die Handwerker, wenn die Zuschauer denken, dass er richtig tot sei. In dem Prolog sollte darum auch erwähnt werden, dass Pyramus gar nicht tot ist, bzw. derjenige, der dort als Pyramus erscheint, gar nicht Pyramus ist, sondern Zettel der Weber. Das Interessante des AMidsummer Night's Dream - und darum kann das Stück als ein Diskurs über Theater und die Kreativität der Theatermacher betrachtet werden - ist, dass die Reaktionen der Zuschauer am Hof ebenso grundsätzlich unterschiedlich sind, 53
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wie die Kritiken bei Peter Brooks A Midsummer Night's Dream. Hippolytas Schlussfolgerung nach dem Auftreten der Wand ist kurz und hart (V.l.): "Dies ist das albernste Zeug, das ich je gehört habe". Theseus aber erwidert: "Das Beste in dieser Art sind nur Schatten; und das Schlechteste ist nichts Schlechteres, wenn ihm die Phantasie nachhilft." Hippolyta gehört offenbar zu denjenigen, die meinen, dass das Theater sehr große Ähnlichkeiten mit der Wirklichkeit aufweisen sollte, um überzeugend wirksam zu sein. Theseus aber glaubt, wie William Shakespeare und Peter Brook, an die Macht des Theaters, die Phantasie auf der Seite der Zuschauer zu aktivieren. Für unsere Diskussion ist wesentlich, dass es einen Fokus braucht, auf den die Theatermacher andauernd ihr Nachdenken über die möglichen Effekte und Wirkungen des Ganzen konzentrieren, um die Ausrichtung auf eine Aufführung von Aktivitäten im Bereich der Angewandten Theatralität zu unterscheiden. Ästhetische Erfahrung im Schultheater
Was erfahren Zuschauer bei einer Schultheateraufführung anders als bei einer Aufführung von (professionellen) Schauspielern? Die Antwort hierauf könnte für Diskussionen über die Frage, ob bei Schultheater-Zuschauern von ästhetischer Erfahrung die Rede ist oder sein kann, wichtig sein. Bei einer Schultheateraufführung ist natürlich der Rahmen grundlegend verschieden: Die Zuschauer wissen, dass sie es mit einer Schultheater-Aufführung zu tun haben. Hinzu kommt, dass sie Beziehungen mit den Produzenten oder Auftretenden haben. Und gerade diese Beziehungen bewirken eine Änderung in der Wahrnehmung und Erfahrung, wodurch zu erwarten ist, dass vor allem die Involvementprozesse, die während einer Schulaufführung stattfinden, anders ablaufen als bei einer Aufführung von Professionals. Bei Involvementkonzepten in Dramen- und Aufführungstheorien begegnet man meistens der (zu wenig reflektierten) Hypothese, dass bei Aufführungen nur von Identifikation mit der Hauptfigur, mit dem Helden, die Rede ist. Auch wenn diese Hypothese fragwürdig ist, weil während der Rezeption unterschiedliche Formen von Involvement und auch Wechsel der Identifikationsfiguration festgestellt werden konnten (Schoenmakers 1989), kann man vermuten, dass im Schultheaterbereich Involvement mit den
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Schauspielern und mit den Produzenten dominieren wird. Und: Je besser die Mitschüler, die Eltern oder die Verwandte diese jungen Theatermacher kennen, desto stärker wird dieses Involvement sein. Auch diese Problematik lässt sich mithilfe des A Midsummer Night's Dream illustrieren, wenn wir die Handwerker nicht als fiktive Figuren, sondern, wie Theseus und die andere Zuschauer am Hof, als reale Personen betrachten. Wir als Zuschauer sehen dann, wie die Handwerker die Geschichte von Pyramus and Thisbe proben und später am Hof aufführen. Wir generieren ein Interesse daran, wie sie die Probleme, diese Tragödie zu inszenieren, zu bewältigen versuchen. Wir werden fasziniert von den Diskrepanzen zwischen den von den Handwerkern gewählten theatralen Mitteln, den von ihnen erwarteten und den von uns als Zuschauer erlebten Effekten. Und wir freuen uns darauf, die tatsächlichen Reaktionen des Publikums am Hof in Athen zu sehen. Unser lnvolvement wird wenig, oder vielleicht gar nicht, auf die Figuren in der fiktionalen Welt der Geschichte von Pyramus und Thisbe gerichtet sein, sondern nur auf die Handwerker selbst und ihre Gedanken über eine zutreffende Ästhetik des Theaters. Auf ähnliche Weise kann man erwarten, dass die Zuschauer bei Schultheater ein starkes lnvolvement mit den jungen Theatermachern erfahren. Eine solche Wahrnehmungshaltung kann zu heftigen Emotionen führen, die im professionellen Theater höchstens bei Bekannten und Kollegen auftreten werden. Man wird zum Beispiel bei einer Premiere Spannungen erfahren, sobald eine für den uns bekannten Schauspieler schwierige Szene kommt. Dies sind Emotionen, die mit der Realität der Aufführungssituation zu tun haben, und die danach mit Emotionen, die von der Ebene der fiktionalen Welt verursacht wurden, vermischt werden können (Schoenmakers 1992). Dazu kommt, dass Eltern, Schüler oder Bekannte die Schauspieler oder Produzenten in anderen sozialen Rollen erleben, womit sie noch nicht oft konfrontiert worden sind. Eine solche Konfrontation mit einer anderen sozialen Rolle oder einem unbekannten Aspekt einer bekannten Rolle kann einen Schock und eine Erneuerung der Wahrnehmung von etwas Vertrauten bewirken. Es ist nicht unmöglich - je nach Art der Aufführung -, dass man nach einer Vorstellung eine Person, die man gut zu kennen glaubte, plötzlich anders wahrnimmt. Schließlich hat die ästhetische Er55
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fahrung des Schultheaters, verglichen mit der im professionellen Theater erlebten, mit den Qualitäten der Rollen und der fiktionalen Welt zu tun. Bei Schultheater sehen wir auf der Bühne das Resultat von intensiven Konfrontationen der Schüler mit Welten, Themen und Figuren, mit denen sie noch nicht häufig auf dieser Weise kognitiv, emotional, körperlich und motorisch konfrontiert worden sind. Konfrontationen mit Themen wie Liebe, Liebeskummer, die Unzuverlässigkeit von Verliebtheit (A Midsummer Night's Dream; As You like it), wie man mit Geld moralische Auffassungen und Haltungen von Menschen beeinflussen kann (Der Besuch der alten Dame), wie Identitäten von einer sozialen Umgebung bestimmt werden können (Andorra), um hier nur einige der im Schultheater viel aufgeführten Stücke zu erwähnen, werden physisch, körperlich und in Interaktionen dargestellt. Wir werden als Zuschauer mit realen Menschen konfrontiert, die ihre Kreativität einsetzen, um mit den Mitteln des Theaters diese Konfrontationen und Themen für die Zuschauer zu gestalten. Bildungsprozesse werden im Schultheater sozusagen künstlerisch theatral erfahrbar gemacht und können so eine ästhetische Erfahrung auslösen. Wie bei den Handwerker des A Midsummer Night's Dream sind es nicht, oder nicht vor allem, die fiktionalen Welten, sondern die Realität der Änderung der Wahrnehmung der Schüler und die Gestaltung ihrer neuen Einsichten und Erfahrungen, die die ästhetische Erfahrung bewirken. Beim professionellen Regietheater handelt es sich natürlich auch nicht, oder nicht nur, um die Vorführung und spielerische Organisation von fiktionalen Welten, sondern um die Sichtbarmachung einer Haltung zu oder die Interpretationen von diesen Welten. Bei Schultheater kommt aber noch dazu, dass auch ein Bildungsprozess der Schüler in der Aufführung thematisiert wird und für die ästhetische Erfahrung mitverantwortlich ist. Das muss Konsequenzen auf die Regie von Schultheater hinsichtlich einer adäquaten und homogenen Berücksichtigung der Haltungen und Interpretationen aller Beteiligten, d.h. Schüler wie Lehrer, haben (vgl. Liebau u.a. 2005). Diese Vermutungen über eine Dominanz von Involvement auf der Ebene der realen Menschen, der aktiven Theatermacher, und nicht auf der Ebene der Figuren, und die damit zusammenhängenden ästhetischen Erfahrungen, sind bis jetzt nur theoretische Annahmen. Über die tatsächliche Rezeption von Zuschauern bei Aufführungen von Professionals wissen wir sehr wenig. Noch 56
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weniger wissen wir über die Rezeption von Schultheater-Aufführungen. Hier liegen klare Aufgaben für die theaterwissenschaftliche Forschung.
Epilog Es ist faszinierend, wie groß und wesentlich die Lerneffekte in allen Ausbildungsdimensionen sein können, wenn Theater und Bildung zusammen gebracht, theatrale Mittel für pädagogische Ziele eingesetzt werden und Schüler selbst als Theatermacher auftreten. Dabei sind Formen des Darstellenden Spiels, Schultheater, Creative Drama, Rollenspiel alles effektive Mittel, um die in den Schulen traditionellen Unterscheidungen zwischen Kognition, Emotion und Motorik in Lernprozessen aufzuheben. Spielend, darstellend oder mit theatralen Mitteln kommunizierend ist man gezwungen zu denken, zu fühlen und zu handeln. Es ist dabei notwendig, dass man sich mit den Gedanken, Haltungen, Emotionen und Selbstdarstellungen von Anderen auseinandersetzt Intensiver noch als ein auf rotem Plüsch sitzender Theaterzuschauer ist man hierbei gezwungen, sich mit anderen Menschen, und damit mit anderen Kulturen, anderen Referenzrahmen und anderen gesellschaftlichen Hintergründen zu beschäftigen. Spielend, darstellend und künstlerisch-theatral kommunizierend bekommt man u.a. Erfahrungen mit Konflikten, ihrer Struktur und möglichen Lösbarkeit, Verständnis für andere Haltungen, Normen und Werte, Einsicht in emotionale Wirkungen, die bestimmte Verhaltensweisen oder Aktivitäten auslösen können, Erfahrungen mit Verständigungsprozessen in unserer komplexen Gesellschaft, u .s.w. Wenn Jugendliche sich zudem mit theatral-kommunikativen Fragen, wie man die Mittel des Theaters einsetzen kann, um ihre Einsichten und Erfahrungen für Zuschauer erfahrbar zu machen, auseinandersetzen, kommen zusätzlich noch künstlerisch-theatrale Kompetenzen dazu, wie mit der Präsentation von Handlungen und Objekten in Raum und Zeit, Emotionen, Haltungen, Einsichten vermittelt werden können. Künstlerisch-theatral tätig sein, ist außerdem der schnellste Weg Kompetenz zu erwerben, um auch als Zuschauer die benutzten Theatermittel analysieren zu können und so zu verstehen, wie die Theatermacher Mittel einsetzen, um auf der Zuschauerseite bestimmte Wirkungen zu erzeugen. In der Bildungssituation des Schultheaters thematisieren und kommuni-
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zieren die Schüler nicht allein die theatrale Welt, sondern gleichzeitig - ohne sich diesem Umstand bewusst zu sein - ihren eigenen Bildungsprozess. Es ist diese Kombination, die die einzigartigen Qualitäten der ästhetischen Erfahrung im Schultheater bestimmt. Meistens spüren die Schüler gar nicht, wie viel sie dabei lernen, da eine solch aktive Beschäftigung mit Rollen, gesellschaftlichen Situationen und Problemen der Darstellung wenig mit der traditionellen Idee von Lernen im Sinne von Gedächtnistraining und Reproduktion von Kenntnissen zu tun hat. Eine größere Bedeutung des Schultheaters würde tatsächlich eine andere Lernkultur schaffen, wobei die Schule mehr eine Werkstatt wäre, ein Ort des Experiments, ein Ort, an dem man sich in Sirnutationen mit der Wirklichkeit auseinandersetzt, ein Ort, an dem man lernt, mit theatralen Welten die eigene innerliche Welt der Träume und Erfahrungen mitzuteilen oder über die äußere Welt, die so genannte Realität, zu kommunizieren und dabei Gefühle und Haltungen erfahrbar zu machen. Eine größere Rolle für ästhetische Bildung allgemein und für den Einsatz von theatralen Mitteln als Teil davon würde eine neue Lernkultur in Schulen schaffen. Ob das nur ein schöner Traum über Bildung bleibt, ist einerseits eine bildungspolitische Angelegenheit, anderseits eine Sache der Lehrer, die nicht ihre individuelle Auffassung über Schönheit als das, was gelehrt und gelernt werden soll, dominieren lassen, sondern bei sich und anderen die Freiheit zulassen, die Schönheit von Bildungsprozessen zu entdecken, wobei die Schüler ihre Träume, Erfahrungen und Konfrontationen mit der Welt darstellen dürfen.
Literatur Bolton, Gavin (1979): Towards a Theory of Drama in Education, London: Longman. Bolton, Gavin (1984): Drama as Education, London: Longman. BrandsteUer, Gabriete (2005): Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin: TdZ, Recherchen Bd. 26. Brogt, Janin (1976): Dramatische Vorming in het Amsterdamse Onderwijs, Amsterdam: Boekmanstichting. Brook, Peter (1969): The empty space, New York: Athenaeum. Courtney, Richard (1987): Dictionary of Development Drama, Springfield: Charles C. Thompson.
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HENRI SCHOENMAKERS & ANDRE STUDT: THEATER IN DER SCHULE
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Peter Bubmann & Georg Langenhorst
"Und ist doch rund und schön" Gottes(t)raum und Lebenskunst
Matthias Claudius (1740-1815)
Abendlied 1 1.
Der Mond ist aufgegangen Die goldnen Sternlein prangen Am Himmel hell und klar; Der Wald steht schwarz und schweiget, Und aus den Wiesen steiget Der weiiSe Nebel wunderbar. 2. Wie ist die Welt so stille
Und in der Dämm'rung Hülle So traulich und so hold! Als eine stille Kammer, Wo ihr des Tages Jammer Verschlafen und vergessen sollt. 3.
Seht ihr den Mond dort stehen? Er ist nur halb zu sehen, Und ist doch rund und schön! So sind wohl manche Sachen, Die wir getrost verlachen Weil unsre Augen sie nicht sehn. "So traulich und so hold!" - Geht es um das süße Jenseits, um die regressive Sehnsucht nach dem Heilen und Ganzen, sobald die
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Text nach Görisch 1998: 120-122.
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Theologen die Bühne betreten? Kommt nun also der ästhetische Kitsch zu seinem Recht? "Und ist doch rund und schön!" - Zumindest aus heutiger Sicht steht fest, dass dies dem gegenwärtigen wissenschaftlichen Kenntnisstand nicht entspricht: zerklüftet und von Kratern übersät ist sie, die Mondoberfläche. Zeugnis von kosmischen Katastrophen: Einschläge von Himmelskörpern, Ergebnis unvorstellbarer Verschmelzungen und Explosionen. Der Verdacht liegt nahe, die Theologen träumten wieder einmal von "rund und schön" statt das "Kantige und Hässliche" zu sehen. Müsste also - zumind est für uns heute - d as gehörte Lied nicht viel schräger daher kommen, vielleicht mit Tritonus-Begleitung? 2 Nicht "rund und schön" also. Aber: Matthias Claudius ist in diesen vermeintlich so gut bekannten Versen viel kritischer als vielfach angenommen. Bei genauem Hinsehen wird deutlich: Der Dichter liest der Aufklärung die Leviten. 3 Das, was wir naturwissenschaftlich feststellen und erkennen, das, was vielen als einzig wahre Bildung gilt, ist höchstens die halbe Wahrheit. Denn das Wesentliche ist mit den Augen allein nicht zu sehen. Der Poet betreibt Wissenschaftskritik Und er verweist auf eine Herzensbildung, die hinter die Dinge blickt und ihre Tiefendimension erschließt. Das Runde und das Schöne sind Chiffren dafür. Die ästhetischen Kategorien erinnern die Wissenschaft daran, dass Bildung mehr ist als die Anhäufung verifizierbaren Wissens. Das Ästhetische ist Platzhalter einer im Zeitalter der rationalistischen Wissenschaft abgedrängten Weisheit, einer Weisheit als Weltwahrnehmung und Lebenskunst Und diese Kunst der Weisheit ist etwas völlig anderes als die Luftgespinste der eitlen Szientisten, wie auch schon Matthias Claudius wusste:
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Im Vortrag wurde an dieser Stelle eine solche schräge, im TritonusAbstand (= übermäßige Quart) im Chor gesetzte Fassung des Liedes eingespielt. Vgl. Reich 2003: 382 u. 385f. u. Grözinger 1991: 10-12 u. 15. Grözinger (1991) verwendet das Mondlied von Matthias Claudius zusammen mit anderen Liedern und literarischen Texten, um im Eingangsteil seiner großen Studie über "Praktische Theologie und Ästhetik" den Zusammenhang von Ästhetik und Theologie aufzuzeigen. Er resümiert, die Theologie könne von der Dichtung lernen und im Blick auf sie "ihre eigenen Defizite erkennen" (Grözinger 1991: 26). Diesem Lerninteresse sind auch wir verpflichtet.
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& GEORG LANGENHORST: "UND IST DOCH RUND UND SCHöN"
4. Wir stolzen Menschenkinder Sind eitel arme Sünder, Und wissen gar nicht viel; Wir spinnen Luftgespinste, Und suchen viele Künste, Und kommen weiter von dem Ziel.
Wir wollen uns von Matthias Claudius anregen lassen, die Wahrnehmung neu zu elementarisieren, also auf das Wesentliche auszurichten. Und dazu bringen wir als Theologen - wie schon Matthias Claudius - die Gottesperspektive hinein in die Auseinandersetzung um Ästhetik und Schönheit (vgl. Lüthi 2005). Wir tun dies, weil der Versuch der Wahrnehmung Gottes zugleich eine neue Wahrnehmung der Welt und unseres Lebens bedeutet. Ästhetische Bildung zielt in religiöser Perspektive auf die Kunst der Gotteswahrnehmung und darin auf eine erneuerte Lebenskunst. 4 Wir behaupten, ästhetische Bildung sei ohne diese religiöse Perspektive unvollständig, nur halb zu sehen. Deshalb fragen wir nach dem Beitrag, den die Theologie in den Diskurs über ästhetische Bildung einbringen kann. Zuvor jedoch wollen wir ansatzweise klären, welchen Stellenwert die ästhetische Bildung innerhalb religiöser Bildungsprozesse einnehmen kann und soll. Wir konzentrieren uns dazu auf vier w esentliche Grundmodi religiöser Erfahrung.
1. Vier ästhetische Grundmodi der religiösen Erfahrung: Hören, Sehen, Träumen, Lesen Wir gehen grundsätzlich davon aus, dass der Weg der Gotteserfahrung in erster Linie ein ästhetischer ist, ohne dass ästhetische und religiöse Erfahrung unmittelbar identisch wären. In dieser Voraussetzung konvergieren zahlreiche neuere ästhetisch-theologische Ansätze. 5 Unser Verständnis von Ästhetik geht dabei 4
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Zum Verhältnis von Gotteswahrnehmung und Lebenskunst sowie zur Rezeption des Lebenskunst-Begriffs in der Praktischen Theologie vgl. Bubmann 2004: 104-108. Als Übersichten zum Verhältnis von Praktischer Theologie und Ästhetik vgl. Altmeyer 2006 u. Grözinger 1999; von denneueren Konzeptionen hebt etwa Joachim Kunstmann (2002, 2003) stärker auf die 63
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nicht primär von einer Theorie des Kunstwerks oder des künstlerisch Schönen aus, sondern von einem spezifischen Modus der Erfahrung und der Gestaltung von Welt und Leben (vgl. Altmeyer 2006; Bubmann 2002: 508ff.; Langenhorst 2005: 214ff). Stellt man den Begriff der "ästhetischen Erfahrung" ins Zentrum ästhetisch-theologischer Überlegungen, liegt der Vorteil darin, dass hier sämtliche Aspekte des Ästhetischen in den Blick kommen (vgl. Grözinger 1991: 122-131): "als sinnliche Erkenntnis, als Kunstproduktion und -rezeption, als Gestaltung der Alltagswelt und herausgehobenes ,Werk', als Verhalten und Wahrnehmung" (ebd.: 123). Gemeinsam ist diesen Aspekten der besondere Bezug auf die Form eines Wahrnehmungs- und Kommunikationsprozesses. "Das heißt: in ästhetischer Erfahrung ist die Inhaltsfrage als Formfrage präsent; darin besteht das Unterscheidende ästhetischer Erfahrung gegenüber den anderen Formen menschlicher Erfahrung" (ebd.: 124). Ästhetisches Wahrnehmen und Handeln wird demnach als ein solches verstanden, bei welchem sinnliche Eindrücke sich zu Formwahrnehmungen verdichten, die wiederum zu emotional fundierten Urteilen hinsichtlich der "Stimmigkeit" und Qualität der Formgestalt anregen. In der ästhetischen Theorie werden daher meist drei Grunddimensionen ästhetischer Erfahrung unterschieden: die rezeptive (Aisthesis), die produktive (Poiesis) sowie die kommunikative Dimension (Katharsis). Auf den Bereich ästhetisch-religiöser Erfahrungen angewandt: Es geht zunächst um die Wahrnehmung der vorgängigen Offenbarungen Gottes; dann darum, diese Erfahrungen auszudrücken, ihnen Gestalt zu geben; schließlich um die Weitergabe und kommunikativ-diskursive Kritik solcher ästhetisch gewonnenen Erfahrungen. Zentral für diese religiösen Erfahrungen sind dabei die Wahrnehmungsprozesse des Hörens und des Sehens. Beides fließt zusammen im inneren Sehen und Hören in Gestalt des Träumens. Diese Wahrnehmungsprozesse werden gefiltert, gebündelt und in der Heiligen Schrift kodifiziert und finden so in Schreiben und Lesen eine zentrale Grundform der Fixierung und Weitergabe. Erst aus faszinierenden Gottesvisionen und Gottesauditionen erwächst dann auch die ethische Seite der monotheistischen ReliIdentität von ästhetischer und religiöser Erfahrung ab, während Wilhelm Gräb (1998) und Albrecht Grözinger (1991) - auf je unterschiedliche Weise - von einer Analogie beider Erfahrungsweisen ausgehen, die ihre jeweilige Eigenart zu wahren sucht.
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gionen: Lebenskunst - theologisch verstanden als gottgefällige Gestaltung der eigenen Freiheit - ist angewiesen auf die "Gotteskunst" (Nicol 2002: 237) der sinn(en)haften Begegnung mit dem Gott der Bibel.
Das Hören verbindet uns mit der Welt und birgt uns in dem, was uns "gehört". Andererseits vernehmen wir durchs Gehör den Ruf, der uns aus der vertrauten Lebens-Welt herausreißt, ursprünglich das warnende Signal des nahenden Feindes, später die Stimmen von Propheten und Künstlern. Hören hat also einerseits zu tun mit Beheimatung und Sesshaftigkeit, mit bekannten und vertrauten Klängen. Und es hat andererseits zu tun mit Herausrufung (also Exodus), mit den fremden ungewohnten, womöglich schrillen Tönen. Beheimatung wie Exodus, beide sind archaisch mit dem Hörsinn verbunden, während das Sehen eher auf Bemächtigung (also auf Landnahme) zielt. Die Augen erfassen flächig das Sehfeld, "scannen" prüfend-objektivierend, nehmen etwas "scharf in den Blick" oder verschaffen sich "Überblick". Das Hören ist demgegenüber zunächst an die zeitliche Struktur der eintreffenden Schallereignisse gebunden und somit der eigentliche Zeit- und Vergänglichkeitssinn. Und: Wer hört, liefert sich dem von Außen Kommenden aus und lässt etwas an sich geschehen. Das Hören bewahrt einen teilnehmenden Erkenntnismodus, ein Wahrnehmen als Ergriffensein, als Beteiligung und Mitgehen. Wollte man nun die biblische Frömmigkeit auf ein einziges Wort verdichten, so böte sich sofort das "Hören" an (vgl. Zenger 1998). Nach gesamtbiblischer Lehre ist es Gott, der uns die Ohren öffnet. Sein Heiliger Geist ist ein Ohrtrichter und Hörlehrer: Er lehrt uns, recht zu hören und intensiviert das Hören. "Die Ohren hast du mir aufgetan" heißt es in Ps 40,7. Und bei Jes 50,4 findet sich die Vorlage für Jochen Kleppers Lied: "Alle Morgen weckt er mir das Ohr, daß ich höre, wie Jünger hören. Gott der Herr hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück" (vgl. Jochen Klepper; EG 452,1 nach Jes 50,5). Woher rührt diese Konzentration auf das Hören? Die wichtigste Begründung liegt im biblischen Gottes-Verständnis. Jahwe wird 6
Vgl. zum Folgenden: Bubmann 2005: 9-12 (z.T. wörtlich übernommen) u. Bubmann 2006: 27f.
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als der sich geschichtlich je neu seinem Volk Offenbarende erfahren: Er lässt sich nicht in Bildern fixieren, sondern wird durch seine Worte vernommen. Er redet mit Mose und mit Propheten. Er wird als das Wort, der Iogos schlechthin, Fleisch in Jesus Christus. Die christliche Theologie erweitert dieses redend-kommunikative Gottesverständnis trinitarisch. So kann bei Augustin der Heilige Geist in der innertrinitarischen Kommunikation als Hörender erscheinen. Insbesondere Martin Luther unterstreicht, dass das Wort Gottes gehört werden will, um wirksam zu werden. Deshalb betont er den Vorrang der mündlichen Verkündigung vor dem Lesen. Im glaubenden Hören hängen wir an Gott und strecken uns zu ihm aus. Die Ohren sind daher für Luther die eigentlichen Sinneswerkzeuge eines Christenmenschen - ganz im Sinne des Paulus, der in Röm 10,17 betont: Der Glaube kommt aus dem Hören des Evangeliums. Auch in der Tradition zeitgenössischer katholischer Entwürfe der Systematischen Theologie wird dieser Aspekt hervorgehoben. Der Jesuit Peter Knauer gibt seiner 1978 erschienenen einflussreichen "ökumenischen Fundamentaltheologie" nicht zufällig den Titel "Der Glaube kommt vom Hören". Das Hören zu schärfen und einzuüben- es ist so ein erster zentraler Vollzug religiöser Bildung. Neuere theologische Überlegungen setzen stärker phänomenologisch bei allgemeinen Hör-Erfahrungen des Heiligen an: Resonanzen, Stimmungen und Atmosphären gelten als Medien ursprünglicher religiöser Erfahrung. Der evangelische Religionspädagoge Joachim Kunstmann fordert daher eine "Praktische Theologie des Gehörs" (2003) und wendet sich dem Hörsinn besonders zu. Das spezifisch Religiöse dieser Hör-Phänomene liegt im Vorgang der "Empfänglichkeit". Man wird allerdings präzisieren müssen, was hier genau empfangen wird. Dazu soll im Folgenden zwischen einem kultisch-priesterlichen, einem weisheitlieh-gesetzlichen und einem prophetischen Hören unterschieden werden (vgl. Bubmann 2005: 12). • Das kultisch-priesterliche Hören bindet in Ritual, Verkündigung und Gebet in ursprüngliche Lebenszusammenhänge ein und stiftet heilsamen Kontakt zum Grund des Lebens. Wir hören Vertrautes und gewinnen so Vertrauen ins Leben. Es ist dies ein einstimmendes und zustimmendes Hören.
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Im weisheitlieh-gesetzlichen Hören werden die heilsamen Weisungen zum guten Leben aufgenommen (also die Tora Gottes). Und das Ohr ist ein wichtiges Organ, um die Lebenskunst zu erlernen, um die Strukturen gelingenden In-der-Welt-Seins wahrzunehmen, also sich Weisheit zu erwerben. Mit biblischen Worten: "Bist du bereit zu hören, so wirst du belehrt, neigst du dein Ohr, erlangst du Bildung" (Jes Sir 6,33). Hören ist also auch ein Traditions-Sinn: Das Althergebrachte und Bewährte wird erzählt, vertraute Klänge geben Heimat und verbinden die Menschen. Und das noch Unbekannte wird durch Hinhören erschlossen. Das Gehör ist ein Lern-Organ. Zusammen mit den Augen dienen die Ohren dem Erwerb von Orientierungswissen. Religiöse Bildung zielt zu einem guten Teil auf solches Orientierungswissen. Schließlich reißt uns das prophetische Hören heraus aus dem Gewohnten. Wir sind ganz Ohr, weil uns das ganz Andere, das Neue zugerufen wird. Das Gehör ist auch religiös gesehen ein Warnorgan. Das Hören erinnert uns daran, dass unser Leben nicht so bleiben kann, wie es ist. Wir sind herausgerufen zum neuen Sein. Die Eintönigkeit unserer Selbstverkrümmung und Entfremdung wird transzendiert, endzeitliche Klänge und Zwischentöne werden als "Vorspiel der Ewigkeit" vernehmbar. "Hört, dann werdet ihr leben" -so ruft der Prophet Jesaja (Jes 55,3). Denn im Hören erschließt sich die Welt neu und öffnet sich die Perspektive des Reiches Gottes.
Zwischen diesen drei Hör-Modi, d.h. zwischen priesterlichem Beheimatungshören, Weisheitliehern Lern-Hören und prophetischem Aufmerken bestehen Spannungen. Doch diese Spannungen sind Teil der geschichtlichen Dynamik jüdischer wie christlicher Religion. Jeder Hör-Modus hat seinen eigenen Kairos. Zu manchen Zeiten ist besonders das prophetische Hören gefordert, zu anderen das weisheitliehe oder priesterliche. In jedem Fall aber gilt: Hören ist ein wesentlicher Grundvollzug ästhetisch-religiöser Bildung.
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Sehen
Gewiss kommt der Glaube vom Hören. An die Seite des Hörens tritt jedoch das Sehen. Auch hiervon legt die Bibel beredtes Zeugnis ab, buchstäblich von der allerersten bis zur allerletzten Seite. Nur einige wesentliche Textbausteine einer biblischen Theologie des Sehens können hier in Erinnerung gerufen werden. • Da enden die Beschreibungen der einzelnen Tage des Siebentägigen Schöpfungswerkes wieder und wieder mit dem bestätigenden Gütesiegel: "Gott sah, dass es gut war" (Gen 1). • Doch nicht nur Gott sieht, auch die Menschen, und zwar ebenfalls von Anfang an: Was war die erste Wahrnehmung, der erste ästhetische Grundvollzug nach dem Sündenfall? "Sie sahen, dass sie nackt waren" (Gen 3,7). • Menschen sehen aber nicht nur einander, sondern auch - freilich nur indirekt, in Symbol oder Gleichnis - Gott: Bei seiner Berufung zum Propheten sieht Mose den brennenden Dornbusch (Ex 3,3), aus dem sich ihm Gott offenbart. • Ein Sprung ins Neue Testament: Petrus, Jakobus und Johannes -die drei zentralen Jünger Jesu- sehen mit ihren eigenen Augen, wie Jesus verklärt wird (Mk 9). • Nach seinem Tod "erschien" er seinen Jüngern, sie konnten ihn sehen, so ist in mehreren Texttraditionen bezeugt. • Im die Bibel abschließenden Buch der Offenbarung schließlich "sieht" der Verfasser "einen neuen Himmel und eine neue Erde" (Off 21,1). Viele weitere Perikopen könnten diese erste Sichtung ergänzen und ausdifferenzieren, wichtiger ist an dieser Stelle jedoch eine Bündelung von Grundzügen. Zentral für die biblischen Vorgaben für die Gottesbeziehung sind folgende Punkte: • Die Bibel bezeugt in breiter Vielfalt, dass das Sehen zu den Grundmodi der Gotteswahrnehmung gehört: Epiphanien, Verklärungen, prophetische und apokalyptische Visionen stehen für diese Tradition. Wahrnehmen lernen als sehen lernen gehört so zu den Grundformen ästhetisch ausgerichteten religiösen Lernens. • Freilich: An keiner Stelle gehen Bibel oder kirchliche Tradition so weit zu behaupten, Gott ließe sich mit dem Sehsinn tatsächlich ganz und gar erkennen, objektiv und erschöpfend erfas-
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sen, sozusagen "einscannen" und dadurch dingfest machen. Das Sehen Gottes bleibt immer unter jenem "eschatologischen Vorbehalt", den Paulus im Brief an die Gemeinde in Karinth so benannt hat: "Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht" (1 Kor 13,12). Nur so lässt sich erklären, warum die katholische w ie die lutherische Tradition innerhalb des Dekalogs eines der dort genannten - ursprünglich nicht nummerierten- ethischen Weisungen nicht eigens zählen: "Du sollst dir kein Gottesbild machen" (Ex 20,4). Diese beiden Traditionen fassen besagtes Einzelverbot in das Gesamtgebot "Du sollst neben mir keine anderen Götter haben". Damit machen sie klar, dass im Bild nicht Gott selbst aufscheint oder angebetet wird. In sakraler Kunst sehen wir nicht direkt auf das Göttliche. Es ist menschliche Kunst, in der sich Verehrung, Sehnsucht, Wunsch ausdrückt. Diese Klärung ist vor allem deshalb bedeutsam, weil sie in zwei anderen christlichen Traditionen so gerade nicht gilt: Sowohl die reformierte als auch die orthodoxe Tradition setzen bis heute auf eine andere Zählung der 10 Gebote. Dort zählt das Bildnisverbot als eigenes, dadurch grundlegend aufgewertetes Einzelgebot - numerisch erkauft durch die Zusammenlegung anderer Gebote, um die mnemotechnisch angeratene, im Text selbst aber noch nicht enthaltene Zehnzahl zu erhalten. So wichtig also ist ihnen das Sehen, freilich in entgegensetzter Wendung: Die reformatorische Tradition deutet das Ansehen von Kunst als Ablenkung vom Göttlichen, als Abweichung vom allein zählenden Wort; die Orthodoxen feiern das- recht verstandene- Sehen als direkten Weg der Gotteserkenntnis. Das Sehen als Weg der Gotteserkenntnis: Bis heute ist es umstritten. Religionspädagogisch gewendet: In zwei Weisen ist das Sehen den genannten Traditionen folgend eine Grundform religiösen Lernens. Zum einen gilt es, die Wirklichkeit zu sehen und die Wahrnehmung zu schärfen für die Welt- in ihrer Schönheit, aber auch in ihrem Elend. Eine umfassende W irklichkeitswahrnehmung bleibt Grundlage allen Lernens, auch des religiösen. Neben die Wahrnehmung von Wirklichkeit tritt freilich die Wahrnehmung von Möglichkeit. Zur Klärung des Verhältnisses dieser beiden Dimensionen hilft der Blick auf eine w eitsichtige 69
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Unterscheidung von Robert Musil. Am Beginn seines zweitausendseitigen Jahrhundertromans "Der Mann ohne Eigenschaften" (Musil1987, entstanden: 1930-43) stellt er eine Forderung auf, ohne deren Einlösung Literatur, Poesie - aber auch, von Musil unbenannt, Religion - undenkbar wären: "Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben". Zunächst, so Musil, benötigen alle Menschen den "Wirklichkeitssinn" - "und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat" (ebd.: 16). Wirklichkeitssinn, das ist ein Gespür für die Wahrnehmung und Deutung von Fakten, Tatsachen, Empirie. Dieser erste zu fördernde Sinn ist jedoch nur Grundlage für das, was das einzigartig Besondere von Literatur (und Religion) ausmacht. Musil nennt dies den "Möglichkeitssinn". Damit bezeichnet er die Fähigkeit, "alles, was ebensogut sein könnte" wie das Bestehende, "zu denken, und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist". Das so benannte, fiktiv erahnte Mögliche könne man - so Musil weiter in erstaunlich theologischer Begrifflichkeit- sogar "die noch nicht erwachten Absichten Gottes" nennen, denn es habe "etwas sehr Göttliches in sich, ein Feuer, einen Flug, einen Bauwillen und bewussten Utopismus, der die Wirklichkeit nicht scheut, wohl aber als Aufgabe und Erfindung behandelt" (ebd.). Gerade das sensible Hören und visionäre Sehen dessen, was sein könnte, was möglich wäre, zeichnet also den Möglichkeitssinn aus. Das Sehen w eitet sich also über das rein empirisch Erfassbare hinaus in den Bereich von Visionen. Hubertus Halbfas, einer der wichtigsten katholischen Religionspädagogen unserer Zeit, gab deshalb seinem symboldidaktischen Grundlagenwerk den sprechenden Titel "Das dritte Auge" (1997, zuerst 1982). Darum geht es religionspädagogisch: Sehen lernen mit den zwei Augen, in aller Klarheit und Weitsicht, aber daneben auch das "dritte Auge" zu schulen, jenes symbolisch benannte anderer Organ, das die andere, die verborgene Wirklichkeit und darüber hinaus den Kosmos der Möglichkeiten erschließt. Symbolisch-bildlich gesagt: Es gibt sie, die Rückseite des Mondes. Unsere zwei Augen werden diese nie sehen, aber vielleicht unser drittes Auge.
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Träumen
"Denn einmal redet Gott und zweimal, man achtet nicht darauf. Im Traum, im Nachtgesicht, wenn tiefer Schlaf auf die Menschen fällt, im Schlummer auf dem Lager, da öffnet er der Menschen Ohr und schreckt sie auf durch Warnung, um von seinem Tun den Menschen abzubringen, den Hochmut aus dem Manne auszutreiben, seine Seele vor dem Grab zu retten, sein Leben davor, in den Todesschacht hinabzusteigen." (Hiob 33,14-18) Wenden wir diese Stelle aus dem Buch Hiob positiv, dann meint sie: Auch Träume können zum Leben helfen, sie sind ästhetische Medien der Rettung und der Reinigung. Zugespitzt formuliert: Gelingende Lebenskunst bedarf solcher Träume. Die Bibel ist voll von Zeugnissen, wie Menschen durch Träume neu den Blick für Gott gewonnen haben oder ihr Verhalten in eine menschenfreundlichere Richtung gelenkt haben. Jakob träumt von der Himmelsleiter und den Engeln, die darauf auf und nieder steigen (Gen 28,10ff.). Im Traum erhält er die traumhafte Verheißung, Stammvater eines großen Volkes im eigenen Land zu werden. Der Traum präformiert die nachfolgende Geschichte Israels. Er schafft in der Imagination einen Möglichkeitsraum, einen Gottesraum, der darauf wartet, betreten zu werden. Natürlich kann man diese Phänomene auch psychologisch erklären: Unterbewusstes, Sehnsüchte und Ängste formieren sich in Traumbildern, archetypische Vorstellungen steigen auf. Für das religiöse Denken manifestieren sich in solchen Träumen jedoch zugleich "psychoexterne Wirklichkeiten" Oosuttis 2002: 220). "Träume sind in diesem Verständnis nicht einfach innere Produkte des Träumenden, sondern Inspirationen, die sich dem Einfluss göttlicher oder dämonischer Mächte verdanken, und Exkursionen, die in transzendente Räume und Zeiten führen" (ebd.). Wer nicht zu träumen wagt, beschneidet den eigenen Lebenshorizont. Deshalb sieht die Bibel im Träumen ein Zeichen der endzeitliehen Begabung durch den Heiligen Geist: "Eure Söhne und Töchter werden Propheten sein, eure Alten werden Träume haben, und eure jungen Männer haben Visionen" Ooel3,1). Träu-
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mengehört zur Bildung, zur religiösen allemal. Das gilt im wörtlichen wie im übertragenen Sinn: Wach-Träume einer besseren, gerechteren Welt sind die Grundlage des gesellschaftspolitischen Engagements. Ohne sie gibt es keine Zukunftshoffnung. Kann man das lernen? Träumen als Lernfeld ästhetischer Bildung? Vielleicht, indem man es überhaupt als Möglichkeit der Bildung zulässt und Räume dafür öffnet. Und das Deuten von Träumen übt. Dass das gelegentlich sogar nützlich fürs Leben und karrierefördernd sein kann, beweisen die biblischen Erzählungen von den Traumdeutungen des Josef (Gen 40f.)! Lesen
Wie aber vermittelt man Gehörtes, Gesehenes, Erträumtes? Einerseits durch Erzählen und künstlerisch-symbolische Verschlüsselung. Im Rahmen der monotheistischen Religionen - und nicht nur dort - hat sich jedoch primär eine andere ästhetische Form durchgesetzt: die schriftliche Fixierung, das Verfassen heiliger Bücher, die gelesen und gedeutet werden. Das Christentum beruft sich im Kern auf die Inkarnation, die Fleischwerdung Gottes; vermittelt wird diese Überzeugung aber im Buch, in der Bibel. So sehr man im Kern christlicher Theologie von Inkarnation reden darf und muss, so sehr tritt dem eine Inlibration an die Seite. Gott ist Mensch geworden - aber darf man im selben symbolischanalogen Sprachspiel nicht auch sagen: Gott ist Buch geworden? Inkarnation und lnlibration bleiben aufeinander verwiesen. Der Glaube kommt vom Hören und Sehen, aber eben häufig zentral auch vom Lesen. "Der Mensch ist zunächst [...] ein Lesewesen. Ein Homo legens." So lautet zumindest die Grundthese des in Würzburg lehrenden evangelischen Theologen und Romanciers Klaas Huizing (*1958) im ersten Band seines kreativen Entwurfs zu einer "Ästhetischen Theologie", im Jahr 2000 vorgelegt unter dem Titel "Der erlesene Mensch. Eine literarische Anthropologie". Der Mensch ein Lesewesen, wieso das? Nun, Literatur, dieses "alte, sehr langsame Leitmedium", bietet nicht nur "Identifikationsangebote, nährt die Phantasie und schult die Wahrnehmung", sondern ermöglicht darüber hinaus "prägnante und profilierte Erlebnisse, in denen sich die Tiefe des Lebens ausdrückt'' (Huizing 2000: 46). Der Mensch als geistiges Wesen, als geistliches Wesen,
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als spirituelles Wesen ohne Schulung, Erfahrung und Praxis im Lesen - undenkbar! Ästhetische Bildung im Sinne von religiöser Bildung kann also gar nicht anders, als die Lesefähigkeit der Menschen zu schulen. Die Bibel etwa ist ja beides zugleich: Zentrales Zeugnis der Weltliteratur und Glaubenszeugnis. Theologie und Literaturwissenschaft, Religion und Dichtung - sie sind vielfach miteinander verknüpft. Die Herausforderung dieses Spannungsverhältnisses (vgl. Langenhorst 2005) kann hier nur angedeutet werden. Mit einem Beispiel, das die Traditionslinie von dem Gedicht des Matthias Claudius auszieht in unsere Gegenwart. Denn immer noch und wieder ganz neu dichten sich Lyriker an die Rätselhaftigkeit Gottes heran. Immer noch und wieder ganz neu sind Bibel, Religion und Gottesfrage zentrale Bereiche zeitgenössischer Literatur. Man kann zumindest im Blick auf den deutschen Sprachraum geradezu von einer "Renaissance des Religiösen in der Gegenw artsliteratur" reden (vgl. Langenhorst 2006). Zur Veranschaulichung sei hier nur ein kleines aktuelles Beispiel angeführt, ausgewählt auch aufgrund des regionalen Bezugs. Peter Horst Neumann (*1936) -ein emeritierter Erlanger Literaturwissenschaftler - wagt den Spagat: Er ist seit mehr als zehn Jahren auch selbst als Literat, als Lyriker hervorgetreten. In seinen Gedichtbänden kommt dem Bereich der Religion immer wieder Beachtung zu, vor allem im Bezug auf biblische Motive. Das wurde schon im Titel der Gedichtsammlung "Pfingsten in Babylon" (1996) und in dort aufgenommenen Gedichten deutlich, zeigt sich aber bis hin zum bis dato letzten Gedichtband "Was gestern morgen war" (2006). So etwa meditiert Neumann über Schöpfung und Apokalypse in dem Band "Auf der Wasserscheide" (2003: 14). Vom siebenten Tag
Am siebenten hat er sich schlafen gelegt, jenseits erreichbarer Orte am Rande der Zeit das Fragment sich selbst überlassen. Sechs Tage Mühe, die Kräfte erschöpft.
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Manchmal an einem Frühlingstag denk ich: jetzt schlägt er die Augen auf, ausgeruht und den lange genug überschlafenen Plan im Gedächtnis, will er' s vollenden. In selbstverständlicher Aufnahme der mythologischen Vorgaben des Siebentagewerks der priesterschriftlichen Schöpfungserzählung setzt dieser in kargen, ruhig verharrenden Versen gesetzte Text einen ungewöhnlichen Gedanken in den Mythos hinein: Gottes Ruhen, seine geschlossenen Augen am siebenten Tag öffnet den Raum für seine Schöpfung. Das irdische Leben, es ist nur Produkt der vorübergehenden göttlichen Er-Schöpfung; die Welt in Zeit und Raum nur ein sich selbst überlassenes "Fragment" im Moment des göttlichen Schlafes. Apokalypse, Vollendung, Erfüllung des Schöpfungsplan - all dies ist dann der Augenblick des göttlichen Erwachens, des Augen Öffnens, des Sehens und sich seines Planes Erinnerns. Lesen, in der Bibel, den Schriften der religiösen Tradition, der Literatur - es gehört als zentraler Bestandteil zu den Grundvollzügen religiösen Lernens.
2. Religiöse Bildung und Ästhetik Der Beitrag der Ästhetik zu Religion, Theologie und Religionspädagogik
Bildung in theologischer Perspektive soll Menschen dazu anleiten, in allen Dimensionen des Lebens ihrer Bestimmung, also ihrer Freiheit als Geschöpfe Gottes, gerecht zu werden. Es geht um die Kunst, das eigene Leben zu gestalten, ihm eine vor Gott, vor den Mitmenschen, vor sich selbst und vor der Umwelt verantwortbare Form zu geben. Für diese Kunst der Lebensgestaltung sind ästhetische Prozesse zentral. Bildung als freie Entfaltung des Menschen ist angewiesen auf ästhetische Wahrnehmung, auf Sinn-Imaginationen, auf das Andenken und Ausprobieren von noch nicht realisierten Möglichkeiten, auf spielerische und künstlerische Kreativi-
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tät, auf rituelle, festliche und liturgische Verdichtungen des Lebens. Das gilt im Besonderen für die christlich-religiös motivierte Lebenskunst und Bildung aller Konfessionen. Der Gott der Bibel hat sich eben durch symbolisch-kulturelle Vermittlungsprozesse in die Welt inkarniert, ist also auch nur in solchen Prozessen erschließbar. Glaube, re-ligio als Letztbindung und christliche Freiheit entwickeln sich deshalb in der zumindest in Ansätzen möglichen Wahrnehmung Gottes und seines Wirkens (Aisthesis), in der Vorstellung und gestaltenden Darstellung des eigenen Gottesbildes und seiner Konsequenzen für die Lebenskunst (Poiesis), schließlich in der freien, interpretierenden und wertenden Kommunikation über diese Formen von Wahrnehmung und Gestaltung in der Gemeinschaft von Glaubenden und Gottsuchenden (Katharsis). Seit etwa 20 Jahren hat die Religionspädagogik erkannt, welch zentrale Bedeutung der ästhetischen Bildung im Rahmen religiöser Lernprozesse zukommt. Vor allem in den symboldidaktischen Ansätzen von Hubertus Halbfas auf katholischer und Peter Biehl auf evangelischer Seite werden diese Aspekte betont, sie gehören inzwischen zum Grundbestand von Religionsunterricht und Gemeindearbeit. Die drei Hauptaufgaben einer ästhetischen Religionspädagogik kann man dabei wie folgt benennen (vgl. Hilger 2001; Bitter 2002): • Wahrnehmungsschulung: Kinder, Jugendliche und Erwachsene sollen sensibilisiert werden für symbolisch vermittelten Offenbarungen Gottes und die kulturellen Darstellungsformen des Glaubens. Geschult am Umgang mit allen Formen der Künste sollen sie die Chancen ausloten, die umfassenden Dimensionen von Wirklichkeit und Möglichkeit zu erkennen und zu erspüren. Weil religiöse Sinndeutungen heute vielfach in die alltagskulturellen Symbolisierungsprozesse ein- bzw. ausgewandert sind, benötigen wir eine Didaktik der religiösen Kommunikation, die sich bewusst den lebensweltlichen Phänomenen der Symbolisierung von Sinn und Religion zuwendet. Nur so werden fruchtbare korrelative Lernprozesse auch im Blick auf die tradierten Symbole und Zeugnisse möglich. • Anleitung zur eigenen ästhetischen Gestaltung: Kinder, Jugendliche und Erwachsene sollen befähigt werden, eigene Erfahrungen von Begrenzung und Weite, von Sinn und Möglichkeit ausdrücken zu können in Sprache, Geste, in symbolischer und
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künstlerischer Gestaltung. Die Auseinandersetzung mit den Künsten kann hierzu erneut anregen. Entwicklung eines kritisch-ästhetischen Urteilsvermögens: Kinder, Jugendliche und Erwachsene sollen schließlich befähigt werden, mit Sinnangeboten und Symbolwelten kritisch eigenständig umzugehen und sich über ihre Wertungen austauschen zu können.
Der Beitrag der theologischen Ästhetik zur allgemeinen Ästhetik
Wir behaupten: Der ästhetische Diskurs bleibt halbiert, wenn er sich nur an die sichtbare Mondhälfte hält. "Nun aber laß uns ganz hinübertreten in die Welt hinein die monden ist" - so formuliert es Rainer Maria Rilke im poetischen Bild.7 Als Theologen erinnern wir daran, dass der ästhetische Weg der Erkenntnis das vordergründig Sichtbare und Hörbare überschreitet. Es sind darüber hinaus einige besondere Perspektiven, die wir in den allgemeinen ästhetischen Diskurs einbringen wollen: Theologische Ästhetik unterstreicht, dass all unser Wahrnehmen und Gestalten zunächst vom Empfangen lebt. Wir sind Wesen der Empfänglichkeit, Geschöpfe Gottes, wie wir in der Sprache des Glaubens sagen. Wir erschaffen die Welt nicht neu aus dem Nichts, sondern sind zur Gestaltung des Empfangenen beauftragt. Unsere Kreativität ist immer schon geschenkte. Der Gestus der ästhetischen Selbsterschaffung ist uns daher fremd. Wir halten ihn auch für eine Illusion. Wir werden nicht erst zu Menschen dadurch, dass wir uns ästhetisch stilisieren. Wir sind immer schon Menschen, weil wir von Gott als solche geschaffen, berufen und begabt sind. Das entlastet und befreit. Durch ästhetische Wahrnehmung, durch Spiel und künstlerische Gestaltung müssen wir den Menschen nicht erfinden oder erst schaffen. Er ist schon gefunden und darf daher mit Lust seine Sinne gebrauchen und sich kreativ entfalten. Theologische Ästhetik schärft den Endlichkeitssinn: Unser ästhetisches Wahrnehmen und Gestalten geschieht im Raum des Vorletzten, nicht des Letzten. Damit ermöglicht der theologische Blick, Abstand von sich selbst zu gewinnen, sich nicht über Ge7
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Im Gedicht "Vergiss, vergiss und lass und jetzt nur dies ... " (Rilke 1996: 432).
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bühr ernst nehmen zu müssen und führt daher zu Gelassenheit. Unser ästhetisches Sein und Handeln muss nicht immer rund und schön sein, vollendet und perfekt. Damit meinen wir gewiss nicht einen Freibrief für künstlerische Laxheit und Zweitklassigkeit (die es im Bereich der Kirche ohne Zweifel gibt). Aber diese Gelassenheit hilft dazu, über den eigenen Perfektionsansprüchen nicht zu verzweifeln. Und diese Gelassenheit überlässt Gott das letzte Urteil über das schöne Leben und erwartet von ihm die letzte Vollendung des fragmentarischen Seins. Das öffnet den Raum für vielfältige ästhetische Möglichkeiten, für plurale Verstehensweisen des Schönen und der Lebenskunst Die Theologie hilft hier gerade zur Entideologisierung des ästhetischen Diskurses. Das betrifft auch die ästhetischen Ausdrucksformen des Glaubens. Sie sind keine letzten Wahrheiten, sondern irdische Mitteldinge, Adiaphora. In der Kulturdenkschrift der EKD "Räume der Begegnung" aus dem Jahr 2002 heißt es: "Kein Zeichen von Gott, kein Wort, kein Symbol, kein Bild, keine Musik kann endgültig und zureichend sein, wiewohl es ohne solche Zeichen keine Darstellung von Gott gibt. Wer von Gott nicht schweigen will, setzt sich dieser Dialektik aus. Jede Gotteserfahrung artikuliert sich in kulturellen Formen, die der Gotteserfahrung nicht gerecht werden. [...] Deshalb ist jede protestantische [und wir dürfen ergänzen: jede christliche] Selbstthematisierung vorläufig. Sie sucht immer wieder neu nach adäquaten Ausdrucksweisen" (Kirchenamt der EKD 2002: 35). Letztgültige Wahrheiten erschließen die Werke der Kultur nicht, wohl aber ganz eigenartige, spannungsvolle, interpretationsbedürftige Artikulationsformen von Gotteserfahrung. Kaum überraschend also, wenn eine vom Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz herausgegebene Arbeitshilfe über "Kunst und Kultur in der theologischen Aus- und Fortbildung" auch für den katholischen Bereich postuliert: "Theologen, Katecheten und Religionslehrer müssen in die Lage versetzt werden, verantwortungsbewusst mit künstlerischen Fragestellungen und Entscheidungen umzugehen." Konkret gefordert wird etwa die "Auseinandersetzung mit kunsttheoretischen wie philosophisch-ästhetischen Grundlegungen" (Sekretariat 1993: 19).
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Doch nachgefragt: Birgt die allgemein zu beobachtende Wende zur Ästhetik als aktuell zentraler Bezugswissenschaft der Theologie nicht die Gefahr in sich, die ethische, die soziale, die politische Dimension zurückzudrängen? (vgl. Höhn 2003) Dass diese Gefahr besteht, lässt sich kaum übersehen. Gerade deshalb gilt es, die Verschränkungen nachdrücklich zu betonen: Die theologische Ästhetik ist weiterhin bezogen auf ethische Rahmenbedingungen des Menschseins. Sie wird daher Fragezeichen setzen hinter Formen von Kunst und Kultur, die nur den Reichen nützen oder den Status quo ungerechter Gesellschaftsverhältnisse abstützen oder vernebeln sollen. Die vorrangige Option für die Armen gilt aus theologischer Sicht auch für den Bereich ästhetischer Bildung! Wo das Ästhetische lediglich das Deckmäntelchen einer ansonsten brutal segmentierten Leistungs- und Auslesegesellschaft darstellt, wird theologische Ästhetik die scheinbare Unschuld ästhetischer Tätigkeit hinterfragen und die Fragen nach der Schuld der Beteiligten stellen müssen. Und dies, damit es nicht auch vom Feld der ästhetischen Bildung heißt: "Wir spinnen Luftgespinste I und suchen viele Künste, I und kommen weiter von dem Ziel." Schließlich und vielleicht am wichtigsten: Theologische Ästhetik motiviert zur Schärfung der Sinne für das Verborgene und ganz Andere. Wer mit Gottes Wirken in der Welt rechnet, geht aufmerksamer durchs Leben. Und wer in der Hoffnung lebt, dass unser unvollkommenes Leben durch Gottes Wirken schließlich rund und schön wird, lebt fröhlicher seine Tage, weil er oder sie nicht mehr hilflos der eigenen Eitelkeit ausgeliefert bleibt. Geschöpfliehe Empfänglichkeit, Endlichkeitssinn, Gerechtigkeitsorientierung und fröhlich-gelassene Aufmerksamkeit für Gottes Geisteswirken in der Welt - das sind die theologischen Tugenden der Ästhetik. Matthias Claudius fasst dies poetisch in die Zeilen der fünften Strophe seines Abendliedes: Gott, lass uns dein Heil schauen, Auf nichts Vergänglichs trauen, Nicht Eitelkeit uns freun! Lass uns einfältig werden, Und vor dir hier auf Erden Wie Kinder fromm und fröhlich sein!
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Identität und Ästhetik
Einleitung Seit den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts sind der menschliche Körper und die Ästhetik zu einem zunehmend wichtigeren Thema in den Sozialwissenschaften geworden. Die Verknüpfung von Körper und Ästhetik ergibt sich dadurch, dass der menschliche Körper als ästhetisch-sinnliches Wahrnehmungsorgan und als sinnlicher Ausdruck der Ästhetik in den Blick der Aufmerksamkeit gerückt wird. Dies geschieht unter Rückgriff auf den älteren Begriff der "Aisthesis", der sich auf die sinnliche Wahrnehmung und die menschlichen Sinne bezieht. Damit geht eine Ausweitung des Verständnisses von Ästhetik einher, indem Ästhetik aus der Eingrenzung auf den Bereich der Kunst herausgelöst und als eine grundlegende Dimension des Menschen und seiner Lebenswelt überhaupt verstanden wird (Böhme 2001; Welsch 2003). Die verstärkte sozialwissenschaftliche Beschäftigung mit den Themen Körper und Ästhetik steht in einem Zusammenhang m it der These, dass in der westlichen Gegenwartsmoderne Körper und Ästhetik einen starken Bedeutungszuwachs erfahren haben, eine These, die mal als Kulturkritik, mal als bloße Feststellung und mal mit deutlich positiver Bewertung vorgetragen wird. Das neu (und wieder) erwachte Interesse der Sozialwissenschaften am m enschlichen Körper und an der Ästhetik eröffnet ein erweitertes Verständnis von der Identität des Menschen, d avon also, wie und als was der Mensch sich selbst und andere Menschen wahrnimmt und welche Vorstellungen er von sich und anderen Menschen entwickelt. Der Rückblick auf die Geschichte westlicher Gesellschaften lässt die durchgehende (und sich zugleich wandelnde) Bedeutung von Körper und Ästhetik für die Identität der Menschen deutlich werden. Das gleiche gilt für den historischen und aktuellen Kulturvergleich mit nicht-westlichen Gesellschaften. Vor diesem Hintergrund ist die verbreitete These,
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dass die Aufwertung von Körper und Ästhetik ein spezifisches Charakteristikum der westlichen Gegenwartsmoderne darstellt, deutlich zu relativieren. Die durch die systematische Berücksichtigung von Körper und Ästhetik erweiterte Perspektive auf die menschliche Identität ermöglicht eine erweiterte Betrachtung der Sozialisations- und Bildungsprozesse und des Wechselverhältnisses zwischen der subjektiven Kultur der Menschen und der von ihnen hervorgebrachten objektiven Kultur. Daraus ergibt sich ein Brückenschlag zu den Kulturwissenschaften und deren spezifische Gegenstände und Themenstellungen und zu den Künsten. Die folgenden Ausführungen behandeln den Zusammenhang zwischen Körper, Ästhetik und Identität in systematischer und historischer Perspektive. In einem ersten Abschnitt wird dieser Zusammenhang zunächst auf einer grundsätzlichen Ebene dargelegt und an einem Beispiel der bildenden Kunst veranschaulicht. In einem zweiten Abschnitt werden der historische Wandel der ästhetisch-körperlichen Ausdrucks- und Wahrnehmungsformen menschlicher Identität aufgezeigt und wichtige Tendenzen der Gegenwartsmoderne herausgearbeitet. Zum Abschluss wird mit einigen Hinweisen exemplarisch verdeutlicht, welche Bedeutung die bildende Kunst für die Behandlung des Verhältnisses von Körper, Ästhetik und Identität hat.
1. Systematische Grundlagen Personale Identität
Die menschliche Identität, die in Absetzung zu der den Dingen und Lebewesen zugewiesenen Identität, als personale Identität bezeichnet wird, bezieht sich d arauf, als was und w ie der Mensch von sich selbst und seinen Mitmenschen erfahren wird und welche Bed eutung ihm durch sich selbst und seine Umwelt zugeschrieben wird. In diesem Sinne bildet die menschliche Identität als Selbst- und Fremdverständnis oder als Selbst- und Fremdidentifizierung eine grundlegende Voraussetzung für das menschliche Dasein und das menschliche Zusammenleben (Luckmann 2003). Dieses allgemeine Verständnis von der menschlichen Identität ist zu unterscheiden von den verschiedenen Ausprägungen, die die Identität in unterschiedlichen Kulturen und historischen Epochen annimmt, und zwar auf der Ebene kultureller Diskurse und nor-
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mativer Konzepte und auf der Ebene der personalen und soziokulturellen Praxis und Erfahrung. Personale Identität wird dann verstärkt zu einem gesonderten Thema, wenn sie ihre implizit vorausgesetzte Selbstverständlichkeit verliert. Unter Berücksichtigung der einschlägigen Identitätstheorien (Abels 2006) und auf der Grundlage lebensweltlicher Rekonstruktionen lassen sich für den vorliegenden Zusammenhang die folgenden (für westliche Gesellschaften) zentralen Aspekte personaler Identität benennen. Die personale Identität betrifft zum einen die eigene Person (Selbstidentität) und zum anderen die Identität der Mitmenschen (die Identität der Anderen). Der Mensch ist Subjekt von Identitätsbestimmungen, indem er sich selbst und anderen eine Identität zuweist und er ist Objekt von Identitätsbestimmungen, indem ihm von seinen Mitmenschen eine Identität zugewiesen wird. Die Entwicklung der Identität begründet sich auf der Fähigkeit des Menschen, sich zum Objekt seiner selbst machen und sich darüber aus der (angenommenen oder erfahrenen) Perspektive der Mitmenschen wahr nehmen und auf diese ausrichten zu können. Die personale Identität des Menschen ist als ein Prozess und als eine zu bewältigende Aufgabe zu verstehen und umfasst ein dreifaches miteinander verknüpftes Vermittlungsverhältnis: das Selbstverhältnis, das Person-Umwelt-Verhältnis und das biographische Verhältnis. Identität vollzieht sich als ein Selbstverhältnis, indem der Mensch sich mit seiner Selbstwahrnehmung, seinen Bedürfnissen, Normen und Selbstidealen auseinandersetzt Sie vollzieht sich zugleich als ein Person-Umwelt-Verhältnis, indem er sich auf die Personen, Situationen und Gruppenzusammenhänge seiner sozialen Lebenswelt ausrichtet und sich mit deren Erwartungen und Vorstellungen und Identitätszuweisungen auseinandersetzt Und sie realisiert sich als ein zeitlich-biographisches Verhältnis, indem Identität einem biographischen Wandel unterliegt, während dessen sich der Mensch mit der hinter ihm und vor ihm liegenden Lebensgeschichte auseinandersetzt Personale Identität enthält eine individuelle Komponente, durch die der Mensch als Einzelperson ausgewiesen ist und wahrgenommen wird (persönliche oder individuelle Identität) und sie enthält eine allgemeine Komponente, in der die Zugehörigkeit zu Gruppen und Gemeinschaften und Organisationen sowie die Einnahme sozialer Rollen (soziale oder kulturelle Identität) zum Ausdruck kommen. Die Bestimmungen oder Vorstellungen von
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Identität (die der eigenen Person und die anderer Personen und Gruppen) haben immer einen (mehr oder minder) vorläufigen, tentativen und virtuellen Charakter und werden durch Erfahrungen bestätigt, modifiziert oder auch gänzlich widerlegt. Körper und Ästhetik haben eine grundlegende Bedeutung für die auf die eigene Person und auf andere Personen bezogene Identität. Der Zusammenhang zwischen Identität, Körper und Ästhetik besteht in doppelter Hinsicht. Zum einen vollzieht sich dieser Zusammenhang über das Körper- und Sinnengebundene Verhältnis des Menschen zu sich selbst, zu seinen Mitmenschen und zu seiner Biographie. Zum anderen stellt es sich über die ebenfalls Körper- und Sinnengebunde Beziehung des Menschen (und seiner subjektiven Kultur) zur objektiven Kultur her. Hierbei kommt den Künsten eine herausragende Bedeutung zu. Sie behandeln zu einem großen Teil (besonders deutlich die bildende und darstellende Kunst, aber natürlich auch auf etwas weniger sinnliche Weise die Dichtkunst)' das Thema der menschlichen Identität im Hinblick auf Körper und Ästhetik. Zugleich stellen die Vorgänge der Sinnen- und Körpergebundenen Produktion und Rezeption von Kunst Bildungsprozesse dar, die erhebliche Auswirkungen auf die personale Identität haben. Die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren sich auf den ersten Aspekt. Dabei wird auch auf den zweiten Aspekt eingegangen, indem Beispiele aus der Malerei zur Verdeutlichung des Zusammenhangs von Körper, Ästhetik und Identität herangezogen werden. Körper und Ästhetik
In der sozialwissenschaftliehen Beschäftigung mit der personalen Identität des Menschen hat sich durch eine spezifische Rezeption des Symbolischen Interaktionismus und unter dem Einfluss des "linguistic turns" seit längerer Zeit eine starke Konzentration auf die kognitiv-sprachliche Dimension durchgesetzt. Das damit einhergehende eingeschränkte Verständnis von menschlicher Identität ist durch eine systematische Berücksichtigung des Körpers und der Ästhetik zu überwinden.
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Um die überaus bedeutsame Beziehung der Musik zur personalen Identität herauszuarbeiten, bedarf es weiterführender Überlegungen, was im Rahmen dieses Aufsatzes nicht geleistet werden kann.
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Die lange Tradition der sozialwissenschaftliehen Beschäftigung mit Mensch und Gesellschaft ist (so lässt sich zunächst einmal verallgemeinernd feststellen) von einer ausgeprägten Abwesenheit des menschlichen Körpers und der darauf bezogenen Ästhetik gekennzeichnet. Bei näherer Betrachtung ist diese für große Teile der Sozialwissenschaften durchaus zutreffende Charakterisierung allerdings doch auch wieder zu relativieren. So wird etwa in historischer Perspektive von Elias (1976) der Prozess der Zivilisation als Kultivierung des Körpers rekonstruiert. Von Foucault wird die Entwicklung des modernen Subjekts als Geschichte der Disziplinierung des Körpers (1976) dargestellt und in seinem (aus der Rückbesinnung auf die antike Philosophie gewonnenen) subversiven Gegenentwurf einer befreiten Lebensform der "Selbstsorge" (Foucault 1989a, b) kommt dem Körper und der Ästhetik eine herausragende Bedeutung zu. In der Interaktions- und Identitätstheorie von Goffman (1975, 1983) spielt der menschliche Körper bei der Dramaturgie und Wahrnehmung des Selbst eine fundamentale Rolle. Die Gesellschaftstheorie von Bourdieu (1982) weist dem Körper als Träger und Ausdruck des klassenspezifischen ästhetisch-kulturellen Habitus der Menschen eine zentrale Bedeutung zu. Die Geschlechterforschung befasst sich intensiv mit diesem Thema und setzt sich dabei mit dem Doppelcharakter des Menschen als Natur- und Kulturwesen mit unterschiedlichem Ergebnis auseinander. Eine besonders prägnante Position stellt hierbei die poststrukturalistische Konzeption von Butler (1997) dar, in der diese Aufteilung der Geschlechter in Naturwesen ("sex") und Kulturwesen ("gender") als kulturelle Konstruktion ausgewiesen wird. Alle Subjekt- und Handlungstheorien, die sich auf die psychoanalytische Entwicklungstheorie beziehen, haben es mit dem Körper zu tun. Untersuchungen zur Ethnologie und zur Kulturgeschichte der Sinne (Howes 1991; Jütte 2000) befassen sich ebenso mit dieser Thematik wie Untersuchungen zur Jugendkultur und zum Lebensstil und Arbeiten zur Soziologie der Mode (König 1967). Diese verschiedenen Ansätze bilden die Anknüpfungspunkte für die aktuelle Behandlung von Körper, Ästhetik und Identität (Bette 1989; Abraham 2002; Hahn/Meuser 2002; Gugutzer 2002; Gugutzer 2004; Jäger 2004; Stockmeyer 2004; Rohr 2004; Schroer 2005) und gehen auch in die nachfolgenden Ausführungen ein.
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Um die weitreichende Bedeutung von Körper und Ästhetik für die Vorgänge der Erfahrung und Bestimmung personaler Identität zu erfassen, ist auf die grundlegenden Einsichten der Philosophischen Anthropologie (Plessner 1975, 1980) und der Leibphänomenologie (Merleau-Ponty 1966; Schmitz 1998) zurückzugreifen, nach der der Mensch zunächst einmal als ein körperlich-sinnliches Wahrnehmungs- und Handlungswesen zu verstehen ist. Der Körper bildet den Ausgangs- und Endpunkt für die Erfahrung von Selbst, Mitmenschen und Welt und für das Handeln und Wirken im Umgang mit sich selbst, mit den Mitmenschen und in der Welt. Der Körper ist das primäre Sinnesorgan der Wahrnehmung, er ist das primäre Organ der Darstellung und des Ausdrucks des Menschen und er ist das primäre Werkzeug für das Handeln und für das Herstellen von Produkten und Werken.2 Im Versuch, die cartesianische Trennung von Körper und Geist zu überwinden, hat Helmuth Plessner die Gleichzeitigkeit von Leibsein und Körperhaben als das Charakteristikum der menschlichen Lebensform herausgearbeitet. Wir sind ein Leib und haben einen Körper, den wir betrachten können, den wir als Organ der Wahrnehmung, als Mittel der Darstellung und des Ausdrucks und als Werkzeug des Handeins und Erzeugens verwenden können, den wir schulen, weiterentwickeln, gestalten, kleiden und bemalen können, der uns die Grenzen unseres Daseins setzt, was alles wiederum in unser Leibsein eingeht. Die Gleichzeitigkeit von Leibsein und Körperhaben bringt die "exzentrische Positionalität" (Plessner) des Menschen zum Ausdruck, die mit der Fähigkeit und Notwendigkeit verbunden ist, dass der Mensch sich zum Objekt seiner selbst machen kann und muss, eine Voraussetzung dafür, dass er (eine selbstbezügliche und seine soziale Umwelt reflektierende) Identität ausbilden kann (Mead 1968; Engelhardt 1990). In die Gleichzeitigkeit von Leibsein und Körperhaben geht der Doppelcharakter des Menschen ein, zugleich Natur- und (von Natur aus) Kulturwesen zu sein. Die natürliche Ausstattung des Menschen begründet die Notwendigkeit und Möglichkeit, dass der Mensch seine Umwelt als objektive Kultur und sich selbst als 2
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Der Psychologe und Pädagoge Günther Bittner hat diese drei Aspekte des menschlichen Körpers auf prägnante Weise als "Wahrnehmungsleib", als "Erscheinungsleib" und als "Werkzeugleib" bezeichnet (Bittner 1985).
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subjektive Kultur hervorbringen und gestalten muss und kann, um existieren zu können. Das bedeutet, dass der Leib-Körper des Menschen (im Folgenden wird für diesen Zusammenhang zur sprachlichen Vereinfachung der Begriff Körper verwendet) nie als Natur an sich, sondern immer schon in einer kulturellen Ausgestaltung in Erscheinung tritt und erfahren wird. Die Kulturwerdungdes Menschen in den Gesellschaftsgeschichten der Menschheit und in der mit der Geburt einsetzenden Bildungsgeschichte jeder einzelnen Person beinhaltet die je spezifische kulturelle Ausgestaltung des Körpers als Wahrnehmungsorgan, als Darstellungs- und Ausdrucksmittel und als Werkzeug des Handeins und Erzeugens. Diese kulturelle Ausgestaltung und Entwicklung bezieht sich zum einen direkt auf den menschlichen Körper und seine Organe und erstreckt sich zum anderen auf die den menschlichen Körper erweiternden Medien der Wahrnehmung, des Ausdrucks und der Gestaltung und des Erzeugens sowie auf den wiederum Körpergebundenen Gebrauch dieser Medien. Für die Identität des Menschen ist neben dem Körper als Werkzeug vor allem der Körper als Ausdrucks- und Darstellungsmittel und als sinnliches Wahrnehmungsorgan von entscheidender Bedeutung, worauf sich die nachfolgenden Ausführungen konzentrieren werden. Dabei ist der menschliche Körper zugleich "phänomenaler Körper" der sinnlichen Erfahrung (im Selbstverhältnis und im Verhältnis zu den Mitmenschen) und "semiotischer Körper" als Träger von Bedeutung, Zeichen und Symbolen (Douglas 1981; Lindemann 1996). Zum menschlichen Körper gehören Gestalt und Form, Mimik, Gesichtsausdruck und Blick, Gestik und Bewegung, verbale und nonverbale Laute, Geruch, Geschmack und körperliches Empfinden. Der Körper umfasst die Kleidung als die "zweite Haut" des Menschen, die Bemalung, den Schmuck und die mitgeführten Accessoires. Der Körper ist Medium des Ausdrucks und der Darstellung der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen und der unverwechselbaren Individualität. Er ändert seine Ausdrucks- und Erscheinungsweise im Wechsel sozialer Situationen und beim Wechsel des sozialen Gegenübers und er unterliegt einem grundlegenden Wandel im menschlichen Lebenslauf. Der Körper hat eine Geschichte mit einem impliziten und expliziten Gedächtnis, in das neben der betroffenen Person die Personen der Umwelt einbezogen sind. Der Körper bildet die Grundlage des menschlichen 91
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Seins, setzt diesem seine Grenzen und führt ein eigenwilliges Eigenleben. Der Körper wird durch die jeweilig Lebensform und den jeweiligen Lebensstil beeinflusst und beeinflusst diese. Der enge Zusammenhang zwischen Körper und Ästhetik erschließt sich dann, wenn auf den Bedeutungsgehalt der "Aisthesis" als der sinnlichen Wahrnehmung oder der Sinnesempfindung zurückgegangen wird (Straus 1936; Plessner 1980; Welsch 1987; Serres 1993), der die Grundlage der Entwicklung der neuzeitlichen Ästhetik im engeren Sinne bildet (Baumgarten 1961). Die sinnliche Erfahrung des Selbst, der Mitmenschen und der Welt erfolgt über die menschlichen Sinne, über den menschlichen Körper als sinnlichem W ahrnehmungsorgan. Die sinnliche Erfahrung geht mit Emotionen einher, stellt eine charakteristische Erkenntnisweise dar und ist mit ästhetischen Urteilen verbunden. Der menschliche Körper ist Objekt des ästhetischen W ahrnehmens, Empfindens und Urteilens und er ist mit seinen Sinnesorganen Subjekt dieses ästhetischen Wahrnehmens, Empfindensund Urteilens. Von den Sinnen
Die europäische Kulturgeschichte ist begleitet von einem philosophischen Diskurs über die menschlichen Sinne (Jütte 2000; Naumann-Beyer 2003; Engelhardt 2005). Dabei wird meistens von den fünf Sinnen des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens und Tastens oder Empfindens ausgegangen, was zu ergänzen ist um den Bewegungssinn (den kinästhetischen Sinn). Der philosophische Diskurs ist seit der Antike, seit Plato und vor allem Aristoteles (Welsch 1987) von der Konzeption einer Hierarchie der Sinne beherrscht, worin ein spezifisches Menschen- und Bildungsverständnis zum Ausdruck kommt. Unterschieden wird zwischen den Fernsinnen des Sehens, Hörens und Riechens, durch die der Mensch über die Distanz die Beziehung zu sich, zu den Mitmenschen und der Welt herstellt und den Nahsinnen des Schmeckens und Empfindens, mit denen über die sinnliche Unmittelbarkeit Selbst, Mitmenschen und Welt erfahren werden. Die Hierarchie der Sinne geht hervor aus einer Hierarchie der den Sinnen zugewiesenen Sinnlichkeit bzw. Geistigkeit. Ausgehend von den " niederen" sinnlichen Sinnen des Empfindens und Schmeckens ergibt sich so ein Aufsteigen in der Hierarchie der
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Sinne über den Geruchssinn zu den "höheren" geistigen Sinnen des Hörens und Sehens. Der Sehsinn gilt als der vornehmste Sinn, weil der Mensch mit ihm besonders deutlich auf Distanz zum Wahrgenommenen treten und diese Distanz zugleich überwinden kann und weil dieser Sinn am stärksten (durch Öffnen und Schließen des Auges und durch gezieltes Ausrichten des Blicks) dem Willen unterworfen werden kann. Seit einiger Zeit zeigt sich im Diskurs der Sinne eine Art Umkehrung der Hierarchie, in dem die ehemals "niederen" Sinne in ihrer besonderen sinnlichen Qualität hervorgehoben werden. Gegen jegliche Form einer Hierarchie der Sinne lässt sich einwenden, dass jeder Sinn mit einer je spezifischen Funktion (einem spezifischen Sinn) verknüpft ist, dass alle Sinne einer (historischen und kulturspezifischen) Kultivierung ausgesetzt sind und dass die menschliche Erfahrung durch ein je besonderes Zusammenspiel der Sinne charakterisiert ist. Das gilt insbesondere für die Wahrnehmung der eigenen Identität und die Wahrnehmung der Identität der Anderen. Neben dem philosophischen Diskurs über die Sinne besteht (eng mit diesem verknüpft) eine Beschäftigung mit den Sinnen in dem sinnlichen Medium der Malerei (Kaufmann 1943). Dabei werden durchaus unterschiedliche Auffassungen von der Gliederung und dem Sinn der Sinne auf anschauliche Weise zur Darstellung gebracht. Auf ein für die Identitätsthematik besonders interessantes Beispiel - das Bild von Hermann van Aidewereid "Allegorie der fünf Sinne" (1651) (Staatliches Museum der Kunst in Schwerin) - soll hier näher eingegangen werden. Dieses Bild stellt eine Konzeption der Sinne vor, die mit keiner Hierarchie verbunden ist. Die Sinne werden in ihrer spezifischen Qualität und Funktion und mit einer ihnen jeweils zugewiesenen Ambivalenz vorgestellt. Dabei wird die Bedeutung der Sinne für das Selbstverhältnis des Menschen und für das Verhältnis zu den Mitmenschen in exemplarischer Weise in das Zentrum der Darstellung gerückt. Das bedeutet, dass dieses Bild wichtige Hinweise gibt für die Bedeutung der Sinne im Zusammenhang der personalen Identität. Auf dem Bild sind fünf Personen zu sehen, drei junge Frauen und zwei junge Männer, die mit unterschiedlichen Handlungen beschäftigt sind. Links sitzt eine junge Frau vor einem Toilettentisch und betrachtet sich im Spiegel, während sie sich eine Perle an ihrem Ohr befestigt. Hier dient der Sehsinn der Selbstwahr93
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nehmung und leitet die ästhetisch-körperliche Selbstgestaltung. Vor dem Hintergrund der emblematischen Doppelbedeutung des Spiegels (Sinnbild für Wahrheit und Selbsterkenntnis und für Eitelkeit und Vergänglichkeit) in Verbindung mit der emblematischen Doppelbedeutung von Perlen (Sinnbild für Reinheit und Keuschheit und ebenfalls für Eitelkeit und Vergänglichkeit) (Ripa 1970; De Jongh 1975/76) lässt sich ein Hinweis auf die Ambivalenz des Sehsinns entdecken, einerseits Medium des Erkennens von Selbst und Welt zu sein, andererseits aber auch der eitlen Selbstliebe und der Hingabe an die Vergänglichkeit der Welt zu dienen. Neben der Frau sitzt ein junger Mann, der auf einem Saiteninstrument spielt und dem sich ihr Ohr mit der Perle zuneigt. Der Hörsinn ermöglicht die Aufnahme der Musik und verbindet die hörende Frau mit dem musizierenden jungen Mann. Auch hier ergibt sich aus der emblematischen Bedeutung von Musik und Saiteninstrument eine Ambivalenz des Hörsinns. Die Musik verweist auf Erbauung und Liebe, dient aber auch der Verführung und der niederen Erotik. Der junge Mann blickt während seines Spiels uns als Betrachter des Bildes an und zieht uns damit in die dargestellte Szene hinein. So stellen die Augen und der Sehsinn eine gezielte Beziehung zwischen dem Betrachter und dem jungen Mann (und dem Bild) her. Rechts neben dem Musikspieler befinden sich ein junger Mann, der an einem Tisch sitzt und ein junges Mädchen, das hinter dem Tisch steht. Beide sind offensichtlich einander in Liebe zugetan und bilden ein Paar. Der junge Mann wendet sich werbend dem jungen Mädchen zu, das junge Mädchen geht darauf in behutsamer Zurückhaltung ein. In dieser Beziehungsstiftung kommt den verschiedenen Sinnen eine grundlegende Bedeutung zu. Die beiden jungen Leute werden über den Sehsinn, über die intensiv aufeinander gerichteten und wechselseitig ausgetauschten Blicke zum Paar. Das Auge gilt nicht zufällig als das Fenster der Seele und als Fenster zur Welt (auch zur inneren Welt anderer Personen, eben zu deren Seele). Der junge Mann überreicht dem Mädchen eine (sicherlich duftende) Rose (das ambivalente Symbol der Liebe), deren (wahrscheinlich dornigen) Stil beide im dargestellten Moment der Übergabe in ihren Händen halten. Dabei scheint der junge Mann etwas zu sagen, worauf das junge Mädchen aufmerksam hört. So wird (neben dem Sehsinn) über den
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Geruchssinn (Duft der Rose) und den Tastsinn (das Spüren des dornigen Stils der Rose) und den Hörsinn (das Hören des gesprochenen Wortes) die Beziehung zwischen dem Paar hergestellt und gestaltet. Darüber hinaus spielt auch der Geschmackssinn eine gewichtige Rolle. Das kommt darin zum Ausdruck, dass der junge Mann, während er mit seiner einen Hand die Rose überreicht, mit seiner anderen Hand ein Weinglas umfasst, aus dem er oder das junge Mädchen oder auch beide gleich trinken werden. Diese Thematisierung des Geschmackssinns wird dadurch fortgesetzt, dass auf dem Tisch Paradiesfrüchte und eine Zitrone liegen. Auch der Wein und die Früchte verweisen auf eine mit dem Geschmackssinn einhergehende Ambivalenz (das Süße und Saure, Erfrischung, Genuss und Verführung). Am rechten Bildrand befindet sich eine weitere junge Frau, die auch an dem Tisch sitzt. Auf ihrer Hand hat sich ein kleiner Vogel niedergelassen, der ihr in den Arm zu picken versucht. Damit wird der Tast- und Empfindungssinn (ebenso wie bei dem dornigen Stil der Rose) über das Empfinden des Schmerzes dargestellt. Unter Berücksichtigung der emblematischen Bedeutung des Vogels ist aber zugleich auch die Verbindung dieses Sinns mit der Erotik hergestellt, was auch noch auf andere Weise deutlich hervorgehoben wird. Die junge Frau hat sich zum Teil entblößt, so dass die dem Betrachter zugekehrte Seite ihres schönen Oberkörpers und Busens nackt zu sehen ist, während die andere Seite, die den Personen des Bildes zugewendet ist, züchtig von ihrem Kleid verdeckt bleibt. Der Tastsinn (das Empfindungsorgan ist die menschliche Haut) ist hier also in seiner Ambivalenz bzw. Spannweite zwischen Schmerz und Lust dargestellt. Durch den dem Betrachter zugekehrten nackten Oberkörper der Frau wird noch ein zweites Mal (nun bezogen auf den Betrachter) auf die Ambivalenz des Sehsinns angespielt, auf den erlaubten und unerlaubten Blick und auf die (positiv oder negativ zu bewertende) sinnliche Verführbarkeit des Auges. Das Bild behandelt die Bedeutung und Funktion der menschlichen fünf Sinne, wobei auch der Bewegungssinn miteinbezogen ist, weil alle Personen der Szene sich in Bewegung befinden. Der Sinn der Sinne wird in diesem Bild vor allem im Hinblick auf ihre Bedeutung für das Selbstverhältnis und d as Verhältnis zu den Mitmenschen (mit starker Konzentration auf die Themen Erotik, Liebe und Selbstliebe) dargestellt. Deshalb ist dieses Bild von be-
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sonderem Interesse für das Thema der Identität und gibt Anlass zu tiefer gehenden Erörterungen, die hier nicht weiter durchgeführt werden können. Zugleich werden aber auch zwei Künste und deren Beziehung zu den Sinnen und zur menschlichen Identität mitbehandelt In unmittelbarer Weise geschieht dies im Hinblick auf die Musik und deren Verbindung mit dem Hörsinn. Auf einer zweiten Ebene geschieht dies im Hinblick auf die Malerei. Das Bild ist ein Beispiel der Malerei, das für den Sehsinn geschaffen wurde und mit dem Sehsinn aufgenommen wird und das die Darstellung aller menschlichen Sinne zum Gegenstand hat. Um diese Darstellung der Sinne angemessen erfassen zu können, muss der Betrachter im Gebrauch seines Sehsinns auch alle anderen Sinne aktivieren - seinen Hör-, Geruchs-, Geschmacks- und Tastoder Empfindungssinn. Das gilt für alle bildliehen Darstellungen der sinnlichen Welt und ändert sich, wenn von bestimmten Aspekten dieser Sinnlichkeit in der Malerei bewusst abstrahiert wird. Auch dies kann als eine wichtige "Botschaft" dieses Bildes über den Sinn der Sinne verstanden werden. Daraus ergeben sich weitreichende Folgen für das Verständnis von Bildmedien überhaupt und für die Verknüpfung des Sehsinns mit den anderen Sinnen im unmittelbaren Erleben und Handeln des Menschen. Die Entwicklung des Körpers und der Sinne
Die körperliche Entwicklung des Menschen geht mit einer Entwicklung der Sinne einher, die in der embryonalen Entwicklung einsetzt (Manz 2005). Im letzten Drittel der embryonalen Entwicklung nimmt der Embryo Berührungsreize wahr und kann schmecken und hören. Zum Zeitpunkt der Geburt sind der Geschmacksund Geruchssinn schon relativ weit entwickelt, während der Hörsinn etwas schwächer und der Sehsinn nur rudimentär ausgebildet sind. Diese unterschiedliche Entwicklung wird nach der Geburt ausgeglichen. Den Sinnen kommt in der frühkindlichen psychosozialen Ausbildung der Selbstwahrnehmung und der Wahrnehmung der Personen der Umwelt eine grundlegende Bedeutung zu. In der allmählich gegeneinander abgegrenzten Selbstund Umwelterfahrung des Säuglings spielen die einzelnen Sinne für sich und in ihrem Zusammenwirken eine zentrale Rolle. Eine besonders anschauliche und existenziell bedeutsame Szene bildet hierfür der Säugling an der Brust der Mutter. In dieser
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Situation ist der Säugling über den Tast-, Geschmacks- und Geruchssinn unmittelbar sinnlich mit der Mutter verbunden, zugleich stellt er über den Hörsinn, vor allem aber über den Sehsinn auf der Grundlage einer (relativen) Distanz eine Beziehung zu ihr her. Der (gesehene) Blick und der (gesehene) Gesichtsausdruck der Mutter werden (in Verbindung mit den anderen Sinneswahrnehmungen) zu einem menschlichen Spiegel für die erwachende Selbsterfahrung und Selbstwahrnehmung des Kindes (Winnicott 1973). Diese Sinneseindrücke und die mit ihnen verknüpften Emotionen stellen aber auch den Beginn dar für die Erfahrung und Wahrnehmung eines von der eigenen Person unterschiedenen personalen Gegenübers. Aus diesen frühen Erfahrungen geht die Fundierung der wahrgenommenen eigenen Identität und der wahrgenommen Identität der Anderen in der Körperlichkeit und in den Sinnen hervor, die für den weiteren Lebenslauf bestimmend ist. Ein entscheidender weiterer Schritt für das sich ausbildende frühe Identitätsbewusstsein wird dann vollzogen, wenn das Kind (gegen Ende des ersten und zu Beginn des zweiten Lebensjahres) sich selbst im Spiegel (und später dann auch auf Bildern) erkennt (Lacan 1986). In dieser "Spiegelsituation" macht das Kind die für die personale Identität grundlegende Erfahrung, zugleich (sich erblickendes) Subjekt und (von sich erblicktes) Objekt zu sein, die Erfahrung der "exzentrischen Positionalität" (Plessner) und der Gleichzeitigkeit von Leibsein und Körperhaben. Der Spiegel gewinnt in der Adoleszenz, dem Lebensabschnitt der "zweiten Ichwerdung" (Blos), der durch eine umfassende körperlich-sinnliche und psychisch-soziale Um- und Neukonstitution der Person im Selbstverhältnis und im Verhältnis zur Umwelt gekennzeichnet ist, noch einmal eine herausragende Beutung. Darin kommt die verstärkte ästhetisch-körperliche Selbstvergewisserung und Selbstgestaltung im Prozess der Identitätssuche und Identitätsentwicklung im Jugendalter zum Ausdruck. Auch im weiteren Lebenslauf bildet der Spiegel einen wichtigen Begleiter der Selbstwahrnehmung und Selbstgestaltung des Menschen. Am Ende des Lebens werden dem Verstorbenen die Augen geschlossen und (in einem verbreiteten europäischen Sterberitual) die Spiegel verhängt. Die personale Entwicklung in der Kindheit und im Jugendalter ist eine psychosoziale Bildungsgeschichte der Sinne und des Kör-
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pers, die in den nachfolgenden Lebensabschnitten des Erwachsenenalters und Alters weiter fortgesetzt wird. Diese Bildungsgeschichte vollzieht sich auf der Grundlage der wechselvollen körperlichen Entwicklung von der Geburt bis zum Tod und schließt die Auseinandersetzung und den Umgang mit dieser körperlichen Entwicklung ein. Die Kultur (von der Alltagskultur bis zu den Künsten) liefert die ästhetischen Ideale und Normen, die Regeln und Skripte sowie das Material für die ästhetisch-körperliche Wahrnehmung und Gestaltung der eigenen Person und für die ästhetisch-körperliche Wahrnehmung und Interpretation des Gegenübers. Sie vermittelt die Vorstellung vom Schönen und Hässlichen, vom Schicklichen und Unschicklichem, von Scham und Schamlosigkeit und prägt das körperlich-sinnliche Empfinden und die ästhetische Urteilskraft. In der Sozialisation w erden die Muster verinnerlicht für das spezifische ästhetisch-körperliche Aussehen und Verhalten von Frauen und Männern, von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und Alten, von Angehörigen unterschiedlicher sozialer Gruppen und Kulturen und von den verschiedenen sozialen Rollenträgern. Der Prozess der Sozialisation ist von früh an ein Vorgang der Körpersozialisation, in dem die kultur-, sozial-, geschlechts- und situationsspezifische Beherrschung des Körpers und der Sinne gelernt und die je angemessenen Formen des ästhetisch-körperlichen Ausdrucks erworben werden. In der Sozialisation wird gelernt, was w elcher ästhetisch-körperliche Ausdruck zu bedeuten hat und was als jeweils angemessener Umgang mit dem Körper (dem eigenen und dem der Anderen) in den unterschiedlichen Sozialbeziehungen (zum Beispiel öffentliche, private, intime) gilt. Gegen Ende der Jugendzeit haben sich die Heranwachsenden moderner Gesellschaften ein vergleichsweise ausdifferenziertes System des Gebrauchs des eigenen Körpers und der eigenen Sinne angeeignet, das für die Wahrnehmung und Darstellung der eigenen Person in wechselnden sozialen Situationen und Rollen und für eine ebenso differenzierte Wahrnehmung und Interpretation des jeweiligen Gegenübers erforderlich ist. Dabei kann die Konfrontation mit neuen Situationen und unbekannten Kulturen zu erheblichen Irritationen und Missverständnissen führen, weil die bisher erworbenen Muster des Gebrauchs des Körpers und der Sinne dort keine Gültigkeit haben.
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Junge Dame mit Perlenhalsband
Die bisherigen Ausführungen zum Zusammenhang von Körper, Ästhetik und Identität sollen im Folgenden anhand des berühmten Gemäldes von Jan Vermeer "Dame mit Perlenhalsband" (1662) (Staatliche Museen Preußischer Kulturbesitz, Gemäldegalerie Berlin) veranschaulicht und fortgesetzt werden.
Das Bild bringt eine charakteristische Situation der ästhetischkörperlichen Identitätswahrnehmung und Identitätsgestaltung zur Darstellung. Ein junges Mädchen aus wohlhabender bürgerlicher Familie ist dabei, seine Morgentoilette zu beenden. Vor ihm auf dem Tisch sind Waschschüssel und Puderquaste zu sehen. Das Mädchen hat eine kostbare gelbe Satinjacke mit Hermelinbe-
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satz angezogen, sein Haar ist kunstvoll frisiert und mit einer roten Schleife verziert und es trägt ein Ohrgehänge mit Perlen. Während es die Bänder der gerade umgelegten Perlenkette beim Zusammenbinden in seinen beiden Händen hält, blickt es aufmerksam in einen Spiegel. Das Gesicht und die Gestalt des jungen Mädchens sind von dem durch ein Fenster einfallenden morgendlichen Sonnenlicht beschienen. Dargestellt ist ein Moment der aufmerksamen Selbstwahrnehmung, von der die Verrichtungen der Morgentoilette (der ästhetischen Körpergestaltung der eigenen Person) begleitet und geleitet werden. Das junge Mädchen nimmt sich mit dem Sehsinn wahr, ist Blickende und Angeblickte in einem, ist Subjekt, das sich zum Objekt seiner selbst macht. Mit dem Blick in den Spiegel geht es (auch räumlich) auf Distanz zu sich, um sich (und die Gestaltung seiner selbst) besonders nah und genau wahrnehmen zu können. Die Selbstwahrnehmung mit dem Sehsinn ist begleitet von der Selbstwahrnehmung mit den anderen Sinnen. Es riecht den gerade aufgelegten Puder, spürt die um den Hals gelegte Perlenkette, den Kitzel des Hermelins, hört die Stille in und um sich, vielleicht auch ferne Geräusche im Haus. Blick, Gesicht und Körperhaltung zeugen von großer Aufmerksamkeit, worin jene Form der Identitätserfahrung zum Ausdruck kommt, die durch bewusste Selbstwahrnehmung gekennzeichnet ist. Das Gegenstück hierzu stellt die Identitätserfahrung der Selbstvergessenheit dar, die mit einem Aufgehen in einem Tun einhergehen kann, wie dies etwa in einem anderen berühmten Bild von Jan Vermeer - "Dienstmagd mit Milchkrug" (um 1656-1660) (Rijksmuseum, Amsterdam) - dargestellt ist. Das junge Mädchen betrachtet sich im Spiegel mit einem interessierten, leicht bewundernden Erstaunen und mit dem Anflug eines sanften Lächelns, was auf Zufriedenheit und freudige Erwartung schließen lässt- Ausdruck einer positiven Selbstreflexion (im Unterschied zu einer zweifelnden, grüblerischen oder unzufriedenen Selbstwahrnehmung und Selbsterforschung). Dabei mögen jene Aspekte in die Selbstwahrnehmung und Selbstreflexion des jungen Mädchens mit eingehen, die in der schon angesprochenen emblematischen doppelten Bedeutung von Spiegel (Sinnbild für Wahrheit und Selbsterkenntnis und für Eitelkeit und Vergänglichkeit) und Perlen (Sinnbild für Reinheit und Keuschheit und ebenfalls für Eitelkeit und Vergänglichkeit) ausgedrückt sind. 100
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Das junge Mädchen hat sich mit den vorgegebenen kulturellen Mitteln seiner Zeit und seines Standes eine ästhetisch-körperliche Gestaltung gegeben und betrachtet und beurteilt sich mit den kulturellen (ästhetisch normativen) Mustern seiner Zeit und seines Milieus. Das heißt, es betrachtet sich mit den Augen der für seinen Lebenszusammenhang bedeutsamen Anderen. Dabei kommt das Mädchen zu einem für sich offensichtlich erfreulichen Ergebnis. Durch die ästhetisch-körperliche Gestaltung und die damit verknüpften kulturellen Bedeutungen wird seine personale Identität zum Ausdruck gebracht. Die soziale und kulturelle Identität, durch die es sich selbst und anderen gegenüber als junges Mädchen aus wohlhabenden bürgerlichen Verhältnissen ausgewiesen ist, geht als eine weitgehende Selbstverständlichkeit in die Selbstgestaltung und Selbstwahrnehmung ein. Vor diesem Hintergrund steht vor allem die persönliche (individuelle) Identität im Vordergrund der bewussten Verrichtung der Morgentoilette, der Selbstwahrnehmung und Selbstbeurteilung. In die Perspektive, aus der und auf die hin sich das junge Mädchen herrichtet und betrachtet, ist (so lässt sich vermuten) wahrscheinlich auch (und vor allem) ein geliebter junger Mann einbezogen, dessen Brief auf dem Tisch vor ihm liegt. So sind in dieser Selbstgestaltung und Selbstwahrnehmung die für das junge Mädchen (in einem allgemeinen und einem spezifischen Sinne) bedeutsamen abwesenden Personen mental anwesend, die ihm eine für es wesentliche psychisch-soziale Bedeutung geben. Bei der Situation, die auf dem Bild dargestellt ist, handelt es sich um eine Übergangs- oder Schwellensituation. In Übergangsoder Schwellensituationen treten die Gestaltung und Wahrnehmung der Identität besonders deutlich hervor, weil sie einer Veränderung ausgesetzt sind. Das zeigt sich bei den Übergängen im Lebenslauf, beim Wechsel zwischen verschiedenen Rollen und sozialen Situationen, beim Wechsel im Tages-, Wochen- und Jahresrhythmus. Die Morgentoilette stellt den Übergang dar von der Schlaf- und Nachtzeit zur Wach- und Tageszeit und den Übergang aus dem privat-intimen Lebensbereich, wo das Mädchen mit sich selbst alleine ist, in den halb-öffentlichen und öffentlichen Lebensbereich, wo es mit anderen Personen zusammentreffen wird. Dieser Übergang ist von einer besonderen und bewussten Gestaltung und Wahrnehmung des ästhetisch-körperlichen Ausdrucks der eigenen Identität begleitet. Gleichzeitig enthält die in dem Bild 101
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festgehaltene Szene der Selbstwahrnehmung und Selbstgestaltung auch eine biographische Dimension des Rück- und Vorausblicks. Das junge Mädchen ist nicht mehr Kind und ist noch nicht in das Stadium der verheirateten Frau eingetreten. Beides geht in die Gegenwartsidentität des Mädchens vor dem Spiegel ein, vielleicht auch die weitere Lebensperspektive des späteren Alterns und der Unausweichlichkeit des Sterbens. Der Gesamteindruck spricht allerdings dafür, dass dies letztere eher nicht der Fall ist. In den bisherigen Ausführungen zu dem Bild von Vermeer ist die Identität als Identitätswahrnehmung und Identitätsgestaltung behandelt worden, die eine Person sich selbst gegenüber vornimmt (Selbstidentität). Wendet man sich dem Betrachter des Bildes zu, so lässt sich Identität als Wahrnehmung und Bestimmung näher betrachten, die Personen anderen Personen gegenüber vornehmen (Identität der Anderen oder Fremdidentität). Bei der wiedergegebenen Beschreibung und Deutung des Bildes handelt es sich um Aussagen eines Betrachters, die dieser auf der Grundlage der sinnlichen Wahrnehmung und Interpretation der ästhetischkörperlichen Selbstdarstellung einer Person über diese Person macht. Die Wahrnehmung und Interpretation erfolgen über den Sehsinn, dem auch in der Sozialwelt (außerhalb der Bildwelt) eine herausragende Bedeutung für die Identitätsbestimmung anderer Personen zukommt. Dies ist begleitet von einer (mittelbaren) Aktivierung der anderen Sinne, ohne die die ästhetisch-sinnliche Qualität des Wahrgenommenen nicht erfasst werden kann. Dabei greift der Betrachter auf sein biographisch-kulturelles Gedächtnis der sinnlichen Erfahrungen und der erlernten Bedeutungen ästhetisch-körperlicher Ausdrucksformen zurück. In diesen Wahrnehmungs- und Interpretationsvorgängen geht es nicht nur um eine äußere Einordnung der Person, sondern auch (und ganz wesentlich) um Rückschlüsse von der äußeren Erscheinung auf die psychische Binnenwelt und auf das potentielle Verhalten, auf Zurückliegendes und Zukünftiges. Das Nichtsichtbare, das für ein angemessenes Verständnis des Gegenübers notwendig ist, wird im Sichtbaren erkannt oder in ihm gesucht. Auf diese Weise wird die auf dem Bild gesehene Person in ihrer Identität als junges Mädchen (einer historischen Epoche) aus wohlhabender bürgerlicher Familie wahrgenommen oder bestimmt, das vor einem Spiegel in die Selbstgestaltung und Selbstwahrnehmung versunken ist, das an ihren Geliebten denkt usw. 102
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Wie oberflächlich oder differenziert diese Wahrnehmung und Interpretation auch ausfallen mögen, in jedem Fall handelt es sich um eine vorläufige (mit Annahmen und Vermutungen verbundene) Identitätsbestimmung, die bei einer weitergehenden Beschäftigung mit dem Bild (oder bei einer direkten Begegnung mit einer entsprechenden Person in der Sozialwelt) weitergeführt, korrigiert oder vielleicht auch vollständig aufgegeben werden muss. Das ästhetisch-körperlich fundierte Identitätsverständnis des Betrachters von sich selbst (etwa im Hinblick seines Geschlechts, Lebensalters, seiner sozialen und historischen Verortung und vieler anderer wichtiger Aspekte) geht in die Wahrnehmung und Bestimmung der Identität des betrachteten Gegenübers ein. Umgekehrt haben die Wahrnehmung und Deutung des Gegenübers Auswirkungen auf das Selbstverständnis des Betrachters.
2. Zum Wandel der Ausdrucksund Erscheinungsformen Historische Rückblicke Der historische Rückblick in vergangene Epochen der europäischen Gesellschaftsgeschichte lässt (ebenso wie der Blick in außereuropäische Gesellschaften) auf anschauliche Weise deutlich werden, welche grundlegende Bedeutung dem Körper und der Ästhetik für die personale Identität des Menschen zukommt (KochMertens 2002; Köb/Riedel 2005; Bombek 2005). Die traditionale Ständegesellschaft macht reichhaltigen Gebrauch von den ästhetischen, an den Körper gebundenen Ausdrucksmitteln für die soziale Verortung der Gesellschaftsmitglieder. Die Ständeordnung mit der zugehörigen Ordnung der Geschlechter, der Lebensalter und des Familienstands (ledig, verheiratet, verwitwet) findet einen verbindlichen Ausdruck in einer ästhetischen Kleider- und Körperordnung. Diese prägnante ästhetisch-kulturelle Ausgestaltung erstreckt sich auf die klare Unterscheidung von Alltag, Sonnund Feiertag, auf die Feste und Zäsuren im Jahreszyklus und auf die Übergänge im Lebenslauf von der Geburt und Taufe bis zum Sterben und zur Beerdigung. So weiß jeder, welche ästhetischkörperliche Ausgestaltung er sich entsprechend seiner sozialen Zugehörigkeit und seiner Lebenssituation zu geben hat, wie ihm auch umgekehrt seine darauf bezogene Identität unmittelbar äs-
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thetisch-körperlich deutlich wird. Zugleich weiß jeder über die sinnliche Wahrnehmung des Gegenübers, mit wem er es in welcher Situation zu tun hat. Der übergreifende Zusammenhang der jeweiligen ästhetisch-körperlichen Ausgestaltung von Person und Situation bringt die Stände- und Lebensordnung der traditionalen Gesellschaft als eine ästhetische Ordnung deutlich zum Ausdruck. Eine besonders üppige ästhetische Ausgestaltung findet sich im gehobenen Klerus und vor allem in der höfischen Gesellschaft des Adels. Die Auflösung der ständischen Feudalgesellschaft und die Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft sind mit einer umfassenden Revolutionierung der ästhetisch-körperlichen Ausdrucksund Erscheinungsformen verbunden. Zum einen versucht die bürgerliche Askese sich gegenüber der Prunksucht des höfischen Adels abzusetzen, was zur Ausbreitung schwarzer und dunkler Kleidung für die Angehörigen beiderlei Geschlechts führt. Zum anderen entwickelt das wohlhabende Bürgertum in der Übernahme von Elementen aus der adligen Lebenskultur und über eigene Neuschöpfungen eine ausgreifende und bunte Kultur der weiblichen und männlichen Selbstdarstellung. In der ländlichen Gesellschaft und auch im Handwerk können sich die älteren ständischen Traditionen noch länger halten, die zum Teil in die neuen Formen der Kleidung und des Körperausdrucks der sich ausbreitenden Arbeiterschaft mit eingehen. Die Durchsetzung der modernen Kindheits- und Jugendphase geht einher mit einer entsprechend ausgestalteten Kleider- und Körperordnung, in der zugleich die Zugehörigkeit zu Geschlecht und sozialer Klasse zur Darstellung kommt. Das Militär präsentiert sich in farbenprächtiger Gestaltung der Uniformen und in disziplinierter Körperbeherrschung, wodurch es sich selbstbewusst von der Zivilbevölkerung absetzt. Die sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts verstärkt durchsetzende Bewegung des Ästhetizismus und Dandytums, die begleitet ist von der bis in das 20. Jahrhundert reichenden Diskussion um eine ästhetische Lebensform (Spranger 1921), entwickelt neue extravagante Formen der Selbstgestaltung und Selbstdarstellung. Die aufkommende Künstlerboheme bringt in ihrem ästhetischen äußeren Erscheinungsbild ihre Absetzung von der bürgerlichen Ordnung und ihre Suche nach einem neuen eigenen Selbstverständnis zum Ausdruck.
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Die Jugendbewegung am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt mit einem neuen Verständnis vom Jugendalter völlig neue Formen der Kleidung und des Umgangs mit Körper und Ästhetik für Mädchen und Jungen. Lebensreformbewegung, Freikörperkultur und die Bewegung der Körperertüchtigung führen mit der Neu- und Wiederentdeckung von "Natur" und "Natürlichkeit" zu weitreichenden Veränderungen im Hinblick auf Körper und Ästhetik. Der Erste Weltkrieg und die Weimarer Republik sind ebenso wie der Nationalsozialismus mit einschneidenden Veränderungen in der Prägung und Gestaltung von Körper und Ästhetik verbunden, was in einer noch zu schreibenden Kulturgeschichte der Körper-Ästhetik sicherlich ein besonders interessantes Kapitel abgeben dürfte. Aktuelle Tendenzen
Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickeln sich mit den beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften in West- und Ostdeutschland und mit den damit einhergehenden Gesellschaftsordnungen auch charakteristische ästhetisch-körperliche Ordnungen für die Darstellung und Wahrnehmung von Identität. Dies vollzieht sich vor dem Hintergrund der vorangegangenen Entwicklungen durch das Aufgreifen unterschiedlicher Traditionen und durch die Einbindung in die unterschiedlichen gesellschaftlich-kulturellen Systeme in West und Ost. Daraus ergeben sich Gemeinsamkeiten, aber auch gravierende Unterschiede in der Gestaltung von Körper und Ästhetik, die zum Teil bis in die Gegenwart nachwirken. Betrachtet man die Kultur der ästhetisch-körperlichen Gestaltung, Darstellung und Wahrnehmung in Westdeutschland (worauf die nachfolgenden Ausführungen sich beziehen sollen), so lässt sich folgendes feststellen. Die Buntheit, die Vielfältigkeit und das Experimentelle, wodurch die Kultur der Körper-Ästhetik des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts gekennzeichnet war, werden deutlich zurückgenommen. Damit hat sich auf der Ebene der ästhetisch-körperlichen Alltagskultur eine längerfristige Tendenz der modernen Gesellschaft durchgesetzt, die durch die Dominanz von Arbeitsethos und moderatem Konsum, durch den Abbau ausgeprägter Stände- und Klassenunterschiede und durch den Rückgang demonstrativ-repräsentativer Selbstdarstellung bestimmt ist.
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Diese ästhetisch-körperliche Ordnung ist durch eine Nivellierung in Verbindung mit einer relativ klaren Strukturierung und Formalisierung gekennzeichnet. In der ästhetisch-körperlichen Ausgestaltung kommt (zunächst noch) relativ deutlich die Zugehörigkeit zu den sozialen Klassen und Schichten, die Zugehörigkeit zu den beiden Geschlechtern und zu den Lebensphasen und Lebensaltern zum Ausdruck. Die bedeutsamen Lebensereignisse und Übergänge im Lebenslauf sind durch eine vorgegebene prägnante ästhetische Ausgestaltung hervorgehoben, was auch die Umgestaltung der Kleidung und des körperlichen Verhaltens beim Wechsel aus einer Lebensphase in die andere einschließt. Der Übergang von der Arbeit in die arbeitsfreie Zeit und der Unterschied zwischen Werktagen und Sonn- und Feiertagen sind deutlich durch einen Wechsel der Kleidung und der Körperhaltung markiert. Die Teilnahme an besonders festlichen Ereignissen und an Veranstaltungen der Hochkultur setzen eine besondere Körpergestaltung und Kleidung voraus. Bis in die Mitte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts besteht eine Art Normalkultur der Ideale und Vorgaben für die ästhetischkörperliche Ausgestaltung und Darstellung der eigenen Person und für die Wahrnehmung und Identifizierung anderer Personen. Ähnlich wie die später so bezeichnete "Normalfamilie" und "Normalbiographie" wird diese ästhetische Normalkultur als eine weitgehende Selbstverständlichkeit praktiziert, sodass die Tatsache, dass es sich hierbei um eine spezifische Ästhetisierung von Alltagsleben und Identität handelt, nicht sonderlich in den Wahrnehmungshorizont tritt. Das stimmt allerdings nicht ganz, weil die ästhetische Normalkultur der älteren Generation über die Aufnahme der westlichen Moderne durch die jüngere Generation schon in den SOer und beginnenden 60er Jahren erheblichen Irritationen ausgesetzt ist, Irritationen, die von der Kleidung, der körperlichen Gestaltung und des körperlichen Verhaltens der Jugendlichen, der Mädchen und Jungen ausgelöst werden, was dann in der weiteren Entwicklung nachhaltig die ästhetische Normalkultur verändert. Gegen Ende der 60er und mit dem Beginn der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts zeichnet sich ein grundlegender gesellschaftlicher Wandel ab, der sich mit einer gewissen Vereinfachung als der Übergang aus der "Ersten" in die "Zweite Moderne" (Beck) bezeichnen lässt. Die erste Moderne der Industriegesellschaft, die 106
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sich in der Nachkriegszeit voll durchgesetzt hat, ist zur Tradition geworden und ist nun einem umfassenden Wandel ausgesetzt. Dieser Wandel geht mit einem Wandel der ästhetisch-körperlichen Ausdrucks-, Darstellungs- und Wahrnehmungsformen der personalen Identität einher. Dabei lassen sich fünf zentrale Tendenzen ausmachen, die eng miteinander verbunden sind und sich zum Teil überschneiden. Sie sind in der folgenden Weise näher zu charakterisieren. Durchgehend lässt sich zum ersten eine Tendenz der Informalisierung und Entstrukturierung feststellen, die von einer Neuformierung begleitet ist. Informalisierung und Entstrukturierung zeigen sich auf vielfältige Weise. Die ehemals gültige Kleider- und Körperordnung, mit der offizielle und feierliche Anlässe und Ereignisse gegenüber dem normalen Alltag herausgehoben werden, verlieren an Verbindlichkeit und werden unterlaufen. Eine für diesen Vorgang bedeutsame historische Szene, die im Bild festgehalten ist, stellt die Vereidigung von Joschka Fischer zum Hessischen Umweltminister 1985 dar, bei der dieser lässig die Hand zum Schwur hebend in Turnschuhen, Jeans und ohne Krawatte auftritt- eine in Kleidung und Körpergestus sinnfällig zum Ausdruck gebrachte Demonstration eines spezifischen politischen Selbstverständnisses. Diese Informalisierung und Entstrukturierung zeigt sich weiter in dem Aufweichen der Unterschiede zwischen Beruf und Freizeit. Ebenso werden die Unterschiede zwischen Werktagen und Sonntagen nivelliert. Veranstaltungen der Hochkultur werden in zunehmendem Maße auch in normaler Alltagskleidung besucht und die ursprünglich für private Zusammenhänge und sportliche Aktivitäten gedachte Kleidung wird in öffentlichen und halböffentlichen Räumen getragen. Die Informalisierung und Entstrukturierung zeigt sich darüber hinaus in der Auflösung der ehemals eindeutigen Zuordnung einer je spezifischen Kleidung und Körpergestaltung zu den Lebensphasen, indem der jugendliche ästhetisch-körperliche Darstellungs- und Ausdrucksstil zum einen in die Kindheit und zum anderen in das Erwachsenenalter und auch das Alter vordringt. Die ehemals weitgehend klaren Konturen der weiblichen und männlichen ästhetisch-körperlichen Gestaltung und Darstellung, die mit einem spezifischen kulturellen Konzept von Weiblichkeit und Männlichkeit verknüpft waren, lösen sich auf, indem wechselseitige Anleihen gemacht werden und neue Konturierungen für 107
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unterschiedliche Varianten des Weiblichen und Männlichen entwickelt werden. Der enge Zusammenhang zwischen Kleidung und körperlichem Habitus auf der einen Seite und sozialer Schicht auf der anderen Seite wird als Folge der biographischen sozialen Mobilität und der Auflösung tradierter sozialer Milieus gelockert. Der Tendenz einer Informalisierung und Entstrukturierung steht eine gegenläufige Tendenz einer Neuformierung entgegen, die sich zum Teil direkt, zum Teil erst auf den zweiten Blick erschließt. In wichtigen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens bilden sich neben der Tradierung älterer Formen neue Formen einer ausgeprägten ästhetisch-körperlichen Darstellungsund Ausdruckskultur heraus. Das zeigt sich besonders eindrücklich bei offiziellen politischen Anlässen, bei öffentlichen Veranstaltungen von Kultur und Medien, aber auch bei herausgehobenen Festen im Lebenslauf (vor allem Heirat) und beim Herrichten für die abendlichen Freizeitvergnügungen. Hinter dem, was auf den ersten (durch die Kultur der Nachkriegszeit geprägten) Blick als ein Aufweichen der Konturen und Eindeutigkeiten erscheint, zeigt sich eine ausdifferenzierte ästhetisch-körperliche Ausgestaltung personaler Identität. Dabei werden in einer durchaus prägnanten Weise die verschiedenen Varianten von Geschlecht und Altersgruppe und die jeweilige soziokulturelle Gruppenzugehörigkeit in Verbindung mit anderen bedeutsamen Merkmalen zur Darstellung gebracht. Zu dieser ersten übergreifenden Tendenz einer Informalisierung und Entstrukturierung und einer gleichzeitigen Neuformierung gehört eine zweite Tendenz. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass die "Performance", die bewusste und gezielt Dramaturgie der Person mit den Mitteln der Ästhetik und des Körpers in Politik, Medien, Beruf und Freizeit an Bedeutung zugenommen hat. Dies steht in einem gewissen Zusammenhang mit der gewachsenen Freude am Spiel mit unterschiedlichen und wechselnden Formen der ästhetisch-körperlichen Selbstgestaltung und Selbstdarstellung auf der einen Seite und der ebenfalls gewachsenen Suche nach einem ästhetisch-körperlichen Ausdruck von Spontaneität und unverwechselbarer Authentizität auf der anderen Seite. Bei diesen Phänomenen zeigt sich auch schon die dritte Tendenz einer verstärkten Durchsetzung expressiver Ausdrucksstile. Die Zugehörigkeit zu neuen kulturellen Milieus und Lebensstilen findet einen sprechenden ästhetisch-körperlichen Ausdruck. Kultu108
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relle, politische und religiöse Konversionen werden über einen Wandel der ästhetisch-körperlichen Selbstdarstellung hervorgehoben. Besonders deutlich entwickeln sich expressive Ausdrucksstile, die sich prägnant von dem jeweiligen Mainstream absetzen, in den verschiedenen Jugendkulturen seit den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts (etwa Rocker, Hippies, Punks, Skinheads, Gothics). Hier werden Kleidung, Körper und Körpergestus (meist in Verbindung mit anderen Elementen wie vor allem Musik) als gezielter Ausdruck des Selbstverständnisses und der Gruppenzugehörigkeit sowie der Abgrenzung nach außen verwendet. Diese zunächst jugendlichen expressiven Ausdrucksstile bleiben keineswegs auf das Jugendalter begrenzt. Sie gehen (meist in gemilderter Form) mit dem Älterwerden ihrer Vertreter und der sie repräsentierenden Pop-Idole in die Erwachsenenwelt ein, werden von exponierten Vertretern der Mode- und Medienwelt aufgegriffen und auch neu geschaffen. Eine besondere Bedeutung erhält die direkte Gestaltung des Körpers über Tätowierung, Branding, Tatoos und Piercing, Formen der Körpergestaltung, die zunehmend auch in den Mainstream der ästhetischen Selbstgestaltung und Selbstdarstellung aufgenommen werden. Mit der intensiven ästhetischen Gestaltung des Körpers verflüchtigt sich zum Teil die Trennlinie zur Kunst. Der Körper wird zum Kunstwerk und die Kunst bedient sich des menschlichen Körpers als Ausdrucksmedium. In einer vierten Tendenz, die alle bisher behandelten Tendenzen durchzieht, erhält der Körper eine auf spezifische Weise herausgehobene Bedeutung. Die Möglichkeiten für die bewusste Einflussnahme auf den Körper und dessen direkte Gestaltbarkeit haben in starkem Maße zugenommen, was mit einer gewachsenen Verantwortung für den eigenen Körper einhergeht. Diese Entwicklung kommt zum Ausdruck in der bewusst auf den Körper ausgerichteten Lebensführung, in der ausgeweiteten Diätkultur, in den vielfältigen Formen der sportlichen Betätigung, des Fitnesstrainings, des Bodybuildings, der Körperpflege und des AntiAgings. Darüber hinaus zeigt sich diese Entwicklung in der Zunahme der ästhetischen Chirurgie, über die mit kleineren oder größeren Eingriffen der Körper gestaltet wird, wovon neben den Frauen in verstärktem Maße auch Männer und immer jüngere Altersgruppen Gebrauch machen. In allen diesen Formen der Einflussnahme werden mit der Möglichkeit der Gestaltbarkeit des 109
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Körpers gleichzeitig immer auch die Grenzen dieser Gestaltbarkeit auf besonders deutliche Weise erfahren. Das Gegenstück einer erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber dem Körper und eines erhöhten Körperbewusstseins bildet das ebenfalls sich ausbreitende Phänomen der Vernachlässigung des Körpers und der "Körpervergessenheit". Das zeigt sich in jenen Formen des Ess- und Trinkverhaltens und der Lebensführung, die zu erheblicher Beeinträchtigung der Gesundheit und auch zum Abweichen von den gängigen Standards der Körperästhetik führen. Angesichts der allgegenwärtigen gesellschaftlichen Normen der Gesundheit und Ästhetik des Körpers geht dies wiederum mit einem (mehr oder minder) problematisch empfundenen erhöhten Körperbewusstsein einher. Die fünfte Tendenz besteht in der zunehmenden Multi- und Transkulturalität, die auf die verstärkte Migration und die verstärkte mediale Präsenz anderer Kulturen zurückgeht. Das bedeutet, dass die ästhetisch-körperlichen Darstellungs- und Ausdrucksformen eine deutliche kulturelle Ausdifferenzierung erfahren, was zu erheblichen Problemen einer angemessenen Deutung und Interpretation der Identität des sozialen Gegenübers führen kann. Diese Ausdifferenzierung geht einher mit verschiedenen Formen der alten und neuen Ab- und Ausgrenzung und ist begleitet von der verstärkten kulturellen, religiösen und politischen Bedeutungszuschreibung im Hinblick auf Kleidung und körperlichen Habitus. Dabei werden aber auch neue kulturelle ("hybride") Mischformen und Kreationen hervorgebracht und (bedingt durch die kulturelle Mehrfachzugehörigkeit) der Wechsel zwischen unterschiedlichen ästhetisch-kulturellen Ausdrucksformen praktiziert. Betrachtet man zusammenfassend die ästhetisch-körperlichen Ausdruck- und Darstellungsformen der personalen Identität in der Gegenwartsmoderne, so ist festzustellen, dass im Vergleich zur Nachkriegszeit Vielfältigkeit und Buntheit deutlich zugenommen haben. In der hier vorgeschlagenen Betrachtungs- und Interpretationsperspektive handelt es sich dabei aber nicht (wie eine verbreitete These nahe legt) um eine Bedeutungszunahme von Ästhetik und Körper, sondern um einen Wandel im Umgang mit Ästhetik und Körper. Das geht schon aus einem Vergleich mit früheren Epochen hervor. Die Entwicklungen des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts erscheinen vor allem des110
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halb als eine zunehmende Ästhetisierung und eine verstärkte Körperbetonung, weil mit ihnen die Konventionen des Umgangs mit Ästhetik und Körper, die sich in der Nachkriegszeit voll durchgesetzt hatten, modifiziert und durchbrachen werden und weil sich dabei neue Gestaltungsspielräume eröffnen. Damit w erden Ästhetik und Körper, deren Gestaltung in die bis dahin für selbstverständlich gehaltenen tradierten Konventionen eingebunden war (und weiterhin ist), zu einem expliziteren Thema, dem auch mehr Aufmerksamkeit und Zeit Ge nach finanziellen und kulturellen Ressourcen und Lebensstil) gewidmet wird . Auf der einen Seite haben sich die Spielräume für die ästhetisch-körperliche Selbstgestaltung und Selbstdarstellung erweitert. Dabei haben sich aber auf der anderen Seite die kulturellen Regeln und normativen Vorgaben nicht einfach abgeschwächt. Sie haben sich im Gegenteil so gewandelt, dass der Anspruch an eine angemessene ästhetisch-körperliche Selbstgestaltung und Selbstdarstellung zugenommen hat. Gleichzeitig haben sich durch die aufgezeigten Entwicklungen der Auflösung ehemaliger Eindeutigkeiten, der Zunahme expressiver Ausdrucksstile, der kulturellen Ausdifferenzierung und Neuschöpfungen auch die Anforderungen an eine angemessene Wahrnehmung und Interpretation der Identität des jeweiligen sozialen Gegenübers deutlich erhöht.
3. Schluss: Von Bildern lernen In den vorangegangen Ausführungen ist der Versuch unternommen worden, den Zusammenhang zwischen Körper, Ästhetik und personaler Identität zunächst auf einer grundsätzlichen Ebene aufzuzeigen. Außerdem wurde deutlich gemacht, dass die ästhetisch-körperlichen Ausdrucksformen personaler Identität einem historischen Wandel unterliegen. Vor diesem Hintergrund wurde die verbreitete These, dass die Gegenwartsmoderne einer verstärkten Ästhetisierung und einer verstärkten Körperbetonung ausgesetzt ist, dahingehend relativiert, dass es sich hierbei eher um einen Wandel des Umgangs mit Ästhetik und Körper handelt, der allerdings noch eingehender untersucht und interpretiert werden muss. Der Zusammenhang zwischen Ästhetik und Identität stellt sich, so wurde argumentiert, auf der Grundlage der Körperlichkeit und Sinnlichkeit des Menschen in der Begegnung des Men-
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sehen mit sich selbst und seinen Mitmenschen her. Dies vollzieht sich in Aneignung der objektiven Kultur und in Auseinandersetzung mit ihr. Im Bereich der objektiven Kultur kommt der Malerei (ebenso wie allen anderen Bildmedien) für den Zusammenhang von Körper, Ästhetik und Identität eine gewichtige Rolle zu. Das wurde in der vorangegangenen Darstellung exemplarisch aufgezeigt. Viele Beispiele der bildenden Kunst machen diesen Zusammenhang zu ihrem Gegenstand und beim Betrachten der Bilder setzt sich der Betrachter mit diesem Zusammenhang auseinander, was wiederum in sein Selbstverständnis und sein Verständnis anderer Menschen eingeht. Zum Abschluss dieser Ausführungen soll dies noch einmal verdeutlich werden. Im Hinblick auf vier zentrale Aspekte der Identitätsthematik - Jugend und Schönheit, Kampf gegen das Altern, die eigene Identität, die Identität der Anderen - werden kommentierende Hinweise auf ausgewählte Beispiele der Malerei gegeben. So endet dieser Beitrag mit einem offenen Schluss, indem auf ein wichtiges Feld der Erforschung der Identitätsthematik aufmerksam gemacht wird. Die enge Verknüpfung von Jugend und Schönheit und die damit einhergehende Faszination stellen (entgegen einer verbreiteten Annahme) keine Besonderheit der Gegenwart dar, wie an vielen Beispielen der bildenden Kunst zu sehen ist (Eco 2004). Das wird etwa deutlich an einem Bild von Domenico Ghirlandaio "Bildnis einer jungen Frau" (um 1485) (FundaAI'J'1'.->"t:
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