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German Pages 240 Year 2010
Bildung als Kunst
Bildung als Kunst Fichte, Schiller, Humboldt, Nietzsche Herausgegeben von
Jürgen Stolzenberg und Lars-Thade Ulrichs
De Gruyter
ISBN 978-3-11-022838-0 e-ISBN 978-3-11-022839-7 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Bildung als Kunst : Fichte, Schiller, Humboldt, Nietzsche / edited by Jürgen Stolzenberg and Lars Thade Ulrichs. p. cm. Includes bibliographical references and index. ISBN 978-3-11-022838-0 (hardcover : alk. paper) ISBN 978-3-11-022839-7 1. Aesthetics Study and teaching ⫺ Germany ⫺ History. 2. Education ⫺ Germany ⫺ Philosophy ⫺ History. I. Stolzenberg, Jürgen. II. Ulrichs, Lars Thade. III. Title: Fichte, Schiller, Humboldt, Nietzsche. BH62.G3B56 2010 1111.850943⫺dc22 2010017925
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH und Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Der vorliegende Band hat sich zum Ziel gesetzt, die Bildungskonzepte Johann Gottlieb Fichtes, Friedrich Schillers, Wilhelm von Humboldts und Friedrich Nietzsches unter systematischen Gesichtspunkten zu vergleichen. Damit ist eine doppelte Aufgabe verbunden: Zum einen soll, über die ebenso gängigen wie problematischen Unterscheidungen von Aufklärung, Bildungsbewegung, Weimarer Klassik und Deutschem Idealismus hinweg, das theoretische Profil einer Epoche in den Blick genommen werden; zum anderen sollen die Züge dieses Profils in ihrer spezifischen Linienführung unter einer interdisziplinären Perspektive verständlich und systematisch fruchtbar gemacht werden. Nur ein solcher Forschungsansatz ist der Bildungstheorie des 18. und 19. Jahrhunderts angemessen. Sie entfaltet sich als ein Metadiskurs, in dem auf vielfache Weise Überlegungen und Ergebnisse verschiedener Disziplinen verarbeitet werden und der sich zudem in permanenter Auseinandersetzung mit den Debatten der europäischen Aufklärung vollzieht. Hierbei ist die Bildungstheorie bemüht, diagnostizierte Einseitigkeiten zu überwinden und auf diese Weise zu einer Selbstaufklärung der Vernunft im Blick auf ihre Möglichkeiten und Grenzen beizutragen. Auch beim Konzept der ästhetischen Bildung handelt es sich um einen derartigen Metadiskurs, der sich am Schnittpunkt von Pädagogik, Philosophie und Kunst konstituiert. Indem aber das Konzept der ästhetischen Bildung in höchst divergente Diskurszusammenhänge eingebettet ist, lassen sich an ihm eine Fülle von ideengeschichtlichen Aspekten herausarbeiten, deren Untersuchung, wenn sie sich nur auf deren jeweils eigenen Begründungskontext beschränkte, nur unverbunden nebeneinander stehende Einsichten erbrächte. Dies gilt zumal deswegen, weil sich am Thema der ästhetischen Bildung in aller Intensität eine Frage entzündet, die in den Augen vieler Zeitgenossen weder etablierte Disziplinen wie die Theologie oder die (Moral-)Philosophie noch die neu sich formierenden Ansätze der Anthropologie oder Ästhetik allein zu beantworten vermögen – die Frage danach, was für ein Mensch jemand sein will und welch ein Leben er zu führen gedenkt. Diese traditionell der Ethik aufgegebene Frage kann nach Schillers Überzeugung eine an Kant orientierte Moralphilosophie deshalb nicht beantworten, weil sie mit ihrem dualistischen Menschenbild, das zwischen Rationalität und Affektivität eine strikte Trennung vornehme,
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Vorwort
den Menschen von sich selbst entfremde. Das Konzept der ästhetischen Bildung hingegen erfasse den ganzen Menschen, insofern die Auseinandersetzung mit dem Schönen gerade die affektiven und emotionalen Aspekte menschlicher Existenz in einer Weise bildet, die ein auch moralisch wertvolles Leben ermöglicht. Auf nichts Geringeres also als auf eine Selbstverständigung des Menschen zielt der Metadiskurs der ästhetischen Bildung. Dies wird nicht nur bei Fichte, Schiller und Humboldt, den klassischen Vertretern der Bildungsbewegung, deutlich, sondern auch im Rahmen der sogenannten Lebensphilosophie Nietzsches, dessen Reflexionen über das Problem der ästhetischen Bildung ohne den Bezug auf die um 1800 entwickelten Argumentationen gänzlich unverständlich bleiben müssen. Die Beschäftigung mit dem Konzept der ästhetischen Bildung eröffnet darüber hinaus neue Perspektiven auf die Bildungsdebatte der Gegenwart. Es ist bekannt, aber doch nicht hinreichend erkannt, dass die für diese Debatte entscheidenden Grundkonzepte bereits im 18. Jahrhundert entwickelt worden sind. Im Blick auf die aktuelle Gegenwart, die sich bekanntlich als „Wissens-“ und „Informationsgesellschaft“ versteht, ist eine Verlustrechnung aufzumachen: Die bloße Akkumulation von Wissen und dessen möglichst rasche und erfolgsorientierte Anwendung verspielt Einsichten und Gewinne der Tradition der Bildungsbewegung des 18. und 19. Jahrhunderts, die sich um den emphatischen Begriff der ästhetischen Bildung zentrieren. Dieser Begriff gehört nicht zu den Bildungsgütern, die schadlos zu entsorgen sind. Die um 1800 geführten Diskussionen um die ästhetische Bildung sind vielmehr für ein modernes Konzept von Subjektivität fruchtbar zu machen. Der vorliegende Aufsatzband geht auf eine Tagung zurück, die im Rahmen des Themenjahres „Aufklärung durch Bildung“ des Landes Sachsen-Anhalt stattfand. Es lässt sich nicht bestreiten, dass von den historischen Landschaften Mitteldeutschlands wichtige Impulse für die kulturelle Prägung Deutschlands und das europäische Geistesleben ausgingen. Dies gilt insbesondere auch für die Diskussion um Aufklärung und Bildung. Diesem Umstand wurde durch den Tagungsort – die Landesschule Pforta bei Naumburg – Rechnung getragen. Hervorzuheben ist dabei die wissenschaftliche Kooperation der Internationalen Johann-Gottlieb-FichteGesellschaft, der Deutschen Schiller-Gesellschaft sowie der NietzscheGesellschaft. Sie stellte in dieser Form ein Novum dar. Zu danken ist nicht nur der Leitung der Landesschule Pforta, sondern vor allem der Fritz Thyssen Stiftung für ihre großzügige Unterstützung sowie dem de Gruyter-Verlag für die Drucklegung der vorliegenden Publikation. Die Herausgeber, Halle an der Saale 2010
Inhaltsverzeichnis Einleitung....................................................................................... 1 Hans-Georg Pott Kultur als Spiel, Geselligkeit und Lebenskunst. Schillers Ästhetische Briefe und das humanistische Bildungsprogramm der Aufklärung ................................................................13 Hartmut Traub Biographische Wurzeln und systematische Reflexionen. Grundlegung einer Philosophie ganzheitlicher Bildung und Erziehung in Fichtes Wanderjahren ............................................29 Andreas Brandt Weltbürgertum und Nationalidee in Fichtes Bildungskonzept.... 59 Temilo van Zantwijk Wege des Bildungsbegriffs von Fichte zu Hegel ........................ 69 Anne Pollok Schillers sentimentalische Erziehung und die popularphilosophische Aufklärungsästhetik................................ 87 Annabel Falkenhagen Schillers schöne Seelen. Zur Auflösung eines Bildungsideals am Ende des 18. Jahrhunderts anhand von Schillers Über Anmut und Würde ...................................................................... 103 Lars-Thade Ulrichs Sind wir noch immer Barbaren? Ästhetische Bildungskonzepte bei Schiller, Fichte und Nietzsche ..............................127
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Inhalt
Holger Gutschmidt Von der „Idee einer Universität” zur „Zukunft unserer Bildungsanstalten” – Bildungsbegriff und Universitätsgedanke in der deutschen Philosophie von Schiller bis Nietzsche ...............................................................151 Günter Zöller „Mannigfaltigkeit und Tätigkeit“. Wilhelm von Humboldts kritische Kulturphilosophie ......................................................171 Beatrix Himmelmann Selbststeigerung. Nietzsches Idee der Bildung.........................193 Birgit Sandkaulen Knowing how. Ein Plädoyer für Bildung jenseits von Modul und Elfenbeinturm....................................................................215 Personenregister .......................................................................229 Autorenverzeichnis ..................................................................231
Einleitung Lars-Thade Ulrichs I Bis heute bindet sich der Begriff der Bildung vor allem an den Namen Wilhelm von Humboldts. Humboldt aber bestimmte Bildung bekanntlich als die harmonische Ausbildung aller Fähigkeiten und Kräfte des Menschen: Der wahre Zweck des Menschen – [...] welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und propotionirlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.1
Dieses Ideal der Allseitigkeit, das die Bestimmungsmerkmale zugleich der Universalität und Totalität hatte, gründete sich seinerseits auf ein ganzheitliches Menschenbild, nach dem Körper und Geist eine unlösliche Einheit bilden. Schon daran erkennt man, wie sehr Humboldt Vorstellungs- und Denkweisen der Aufklärung verpflichtet war. Noch die Schulphilosophie der Hochaufklärung war von großer Bedeutung für Humboldts Überlegungen: sein Bildungskonzept bleibt ohne den Rückbezug sowohl auf den Leibnizschen Monadenbegriff als auch auf den Vollkommenheitsbegriff Wolffs letztlich unverständlich. Mit der Popularphilosophie, Anthropologie und Ästhetik des Aufklärungszeitalters teilte er wiederum die Orientierung am ganzen Menschen. Und dass der Mensch überhaupt in den Mittelpunkt aller philosophischen Betrachtungen zu stellen ist, hatte Humboldt vor allem von Kant gelernt: seine Bildungstheorie vollzieht gewissermaßen die kopernikanische Wende der Transzendentalphilosophie auf pädagogischem Gebiet nach. Dabei wandte sich Humboldt kritisch gegen den Philanthropismus und dessen seiner Meinung nach einseitige Orientierung am Nützlichkeitsdenken: Humboldt ging es nicht darum, den Menschen zu einem brauchbaren Glied der Gesellschaft zu erziehen und entsprechend auf einen speziellen Beruf vorzubereiten, sondern sein Ziel war es, den individuellen _____________ 1
Aus den Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792), in: Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Hrsg. von. Andreas Flitner u.nd Klaus Giel. Stuttgart 1960, S. 64.
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Menschen um seiner selbst willen zu bilden. Hierbei hing er der Leibnizschen Lehre von der prästabilierten Harmonie insofern an, als er meinte, dass bereits eine solche Bildung des Einzelnen die Bildung des gesellschaftlichen Ganzen und damit eine Beförderung des Allgemeinwohls unausweichlich zur Folge habe. Bildung als eine anschauliche Synthese von Mannigfaltigem heißt jedoch für Humboldt – das wird heute, wenn von (neu-)humanistischer Bildung die Rede ist, häufig vergessen – zugleich auch, dass die Naturwissenschaften neben den Sprachen und der Kunst ein integraler Bestandteil von Allgemeinbildung sind. Dies gilt es zu berücksichtigen, wenn in Darstellungen der Humboldtschen Bildungstheorie ein zu großes Gewicht auf die Idealisierung der Antike und die Überzeugung von der Vorbildlichkeit des Griechentums gelegt wird – fraglos zentrale Auffassungen Humboldts, mit denen er in der Tradition Winckelmanns steht, denen aber ebenjene Auffassung von der Bedeutung naturwissenschaftlicher Forschung für die Bildung des Menschen an die Seite zu stellen ist. Nicht zuletzt hieran erkennt man, dass Humboldt – trotz aller Kritik – viele Auffassungen mit dem Philanthropismus teilte. Denn auch der von Johann Bernhard von Basedow begründete Philanthropismus strebte eine ganzheitliche Bildung des Menschen an – nicht allein unter Einbeziehung der sogenannten ‚Realien’, den naturwissenschaftlichen und technischen Fächern, sowie der handwerklichen und künstlerischen Tätigkeiten, sondern auch der Körpererziehung.2 Zudem wurde von den Philanthropisten die Bedeutung einer anschaulichen, der sinnlichen Erfahrung verschriebenen Unterrichtsmethode herausgestellt. All diese Auffassungen finden sich, wenn auch in anders akzentuierter Form, in der Bildungskonzeption Humboldts wieder. Maßgeblich für Humboldts Bildungsbegriff ist aber vor allem die Kunst: Nicht nur ist sie seiner Meinung nach ein wesentlicher Ort der Bildung, sondern sie ist in seinen Augen auch insofern das Maß, als die organische Ganzheit des vollendeten, autonomen Kunstwerks zum Vorbild für die allseitige Bildung des einzelnen Menschen wird. Im buchstäblichen Sinne sollte der Mensch zum ‚Lebenskünstler’ werden. Schon an dieser Überzeugung von der Vorbildlichkeit der Kunst zeigt sich die große Bedeutung, die Humboldt in guter Aufklärungstradition nicht nur der An_____________ 2
Von hier aus führt auch ein direkter Weg zu jener Turnbewegung von Johann Christoph Friedrich GutsMuths und dem ‚Turnvater’ Ludwig Jahn, die leider nicht nur rühmlich in Erinnerung geblieben ist. Vieles – etwa das ganzheitliche Bildungsideal, die Einbeziehung der Realien oder das Ziel der Bildung des Volks und der Armen – verbindet den Philanthropismus darüber hinaus mit dem (Halleschen) Pietismus, auch wenn zwischen ihnen zugleich grundsätzliche weltanschauliche Differenzen bestehen.
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schaulichkeit aller Bildungsinhalte, sondern insbesondere der ästhetischen Bildung zuschrieb. Humboldt schöpfte also, was häufig verkannt wird, aus dem Fundus von Ideen und Konzepten, die das 18. Jahrhundert entwickelt hatte. Sein Bildungskonzept ist entstanden in permanenter – kritischer, aber auch eklektischer – Auseinandersetzung mit den wichtigsten geistigen Strömungen des 18. Jahrhunderts. Humboldts Bildungsbegriff kann deshalb durchaus als eine Synthese des Denkens, als eine Summe der im weitesten Sinne pädagogischen Anschauungen des Aufklärungszeitalters angesehen werden. Dies soll seine Leistung nicht schmälern, soll aber darauf hinweisen, dass seine so wirkungsmächtige Konzeption keine creatio ex nihilo darstellt und dass die Bildungsbewegung, als deren Hauptvertreter Humboldt gemeinhin angesehen wird, tatsächlich nicht nur Gegensatz, sondern vor allem Teil der Aufklärung ist. Humboldt ist dabei auch eine wesentliche Vermittlerfigur: durch seine über Deutschland weit hinausreichende und bis in unsere Gegenwart sich erstreckende Wirkungsgeschichte bleiben die Konzepte der Aufklärung bis heute aktuell.
II Somit wird gerade an Humboldt deutlich, dass sich die Bildungsbewegung im Laufe des 18. Jahrhunderts allmählich aus der Aufklärung heraus entwickelt. Zwar lässt sich mit guten Gründen behaupten, dass die Vernunft eigentlich von Anbeginn an auf eine Einbeziehung ihres ‚Anderen’ zielte, so dass man selbst über die frühe Aufklärung, die keineswegs jene homogene Erscheinung war, als die sie häufig noch immer dargestellt wird, nicht ernstlich sagen kann, dass sie bloßer Rationalismus, schlichte Verstandeskultur gewesen wäre. Doch muss man zugleich festhalten, dass es sich gleichwohl zunächst um einen Gegensatz handelte, insofern die Aufklärung in erster Linie auf die Ausbildung der Vernunft ging, die Bildungsbewegung dies hingegen als eine unerlaubte Verkürzung des Menschen ansah und eine ganzheitliche oder allseitige Bildung des Menschen zum Ziel hatte – unter Einbeziehung auch der Affektivität und des Körpers. Zumindest im Selbstverständnis vieler Bildungstheoretiker stellte sich der Sachverhalt so dar. Und wenn dabei auch vieles auf die Rechnung einer Profilierung des eigenen Denkens zu setzen ist, so konturierte die Entgegensetzung von Aufklärung und Bildung die schon damals schwer überschaubare Debatte doch auf eine Weise, die den Diskursteilnehmern um 1800 eine einigermaßen klare Orientierung geben konnte. In den Augen der Anhänger der Bildungsbewegung ist Bildung daher immer zugleich auch Geschmacks- und Herzensbildung, ja, sie ist im umfassenden
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Sinne moralische oder Charakterbildung. Freilich bedeutet dies nicht, dass man ihrer Meinung nach auf den Erwerb vernünftigen Wissens verzichten und sich den ‚rohen Leidenschaften’ hingeben sollte. Solchen Bestrebungen begegneten sie mit scharfer Kritik, wie man insbesondere an ihren – zum Teil polemischen – Stellungnahmen gegen Empfindsamkeit und Schwärmerei erkennen kann. Die Auseinandersetzung drehte sich vielmehr um eine vernünftige Durchdringung der Gefühle, um eine Sublimierung der Affekte, die der emotionalen Seite des Menschen aber zugleich Gerechtigkeit widerfahren lassen sollte, kurz: um die Bildung des ganzen Menschen. Wenn jedoch im Namen eines ganzheitlichen Erziehungsideals wider eine Verkümmerung des Menschen durch bloße Verstandesausbildung die Bedeutung der Geschmacks- und Charakterbildung betont wird, so artikuliert sich damit in der Bildungsbewegung eine radikale Selbstkritik der Aufklärung. Es lässt sich darum als generelle These formulieren: Die Bildungskonzeption ist die wichtigste Äußerung der Selbstkritik der Aufklärung im 18. Jahrhundert; in der Bildungsbewegung manifestiert sich also eine Aufklärung, die an der Überwindung ihrer eigenen Einseitigkeiten arbeitet.3 Eine herausragende Rolle spielte in dieser Debatte die Auseinandersetzung mit der Kunst. Zum einen definierte sich über die Kunst zunehmend das im 18. Jahrhundert sich etablierende Bildungsbürgertum, so dass man den in ihm verbreiteten und an der ästhetischen Erfahrung geschulten Empfindsamkeitskult geradezu als Katalysator für die Entstehung des Bildungsaus dem Aufklärungsgedanken bezeichnen kann: durch die Empfindsamkeit sollte die einseitige Verstandesausbildung in Richtung einer allseitigen Bildung des ganzen Menschen überwunden werden. Zum andern wurde die ästhetische Bildung im ausgehenden 18. Jahrhundert mehr und mehr zum Paradigma echter Bildung überhaupt. Diese Auffassung wird insbesondere bei Friedrich Schiller greifbar. In seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen buchstabiert Schiller aus, welches utopische Potential das Konzept der ästhetischen Bildung birgt. Dabei gibt er mit seinen kulturkritischen Überlegungen der Bildungsbewegung zunächst eine geschichtsphilosophische Argumentationsbasis, überschreitet diese jedoch – unter Rückgriff auf Kantische und Fichtesche Positionen – in Richtung eines grundsätzlichen subjektivitätstheoretischen Begründungsunternehmens. Der ästhetische Zustand rückt innerhalb dieses _____________ 3
Vgl. zum geistesgeschichtlichen Zusammenhang zwischen Aufklärungs- und Bildungsbewegung auch: Lars-Thade Ulrichs: Aufklärung durch Bildung – Wissenschaft, Kunst und kulturelles Leben im 18. Jahrhundert. Halle 2008. (= Sachsen-Anhalt und das 18. Jahrhundert; Bd. 1).
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Argumentationszusammenhangs in eine zentrale Position: als mittlerer Zustand versöhnt er den Menschen in seiner geistig-sinnlichen Doppelexistenz mit sich selbst und stellt die in der Moderne verloren gegangene Harmonie wieder her. So ließe sich mit Gründen behaupten, dass Schillers Utopie der ästhetischen Bildung zugleich eine Theorie der Moderne in nuce darstellt. Durch die Überwindung der inneren Zerrissenheit soll für Schiller auch die Utopie des ästhetischen Staates begründet werden. Seinem eigenen Zeitalter hingegen stellt er im Rahmen seiner Entfremdungstheorie die Diagnose einer allgemeinen Barbarei. Auch hierin kann Schiller sich mit Johann Gottlieb Fichte einig wissen, der seine Gegenwart als ein Zeitalter „der vollendeten Sündhaftigkeit“ bezeichnete.4 Und auch Friedrich Nietzsche stellt über ein halbes Jahrhundert später dem modernen Zeitalter eine ähnliche Diagnose wie Schiller und Fichte: Die „Entartung“ des modernen Menschen sei, so Nietzsche, gekennzeichnet durch die Disharmonie von innerem Gehalt und äußerer Form, so dass die moderne Bildung als „keine wirkliche Bildung, sondern nur [als] eine Art Wissen um die Bildung“ erscheint. Das moderne Individuum wird bei Nietzsche zu einer bloßen lebenden Enzyklopädie, einem „Handbuch innerlicher Bildung für äusserliche Barbaren“.5 Diese Position ließe sich mit Bezug auf die Debatten um 1800 auch so ausdrücken, dass barbarische Unbildung für Nietzsche in einem falschen Selbst-Bewusstsein, in einem „sentimentalen“ Selbstverhältnis im schlechten Sinne besteht. Insbesondere für den späteren Nietzsche weist die Kunst aus dieser Misere einen Ausweg. Allerdings bekommt die ästhetische Erfahrung dabei eine wesentlich umfassendere Bedeutung: sie dient nicht nur der Lebenssteigerung, sondern schafft auch neue Werte. Kunst wird so zur Lebenskunst in einem radikalen Sinne.6
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Johann Gottlieb Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1806). In: Werke. Auswahl in sechs Bänden. Hrsg. v. Fritz Medicus. Leipzig 1908 ff, Bd. 4, S. 405. Vgl. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari. 2., durchges. Aufl. München 1988, Bd. 1, S. 272 ff. Zu Nietzsches Bildungsphilosophie vgl. auch Lars-Thade Ulrichs: Braucht ein Übermensch noch Bildung? Nietzsches Ideen zu einer ästhetischen Erziehung vor dem Hintergrund der ‚Ästhetischen Briefe’ Schillers. In: Nietzsche-Forschung. Jb. d. Nietzsche-Gesellschaft 12 (2005), S. 111-124.
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III So wird beim späteren Nietzsche endgültig deutlich, was schon bei Schiller angelegt war: das Konzept der ästhetischen Bildung reicht weit über die ästhetische Problematik im engeren Sinne hinaus. Es ist eine moderne Utopie im stärksten Sinne des Wortes. Über alle Differenzen hinweg verbindet somit Fichte, Schiller, Humboldt und Nietzsche nicht nur die negative Charakterisierung des modernen Zeitalters, sondern zugleich teilen sie die Hoffnung darauf, dass Bildung, insbesondere ästhetische Bildung die tiefe Widersprüchlichkeit und Zerrissenheit des modernen Menschen zu versöhnen vermag. Wie dies jedoch im Detail aussieht und welche Unterschiede zwischen den vier Bildungstheoretikern trotz aller Parallelen bestehen, dies versuchen die hier versammelten Beiträge aus je verschiedener Perspektive zu beleuchten. Dabei soll zugleich der Facettenreichtum des Aufklärungszeitalters hinsichtlich der Bildungsproblematik vorgeführt werden. Hierdurch aber entsteht ein weitgefasster Begriff von Bildung und Aufklärung, in dem – mit Jean Paul zu sprechen – alle Formen sattsam klappern können.7 Der erste Beitrag von Hans-Georg Pott versucht die Bildungskonzepte, die um 1800 formuliert und diskutiert wurden, dadurch einem Verständnis näher zu bringen, dass er sie für die aktuelle Debatte fruchtbar macht. Unter dem Titel Kultur als Spiel, Geselligkeit und Lebenskunst. Schillers Ästhetische Briefe und das humanistische Bildungsprogramm der Aufklärung rückt er den mit dem Begriff der ästhetischen Erziehung aufs engste verbundenen Begriff des Spiels ins Zentrum der Überlegungen. Pott eröffnet dabei eine Perspektive auf die weitreichende Bedeutung ästhetischer Bildung in der Goethezeit, die nicht allein auf die Auseinandersetzung mit Produkten der sogenannten Hochkultur ging, sondern auch die alltägliche Lebensform und den in ihr sich manifestierenden Persönlichkeitsstil einschloss. Dadurch macht Pott zum einen der Einfluss auf die späteren lebensphilosophischen Auffassungen Nietzsches sichtbar, zum anderen zeigt er, wie wichtig eine Auseinandersetzung mit dem damaligen Verständnis von ästhetischer Bildung auch noch für die heutige Bildungsdebatte sein kann. Die folgenden Aufsätze widmen sich im Detail den Bildungsvorstellungen von Fichte, Schiller, Nietzsche und Wilhelm von Humboldt. So untersucht Hartmut Traub in seinem Beitrag Biographische Wurzeln und systematische Reflexionen. Grundlegung einer Philosophie ganzheitlicher Bildung und Erziehung in Fichtes Wanderjahren die Fichtesche Bildungs_____________ 7
Vgl. Jean Paul: Werke in 6 Bdn. Hrsg. v. N. Miller. Nachw. v. W. Höllerer. München 1960 ff, Bd. 5, S. 248.
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philosophie als zentralen Bestandteil seiner „angewandten Philosophie“. Er betrachtet sie dabei – unter einem Analyseansatz, den Klaus Hammacher „Biographie als Problemgeschichte“ genannt hat – in drei Stationen von Fichtes „Wanderjahren“, um dadurch „alle drei Perspektiven: den transzendentalen Grund, den kulturhistorischen Kontext und den Begriff pädagogischer Praxis zur systematischen Synthesis einer Philosophie der Bildung zu vereinen“. Diese drei Stationen Fichtes seien, so Traub, jeweils in erziehungspragmatischen Kontexten Auslöser für pädagogische Reflexionen gewesen, die sich sukzessive zum Gesamtbild einer Erziehungsphilosophie zusammenfügen. Zwar wendet sich die Untersuchung Traubs damit sowohl von der geistes- und kulturgeschichtlichen wie von der systematisch-transzendentalen Blickrichtung ab, doch entsteht dadurch dennoch ein Bild des Fichteschen Bildungskonzepts, das philosophisch substantiell bleibt, ohne den Raum des originär „pädagogischen Verhältnisses“ und ohne den pragmatischen Rahmen „angewandter Philosophie“ verlassen zu müssen. Andreas Brandt untersucht seinerseits Weltbürgertum und Nationalidee in Fichtes Bildungskonzept. Hierbei weist Brandt darauf hin, dass Fichtes Bildungskonzept im Kern nicht als nationalistisch bezeichnet werden kann. Sein Zentrum sei vielmehr die „vernünftige Sittlichkeit“. Es bewahre damit, so Brandt, einen ethischen Universalismus, der jedoch am Ende nicht mehr in der Sprache der Aufklärung, sondern in der des Johanneischen Christentums formuliert werde. Die Einbeziehung des Nationenbegriffs in die geschichtsphilosophische Perspektive der Verwirklichung des ethischen Endzwecks, insbesondere aber die Zuweisung einer Sonderrolle an die Deutschen, war dennoch – dies zeigt das Selbstverständnis der Deutschen im 19. Jahrhundert, in erster Linie eine ‚Kulturnation’ zu sein – dazu geeignet, einen neuen Mythos zu schaffen, der mit Aufklärung und erst recht mit Kosmopolitismus nichts mehr zu tun hatte. Sofern Fichte seine Idee des moralischen Sendungsauftrags des Deutschtums in sein Bildungskonzept einbezieht, handelt es sich – so versucht Brandt zu zeigen – nicht um Bildung durch Aufklärung, sondern um Bildung im Sinne eines Nationalmythos, den Aufklärung einer Kritik zu unterwerfen hat. Temilo van Zantwijk stellt in seinem Aufsatz Wege des Bildungsbegriffs von Fichte zu Hegel einen Wandel des Bildungsbegriffs am Beginn des 19. Jahrhunderts fest. In dieser Zeit nämlich werde das mechanistische Bildungsverständnis von einer neuen, von der Vorstellung des organischen Wachstums geleiteten Konzeption abgelöst. Dabei sei, so van Zantwijk, von einem Bruch mit den Bildungsvorstellungen der Aufklärung zu sprechen. Zu beachten sei in diesem Zusammenhang die Differenz zwischen der von der genetischen Methode geprägten Philosophie Fichtes und der dialektischen Methode Hegels, deren Grundlage das Konzept der ‚Selbst-
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bewegung des Begriffs’ ist. Van Zantwijk zeigt jedoch, dass es zwischen beiden Methoden vielerlei Verbindendes gibt. Als zentraler Streitpunkt erweise sich die Frage, ob die Reflexion selbst als Bildungsprozess begriffen werden bzw. ob der Begriff das Element der Bildung sein könne. Denn davon hänge es wiederum ab, ob die Bildung des einzelnen Menschen an einem allgemeinen Bildungsprozess partizipiert. Auch bei Fichte ist laut van Zantwijk das Ziel der Bildung der allgemeine Begriff des Menschen, aber dieser allgemeine Begriff hat seinen Ort im Einzelnen und nicht, wie bei Hegel, im absoluten Geist selbst. Anne Pollok setzt sich in ihrem Beitrag Schillers Erziehungsideal im Lichte der Ästhetik Moses Mendelssohns mit den beiden letzten großen ästhetischen Abhandlungen Schillers, den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen und Ueber naive und sentimentalische Dichtung auseinander. Sie geht davon aus, dass Bildung für Schiller stets ganzheitliche Selbst-Bildung des Menschen meint. Zu fragen ist dabei allerdings, was Schiller unter „Mensch“ verstand. Pollok vertritt die These, dass Schillers Idee einer ästhetischen Erziehung besser verstanden werden könne, wenn man sie nicht nur als eine Frucht des Kant- und Fichte-Studiums versteht, sondern auch als einen Rückgriff auf Positionen der Aufklärungsphilosophie, insbesondere der Popularphilosophie Mendelssohns. Anhand einer Analyse des Zusammenspiels von Altem und Neuem, von Transzendentalphilosophie und „anthropologischer Schätzung“, sucht sie Schillers terminologische Unsicherheit in Bezug auf das Ziel einer solchen Bildung zu überwinden. Annabel Falkenhagen wiederum weist in ihrem Aufsatz Schillers schöne Seelen darauf hin, dass mit Schiller das Konzept der „schönen Seele“ gegen Ende des 18. Jahrhunderts noch einmal einen bedeutenden theoretischen Exponenten findet. Schillers theoretische und Goethes literarische Schriften markieren, so Falkenhagen, den Wendepunkt in der Geschichte dieses großen Bildungsideals, das unter den Bedingungen der Moderne zum Scheitern verurteilt scheint. Obgleich grundsätzlich noch positiv konzipiert, stelle sich die „schöne Seele“ bereits im Wilhelm Meister und in Schillers Über Anmut und Würde als problematisch dar. Falkenhagen skizziert die Tradition, vor deren Hintergrund Schillers Beschäftigung mit der „schönen Seele“ zu sehen ist. Für Falkenhagen gestaltet sich der Sachverhalt so, dass bei Schiller ein ursprünglich antikes Modell der „schönen Seele“ unter die Prämissen des christlichen Ideals gestellt und dadurch gleichsam von innen dekonstruiert werde – mit der Konsequenz freilich, dass das Konzept nicht mehr leisten könne, wozu es ursprünglich gedacht gewesen sei. Holger Gutschmidts Beitrag Von der „Idee einer Universität” zur „Zukunft unserer Bildungsanstalten” – Bildungsbegriff und Universitäts-
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gedanke in der deutschen Philosophie von Schiller bis Nietzsche behandelt die politische und universitätspolitische Dimension des Themas, indem er die Bildungskonzepte und die daraus abgeleiteten Vorschläge für die Universitätsreform im Zusammenhang mit der Gründung der Berliner Universität bei Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schleiermacher, Johann Benjamin Erhard und Wilhelm von Humboldt kritisch in Beziehung setzt. Gutschmidt zeigt, dass vor dem Hintergrund dieser Debatte auch Nietzsches spätere Bildungskonzeption in einem neuen Licht erscheint. Lars-Thade Ulrichs versucht in seinem Aufsatz Sind wir noch immer Barbaren? Ästhetische Bildungskonzepte bei Schiller, Fichte und Nietzsche einen nach systematischen Gesichtspunkten angelegten Überblick über die Bildungskonzepte Schillers, Fichtes und Nietzsches zu geben. In den Augen Schillers und Nietzsches vermag, so führt Ulrichs aus, allein die ästhetische Bildung die moderne ‚Barbarei’ zu überwinden, die uns in der vermeintlich aufgeklärten Kultur von allen Seiten bedrohe. Ulrichs versucht zu zeigen, dass eine harmonische Bildung aller Kräfte mit Hilfe und im Medium der Kunst bei Fichte, Schiller und Nietzsche ein eminent metaphysisches Unternehmen darstellt. Denn eine solche harmonische Bildung bedeute, dem „Grundverhältnis“ jedes bewussten Lebens gerecht zu werden, wonach wir gleichursprünglich Subjekt und Person sind und auch alle anderen in dieser doppelten Weise aufzufassen haben. Dieses doppelte Selbstverhältnis in Einklang zu bringen, war gerade nach Schillers Reflexionen über Form- und Stofftrieb Ziel und Aufgabe jeder echten Bildung – auch und gerade der ästhetischen. Gegenstand der Überlegungen von Günter Zöller zu „Mannigfaltigkeit und Tätigkeit“. Wilhelm von Humboldts kritische Kulturphilosophie ist der kulturphilosophische Beitrag des Frühwerks von Humboldt. Im Mittelpunkt steht dabei die bei Humboldt vorliegende enge Verbindung von Natur- und Kulturphilosophie. Nach einem Abriss der systematischen Anfänge der Kulturphilosophie in der klassischen deutschen Philosophie präsentiert Zöller den frühen Humboldt als einen noch immer unterschätzten Protagonisten der nachkantischen philosophischen Diskussionen am Schnittpunkt von Anthropologie, Geschichtsphilosophie und politischer Philosophie. In diesem Zusammenhang werden auch die natur- und kulturphilosophischen Grundlagen von Humboldts politischem Liberalismus in dessen früher Schrift Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen beleuchtet. Zöller sieht gerade in dem Fehlen eines Sinns für die gesellschaftlichen Grundlagen und Voraussetzungen des Humboldtschen Menschenbildes der freien Selbstgestaltung das anhaltende kritische Potential dieses „energischen Individualismus“. Entsprechend rundet die Erörterung der politischen Aktualität von Humboldts
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doppeltem Junktim von Kulturphilosophie und politischer Philosophie sowie von Kultur- und Naturphilosophie die Untersuchung ab. Beatrix Himmelmann führt in ihrem Aufsatz Selbststeigerung – Nietzsches Idee der Bildung aus, dass Nietzsches bildungstheoretische Überlegungen von der Diagnose eines tief verwurzelten Missverständnisses von Bildung und Erziehung ihren Ausgang nehmen – der Verwechslung der Erlernung von Fertigkeiten, die uns den (Über-)Lebenskampf bestehen lassen, mit jener Entwicklung der besten Kräfte eines Individuums, die Nietzsche ‚Bildung’ nennt und die der Verständigung des Menschen über sich und seine Existenz diene. Damit aber stelle sich Nietzsche in eine Traditionslinie nicht nur mit Humboldtschen Vorstellungen, sondern mit zentralen aufklärerischen Positionen – etwa mit der Diskussion zwischen Philanthropismus und Neuhumanismus um das richtige Verhältnis der Erziehung zum ‚Bürger’ zur Bildung zum ‚Menschen’. Himmelmann zeigt darüber hinaus, dass das Motto, das Nietzsche schon als Student seiner frühen, preisgekrönten philologischen Arbeit De Laertii Diogenis fontibus voranstellt: „Werde, der du bist“ noch im Spätwerk eine zentrale Rolle spielt und damit als Leitmotiv der gesamten Bildungsphilosophie Nietzsches aufgefasst werden kann. Bildung i. S. von Selbststeigerung vollzieht sich dabei laut Nietzsche auf drei verschiedenen Stufen. Diesen Bildungsstufen, so führt Himmelmann aus, entsprechen wiederum mit der Selbstbeherrschung, Selbstkultivierung und Selbstbefreiung drei Bildungsstrategien. Mit dieser Charakterisierung hat Nietzsche dem Bildungskonzept sicherlich neue wesentliche Nuancen hinzugefügt, durch die die Diskussionen zur Zeit der Aufklärung in vielfacher Weise bereichert werden. Birgit Sandkaulen rundet mit ihrem Beitrag Knowing how. Ein Plädoyer für Bildung jenseits von Modul und Elfenbeinturm den Band insofern ab, als in ihm nochmals kritisch nach der Relevanz der in der klassischen deutschen Philosophie entwickelten Bildungskonzeption für die aktuellen Debatten gefragt wird. Sandkaulen hält dafür, dass der neuhumanistische Bildungsbegriff, entgegen einem verbreiteten Missverständnis, eine Fehldeutung der zeitgenössischen philosophischen Konzepte darstellt. Die Wirkungsgeschichte des Neuhumanismus sei nicht nur deshalb fatal, weil dadurch Bildung auf die emphatische Kultivierung der Persönlichkeit unter Preisgabe praktischer Erfordernisse festgelegt wurde, sondern auch darum, weil dies in der gegenwärtigen Bildungsdiskussion die Gegenreaktion eines instrumentell ausgerichteten Bildungsbegriffs hervorgerufen hat. In beiderlei Hinsicht werde das damals erreichte Reflexionsniveau weit unterboten. Sandkaulen belegt dies an Fichtes Überlegungen zur universitären Bildung, durch die die heute vieldiskutierte Opposition von Bildung und Ausbildung je schon überwunden worden sei. Laut Fichte beziehen alle Wissenschaften ihre Relevanz aus der anwendungsorientierten Bewäh-
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rung im Leben. Dies gelinge aber nur, wenn zugleich ihre Autonomie gewahrt sei. Denn der Transfer des Wissens in die Praxis hängt für Fichte wesentlich an der „Kunst“, eine solche Umsetzung adäquat zu leisten. Eine solche Kunst des Umgangs mit Wissen zu vermitteln und einzuüben, setze voraus, dass Wissen nicht von vornherein dem praktischen oder ökonomischen Kalkül unterworfen wird. Mit diesem Ansatz, der die Bildung der Urteilskraft ins Zentrum universitärer Bildung rückt, verbinde Fichte die praktischen Intentionen der Aufklärung mit der Bestimmung von Bildung als Selbstzweck, was im Ergebnis zum Entwurf neuer und nach wie vor aktueller Lehr- und Lernmethoden führt.
IV Sich mit dem Thema Bildung zu beschäftigen, bedarf nun in Zeiten von PISA und dem Streit um die Eliteuniversität kaum einer Rechtfertigung – ja, vielleicht sind viele dieser Debatte schon überdrüssig. Und ebenfalls außer Frage stehen dürfte, dass die Auseinandersetzung mit der maßgeblich aus dem 18. Jahrhundert herrührenden Bildungstradition die heutige Debatte in entscheidender Weise befruchten kann. Wenn man sich aber mit dem derzeit viel diskutierten Thema Bildung beschäftigt, so wird dem historisch Unterrichteten rasch klar, dass die für diese Debatte entscheidenden Grundkonzepte und Schlüsselbegriffe bereits im 18. Jahrhundert entwickelt worden sind. Die in diesem gleichermaßen „philosophischen“ wie „pädagogischen Jahrhundert“, also jenem Zeitalter der Aufklärung lebhaft geführte Diskussion um Bildungs- und Erziehungsfragen hat dabei, wie sich dem unvoreingenommenen Blick bald offenbart, die größte Gegenwartsrelevanz, und deren Vergegenwärtigung kann entsprechend zur Klärung heutiger Positionen einen enormen Beitrag leisten. Führt man sich jedoch den Facettenreichtum der Aufklärungs- und Bildungskonzepte schon im 18. Jahrhundert vor Augen, so erkennt man schnell, wie schwer es ist, dieses Zeitalter auf den Begriff zu bringen. Doch vielleicht ist dies auch gar nicht nötig. Die Unmöglichkeit einer letztgültigen Bestimmung dessen, was Aufklärung war und ist und was Bildung, bietet auch den Vorteil, dass man aus einem schier unendlichen Potential schöpfen kann, wenn es gilt, sich der eigenen Tradition zu vergewissern und Antworten auf Fragen zu geben, die uns auch heute noch beschäftigen oder zumindest beschäftigen sollten. Vielleicht gehört es zuletzt auch zur Bestimmung dieses Jahrhunderts als eines „philosophischen“, welches sich in die unendlichen Windungen der Reflexion begeben hat, dass jede Konzeptualisierung am Ende notwendig einseitig bleiben muss. Doch Einseitigkeit kann unter Umständen – dies lässt sich zumindest
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in diesem Zusammenhang gegen die Bildungstheoretiker des Aufklärungszeitalters sagen – in eine neue, wohlbegründete Allseitigkeit führen. Nur mit einem ausgeprägten Traditionsbewusstsein jedenfalls vermeidet man die Gefahr, dass die Art und Weise, in der man über Bildung redet, selbst zu einem Teil der Bildungskatastrophe wird. Der vorliegende Sammelband Nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt? Aufklärungs- und Bildungskonzepte bei Fichte, Schiller, Humboldt und Nietzsche soll zur Vermeidung dieser Gefahr einen schmalen Beitrag leisten.
Kultur als Spiel, Geselligkeit und Lebenskunst. Schillers Ästhetische Briefe und das humanistische Bildungsprogramm der Aufklärung∗ Hans-Georg Pott Wenn man unter einer globalen und historischen Perspektive fragt, was Kultur ist, den Prozess der Entstehung der modernen Zivilgesellschaften daraufhin beobachtet, was er an „Kultur“ und was an „Barbarei“ hervorgebracht hat, und sich in der Goethezeit (1770-1830) umsieht, so wird man neben staatsphilosophischen Konzepten Überlegungen zur Kultivierung des Menschen (der Menschheit) finden, die gemeinhin auch als das klassisch-idealistische Bildungsideal bekannt sind. Die Kultur der Goethezeit lässt sich als Transformation der Adelskultur in die bürgerliche beschreiben. Höfisches Zeremoniell und ritualisierte Umgangsformen, die „Höfischkeit“ (courtoisie), werden obsolet und als starr und mechanisch gebrandmarkt. Auf der Suche nach dennoch kultivierten Formen des Umgangs miteinander entwickelt die bürgerliche Gesellschaft Regeln des Anstands und der Höflichkeit, die allgemein unter dem Namen „Knigge“ bekannt sind. Darüber hinaus fragen die Dichter und Denker der Zeit nach Bedingungen des Glücks und der Glückseligkeit. Die in dieser Hinsicht bedeutendste und wirkungsmächtigste Schrift sind die Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen (1794/95) von Friedrich Schiller und – weniger geläufig – die Theorie des geselligen Betragens (1799) von Friedrich Schleiermacher. Darin werden Konzepte von Kultur als Spiel als dem höchsten Ziel der Lebenskunst und lustvoll-zeremonieller „Gesellschaft“ entwickelt. Schiller betont, seine Untersuchung über das Schöne und die Kunst stehe „mit dem besten Teil unsrer Glückseligkeit in einer unmittelbaren“ Verbindung, das heißt in unmittelbarem Zusammenhang mit der Lebensführung und in mittelbarem Zusammenhang mit der Politik, dem „Staat als Kunstwerk“. Das Bild der modernen „entfremdeten“ Gesellschaft, das Schiller im 6. Brief entwirft und auf das sich Hegel, _____________ ∗
Dieser Beitrag ist eine gekürzte und veränderte Fassung des Kapitels zur Kultur der Moderne in meinem Buch: Kurze Geschichte der europäischen Kultur. München 2005.
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Marx, Lukács und die frühe Frankfurter Schule je auf ihre Weise beziehen, bilanziert einen Verlust an Menschlichkeit. Diese theoretischphilosophische, ästhetische, politische und anthropologische Schrift Schillers bündelt die geistig-politischen Zeitströmungen von Aufklärung und Idealismus, Klassik und Romantik wie in einem Brennglas und hat ebenso sehr die genannten Diskurse des späteren 19. und des 20. Jahrhunderts bestimmend gestaltet. Die Ästhetischen Briefe erschienen zuerst 1795 in Schillers Zeitschrift, den Horen. Ihre Abfassung fällt in das Jahr 1794/95, und sie geht im allgemeinen auf die Arbeiten im Zuge des Kantstudiums seit 1791 und im besonderen auf die Briefe an den Herzog von Augustenburg (1793) zurück, die zum Teil in Abschriften erhalten geblieben sind. Die Augustenburger Briefe sind zum Teil unmittelbar, zum Teil verändert in die Horen-Fassung eingegangen. Freilich entstand mit dieser etwas fundamental Neues, das nicht zuletzt auf den Einfluss der Begegnung mit Fichte in Jena und dessen Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794/95 zurückzuführen ist, die fast gleichzeitig, aber doch mit einer signifikanten Verzögerung zu den Briefen erschien. Schiller stand unmittelbar unter dem Eindruck und Einfluss dieses Werks. Wendet man sich den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen zu, so darf man sich durch den Titel einer ästhetischen Erziehung nicht täuschen lassen: es geht am wenigsten um eine unmittelbar engagierte oder didaktische Funktion der Kunst und des Schönen, deren Autonomie vielmehr gewahrt bleibt. Nicht wenig widersprechend sei „der Begriff einer schönen lehrenden (didaktischen) oder bessernden (moralischen) Kunst, denn nichts streitet mehr mit dem Begriff der Schönheit, als dem Gemüt eine bestimmte Tendenz zu geben.“1 Die berühmten und meistens aus dem Zusammenhang gerissenen Worte, die das vollkommene Menschsein im Spiel erkennen, lauten: „Aber was heißt denn ein bloßes Spiel, nachdem wir wissen, daß unter allen Zuständen des Menschen gerade das Spiel und nur das Spiel es ist, was ihn vollständig macht, und seine doppelte Natur auf einmal entfaltet? [...] mit dem Angenehmen, mit dem Guten, mit dem Vollkommenen ist es dem Menschen nur ernst, aber mit der Schönheit spielt er. [...] Denn, um es endlich auf einmal herauszusagen, der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (NA 20, 358 f) Dieser Satz, so verspricht Schiller, wird „das ganze Gebäude der ästhetischen Kunst und der noch schwierigern Lebenskunst tragen.“ Dieser Satz habe schon für die griechische Kunst gegolten, in der _____________ 1
Friedrich Schiller: Weimarer Nationalausgabe, Bd. 20: Philosophische Schriften, 1.Teil, hrsg. v. Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 382 (im Folgenden als NA Bd., S. zitiert).
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die Griechen - was die Lebenskunst angeht - auf den Olympus versetzten, „was auf der Erde sollte ausgeführt werden“: Sorgenfreiheit, Müßiggang, weder materieller Zwang der Naturgesetze noch geistiger Zwang der Sittengesetze, mit anderen Worten: die „wahre Freiheit“ und das „freieste und erhabenste Sein“. Es ist ein Zustand „der höchsten Ruhe und der höchsten Bewegung, und es entsteht jene wunderbare Rührung, für welche der Verstand keinen Begriff und die Sprache keinen Namen hat.“ (NA 20, 360) Nun entspricht nicht jedes Spiel, das die Menschen spielen, diesem Ideal. Doch würde ich sagen, dass in jedem Spiel, auch in einem Rouletteoder Fußballspiel, etwas von dieser Schönheit und diesem höchsten Menschsein verborgen liegt, das durch die gesellschaftliche Praxis nur verdeckt oder verdorben ist. Die friedlichen Wettkämpfe zu Olympia, die Schiller als Beispiel heranzieht, erfüllen das Schönheitsideal gemäßer als die blutigen Gladiatorenkämpfe des antiken Roms. Aber immerhin werden sie von Schiller in einem Zusammenhang genannt. Schillers Ideal ist die griechische Antike in der Gesamtheit ihrer Lebensformen. In einer Anmerkung fügt er hinzu: Wenn man (um bey der neuern Welt stehen zu bleiben) die Wettrennen in London, die Stiergefechte in Madrid, die Spectacles in dem ehemaligen Paris [das Paris vor der Revolution, d. Vf.], die Gondelrennen in Venedig, die Thierhatzen in Wien und das frohe schöne Leben des Corso in Rom gegen einander hält, so kann es nicht schwer seyn, den Geschmack dieser verschiedenen Völker gegen einander zu nüancieren. Indessen zeigt sich unter den Volksspielen in diesen verschiedenen Ländern weit weniger Einförmigkeit als unter den Spielen der feineren Welt in eben diesen Ländern, welches leicht zu erklären ist. (NA 20, 358)
Hier zeigt sich einmal mehr der republikanische Revolutionär Schiller, der für die Adelswelt keine Sympathien hat. Es ist auffällig, dass in diesem Zusammenhang einer Bestimmung der Schönheit vom Kunstwerk als solchem nicht die Rede ist. Und in der Tat ist Schönheit „lebende Gestalt“, nicht toter Gegenstand: „das Schöne soll nicht bloßes Leben und nicht bloße Gestalt, sondern lebende Gestalt, das ist, Schönheit seyn.“ (ebd. 358 f) Schönheit ist nur, wo Menschsein sich äußert, tätig ist und nicht in der passiven Haltung des bloßen Rezipierens oder Genießens verbleibt. Im ästhetischen Spiel der lebenden Gestalt wird das Leben klein und leicht, weil es mit Ideen in Berührung kommt, weil es „geistig“ ist, so wie die Ideen und der Geist ihre „Schwere“ (des kategorischen Imperativs, der Gesetze) verlieren. Also der Idealismus Schillers, wenn er denn einer ist, ist ein Idealismus des Lebens, des Lebendigen, der „Leichtigkeit des Seins“. Es ist eben mehr gemeint, als ein schöner Theaterabend oder die Lektüre eines guten Buches. Das ist eine endgültige Absage an alle Kunstwerkästhetik, die versucht, Schönheit an Ausdrucksqualitäten einer rein ästhetischen, passiven Wahrnehmung festzumachen und auch die Beschränkung seiner Ausführungen auf ästhetische Erfahrung
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scheint mir noch zu schwach zu sein (obwohl diese eine Spielerfahrung sein kann). Wenn es um eine ästhetische Wirklichkeit geht, so geht es vor allem um eine Lebensform. Schiller fragt, wie der Mensch „von bloßen Lebensgefühlen zu Schönheitsgefühlen den Weg sich bahne“ (NA 20, 398). Es ist an der Zeit, die Debatte über die Kunst und mit der Kunst als Diskussion um Kunst und Lebensgestaltung zu führen, und uns zu fragen, was die Kunst dazu beitragen kann, dass wir zu einer ästhetischen Lebensform gelangen als einer ästhetisch und theoretisch fundierten Praxis. Eine solche ist, mit Schiller gedacht, in keiner Weise mit einseitigen Machtäußerungen oder Machtwirkungen zu vereinbaren. Man mag einen solchen Entwurf heute immer noch eine Utopie nennen. Doch ohne diesen utopischen Geist kommen wir keinen Schritt weiter. Zur ästhetischen Lebensform gehören „die Freude am Schein, die Neigung zum Putz und zum Spiele“ (ebd., 399). Es ist „das frohe schöne Leben des Corso in Rom“, die öffentliche friedliche Begegnung von Menschen, die sich schön gemacht haben – was immer Frauen und Männer darunter verstehen. Es geht um eine Veränderung und Erhöhung der alltäglichen Realität. Die „Dummheit kann sich nicht über die Wirklichkeit erheben“, sagt Schiller. Gleichgültigkeit gegen die Realität und das Interesse am (ästhetischen) Schein sind „eine wahre Erweiterung der Menschheit und ein entschiedener Schritt zur Kultur“, d. h. zur Selbsttätigkeit des Menschen. Dieser Schein ist Spiel und nicht Betrug. Man könnte Schiller in diesem Zusammenhang fast einen Romantiker nennen, insofern auch romantische Poesie im Ungenügen an dem Alltäglichen gründet. Der schöne Schein hat durchaus etwas mit gediegenen Umgangsformen zu tun, mit Höflichkeit, Rücksichtnahme, die nicht unbedingt Merkmale persönlicher Zuneigung sein müssen. Man kann das nur dann als Oberflächlichkeit denunzieren, wenn man den Gedanken des Ästhetischen, der „gefälligen Form“ und des Spiels nicht richtig erfasst hat. Dieser „aufrichtige und selbständige Schein“ wird – und das ist der nächste Schritt – mit dem Gedanken der Bildung des Menschen verbunden. Es entsteht das klassisch-humanistische Bildungsideal, von dem wir uns heute sogar an den Universitäten denkbar weit entfernt haben. Ausbildung statt Bildung lautet heute die Devise, und das heißt: Abrichtung zu zweckrationaler Nützlichkeit in der Arbeitswelt. Schiller hat im berühmten 6. Brief seiner Ästhetischen Briefe das Bild des in der modernen arbeitsteiligen Gesellschaft entfremdeten Menschen entworfen und die Verwirklichung des „ganzen“ Menschseins gefordert, ein Ideal, von dem wir heute noch weit entfernt scheinen. Seine Bestimmungen operieren mit einer Metaphorik des toten Mechanischen gegenüber einem ganzheitlich-lebendig Organi-
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schen und mit der biblisch-neutestamentarischen Metaphorik des Gegensatzes von Geist und Buchstabe: Jene Polypennatur der griechischen Staaten, wo jedes Individuum eines unabhängigen Lebens genoß und, wenn es Noth that, zum Ganzen werden konnte, machte jetzt einem kunstreichen Uhrwerke Platz, wo aus der Zusammenstückelung unendlich vieler, aber lebloser Theile ein mechanisches Leben im Ganzen sich bildet. Auseinandergerissen wurden jetzt Staat und Kirche, die Gesetze und Sitten; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzes gefesselt, bildet sich der Mensch nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zu einem Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft. Aber selbst der karge fragmentarische Antheil, der die einzelnen Glieder noch an das Ganze knüpft, hängt nicht von Formen ab, die sich selbstthätig geben (denn wie dürfte man ihrer Freyheit ein so künstliches und lichtscheues Uhrwerk vertrauen)?, sondern wird ihnen mit skrupulöser Strenge durch ein Formular vorgeschrieben, in welchem man ihre freye Einsicht gebunden hält. Der todte Buchstabe vertritt den lebendigen Verstand, und ein geübtes Gedächtniß leitet sicherer als Genie und Empfindung. (NA 20, 323 f)
Hier wäre eine kritische Diskussion anzuschließen, eine Diskussion über die Gespenster Rousseaus und die Ideologien der Ganzheit und der Totalitarismen; denn wenn es einen zivilisatorisch-kulturellen Fortschritt je gegeben haben sollte, so liegt er gerade in der Trennung von Staat und Kirche, Gesetzen und Sitten, Recht und Gerechtigkeit. Dieser Abschnitt wäre im Licht der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts neu zu lesen und als kritisches, d. h. auch kritisiertes Erbe anzueignen. Das hieße wiederum nicht, auf Ideale und Erwartungen zu verzichten. Ein solches Ideal ist mit dem Begriff der Freiheit gegeben. So endet der 6. Brief mit einem utopischen Entwurf. „Es muß also falsch seyn, daß die Ausbildung der einzelnen Kräfte das Opfer ihrer Totalität nothwendig macht; oder wenn auch das Gesetz der Natur noch so sehr dahin strebte, so muß es bey uns stehen, diese Totalität in unsrer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wieder herzustellen.“ (NA 20, 328) Es wird darauf ankommen, diese „höhere Kunst“ als eine gegenwärtige Zukunft und keine zukünftige Gegenwart neu zu bestimmen. Wir werden alle nur in der Gegenwart jemals gelebt haben – zukünftig. Hegel hat in der Einleitung zu den Vorlesungen über Ästhetik zu Schillers Ästhetik (vornehmlich die Briefe über ästhetische Erziehung) geäußert: „Es muß Schiller das große Verdienst zugestanden werden, die Kantische Subjektivität und Abstraktion des Denkens durchbrochen und den Versuch gewagt zu haben, über sie hinaus die Einheit und Versöhnung
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denkend als das Wahre zu fassen und künstlerisch zu verwirklichen.“2 Die Einheit und Versöhnung meint diejenige von Theorie und Praxis, Vernunft und Wirklichkeit. Eine solche Einheit war für Schiller nur als eine ästhetische Form möglich, als „Freiheit in der Erscheinung“; wobei darunter gerade nicht die Totalität der Realität verstanden werden darf. Schiller erschließt, bei allem Ehrgeiz, auf der Höhe der Kant-Fichteschen Spekulationen mitzuhalten, das „Wahre“ im spielerischen Tun und in der Kunst. Darin lag auch ein in der Arbeitsgemeinschaft mit Goethe von 1794 bis 1805 entwickeltes ästhetisches Bildungsprogramm, das der Autonomie der Kunst nur scheinbar widerspricht, denn sie soll gerade als autonome gesellschaftlich wirken. Die Kunst ist hier Medium der Bildung. Die klassische Bildungsidee beinhaltet, dass der Mensch seine Grundkräfte, Sinnlichkeit und Vernunft, möglichst harmonisch in einem freien Spiel dieser Kräfte ausbilden soll. Die Einseitigkeit und die Gefahren eines verabsolutierten Vernunftbegriffs haben Schiller und Goethe erkannt und in zum Teil drastischen Worten ausgesprochen. So spricht Mephistopheles im Prolog im Himmel: Der kleine Gott der Welt bleibt stets vom gleichen Schlag, Und ist so wunderlich als wie am ersten Tag. Ein wenig besser würd’ er leben, Hättst du ihm nicht den Schein des Himmelslichts gegeben; Er nennt’s Vernunft und braucht’s allein, Nur tierischer als jedes Tier zu sein. (Faust. Eine Tragödie. Verse 281-286)
Schiller hatte sich in den Ästhetischen Briefen ähnlich geäußert. Hegel betont eine Einheit des „Allgemeinen und Besonderen, der Freiheit und Notwendigkeit, der Geistigkeit und des Natürlichen, welche Schiller als Prinzip und Wesen der Kunst wissenschaftlich erfaßte und durch Kunst und ästhetische Bildung ins wirkliche Leben zu rufen unablässig bemüht war“.3 Die Passagen der Ästhetischen Briefe, auf die sich Hegel in dem zitierten Absatz vor allem bezieht, sind leicht auszumachen. Auch Schiller erkennt die Bedeutung eines Allgemeinen über das Individuelle an. Dieses Allgemeine ist für Schiller nicht im preußischen Staat gegeben. Menschheit ist der Titel für jenes Allgemeine, worin ein utopisches Moment mitschwingt, ein Ideal im oben bezeichneten Sinn. Die Erklärung der Menschenrechte von 1789 sind für Schiller das entscheidende Datum der Neuzeit; auf sie sind alle Überlegungen zu beziehen. Denn damit und zugleich mit den grundlegenden Postulaten der Aufklärung (vor allem: Selbstbestimmung) war die Möglichkeit einer Freiheit für den Einzelnen gegeben: _____________ 2 3
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke in 20 Bdn. Hrsg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel. Frankfurt a. M. 1970, Bd. 13, S. 89. Ebd., S. 91.
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gerade nicht als Einsicht in die Notwendigkeit, als wie immer selbstbestimmte Integration in einen Staat, sondern die radikale Freiheit: die Freiheit anders zu sein als andere, radikale Heterogenität, die immer noch ausgegrenzt, im besten Fall der Lächerlichkeit preisgegeben wird. Die Literatur der Neuzeit erzählt davon; das fängt mit dem Don Quijote des Cervantes an. Das Individuum, so sagen wir heute, ist der Parasit der gesellschaftlichen Differenz von Allgemeinem und Besonderem; daher die angestrengten Bemühungen einer Vermittlung oder Einheit. Es gilt, das Individuum so zu sagen wieder einzufangen.4 Für Schiller ist genau dafür die „ästhetische Erziehung“ zuständig. Die Kunst wird zum Medium der Bildung des Menschen zur wahren politischen Freiheit.5 Sie muss die Religion, die bis dahin die Lebensformen bestimmt hatte, ablösen und die Menschen zu wahrhaft freien Bürgern „erziehen“, das heißt „bilden“, „formen“ – was nur als Selbsttätigkeit, Selbstbestimmung vor sich gehen kann. Hinter die Errungenschaften der Aufklärung gibt es kein Zurück. In der Funktion, die in dem Prozess der Verwirklichung von Menschenrechten und einer Dialektik der Aufklärung dem Schönen und der Kunst zugedacht werden, unterscheiden sich freilich Schiller und Hegel auf das Entschiedenste. Die Bedeutung des Staates als einem Allgemeinen (allgemein Gültigen: die Allgemeinheit bezeichnet die Legitimität) wird von Schiller mit Bezug auf Fichte (Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten) bestimmt: „Jeder individuelle Mensch [...] trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechselungen übereinzustimmen, die große Aufgabe seines Daseyns ist. Dieser reine Mensch [...] wird repräsentirt durch den Staat; die objektive und gleichsam kanonische Form, in der sich die Mannichfaltigkeit der Subjekte zu vereinigen trachtet.“ (NA 20, 316) Nun lässt sich diese Vereinigung entweder als Unterdrückung des Individuellen oder als dessen „Veredelung“ denken; diese Veredelung des „freien“ Individuellen wird im Gedanken einer ästhetischen Erziehung ausgeführt. Vor allem aber betont Schiller die Bedeutung von Natur in diesem Prozess. Die Natur in ihrer Mannigfaltigkeit muss beachtet, bewahrt werden, soll eine Staatsverfassung gerechtfertigt sein, soll sie schließlich gar den Anspruch auf Glückseligkeit einlösen können. „Wenn also die Vernunft in die physische Gesellschaft ihre moralische Einheit bringt, so darf sie die Mannichfaltigkeit der Natur nicht verletzten.“ (ebd., 318) _____________ 4
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Vgl. dazu im Einzelnen Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik III. Frankfurt a. M. 1988, S. 207 u. Hans-Georg Pott: Literarische Bildung. Zur Geschichte der Individualität. München 1995. Vgl. auch Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M. 1988, S. 59-64.
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Nun liegt darin kein Gegensatz zu Hegel (außer in terminologischen Bestimmungen), der ja den Staat als den lebendigen Geist fasst. Ein Unterschied besteht vielmehr in der Bestimmung der Schönheit und der schönen Kunst. Schiller, gleichsam mit vorahnendem Blick auf die Hegelsche These vom Ende der Kunst, die „vom lärmenden Markt des Jahrhunderts“ (Schiller) verschwinde – „Selbst der philosophische Untersuchungsgeist entreißt der Einbildungskraft eine Provinz nach der andern, und die Grenzen der Kunst verengen sich, jemehr die Wissenschaft ihre Schranken erweitert.“ (NA 20, 311) –, setzt dagegen, dass es „die Schönheit ist, durch welche man zu der Freyheit wandert.“ (ebd., 312) Das beabsichtige er aus Grundsätzen der Vernunft zu beweisen. Die unauflösliche oder nur um den Preis der Unterdrückung aufkündbare Verbindung von Schönheit und Freiheit ist Schillers ganz eigener und genuiner Beitrag zum Diskurs der Moderne.6 Gesellschaft und Geselligkeit trennen sich spätestens im 18. Jahrhundert. Die Gesellschaft ist nicht mehr gesellig, und wo Geselligkeit herrscht, ist nicht mehr die Gesellschaft repräsentiert. Die klassisch-idealistische Tradition hatte einen solchen Raum der geselligen Geselligkeit als zweckentlastet konzipiert unter Bezugnahme auf Kants Begriff einer „Zweckmäßigkeit ohne Zweck“ aus der „Kritik der Urteilskraft“. Es geht vor allem um Selbstbestimmung und Selbstzweck, also darum, sich nicht von „außen“ bestimmen zu lassen. Das impliziert eine komplizierte Dialektik und letztlich eine Paradoxie von Freiheit und Notwendigkeit, um die sich die idealistischen Philosophen bemühen. Für die Bereiche von Kunst und Spiel hat Schiller diese Dialektik entfaltet, in denen sich die – wie Habermas sagt – „kommunikative Vernunft“ verkörpert. Geradeso wie Schiller geht es Friedrich Schleiermacher in seiner unter dem Einfluss der „Ästhetischen Briefe“ konzipierten Schrift Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799)7 nicht nur um eine Ästhetisierung der Lebensverhältnisse, sondern auch – mit Habermas zu sprechen - um eine „Revolutionierung der Verständigungsverhältnisse“.8 Schleier_____________ 6
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Vgl. Hans-Georg Pott: Die Schöne Freiheit. Eine Interpretation zu Schillers Schrift „Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen“. München 1980 sowie ders.: Die Ästhetik Schillers mit Bezug auf Hegel. In: Ders.: Schiller u. Hölderlin. Studien zur Poetik u. Ästhetik. Frankfurt a. M. u. a. 2002, S. 29-48. Friedrich D. E. Schleiermacher: Versuch einer Theorie des geselligen Betragens (1799); anonym erschienen in „Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks“, identifiziert von H. Nohl 1913. Hier zitiert nach: Schleiermachers Werke. Auswahl in 4 Bdn. Hrsg. v. Otto Braun. Leipzig 1913, Bd. 2, S. 3-31. Im Folgenden abgekürzt mit Werke. Habermas, a. a. O., S. 63.
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macher schließt an die abendländische Tradition der Bemühung um eine lebenskluge und lebenspraktische Gestaltung und Verbesserung der Beziehungen zwischen den Menschen an, die zum Kernbestand jeder Kultur gehören. Insbesondere hinsichtlich der Beziehung zum anderen Geschlecht, die bekanntlich nicht immer kultiviert ist. So spielen die Frauen eine bedeutsame Rolle, wie immer man (Mann) sie bewertet. Im Mittelalter geraten antike Formen der Darstellung von Frauen unter christlichen Einfluss und setzten in der ritterlichen Verehrung der Frau in der hohen Minne diese Tradition fort. Ein verändertes Selbstbewusstsein der Dame kommt in der Renaissance auf. Hier ist es vor allem das 1529 erschienene „Libro del Cortigiano“ von Baldassare Castiglione, der das Individuum als solches in den Mittelpunkt rückt, aber zum Zweck der Repräsentation eines allgemeinen Guten, also im Verständnis der Zeit: von guter Gesellschaft. Anstand, politische Klugheit, weltmännisches Auftreten traten in den Mittelpunkt, wobei es vor allem auch um das Verbergen geht, um – wenn man so will – die Aufrechterhaltung des Scheins, bis schließlich in der Hochform der französischen Klassik gesellige Konversation zur Sozialtechnologie wird, um Wahrung der Konkurrenzchancen, um Prestigevorteile zu gewinnen. Man kann darin eine Vorwegnahme der modernen Marktwirtschaft erkennen. Es beerbt der Kapitalismus nicht nur die protestantische Ethik, sondern auch die höfischen Umgangsformen. Darauf hat vor allem Norbert Elias in Ergänzung zu Max Weber hingewiesen. Im Unterschied zur höfischen Technik des Verbergens und des Scheinwahrens geht es in der bürgerlichen Kultur um Offenheit, Aufrichtigkeit und Vertrauen. Locke, Shaftesbury und in Deutschland Christian Garve und Adolph Freiherr von Knigge mit seinem Über den Umgang mit Menschen (1786) sind hier von bedeutendem Einfluss. In diesen Schriften wird die arbeitsteilige Gesellschaft bereits vorweggenommen, denn es werden Kommunikationsformen in ihrer Vielfältigkeit beschrieben, wobei es um die kalkulierte Abwägung gegenseitiger Interessen geht. Über Geselligkeit kann die komplexer werdende Gesellschaft als ganzes nicht mehr integriert werden, weswegen Kant dann konsequenterweise die Rechtsform der Verfassung empfiehlt, um das Gemeinwesen abzusichern. Erst dann wird Geselligkeit zu dem Beiwerk der Gesellschaft, zu den schönen Stunden, als welche wir sie heute kennen, aber auch die Freigabe von Spiel und Kunst von unmittelbarem Nutzen wird möglich. Und erst dann kann man sich schlecht benehmen, ohne dass die Gesellschaft gefährdet wird. Es geht nicht mehr um die Existenz der Gesellschaft selbst. Schleiermacher nun setzt sich von Garve und Knigge, auf die er in gewisser Weise antwortet, ab. Die kleine Fragment gebliebene Schrift beginnt mit den Worten:
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Freie, durch keinen äußeren Zweck gebundene und bestimmte Geselligkeit wird von allen gebildeten Menschen als eins ihrer ersten und edelsten Bedürfnisse laut gefordert. Wer nur zwischen den Sorgen des häuslichen und den Geschäften des bürgerlichen Lebens hin und her geworfen wird, nähert sich, je treuer er diesen Weg wiederholt, nur um desto langsamer dem höheren Ziele des menschlichen Daseins. (Schleiermacher, Werke 2, 3)
In diesen Eingangssätzen werden wesentliche Motive des „Versuchs“ genannt. Es sind die Einseitigkeiten und Beschränkungen der modernen bürgerlichen Lebenswelt in der Familie und in dem spezialisierten Beruf, die den Menschen nicht zu seiner „höheren“ Bestimmung gelangen lassen. Diese „höhere Bestimmung“ beruht auf dem klassisch-idealistischen Menschenbild, das den Menschen als ein Wesen betrachtet, das durch Bildung und Kultur zu veredeln ist, worauf auch der Begriff der Menschheit zielt. Man glaubte noch an die Universalisierbarkeit der Werte abendländischer Vernunft. Auch wenn uns die Idee der Vervollkommnung heute obsolet erscheint, so sind doch die Eigenschaften, die der Mensch erwerben soll, nach wie vor beachtenswert. Zu den Voraussetzungen der Bildung gehören mannigfache Begegnungen mit anderen Menschen, damit „jeder seiner eigenen Grenzpunkte ihm die Aussicht in eine andere und fremde Welt gewähre, so dass alle Erscheinungen der Menschheit ihm nach und nach bekannt und auch die fremdesten Gemüter und Verhältnisse ihm befreundet und gleichsam nachbarlich werden können“ (ebd., 3 f). Das ist auch, wenn man so will, eine Theorie der Globalisierung, nämlich von Freundschaft und guter Nachbarschaft aller Menschen untereinander. Das setzt freilich einen „freien Umgang vernünftiger sich untereinander bildender Menschen“ (ebd., 4) voraus. Hier liegt, so könnte man meinen, der utopische Kern jenseits aller Möglichkeiten einer Realisierung. Es kommt mir darauf an, mit Schleiermacher den realistischen Kern dieser Gedanken ebenso zu enthüllen wie die Wertmaßstäbe, die diesem Menschenbild zugrunde liegen. Aus Kants und Schillers Ästhetik rühren die Gedanken eines freien Spiels aller Kräfte des Menschen her, die er in sich harmonisch ausbilden müsse. Das wird als moralischer und sittlicher Zweck der Gesellschaft angesehen. Gesellschaft ist bei Schleiermacher gleichbedeutend mit geselliger Gesellschaft, also die bestimmte „Gegenwart mehrerer Menschen in einem Raum“ (ebd., 8). Was wir heute Gesellschaft nennen, bezeichnet Schleiermacher als Gemeinschaft, da die Verbindung der Menschen untereinander durch einen äußeren Zweck zustande kommt, den sie gemein, also gemeinsam haben (vgl. ebd., 8 Anmerkung). In diesem Konzept der Geselligkeit verbinden sich der Autonomie-Gedanke der Aufklärung („von keinem Gesetz beherrscht, als welches er sich selbst auflegt“ (ebd., S4)) mit Schillers Spiel-Begriff (der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt).
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Es geht um Bewusstwerdung und Reflexion einer im Menschen angelegten „natürlichen Tendenz“ zur Geselligkeit; darüber hinaus aber darum – und hier kommt nun wieder der Einfluss von Schillers „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen“ ins Spiel –, das „gesellige Leben als ein Kunstwerk (zu) konstruieren“ (ebd., 6 f). Es geht um Lebenskunst; denn nur in einer „Kunst der Gesellschaft“ kann der Mensch sich als Mensch, d. h. ganzheitlich verwirklichen. Das zielt auf die bewusste, kreative Gestaltung des eigenen Selbst. In der freien Geselligkeit sind Bildung und Unterhaltung (belehren und aufregen, wie Schleiermacher sagt, man erkennt darin die antike Bestimmung der Kunst, prodesse et delectare, belehren und unterhalten) zusammengeschlossen. Der eigentlich Kern liegt im Gedanken des wechselseitigen aufeinander Einwirkens der Menschen, in welchem Nehmen und Geben, Aktivität und Rezeptivität ausgewogen sind, also keine einseitige Einwirkung stattfinden darf. Das setzt natürlich eine gewisse Homogenität der Gruppe voraus. Beliebig zusammentreffende Menschen können keine gesellige Gesellschaft bilden. Eine solche Homogenität kann aber auch bis zu einem gewissen Grad durch Techniken der Konversation hergestellt werden. Techniken bedeuten immer Regeln und Gesetze. Um die geht es Schleiermacher nun ebenfalls in seinem „Versuch“. Schleiermacher äußert bemerkenswert Emanzipatorisches über Frauen, deshalb sei es zitiert: „Denn wenn der Mann auch von seinem Beruf spricht, so fühlt er sich doch von einer Seite noch frei, nämlich von der häuslichen; dagegen die Frauen, bei denen beides zusammenfällt, bei einer solchen Unterhaltung alle ihre Fesseln fühlen.“ (ebd., 22) Frauen, die sich davon befreien, können aber, weil sie im bürgerlichen Leben sonst keinen mit den Männern „gemeinsamen Stand“ haben „als den der gebildeten Menschen, die Stifter einer besseren Gesellschaft werden.“ (ebd.) Im Hintergrund ist die Problematik der Romantiker-Frauen zu ahnen und die der Jüdin Rahel Varnhagen, in deren Salon Schleiermacher bekanntlich verkehrte, im Besonderen. Hier wäre ein Blick auf die Berliner Salonkultur um 1800 geboten, die in gewisser Weise für das idealtypische Modell der Geselligkeit ein Vorbild war. Man kann die Salons nicht nur als Bestandteil des Verbürgerlichungsprozesses ansehen, sondern auch als alternative Gesellschaftsentwürfe, in deren interkultureller Atmosphäre zum ersten Mal auch Außenseiter der Gesellschaft wie Frauen und Juden eine Chance zur Teilnahme bekamen.9 Übrigens ist die Durchsetzung und Kanonisierung von Goethe als Klassiker hier vollzogen worden. Hier entwickelt sich die klassisch-moderne Form von Bildung und Individualität. Es entsteht, was Habermas die _____________ 9
Vgl. Detlef Gaus: Geselligkeit und Gesellige. Stuttgart/Weimar 1998, S. 147.
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kritische Intersubjektivität nennen wird, die der Berliner Aufklärer Nicolai beschreibt: „Alle Mitglieder waren echte Wahrheitsfreunde; daher ging die Bemühung eines jeden dahin, dasjenige, was er für Wahrheit hielt, nicht durch Machtsprüche oder Berufung auf die Stimme im Innern sondern durch Gründe geltend zu machen. [...] Jeder sagte seine Gründe, und wenn einer den anderen nicht überzeugen konnte, so hatte dies keinen Einfluss auf die Gesinnungen; denn nicht Rechthaberei, sondern Wahrheitsliebe war der Geist dieser Gesellschaft.“10 Zugleich wendet man sich auch gegen Tendenzen der bürgerlichen Gesellschaft. Wie entkommt man der Abrichtung auf zweckrationale Nützlichkeit, wie kann man auf kultivierte Art und Weise Selbstbestimmung leben? Die „idealistische“ Antwort lautet: In der Entfaltung der ganzen Person, das heißt in intellektuell-kritischer Intersubjektivität, in der die eigene Identität zugleich gefestigt und kritisiert und verändert wird, gepaart mit einer ästhetisch-theatralischen Inszenierung, in der Schönheit und Erotik auch körperlich zur Erscheinung kommen. Es geht um kultivierte Performanz in einem umfassenden Sinn. Auch Literatur, das Schriftmedium schlechthin, um 1800 zumeist als einsames, stilles Lesen praktiziert, wird wieder wie in den Zeiten vor der Erfindung des Buchdrucks gesellige Praxis: Es geht um das Vorlesen, Vortragen, Diskutieren, Laienaufführungen etc. Es geht um Hutmode und Literatur, Lebensstil und Philosophie oder – um einen Zeitgenossen zu zitieren – um „Kant und Philosophie, und Goethe, Kunst, Geschmack und Italien“.11 Als ein Beispiel möchte die Teezeremonie dienen. Man lud zu ästhetischen Tees ein, nicht zu Kaffee oder zum exotisch-erotisch konnotierten Kakao. Der Tee wurde nämlich weder als zweckrationales Nahrungs- noch als Rauschmittel eingestuft – etwa zur Steigerung der Arbeitsleistung. (Was nicht ausschloss, dass man gelegentlich Rum hinzufügte.) Teetrinker sind müßig. Tee ist zugleich aristokratisch und intellektuell. „In einer ‚honetten Gesellschaft’ ‚gebildet zu erscheinen’, gleichzeitig also aristokratische Verhaltenstraditionen wie Anstandsregeln und bürgerliche Geisteshaltung wie Körperbeherrschung zu demonstrieren, war [...] die wesentliche Dimension der Teeaufnahme.“12 Es geht dabei um die Kultivierung eines allgemeinen Interesses bezogen auf eine gemäßigt heterogene Gruppe von Menschen, wobei dieses Interesse ein in hohem Maße sittliches, und das heißt: weltpolitisches, ist. Es soll sich ja der Einzelne so bilden, dass er ein Repräsentant der „Menschheit“ ist. Hier zeigt sich die Bindung an die Berliner Aufklärung _____________ 10 Ebd., S. 147. 11 Ebd., S. 314. 12 Ebd., S. 340.
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fast ungebrochen, dessen Organ das „Berlinische Archiv“ war, in dem Schleiermachers „Versuch“ erschien. Mendelsssohn hatte 1784 in seiner Schrift „Was ist Aufklärung?“ (Kants gleichnamige Schrift war 1783 erschienen) die Geselligkeit als Humusboden betrachtet, aus dem sich Bildung entwickelt. Mendelssohn sucht die Trennung des öffentlichen und privaten Vernunftgebrauchs bei Kant zu überwinden, indem er den Menschen in konkreter Gesellschaft betrachtet. Die gesellige Gesellschaft ist ein Medium der Vermittlung von Individuum und Allgemeinheit, von Selbstbestimmung und Allgemeinwohl. Wer Kants Spätwerk, die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798; 1800 2. Auflage) aufschlägt, wird darüber belehrt, dass auch Kant sehr wohl die Formen der Geselligkeit hoch einschätzte. Der § 12 beginnt mit dem bemerkenswerten Satz: „Die Menschen sind insgesamt, je zivilisierter, desto mehr Schauspieler: sie nehmen den Schein der Zuneigung, der Achtung vor anderen, der Sittsamkeit, der Uneigennützigkeit an, ohne irgend jemand dadurch zu betrügen; weil ein jeder andere, dass es hiemit eben nicht herzlich gemeint sei, damit einverständigt ist, und es ist auch sehr gut, dass es so in der Welt zugeht.“13 An späterer Stelle heißt es: „Alle menschliche Tugend im Verkehr ist Scheidemünze; ein Kind ist der welcher sie für echtes Gold nimmt. – Es ist doch besser, Scheidemünze, als gar kein solches Mittel im Umlauf zu haben, und endlich kann es doch, wenn gleich mit ansehnlichem Verlust, in bares Gold umgesetzt werden.“14 Kant glaubt an die letztlich zivilisierende Wirkung von Anstand, Höflichkeit und sogar höfischer Galanterie, wenn er auch über den „ansehnlichen Verlust“ keine näheren Angaben macht. Im § 59 „Von dem höchsten moralisch-physischen Gut“ definiert Kant den Begriff der Humanität eingedenk der sinnlich-intellektuellen Doppelnatur des Menschen: „Die Denkungsart der Vereinigung des Wohllebens mit der Tugend im Umgange ist die Humanität.“15 Humanität ist also nur im geselligen Umgang mit anderen möglich, und eine „gesittete Glückseligkeit“ entspringt aus der richtig proportionierten Verbindung von Wohlleben und Tugend. In den folgenden Anmerkungen wird Kant konkret. Zum Wohlleben gehören Musik, Tanz und Spiel und vor allem – hiermit beschäftigt er sich ausführlich – eine gute Mahlzeit. Die will gekonnt inszeniert sein. Es lohnt sich, die Regeln eines geschmackvollen Gastmahls, wie Kant sie aufstellt, genauer zu studieren, zumal hierbei ein „anderer“ Kant zum Vorschein _____________ 13 Immanuel Kant: Werke in 6 Bdn. 2. Aufl. Hrsg. v. Wolfgang Weischedel. Darmstadt 1966, Bd. 6, S. 442. 14 Ebd., S. 444. 15 Ebd., S. 616.
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kommt als der, den man gemeinhin auf den kategorischen Imperativ reduziert. Sie finden sich im Abschnitt Didaktik. Vom Begehrungsvermögen: Das Wohlleben, was zu der letzteren (der wahren Beförderung wahrer Humanität, P.) noch am besten zusammen zu stimmen scheint, ist eine gute Mahlzeit in guter (und wenn es sein kann auch abwechselnder) Gesellschaft; von der Chesterfield sagt: dass sie nicht unter der Zahl der Grazien und auch nicht über die der Musen sein müsse.“16 Eine Anmerkung fügt hinzu: „Zehn an einem Tische; weil der Wirt, der die Gäste bedient, sich nicht mitzählt.“ Und weiter fügt er hinzu: „und [...] weder (wie bei einer Table d’hote) die Freimütigkeit der Konversation ängstlich einschränken noch wie bei einem Lordmaireschmaus (weil jede übergroße Gesellschaft Pöbel ist) ins Gelag hinein ohne Auswahl und Zusammenhang geredet werde.“ Die Unterhaltung, die einen alle Anwesenden interessierenden Stoff haben soll, soll „kein Geschäft, sondern nur ein Spiel sein“. Rechthaberei und Ernsthaftigkeit, die durch einen geschickt angebrachten Scherz abzuwenden ist, sind verpönt. Wechselseitige Achtung und Wohlwollen sollen hervorleuchten, auch wenn einmal ein ernsthaften Streit entsteht – was nicht zu vermeiden sei. Kant beschließt den Anschnitt mit den bemerkenswerten Worten: „So unbedeutend diese Gesetze der verfeinerten Menschheit auch scheinen mögen, vornehmlich wenn man sie mit dem reinmoralischen vergleicht, so ist doch alles, was Geselligkeit befördert, wenn es auch nur in gefallenden Maximen oder Manieren bestände, ein die Tugend vorteilhaft kleidendes Gewand, welches der letzteren auch in ernsthafter Rücksicht zu empfehlen ist. – Der Purism des Zynikers und die Fleischestötung des Anachoreten, ohne gesellschaftliches Wohlleben, sind verzerrte Gestalten der Tugend und für diese nicht einladend; sondern von den Grazien verlassen, können sie auf Humanität nicht Anspruch machen.17
Hiervon sollte man sich in der gegenwärtigen Kulturdebatte anregen lassen. Es geht um nichts Geringeres – ich muss noch einmal auf Schillers „Ästhetische Briefe“ zurückkommen – als die „totale Revolution“ der Empfindungsweise des Menschen zum Aufbau einer Persönlichkeit in Verbindung mit der Kunst des Ideals; so und nur so erlangt er die Freiheit, die den ästhetischen Staat auszeichnet: „Freyheit zu geben durch Freyheit ist das Grundgesetz dieses Reichs“ (NA 20, 410). Nicht etwa: Macht auszuüben durch Gewalt, noch nicht einmal durch Gesetze. Schillers oft zitierte, oft problematisierte abschließende Gedanken zum ästhetischen Staat zielen auf die Idee einer Gesellschaft, die sich durch gesellige Formen der Mitteilung auszeichnet. Wenn Gesellschaft, wie wir heute sagen, die Summe aller Kommunikationen ist, dann kommt der ästhetischen Kommunikation, der „schönen Mitteilung“ ein ganz besonderer Stellenwert zu; und das ist, meine ich, konkret nachzuvollziehen. Dominieren im Geschäfts-, Politik- und Wissenschaftsleben die Anordnung, der Befehl, der assertorische Satz (die Behauptung, die keinen Widerspruch zulässt), so _____________ 16 Ebd., S.617. 17 Ebd., S.622.
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gibt es in jeder Gesellschaft auch Bereiche der Solidarität, des Spiels und der „freien“ Kunst und Kultur, die sich in kommunikativen Akten realisieren, die auf einem freien Austausch der Meinungen, im Zuhören-Können auf das Wort des anderen, auf spielerischem Austausch beruhen. Hier darf nur eine Regel nicht gelten: Alleinherrschaft einer Meinung, einer Methode, einer Regel: „Kein Vorzug, keine Alleinherrschaft wird geduldet, so weit der Geschmack regiert, und das Reich des schönen Scheins sich verbreitet.“ (NA 20, 411) Mit einer gewissen Nostalgie können wir heute, die wir in einer funktional differenzierten Gesellschaft, wie die Soziologen sagen, leben, auf die historischen Formen der Geselligkeit zurückblicken. Alle Versuche, Gemeinschaft zu beleben werden der sozialen Situation, in der wir uns befinden, nicht gerecht. Sie ist heute nur im Privaten zu realisieren, in kleinen Gruppen. Das wusste schon Schiller, der seine „Ästhetischen Briefe“ mit der Bemerkung schließt, ein solcher „Staat des schönen Scheins“ sei nur in „wenigen auserlesenen Zirkeln“ zu finden (ebd., 412). Hier zeigen sich die Grenzen des Modells sehr schnell. Man braucht nicht nur bürgerlich-republikanische Verhältnisse, sondern zugleich auch aristokratische, vor allem: Muße. Man braucht kognitive Kompetenzen. Man muss ironiefähig sein. Vielleicht muss man sogar schön sein – was immer das heißt. Es geht um eine Elite innerhalb von sozial und wirtschaftlich gesicherten Verhältnissen. Dennoch: Das Idealbild betrifft das, was ich ein kultiviertes Weltbürgertum nennen möchte. Es ist ein Erbe der deutschen Klassik. Ich möchte es gegen alle interkulturellen Relativierungen verteidigen – auch wenn ich den Wunsch kenne, manchmal Indianer sein zu wollen.
Biographische Wurzeln und systematische Reflexionen. Grundlegung einer Philosophie ganzheitlicher Bildung und Erziehung in Fichtes Wanderjahren Hartmut Traub Einleitung – Pädagogik: Eine „angewandte Wissenschaft“ zwischen Kulturkritik und kritischer Transzendentalphilosophie Die Geschichte der Pädagogik beginnt in Europa vor gut 2000 Jahren mit einem Todesurteil. Wegen Verführung der Jugend und Gotteslästerung wird Sokrates zum Tode verurteilt. Loyal gegenüber Staat und Gesetz nimmt der Begründer der mäeutischen Didaktik das Urteil an und vollstreckt es im Kreis seiner Freunde an sich selbst. Weil die Frage nach Erziehung und Bildung eine kulturelle Schicksalsfrage ist, ist sie zu allen Zeiten, insbesondere in Krisenzeiten, höchst umstritten. In solchen Zeiten leben Reformatoren, sie müssen nicht einmal radikal sein, stets gefährlich. Es verwundert deshalb nicht, dass auch in der geistig-moralischen Krise des 18. Jahrhunderts führende Vertreter der europäischen Aufklärung, allen voran Voltaire, aber auch Aufklärer aus dem Kreis der klassischen Deutschen Philosophie, etwa Christian Wolff, Immanuel Kant und eben auch Johann Gottlieb Fichte, sich mit denselben Anschuldigungen, die schon gegen Sokrates erhoben worden waren, konfrontiert sahen. Auch in den folgenden Jahrhunderten hat die Sensibilität für die Schicksalsfrage der Bildung nichts an Schärfe eingebüßt. Im 20. Jahrhundert dokumentiert das etwa die Zuweisung der Verantwortung für den moralischen „Werteverfall“ an die Väter und Söhne der sogenannten 68er Generation, und in unseren Tagen lässt sich das an den ideologisch-polemischen Debatten über die verschiedenen Studien zum Stand schulischer Bildung und Erziehung ablesen. Will man Fichtes Philosophie der Bildung angemessen beurteilen, dann muss sie im Rahmen dieser kulturgeschichtlichen, gesellschafts- und bildungspolitischen Auseinandersetzung gesehen werden. Denn dieser Kontext bildet gewissermaßen das raum-zeitliche Koordinatensystem für bildungsphilosophische und ideengeschichtliche Reflexionen und Stel-
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lungnahmen überhaupt. Die bisherige Fichte-Forschung hat diese kulturkritische Perspektive, v. a. da, wo sie Fichtes Philosophie der Bildung und Erziehung im Zusammenhang mit dessen politischen Schriften thematisiert, immer schon im Blick gehabt. Allerdings ist neben der kulturkritischen und bildungspolitischen Perspektive auf Fichtes pädagogische Schriften auch eine andere starke Tendenz seiner Rezeptionsgeschichte nicht zu übersehen. Dieser Richtung geht es vor allem darum, Fichtes Philosophie der Bildung und Erziehung in die Wissenschaftslehre als prima philosophia zu integrieren, ja mehr noch, diese selbst unter der transzendentalen Prämisse von Fichtes Bild-Bildungs-Lehre zu begreifen. Nicht der realgeschichtliche Kontext, aus dem heraus und in den hinein Fichte seine Bildungsphilosophie entwickelt hat, sondern die kategoriale Grundlegung der Bildung im System der Transzendentalphilosophie und die Bewertung ihres funktionalen Beitrags für die Beantwortung der Frage nach der Bestimmung des Menschen stehen hier im Zentrum der Analyse. Mit diesem Ansatz bildungsphilosophischer Reflexionen sind v. a. die Namen Julius Dechsler und Johannes Schurr verbunden. Beide Blickrichtungen, die kultur- und die transzendentalkritische, arbeiten auf hohem Abstraktionsniveau. Für eine noch zu liefernde Rekonstruktion der Erziehungs- und Bildungsphilosophie Fichtes insgesamt sind beide Ansätze sicherlich unabdingbar und auch sinnvoll. Jedoch: Wie kaum eine andere Philosophie hat die Wissenschaftslehre ein substantielles Interesse an der Beantwortung Frage, wie „die Wissenschaft in’s Leben eingeführt werde [...] [und] wie die Forderungen der Vernunft in einem bestimmten empirischen, gegebenen Zusammenhang von Voraussetzungen realisiert werden können“ (GA II, 5, 601). Betrachten wir nun – ausgehend von diesem Postulat des Fichteschen Selbstverständnisses – die transzendentale Bildungstheorie einerseits als „die wissenschaftlich begründete[n] Forderungen der Vernunft“ im Hinblick auf die Bildung des Menschen überhaupt und „das Leben in einem bestimmten empirischen, gegebenen Zusammenhang von Voraussetzungen“ als den kulturgeschichtlichen Ort bildungsphilosophischer Auseinandersetzung andererseits, dann bleibt uns zwischen beiden die Aufgabe der „Einführung“, d. h. die Frage danach, „wie die Forderungen der Vernunft _____________ 1
Fichtes Werke werden, so weit darin erschienen, nach der J. G. Fichte Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. von R. Lauth, H. Gliwitzky u. a. Stuttgart-Bad Cannstatt 1961 ff. unter Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl zitiert (im Folgenden: GA). In dieser Ausgabe nicht erschienene Werke Fichtes werden nach der von I. H. Fichte 1834-1846 in Bonn und Berlin herausgegebenen Ausgabe: Johann Gottlieb Fichte's sämmtliche Werke (im Folgenden: SW) zitiert.
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realisiert werden können“, übrig. In diesem „methodologischen Zwischenraum“ eröffnet sich – neben der kulturhistorischen und transzendentalgenetischen Forschungsperspektive – ein dritter Zugang zur Frage nach der systematischen Verortung des Pädagogischen in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes. Diese Dimension in der Architektur des Systems der Wissenschaftslehre wollen wir zunächst genauer in den Blick nehmen, um dann in ihr den Begriff des Pädagogischen zu verankern, um den es in diesem Beitrag gehen soll. Es ist das Besondere der architektonischen Gesamtidee der Philosophie Fichtes, dass ihr das Feld zwischen empirischer Historie und apriorischer Grundlagenreflexion nicht verborgen geblieben ist, ja, dass das Wissen um diese vermittelnde Mitte der beiden Welten einen eigenen wissenschaftlichen Typus im Denken Fichtes hervorgebracht hat: die angewandte Wissenschaftslehre. Im Zwischenreich angewandter Philosophie geht es um die „Realgenesis der Vernunft“ unter Berücksichtigung gegebener historischer und soziokultureller Bedingungen. Konkret bedeutet das: „Angewandte Wissenschaft“ vermittelt im Rahmen einer für sie näher zu bestimmenden Regelhaftigkeit und Gesetzmäßigkeit die „apriorische Theorie eines Gegenstandes“ mit dessen empirisch historischen Erscheinungsformen.2 Angewandte Wissenschaft „trägt auf“ und „erschafft“ in der „gegebenen Welt“, „was in der Erkenntnis liegt als schlechthin seynsollend“ (SW IV, 389). Leider hat Fichte diesen hochinteressanten Ansatz einer Theorie und Praxis vermittelnden Wissenschaftslehre nicht systematisch ausgebaut. Allerdings ist seine Lehre von der angewandten Philosophie aber auch nicht nur Fragment geblieben. Dazu einige Hinweise. Fragmentarisch erscheint die Mittelstellung angewandter Philosophie etwa in Fichtes Typologie der Erkenntnis, in der die „rein philosophische“ von der „philosophisch=historischen“ und der „blos historischen“ Erkenntnis unterschieden wird (GA I, 3, 53). Dieser Gliederung entspricht auch die Differenz zwischen dem „Philosophen“ als dem Schöpfer einer reinen Wissenslehre, dem (philosophisch gebildeten) „Welt- und Menschenbeobachter“, der die _____________ 2
Vgl. hierzu Reinhard Lauth: Fichtes Gesamtidee der Philosophie. In: Philosophisches Jahrbuch 71, 2. München 1964, S. 280. Lauth hat diesen, Theorie und realgeschichtliche Praxis vermittelnden Zwischenraum in der Architektonik der Wissenschaftslehre durch den „Applikationsgedanken“ näher bestimmt: „Die Applikation [des] transzendentalen Begriffs auf die historische Faktizität ist der erste Schritt des Übergangs aus der gewonnenen Wissenschaftlichkeit ins Leben“ (ebd., S. 279). Zur systematischen Bedeutung der Angewandten Philosophie für Fichtes Gesamtidee der Philosophie s. a. den Kommentar Oesterreichs in: Johann Gottlieb Fichte: Schriften zur Angewandten Philosophie. Hrsg. v. Peter L. Oesterreich. Frankfurt a. M. 1997, S. 859-929.
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heuristische Kraft philosophischer Analyse am empirischen Material erprobt und schließlich dem „blossen Empiriker“, der unsystematisch Daten erhebt, wie sie sich gerade zeigen (GA I, 8, 196 ff.). Neben diesen eingestreuten Spuren angewandter Philosophie lassen sich diesem „philosophischen Zwischenreich“ auch systematische Abhandlung Fichtes zuordnen. So ist etwa die Anweisung zum seeligen Leben (1806) als angewandte Wissenschaft – nämlich zwischen reiner Religionslehre und empirischer Religiosität – zu verstehen.3 Ebenso gehört die sogenannte Staatslehre von 1813, die Fichte explizit als „Vorträge verschiedenen Inhalts aus der angewendeten Philosophie“ angekündigt hat, zum Bestand dessen, was als ein ausgearbeiteter Entwurf zum „Zwischenreich“ angewandter Philosophie gerechnet werden muss. Auch die Abhandlung über den Geschlossenen Handelstaat (1800) wird von Fichte als ein zwar transzendental begründeter, jedoch nicht rein wissenschaftlicher Entwurf für die Gestaltung einer vernünftigen Nationalökonomie vorgestellt. Gerade von diesem Versuch her lässt sich der Gedanke angewandter Wissenschaften noch ein Schritt weiter führen und systematisch erfassen. Zwar verlässt die Philosophie hier im Ausgriff auf realgeschichtliche und realpolitische Strukturen und Phänomene der Empirie die sichere Grundlage einer streng wissenschaftlichen staats- und rechtsphilosophischen Analyse; weil aber ihre realgeschichtlichen Betrachtungen und Anweisungen unter Rückgriff auf eine vernunftbegründete Rechts- und Staatslehre erfolgen, ist auch ihr empirisches Urteil nicht subjektiv beliebig. Den Analyse- und Urteilsbereich angewandter philosophischer Wissenschaft, der sich speziell hier zwischen reiner Rechts- und Staatslehre einerseits und historisch-empirischer Wirklichkeit anderseits auftut, nennt Fichte in spezifischem Sinne: die Politik. Mit dem Begriff der Politik wird somit ausdrücklich eine Wissenschaft benannt, die das prinzipiell offengelegte „Zwischenreich“ angewandter Philosophie näher, nämlich in der Vermittlung von reiner Staatslehre und historisch-empirischer Organisation des Gesellschaftlichen, bestimmt. Im „Zwischenreich“ angewandter Philosophie eingeordnet, lautete die Aufgabe der Politik dem entsprechend: „den Weg [zu beschreiben], wie man einen bestimmten Staat zur einzig vernunftmäßigen rechtlichen Verfassung [...] hinleiten kann“ (GA II, 5, 60). Auch für zwei weitere Formen angewandter Philosophie hat Fichte zumindest deren systematische Zuordnung, ihren Begriff und ihre Aufgabe bestimmt. Eine davon ist nun die Pädagogik oder Erziehungskunst und die andere die Ascetik. Beide aber sind keine Anwendungsfälle reiner Rechtslehre, sondern angewandte Moral- und Sittenlehre. _____________ 3
Zum systemtheoretischen Status von Fichtes Religionslehre als angewandter Wissenschaft vgl. Hartmut Traub: J. G. Fichtes Populärphilosophie 1804-1806. Stuttgart-Bad Cannstatt 1992, S. 167-180.
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Eine angewandte Moral- und Sittenlehre, d. h. eine Vermittlung von apriorischer Sittenlehre und individueller Bestimmung konkret empirischer Sittlichkeit, lässt sich nach Fichte auf zweierlei Weise denken. Nämlich zum Einen als eine Anweisung, die sich systematisch darauf richtet, „wie wir den Gedanken der Pflicht stets in uns gegenwärtig [...] erhalten“ (ebd., 63; Hervorhebung v. Vf.). Diesen Anwendungsbereich der Morallehre nennt Fichte die Ascetik „als Anhang der Moral“ und „pragmatische Kunstlehre der Sittlichkeit“ (ebd., 59).4 Der angedeutete zweite Fall einer angewandten Morallehre führt uns nun auf den systematischen Begriff der Pädagogik „im weitläufigsten Sinne“ (ebd., 62), nämlich als einer natürlich begründeten „Theilnahme an fremder Einsicht und Bildung“ (SW IV, 482) und weiter, als derjenigen Wissenschaft, die zeigt, wie man, nicht sich selbst, sondern den „Andern zur moralischen Gesinnung [zwar nicht bringen, aber doch] wenigstens Anleitung geben, d. h. ihn aus sich selbst dahin bestimmen [kann], sich dazu zu erheben“ (GA II, 5, 62; Hervorhebung v. Vf.).5 _____________ 4
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Die Ascetik als Anhang der Moral setzt das System der Sittenlehre (1798) voraus. Immanuel Hermann Fichte verweist daher in seiner Ausgabe von Fichtes Werken auf einige Passagen der Sittenlehre, auf die sich die Vorlesungen über die Ascetik beziehen. Die Charakterisierung der Ascetik als „pragmatische Kunstlehre der Sittlichkeit“ sowie der Zusammenhang zwischen Ascetik und allgemeiner Sittenlehre überhaupt folgt einem solchen Hinweis I. H. Fichtes. Siehe dazu die Fußnote in SW XI, 119. Zwar wirkt auch die Politik, als angewandte Rechtslehre, auf die äußerlichen Verhältnisse der Menschen untereinander, und damit eben nicht allein auf mich, sondern auch auf Andere. Jedoch ist dabei sowohl der Handlungsrahmen als auch der Handlungszweck der Politik nicht Moralität, sondern Legalität (GA II, 5, 61). Im Sinne der systematischen Verortung in der Architektonik der Wissenschaftslehre bestimmt Reinhard Lauth über die genannten angewandten Wissenschaften hinaus: Die Anweisung zum seeligen Leben (1806) als angewandte Religionslehre sowie die „Technik (von Fichte ‚Praktik’ genannt) für die Naturlehre“ (Lauth, a. a. O., S. 279 f.). Den Begriff der Pädagogik begründet Lauth ausdrücklich nicht im systematischen Kontext angewandter Wissenschaften. Sondern die Pädagogik bekommt in seiner Darstellung der Gesamtidee der Philosophie Fichtes den Ort einer „Praxis des Bildens“ zugewiesen (ebd. S. 281 f.). Zwar wird an dieser Stelle auch die Pädagogik „als Wissenschaft” genannt, ihr systematischer Ort aber bleibt unbestimmt. Da Fichte, wie wir gesehen haben, sowohl den Grundbegriff der Ascetik als auch den der Pädagogik aus der transzendentalen Morallehre – und zwar gleichursprünglich – ableitet, liegt es nahe und spricht auch nichts dagegen, wenn denn die Ascetik als eine Grundgestalt angewandter Philosophie zu verstehen ist, der Pädagogik eben denselben systematischen Status zuzuordnen und sie nicht, wie Lauth vorschlägt, als lediglich „praktisch angewandte Philosophie“ (ebd., S. 285) aufzufassen. Was sicherlich zu klären wäre, und worauf wir noch zu sprechen kommen werden, ist eine genauere Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem transzendentalen Begriff der Pädagogik, ihrer Gestalt als angewandter Wissen-
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Wo hat uns Fichte mit dieser Lokalisierung der pädagogischen Leitfrage nach den Bedingungen der Möglichkeit, jemand Anderen zur moralischen Gesinnung zu bringen, abgesetzt? Weder schweben wir in den spekulativen Höhen der transzendentalen Bildungsphilosophie, noch kämpfen wir auf dem weiten Feld der geistesgeschichtlichen Auseinandersetzung um die großen Kulturideen des Abendlandes. Stattdessen befinden wir uns im intimen Raum des pädagogischen Verhältnisses, in dem nach Grenzen und Möglichkeiten konkreter Beihilfe zur Förderung der Selbstbestimmung gefragt und Ausschau gehalten wird. Wir stehen im „Zwischenreich“ angewandter Philosophie, die sich unter gegebenen empirischen und das heißt hier: unter höchst individuellen Bedingungen um eine Realgenesis der Vernunft bemüht. Der Andere, dem Anleitung gegeben werden soll, sich selber zur moralischen Gesinnung zu bestimmen und zu erheben, ist, unter konkreten empirischen Bedingungen, niemals ein Abstraktum, etwa der Zögling oder Schüler überhaupt, sondern stets ein je konkretes, empirisches Individuum mit einer einmaligen Biographie und mit unverwechselbaren Eigenheiten.6 Jenseits transzendentaler Bildungsphilosophie und jenseits kultur- und gesellschaftskritischer Analyse hat Fichte speziell auf diesem Gebiet angewandter Philosophie, der Pädagogik und Erziehungskunst, Bemerkenswertes zu bieten und zwar weit mehr als auf den anderen genannten Gebieten angewandter Philosophie. Der Grund dafür liegt nicht zuletzt in der biographische Besonderheit, dass Fichte nicht nur in seinem ersten Beruf, und zwar über ein halbes Jahrzehnt, praktizierender Erzieher war, sondern, dass er die hier gemachten Erfahrungen im Hinblick auf den später entwickelten Begriff der Pädagogik als angewandter Philosophie kritisch reflektierend dokumentiert und bis in die letzten Jahre seines Lebens, etwa in der sogenannten Staatslehre von 1813, weiter entwickelt hat. An dieser Ortbestimmung des Pädagogischen ausgerichtet wird sich die folgende Untersuchung sowohl von der geistes- und kulturgeschichtlichen wie von der systematisch-transzendentalen Blickrichtung ab- und einem Analyseansatz zuwenden, den Klaus Hammacher „Biographie als Pro_____________
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schaft und der wissenschaftlich begründeten Lehre pädagogischer Praxis, d. h. der Erziehungskunst im engeren Sinne. Herrmann Nohl hat diesen Kernbereich des pädagogischen Verhältnisses in seiner 1933 erschienen Arbeit zur „subjektiven Pädagogik“ den „pädagogischen Bezug“ genannt. Und damit, wie wir bei Fichte bereits gesehen haben, neben der reinen Theorieebene pädagogischer Begriffsbildung und dem gesellschaftskritischemanzipatorischen Potenzial und Anspruch der Pädagogik, die Dimension angewandter Pädagogik als substanziellen und unverzichtbaren Bestandteil eines umfassenden Verständnisses des Pädagogischen herausgestellt (vgl. Herrmann Nohl: Die Pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie. 6. Aufl. Frankfurt a. M. 1961).
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blemgeschichte“7 genannt hat. Auf diesem Weg soll Fichte über drei Stationen seiner Wanderjahre begleitet werden. Drei Stationen, die jeweils in erziehungspragmatischen Kontexten Auslöser für pädagogische Reflexionen gewesen sind und über die sich sukzessive das Gesamtbild einer Erziehungsphilosophie zusammenfügt, das philosophisch substantiell bleibt, ohne den Raum des originär pädagogischen Verhältnisses und ohne den pragmatischen Rahmen angewandter Philosophie verlassen zu müssen. Das auf diesem Wege induktiv und biographisch gewonnene elementare Verständnis der Pädagogik gälte es dann mit dem transzendental-deduktiven und dem kulturgeschichtlichen Ansatz zu vermitteln, um alle drei Perspektiven: den transzendentalen Grund, den kulturhistorischen Kontext und den Begriff pädagogischer Praxis zur systematischen Synthesis einer Philosophie der Bildung zu vereinen.8
Grundlegung einer Philosophie der Erziehung in Fichtes Wanderjahren. Erste Station: Fichtes frühe Wanderjahre Nach seinen schulischen und akademischen „Lehrjahren“ beginnen Fichtes wechselvolle und entbehrungsreiche Wanderjahre als Hauslehrer.9 Auf einem existenziellen Tiefpunkt im Frühjahr 1784 – Fichte trägt sich mit dem Gedanken an Selbstmord – vermittelt ihm ein befreundeter Gönner, _____________ 7
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Klaus Hammacher: Biographie als Problemgeschichte. In: M. Baum und K. Hammacher (Hrsg.): Transzendenz und Existenz. Idealistische Grundlagen und moderne Perspektiven des transzendentalen Gedankens. Amsterdam/Atlanta 2001 (= Elementa; Bd. 76), S. 101-119. Auf diese Weise ließe sich dem wissenschaftstheoretischen Anspruch der Pädagogik, wie ihn etwa Wolfgang Brezinka im 20. Jahrhundert erhoben hat, entsprechen. Denn was zu einem systematisch ausgereiften Begriff der Pädagogik gehört, das sind eben die drei Elemente spekulativ philosophischer Theorie, kritischer Analyse historisch empirischer Bildungs- und Erziehungswirklichkeit und schließlich die Entfaltung der Dimension einer praktischen Erziehungskunst. Vgl. Wolfgang Brezinka: Erziehung in einer wertunsicheren Gesellschaft. München/Basel 1999. Nach der von Erich Fuchs zusammengestellten Lebens-„Chronik“ hat Fichte zwischen 1785 und 1792 nicht weniger als sechs bzw. sieben Hauslehrerstellen innegehabt. Einige davon allerdings nur sehr kurz: 1785 bei Familie Hähnel in Elbersdorf bei Dittersbach, 1786/87 bei Familie Helbig in Wolfshain, möglicherweise 1787 in Oelzschau, 1788-90 bei Familie Ott in Zürich, 1790 bei Familie Thieriot in Leipzig, 1791 bei Graf Plater in Warschau und 1791/92 bei Graf Krockow in Krockow bei Danzig. Vgl. Erich Fuchs: Fichte im Gespräch. Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, Bd. 5, S. 204-230.
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Christian Felix Weiße, eine Hauslehrerstelle bei der angesehenen Hotelierfamilie Antonius Ott in Zürich. Im August 1784 bricht Fichte „mit frischen Hoffnungen und jugendlicher Gesundheit“ zu Fuß von Leipzig auf. In „oft gewaltigen Tagesmärschen, über Nürnberg, Ulm, Lindau, [...] den herrlichen Bodensee [...], über Constanz und Winterthur [erreicht] er am ersten September [...] seine neuen Verhältnisse“, das Haus der Familie Ott.10 Dem Wunsch der Familie entsprechend sollte sich Fichtes Erziehung der beiden Kindern, Susanne und Hans-Caspar Ott, vor allem auf deren religiöse Bildung richten. Von Beginn der Arbeit an herrschte zwischen dem neuen Hauslehrer und den Eltern ein reger, aber nicht dissensfreier Austausch über Methoden und Ziele der Erziehung. Ein Hauptstreitpunkt war dabei die Frage nach dem Wie der Vermittlung und Aneignung von Wissen. In einem Brief an Antonius Ott aus dem Jahre 1788 beklagt Fichte die durch seinen Vorgänger, G. M. Hurter, stark eingeübte Unart des „Auswendiglernens“. Fichte schreibt: „Die liebe Susette [...] sagte mir eins ihrer auswendig gelernten [Kirchen-] Lieder [...] her die sie gröstentheils ohne Anstoß konnte“ (GA II, 1, 147). Fichte kritisiert nun, dass das Kind lediglich „kalt, monoton, rein mechanisch und gedankenlos“ den Text aufsagte. Die Antworten, die Susette auf Fichtes Fragen, was sie sich denn bei dem Text denke, zeigten, dass sie „von all den heiligen Wahrheiten nichts wusste, als den Schall [der Worte]“ (ebd.). Geistloses Dahersagen aber, so Fichte, „halte ich nicht für wahre Religionskenntnis“ (ebd.); insbesondere deswegen nicht, weil es das von Fichte den Eltern Ott unterstellte Anliegen unterminiere, „ihre Kinder zu guten u. vernünftigen Christen gebildet zu wiszen“ (ebd.). Im Verlauf der Auseinandersetzung erläutert Fichte dann seine eigene, gegen mechanisches Auswendiglernen gerichtete Lernstrategie, deren zentrale Prinzipien Aufmerksamkeit und Nachdenklichkeit sind. Es geht ihm dabei um das „Denkenlernen“ als den „Endzwek der Erziehung“; d. h. um das Verfahren, „Gedanken aneinander zu ketten, Ordnung, Suczession und Regelmäßigkeit“ in den Geist der Kinder zu bekommen, mit einem Wort darum, die Kinder „vernünftig zu machen“ (ebd., 173). Die didaktisch-technisch anmutende Schulung von Aufmerksamkeit und Nachdenklichkeit unterstellt Fichte nun allerdings einer allgemein-pädagogischen, ja eudämonistischen Zielperspektive. Denn, so Fichtes Argument, methodisch geschulte Aufmerksamkeit und Nachdenklichkeit sind notwendige Schritte, um „das Vorrecht des Menschen, als Mensch, [...] und
_____________ 10 Immanuel Hermann Fichte: Johann Gottlieb Fichte’s Leben und litterarischer Briefwechsel, Erster Theil. Sulzbach 1830. S. 39 f.
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die höchste Quelle seines Glücks“ zu verwirklichen, nämlich: „Selbst denken und selbst urteilen zu können“ (ebd., 181).11 Was in Fichtes frühen erziehungspraktischen Reflexionen an Grundsätzlichem sich abzuzeichnen beginnt, sind die Prinzipien, die in der Folgezeit den spezifischen Charakter seines Philosophiestils prägen. Denn übersetzen wir „Aufmerksamkeit“, „Nachdenklichkeit“ und „Denkenlernen“ in die Terminologie der Wissenschaftslehre, dann befinden wir uns auf dem Boden der 1797/98 systematisch eingeführten „Anfangsgründe“ des Philosophierens und der „Ich-Werdung“ überhaupt. Bekanntlich beginnt die „nova methodo“ der Wissenschaftslehre mit der Forderung: „Merke auf dich selbst: kehre deinen Blick von allem, was dich umgiebt, ab, und in dein Inneres; [...] Denke dich, construire den Begriff deiner selbst; und bemerke, wie du das machst“ (GA I, 4, 186/213). Aus ihrem konkreten didaktischen Entstehungszusammenhang gelöst, sehen wir Aufmerksamkeit, Konzentration, Reflexion und Selbstkonstruktion nun in der Wissenschaftslehre zu allgemeinen Prinzipien einer philosophischen Anthropologie erhoben.12 Bei dieser Andeutung zum „pädagogischen Verhältnis“ und dessen konstitutivem Charakter für das Verständnis der Wissenschaftslehre wollen wir es an dieser Stelle belassen und auch die pädagogische Leitfrage nach „der Anleitung zu einer moralischen Gesinnung“, über die auch Fichtes frühe pädagogischen Reflexionen Grundlegendes enthalten, im Kontext der _____________ 11 Der hier in der Frühphase des Fichteschen Denkens anklingende Zusammenhang zwischen seiner erzieherischen Praxis und den Maximen und Postulaten allgemeiner Aufklärung lässt sich durch den Hinweis auf einen der wenigen gesicherten Belege, den wir zu Fichtes Literaturstudium haben, verstärken. Es sind vor allem zwei Bücher, die im hier erörterten biographischen und thematischen Zusammenhang Einfluss auf Fichtes Denken ausgeübt haben. Nämlich Carl Friedrich Bahrdts Buch Über Aufklärung und die Beförderung derselben von einer Gesellschaft (Leipzig 1789; vgl. II, 1, 211) und Martin Ehlers Winke für gute Fürsten, Prinzenerzieher und Volksfreunde (Kiel/Hamburg 1786/87). Letzteres hat Fichte den Anstoß gegeben, eine eigene erziehungsphilosophische Abhandlung zu verfassen, zu der er, wie es in seinem Züricher Tagebuch heißt, bereits „erste Ideen aufgesetzt“ hatte (GA II, 1, 212). 12 Diesen Grundsatz „pragmatischen Philosophierens“ wird Fichte zeit seines Lebens nicht mehr aufgeben. Denn auch in der so genannten Spätphilosophie lesen wir: „Nun gibt es eine andere Kunst zu der ich den Zögling selbst eben anführen will. 1.) [...] Die Kunst sich selbst zum Philosophen zu machen. Dazu gehört [...] durch selbst thun, selbst denken, selbst den [...] angeregten Begriffen nachgehen, u. sie zur Regel machen [...], die Kunst des Deducirens [...] 2.) noch mehr [...] das sich hingeben, den Ahndungen, [...] [dass man jede] bis auf [ihren] Punkt der Klarheit, u. Gewissheit entwikle; rükgehend bis auf die Gründe, die lezten, soweit man kann sich selbst kritisire. So kommt allmählich Einheit, u. Ordnung in unsren Geist“ (GA II, 11, 268 ff.).
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nun folgenden Etappen seiner Wanderjahre erörtern. Auf einen Sachverhalt zur Problemgeschichte der Wissenschaftslehre sei jedoch von der frühen biographischen Episode aus noch einmal aufmerksam gemacht. Fichtes frühe Reflexionen zur Bildungs- und Erziehungsphilosophie sind nicht transzendental begründet, sondern die hier vollzogenen Einsichten haben ihre Wurzeln in lebendiger erziehungspraktischer Erfahrung. Für die Problemgeschichte der Wissenschaftslehre bedeutet das: Lange bevor die in sich zurückgehende Tathandlung das transzendentale Prinzip der IchPhilosophie wurde, hatte sich bei Fichte die Maxime, auf sich selbst zu reflektieren, zur Grundlage seiner Erziehungsarbeit herausgebildet. Lange bevor die Evidenzerfahrung lebendiger Begriffskonstruktion in intellektueller Anschauung als einziger Weg zu sicherer Erkenntnis in der Philosophie und als Grund einer auch moralischen Fundierung der Persönlichkeit systematisch entfaltet wird und lange bevor der transzendentale Raum als der einzig legitime Rahmen für die Fundierung einer Theorie und Praxis von Bildung und Erziehung erschlossen wird, lange vordem auch hatte Fichte die hierzu notwendigen elementaren Einsichten bereits in seinen Erfahrungen mit den ihm anvertrauten Schützlingen und in der Auseinandersetzung mit deren Eltern vollzogen. Und noch etwas nicht weniger Bedeutendes: Lange bevor sich Fichte mit seiner Wissenschaftslehre gegen Jacobis Vorwurf des Atheismus und Nihilismus verteidigen musste, wurde seiner Arbeit als Hauslehrer bei der Familie Ott, wenn auch weniger folgenreich, vorgeworfen, den Kindern auch in Angelegenheiten der Religion zu wenig „Katechismus“ und zu viel eigenständiges Denken und Empfinden nahe bringen zu wollen (GA II, 1, 185 ff. u. 234). Mit Blick auf diesen religionspädagogischen Streitpunkt macht uns I. H. Fichte auf ein wichtiges Motiv seines Vaters aufmerksam, von dem er behauptet, dass es, neben der materiellen Not, der entscheidende Grund für dessen Aufbruch in die Schweiz gewesen sei: Fichtes theologische Auffassungen und religiöse Einstellung. Der „wahre Grund“, schreibt I. H. Fichte, „der überhaupt in Sachsen [Fichtes] Fortkommen als Geistlichen im Wege stand: [...] war derselbe, der auch seinem Freunde Weißhuhn und manchem Anderen zum Hinderniß gereichte. Man hegte Zweifel an seiner theologischen Rechtgläubigkeit“. Diese generelle Mutmaßung I. H. Fichtes hat einen konkreten Hintergrund. Nach dem Tod des Förderers seines Vaters, des Grafen von Miltitz, und der Einstellung der regelmäßigen Unterstützungen durch dessen Frau, scheitert Fichtes Versuch, über ein Stipendium sein Theologiestudium zu beenden, um dann in Sachsen Pfarrer zu werden. Seinem Antrag beim sächsischen Konsitorialpräsidenten, von Burgdorf, hatte Fichte eine Predigt beigelegt. Offenbar, so I. H. Fichte, entsprach „die mitgetheilte Predigt [nicht] dem Geiste[...], den man nun
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einmal unter den jungen Theologen aufrecht erhalten wollte. [...] Jetzt verschwand aber immer mehr die Hoffnung [...], in seinem Vaterlande zu einer angemessenen Beförderung zu gelangen, und es blieb [Fichte] Nichts mehr übrig, als sein Muth, und sein Vertrauen auf die Vorsehung. Und diese war es, die, wie schon so oft auch jetzt mit dem einleuchtendsten Beweise höherer Fügung [in Gestalt des Angebots der Hauslehrerstelle in Zürich] in’s Mittel trat“.13
Zweite Station: Die mittleren Wanderjahre Wir verlassen Fichtes Züricher Zeit und springen in seiner Biographie zehn Jahre weiter. Wieder finden wir den Philosophen auf der Wanderschaft, und wieder hat der Aufbruch einen religionsphilosophischen Anlass. Fichte war 1799 im Zuge des Atheismusstreits aus seinem Lehramt in Jena entlassen worden und nach Berlin gezogen. Die näheren Umstände seines Weggangs hatten ein ziemliches Rumoren hervorgerufen. Aus Solidarität mit dem angesehenen und beliebten Lehrer trugen sich einige seiner Kollegen mit dem Gedanken, Jena ebenfalls den Rücken zu kehren. In diesem Geist des Aufbruchs entstand eine Idee, die Schelling die „Jenaer Kolonie in Berlin“ nannte. Fichte hatte geplant, eine philosophisch-künstlerische Arbeits- und Lebensgemeinschaft zu gründen und zwar mit Schelling und den Gebrüdern Schlegel. Am 2. August 1799 schreibt er an seine Frau: „Mein Plan ist der, wenn Wilhelm Schlegel, mit seiner Familie nach Berlin kommt, und ich arbeite mit daran, es dahin zu bringen [...], so machen wir, d. h. die beiden Schlegels, Schelling [...] und wir Eine Familie, miethen Ein grosses Logis, halten eine Köchin und so weiter u. so denke ich, soll es sich recht gut leben“ (GA III, 4, 27). Die Gründung einer philosophisch-künstlerischen Kolonie in Berlin hatte den realgesellschaftlichen Hintergrund, dass es Fichte in den ersten Jahren schwer fiel, in der Berliner Intellektuellenszene Fuß zu fassen. Es gab massiven Widerstand gegen die „Vonvornherein-Philosophie“, wie die kritische Transzendentalphilosophie mit ihren Prinzipien a priori spöttisch genannt wurde. Haupt der Anti-Fichte-Koalition war Friedrich Nicolai, der einflussreiche Herausgeber der Allgemeinen Deutschen Bibliothek, der glühende Verehrer Voltaires und der aufgeklärte Mitstreiter Mendessohns und Lessings. Zentraler Punkt des Streits zwischen ihm und Fichte ist nun bezeichnender Weise kein philosophischer, sondern ein pädagogischer. Nicolai greift Fichte weniger als Philosophen, sondern vielmehr als Lehrer an. Bei allem Zugeständnis an die Denk- und Publikationsfreiheit, die er _____________ 13 Immanuel Hermann Fichte, a. a. O., S. 32 ff.
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auch für den verrufenen Atheisten Fichte reklamiert, sind es dessen „fanatische Rechthaberei“, sein wissenschaftlicher Systemzwang und Monismus, seine Unduldsamkeit und dogmatische Verkehrtheit, v. a. aber seine gewaltsame Intoleranz gegenüber anderen Philosophen sowie seine geradezu apokalyptische Weltverachtung, die ihn im Urteil Nicolais als Denker skurril, als Lehrer aber gänzlich unakzeptabel erscheinen lassen. Anstoß zu solcher Kritik waren u. a. Fichtes Reden über die Köpfe, die den Juden abgeschnitten werden sollten, um sie durch bessere zu ersetzen (GA I, 1, 293) oder die Forderung an die Fürsten, sich lieber mit ihren Völkern unter den Trümmern untergehender Welten begraben zu lassen, als die Denkund Redefreiheit zu unterdrücken (GA I, 1, 187).14 Solche und ähnliche Ansichten seien zwar unter dem Gebot der Toleranz privat, nicht aber im Lehramt an öffentlichen Schulen, zu dulden. Infolgedessen sei es Recht und Pflicht des Staates, die noch ungebildeten Studenten vor diesem wahnwitzigen Unsinn zu schützen. „[So] sehr ich auch wünsche“, schreibt Nicolai, „dass man weder Herrn Fichte noch sonst jemand hindere in seinen Schriften vorzutragen, was er für gut finde; so halte ich es doch für schädlich, dass der noch ungebildeten Jugend Herrn Fichtens Grundsätze und sonderlich auf die Art, wie er sie [...] vorbringt, auf niederen und höheren Schulen, mündlich eingeprägt werden.“ Denn das hieße, „die Jugend zur blindesten Intoleranz anführen, den Samen zu ewigem Haß und Zwiespalt in sie zu legen, in dem man zugleich den thörigsten Dünkel der Alleinweisheit in ihren jungen Herzen aufkeimen ließe.“15 In diesem feindseligen Klima war es für Fichte nunmehr überlebenswichtig, sich eine Sphäre zu schaffen, in der er nicht nur gesellschaftlich _____________ 14 Vgl. Hartmut Traub: J. G. Fichte, der König der Juden spekulativer Vernunft – Überlegungen zum spekulativen Antijudaismus. In: Fichte Studien 21 (2003), S. 131-150. Die Fichte Studien werden im Folgenden als FS zitiert. Vgl. auch ders.: „Die Wahrheit muss gesagt werden [...]“ – Über ein Fichte-Zitat bei Friedrich Nietzsche“. In: FS 15 (1999), S. 189-210. 15 Friedrich Nicolai: Über meine gelehrte Bildung, über meine Kenntnisse der kritischen Philosophie. In: Gesammelte Werke. Hrsg. von B. Fabian und M. L. Spieckermann. Hildesheim/Zürich/New York 1997, Bd. 1, 2, S. 223 ff.. Leider ist das Kapitel Fichte und Nicolai in der Fichte-Forschung bisher nur bedingt objektiv angegangen worden. Die Polemik in der Auseinandersetzung der Protagonisten hat sich weitgehend in der Forschungsliteratur niedergeschlagen. Statt einer Sachauseinandersetzung um die verschiedenen Konzeptionen von Aufklärung bei Fichte und Nicolai, wird v. a. der persönliche und gesellschaftliche Kontext der Kontroverse, und auch dieser nicht immer unparteiisch, beleuchtet. Vgl. hierzu das ausführliche, im Grundton stark apologetische Vorwort von Reinhard Lauth zu Friedrich Nicolais Leben und sonderbare Meinung. In: J. G. Fichte-Gesamtausgabe (GA I, 7, 327-363) sowie Erich Fuchs: Fichte und die Berliner Aufklärung. In: Carla de Pascale/Erich Fuchs u.a. (Hrsg.): Fichte und die Aufklärung. Hildesheim/Zürich/New York 2004, S. 53-68.
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überleben, sondern auch philosophisch wirken konnte. Diesem Ziel sollte nun die oben erwähnte Gründung der „Jenaer Kolonie“ in Berlin dienen.16 Pädagogisch und literarisch hatten diese Auseinandersetzungen und Pläne zwei für unser Thema bedeutsame Konsequenzen. Einerseits musste sich Fichte gegenüber Nicolais Attacken öffentlich positionieren. Das tat er durch die von A. W. Schlegel 1801 herausgegebene anonyme Polemik Friedrich Nicolai’s Leben und sonderbare Meinungen (GA I, 7, 366-463). Andererseits drängten ihn seine privaten Berliner Verhältnisse, nämlich die Erziehung seines Sohnes Immanuel Hermann, dazu, sich wieder einmal mit Fragen der Pädagogik zu befassen. Ergebnis dieser Beschäftigung sind die Aphorismen über Erziehung (GA II, 7, 11-22). Die Polemik gegen Nicolai trägt den für unsere Frage bedeutsamen Untertitel: „Ein Beitrag zur Litterargeschichte des vergangenen und zur Pädagogik des angehenden Jahrhunderts“ (GA I, 7, 365, Hervorhebung v. Vf.). Insbesondere den letzten Teil des Untertitels trägt diese Schrift zu Recht. Denn es ist sicher nicht übertrieben, wenn wir in dieser nur auf den ersten Blick persönlichen Auseinandersetzung den Streit zweier Paradigmen von Bildung und Erziehung erkennen: nämlich den zwischen enzyklopädischer und systematischer Bildung. Diese Differenz wird zunächst dadurch deutlich, dass Fichte ironisierend die Person Nicolai im Prinzip ihres Charakters a priori begründet und dessen Persönlichkeitsmerkmale aus diesem Prinzip „systematisch deduziert“. In der sicherlich persiflierend gemeinten Konstruktion der Persönlichkeit Nicolais a priori liegt jedoch ein tieferer Sinn. Denn, und darin besteht der kritisierte Wesenszug enzyklopädischer Bildung, was für Fichte an Nicolai nicht zu erkennen ist, ist dessen positiv feststellbares Persönlichkeitsprofil. Nicolai erscheint Fichte als das, was der Kulturkritiker Günter Anders im 20. Jahrhundert einen „passiven Simultanspieler, ein Divisum,“ genannt hat.17 Eklektizistisch, rhapsodisch, identitätslos, das eigene Selbstbewusstsein, den eigenen Antrieb wesentlich aus der Negation des Anderen begründend und bestimmend, verbleibt der Typus Nicolai aus sich heraus wesentlich konturlos. Pars pro toto haben wir es bei F. Nicolai mit dem zu tun, was Fichte eine Erscheinung der „leeren Freiheit“ (GA I, 8, 209) genannt und als das geistesgeschichtliche Prinzip des gegenwärtigen Zeitalters (1804), als Epoche _____________ 16 Hauptanliegen der zu gründenden künstlerischen Philosophengemeinde war die Herausgabe einer großen auch rezensierenden Kulturzeitschrift, die gegen Nicolais Allgemeine Deutsche Bibliothek und andere Intelligenzblätter den neuen Geist des transzendental-kritischen Zeitalters verbreiten sollte (vgl. Hartmut Traub: Schelling-Fichte Briefwechsel. Neuried 2001, S. 38-53). 17 Günter Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. 1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München 1988, § 13, S. 135-142.
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„negativer Aufklärung als Ausklärung“, charakterisiert hatte (ebd., 223). In ihr formiert und etabliert sich eine eklektizistische Vielwisserei, der jedes Kriterium zur Unterscheidung zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem abgeht. In diesem Grundzug des Zeitalters verkehrt sich Toleranz zu einem Pluralismus der Beliebigkeit und schließlich „zur absoluten Ertödtung alles Sinnes für Wahrheit, Ernst und Gründlichkeit, und zur radikalen Verkehrung und Zerrüttung des Geistes“ (I, 7, 370). Es war nun Fichtes Anliegen, Friedrich Nicolai als „das vollendetste Beispiel einer solchen radikalen GeistesZerrüttung [...] allen Studierenden [...] und allen, die auf Bildung dieser Jünglinge Einfluß hätten, zum warnenden Beispiele hin[zu]stellen“ (ebd., 370 f.).18 Fichtes pädagogischen Gegenentwurf zur enzyklopädischen Vielwisserei des Bildungstypus’ Nicolai entnehmen wir nicht seiner Polemik gegen das Haupt der Berliner Aufklärung. Stattdessen greifen wir einen weiteren biographischen Aspekt auf, der sich aus Fichtes schwierigem Einstand in Berlin ergab und der uns wieder enger an das pädagogische Verhältnis und dessen Grundfrage heranführt, nämlich: wie es möglich sei, „Andern zur _____________ 18 Erich Fuchs nennt Fichtes Schrift gegen Nicolai das „wohl unerfreulichste Buch unseres Philosophen“ (in: de Pascale, a. a. O., S. 60). Entgegen dem abwertenden Urteil von Fuchs ist es die in dieser Arbeit entwickelte Differenz zwischen einer enzyklopädischen und einer systematisch Bildung, die ein stärkeres Interesse an Fichtes Polemik gegen Nicolai begründen könnte. Denn hier werden nicht nur ganz allgemein zwei Bildungs- und Didaktikparadigmen einander gegenübergestellt, sondern Fichte markiert damit auch einen wesentlichen Unterschied zwischen der durch die französischen Enzyklopädisten einerseits und der durch die deutschen Systematiker andererseits geprägten europäischen Aufklärung (die britische und andere Aufklärungstraditionen seien hier einmal ausgeklammert). Fichte wird diese Differenz dann 1808 in seiner scharfen Konfrontation von deutscher und französischer Kultur- und Geistesgeschichte in den Reden an die Deutsche Nation aufgreifen und ausführlich erörtern. Und im Rahmen des Deduzirten Plans einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt wird diese Differenz zwischen enzyklopädischer und systematischer Bildung metaphorisch als „Unermesslichkeit [...] des unbekannten Weltmeeres“ einerseits und „der väterlichen Wohnung mit deren wohlbekannten Kammern und Schätzen“ andererseits veranschaulicht (GA II, 11, 98). Was der deduzierte Plan über die Entgegensetzung der beiden Bildungstypen hinaus leistet, ist dann die positive Integration des enzyklopädischen Wissens in den Rahmen eines ausgearbeiteten Systems der Bildung (ebd., 105 ff. u. 119 ff.). Wodurch sich Fichtes Plan gegen die Idee einer bloßen Aggregation beliebiger Wissensvielfalt als durchdachtes Konzept „uni-versitärer“ Bildung abgrenzt. In diesem Zusammenhang ist der „Nikel“, so die Koseform der Polemik gegen F. Nicolai, zum konstitutiven Bestand nicht nur der erziehungs- und bildungsphilosophischen, sondern insbesondere der kultur- und geschichtsphilosophischen Schriften zu rechnen, die bekanntlich den Kernbestand der Philosophie Fichtes und seines geistesgeschichtlichen Selbstverständnisses darstellen.
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moralischen Gesinnung wenigstens Anleitung [zu] geben, d. h. [sie] aus sich selbst dahin [zu] bestimmen, sich dazu zu erheben“ (GA II, 5, 62). Durch die Geburt des Sohnes Immanuel Hermann waren die Fichtes seit Juli 1796 eine Familie. Immanuel Hermann war zur Zeit der Übersiedlung nach Berlin vier Jahre alt. Angesichts der prekären gesellschaftlichen Verhältnisse, in die Fichte geraten war, wurde die Frage nach der Erziehung des eigenen Sohnes drängend. Nun hatte Fichte während seiner Hauslehrerzeit genügend Erfahrungen im Erziehungsgeschäft gesammelt und mit Blick auf die Anfeindung gegen seine Lehrtätigkeit in Berlin, war beides Ansporn genug, die Erziehungsaufgabe am eigenen Sohn selber zu übernehmen. So entstand im Nachklang der „kolonialen Berliner Gründungsidee“ einer Lebens- und Arbeitsgemeinschaft der Plan, den eigenen Sohn gemeinsam mit den Kindern von Freunden und Bekannten im eigenen Hause zu erziehen. Zur eigenen Klärung und Rechtfertigung gegenüber den Eltern der anderen Kinder, entwickelt Fichte in den Aphorismen zur Erziehung einen Lehrplan, der den Stand seiner bis zu diesem Zeitpunkt gereiften pädagogischen Grundsätze enthält (GA II, 7, 6-22).19 _____________ 19 Möglicherweise ist diese erste Gründungsidee eines „Kinderladens“ in Berlin auf Fichtes Begegnung und pädagogischen Austausch mit Johann Heinrich Pestalozzi zurück zu führen. Fichte hatte in seiner zweiten Züricher Episode (1793 bis April 1794) Pestalozzi persönlich kennen gelernt und mehrere Tage auch bei ihm in Richterswil gewohnt (vgl. GA III, 2, 23 und Erich Fuchs: Fichte im Gespräch, a. a. O., Bd. 1, S. 67-72. Dem Einfluss, den diese Begegnung auf Fichtes pädagogisches Denken ausgeübt hat, werden wir an anderer Stelle noch begegnen. Auch hatte sich Fichte schon kurz nach der Geburt seines Sohnes grundlegende Gedanken zu dessen Erziehung und Bildung gemacht. Am 6.3.1797 macht er seinem Exkommilitonen aus Jenaer Studentenzeiten, J. J. Wagner, das Angebot, die Erziehung von Immanuel Hermann zu übernehmen und teilt ihm mit: „Meine Hauptregel ist, daß das Kind bei’m ersten Erwachen seiner Vernunft gleich als völlig vernünftig behandelt werde; daher unablässig in verständiger, u. gesezter Gesellschaft sey, die sich mit ihm unterhalte, als ob er selber verständig sey. So wird er es. Dann, daß er zuerst mit der reellen Welt bekannt gemacht werden, ehe er in die trokenste aller Zeichenwelten, in die des todten Buchstabens, eingeführt werde: dann daß er diese Bekanntschaft auf die einig fruchtbare Weise mache, auf die praktische. Mein Knabe soll vor allen Dingen die Welt, die ihn umgiebt, nach Zeichen, und Gebrauch kennen. [...] Wollen Sie diesen Knaben in’s Leben einführen; – und dabei sich selbst? [...] Ich werde Ihnen nicht, u. keinem Menschen, dieses Geschäft abtreten, wenn ich u. mein Weib, und der Knabe, davon leben könnten“ (GA III, 3, 86). Auch eine Reihe von Briefen an seine Frau zeugt von Fichtes großem Interesse an der Erziehung und Bildung des eigenen Sohnes. So schreibt er am 28.10.99 aus Berlin, durch die Entlassung aus dem Lehramt in Jena von der Familie getrennt und auf der Suche nach einer neuen Bleibe, an seine Frau: „Ich beschwöre Dich bei Deiner MutterPflicht, bei der Liebe zu mir, bei Allem, was Dir heilig seyn kann, laß doch dieses Kind deine erste, u. einzige Sorge seyn, laß für ihn alles andere fahren“ (GA III, 4, 128).
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In diesem Plan begegnen uns die aus Fichtes Hauslehrerzeit bekannten, in der Nicolaikontroverse systematisch aufgewerteten Erziehungsprinzipien, namentlich: die „Gewöhnung an ununterbrochene Aufmerksamkeit“, das absolute „Nichtdulden [eklektizistischer] Zerstreutheit“, die „Eingewöhnung des Verstandes an den gesetzmäßigen [und eben nicht rhapsodischen] Gang“ der Erkenntnis (ebd., 19 f.) sowie die lebendige Ordnung der Erfahrung in ein systematisches Ganzes. Gleichfalls knüpfen die Maximen des selbsttätigen Erwerbs von Kenntnissen und die Vermeidung jedweden mechanischen Auswendiglernens an Fichtes Züricher Erziehungsreflexionen an. Neben dem hinlänglich Bekannten enthalten die Aphorismen viel Neues, das auch unseren gegenwärtigen Blick auf Fichtes Gesamtkonzeption von Bildung und Erziehung bereichert. Das Erste wäre die in den beiden bisher betrachteten Stationen der Entwicklung von Fichtes Bildungs- und Erziehungsphilosophie übergangene Moralerziehung. Diesem Kernanliegen der angewandten Wissenschaft der Pädagogik wenden wir uns nun auch unter Rückgriff auf Fichtes Züricher Zeit zu. Stärker als in allen anderen Bereichen seiner Bildungsphilosophie kommt in der Moralerziehung Fichtes optimistisches Menschenbild zum Tragen, das sich in Verbindung mit dem bereits angeführten Postulat der Selbstkonstruktion zu einem spezifischen Moralbegriff verdichtet. Während die Aphorismen für die kognitive und physische Erziehung konkrete Bildungsinhalte und Übungen vorschlagen: das Erlernen alter und neuer Sprachen, Mathematik, Geographie, Sport, Gymnastik usw., fehlt für die moralische Erziehung ein solcher Ansatz gänzlich. Und das mit Grund, denn: „Eine positive moralische Erziehung giebt es nicht. [...] Ja im Gegenteil, ein solches (positives) Verfahren [würde] den inneren moralischen Sinn ertöten und gemütlose Heuchler, und Gleißner bilden“ (GA II, 7, 15). In dieser Behauptung erhebt Fichte die praktischen Erziehungserfahrungen seiner Züricher Zeit zu einem allgemeinen Postulat der Moralerziehung. Ausführlich dokumentiert Fichtes Züricher Tagebuch die diesem Postulat zugrundeliegenden Beobachtungen seiner Zöglinge. Eine positive moralische Erziehung, etwa die Ermahnung zur Folgsamkeit oder das Gebot der Abbitte bei Übertretung gesetzter Regeln, führten, so Fichtes Erfahrung und jetzige Überzeugung, letztlich nur zu formellem, d. h. ritualisiertem Verhalten, das auf Dauer eine rein mechanische Handlungsabfolge abruft. So hatte er an Susanne Otts Verhalten bemängelt, dass sie aus der Erfahrung mit der Inkonsequenz ihrer Eltern gelernt habe, „nur nach Gefallen zu gehorchen“. Dabei hatte sich das Kind angewöhnt, die Bitte um Verzeihung als eine „blos äußerliche Handlung, die sich befehlen lässt [...], leicht und schnell“ und das heißt ohne wirkliches Nachdenken und Gefühl der Reue auszusprechen. Weil der „formellen Abbitte“ die innere Beteili-
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gung fehlt, das Kind aber zu einer solchen Handlung genötigt wird, erfährt es diese Nötigung selbst schon als eine Art Strafe. Fichtes Fazit eines bloß „ceremoniellen Abbittens“ lautet: „so gewöhnt man [das Kind] bei Zeiten, eine Empfindung zu lügen, die es nicht hat“ und regt gegen diese Forderung seinen Widerwillen, seinen „Troz“ und seine „Halsstarrigkeit“ an (GA II, 1, 174). Vorausschauend kritisiert Fichte hier das Erziehungsmodell der „klassischen Konditionierung“, das Lernen nicht über Einsicht, Begriff und Gesetz, sondern über „psychologisch-mechanische Hülfsmittel“ (SW IV, 590), also über ein Reiz-Reaktions-Schema, zu steuern versucht. Was bei diesem Verfahren ausgeschlossen wird, und hier kommt Fichtes präferiertes Prinzip der Selbstbildung zum Tragen, ist die Möglichkeit, Verstimmungen im Erziehungsverhältnis aus Einsicht und freiem Entschluss wieder auszuräumen. Auch dazu hat uns Fichte einige Beispiele aus seiner Schweizer Erziehungspraxis überliefert. „Wenn ich genöthigt bin Käpern [Hans Kaspar Ott] einen Verweiß zu geben, so vertheidigt er sich bisweilen noch : ich sage einige überzeugende Worte und schweige: er fängt etwas andres zu reden an : ich antworte, und fahre fort mich mit ihm zu unterreden, etwas kalt und trocken von meiner Seite, wie sich versteht, ohne seines Fehlers mit einem Worte zu gedenken. – In einer viertel, oder halben Stunde kommt er bitterlich weinend, und bittet um Verzeihung. Das ist wahre Abbitte aus Empfindung, die das Herz und kein äußerer Befehl erfordert!“ (GA II, 1, 175) Die Möglichkeit einer solchen selbständigen moralischen Urteilsbildung beruht auf der Annahme eines unmittelbar, schon im Kind angelegten und sich auch in ihm äußernden „Sinnes für das Rechte und Gute“: das Gewissen. Damit sich diese sittliche Naturanlage ihrer Bestimmung nach, nämlich eigenes Urteil zu begründen, entwickeln kann, ist eine von außen einwirkende positive Moralerziehung, die aus der Perspektive des Kindes bloße Anpassung wäre, auszuschließen. „In der eigenen schamhaften Stille des Gemüthes [...] muss die Sittlichkeit von selbst aufkeimen und allmählich höher erwachsen“ (GA II, 7, 21). Die Erziehungsaufgabe für die Entwicklung des moralischen Bewusstseins kann daher nur eine negative sein. Das heißt: dass einerseits „alles Schlechte, Gemeine und Niedrige fern von den Augen [des Zöglings] gehalten wird“ (ebd.), dass, wie es dann später heißt, „die Natur des Zöglings, besonders seine Neigung [...] zumal die Phantasie [...] nicht misleitet wird“ (SW IV, 587); und dass andererseits „nur lauter gute Beispiele den Zögling umgeben“ (GA II, 7, 21). Das einzig positive moralische Erziehungsgebot besteht in der Unterstützung des kindlichen Entschlusses, „nicht wissentlich oder bedächtig gegen sein Bewusstseyn zu reden oder zu handeln“ (ebd.), das heißt zu lügen. Dieses Gebot wird dadurch unterstützt, „dass man das Gefühl der Achtung bei ihm [dem Zögling] beschäftige, und es dadurch auf ihn selbst richte“ (GA II, 5, 62). Nach aller Erfahrung, so
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schließt Fichte, ergreift dann die innere Anlage zur Moral, „mit einer wunderbaren Gewalt den Knaben [natürlich auch das Mädchen], erhebt [sie], giebt [ihnen] eine innerliche Fassung, und wird [ihnen] unaustilgbare Quelle der inneren Rechtschaffenheit, die die Mutter aller Tugenden ist“ (GA I, 7, 15). Denn nach Fichtes Rechtslehre (1796) ist „jedes freie Wesen [...], somit auch das Kind, [...] der Moralität fähig“ (GA I, 4, 141).20 Hier sei auf den bedeutsamen Unterschied zwischen der moralischen und der kognitiven sowie der folgenden ästhetischen und körperlichen Bildung und Erziehung hingewiesen, den Fichte auch in seiner Spätphilosophie deutlich hervorhebt. Wenn Fichte die erzieherische Einwirkung auf die Entwicklung eines moralischen Bewusstseins als negative, also nicht bestimmende, sondern permissive kennzeichnet und demgegenüber für die anderen Erziehungsbereiche positive Bildungsinhalte und Verfahren angibt, dann wird damit auch ein Unterschied für die Lernbereitschaft beim Zögling unterstellt. Und das ist auch tatsächlich der Fall. Von besonderen Talenten abgesehen, heißt es in der Staatslehre von 1813, habe nämlich der „natürliche Mensch [...] gar keine Lust [...] zur Schule der Erkenntnis“ (SW IV, 591). Das heißt, er muss, was seine intellektuelle und ästhetische Bildung betrifft, in einem positiven Sinne einer äußerlichen Erziehung unterworfen werden. Platons Höhlengleichnis beschreibt metaphorisch eindrucksvoll die Mühe, die ein solcher Aufstieg der Bildung macht. Weil aber im Unterschied dazu, nach Fichtes Menschenbild: das Gewissen, d. h. das geistige Bestimmungsmoment des Willens, der Wesenskern individuellen Daseins selbst ist, lässt sich dieses nicht positiv äußerlich setzen oder bilden, sondern es lassen sich für die Entwicklung eines moralischen Bewusstseins lediglich Rahmenbedingungen angeben, innerhalb derer sich dieses bestimmungsgemäß äußern, üben und festigen kann. Und diese _____________ 20 Die zur selben Zeit, 1804/05, gehaltenen Vorträge über die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters enthalten den methodisch interessanten und für eine angewandte Wissenschaft durchaus angemessenen Versuch Fichtes, das zum Nachweis eines naturwissenschaftlichen Phänomens übliche Verfahren des Experiments auf den Nachweis eines elementaren moralischen Phänomens zu übertragen. In diesem „Experiment am Gemüthe“ der Zuhörer spielt, wie in Fichtes Grundlegung der Pädagogik, das Gefühl der (Selbst)Achtung die entscheidende Rolle. Die auf dem Gefühl der Achtung basierende Anerkennung moralisch-kultureller Leistung von herausragenden Persönlichkeiten (Heroen) wird von Fichte als Indikator für das „keimhafte“ Vorhandensein moralisch-kultureller Vernünftigkeit im Anerkennenden interpretiert, der die Anlage eigener Vernünftigkeit lediglich auf deren äußerliche Erscheinung, etwa das Werk oder die Person des Heroen, projiziert. Aufgabe der (moralischen) Erziehung sei es folglich, das nach außen projizierte Gefühl der Achtung fremder Moral als Anlage eigener Moral zu entdecken und zur Lebensform selbstachtender und selbstschöpferischer Moralität auszubauen (GA I, 8, 222 ff.). Vgl. hierzu: Fichtes Methode der „unmittelbaren Genesis der Wahrheit“ in: Hartmut Traub, J. G. Fichtes Populärphilosophie, a. a. O., S. 261-288.
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Rahmenbedingungen sind die oben benannten. Wie bedeutsam dieser Unterschied zwischen moralischer und jeder anderen Erziehung ist, betont auch die Erziehungsphilosophie der Reden an die deutsche Nation. Dem „schlechten Vorbild“ und dem kontraproduktiven Einfluss eines positiv konditionierenden Erziehungsstils ist es anzulasten, dass die Anlage zur Moralität, insbesondere im Kind, korrumpiert, verbildet und damit die intendierte Selbstentfaltung des moralischen Bewusstseins nachhaltig gestört wird. „[W]eil man [...] den Zögling gar nicht bearbeiten und einigen Einfluss auf denselben gewinnen zu können glaubte, [wurde sein Handlungstrieb über den sinnlichen Genuss angeregt und ausgebildet, d. Vf.]; sollte hinterher der sittliche Antrieb entwickelt werden, so kam derselbe zu spät und fand das Herz schon eingenommen und angefüllt von einer anderen Liebe“ (GA I, 10, 127). Ästhetische und gymnastische Erziehung Der zweite Erziehungsbereich, den die Aphorismen enthalten und der über die Züricher Dokumente hinausgeht, bezieht sich auf etwas, das die FichteForschung gegenwärtig aufzuarbeiten beginnt, nämlich Fichtes Verständnis von Kunst und Ästhetik. Bemerkenswert ist zunächst, dass dieses Thema im Erziehungsplan der Aphorismen weit ausführlicher behandelt wird, als die Aspekte der moralischen und religiösen Erziehung. Offenbar hat die ästhetische Erziehung in Fichtes Bildungstheorie eine konstitutive Bedeutung. Rufen wir uns in Erinnerung, dass Fichte in Über Geist und Buchstab (1794) neben dem Erkenntnis- und dem praktischen auch einen ästhetischen Trieb als Handlungs- und Gestaltungsquelle des Lebens ansetzt (GA I, 6, 338 ff.) und dass der § 31 der Sittenlehre (1798) gar eine ästhetischpädagogische Pflichtenlehre enthält, deren Kern die „Geschmacksbildung“ darstellt (GA I, 5, 309), so kann es nicht verwundern, dass Fichte in seinem Erziehungsplan von 1804 auch auf diesen Bildungsbereich besonderen Wert legt. So gehören Zeichnen und Malen, Gehörschulung und Harmonielehre, Instrumentalunterricht und vokalmusikalische Erziehung, selbst Tanz (später auch Schauspiel) zur Obligatorik des Fichteschen Lehrplans. Und daneben tritt die Leibesübung mit Gymnastik, Ringen, Fechten und Reiten. Beides, Leibes- und Kunsterziehung, dienen dabei dem höheren Bildungsziel, durch Ästhetik die Sinne und durch Sport den Körper „unter die Herrschaft des Geistes zu bringen“ (GA II, 7, 20). Wobei, und das ist nun bedeutsam, Geistesbildung beim Kind für Fichte nur bedingt inhaltliches Lernen, sondern vor allem die „Stärkung, Befreiung und Verselbständigung der Phantasiefähigkeit“ (ebd.) meint. Der Begründung dieses Er-
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ziehungspostulats werden wir auf der folgenden, letzten Etappe unserer biographischen Bildungsreise nachgehen. Quintessenz des Berliner Bildungsplanes ist somit ein ganzheitliches, musische, gymnastische, intellektuelle und moralisch-religiöse Erziehung umfassendes Konzept, das in seiner differenzierten, gleichwohl systematischen Organisation einen Einheitsbegriff der Person des Zöglings unterstellt und anstrebt, der sich scharf gegenüber der enzyklopädischen Beliebigkeit des Bildungstypus’ Nicolai abgrenzt.21 Diese Differenz lässt sich mit dem pädagogisch-moralischen Credo der Aphorismen noch einmal unterstreichen: „Einen Menschen erziehen heisst: ihm Gelegenheit geben, sich zum vollkommenen Meister und Selbstbeherrscher seiner gesammten Kraft zu machen. Der gesammten Kraft, sage ich; denn die Kraft des Menschen ist Eine und ist ein zusammenhängendes Ganze.“ Aufgabe von Erziehung und Unterricht ist nicht, „diese Kraft“ auf den Erwartungshorizont gesellschaftlicher oder beruflicher Anforderungen zu verengen, sondern sie „zu befreien, und zum lebendigen Fortwachsen aus sich selbst fähig zu machen“ (ebd., 17).22
_____________ 21 Fichte hatte die Aphorismen als Erziehungsplan für den eigenen Sohn und die Kinder befreundeter Familien entworfen. Interessant ist zu hören, wie diese Erziehung von Immanuel Hermann Fichte selbst wahrgenommen wurde und wie dabei Vater Fichte als Erzieher in Erscheinung getreten ist. Immanuel Hermann schreibt: „Zugleich konnte er [J. G. Fichte] damals einen Theil seiner größern Muße auf den Unterricht seines Sohnes verwenden, der noch jetzt mit freudiger Dankbarkeit sich erinnert, wie lebendig, und doch mit welchem geduldigen Eingehen in die Anfangsgründe der alten Sprachen, wie methodisch und doch sich anschmiegend der Fassungskraft des Schülers er ihn unterrichtete. Etwas, das sonst sogar ausgezeichnete Lehrer oft an den eigenen Kindern am wenigsten zu üben verstehen. – Wir glauben ohne Vorliebe, nach bestem Ermessen es aussprechen zu dürfen, daß wir auch in dieser Sphäre ihn für einen der trefflichsten Lehrer halten, die wir kennen zu lernen Gelegenheit hatten.“ (Immanuel Hermann Fichte, a. a. O., S. 538 f) 22 Die in den Aphorismen konkretisierten Reflexionen zur Erziehung hatte Fichte 1798 im System der Sittenlehre nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre bereits ganz allgemein grundgelegt. Zur Frage, wie die dort allgemein formulierte Pflicht: „die Kräfte des Kindes zweckmäßig zu bilden, damit es ein gutes Werkzeug zur Beförderung des Vernunftzweckes, [d. h. gebildeter Freiheit] sein könne“ (GA I, 5, 294) zu konkretisieren sei, dazu hat sich Fichte in der Sittenlehre nicht geäußert. Insofern sind die Aphorismen – im Sinne einer angewandten Wissenschaft – als Konkretisierung und genauere Anweisung für die Erreichung des in der Sittenlehre allgemein formulierten moralisch-pädagogischen Vernunftzwecks zu verstehen, nämlich: „Andern Anleitung zu geben, sich aus sich selbst zur moralischen Gesinnung zu erheben“ (GA II, 5, 62).
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Dritte Station: Die späten Wanderjahre Auch das Jahr 1807 ist für Fichte ein Jahr der Wanderschaft und der Krise. Auf der Flucht vor den französischen Truppen reist Fichte nach Königsberg, von da aus, über Memel und die stürmische Ostsee, nach Kopenhagen und von dort zurück in das nunmehr befriedete Berlin. Der Gegenstand, der Fichtes Kulturphilosophie nun beschäftigt, ist die umfassende Neugründung einer nationalen Identität durch Volks- und Gelehrtenerziehung. Daher bilden die Reden an die deutsche Nation (1807/8) gemeinsam mit dem Deduzierten Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt (ebenfalls 1807) zwei Aspekte einer Bildungsgesamtkonzeption. Von einigen, wenigen Ausblicken auf den deduzierten Plan abgesehen, wenden wir uns an dieser Stelle vor allem den Reden zu, weil es in ihnen weniger um „Hochschuldidaktik“, sondern vielmehr um Pädagogik im engeren Sinne geht.23 Drei Aspekte werden uns dabei beschäftigen, die wir in Ansätzen schon kennen gelernt haben, die Fichte in den Reden nun aber systematisch eingearbeitet und ausgebaut hat. Phantasiefähigkeit Fichte hat die militärische Niederlage Preußens gegen Napoleon als Chance für einen radikalen Neubeginn begriffen, dessen Fundament vor allem pädagogisch gelegt werden muss. Das bedeutet: in erster Linie sind diejenigen geistigen Kräfte in einem neuen Bildungs- und Erziehungskonzept zu entwickeln und zu stärken, die experimentell Neues zu denken wagen. „[Das] erste, wovon die Bildung des Geschlechts durch die neue Erziehung _____________ 23 Den Zusammenhang aller erzieherischen und bildungspolitischen Anstrengungen hat Fichte im deduzierten Plan in der dem Erziehungsbegriff immanenten botanischen Metapher des Baumes zum Ausdruck gebracht. Im Bild des Baumes erfasst Fichte als die Wurzel das, was durch Pestalozzis Ideen zu einer allgemeinen Volkserziehungslehre grundgelegt worden ist (vgl. auch die Neunte Rede an die deutsche Nation, GA I, 10, 217 ff). Den „mittleren Stamm“ von Fichtes bildungsund erziehungsphilosophischer Metapher bildet die „niedere Gelehrtenschule“ (vgl. Über das Wesen des Gelehrten und seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit, GA I, 8, 125 ff). Und schließlich krönt den Baum der Bildung und Erziehung „die höhere Lehranstalt, die Schule der Kunst des wissenschaftlichen Verstandesgebrauches“ als „Gipfel der Kunst der Menschenbildung oder der Pädagogik“ (GA II, 11, 87/98 f.). Im Bilde bleibend bestimmt Fichte auch den Zusammenhang aller drei Bildungs- und Erziehungsebenen untereinander. Denn „der Gipfel ruht fest nur auf dem Stamme, und dieser zieht seinen Lebenssaft nur aus der Wurzel; alle insgesammt haben nur an, in- und durcheinander Leben und versicherte Dauer“ (ebd., 99).
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ausgehen müßte, [...] [ist,] [j]enes Vermögen, Bilder, die keineswegs bloße Nachbilder der Wirklichkeit seyen, sondern die da fähig sind, Vorbilder derselben zu werden, selbstthätig zu entwerfen“ (GA I, 10, 120). Die pädagogische Konzentration auf das Vermögen der schöpferischen Einbildungskraft verfolgt dabei zwei Ziele, nämlich durch die Stärkung produktiver Zukunftsperspektiven die durch die Niederlage Preußens bedingte depressive Gesamtstimmung in der Bevölkerung zu wenden, um einer fatalistischen Mentalität vorzubeugen. Zum anderen soll die produktive Einbildungskraft als ein Emanzipationsinstrument überhaupt gestärkt werden, um die „blinde Stokgläubigkeit an das Empirische“ (GA II, 11, 261) grundsätzlich zu erschüttern und somit den Geist aus der Dominanz des empirischen Positivismus zu befreien. Systemtheoretisch gesprochen ist die Einbildungskraft ja das „wunderbare“ Vermögen des Menschen, sich gegen die „Bestimmung durch ein Nicht-Ich“ in der „Schwebe“ und damit in der Freiheit zur Selbst- und Weltbestimmung halten zu können. Mit der Betonung der Phantasiefähigkeit ist den anderen „Gemütskräften“ jedoch keineswegs ihre Bedeutung im Rahmen eines Bildungsund Erziehungsprogramms abgesprochen. Denn für die Frage nach der Realisierbarkeit der utopischen „Vorbilder“ bleiben Ausbildung und Übung v. a. des Verstandes, der künstlerischen und der handwerklichen Kräfte konstitutive Aufgaben im Modell einer ganzheitlichen Bildung.24 _____________ 24 Fichte hat mit der Herausbildung der schöpferisch-praktischen Phantasiefähigkeit, d. h. dem ideell verlebendigenden Element seiner Philosophie, auch im akademischen Bereich einen bleibenden, bis ins 20. Jahrhundert hineinreichenden Eindruck hinterlassen. Einer seiner Hörer und sein Nachfolger als Professor in Berlin, K. W. F. Solger, hat den von Fichte 1804 im zweiten Vortrag seiner Wissenschaftslehre verwendeten Begriff der „Urphantasie“ (GA II, 8, 222) in seinen Vorlesungen über Ästhetik (1829) und in seiner Auseinandersetzung mit der Romantik zu einem zentralen Gegenstand gemacht. Vgl. Matthias Koßler: Phantasie und Einbildungskraft. Zur Rolle der Einbildungskraft bei Fichte und Solger. In: FS 21 (2003), S. 163181. Diesen Zusammenhang zwischen Fichtes Theorie der produktiven Einbildungskraft und „der Philosophie der Romantik“ hat dann Walter Benjamin in seiner Arbeit der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik (Frankfurt a. M. 1973) von der Sache her zutreffend, allerdings ohne Rückgriff auf den Terminus „Phantasie“, ausführlich analysiert. Insbesondere ist es dann Ernst Bloch, der sich in seinen Philosophischen Aufsätzen zur objektiven Phantasie (Frankfurt a. M. 1985) und im Geist der Utopie (Frankfurt a. M. 1964) positiv auf den revolutionärpraktischen Gedanken der zur Wirklichkeit drängenden „Gesichte“, wie Fichte ihn in seiner Spätphilosophie entwickelt hat, bezieht. In Abgrenzung zu Hegel schreibt Bloch: „[M]an sucht bei Hegel vergebens nach jener allein nach oben weisenden und sich der Gefahr bewußten Gesinnung, [...] die sich in Fichtes Worten ausprägt, daß es außer der bloßen Widerholung dessen, was da ist oder da war, ein tatbegründendes Wissen oder ein zum Handeln treibendes Gesicht aus jener Welt geben muß, die nicht da ist, aber die da sein soll; daß man die Welt also nicht zu ertragen
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Das wird am zweiten Aspekt des Erziehungsplans der Reden besonders deutlich. Ideale Praxis Auf der Grundlage zwangloser Zukunftsentwürfe geht es im Folgenden um deren argumentative Prüfung sowie um die Entwicklung von Strategien zur Realisierung des Idealbildes in einem handlungs- und praxisorientierten Lernprozess. Die vielfach enttäuschenden Gespräche mit den Eltern der ihm als Hauslehrer anvertrauten Zöglinge, aber auch sein „Berliner Erziehungsmodell“ der Aphorismen, hatten Fichte dahin geführt, die Familie als adäquaten Rahmen für die Erfüllung der Erziehungsaufgabe zumindest konzeptionell aufzugeben. In der Künstler- und Gelehrtenkolonie waren Erziehung und Bildung keine Privatangelegenheit mehr, sondern organisierter Bestandteil der Gesamtkonzeption einer Arbeits- und Lebensgemeinschaft (GA II, 7, 21 f.). In den Reden hat sich diese Idee zur idealen Praxis des Internatsgedankens weiter entwickelt. Vor gesellschaftlichen Einflüssen geschützt, sollen hier Zöglinge und Lehrer die freien Entwürfe einer Lern-, Lebens- und Arbeitsgemeinschaft erproben und organisieren: „Das allererste Bild einer geselligen Ordnung, zu dessen Entwerfung der Geist des Zöglings angeregt werde, sey dieses der Gemeine, in der er selber lebt, also, daß er innerlich gezwungen sey, diese Ordnung Punkt für Punkt gerade also sich zu bilden, wie sie wirklich vorgezeichnet ist, und daß er dieselbe in allen ihren Theilen, als durchaus nothwendig aus ihren Gründen verstehe“ (GA I, 10, 128). Das bedeutet, die „gesellige Ordnung“ muss in ihrer konkreten Organisation weitgehend autonom sein. Die praktische Umsetzung dieses Gedankens macht demnach Lernprozesse erforderlich, die die Subsistenz des „kleinen Wirtschaftsstaates“ sichern.25 Die Fähigkeiten, administrative und ökonomische Abläufe zu organisieren, sind damit gleichermaßen konstitutive Lernfelder, wie Handwerk und _____________ habe um Gottes Willen, sondern anders machen soll um Gottes Willen“ (Ernst Bloch: Geist der Utopie, a. a. O., S. 233). 25 Ein werkimmanenter Bezugspunkt, den es zu untersuchen gälte, wäre der zwischen dem „kleinen Wirtschaftsstaat“ Internat und Fichtes wirtschaftspolitischem Entwurf des Geschlossenen Handelsstaats (1800). Das Motiv der Geschlossenheit und Autarkie ist für beide Gemeinwesen charakteristisch. Dabei wäre insbesondere zu bedenken, inwieweit in diesen beiden geschlossenen Gesellschaftssystemen, in Analogie zu Platons Staats- und Erziehungsidee, vornehmlich die Autonomie und die Sein setzende und gestaltende „Monadologie“ der Ich-Philosophie in Erscheinung tritt, wodurch Internats- und Staatsidee als Anwendungsfälle des IchGedankens zu verstehen wären.
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Landwirtschaft sowie die dazu zu rechnenden naturwissenschaftlichen und technischen Kenntnisse (SW IV, 586).26 Erziehung zur Selbständigkeit, die Bildung der einen Kraft, von der in den Aphorismen die Rede war, bedeutet nunmehr: über literarische, sprachliche, mathematische, ästhetische, moralisch-religiöse und gymnastische Erziehung hinaus, systematisch und handlungsorientiert den Umgang mit der Natur und die Organisation gesellschaftlicher und ökonomischer Prozesse zu lernen. Interessant an diesem letzten Aspekt ist dessen konstituierender Zusammenhang mit der sogenannten „höheren“ und „philosophischen“ Bildung. Gerade weil „im kleinen Wirtschaftsstaat“ die eigene Lebenswelt tätig hervorgebracht wird, ist dieses aktive Lernen „eine Bildung des Erkenntnißvermögens [!] des Zöglings, und zwar keineswegs [...] historische [Bildung] an den stehenden Beschaffenheiten der Dinge, sondern [...] höhere und philosophische [Bildung], an den Gesetzen, nach denen eine solche stehende Beschaffenheit der Dinge nothwendig wird“ (GA I, 10, 121). Der hier von Fichte hergestellte konstitutive Zusammenhang zwischen elementar-praktischer und höherer philosophischer Bildung verweist einerseits noch einmal auf die erwähnte Baum-Metapher, mit der Fichte den organischen Zusammenhang aller Bildung und Erziehung – von der Wurzel, der elementaren Bildung, über den Stamm, der niederen gelehrten Bildung, bis hinauf zur Krone, der höheren gelehrten Bildung – zu veranschaulichen versucht hat. Andererseits aber drängt sich der Eindruck auf, dass Fichte mit seinen erziehungs- und bildungsphilosophischen Überlegungen zu einer Begriffsbildung, die aus realem Gestaltungshandeln erwächst und deren Zweck wiederum ihre praxisorientierte Umsetzung in idealen und realen Lebens- bzw. Anschauungsräumen ist, eine erziehungsphilosophische Entsprechung für das transzendentalphilosophische Paradigma der Tathandlung gefunden hat. Denn auch im Rahmen von Fichtes transzendentaler Handlungstheorie ist (wissenschaftliche) Erkenntnis allein durch die lebendige (Selbst-)Konstruktion der Begriffe im Raum intellektueller An_____________ 26 Für die Geschichte der schulpädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Ideenbildung ist es bemerkenswert, dass Fichtes anspruchsvoller pädagogischer Entwurf etwa 100 Jahre später, mit mehr oder weniger explizitem Bezug auf ihn, in den Überlegungen zur „Organisation der Lebenssphäre Schule“, etwa in Hugo Gaudigs Schule der Selbsttätigkeit oder in Heinrich Vogelers Arbeitsschule, in die Reformpädagogik des 20. Jahrhunderts in Deutschland und damit (allerdings weitgehend unbemerkt) auch in die gegenwärtige pädagogische Diskussion um ganzheitliches und projektorientiertes Lernen, um die Erziehung zur Selbständigkeit und um die kreative Gestaltung der Schule als Lern- und Lebensraum Eingang gefunden hat.
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schauung evident zu begründen und überzeugend nach- und mitkonstruierbar. Erweiterung der Genussfähigkeit Eine philosophiegeschichtlich originelle Leistung Fichtes ist die in seiner Berliner Zeit entfaltete Lehre von den Affekten. Mit der Vollendung des „Systems der Gefühle“ dringt Fichte zum innersten Kern der einen Gestaltungs- und Lebenskraft des Menschen vor, die in ihrer Gesamtheit zu bilden, Aufgabe der Erziehung ist. Grundlegend für diesen Vorstoß in die Gefühlswelt ist die Einsicht, dass jede intellektuelle, voluntative und praktische Handlung des Menschen von einer affektiven Komponente begleitet, durchzogen, „tingiert“, ja von ihr getragen wird. Der Mensch lebt ursprünglich aus und im Gefühl. Trieb und Streben steuern seine Lebensentscheidungen. Für eine Erziehungs- und Bildungstheorie hat die affektive Bewusstseinsfundierung weitreichende Konsequenzen. Sie lässt erkennen, dass etwa lerntheoretische Konzeptionen, deren erzieherischer Schwerpunkt auf der Bildung kognitiver Strukturen liegt, den Kernbereich menschlicher Existenz nicht erreichen. Ebenso müssen informationsgesteuerte Anpassungen an die „Wissensgesellschaft“ in ihrer erziehungspraktischen Umsetzung scheitern. Denn auch sie verfehlen das Elementare, weil dem Zögling, als Objekt der Belehrung, das an ihn vermittelte Wissen immer etwas Fremdes bleibt. Infolgedessen sieht er den Sinn seines Bemühens um Kenntnisse und Fertigkeiten nicht in der eigenen Bildung, sondern in der Funktionalität seines Wissens und Könnens für andere Zwecke, für die Erhöhung des sozialen Status’, die Absicherung der Berufskarriere, die Mehrung von Macht oder die Steigerung des Wohlstandes usw. Der substantielle Kern der Pädagogik, wie Fichte ihn versteht, besteht darin, „dem Andern zur moralischen Gesinnung [...] wenigstens Anleitung [zu] geben, d. h. ihn aus sich selbst dahin [zu] bestimmen, sich dazu zu erheben“ (GA II, 5, 62). Für die Umsetzung dieses Postulats lässt sich aus Fichtes Affektlehre der bildungs- und erziehungskritische Gedanke entnehmen, dass eine Zweckbestimmung der Bildung, die sich über bildungsexterne Ziele bestimmt, das Kernanliegen der Pädagogik in doppelter Hinsicht korrumpiert. Einerseits unterminiert die Funktionalisierung des Handlungstriebs für beliebige, jedoch nicht handlungsimmanente Ziele den Aufbau eines Bewusstseins kategorischen Handelns. Wodurch Selbstbestimmung und Selbstachtung einer Fremdbestimmung unterworfen werden. In dieser Einsicht kristallisieren sich noch einmal Fichtes frühe Erziehungserfahrungen mit den Kindern der Familie Ott, insbesondere die Er-
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fahrungen, über die er mit den Eltern der Kinder im Streit lag. Das durch die Eltern an ihren Kindern geförderte mechanische Verhaltensritual von Eingeständnis und darauf erfolgender Vergebung eines Fehlverhaltens verhindert, so Fichtes Kritik, die Entfaltung eigener Einsicht und Selbstachtung, d. h. den Ansatz und Zweck vernünftiger pädagogischer Arbeit: die „Selbstbestimmung zur moralischen Gesinnung“ (GA II, 5, 62). Andererseits besteht die Gefahr, dass die äußerlichen, sekundären Sanktionen das im eigenen Handeln liegende Genusspotential überlagern und damit den vitalen Realitätskern einer autopoietischen Selbstschöpfung, Selbsterfahrung und Selbstverwirklichung verkümmern lassen. Das Ziel pädagogischen Handelns, der auf Selbstachtung gestützte der Aufbau einer moralischen Gesinnung, wird so verhindert, wenn nicht gar unmöglich gemacht. Hat die Erziehung erst einmal eine Erwartungshaltung begründet, in der der Wert einer Handlung durch eine äußerliche Sanktion bestimmt wird, etwa durch den sinnlichen Genuss oder durch den „psychologischen Mechanismus“ von Lob und Tadel, dann haben weder eine rational vorgetragene noch eine auf Selbstachtung begründete Moralerziehung eine Chance, „intrinsisch zu motivieren“. Denn für den Zögling bleiben die auf diesen Wegen vermittelten Einsichten bloß äußerliche Impulse. Es sei denn, er hat vordem Wert- und Lusterfahrungen gemacht, die von äußerer Anerkennung und sinnlichem Genuss unabhängig sind, wie etwa die Erregung des Gefühls der Selbstachtung durch selbstgenügsames schöpferisches Handeln. Fichtes affektbegründete Bildungsphilosophie steht also für die These, dass Lernen selber als Quelle des Genusses erschlossen werden muss. Das setzt voraus, dass sich im Bildungsprozess der eigene, geistig-schöpferische und pragmatische Konstruktions- und Handlungstrieb des Zöglings einbringen und befriedigen kann. Folglich muss Erziehungsarbeit zunächst anerkennen: „es sey ein solcher Trieb im Kinde, [...] sodann, daß man ihn in seiner Erscheinung erkenne, und ihn durch zwekmäßige Aufregung und durch Darreichung eines Stoffes, woran er sich befriedige, allmählich immer mehr entwikle“ (GA I, 10, 231). Das Resultat der Anerkennung und Förderung des Gestaltungs- und Bildungstriebes ist die Stärkung desjenigen Gefühls und derjenigen Haltung im Kind, die Ziel pädagogischen Handelns sind, nämlich Selbstgenuss und Selbstachtung oder in den Worten der Ascetik: „die Selbsterhebung zur moralischen Gesinnung, [die dadurch] geschieht, daß man das Gefühl der Achtung bei ihm [dem Zögling] beschäftige, und es dadurch auf ihn selbst richte“ (GA II, 5, 62). Fichte Weltanschauungslehre wird diesen pädagogischen Gedanken der Förderung der Selbstachtung dann systematisch begründen und als „vollendete Lebensform“ in einem spezifischen Sinne den Standpunkt der moralischen
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Weltanschauung nennen.27 Prinzip dieser Selbst- und Weltanschauung ist das selbstbestimmte und schöpferische Handeln, das „seinen wahren, und ihn ausfüllenden Lebensgenuss nur in solchem Thun, rein und lediglich als Thun, und um des Thuns willen findet“ (GA I, 9, 157). Die möglichst frühe erzieherische Kultivierung des schöpferischen Handlungstriebes – und die damit einhergehende Begründung einer aus produktiver Selbsterfahrung gespeisten Selbstachtung und Selbstgenügsamkeit – wird von Fichte aus zwei Gründen betont. Zum einen, weil die Frühprägung der affektiven Streberichtung im Verlauf des Lebens weiterhin untergründig die kognitiven und voluntativen Entscheidungen des Menschen mitbestimmt. Zum anderen, weil die geprägte Triebtendenz, wenn nicht irreversibel, so doch nur sehr schwer zu ändern ist. Eine tiefe lernpsychologische Einsicht, die nicht allein in der Libidotheorie der Psychoanalyse fortgeführt worden ist, sondern die sich in unserer Zeit auch die auf Klein- und Kleinstkinder ausgerichtete Produktwerbung zu Nutze macht. Wie Fichte das Problem der Gefühlsbildung und dessen Lösung im Rahmen einer neuen Erziehung gesehen und beurteilt hat, sei hier abschließend noch einmal im Zusammenhang zitiert. An der alten Erziehungspraxis kritisiert Fichte, dass in ihr der in Aussicht gestellte oder gewährte „sinnliche Genuss“ das Erziehungsmittel schlechthin gewesen sei. „Bisher war dieser Antrieb [der sinnliche Genuss] der erste, der da ange_____________ 27 Mit Fichtes Verwendung des Wortes Moral zur Kennzeichnung einer Lebensform hat es eine besondere Bewandtnis. Zwar gebraucht Fichte die Worte Sitte und Moral gelegentlich synonym, insbesondere dann, wenn dazu im Hintergrund Kants Lehre von der praktischen Vernunft steht. Das scheint bei der Ascetik als Anhang zur Moral der Fall zu sein. Denn Fichte bezieht sich hier im gedanklichen Kontext von Kants praktischer Philosophie explizit auf die Philosophie des Willens und dessen Bestimmung nach Pflicht und Sittengesetz bzw. nach Neigung und Naturgesetz (GA II, 5, 60 f.). Jedoch erfährt der Terminus Moralität im später entwickelten Theorem des Standpunktes der Moralität, d. h. im systematischen Zusammenhang von Fichtes Weltanschauungslehre, einen Bedeutungswandel. Moralität meint nun nicht mehr kantisch die sich in der Spannung von Pflicht und Neigung frei entscheidende Willens- und Handlungsbestimmung aus Pflicht, sondern den „überfreiheitlichen“ Vollzug einer ideellen Wirksamkeit und Wirklichkeit, die das Sittengesetz als Imperativ, d. h. als Sonderform legalistischen Bewusstseins, hinter sich gelassen hat. In diesem Verständnis von Moral berührt Fichtes sensibles Sprachempfinden die gemeinsame indogermanische Sprachverwandtschaft und Sprachwurzel von lateinisch Mos/Mores und germanisch Muot/Mut. In ihrem Bedeutungsursprung meinen beide Begriffe nicht eine spezifisch dialektische Beziehungsgestalt innerhalb eines ethischen Bewusstseins, sondern die Verfassung des „Gemüts“ als Ganzes sowie eine sich darin und daraus entfaltende ganzheitliche Lebensform. Vgl. Hartmut Traub: J. G. Fichtes Populärphilosophie, a. a. O., S. 231-237 u. 273-281 und: ders.: Mut zum ‚Uebermuth’! Der Ursprung des Philosophierens bei J. G. Fichte. In: de Pascale, a. a. O., S. 263-283.
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regt und ausgebildet wurde, weil man ausserdem den Zögling gar nicht bearbeiten und einigen Einfluß auf denselben gewinnen zu können glaubte; sollte hinterher der sittliche Antrieb entwickelt werden, so kam derselbe zu spät und fand das Herz schon eingenommen und angefüllt von einer anderen Liebe. Durch die neue Erziehung soll umgekehrt die Bildung zum reinen Wollen das erste werden, damit, wenn späterhin doch die Selbstsucht innerlich erwachen oder von aussen angeregt werden sollte, diese zu spät komme und in dem schon von etwas anderm eingenommenen Gemüthe keinen Platz für sich finde“ (GA I, 10, 127).
Schlussbemerkung Ich möchte diesen Vortrag mit zwei erziehungsphilosophischen Statements Fichtes schließen, die mir auf dem Hintergrund der jetzt skizzierten Theorie und Praxis einer ganzheitlichen Bildungs- und Selbstbildungstheorie besonders aufschlussreich erscheinen. Das eine Statement betrifft Fichtes Urteil über das rechte Verständnis der Wissenschaftslehre und das andere Fichtes konditionale, gleichwohl zukünftige Perspektive auf staatliche Bildungs- und Schulpolitik. In der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794 heißt es: „Die Wissenschaftslehre soll den ganzen Menschen erschöpfen; sie läßt daher sich nur mit der Totalität seines ganzen Vermögens auffassen. Sie kann nicht allgemeingeltende Philosophie werden, solange in so vielen Menschen die Bildung eine Gemüthskraft zum Vortheil der andern, die Einbildungskraft zum Vortheil des Verstandes, den Verstand zum Vortheil der Einbildungskraft, oder wohl beide zum Vortheil des Gedächtnisses tödtet“ (GA I, 2, 415). Wir haben gezeigt, dass dieses pädagogische Credo – über die im engeren Sinne geistigen Kräfte hinaus – auch die Übung und Stärkung physischer Kräfte, das Erlernen handwerklicher, ökonomischorganisatorischer und musischer Fähigkeiten einschließt; ja, dass Fichte das rechte Verständnis der Wissenschaftslehre selbst in diesem ganzheitlichen Bildungsansatz begründet.28 Er war sich aber offensichtlich im Klaren _____________ 28 Den Begriff einer „ganzheitlichen Bildungstheorie“ hatte Fichte schon früh in seiner Valediktionsrede im Kontext seiner ästhetischen Reflexionen entworfen. Als Regel des Schönen, so heißt es dort, sei eine „Ausgleichung und der Mittelweg zwischen allen Anlagen unseres Gemütes“ anzustreben. Und weiter diagnostiziert Fichte als den Grund des ästhetisch Unvollkommenen und Hässlichen die mangelnde Harmonie der Seelenkräfte bzw. den nur partiell durch ein Kunstwerk eingelösten Anspruch auf eine ganzheitliche Erfüllung der „Gemütskräfte“. Die Formulierung aus der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre vorwegnehmend schreibt der junge Fichte: „Worin sind alle jene [Kunst-]Fehler beschlossen, wenn
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darüber, dass sein ganzheitliches Verständnis der Wissenschaftslehre im Zeitalter eines rationalistisch verkürzten Wissenschaftsbegriffs nur geringe Chancen haben würde, angemessen verstanden zu werden. Deshalb prospektiert die Fortsetzung des Zitats aus der Grundlage auch ganz nüchtern, dass die Wissenschaftslehre bis zu dem Zeitpunkt, an dem ihr umfassender Sinn begriffen und realisiert wird, „sich in einem engen Kreis [wird] einschliessen müssen – eine Wahrheit, gleich unangenehm zu sagen, und zu hören, die aber doch Wahrheit ist“ (ebd.).29 Das zweite Statement entstammt der späten Staatslehre (1813) und verweist auf die konditionalen äußeren, politischen, gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen, die notwendig sind, um individuelle Bildungsprozesse und mit ihnen philosophische Bildung insbesondere, aber darüber hinaus auch ganz allgemein „das Reich der Freiheit“ überhaupt möglich zu machen. Das Eigentümliche dieser Spätschrift ist bekanntlich, dass Fichte den hier angesprochenen geschichtlichen Bildungs- und Verwirklichungsprozess der Freiheit in einem eschatologischen Sinn, als die innerweltliche (präsentische) Realisierung des „Reichs Gottes“ verstanden wissen wollte. Mit Blick auf diese kulturgeschichtliche Entwicklung und die darin der Bildungs- und Erziehungspolitik zukommende Aufgabe schreibt Fichte: „Es bleibt die Frage übrig: – ob auch die äußeren Bedingungen [der Verwirklichung des göttlichen Reichs der Freiheit] gegeben seyn werden, und was uns für diese bürgt? Da aber jenes [Reich der Freiheit] von diesen [äußeren Bedingungen] abhängig ist, so fällt, wenn diese nicht nachzuweisen [sind], auch das erst Erwiesene [, d.h. die individuellen moralisch-theoretischen Voraussetzungen der Verwirklichung des Reiches Gottes] hin. – Wer sichert der Gelehrtenschule die Erhaltung, Ruhe und Musse?“ (SW IV, 591) Diese Aufgabe der „Erhaltung, Ruhe und Musse“ in der öffentlichen Bildungs- und Erziehungsarbeit fällt nach Fichtes Urteil der staatlichen Bildungs- und Schulpolitik zu. Von der es dann optimistisch heißt, dass es gerade im Konkurrenzkampf der Staaten untereinander „das sicherste Mittel für Macht und Reichthum eines Staates dieses ist, die verständigsten und gebildetsten Unterthanen zu haben. Dies wird [den Staaten] ein fortdauerndes Interesse für die Erhaltung und Verbesserung _____________ nicht darin, dass bald die Vernunft den Affekten, oder der Phantasie entgegenarbeitet, und ihrerseits ihre Grenzen überschreitet und in Besitztümer jener vorbricht, bald die Affekte den Platz der Vernunft beschlagnahmen, bald die Phantasie jene Orte, welche entweder der Vernunft oder dem Affekte gebührt hatten, besetzt?“ (Der lateinische Text der Valediktionsrede findet sich in GA II, 1, 7-29. Die hier verwendete Übersetzung stammt von Maximilian Runze: Neue Fichte Funde aus der Heimat und der Schweiz. Gotha 1919, S. 31-78, hier S. 66 ff.) 29 Vgl. Hartmut Traub: Vollendung der Transzendentalphilosophie. In: FS 20 (2003), S. 267-284.
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sogar der Schule geben, sie werden nicht Schulen genug haben können“ (SW IV, 597). Ich habe den Eindruck, dass uns sowohl im Hinblick auf das von Fichte geforderte umfassende Verständnis der Wissenschaftslehre als auch im Hinblick auf die bereitzustellenden, allgemeinen und konkreten bildungsund erziehungspolitischen Rahmenbedingung für einen Fortschritt der Menschheit im Bewusstsein der Freiheit die Arbeit so schnell nicht ausgehen wird.
Weltbürgertum und Nationalidee in Fichtes Bildungskonzept Andreas Brandt Im Jahr 1833 blickt der in Paris lebende Heinrich Heine auf die Entwicklung der deutschen Literatur in den vergangenen Jahrzehnten zurück und stellt dabei vergleichende Betrachtungen über den französischen und den deutschen Patriotismus an. In seinem Werk mit dem Titel Die romantische Schule schreibt er: Der Patriotismus des Franzosen besteht darin, daß sein Herz erwärmt wird, durch diese Wärme sich ausdehnt, sich erweitert, daß es nicht mehr bloß die nächsten Angehörigen, sondern ganz Frankreich, das ganze Land der Civilisazion, mit seiner Liebe umfaßt; der Patriotismus des Deutschen hingegen besteht darin, daß sein Herz enger wird, dass es sich zusammenzieht wie Leder in der Kälte, daß er das Fremdländische haßt, daß er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Teutscher seyn will. Da sahen wir nun das idealische Flegelthum, das Herr Jahn in System gebracht; es begann die schäbige, plumpe, ungewaschene Opposition gegen eine Gesinnung, die eben das Herrlichste und Heiligste ist, was Deutschland hervorgebracht hat, nämlich gegen jene Humanität, gegen jene allgemeine Menschen-Verbrüderung, gegen jenen Cosmopolitismus, dem unsere großen Geister, Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Jean Paul, dem alle Gebildeten in Deutschland immer gehuldigt haben.1
Heine spricht hier von einer zweieinhalb Jahrzehnte zurückliegenden Zeit, in der die napoleonischen Truppen die deutschen Staaten überrollten und am 14. Oktober 1806 bei Jena und Auerstedt die verbündeten preußischen und sächsischen Truppen besiegten. Den auf die französische Besatzung reagierenden deutschen Patriotismus versteht Heine als eine obrigkeitlich verordnete Maßnahme, die den Gemeinsinn unter den Deutschen wecken sollte, um die napoleonische Fremdherrschaft wieder abzuschütteln. Nicht allzu lange nach der Niederlage Preußens, nämlich im Winter 1807/08, hält Fichte im französisch besetzten Berlin seine „Reden an die Deutsche Nation“, um darin den Deutschen ein neues Konzept für eine Nationalerziehung zu empfehlen. Schon der bloße Ausdruck „Nationalerziehung“ steht _____________ 1
Heinrich Heine: Die romantische Schule. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Hrsg. v. Manfred Windfuhr, Bd. 8/I, Hamburg 1979, S. 141.
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in einem deutlichen Kontrast zu früheren Konzepten wie „Erziehung des Menschengeschlechts“ oder „Bildung der Menschheit“, welche die Titel bekannter Schriften von Lessing und Herder prägen.2 Somit ist es naheliegend, zu fragen, ob Fichtes Ambitionen mit zu der von Heine geschmähten Opposition gegen die universalistischen, kosmopolitischen Ideen der Aufklärung zu rechnen sind, oder ob er diese Ideen trotz der nationalen Töne in gewisser Weise bewahrt oder transformiert. Was ist also die Substanz des von Fichte propagierten Bildungsziels? Bilden Nation, Volk und Vaterland wesentliche Inhalte, Werte oder Leitvorstellungen für diese Erziehung, oder sind sie nur die bevorzugten Adressaten für ein Konzept, in dem man immer noch den Universalismus der Aufklärung wiederfinden kann? Die Begriffe „Kosmopolitismus“ und „Weltbürgertum“ spielen in Fichtes Werk keine zentrale Rolle. Sie besitzen zwei recht unterschiedliche Kontexte. Der eine, hier weniger wichtige, ist die Rechtstheorie, der zufolge es ein Weltbürgerrecht gibt, das jedoch äußerst sparsam ausgestattet ist. Fichte folgt in seiner frühen Rechtslehre Kants Auffassung, dass die nach republikanischen Verfassungen geordneten Staaten sich einem gemeinsamen Völkerrecht unterwerfen sollen und dass im Rahmen einer solchen Föderation das Weltbürgerrecht auf Bedingungen der allgemeinen Hospitalität eingeschränkt sein soll (vgl. Kant, Zum ewigen Frieden, Dritter Definitivartikel). Nach Fichte besteht das Weltbürgerrecht darin, „auf dem Erdboden frei herumzugehen und sich zu einer rechtlichen Verbindung anzutragen“. Dabei besteht der Kern in dem „Recht auf die Voraussetzung aller Menschen, dass sie mit ihm durch Verträge in ein rechtliches Verhältnis kommen können.“3 Aus ihm folgt nach Fichte das Recht, das Gebiet des fremden Staates zu betreten. Der Besucher muss sich jedoch erklären, sonst darf er abgewiesen werden – dies auch dann, wenn er sich erklärt und sein Antrag nicht angenommen wird. Mehr enthält das Weltbürgerrecht nicht. Weit wichtiger ist der Kosmopolitismus als eine persönliche, individualethische Einstellung, wie sie schon aus den Philosophenschulen des antiken Hellenismus bekannt ist und in der Aufklärung zum Programm _____________ 2
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Gotthold Ephraim Lessing: Die Erziehung des Menschengeschlechts. In: Werke und Briefe in zwölf Bänden, hrsg. v. W. Barner, Bd. 10, Frankfurt a. M. 2001, S. 73-99. J. G. Herder, Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit. In: Sämtl. Werke, hrsg. v. B. Suphan, Bd. 5, 1991, ND 1967, S. 475 ff. Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts 1796, Zweiter Anhang, §§ 21ff. In: Fichtes Werke hrsg. v. I. H. Fichte, ND Berlin 1971, Bd. 3, S. 382 ff. Nach dieser Ausgabe werden im Folgenden die Schriften Fichtes als SW unter Angabe der Band- und Seitenzahl zitiert.
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wurde.4 Als solche besitzt sie einen kontrafaktischen Sinn: Der Einzelne versteht sich gleichsam als ein Bürger einer weltumfassenden Staatsordnung (die es als reales politisches Gebilde nicht gibt), und er meint damit, dass er sich als einer universalen, überpositiven Ordnung, einem die nationalen Grenzen übergreifenden normativen System angehörig betrachtet. Diese Ansicht schließt die Anerkennung aller Menschen als Quasi-Mitbürger ein. Der Kosmopolit verhält sich weltoffen und gastfreundlich, er reist, lernt Fremdsprachen, fühlt sich in der ganzen Welt zuhause, entwickelt keinen Nationalstolz, keine emotionalen Bindungen an die eigene Heimat und keine Abneigung oder Feindseligkeit gegen das Fremde. Er verfolgt, wie es Christian Daniel Voss zu Beginn seiner 1797 gegründeten Zeitschrift Der Kosmopolit ausdrückt, „das allgemeine Ziel der Menschheit: wahre Humanität zu befördern“.5 Unparteilichkeit, Wahrheitsliebe und Freimütigkeit sind die zu fördernden Tugenden, erstrebt wird „das Wahre, Nützliche, Schöne und Edle“ ohne alle persönlichen oder Nebenrücksichten.6 Nur in diesem zweiten Sinne kann der Kosmopolitismus als Bildungsziel dienen. Auf diesen Kosmopolitismus kommt Fichte in den Dialogen „Der Patriotismus und sein Gegenteil“ von 1806 und 1807 zu sprechen.7 Er sieht keinen unauflösbaren Widerstreit zwischen den beiden Positionen, sondern versucht den Gegensatz aufzulösen, indem er den Patriotismus als „weitere Bestimmung“ des Kosmopolitismus begreift. Nach dieser Auffassung ist Kosmopolitismus „der herrschende Wille, daß der Zweck des Daseins des Menschengeschlechts im Menschengeschlechte wirklich erreicht werde“; Patriotismus hingegen „der Wille, daß dieser Zweck erreicht werde zu allererst in derjenigen Nation, deren Mitglieder wir selber sind, und daß von dieser aus der Erfolg sich verbreite über das ganze Geschlecht“ (SW XI, 228 f). Der Kosmopolit könne trotz seiner weltbürgerlichen Ausrichtung immer nur in seine nähere Umgebung eingreifen und werde „ganz nothwendig, vermittelst seiner Beschränkung auf die Nation, Patriot“ (ebd., 229). Kosmopolitismus erscheint hier als normative, auf die Erreichung _____________ 4
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Vgl. A. Horstmann: Kosmopolit, Kosmopolitismus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, 1976; G.-L. Fink: Kosmopolitismus. In: Schneiders, Werner (Hrsg.): Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa. München 1995, S. 221 f sowie Ulrich im Hof: Das Europa der Aufklärung. München 1993, S. 90-94. Vgl. zum Ganzen auch: Fichte-Studien, Bd. 2: Kosmopolitismus und Nationalidee. Amsterdam/Atlanta 1990. Der Kosmopolit. Eine Monathsschrift zur Beförderung wahrer und allgemeiner Humanität. Erstes Stück Januar 1979. Halle a. d. Saale 1797, S. 6. Ebd. Johann Gottlieb Fichte: Der Patriotismus und sein Gegentheil. Patriotische Dialogen vom Jahre 1807. In: SW XI, 221-274.
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eines Endzwecks bezogene Einstellung. Der Gegensatz zwischen einer heimatverbundenen und einer internationalistischen Einstellung lässt sich mit einer solchen Fassung der Begriffe nicht recht wiedergeben, vielmehr setzt sie voraus, dass Nation und Menschheit im wesentlichen dieselben Zwecke verfolgen und dabei keine Konflikte erzeugen – eine sehr weit gehende und vielleicht zu weit gehende Voraussetzung. Im ersten Patriotischen Dialog heißt es, der letzte Zweck aller Nationalbildung sei immer der, „dass diese Bildung sich verbreite über das ganze Geschlecht“ (ebd.). Nun, wenn jede Nationalbildung nach universaler Ausbreitung tendiert, so kann damit den Zwecken der Menschheit nur dann gedient sein, wenn ihr Inhalt universalistisch ist und von nationalen Besonderheiten abstrahiert. Andernfalls wäre damit nichts weiter gesagt, als dass jede Nationalbildung dazu neigt, sich zum Maß aller Dinge zu erheben und ihre partikularen Vorstellungen in andere Nationen zu exportieren, die selber ganz andere, eigene Bildungsinhalte haben könnten. Während ein Patriot im landläufigen Sinne immer die eigenen Verhältnisse den fremden vorzieht, weil sie die eigenen sind, kann ein Patriot im Fichteschen Sinne nur vorziehen, was der Menschheit insgesamt dient; er ist ein in seiner Wirksamkeit auf den eigenen Staat beschränkter Kosmopolit. Von der Bindung an das historisch individuelle Eigene und Lokale, welche den Patrioten im landläufigen Sinne kennzeichnet, bleibt bei dieser Sichtweise wenig übrig. Will man diesen deskriptiven Gegensatz von Patriotismus und Kosmopolitismus festhalten, ist es daher kaum sachdienlich, ihn in der von Fichte vorgeschlagenen Weise aufzulösen. Zugleich jedoch wird sichtbar, wie Fichte sich einen transformierten Patriotismus vorstellen kann, der im Dienst der konkreten Verwirklichung einer allgemeineren Idee steht. Eine andere Art von geläutertem Patriotismus, den Fichte in den „Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters“ von 1804 vertritt, operiert mit einem erweiterten, nämlich in Richtung auf eine geistig-kulturelle Identität des gebildeten Europas idealisierten Begriff des Vaterlandes. Fichte fragt: Welches ist denn das Vaterland des wahrhaft ausgebildeten christlichen Europäers? Im allgemeinen ist es Europa, insbesondere ist es in jedem Zeitalter derjenige Staat in Europa, der auf der Höhe der Cultur steht. (SW VII, 212)
Diese europäisierte Vorstellung vom Vaterland wird ausdrücklich gegen eine naturhafte Heimatverbundenheit abgegrenzt: Mögen dann doch die Erdgeborenen, welche in der Erdscholle, dem Fluß, dem Berge ihr Vaterland erkennen, Bürger des gesunkenen Staates bleiben; sie behalten, was sie wollen und was sie beglückt; der sonnenverwandte Geist wird unwiderstehlich angezogen werden und hin sich wenden, wo Licht ist und Recht. (ebd.)
In diesem Zusammenhang spricht Fichte auch von „Weltbürgersinn“, der offensichtlich mit einem recht verstandenen Patriotismus konvergiert. Wiederum ist zweifelhaft, ob eine solche begriffliche Angleichung den
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Gegensatz, zu dessen Beschreibung die Begriffe einmal eingeführt wurden, in der Sache auflöst. Formal ließe sich dies noch simpler und vollständiger bewerkstelligen, indem der Kosmopolit einfach die Welt zu seinem Vaterland erklärte; Kosmopolitismus wäre dann nichts anderes als Patriotismus, nämlich Weltpatriotismus, der aber nun, um begriffliche Verwirrung zu vermeiden, von einem Lokal- oder Nationalpatriotismus unterschieden werden müsste. Wie die zitierte Stelle zeigt, trägt Fichte eine solche Ausweitung immerhin für Europa als einheitlichen Kulturraum mit. Umso überraschender ist dann die Verherrlichung des Deutschtums in den Reden, die mit dem gerade Genannten allenfalls so in Einklang zu bringen ist, dass Fichte nunmehr die deutsche Nation für diejenige hält, die auf der Höhe der Kultur steht, oder doch zumindest für die, die jetzt dazu heranzubilden ist. Bevor wir uns jedoch dem Inhalt des Bildungskonzeptes der „Reden“ zuwenden, verweilen wir zunächst noch etwas bei den Begriffen „Nation“ und „Bildung“: Dass der Begriff der Nation nach 1800 immer mehr ins Zentrum der politischen Philosophie Fichtes rückt, hängt mit seiner Abkehr von der Staatstheorie der Jahre 1796/97 zusammen oder, grundsätzlicher, mit der Abwendung vom gesamten vertragstheoretischen Paradigma der Aufklärungsepoche.8 Fichte verneint jetzt die Möglichkeit, einen Rechtsstaat bloß als Zwangsgewalt aus den Erfordernissen der Interessen der Individuen zu konstruieren, wie es von Hobbes bis Kant in Analogie zur mechanistischen Naturwissenschaft versucht wurde. Fichte überzeugt sich in dieser Zeit davon, dass es in der politischen Theorie keine mechanistische Lösung gibt: Der Staat kann nicht funktionieren als bloße Zwangsgewalt, die die privaten Egoismen und Individualismen bändigt, sondern er bedarf einer Basis gesellschaftlicher Konsense, wie sie in einem Volk als kultureller und vor allem sittlicher Gemeinschaft bestehen. Der Staat lebt wesentlich von diesen konkreten geschichtlichen Vorgegebenheiten, die Fichte nun unter den Begriff der Nation fasst. Konstitutiv für eine Nation ist insbesondere die Einheit der Sprache.9 Mit der Entdeckung der konkreten, historisch gewachsenen Individualität im Gegensatz zu den abstrakt konstruierten Idealen der Aufklärung liegt Fichte im Trend seiner Zeit. Herder hatte auf die historische Individualität im Bereich der Sprache aufmerksam gemacht, Schleiermacher im Bereich der Religionen. Genauso wenig, wie die characteristica universa_____________ 8 9
Vgl. zum Folgenden Hansjürgen Verweyen: Recht und Sitlichkeit in J. G. Fichtes Gesellschaftslehre. Freiburg/München 1975, S. 198 ff. Zu Fichtes sprachphilosophischer Begründung des Nationalgedankens vgl. Verweyen, a. a. O., S. 210-224.
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lis als Sprache oder die Natürliche Religion der Aufklärung als Religion jemals historische Realität und Wirkungskraft erlangt haben, könnte ein Staat Bestand haben, der nur auf einem die privaten Egoismen durch Zwangsgewalt bändigenden Kontrakt beruht, wenn die Bürger nicht schon durch lebendige kulturelle und sittliche Gemeinschaft miteinander verbunden wären. Mit dieser Gemeinschaft hat es die Bildung zu tun. Der vollkommene Staat lässt sich nicht aus jedem beliebigen Material herstellen; nur in einer vollkommen gebildeten Nation wird auch das Problem des vollkommenen Staates lösbar sein. Fichte interpretiert in den Reden den Sieg Napoleons als das Ende der Selbstsucht, genauer als die Selbstvernichtung der Selbstsucht durch ihre vollständige Entwicklung (vgl. SW VII, 270), und damit auch als das Ende einer politischen Theorie, die nur auf die Selbstsucht der Individuen setzt. Diese Deutung hat ihre Sonderbarkeiten, denn was in Deutschland untergegangen ist, stammt der politischen Organisationsform nach aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit, nämlich die Fürstentümer und die nur noch formell bestehende, durch Napoleon beendete Rahmenkonstruktion des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Von einer historischen Widerlegung der Staatstheorie der Aufklärung kann also keine Rede sein. Fichtes Kritik am politischen Egoismus zielt aber noch auf anderes, nämlich auf die Selbstsucht der Regierenden, die sich nach außen nicht auf eine schlagkräftige Bündnispolitik einigen können und nach innen eine „weichliche Führung der Zügel des Staates“ aufweisen (ebd.). Es ist bemerkenswert, wie Fichte in diesem Kontext die „ausländischen Worte“ „Humanität“ und „Liberalität“ als „Schlaffheit“ und „Betragen ohne Würde“ (ebd., 271) verhöhnen kann, nachdem er wenige Jahre zuvor, im Kontext des sog. Atheismusstreites, wie kaum ein anderer gegen die landesherrliche Zensur gekämpft hat. Jedenfalls empfiehlt er zur Überwindung des alten, selbstzerstörerischen Egoismus die neue Bildung als das „einzige Mittel, die deutsche Nation im Daseyn zu erhalten“ (ebd., 274). Wer oder was aber ist das Subjekt der Bildung? Fichte spricht erstens von der Sichbildung der Nation (zu einem „geistigen Auge“ der sittlichen Billigung und Missbilligung), zweitens von der Erziehung der Nation, aber auch drittens von der Erziehung der Kinder (ebd., 274 f). Von der Bildung der Nation heißt es, dass sie nicht Bildung eines besonderen Standes, sondern der Nation schlechthin sein soll, aber auch nicht Volkserziehung, sondern eigentümliche deutsche Nationalerziehung (SW VII, 277, vgl. 403). Die elitäre Verengung des Bildungsideals, wie es Fichte noch im System der Sittenlehre vertreten hat, wird in den Reden zugunsten der Idee einer allgemeinen Volksbildung überwunden, die aber nun Nationalbildung sein soll.
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Die Erziehung setzt an bei der Kindererziehung. Ihr wichtigstes Merkmal sieht Fichte (in ausdrücklicher Anlehnung an Pestalozzi) darin, „dass sie die freie Geistestätigkeit des Zöglings anrege und bilde“ (SW VII, 403). Im Hinblick auf diese Freiheit schreckt Fichte jedoch nicht vor einer Paradoxie zurück, indem er zugleich von der Erzeugung einer „Notwendigkeit“ des Wollens spricht: „Alle Bildung strebt an die Hervorbringung eines festen, bestimmten und beharrlichen Seyns, das nun nicht mehr wird, sondern ist, und nicht anders seyn kann, denn so, wie es ist.“ (SW VII, 281) „Für ihn [den Zögling, d. Vf.] ist die Freiheit des Willens vernichtet und aufgegangen in der Nothwendigkeit“ (ebd., 282). „Diesen festen und nicht weiter schwankenden Willen muss die neue Erziehung hervorbringen nach einer sicheren und ohne Ausnahme wirkenden Regel“. Bedenkt man das systematische Gewicht des Freiheitsbegriffs in Fichtes praktischer Philosophie, so kann man diese Passagen als Ausdruck von Fichtes Neigung zu Zuspitzungen und Übertreibungen lesen. Die scheinbare Antinomie dient jedoch hier dazu, ein falsches Verständnis von Freiheit zu beseitigen, nämlich das des unentschiedenen Schwankens zwischen mehreren gleich Möglichen (vgl. SW VII, 369) oder, wie es traditionell genannt wurde, die Freiheit der Willkür. Die freie Geistestätigkeit des Zöglings muss so verstanden werden, dass sie einem inneren Gesetz folgt, und die feste Verankerung dieser Tätigkeit zu einem beständigen Habitus wäre das, was Fichte hier als Notwendigkeit und Vernichtung der Freiheit beschreibt. Dieses fest habitualisierte, aber als Selbsttätigkeit freie Geistesleben entfaltet sich als Liebe zu einem selbst entworfenen Bild einer sittlichen Ordnung. Die Grundlage dafür sieht Fichte in dem ursprünglichen Trieb des Kindes nach Achtung, Anerkennung, Gutseinwollen (vgl. SW VII, 414, 419). An ihm geht die Erkenntnis des Guten auf, von dem ein Bild entworfen wird. An dieser Stelle hat Bildung etwas mit Bildern, mit Einbildungskraft und vielleicht auch mit ästhetischer Gestaltungskraft zu tun, obwohl Fichte in diesem Kontext darauf nicht eingeht. Die Bildung des Geschlechts durch die neue Erziehung muss ausgehen von dem Vermögen, Bilder selbsttätig zu entwerfen, „Bilder, die keineswegs blosse Nachbilder der Wirklichkeit seyen, sondern die da fähig sind, Vorbilder derselben zu werden.“ (SW VII, 285) Nur unter dieser Bedingung kann das entworfene Bild das tätige Wohlgefallen des Zöglings an sich ziehen. Hiermit ist das Motivationsproblem berührt. Eine Erziehung, die nicht die Selbsttätigkeit des Zöglings anregt, ist auf externe Motivationen angewiesen und gelangt nicht zu wirklicher Bildung, die immer Selbstbildung des Zöglings ist. Fichte hält der bisherigen Pädagogik vor, nicht „bis zur Wurzel der wirklichen Lebensregung und Bewegung“ (ebd., 275) durchgegriffen zu haben, und daraus erkläre sich, warum der Zögling in der Regel ungern, langsam und spärlich
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lerne, was nur unzureichend durch „Vertröstung auf die künftige Nützlichkeit dieser Erkenntnisse, und dass man nur vermittelst ihrer Brot und Ehre finden könne, und sogar durch unmittelbare Strafe und Belohnungen überwunden“ werde (ebd., 289). Die neue Erziehung muss dagegen im Zögling eine Selbsttätigkeit entwickeln, eine Tätigkeit des geistigen Bildens und der Liebe zum geistig gebildeten Gegenstand. Es geht um Entwicklung der Liebe zum Guten. Sie soll ein Bild von der gesellschaftlichen Ordnung der Menschen, so wie dieselbe nach dem Vernunftgesetze sein soll, entwerfen (ebd., 292). Fichte empfiehlt, dass die Zöglinge in abgesonderten Gemeinschaften (z. B. Internaten) leben, wo sie eine normative Ordnung von Grund auf verstehen lernen, wozu die Familie seiner Meinung nach wegen deren Ausrichtung auf andere, hauptsächlich ökonomisch Erfordernisse, weniger geeignet ist. Das letzte Geschäft der Erziehung ist jedoch nicht die Erziehung zum Mitglied einer diesseitigen sittlichen Gesellschaftsordnung, sondern die Erziehung zur wahren Religion (ebd., 298). Hier geht es darum, sich selbst als Glied in der ewigen Kette eines geistigen Lebens überhaupt unter einer höheren gesellschaftlichen Ordnung aufzufassen. Dazu muss der Zögling ein Bild der übersinnlichen Weltordnung selbsttätig entwerfen, und dies wird ihn zur Religion bilden. Der Umstand, dass Fichte hier von freiem Entwerfen redet, konkurriert mit anderen Stellen, die eher eine rezeptive Tätigkeit fordern, indem von einem „Auge“ die Rede ist, das eine übersinnliche Ordnung wahrnimmt. Stattdessen geht es hier darum, dass der Zögling sich selbsttätig etwas vorzeichnet – nicht die übersinnliche Ordnung selbst, aber ein Bild von ihr. Wie dieses Verhältnis von Rezeptivität und Spontaneität hierbei genau zu bestimmen ist, gehört zu den tieferen Problemen der Wissenschaftslehre und kann hier nicht untersucht werden. Dass aber die Wissenschaftslehre selbst einen Anteil an der höheren Bildung besitzt, zeigt eine Stelle der späten Staatsphilosophie von 1813, wo es heißt, dass das innere Auge zum Sehen des Übersinnlichen gebildet werden muss; Fichte fügt hinzu: „diese Bildung des Auges aber ist die Wissenschaftslehre“ (SW IV, 389). Eine solche Bildung führt zu Religion und versetzt den Zögling in eine Ordnung, die allen Beschränkungen der empirischen Natur und, so möchte man meinen, damit auch den Grenzen von Volk und Nation enthoben ist. Wenn aber die Religion das höchste Bildungsziel ist, welche Rolle spielt dann noch die Vaterlandsliebe als Liebe des Einzelnen zur Nation? Fichte bezieht sie wieder in das Bildungskonzept ein, indem er den Volksbegriff metaphysisch überhöht und die Nation zu einem Bestandteil der göttlichen Ordnung selber macht. Man kann Fichtes Ansichten streckenweise immanent geschichtsteleologisch lesen – u. zw. in der Weise, dass die Nation das empirisch begrenzte Tätigkeitsfeld ist, von dem aus die
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sittliche Bildung sich nach und nach über die Menschheit verbreitet. Fichte sagt, das „Sichselbstmachen der Menschheit zu dem, was sie eigentlich und ursprünglich ist“, d. h. die Bildung der Menschheit, müsse irgendwo und irgendwann im Raume und in der Zeit anfangen, und er bemüht sich außerordentlich um den Nachweis, dass gerade die Deutschen als das Urvolk dazu ausersehen sind, diesen Bildungsprozess zu initiieren. Seine Betrachtung geht aber über diese immanente Geschichtsteleologie hinaus und erhöht den Nationalcharakter eines Volks zum Bestandteil eines göttlichen Entwicklungsplans, d. h. zu einer metaphysischen Größe. Die Nation, und zwar die deutsche, wird ihm zum Medium der geschichtlichen Erscheinung des Absoluten. Ein „Volk im höheren Sinne“ ist nach der Definition in den Reden das Ganze der in Gesellschaft miteinander fortlebenden und sich aus sich selbst immerfort natürlich und geistig erzeugenden Menschen, das insgesamt unter einem gewissen besonderen Gesetze der Entwickelung des Göttlichen aus ihm steht (SW VII, 381, Hervorhebung v. Vf.).
Fichtes Verständnis der Nation als Erscheinung göttlichen Lebens hängt nach einer These von Wolfgang Schrader zusammen mit dem Gedanken einer Synthesis der Geisterwelt, dessen theoretische Begründung auf den Kontext der Wissenschaftslehren Nova Methodo von 1801 verweist.10 Eine solche transzendentalphilosophische Begründung wird jedoch kaum nachweisen können, dass irgendein konkretes geschichtliches Gebilde unter einem Gesetz der Entwicklung des Göttlichen aus ihm steht und dass dies für eine bestimmte kontingente Gruppe von Menschen wie beispielsweise die Deutschen, nicht aber für die Menschheit als ganze gelten soll. Statt diesen Gedanken weiter zu verfolgen, kann hier nur noch der Versuch einer kurzen abschließenden Beurteilung unternommen werden. Fichtes Bildungskonzept kann im Kern, soweit es sich um ein ethisches Konzept handelt, nicht als nationalistisch bezeichnet werden. Sein Kern ist vernünftige Sittlichkeit. Es bewahrt einen ethischen Universalismus, der jedoch am Ende nicht mehr in der Sprache der Aufklärung, sondern in der des johanneischen Christentums formuliert wird – besonders deutlich in der späten Staatslehre von 1813 mit ihrer Rede vom Vernunftreich als dem Reich Gottes, eine Redeweise, die mit dem Vokabular des Johannesevangeliums sowie entsprechenden Belegstellen stark angereichert ist. Die Einbeziehung des Nationbegriffs in eine geschichtsphilosophische Perspektive der Verwirklichung des ethischen Endzwecks, insbesondere aber die Zuweisung einer Sonderrolle an die Deutschen, ist eher geeignet, einen neuen Mythos zu schaffen, der mit Aufklärung und erst recht mit Kosmopolitis_____________ 10 Vgl. Wolfgang Schrader: Nation, Weltbürgertum und Synthesis der Geisterwelt. In: Fichte-Studien 2 (1990), S. 27-36.
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mus nichts mehr zu tun hat. Fichtes Vorstellungen von der geschichtlichen Wirksamkeit sittlicher Ideen binden diese zu sehr an die eigene Nation und sind damit zu eingeschränkt. Warum sollte das „Aufblühen des Göttlichen in der Welt“ an einen konkreten nationalen Wirkungsrahmen wie den deutschen gebunden sein? Warum kann diese Rolle nicht ebenso ein Staatenbund, etwa nach kantischem Muster, spielen, in dem der Einzelne als Inhaber eines Weltbürgerrechts über nationale Grenzen hinaus wirkt? Die Nation wird von Fichte als notwendiges Vermittlungsglied zwischen dem Leben des Einzelnen und der Fortdauer der Wirksamkeit in der Menschheit angesehen, aber je internationaler und durchlässiger eine Weltkultur wird, desto weniger ist anzunehmen, dass sittliche und kulturelle Wirksamkeit in den Grenzen von Volk und Vaterland beschlossen ist, und eine Unzahl von Wissenschaftlern, Künstlern, Literaten, aber auch praktischen Wohltätern (etwa die „Ärzte ohne Grenzen“) widerlegen diese Vorstellung. Sicherlich wird man berücksichtigen müssen, dass Fichtes Verherrlichung des Deutschtums aus dem Charakter der Schrift zu verstehen ist, die eine politische Kampfschrift sein will und geistige Kräfte gegen die Fremdherrschaft Napoleons mobilisieren will. Gerade dies bedeutet aber die Anerkennung ihrer Zeitbedingtheit. Sofern Fichte seine Ideen von der geschichtlichen Auserwähltheit und des moralischen Sendungsauftrags des Deutschtums in sein Bildungskonzept einbezieht, handelt es sich nicht um Bildung durch Aufklärung, sondern um Bildung im Sinne eines Nationalmythos, den Aufklärung einer Kritik zu unterwerfen hat.
Wege des Bildungsbegriffs von Fichte zu Hegel Temilo van Zantwijk In seiner Geschichte des gelehrten Unterrichts stellt Friedrich Paulsen einen grundlegenden Wandel des Bildungsbegriffs am Beginn des neunzehnten Jahrhunderts fest, in welchem das mechanistische Bildungsverständnis von einer neuen, von der Vorstellung des organischen Wachstums geleiteten Konzeption abgelöst wird.1 Es ist von einem Bruch mit den Bildungsvorstellungen der Aufklärung zu sprechen, der zum Teil gezielt betrieben wird, wie in Niethammers Polemik gegen den Philanthropinismus2 oder Ernst August Evers’ parodistischer Verteidigung der Bestialität.3 Diese Veränderung ist eng mit der Entstehung der klassischen Literatur und Philosophie verbunden. Es sind deren Repräsentanten: Herder, Goethe, Schiller, Wilhelm von Humboldt sowie Fichte, Schelling und Hegel, die einem neuen Bildungsbegriff zum Durchbruch verhelfen. Zuvor wurde Bildung von ihrer gesellschaftlichen Funktion her verstanden. Sie war an Mathematik, Naturwissenschaft und Technik orientiert. Die Philosophie diente der Vorbereitung auf das wissenschaftliche Studium und war in erster Linie Popularphilosophie oder Philosophie für die Welt. Sie gewann den Bildungsbegriff aus der klassischen Rhetorik, die sie überhaupt als Bildungstheorie ansah. Gegenüber dieser unter Nützlichkeitsgesichtspunkten stehenden Konzeption, die in der Bildung vorwiegend Schulbildung und akademische Bildung als Vorbereitung auf das gesellschaftliche und berufliche Leben sah, bringt die Zeit um 1800 eine Reihe von Neuerungen und vor allem auch Erweiterungen, aus denen Paulsen ein Bild von Bildung hervorgehen sieht, das allen genannten Autoren mit relativ geringen Abweichungen vor Augen gestanden habe. Hierbei handelt es sich um ein _____________ 1
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Friedrich Paulsen: Geschichte des gelehrten Unterrichts auf den deutschen Schulen und Universitäten vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart. Hrsg. von Rudolf Lehmann. 3. Aufl. Leipzig 1919, S. 191 f. Friedrich Immanuel Niethammer: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unserer Zeit. Jena 1808. Ernst August Evers: Über die Schulbildung zur Bestialität. Eine Streitschrift zugunsten der humanistischen Bildung. Mit einem Vorwort von Manfred Fuhrmann. Hrsg. von Michele E. Ferrari. Aarau 1807 [ND Heidelberg 2002].
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Bildungsverständnis, das sich bewusst vom vermeintlich oder wirklich ‚mechanistischen‘ Verständnis der vorherigen Zeit absetzt und ei-nen neuen ‚organischen‘ Begriff prägt, der aus der Analogie mit autopoi-etischen Gestaltungsprozessen in der organischen Natur gewonnen wird. Ich möchte zeigen, dass Fichte und Hegel den neuen Bildungsbegriff nicht nur aufgenommen, sondern philosophisch begründet haben. Dabei bleibt Fichte, der sich schon in seiner Schulzeit dem Bildungsbegriff zugewandt hat, mehr in den Bahnen der älteren Traditionen des Bildungsbegriffs. Hegels Kritik am Bildungsverständnis der Aufklärung lässt sich daher als Kritik an Fichte lesen.
Elemente eines neuen Bildungsbegriffs Das klassische Zeitalter sieht Bildung in auffälligem Unterschied zur Aufklärung als Selbstzweck. Sie ist „das neue Lebensideal […] ästhetischer Geistesgestaltung, persönlicher Kultur“.4 Vorgegebene Ziele höfischer und bürgerlicher Bildung und Erziehung, wie der höfische Weltmann oder der weltflüchtige Pietist, werden – eben weil sie vorgegebene Ziele sind – abgelöst. Die Bildung eines Individuums meint die möglichst vollkommene Entfaltung seiner natürlichen Anlagen und wird als eigengesetzlicher Prozess verstanden, der keinem von außen gesetzten Ziel zustrebt. Bildung wird nicht nur nach Analogie natürlicher Entwicklung beschreibbar, es gibt sie primär in der Natur. Die Naturforschung des späten 18. Jahrhunderts stellt zwei Konzepte bereit, die der Bildung eine natürliche Existenzweise sichern: den Bildungstrieb sowie einen neuen Organismusbegriff. Unter dem Bildungstrieb (nisus formativus) versteht Johann Friedrich Blumenbach einen Trieb der lebenden Körper, „ihre bestimmte Gestalt anzunehmen, dann zu erhalten und wenn sie ja zerstört worden, womöglich wieder herzustellen […], der eine der ersten Ursachen aller Generation, Nutrition und Reproduktion zu seyn scheint“.5 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzt sich im Anschluss an Albrecht von Haller entsprechend ein biomorpher gegen die älteren mechanomorphen (Descartes) und psychomorphen (Georg Ernst Stahl) Organismusbegriffe durch.6 Die geistige Bildung folgt der Struktur dieser natürlichen Bildung. Auch sie ist eigengesetzliche Entwicklung, aber auf einer höheren Stufe. _____________ 4 5 6
Paulsen, a. a. O., S. 193. Johann Friedrich Blumenbach: Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte. Göttingen 1781 [ND Stuttgart 1971], S. 12. Ilse Jahn (Hrsg.): Geschichte der Biologie. Theorien, Methoden, Institutionen, Kurzbiographien. Sonderausgabe Berlin 2000, S. 234.
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Gestaltungsprozesse in der Natur werden als rein reproduktiv angenommen. In der Natur gibt es keinen Fortschritt. Im Bereich der geistigen Bildung ist dies anders. Sie ist zumindest zum Teil ein Wachstumsprozess, der reflektiert wird und der auch willentlich gelenkt, befördert und gehemmt werden kann. Die Bildung des menschlichen Geistes ist weiter in die Bildung des Einzelnen und in die Bildung der Menschheit zu differenzieren. Die Beziehung zwischen diesen Ebenen wird so vorgestellt, dass die Bildung des Individuums als Wiederholung der Bildungsgeschichte der Menschheit zu denken ist. Bildung gewinnt damit gegenüber der vorwiegend unhistorischen Konzeption der vorherigen Zeit eine dezidiert geschichtliche Seite. Abzugrenzen ist die neue Sichtweise nicht nur gegen die frühere Zeit, sondern auch gegen den späteren Bildungsbegriff des Historismus. In der bürgerlichen Kultur geht es, wie Manfred Fuhrmann betont, „um Bildung als Bildungsbesitz, als die Fähigkeit, am Wesentlichen des europäischen Erbes, der europäischen Kultur Anteil zu nehmen, und zwar […] im Sinne des Umprägens und Weitergebens“.7 Dies gilt sowohl für die klassische als auch für die nachfolgende Zeit. Wird dieser Bildungsbesitz weiter im Sinne des Historismus als bloße Überlieferung relativiert, so wird der Boden des hier gemeinten Bildungsbegriffs bereits wieder verlassen. Für die Autoren im Umfeld der Weimarer Klassik und des Deutschen Idealismus gibt es keine vorhandenen Bildungsbestände, die bloß anzueignen wären. Für sie setzt Bildung ein aktiv an ihrer Gestaltung beteiligtes Subjekt voraus, das einerseits Erfahrungen macht, die nicht nur seine Setzungen sind, sondern ihm widerfahren, das sich andererseits aber auch produktiv auf diese Erfahrungen bezieht. Subjekt und Objekt der Bildung sind nicht scharf zu trennen. Dies gilt sowohl für Fichtes Ich und für Hegels Geist als auch für Goethes Wilhelm Meister. Daher schließen die klassischen Bildungskonzeptionen die pädagogische Verwendungsweise, in der Bildung einer der drei Stammbereiche des pädagogischen Handelns neben Erziehung und Unterricht ist, zwar ein, ohne sich aber in ihr zu erschöpfen. Das Interesse an der Antike und das an der Philosophie gewinnen im Zusammenhang mit dem neuen Bildungsbegriff einen völlig neuen, herausgehobenen Stellenwert. Die vermeintliche Einfachheit des antiken, insbesondere griechischen Lebens, verbunden mit der hohen Entwicklung der damaligen Kultur macht die griechische Bildung zum Vorbild für eine neue, um das Bildungsideal geordnete Weltsicht. War im 18. Jahrhundert die christlich-religiöse Tradition des Bildungsbegriffs noch durchaus wach, so steht die Neuentwicklung im Zeichen der Säkularisierung. Diese trägt _____________ 7
Manfred Fuhrmann: Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters. Frankfurt a. M./Leipzig 1999, S. 28.
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allerdings selbst wieder religiöse Züge. Diese Aspekte machen Weimar und Jena zum Mittelpunkt der Verwirklichung der neuen Bildungskonzeption. Paulsen spricht treffend vom ‚Griechenkult‘ der damaligen Zeit, den man als esoterischen Kern des stärker nach außen dringenden Genialitätskultes sehen kann und der nicht auf den Raum Weimar-Jena beschränkt war, aber doch entscheidend von ihm ausging: „Weimar-Jena war der Sitz seiner Oberpriester“.8 Dieses Urteil schließt die Philosophie des Deutschen Idealismus ein, die sich trotz ihres in Vielem spannungsreichen Verhältnisses zu den Priestern des Kultes gerade mit Bezug auf den Bildungsbegriff in bemerkenswertem Einklang mit Ihnen befindet. Der Bildungsbegriff gehört nicht zu den peripheren, sondern zu den Grundbegriffen des Deutschen Idealismus. Die systematische, begriffliche Exposition des in der klassischen Literatur mehr metaphorisch vor Augen geführten Ideals findet vor allem bei Fichte und Hegel statt. Damit komme ich zu meiner Ausgangsthese: Fichte und Hegel haben – jeweils von unterschiedlichen Ausgangspunkten ausgehend – den neuen Bildungsbegriff überhaupt erst auf eine theoretische Grundlage gestellt. Dabei lassen sich zentrale Passagen aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes sowie zum Entfremdeten Geist als Kritik an Fichtes Bildungskonzeption in Die Bestimmung des Menschen und in Die Anweisung zum seeligen Leben lesen. Ich behaupte nicht, dass Hegel speziell oder gar ausschließlich Fichte im Sinn hatte. Seine Kritik ist allgemein gehalten. Sie bezieht sich generell auf Positionen, welche die Überwindung der Diskursivität des Erkennens, insbesondere seine Abhängigkeit von dem, was Hegel den Begriff nennt, zum Programm machen. Wie sich zeigen wird, verfolgt aber Fichte gerade diese Konzeption einer Bildung, die zur Aufgabe hat, die Gebundenheit der Erkenntnis an der Sprache und insbesondere an der SubjektPrädikatstruktur zu überwinden. Denn daraus sieht Fichte die Gefangenschaft des Vorstellens in der Struktur der Erfassung von etwas als etwas und das heißt für ihn immer schon: gerade nicht als es selbst entstehen. Dies ist wieder der Grund einer allgemeinen Verkehrtheit in der Einstellung des modernen Menschen zur Welt. Die Bildungsthematik ist für Fichte gerade deshalb so zentral, weil nur sie es erlaube, das menschliche Wissen mit der Sinndimension menschlichen Daseins zu verbinden. Vorgreifend ist zu sagen, dass Fichte den menschlichen Willen und die Gesinnung als Objekt der Bildung sieht, während Hegel die verschiedenen Gestalten menschlichen Wissens, von der sinnlichen Gewissheit bis zur Religion und Wissenschaft als deren Objekte betrachtet. Gegenüber stehen sich also eine dezidiert praktische und eine ebenso dezidiert theoretische Auffassung von Bildung. Dieser Unterschied ist allerdings nicht so groß, _____________ 8
Paulsen, a. a. O., S. 200.
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wie er auf den ersten Blick scheinen mag. Vereinfachend kann man sagen, dass Fichte eine Revolution der Gesinnung in den die Kultur prägenden Individuen seines Zeitalters anstrebt, die dazu führen soll, dass die Wissenschaft in der neuen Gestalt der Wissenschaftslehre zur allgemeinen Anerkennung gebracht werden kann, was wiederum die Bildung der Menschheit auf eine geschichtlich höhere Stufe der Überwindung der Reflexion heben soll, die das menschliche Selbstbewusstsein von seinem geschichtlichen Leben getrennt hat. Fichte sieht Bildung als eine vorbereitende praktische Übung und verweist sie in den Vorhof der Wissenschaft. Diese braucht zwar für die Genese der Erkenntnis den fruchtbaren Boden eines gebildeten Zeitalters, hat, was ihre Begründung anbelangt, aber nichts mit Bildung zu tun. Für Hegel ist Bildung hingegen nichts anderes als der Entstehungsprozess der Wissenschaft selbst. Für ihn ist Bildung damit eine primär theoretische Angelegenheit. Zwar gibt es für ihn auch praktische Bildung, aber diese ist für ihn prinzipiell vom Wissen abhängig. Für Hegel ist die philosophische Selbstvergewisserung der Erkenntnis nur im Zusammenhang der Bildung des Geistes in seinen geschichtlichen Gestalten möglich und ist umgekehrt die Bildung integraler Bestandteil des Prozesses der philosophischen Reflexion. Der neue Bildungsbegriff eröffnet demnach ein weites Feld von Bedeutungen. Das Gesagte zusammenfassend sind drei analoge Verwendungsweisen des neuen Bildungsbegriffs zu unterscheiden: 1. Bildung als organisches Wachstum in der Natur: auf einer allgemeinen Ebene wird hier die Natur im Ganzen als Organismus gesehen, d. h. als eine von der anorganischen Natur zum Menschen aufsteigende Kette natürlicher Arten; in spezieller Hinsicht ist hier die Bildung des Individuums als Exemplar seiner Art gemeint; 2. Bildung als Entwicklungslogik und Geschichte des menschlichen Geistes: hier ist im allgemeinen die Menschheitsgeschichte und ihre Entwicklungsgesetze gemeint; unter dem speziellen Aspekt ist sie die Wiederholung der Menschheitsbildung in der Lebensgeschichte des Einzelnen; 3. Pädagogische Bildung: diese ist als Unterricht Ausbildung einer Allgemeinheit und als Erziehung Bildung eines Einzelnen; in ihrer Grundbedeutung ist die pädagogische Bildung die Förderung der freien Entfaltung der Persönlichkeit.
Rhetorische Bildungstheorie in Fichtes Valediktionsrede Die Bildungsthematik hat Fichte seit seiner Schulzeit beschäftigt. Die Valediktionsrede, mit dem Titel Über den rechten Gebrauch der Regeln der
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Dicht- und Redekunst (1780), mit der er sich als Schüler aus der Klosterschule Pforta verabschiedet hat, dokumentiert dieses Interesse eindrucksvoll. Einerseits nimmt sie manche Grundpositionen der späteren Popularphilosophie, in der Fichte das Bildungsthema vorwiegend abhandelt, vorweg. Andererseits zeigt sie, wie der junge Fichte sich noch auf dem Boden der Pädagogik der Aufklärung stehend, der neuen Konzeption genähert hat. Damit führt die Abschiedsrede ins Zentrum der Interpretation von Fichtes Bildungstheorie, in der es um die Frage gehen muss, inwiefern Fichte sich von der Vorstellung der Bildung als Mittel zu einem bestimmten Zweck lösen konnte, oder in seinem Versuch, den Bildungsbegriff zu erneuern, nicht letztlich doch von der Aufklärung abhängig geblieben ist. Vordergründiges Thema der Rede sind Rhetorik und Poetik. Fichte fordert gegen die Regelrhetorik, „daß nach den Regeln der Natur allein alle Dichter und Redner sich anpassen müssen“.9 Das Genie bringt für Fichte seine eigenen Regeln hervor und verfährt nicht nach den Kunstregeln, wie sie in Rhetorik-Lehrbüchern zu finden sind. Die Rhetorik ist für ihn nicht primär die Kunst des Überzeugens oder Überredens. Sie ist ein judikatives, kein technisches Unternehmen: Kunst ist sie nur, insofern sie lehrt, wie die schöpferischen Leistungen der Dichter und Redner zu beurteilen sind. In diesem Sinne bildet sie Geschmack und reflektierende Urteilskraft. Die Rhetorik ist damit Theorie der Bildung. Auch wenn Fichte sie nicht ausdrücklich so definiert, lässt sich doch feststellen, dass er sie als Mittel insbesondere zur literarischen Bildung einsetzt: Fichtes zahlreichen Ausführungen zu Lessing, Klopstock, Wieland und zur klassischen Bildungsrhetorik Quintilians und Ciceros mögen dies verdeutlichen. Für Fichte sind die Kunstmittel der Rhetorik dem natürlichen Redevermögen abgelesen. Fichte verdeutlicht dies an einem der Lehrrhetorik entnommenen Beispiel. Wie soll ein Kind lernen, „daß irgend ein höchstes Wesen dieser Welt innewohnt“?10 Fichte unterscheidet zwei didaktische Methoden: Die eine ist: Man erkläre erstens, was mit dem Wort ‚Gott‘ gemeint ist. Dies wird das Kind aber nicht „genügend, d. h. so verstehen, daß es irgend einen Begriff dessen in seiner Seele bilden könnte“.11 Weiter würde es dadurch „wohl kaum dazu angeregt werden, daß es dieses Wesen verehre und liebe“.12 Dazu könnte man natürlich „mit vielen Beweisgründen aus der Natur der Dinge“ das Dasein Gottes herleiten.13 Ein guter Leh_____________ 9
10 11 12 13
Hier und im Folgenden wird die deutsche Übersetzung des lateinischen Textes von Runge zitiert. Neue Fichte-Funde aus der Heimat und der Schweiz. Nebst einer Einleitung hrsg. von Maximilian Runge. Gotha 1919, hier S. 57. Runge, a. a. O., S. 59. Ebd. Ebd. Ebd.
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rer kann nach Fichte auf diesem Wege zum Erfolg kommen. Nur: sehr wahrscheinlich ist dies nicht. „[U]m vieles vortrefflicher als die erste“ ist die zweite Methode: Ich werde durch Beispiele von Dingen, welche genau zu dieser Zeit, während ich mit ihm rede, seinen sehenden Augen ausgesetzt sind, sodaß es selbst nicht bemerkt, welcher Absicht die nun an ihn gerichtete belehrende Rede dienen soll –, seinen Geist so lenken, daß es von selber einsieht, es sei irgend einer, welcher dies alles hervorgebracht hat, und nun selbst, aus eigenem Antriebe, von mir zu erfahren sucht, ob ein Gott sei!14
Wichtig ist bei dieser zweiten Methode die Bezugnahme auf Beispiele. Die Bildung von Analogien ist für Fichte das Prinzip einer natürlichen, ungezwungenen Erfindung. Dabei werden vernünftig eingerichtete Dinge gezeigt, die das Kind bereits kennt. Durch Übertragung wird das Kind in Fichtes Vorstellung auf die Frage nach einem vernünftigen Welturheber kommen. Selbstverständlich stellt es seine Frage nicht wirklich aus eigenem Antrieb: Im Hintergrund leitet der Lehrer, der seine rhetorische Kunst aber verbirgt, das analogische Verfahren. Die unterstellte Spontaneität ist für Fichte von entscheidender Bedeutung. Die Zustimmung ergibt sich im Falle von spontan entstehenden Überzeugungen zwanglos. Darin liegt ihre Natürlichkeit. In der wissenschaftlichen Methode bleibt nach Fichte zwischen Auffassung und Zustimmung eine Lücke. Philosophie und Mathematik liefern zwingende Beweise. Fichte berichtet, wie er solchen Beweisführungen oft „durch die Gewalt der Wahrheit gezwungen, beistimmte“, wobei aber eine schlechte Form der Zustimmung vorgelegen habe. Es war nach Fichte nur so, dass er „nicht wußte, was ich jenem einwenden sollte“.15 Die Zustimmung war lediglich das Ergebnis der Abwesenheit von Gegengründen. Die Sache war aber dabei „noch keineswegs so tief in die Geistesanlagen hinabgestiegen“, dass er auch „also gewiß hiervon überzeugt wäre“.16 In diesen Fällen kann für Fichte nicht die Rede davon sein, dass der Wille dadurch „erregt oder […] geleitet würde“.17 Weil die Zustimmung nicht freiwillig erfolgt, fehlt, so ist der Gedanke, auch die affirmative praktische Einstellung zu dieser Zustimmung. Fichte erwähnt nicht die weitere Möglichkeit des eigenständig ausgeführten Beweises, in welchem das Subjekt ein zwingendes Ergebnis selbst erzeugt. Gerade dies wird ein wichtiges Ziel der so genannten genetischen Beweismethode der späteren Wissenschaftslehren ab 1804 sein. Seine frü_____________ 14 15 16 17
Ebd., S. 60. Ebd. Ebd., S. 60 f. Ebd., S. 61.
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he These von der Unfreiwilligkeit der Zustimmung trifft höchstens auf den Fall zu, dass jemand einen ihm vorgeführten Beweis nachvollzieht und ist vermutlich sogar nur dann triftig, wenn das Verständnis zwar nicht völlig fehlt, aber doch zur eigenständigen Ausführung der Beweisschritte nicht hinreicht. Wenn jemand einen zwingenden Beweis selbst durchführt, ist es sehr wohl möglich, dass er dem zwingenden Ergebnis freiwillig zustimmt, allein schon aus Freude über die gefundene Lösung. Dennoch ist die Situation des Lehrvortrags wohl häufig so zu sehen, wie Fichte sie darstellt. Die Kompetenz der Hörer ist zu begrenzt, um Beweise selbst zu produzieren. Daher empfiehlt sich nur die andere Methode, die den Willen des Hörers erreicht, ohne seine Auffassungsgabe zu strapazieren. Diese Passage der Abschiedsrede ist hier insofern wichtig, als sie verdeutlicht, dass Fichte bereits zu diesem frühen Zeitpunkt mit Hilfe der Rhetorik eine Theorie der Bildung entwickelt hat. Weil Bildung freie Zustimmung voraussetzt, hält Fichte wissenschaftliche Methoden in diesem Zusammenhang, der zunächst nur den pädagogischen Bildungsbegriff betrifft, für ungeeignet. In diesem Sinne belegt er seine regelfeindliche Rhetorikauffassung ausdrücklich an Ernesti, dem Rhetorik-Theoretiker und Herausgeber der Werke Ciceros.18 Dabei ist auch das gewählte Beispiel aufschlussreich. Es zeigt, dass der Erwerb religiöser Grundeinstellungen für Fichte selbstverständlich zur Bildung gehört. Das eigentlich Interessante ist hier die Verbindung von Elementen des aufgeklärten Bildungsverständnisses, wobei Bildung auf ein interpersonales Phänomen mit klar verteilten Lehrer- und Schülerrollen beschränkt bleibt und letztlich ein nach äußerlich vorgegebenen Zielen ablaufender Prozess ist, mit Vorboten eines neuen Bildungsverständnisses, das auf freie Zustimmung und damit auf eigengesetzliche freie Entfaltung der Person setzt. Weiter zeigt sich ein dezidiert methodisches Interesse in Fichtes Herangehensweise. Fichte möchte sich klar machen, wie man die Zustimmung Anderer erlangt, wenn das Wissen fehlt, das erforderlich ist, um sich selbständig eine Überzeugung zu bilden. Hier wird die systematische Tragweite des Bildungsbegriffs für die Philosophie Fichtes deutlich. Bereits in ihrem frühesten Ansatz zeigt sich, dass sich die Methode und literarische Form der Philosophie bei Fichte aus der Funktion der jeweiligen Schriften in bezug auf Bildung und Wissenschaft erklären lassen. Generell gilt, dass die rhetorischen Darstellungsmittel der Sprache dem Zweck der Bildung, die logischen und transzendentalphilosophischen Beweisverfahren der Wissenschaft zugeordnet sind. Wir werden sehen, dass eine derartiges Komplementärverhältnis von Rhetorik und Logik (im Sinne transzendentallogischer Reflexion) mit Hegels Bildungsbegriff unverträglich ist. _____________ 18 Ebd., S. 62.
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Übergang zum neuen Bildungsbegriff: Die Bestimmung des Menschen Eben diese Unterscheidung zwischen zwei Lehrmethoden kehrt in Fichtes systematischer Unterscheidung zwischen der wissenschaftlichen und populären Darstellung der Philosophie in der angewandten Philosophie wieder.19 Die drei Vorlesungen Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, Ueber das Wesen des Gelehrten und seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit und Die Anweisung zum seligen Leben sind nach Fichtes eigener Auskunft „ein Ganzes […] von populärer Lehre, dessen Gipfel und hellsten Lichtpunkt die gegenwärtigen [d. h. die Anweisung, d. Vf.] bilden“ (GA I, 9, 4720). In diesen drei Vorlesungen ist eine systematische Unterscheidung von wissenschaftlicher und populärer Darstellung der Philosophie leitend.21 Fichte bezeichnet weiter in einem etwas anderen Sinne, nämlich bezogen auf den nichtprofessionellen Adressatenkreis, unter anderem auch die Schrift Die Bestimmung des Menschen als populär. Hier wird auch mit der Darstellungsform der Philosophie im Sinne der literarischen Gattung experimentiert: Die dreiteilige Abhandlung wird im zweiten Teil durch einen Dialog, der der Vergewisserung und Ausräumung von Zweifeln dient, unterbrochen. Die im engeren Sinne populäre Lehre der Berliner Zeit wird jedoch nicht durch den Adressatenkreis, sondern durch die Methode der Philosophie definiert. Die Textgattung ist einheitlich die des didaktischen Lehrvortrags, methodisch sind der wissenschaftliche und der populäre Vortrag aber grundverschieden. Fichte spricht systematisch in einem dreifachen Sinne von Popularphilosophie. Erstens verwendet er den Ausdruck populärer Vortrag, um die leichtere Fasslichkeit der Argumentation anzudeuten. Weiter ist von populärer im Unterschied von szientifischer Darstellung die Rede; Wissenschaftslehre und Popularphilosophie sind dem gemäß verschiedene Darstellungsformen desselben philosophischen Inhalts. Drittens spricht Fichte von einem populären Weg und einer populären Weise des Philosophierens. _____________ 19 Vgl. Johann Gottlieb Fichte: Schriften zur angewandten Philosophie. In: Werke. Bd. 2. Hrsg. v. Peter L. Oesterreich, S. 911 (Allgemeine Einleitung): „Für Fichte scheint die Vision seiner Valediktionsrede von 1780 in den Grundzügen [des gegenwärtigen Zeitalters, Erg. D. Vf.] endlich in Erfüllung gegangen zu sein“. 20 Fichtes Werke werden nach der J. G. Fichte Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. von R. Lauth, H. Gliwitzky u. a. StuttgartBad Cannstatt 1961 ff. unter Angabe der Abteilung, des Bandes und der Seitenzahl zitiert (im Folgenden: GA). 21 Ausführlich hierzu Harmut Traub: Johann Gottlieb Fichtes Popularphilosophie 1804-06. Stuttgart/Bad Cannstatt 1992 sowie Peter L. Oesterreich: Das gelehrte Absolute. Metaphysik und Rhetorik bei Kant, Fichte u. Schelling. Darmstadt 1997.
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Hier geht es um einen Unterschied der Erkenntnismethoden. Nicht in allen popularphilosophischen Schriften werden diese Bedeutungen genau unterschieden. Sie sind ein Ertrag der Berliner Jahre 1805-06. Betrachten wir zunächst die Schrift Die Bestimmung des Menschen, so sehen wir, dass Fichte den neuen Bildungsbegriff mittlerweile verinnerlicht hat. Der Bildungsbegriff wird in der Natur ontologisch verankert: „Es giebt eine ursprüngliche Denkkraft in der Natur, wie es eine ursprüngliche Bildungskraft giebt“ (GA I, 6, 200). Der Vergleichungspunkt, der die Analogie von Denkkraft und natürlicher Bildungskraft leitet, ist die Teleologie: Nach Fichte gibt es eine ursprüngliche Bildungskraft, welche Gestalten hervorbringt, eine Bewegungskraft, welche die physischen Bewegungsabläufe bei den Tieren regelt, und eine Denkkraft, die Entstehungs- und Entwicklungsprinzip des menschlichen Geistes ist. Die Kraft die diese Grundkräfte bündelt, ist die „menschenbildende Kraft“ (ebd.). Der Mensch, der alle Kräfte in sich vereinigt, steht demnach auf der höchsten Sprosse der Stufenleiter. Dieses Bild hat einen naturalistischen Aspekt: „Es ist die Naturbestimmung der Pflanze, sich regelmässig auszubilden, die des Thieres, sich zweckmässig zu bewegen, die des Menschen, zu denken“ (ebd., 201). Betrachten wir die ontologische Ordnung der Dinge, so erscheint die Natur in diesem Bild als das Primäre: „Ich bin nicht durch mich selbst entstanden“ (ebd., 200). Diese Annahme beinhaltet aber keine reduktive Erklärung des Geistes aus der Natur: Das Denken ist für Fichte „in der Natur“ und „durch die Natur“, aber nicht aus der Natur erklärbar (ebd., 201). Wie ist in dieser Sicht die Bildung auf der Stufe der Entfaltung des menschlichen Selbstbewusstseins darzustellen? Denkt man die Analogie konsequent fort, so wäre nach autonomen Entwicklungsgesetzen zu fragen, welche die Denkkraft bei der Gestaltung der geistigen Welt leiten. Hegels dialektisches Verfahren in der Phänomenologie wird diesen Weg beschreiten. Fichte aber sieht die menschliche Reflexion die Natur nicht nur simulieren, sondern zugleich dissimulieren. Er diagnostiziert eine Reflexionsfalle, die in dem Augenblick zuschnappt, in dem der Mensch sich als Subjekt von den Objekten seiner Vorstellung unterscheidet. Die Wurzel des Problems liegt in der Freiheit, welche das Vorstellungssubjekt in der Reflexion gewinnt. Die Bewegung des Unterscheidens und der Distanzierung, die das Geschäft der Reflexion ausmacht, unterscheidet sich prinzipiell von den vordefinierten physischen Bewegungsabläufen des Körpers. Die Reflexion lässt sich unbegrenzt fortsetzen. Reflektieren kann man auf alles, was Objekt des Vorstellens sein kann. Aber das ist nicht der Punkt: Auch physische Bewegung lässt sich bis zur Erschöpfung fortsetzen. Nicht aber lässt sich eine physische Bewegung beliebig in eine neue Bewegungsart übersetzen. Genau dies ist in der Reflexion der Fall. Die Reflexion befreit das Denken gewissermaßen aus der Natur, sie löst für Fichte damit
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aber auch die vorgegebene Gesetzmäßigkeit natürlicher Bewegungsabläufe auf. Nie wird in der Reflexion eine letzte und höchste Reflexionsstufe erreicht, denn jede Reflexionsstufe qualifiziert sich schon dadurch, dass sie erreicht wurde, als mögliches Vorstellungsobjekt, das sich kritisch in seinen Konstitutionsbedingungen hinterfragen lässt: Ich weiss allerdings, und muss es der Speculation gestehen, dass man auf jede Bestimmung des Bewusstseyns wieder reflectiren, und ein neues Bewusstseyn des ersten Bewusstseyns erzeugen könne, dass man dadurch das unmittelbare Bewusstseyn stets um eine Stufe höher rückt, und das erste verdunkelt und zweifelhaft macht, und dass diese Leiter keine höchste Stufe hat. (GA, I, 6, 256)
Fichtes Auskunft, dass die Leiter keine höchste Stufe habe, ist ernst zu nehmen. Sie zeigt, dass er in Die Bestimmung des Menschen eine skeptische Position einnimmt. Die Parallele zum Tropus Diallele, der besagt, dass alles Beweisen letztendlich auf unbewiesene Prämissen zurückkommt, weil jeder Beweis einem Beweiskriterium folge, welches selbst wieder bewiesen werden müsse, liegt auf der Hand.22 In der Bestimmung des Menschen sucht Fichte den Ausweg über die praktische Philosophie: „Alle meine Ueberzeugung ist nur Glaube, und sie kommt aus der Gesinnung, nicht aus dem Verstande“ (GA I, 6, 257). Hier ist genau auf die Bedeutung des Wortes ‚Glaube‘ zu achten. Fichte hat offenkundig einen Begriff des religiösen Glaubens im Sinn. Gemeint ist nicht propositionaler Glaube im Sinne des partiell begründeten Fürwahrhaltens einer Aussage. Es geht um Glaube als die Form des intuitiven im Unterschied zu den Formen des diskursiven, an Aussagen gebundenen Erfassens der Wirklichkeit. Entsprechend bewertet Fichte den Beitrag des Verstandes zur Erkenntnis negativ: Aus dem Verstand allein „entsteht nichts weiter, als eine Fertigkeit, ins unbedingt Leere hinaus zu grübeln und zu klügeln“ (ebd.). Im religiösen Glauben liegt eine intuitive Erfassung der Wirklichkeit vor, die vom diskursiven, durch die Subsumption von Gegenständen unter Begriffe sowie der Subordination von Begriffen unter höhere Begriffe völlig verschieden ist. Das ist aber nur die eine Seite von Fichtes Auffassung: Der nichtdiskursive Glaube erweist sich im Verhältnis zur diskursiven Erkenntnis als vordiskursiv. Gerade weil er der einzige Zugang des Selbstbewusstseins zur Außenwelt ist, ist der religiöse Glaube zugleich das Kriterium, an welchem Wahrheitsansprüche, das heißt Behauptungen bzw. diskursiv kommunizierbare Anerkennungsakte, zu messen sind. Wie kann eine nichtsdiskursive Form der Erkenntnis zum Kriterium der diskursiven _____________ 22 Sextus Empiricus: Pyrrhonische Hypotyposen I, 10. In: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis. Übersetzt von M. Hossenfelder. Frankfurt a. M. 1968, S. 95. Die ausgedehnte Literatur zum Skeptizismus insbesondere im Zusammenhang mit der Grundsatzdebatte der 1790er Jahre und mit Bezug zu Hegels Überwindung des Skeptizismus setze ich hier als bekannt voraus.
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Erkenntnis gemacht werden? Hier ist der Ansatzpunkt von Fichtes Theorie der vorreflexiven Erkenntnisleistung des Gefühls, auf die hier nicht ausführlich eingegangen werden kann.23 In Die Bestimmung des Menschen wird das Gewissen als Bindeglied zwischen intuitiver und diskursiver Weltauffassung eingeführt. Es liefert die normativen Einstellungen, die für Fichte nicht nur das praktische, sondern auch das theoretische Handeln leiten. Das Gewissen ist entsprechend „Prüfstein aller Wahrheit und aller Ueberzeugung“, und zwar in dem Sinne, dass die Übereinstimmung mit dem Gewissen notwendig für die Wahrheit ist: Was dem Gewissen widerspricht, ist „sicher falsch […], wenn ich auch etwa die Trugschlüsse, durch die es zu Stande gebracht ist, nicht entdecken könnte“ (ebd., 258). Am Anfang der Erkenntnis steht damit eine durch den Glauben begründete Entscheidung: „Er ist kein Wissen, sondern ein Entschluss des Willens, das Wissen gelten zu lassen“ (GA, I, 6, 257). Die theoretische Erkenntnis hat ein praktisches Fundament. Aber damit liegt umgekehrt auch alles das, was zum praktischen Fundament gehört, außer der Reichweite der kritischen Reflexion: Formulierbare Zweifel setzen Akte der Reflexion voraus und diese setzen ein praktisches Fundament voraus, welches sich folglich, so möchte es Fichtes retorsive Argumentation, nicht mittels Reflexion in Zweifel ziehen lässt. Es geht Fichte also darum, die göttliche Ordnung der Welt durch den Aufweis des Fundamentes der Reflexion ersichtlich zu machen und gegen die Möglichkeit des Zweifels zu wahren: Ich verstehe dich jetzt, erhabener Geist. Ich habe das Organ gefunden, mit welchem ich diese Realität, und mit dieser wahrscheinlich alle Realität ergreife. Nicht das Wissen ist dieses Organ; kein Wissen kann sich selbst begründen und beweisen; jedes Wissen setzt ein noch Höheres voraus, als seinen Grund, und dieses Aufsteigen hat kein Ende. Der Glaube ist es; dieses freiwillige Beruhen bei der sich uns natürlich darbietenden Ansicht unsere Bestimmung erfüllen zu können; er ist es, der dem Wissen erst Beifall giebt, und das, was ohne ihn blosse Täuschung seyn könnte, zur Gewissheit und Ueberzeugung erhebt. (ebd.)
Das, was sich hier nur in der gebotenen Kürze darstellen ließ und ausführlichere Diskussion verdient, ist hinsichtlich seiner Konsequenzen für den Bildungsbegriff zu befragen. Die wichtigste Konsequenz liegt auf der Hand: „Nachdem ich dieses weiss, weiss ich, von welchem Puncte alle Bildung meiner selbst und anderer ausgehen müsse: von dem Willen, nicht von dem Verstande. Ist nur der erstere unverrückt und redlich auf das Gute gerichtet, so wird der letztere von selbst das Wahre fassen“ (GA I, 6, 258). _____________ 23 Vgl. zum Begriff des Gefühls bei Fichte: Reiner Preul: Reflexion und Gefühl. Die Theologie Fichtes in seiner vorkantischen Zeit. Berlin 1969; vgl. ferner Frank Ike: Das Gefühl in seiner Funktion für die menschliche Erkenntnis bei Jacobi, Fichte und Schelling. Berlin 1998 sowie Petra Lohmann: Der Begriff des Gefühls in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes. Amsterdam 2004.
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Bildung, so lautet die Auskunft, soll auf den Willen und die Gesinnung des Menschen Einfluss nehmen, die wahre Erkenntnis wird der guten Gesinnung von selbst folgen. Eine weitere Konsequenz dürfte von besonderem Interesse im Blick auf Hegel sein. Fichte ist nicht bereit, seine Auffassung vom Grund der Erkenntnis im Glauben zur Diskussion zu stellen: „Nachdem ich dies weiss, werde ich mich aufs Disputiren nicht einlassen […], weil die Quelle meiner Ueberzeugung höher liegt als aller Disput“ (GA I, 6, 257). Hegel kritisiert in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes die „Genügsamkeit“ der damaligen Philosophie im Allgemeinen, die glaube, „daß solche Begeisterung und Trübheit etwas Höheres sei als die Wissenschaft“. Aus diesem Grund „blickt [sie, Erg. d. Vf.] verächtlich auf die Bestimmtheit (den Horos) und hält sich absichtlich von dem Begriffe und der Notwendigkeit entfernt als von der Reflexion, die nur in der Endlichkeit hause“.24 Vorgreifend können wir feststellen, dass Bildung bei Fichte jedenfalls nicht in der begrifflichen Durchdringung der Wirklichkeit bestehen kann und dass Hegel eine Position, wie Fichte sie um 1800 vertritt, kritisiert.
Selbstvernichtung: Der praktische Grund des Wissens als Problem der Bildungstheorie Fichtes Wie erreicht die Philosophie, in der Absicht den Menschen zu bilden, dessen intuitiven Glauben, und wie kann sie die dort verankerten Gesinnungen beeinflussen? Diese Fragestellung leitet das Programm der Schriften, die im engeren Sinn als Fichtes Popularphilosophie zu bezeichnen sind, also die geschichts- und religionsphilosophischen Schriften, die aus den Berliner Reden zwischen 1805 und 1807 hervorgegangen sind. Hier entwickelt Fichte die Methode der Popularphilosophie. Fichte geht von der Annahme eines bestimmten menschlichen Sensoriums für die Wahrheit aus, den natürlichen Wahrheitssinn.25 Der populäre Vortrag appelliert unmittelbar an den natürlichen Wahrheitssinn, der wissenschaftliche Vortrag sucht die Überzeugung durch Beweis. Die Popularphilosophie soll aus der Wissenschaftslehre „nur die Resultate […] gebrauchen und vortragen“ (GA I, 9, 58). Die Ergebnisse werden, so Fichte, „wohl durch sich selbst sich dem natürlichen Wahrheitssinne empfehlen“. Es soll kein Ableitungszusammenhang zwischen Prämissen und Konklusion hergestellt werden. Damit der natürliche Wahrheitssinn den Sätzen der _____________ 24 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke. Hrsg. v. E. Moldenhauer u. K. M. Michel. Frankfurt a. M. 1970, Bd. 3., S. 17. Im Folgenden abgekürzt mit Werke. 25 Vgl. GA I, 9, S. 72.
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Philosophie zustimmt, kommt es nur darauf an, daß „die tiefern […] Prämissen gegen allen Mißverstand gesichert werden“. Wer nur die Botschaft versteht, scheint Fichte anzunehmen, akzeptiert sie auch. Aber gerade darin liegt das Problem: Die tieferen Prämissen, die Fichte im Sinne hat, sind schnell ausgesprochen: „Nur das Seyn ist, keineswegs aber ist noch etwas anderes, das kein Seyn wäre und über das Seyn hinausläge“ (ebd.). Nur ist dem Verständnis mit dieser Formel noch wenig gedient. Daher ist eine Methode zu suchen, dem natürlichen Wahrheitssinn auf die Sprünge zu helfen. Was genau ist der natürliche Wahrheitssinn? Zumindest eines ist auf Anhieb klar. Gemeint ist keineswegs der bekannte Common Sense. Der Common Sense macht nach Fichte gerade einen Unterschied zwischen Sein und Dasein und betrachtet Existenz – fälschlicherweise –, als eine Eigenschaft von Dingen.26 Der natürliche Wahrheitssinn ist in der Regel durch die Irrtümer des Common Sense verstellt. Tatsächlich ist der natürliche Wahrheitssinn ein praktisches Vermögen. In jedem Menschen gibt es nach Fichte eine unauslöschliche „Sehnsucht nach dem Ewigen“ (GA I, 9, 59). Diese leitet den natürlichen Wahrheitssinn, der damit als ein ursprüngliches Interesse des Menschen an bestimmten Grundwahrheiten und Gütern zu bestimmen ist. Der populäre Vortrag setzt auf eine allgemeine Liebe des Menschen zum Ewigen, die Fichte den Affekt des Seins nennt. Dieser ist die spezifisch menschliche Weise bestimmte ontologische Grundwahrheiten zu erfahren: „Wo es zum wahrhaften Leben noch nicht gekommen ist, wird jene Sehnsucht nicht minder gefühlt; aber sie wird nicht verstanden“ (ebd., 60). Das Streben des Menschen nach Wahrheit wird nach Fichte – so können wir den Begriff des natürlichen Wahrheitssinnes zusammenfassend auf den Punkt bringen – von einem natürlichen Sensorium geleitet, welches sich auf das schlechthin und überzeitlich Gute richtet. Damit ist auch die Aufgabe des populären Vortrags umrissen. Er soll das in der natürlichen Einstellung dunkel bleibende Gefühl für das Richtige „durch strenge Ordnung und Methode“ durchsichtig machen: „Eine klare Einsicht wollen wir in uns hervorbringen“ (GA I, 9, 67). Damit erweist sich die Methode des populären Vortrags als die rhetorische. Das Ideal der perspicuitas, der die methodische Ordnung, die dispositio der Redeteile, sich als Mittel andient, leitet den populären Vortrag. Dieser selbst ist damit eine Leistung des iudicium, der Urteilskraft. Die Auffindung der Inhalte der Beurteilung, die inventio, ist die Leistung des natürlichen Wahrheits-
_____________ 26 Vgl. ebd.: „Nach dieser gewöhnlichen Ansicht nemlich, soll zu irgend einem Etwas, das, durch sich selber, weder ist, noch seyn kann, das Daseyn, das wiederum das Daseyn von Nichts ist, von außen her zugesetzt werden“.
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sinnes, der damit rhetorisch gesprochen als das ingenium, die Fähigkeit der Auffindung, zu bestimmen ist.27 Wie in seiner frühen Abschiedsrede grenzt Fichte die populäre Methode von der beweisenden Methode des wissenschaftlichen Vortrags ab. Auch hier wird die wissenschaftliche Methode als Beweismethode, näher als Methode des indirekten Beweisens gekennzeichnet. Sie zeigt, „durch die Vernichtung […] ihr gegen überstehende[r], Ansichten, als irrig, und im richtigen Denken unmöglich, die Wahrheit, als das nach Abzug jener, allein übrig bleibende, und darum einzigmögliche richtige“ (GA I, 9, 71). Die Parallele zu Fichtes Abschiedsrede ist offenkundig: Dem wissenschaftlichen Vortrag fehlt der Bezug zum erkenntnisleitenden Affekt. Er ist damit für Fichte merklich ärmer als der populäre Vortrag. Insofern auch die in ihm dargestellten Wahrheiten zuvor aufgefunden sein müssen, ist der wissenschaftliche Vortrag sogar von dem natürlichen Wahrheitssinn abhängig. Umgekehrt ist auch der populäre Vortrag vom wissenschaftlichen abhängig, wenn ihre Wahrheiten zumindest theoretisch begründet werden sollen. Dann ist die wissenschaftliche, genetische Beweismethode anzuwenden, welche „die Wahrheit vor unsern Augen aus einer Welt voll Irrthum, werden, und sich erzeugen“ lassen soll (ebd.). Was ist alles in der menschlichen Sehnsucht, an den der Popularphilosoph appelliert, enthalten? Hier ist zunächst auf den bemerkenswerte Umstand hinzuweisen, dass Fichte den gesamten Inhalt der Anweisung in wenige Sätze komprimieren zu können glaubt. Dieser Inhalt lautet, „daß Leben, Liebe und Seeligkeit, schlechthin Eins sind und Dasselbe“ (GA I, 9, 56). Weiter gilt: „Seyn und Leben ist abermals Eins und Dasselbige“ (ebd., 57). Das Wort ‚Sein‘ wird hier nicht in Sein und Dasein unterschieden: Gemeint ist sowohl: Seiendes, insbesondere menschliches Dasein, als auch: das Sein des Daseins, das für Fichte genau dann in Betracht kommt, wenn der Sinn des Daseins in Frage steht. Was Fichte erklären möchte, ist wie wir diesen Sinn, der sich der Reflexion entzieht, erfassen. Die intuitive Erfassung dessen, was der natürliche Wahrheitssinn dem Menschen dunkel als Sehnsucht nach Leben, Liebe und Seligkeit vermittelt, setzt voraus, dass die Diskursivität, welche die natürliche Weltauffassung mit der szientifischen verbindet, aufgehoben wird. Dies bedeutet aber nichts weniger, als dass die Reflexivität, die Fichte als die Struktur des Selbstbewusstseins identifiziert hat, außer Kraft gesetzt wird. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, wie Fichte darauf kommt, die Erfassung des Absoluten mit der Selbstvernichtung des Ich gleichzusetzen. Die Selbstvernichtung des Ich ist bei ihm die Bedingung des Übergangs auf der fünfstufigen Leiter von der niederen Moralität des _____________ 27 Vgl. Oesterreich, a. a. O., S. 905.
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Gesetzesgehorsams zur höheren Moralität der Beförderung des Guten. Tatsächlich setzen die höheren Stufen: höhere Moralität, Religion und Wissenschaft ein Handeln des Menschen im einsichtsvollen Einklang mit dem Göttlichen voraus: So lange der Mensch noch irgend etwas selbst zu seyn begehrt, kommt Gott nicht zu ihm, denn kein Mensch kann Gott werden. Sobald er sich aber rein, ganz, und bis in die Wurzel, vernichtet, bleibet allein Gott übrig, und ist Alles in Allem. Der Mensch kann sich keinen Gott erzeugen; aber sich selbst, als die eigentliche Negation, kann er vernichten, und sodann versinket er in Gott. (GA I, 9, 149)
Zum Verständnis der Selbstvernichtung muss man Fichtes Zusammenführung von Diskursivität des Erkennens, Egoität des Wissens und Egoismus in Bezug auf das Handeln nachvollziehen und als drei gleichermaßen fatale Hindernisse in Bezug auf die Erfassung des Absoluten akzeptieren. An einer anderen Stelle bezeichnet er die Selbstvernichtung entsprechend als „Eintritt in das höhere, dem niedern, durch das Dasein eines Selbst, bestimmten Leben durchaus entgegengesetzten Leben“ (ebd.). Das heißt, Fichte unterstellt einen allgemeinen Zusammenhang zwischen der objektivierenden Erkenntnisweise des Menschen, seinem Interesse an sich selbst, und seiner egoistischen Handlungsweise. Verantwortlich für diesen dreifachen Übelstand ist das Selbst, welches als eigene Welt der objektiv vorhandenen Welt gegenüber gestellt wird.
Hegels dialektischer Bildungsbegriff Bereits der Titel von Fichtes Schrift Die Bestimmung des Menschen erinnert an die Anthropologie der Aufklärung.28 Ich möchte abschließend zeigen, dass Hegels Kritik am Bildungsbegriff der Aufklärung auf Fichte, so sehr er den neuen Bildungsbegriff auch mitgestaltet hat, zutrifft. Damit ist natürlich noch nichts darüber gesagt, wie diese Kritik zu bewerten ist. Diese Aufgabe würde den hier gegebenen Rahmen sprengen. Hegel verwendet in der Phänomenologie den Bildungsbegriff zum einen in einem positiv wertenden, zum anderen aber auch in einem pejorativen Sinn.29 Letztere Verwendungsweise betrifft eine bestimmte Form der Bildung, die im Zeitalter der Aufklärung aufgetreten ist. Die Bildung hat in _____________ 28 Vgl. Guiseppe d’Allesandro: Die Wiederkehr eines Leitworts. Die Bestimmung des Menschen als theologische, anthropologische und geschichtsphilosophische Frage der deutschen Spätaufklärung. In: Die Bestimmung des Menschen. Hrsg. v. Norbert Hinske. Hamburg 1999, S. 21-47. 29 Vgl. zu Hegels Bildungsbegriff: Eckardt-Jürgen Pleines (Hrsg. ): Hegels Theorie der Bildung. 2 Bde. Hildesheim 1982 sowie Wim van Dooren: Der Begriff der Bildung in der Phänomenologie des Geistes. In: Hegel-Jahrbuch 1973, S. 162-169.
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dieser geschichtlichen Form vor allem emanzipatorische Funktion. Die Bildung hat den Menschen aus der Selbstverständlichkeit des natürlichen Daseins befreit, damit aber auch bewirkt, dass der gebildete Mensch sich von seinem natürlichen Dasein entfremdet. Was also bei Fichte als struktureller Notstand der Reflexion erscheint, ist bei Hegel nur der geschichtliche Preis, der für die Bildung bezahlt werden musste: „Wodurch also das Individuum hier gelten und Wirklichkeit hat, ist die Bildung. Seine wahre ursprüngliche Natur und Substanz ist der Geist der Entfremdung des natürlichen Seins“ (Hegel, Werke 3, 364). Dem setzt Hegel eine Auffassung entgegen, in welcher Bildung gerade die Überwindung der Entfremdung bedeutet. Die schöpferisch verstandene Bildung des Individuums ist für Hegel nichts anderes als die Teilhabe dieses Individuums an der weltgeschichtlichen Bildung des Geistes. In diesem positiv wertenden Sinne spricht er in der Vorrede der Phänomenologie von Bildung. Der Anfang der Bildung sei, „sich zu dem Gedanken der Sache heraufzuarbeiten“ (Hegel, Werke 3, 14). In der Rechtsphilosophie sagt er ausdrücklich: Der gebildete Mensch drückt allem, was er tut, den Stempel der Allgemeinheit und das heißt für Hegel: der Verständlichkeit auf.30 Die Überwindung des rein Individuellen des Daseins, das heißt, dass sich das Leben jedes Einzelnen als sein Leben und nichts weiter zeigt, hat hier nicht den Charakter der Selbstvernichtung, sondern gerade der Erfüllung der Existenz, die für Hegel in der interpersonalen Verständlichkeit des Redens und Handelns besteht. Vor diesem Hintergrund wird Hegels Kritik der Philosophie seiner Zeit verständlich. Es klingt schon wie auf Fichte gemünzt, wenn er in der Vorrede schreibt: Wenn nämlich das Wahre nur in demjenigen oder vielmehr nur als dasjenige existiert, was bald Anschauung, bald unmittelbares Wissen des Absoluten, Religion, das Sein – nicht im Zentrum der göttlichen Liebe, sondern das Sein desselben selbst – genannt wird, so wird von da aus zugleich für die Darstellung der Philosophie vielmehr das Gegenteil der Form des Begriffs gefordert. Das Absolute soll nicht begriffen, sondern gefühlt und angeschaut werden, nicht sein Begriff, sondern sein Gefühl und Anschauung sollen das Wort führen und ausgesprochen werden. (Hegel, Werke 3, 15)
Dies ist „die Stufe [...], worauf der selbstbewusste Geist gegenwärtig steht“. Und Hegel lässt keinen Zweifel daran, dass diese Stufe eben die Stufe der Entfremdung ist: „Sein wesentliches Leben ist ihm nicht nur verloren; er ist sich auch dieses Verlustes und der Endlichkeit, die sein Inhalt ist, bewusst“ (ebd.). Für das gegenwärtige Zeitalter, nach französischer Revolution und Aufklärung, ist eine Verlustbilanz der konsequent _____________ 30 Vgl. Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 187 (Hegel, Werke 7, 343 ff).
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durchgeführten Reflexion zu ziehen. In der Philosophie der Zeit drückt sich dieser Verlust in einem Kategorienfehler aus, den Hegel in einer starren Konzeption von Begriffen und daraus entstehender Skepsis sieht. Auch dieser Hinweis passt auf Fichte. Fichte relativiert das Urteil als das für Kant primäre sprachliche Medium des Erkenntnisgewinns, indem er es als die Form, in der wir etwas als etwas erkennen, bestimmt. Das Urteil und damit der prädikative Gebrauch der Begriffe schließt die Erkenntnis für Fichte in die Reflexion ein. Er zieht daraus die Konsequenz, dass der Begriff nicht das Mittel sein kann, dieses Gefängnis wieder aufzubrechen. Der Begriff der Bildung gibt entsprechend Aufschluss über die Differenz zwischen der Philosophie Fichtes, geprägt von der genetischen Methode und der Unterscheidung zwischen wissenschaftlichem und populärem Vortrag der Wissenschaftslehre, und der dialektischen Methode Hegels, welche um das Konzept einer Selbstbewegung des Begriffs gebaut ist. Zwischen beiden Methoden gibt es viel Verbindendes. In Ihnen wird eine performative Sicht des Wissens entfaltet, in der Akte des Setzens (Fichte) oder des Begreifens (Hegel) als konstitutiv für Wissen angesehen werden. Gegenüber Kant wird damit eine Relativierung des Urteils als Ausdruck der Auffassung und Anerkennung eines gegebenen Gedankens vorgenommen. Weiter verbinden sowohl Hegel als auch Fichte damit eine Erweiterung des Wissensbegriffs über die Grenzen des gerechtfertigten wahren Urteils, in welchen er bei Kant verbleibt, hinaus. Für die Idealisten ist Wissen und Denken ein und dasselbe. Wissen bedeutet: 1. den Akt der Erfassung eines Gedankens, der damit zugleich als Wirklichkeit gesetzt wird; 2. die Reflexion auf das Verhältnis zwischen dem, was da gesetzt wird und dem, was da setzt; 3. den Entwicklungsprozess, der aus der Spannung von Setzung und Reflexion entsteht. Als zentraler Streitpunkt erweist sich damit am Ende die Frage: Kann die Reflexion selbst als Bildungsprozess begriffen werden? Denn davon hängt es ab, ob der Begriff (im Sinne seines prädikativen Gebrauchs, der hier wohl überwiegend in Betracht kommt) das Element der Bildung sein kann. Und davon hängt es wieder ab, ob die Bildung des einzelnen Menschen an einem allgemeinen Bildungsprozess partizipiert oder nicht. Auch bei Fichte, so wäre von Hegel aus zu sagen, ist das Ziel der Bildung der allgemeine Begriff des Menschen, aber dieser allgemeine Begriff bildet sich im Einzelnen, und es bildet sich bei ihm nicht das Allgemeine, als Geist, selbst.
Schillers sentimentalische Erziehung und die popularphilosophische Aufklärungsästhetik Anne Pollok „... und die Kunst geleitet zu Wissenschaft und Tugend hinüber.“1
Einleitung Die titelgebende Kombination – die „sentimentalische Erziehung“ – entstammt, unschwer zu erkennen, den beiden letzten großen ästhetischen Abhandlungen Schillers, den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen und Ueber naive und sentimentalische Dichtung. Sie soll einen Schillers theoretische Position prägenden Zusammenhang betonen und andeuten, wie man sich Schillers Bildungsbegriff mitsamt seinen konzeptionellen Schwierigkeiten vorzustellen habe. Das ästhetische Spiel, der erfüllte und erfüllende Wechsel zwischen Stoff und Form, den Schiller in den Briefen als den Punkt benennt, an dem allein der Mensch ganz Mensch sei, taucht in der zweiten Schrift als ein Ziel des sentimentalischen Menschen wieder auf. Für diesen erscheint das Stadium des ungebrochenen, durch keine störende Reflexion verfälschten Naiven als eine Orientierung gebende Idee, die jedoch, das ist durch die Struktur des Sentimentalischen vorgegeben, in ihrer ursprünglichen Form nicht erreicht werden kann, ja, auch gar nicht erreicht werden darf. Der Mensch darf nicht zurückfallen in den Naturzustand, sondern ist angehalten, diesen auf einer höheren Ebene wieder herzustellen – und zwar, um auf die Ästhetische Erziehung zurückzukommen, mit Hilfe der Kunst. Kunst – und mit ihr Bildung – ist bei Schiller nicht allein auf das ästhetische Gebiet beschränkt, sondern umfasst sämtliche dem Menschen in seinem spezifischen Sein bestimmende Bereiche. Bildung meint für Schiller immer Menschwerdung durch ganzheitliche Selbst-Bildung – oder, um den sentimentalischen Aspekt zu betonen: wieder und neue Menschwerdung, _____________ 1
Friedrich Schiller: Ueber den Zusammenhang der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen (1780).
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den Gang ins „Elisium“. Doch um dies zu verstehen, muss man freilich wissen, was hier unter „Mensch“ verstanden wird. Dies sollte im Titel mit dem Hinweis auf einen möglichen Zusammenhang von Schillers Theorie mit Positionen der Aufklärungsphilosophie, besonders mit der in ihr entwickelten Ästhetik angedeutet werden. Was aber hat Schillers Idee einer sentimentalischen Erziehung, die er bekanntermaßen nach dem Kantstudium entwickelt, mit der Popularphilosophie zu tun; jener Strömung, die doch vom „Alleszermalmer“ Kant überwunden wurde? Meine These ist, dass Schillers Idee einer ästhetischen Erziehung und ihre Einbindung in sein poetologisch-geschichtsphilosophisches Konzept der 1790er Jahre besser verstanden werden kann, wenn man es nicht nur als eine Frucht des Kant- und Fichte-Studiums versteht, sondern auch als einen Rückgriff auf Altvertrautes, welches in der damaligen Diskussion durchaus noch vorhanden war. Es ist damit Schillers popularphilosophischer Prägung seit der Karlsschulzeit geschuldet, dass er zu seinem Modell der Balance und gleichzeitigen Strebsamkeit griff.2 Vielleicht kann das spezifische Zusammenspiel von Altem und Neuem, von Transzendentalphilosophie und „anthropologischer Schätzung“ dazu dienen, vom Eindruck einer terminologischen Unsicherheit Schillers in Bezug auf das Ziel einer solchen Bildung abzuhelfen. Dass der frühe Schiller von der Popularphilosophie beeinflusst war, ist bereits eingehend aufgearbeitet worden.3 Ich möchte hier jedoch betonen, dass ihr Einfluss auf das Spätwerk Schillers nahezu ebenso spürbar ist, und zwar in dessen Grundkonzeption. Hier mischt Schiller die – niemals unkritisch aufgenommenen – Einflüsse Kants, Fichtes, Rousseaus u. a. mit einem aufklärerisch-anthropologischen Element, wie es Moses Mendelssohn als ein prominenter Vertreter der Popularphilosophie4 ebenfalls entwickelte. _____________ 2
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Auch Käte Hamburger hat diesen „doppelten“ Idealismus Schillers gesehen (vgl. Käte Hamburger: Das Problem des Idealismus bei Schiller. In: JbdSg 4 (1960), S. 60-71, hier S. 64. Hier soll allerdings nicht der „platonische“, sondern der durch die Popularphilosophie vermittelte „Idealismus“ stärkere Berücksichtigung finden. Vgl. Wolfgang Riedel: Die Anthropologie des jungen Schiller. Würzburg 1985, S. 164 f.: „Das „Totalitäts“-Ideal der Ästhetischen Briefe (Briefe 4, 13, 20) geht [...] direkt zurück auf die früheren Dissertationen und ihre Anthropologie des „Zusammenhangs der thierischen Natur des Menschen mit seiner geistigen“.“ Siehe auch ders.: Die Aufklärung und das Unbewusste. In: JbdSG 37 (1993), S. 198-220, dazu Walter Hinderer: Friedrich Schiller und die empirische Seelenlehre. Bemerkungen über die Funktion des Traumes und das ‚System der dunklen Ideen’. In: JbdSG 47 (2003), S. 187-213. Es ließe sich freilich darüber streiten, ob Mendelssohn überhaupt zur Popular- und nicht vielmehr zum weiteren Umfeld der Schulphilosophie zu zählen ist. Hier soll
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Schillers Versuch der Vereinigung dieser disparaten Denkschulen mag die Ursache dafür sein, dass in seinem Werk eine schwankende Begrifflichkeit und auch Zielsetzung vorhanden scheint. Eine Analyse seiner Ansichten erscheint mir deshalb besser mit Rückgriff auf die popularphilosophischen Wurzeln, hier am Beispiel Mendelssohns, möglich. Es soll deshalb einleitend auf ein eher unbekanntes Gedichtfragment Mendelssohns aus seinem Briefwechsel mit Lessing in den 1750er Jahren eingegangen werden. Die in ihm vertretene Position steht, wie gezeigt werden soll, in enger Beziehung zu Mendelssohns ästhetischer und auch politischer Theorie, wie sie sich in den Briefen über die Empfindungen von 1755, der Rhapsodie von 1761 bzw. 1771 und schließlich in dem Aufsatz: „Über die Frage: was heißt aufklären?“ von 1784 findet. Das Menschenbild, das sich vor diesem Hintergrund zeigt, besitzt große Ähnlichkeit mit demjenigen, das auch Schiller (zumindest zeit- und teilweise) vorzuschweben schien. Welche Konsequenzen sich daher aus der popularphilosophischen Prägung für Schillers Arbeiten der 1790er Jahre ergeben, wird abschließend zu untersuchen sein.
Mendelssohns Lehrgedichtfragment: die Wurzeln der Bestimmung des Menschen Moses Mendelssohn war nicht nur eine berühmte – und entsprechend durch Kants kritische Philosophie und dem aufkommenden Idealismus tief stürzende – Koryphäe der Aufklärungszeit, er war auch außerordentlich sprachbegabt. Seine virtuose Handhabung des Deutschen, das nicht seine Muttersprache war, ist nicht nur in den veröffentlichten Schriften, sondern auch in seinen Briefen deutlich sichtbar. Es ist daher ein auffälliges Phänomen, wenn ihm zum Ausdruck einer bestimmten Gemütslage keine rech_____________ allerdings der Schwerpunkt auf denjenigen Schriften Mendelssohns liegen, die sich in Zuschnitt und Intention mehr der Popularphilosophie annähern, also v. a. auf den Schriften zur Ästhetik und der politisch-geschichtsphilosophischen Versuche; ihr schwärmerisch-poetischer Duktus bzw. der (mehr oder minder verborgene) Impetus, zu bilden und zu erziehen, ist für sie charakteristisch. Der schulphilosophische Einfluss ist auch bei ihnen bemerkbar – es erlangen aber zunehmend darüber hinausweisende Stimmen, wie beispielsweise diejenigen von Edmund Burke und Shaftesbury an Bedeutung. Natürlich wäre es der Vollständigkeit halber begrüßenswert, auch weitere Popularphilosophen und ihren Einfluss auf Schiller zu berücksichtigen. Zu nennen wären in unserem Zusammenhang v. a. Christian Garve, Johann Georg Sulzer, die common-sense-Philosophie oder, wie Wolfgang Riedel herausarbeitet, Schillers Lehrer Jacob Friedrich Abel. Einen wohl erschöpfenden Überblick über Schillers Referenzautoren bietet Peter-André Alts SchillerBiographie (München 2000).
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te Benennung gelingen mag. Dies ist der Fall in einem Brief an seinen Freund Gotthold Ephraim Lessing vom 29. April 1757, in dessen Anhang sich ein unvollendetes Gedicht aus Mendelssohns eigener Feder findet. Der Brief selbst, an den dieses Gedicht angehängt ist, ist in einem resignierten Ton abgefasst; Mendelssohn scheint in metaphysischen Streitigkeiten durch ein (unfaires) Abgleiten ins Religiös-Weltanschauliche verletzt worden zu sein.5 Jedenfalls äußert er seine Enttäuschung darüber, dass nicht alle Welt – also die Gesellschaft des aufgeklärten Berlin, die er außerhalb der jüdischen Gemeinde kennen gelernt hatte – Lessings Charakter habe: „Ich hatte mir einen ganz andern Begriff von der Welt gemacht, als ich sie blos aus den Büchern und aus dem Charakter eines Lessings kannte. Ich erstaune, wenn ich die Macht bedenke, die das Vorurtheil über die Gemüther hat.“ (JubA, XI, 1186) Mendelssohn versteckt die sehr persönliche Betroffenheit hinter Floskeln („allein Poeten müssen wacker lügen“, JubA, XI, 118) – und in dem erwähnten, nur fragmentarisch ausgeführten (oder überlieferten) Lehrgedicht. So bemüht heiter der Brief auch in Teilen gehalten ist, so spiegeln gerade diese Verse Mendelssohns gedrückte Stimmung wieder: Itzt liegt der träge Schwarm von steten Qualen matt, Nachlässig hingestreckt, auf weicher Lagerstatt. Das Thierische ist todt. Empfindung, Sinn, Bestreben Hört plötzlich auf, und nur die Pflanze hat noch Leben. Der rege Trieb entschläft, der sie durchs Leben jagt. Als Pflanze ruht der Mensch, als Mensch ist er geplagt. Wer niemals denkt, wer sich [nur so] wie Thiere weidet, Verfehlt des Schöpfers Zweck; wer immer denkt, der leidet. Die steinerne Vernunft wetzt jenen Stachel ab, Der uns zum Fühlen reizt, und wird der Freuden Grab. Versuchts, o Sterbliche! bekämpft der Thorheit Götzen, Die Sucht nach eitlem Ruhm, den Dunst nach feilen Schätzen. Besiegt den weichen Trieb, der euren Geist entnervt, Die Seel’ in Schlummer wiegt, den Reiz der Sinne schärft. Verjagt die Phantasie und ihre Zauberschatten,
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Im Kommentar in JubA XI, S. 425 wird auf Brief Nr. 73 verwiesen: Alexander Gottlieb Baumgartens „Winkelzüge“ scheinen Mendelssohn nicht gefallen zu haben. Jedoch ist aus dem Brief selbst nicht zu ersehen, was Mendelssohn solcherart enttäuschte, dass er es als ein „Vorurtheil“ thematisierte. Zitiert wird nach: Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. In Gemeinschaft mit Fritz Bamberger, Haim Borodianski, Simon Rawidowicz, Bruno Strauß, Leo Strauß begonnen von Ismar Elbogen, Julius Guttmann, Eugen Mittwoch, fortgesetzt v. Alexander Altmann in Gemeinschaft mit Haim BarDayan, Eva J. Engel, Leo Strauß, Werner Weinberg, Michael Brocke u. Daniel Krochmalnik. Berlin 1929-32 (Bände 1-3, 7, 11, 16) Breslau 1938 (Band 14). Nachdruck und Fortführung Stuttgart, Bad Cannstatt 1971. (JubA, Bd., S.)
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Die auch der Wahrheit Glanz mit Rauch umnebelt hatten, Und sucht in Weisheit Ruh. Doch sagt, erlangt ihr sie? O zieht die Menschheit aus, seyd Engel oder Vieh, Wenn ihr die Ruhe liebt. Kein Mittelding von beyden Frißt unbekümmert Gras, verträgt des Engels Freuden etc. (JubA, XI, 119)
An dieser Stelle bricht das Gedicht ab. Mendelssohn droht Lessing noch einmal scherzhaft weitere solcher „Dinge [...], die so aussehen wie Verse“ (ebd.), an; anscheinend hat er auch dieses Fragment noch weiter ausgeführt, seinem Freund jedoch schamhaft den Schluss vorenthalten. Doch ich will mich hier nicht mit Spekulationen über ein mögliches Ende des Gedichtes aufhalten; für mein Interesse sagt es bereits genug aus. Erst kürzlich hat Carsten Zelle7 dieses Fragment in einem Aufsatz untersucht, um Mendelssohns Stellung zu den „vernünftigen Ärzten“ zu illustrieren, aber auch um die Bedeutung der „Mesoteslehre“ in der zeitgenössischen Anthropologie zu betonen. Die Mesoteslehre meint nach Zelle genau das, was auch Schiller in seiner Ästhetischen Erziehung im Moment des Spiels ausdrückt: in ihr wird eine „positiv gewertete Mittellage zwischen zwei unwertigen Extremen angestrebt“8. Weshalb, was hier überraschen mag, beide Extreme auch bei Schiller als „unwertig“ bezeichnet werden können, soll mit dem Folgenden deutlich werden. Die Inspiration zu diesen Versen verorten die Herausgeber der Jubiläumsausgabe und Zelle v. a. bei Albrecht von Haller, dem anerkannten Arzt und Autor des Lehrgedichts „Die Alpen“.9 Von ihm übernahm Mendelssohn zwei signifikante Elemente. Zum einen das Metrum, den „heroischen“ Alexandriner, meist ruhig gleitend, von Mendelssohn nur an einer _____________ 7
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Carsten Zelle: Erfahrung, Ästhetik und mittleres Maß: Die Stellung von Unzer, Krüger und E.A. Nicolai in der anthropologischen Wende um 1750 (mit einem Exkurs über ein Lehrgedichtfragment von Moses Mendelssohn). In: Jörn Steigerwald/Daniela Watzke (Hrsg.): Reiz - Imagination - Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680-1830). Würzburg 2003. S. 203-224, hier S. 216-19. Mit Hilfe seiner Deutung, der ich hier gänzlich zustimme und lediglich in einen anderen Kontext stelle, wird auch der Diskussion über das Trauerspiel, die sich um 1757 zwischen Mendelssohn, Lessing und Friedrich Nicolai entspann, ein neuer Interpretationsrahmen eröffnet. Mendelssohns Beharren auf der Kategorie der Bewunderung gewinnt durch Berücksichtigung dieses Lehrgedichts ein anderes Gewicht. Bewunderung ist nicht, oder nur bedingt ein Rückgriff auf ein anit-emotionales, erzieherisches Moment, sondern weist eine Möglichkeit der Affektlenkung jenseits eines bloß logozentristischen Modells. Zelle, a. a. O., S. 216. Vgl. JubA, XI, 425 und Zelle a. a. O., S. 218. Hallers Lehrgedicht „Über den Ursprung des Übels“ von 1734 war von Mendelssohn nahezu zeitgleich in Über das Erhabene und Naive als Beispiel „von erhabenen in Witz eingekleideten Gedanken“ angeführt worden (vgl. JubA, I, 213 u. 483).
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Stelle leicht aufgelockert (Z. 4). Er ist auch von Haller im thematisch verwandten Gedicht „Über den Ursprung des Übels“ von 1734 verwendet worden. Zugleich aber wendet Mendelssohn hier auch das diskursive Schema an, das Hallers Anthropologie ausdrückt. Haller hatte, wie Mendelssohn, dem Menschen die Stellung zwischen himmlischen Heerscharen und Viehherden zugewiesen, ihn als „Mittelding“ bezeichnet.10 Dieses Mittelding nun, so Mendelssohns Wortwahl, ist gejagt, geplagt und leidet – nicht so wie das tierische oder gar vegetative Leben, dem sich der Mensch bisweilen, bspw. im Schlaf, annähert. Allerdings spricht Mendelssohn hier von zwei Ursprüngen des Leidens: In Z. 5 nennt er den „tierischen“, abgemildert in Z. 13 als „weichen“ (also eher pflanzlichen) Trieb, den wir hier mit Sinnlichkeit übersetzen können; in Z. 9 f. jedoch ist es ein anderes aufstörendes Vermögen, nämlich die Vernunft. Der tierische Trieb unterscheidet Tier und Mensch von der Pflanze, die Vernunft den Menschen (und den Engel) vom Tier. Jedoch spricht Mendelssohn keinesfalls von einer diskreten Stufenfolge. Vielmehr sind dem Menschen pflanzliches Leben, tierischer Trieb sowie „englische“ Vernunft gegeben. Die Vereinigung dieser Wesenszüge ist dabei die eigentlich menschliche Aufgabe, ein untrennbarer Teil seiner Bestimmung. Er soll nicht ganz Pflanze oder gar „Vieh“ sein, sich aber auch nicht ganz der „steinernen Vernunft“ hingeben. Die letzten Zeilen zeigen das Dilemma, in das diejenigen geraten müssen, die mit Hilfe dieser Vernunft die tierischen und pflanzlichen Bestandteile in sich selbst abtöten wollen. Was ist das Ergebnis, wenn man sich den sinnlichen Stachel zieht, um in der Wahrheitssuche voranzukommen? „Verjagt die Phantasie und ihre Zauberschatten“ (Z. 15) – aber ist das Ergebnis Wahrheit und innerer Frieden? Man kann hier nur ahnen, dass Mendelssohns Antwort negativ ausgefallen wäre. Zieht man dafür seine ästhetischen Schriften zu Rate, so sprechen diese eine weitaus eindeutigere Sprache: der Mensch ist nicht immer und überall der vollkommen klaren und deutlichen Erkenntnis fähig, sondern braucht die – ästhetisch relevante – leichte Fasslichkeit der klaren und verworrenen Eindrücke, also: er bedarf des Sinnlichen. Im Lehrgedicht Mendelssohns liegt, wie auch Carsten Zelle betont hat, weder eine Absage an die Sinnlichkeit, noch an die Vernunft, sondern an die stoische Auffassung der gänzlichen Affektvertilgung. Wenn man die „tierischen Triebe“ in sich ausgeschaltet hat, befindet man sich zwar in einem Zustand der Ruhe, aber ist seiner Aufgabe nicht gerecht geworden. Zielpunkt ist also vielmehr eine Differenzierung zwischen einer steinernen
_____________ 10 Vgl. Zelle, a. a. O., S. 218.
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Vernunft (die gar keine Gefühle kennt) und der menschlichen Vernunft, die dem „Mittelwesen“ Mensch idealiter zukommt.11 Damit hat Mendelssohns Begriff der Vernunft eine Dimension gewonnen, die oftmals bei der Beschäftigung mit diesem „rationalistischen Aufklärungsphilosophen und Wolffianer“ übersehen wird. Nun hat Mendelssohn zwar dieses Gedichtfragment nicht veröffentlicht, so dass kaum eine Rezeptionsgeschichte des dort vertretenden Menschenbildes geschrieben werden könnte. Berücksichtigt man allerdings seine veröffentlichten Abhandlungen zu Problemen des Schönen und den angenehmen Empfindungen als auch zur Definition von Aufklärung unter diesem Aspekt, so wird auch dort dieser „ausgewogene“ Begriff menschlicher Vernunftfähigkeit sichtbar. An dieser Stelle soll nun keine umfassende Mendelssohn-Exegese durchgeführt werden.12 Vielmehr soll anhand einschlägiger Passagen gezeigt werden, dass sich das veröffentlichte Menschenbild Mendelssohns mit demjenigen seines Lehrgedichtfragments deckt. Vor allem in Mendelssohns ästhetischer Theorie wird sein Interesse am ganzen Menschen deutlich. Bereits 1755 entwickelt er in den Briefen über die Empfindungen eine dreifache Quelle des (menschlichen) Vergnügens: körperliche Lust, Erfassen des Schönen, Erkenntnis des Vollkommenen. Im Erlebnis des Schönen erfasst das Vergnügen buchstäblich den ganzen Menschen, seine sinnlichen und geistigen Kapazitäten. Mendelssohn lässt dies Theokles, einen der Briefpartner, am Beispiel der Musik beschreiben, oder besser: besingen. Die Musik ahme menschliche Leidenschaften nach; interessanterweise ist dies auch, in spezifischer Form, die Quelle einer Vollkommenheit, die Vergnügen bereite, denn diese Leidenschaften zeigt die Musik in der „künstliche[n] Verbindung zwischen widersinnigen Uebellauten“ (JubA, I, 85/280), die nicht als störend, sondern als sinnvoll wahrgenommen werden. Das Vergnügen an dem „leichten Verhältnisse in den Schwingungen“ ist ein Vergnügen am Schönen, das auch den Körper in eine wörtlich gemeinte „gute Stimmung“ versetzt, indem die wahrnehmenden Nerven harmonisch zusammenstimmen. Das Musikhören zeigt demnach eine Fülle, die dem Wahrnehmenden eine Mannigfaltigkeit der Eindrücke, aber auch Einheit der Wahrnehmung bietet, die sich auch körperlich überträgt. Im Moment der ästhetischen Perzeption ist der Mensch „ganz“ glücklich. Aber auch das Erleben einer klaren und deutlichen Erkenntnis – Mendelssohn wählt hier das Beispiel des Mathematikers (JubA, I, S. 91/286) – _____________ 11 Vgl. Zelle, a. a. O., S. 217. 12 S. bzgl. der Ästhetik meine Einleitung zu: Moses Mendelssohn. Ästhetische Schriften. Hamburg 2006 (= Philosophische Bibliothek; Bd. 571).
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kann ästhetisch geprägt sein. Nachdem der Denker an einem mathematischen Problem herumgetüftelt hat und zu einem Ergebnis gelangt ist, versucht er, noch einmal die Gesamtheit des zurückgelegten Weges zu überblicken. Dies ist ihm, obwohl er jeden einzelnen Schritt klar und deutlich hat sehen müssen, in der Totalität nicht klar und deutlich, sondern nur verworren möglich. Doch dies reicht aus; er ist sich bewusst, dass er die Materie rational „besiegt“ hat, er hat das Ergebnis, er „schwimmt in Wollust“, indem er alles undeutlich, aber als ein in sich geordnetes Ganzes überblickt. Indem das ästhetische Empfinden derart integrativ wirkt, kann es nicht nur das Vergnügen bei der Wahrnehmung bzw. einer Erkenntnis befördern, sondern sich auch positiv auf das sittliche und gesellschaftliche Verhalten des Menschen auswirken. Das auf der Schaubühne erregte Mitleid macht den Zuschauer sensibel für seine Mitwelt; die Schönheit, die er genießt, fördert sein „feines Empfinden“.13 Auch in den folgenden Schriften, v. a. der Rhapsodie, wird Mendelssohn den „unschätzbaren Nutzen der schönen Wissenschaften“ für die Wissenschaft und Sittenlehre betonen, und zwar „nicht nur für gemeine Köpfe [...], sondern sogar für den Weltweisen selbst, wenn er kein Mittel versäumen will, die tote Erkenntnis der Vernunft zum wahren sittlichen Leben zu erwecken.“ (JubA, I, S. 422)14 Mendelssohn analysiert, am eingehendsten in der zweiten Version der Rhapsodie von 1771, nicht nur den Wert und die dramaturgische Wichtigkeit der „vermischten Empfindungen“ (die hier nicht Thema sein sollen), sondern ebenso den Wert der _____________ 13 Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Schaubühne bloß moralisierenden Inhalts sein dürfte. Gerade indem das Geschehen auf der Bühne nicht nur Vollkommenheiten, sondern auch tragische Entwicklungen zeigt, die aus Fehlern der Beteiligten resultieren mögen, kann das Theater begeistern – und nur über diesen „Umweg“ verbessern. S. dazu Mendelssohn über Idealschönheit in JubA, V, 1, 98-101; vgl. auch Anne Pollok: Mendelssohns Theorie des Trauerspiels. Eine Position gegen Gottsched und Wolff? In: Akten des 1. Internationalen Christian WolffKongresses. Hrsg. v. Jürgen Stolzenberg. Hildesheim/New York 2007. 14 Maximilian Bergengruen: Gehört ‚die theatralische Sittlichkeit vor den Richterstuhl der symbolischen Erkenntniß’? Zur Genese von Moses Mendelssohns Theorie der Illusion. In: Mendelssohn-Studien 12 (2001), S. 35-54, hier S. 47-54 und Alexander Altmann: Das Menschenbild und die Bildung des Menschen nach Moses Mendelssohn. In: Mendelssohn-Studien 1 (1972), S. 11-28, hier S. 23 f betonen Mendelssohns Theorie der Gewöhnung und Übung, in der die Überlegenheit der verworrenen Empfindungen, die rascher auf den Geist wirken als klare und deutliche Überlegungen, begründet wird. Mendelssohn hat sie zuerst 1756 in Von der Herrschaft über die Neigungen (JubA, II, 147-55), später in der Rhapsodie (vgl. JubA, I, 408-24) entwickelt. Auch für seine Handlungstheorie gilt damit das umfassende, anthropologische Verständnis, das auch die ästhetische und politische Theorie trägt.
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Sinnlichkeit: „Wir sind bestimmt, in diesem Leben nicht nur die Kräfte des Verstandes und des Willens zu verbessern; sondern auch das Gefühl durch sinnliche Erkenntnis und die dunkeln Triebe der Seele durch das sinnliche Vergnügen zu einer höhern Vollkommenheit zu erziehen.“ (JubA, I, S. 393) Mendelssohn mahnt dabei immer einen Ausgleich zwischen Lust und Denken an. Das Vollkommenheitsparadigma gewinnt dadurch ein spezifisch anthropologisches Maß. Denn es ist zwar letztlich die göttliche Vollkommenheit, nach der der Mensch streben soll, aber nicht unter Knechtung der sinnlich möglichen Vollkommenheit – die Parallele zu Schillers Frühschriften ist unübersehbar, aber auch zum Balance-Modell der Ästhetischen Erziehung. Ein weiterer Aspekt: Mendelssohn unterscheidet nicht, wie Kant dies tut, zwischen der „Naturbestimmung des Menschen“ im Unterschied zu seiner „Vernunftbestimmung“.15 Das anthropologische Maß mag als das bei Mendelssohn einzige, umfassendste benannt werden. Dem entgegen steht freilich die Position zur Bestimmung des Menschen als Vervollkommnung seiner – geistigen – Fähigkeiten, die in Mendelssohns metaphysischen Hauptwerk, dem Phädon vertreten wird. Dies ist im gegebenen Kontext jedoch zu vernachlässigen; aus dem einfachen Grund, da Schiller diese Auffassung der Bestimmung zwar in seinen Dissertationen explizit unterschreibt16, sich aber in diesem Falle – was die Vernunftbestimmung angeht – eindeutig Kant anzuschließen versucht. Kommen wir vorerst auf Mendelssohn zurück: Eine andere Stelle, an der dieses Balance-Modell der menschenmöglichen Vervollkommnung wieder auftritt, ist Mendelssohns Aufklärungsaufsatz,17 den ich hier nur kurz streifen möchte. Bezüglich der Frage, was Aufklärung sei, hat Mendelssohn auf ein Bildungskonzept zurückgegriffen, das die auch von Schiller betonten ganzheitlichen Züge trägt. Sprechen wir von Aufklärung, so Mendelssohn, meinen wir eigentlich einen ganzen Komplex an praktischen und theoretischen Fähigkeiten, der _____________ 15 Vgl. Günter Zöller: Die Bestimmung der Bestimmung des Menschen bei Mendelssohn und Kant. In: Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internationalen Kant-Kongresses. Hrsg. v. Volker Gerhard, Rolf Peter Horstmann, Ralph Schuhmacher. Bd. 4. Berlin 2001, S. 476-489, hier S. 481. 16 „[...] Gottgleichheit ist die Bestimmung des Menschen.“, so der einleitende Paragraph zu Schillers Philosophie der Physiologie (1779) (In: Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 20: Philosophische Schriften. Unter Mitwirkung v. Helmut Koopmann hrsg. v. Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 10-29, hier S.10. Im Folgenden zit. als NA, Bd., S. 17 Moses Mendelssohn: Ueber die Frage: was heißt aufklären? (1784), in: JubA, VI/1, 113-119.
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zum Ziel des aufklärerischen gesellschaftlichen Fortschritts beiträgt. Es ist ein im deutschen Wortschatz – wie er sagt – „neu angekommener“ Begriff, der die Grundlage bildet, nämlich Bildung. „Bildung zerfällt in Kultur und Aufklärung.“ (JubA, VI/1, 115) – wobei Aufklärung sich auf die theoretischen, Bildung auf „praktische“ Fertigkeiten bezieht. Theoretische Bildung geht „auf vernünftige Erkenntniß (objekt.) und Fertigkeit (subj.) zum vernünftigen Nachdenken, über Dinge des menschlichen Lebens, nach Maaßgebung ihrer Wichtigkeit und ihres Einflusses in die Bestimmung des Menschen.“ (ebd.) „Kultur“ hingegen ist von vornherein auf den Menschen als gesellschaftliches Wesen angelegt, es geht um das „Wie“ der Ausübung. Gegenstand sind die Fertigkeiten und Sitten der Geselligkeit: „alle [diese] praktischen Vollkommenheiten [haben] bloß in Beziehung auf das gesellschaftliche Leben einen Werth“; sie müssen „einzig und allein der Bestimmung des Menschen, als Mitgliedes der Gesellschaft, entsprechen“ (JubA, VI/1, 116). „Kultur“ findet sich prima facie an der Oberfläche – Mendelssohn spricht von „Politur“ – einer Gesellschaft, sie umfasst damit auch die Schönheit und Eleganz der „Sitten und Fertigkeiten“. Doch ist sie erst vollkommen als ein Komplement von Aufklärung – und damit erst als Bildung zu bezeichnen, wenn, mit Schiller gesprochen, die Form dem Stoff entspricht. Die „Bestimmung des Menschen“, auf die Mendelssohn hier wiederholt rekurriert und die „allezeit“ der Punkt ist, „worauf wir unsere Augen richten müssen, wenn wir uns nicht verlieren wollen“ (JubA, VI/1, 115 f.), lässt sich ohne weiteres mit jener Vorstellung verbinden, die Mendelssohn in seinem Lehrgedicht ausgedrückt hat: Es ist die Vervollkommnung, das heißt die bestmögliche Ausbildung der menschlichen Fähigkeiten. Allerdings immer unter Berücksichtigung der Tatsache, dass wir Menschen, weder Engel noch Vieh sind – und, dezidiert in Bezug auf die „praktische“ Bildung in der Kultur: dass wir Menschen unter Menschen sind. Diesen innerweltlichen Aspekt der Bestimmung des Menschen, den Mendelssohn hier in Abgrenzung zu Spalding vertritt, hat zuletzt Günter Zöller hervorgehoben.18 Ästhetik und – im weitesten Sinne – Politik werden hier zusammengedacht. _____________ 18 Zöller, a. a. O., S. 483: Mendelssohn bejaht zwar die Vervollkommnung gerade der geistigen Fertigkeiten, eine Bestimmung nach dem „göttlichen“ Plan. Er insistiert jedoch, im Gegensatz zu Spalding, darauf, dass dabei immer auch die menschliche Bestimmung „hienieden“, also als geistiges wie sinnliches Wesen, zu berücksichtigen sei. Auch Alexander Altmann hat in seiner grundlegenden Studie zu Mendelssohns Aufklärungsaufsatz auf dessen Betonung der, wie Altmann es nennt, „moralischen Gesundheit des Menschen“ (Altmann, a. a. O., S. 17) gesehen. „Kultur“ geht damit v. a. auf die sinnlichen Kräfte, und der umfassende Begriff „Bildung“ steht für die „harmonische Ausbildung aller Seelenkräfte“ (ebd., S. 18). Ebenso
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Mendelssohn geht auch auf den möglichen Missbrauch der Bildung ein, der sich eben auch in bereits aufgeklärten Gesellschaften ereignen kann, die es nämlich an „Kultur“ fehlen lassen: „Je edler ein Ding in seiner Vollkommenheit [...], desto gräßlicher ist seine Verwesung.“ (JubA, VI/1, 118) Ist der Mensch erst auf eine bestimmte Bildungsstufe gekommen, so ist der Rückfall doppelt schlimm; hätte Mendelssohn die jacobinische Schreckensherrschaft nach der Französischen Revolution erlebt, er hätte gesehen, wovon er – und mit ihm Schiller – sprach: Mißbrauch der Aufklärung schwächt das moralische Gefühl, führt zu Hartsinn, Egoismus, Irreligion, und Anarchie. Mißbrauch der Kultur erzeuget Üppigkeit, Gleißnerei, Weichlichkeit, Aberglauben und Sklaverei. (JubA, VI/1, 118)
Woran liegt dieser Abstieg? Nach Mendelssohn kann der Mensch nur glücklich sein, solange er den Antagonismus zwischen den Kräften der Natur und des Verstandes selbst durchlebt hat – von den Vätern ererbte Ruhe sieht er als wertlos an, wie er auch in seinen Bemerkungen zu Ernst Ferdinand Kleins Aufsatz Über die beste Staatsverfassung ausführt.19 Mendelssohns Lösungsversuch für die genannte „Aufgabe“ der menschlichen Vernunft – nämlich Pflanze, Tier und Engel in sich zu Wort kommen und damit den anspornenden Widerstand nicht erkalten zu lassen, – und zwar in jedem Individuum – findet sich, allerdings hinter vermeindlich transzendentalphilosophischen Überlegungen verborgen, in Schillers Auffassung der ästhetischen Erziehung wieder. Nicht von ungefähr korrigiert Schiller selbst seine „Deduktion des Schönen“ als eine „vollständige anthropologische Schätzung“ (NA, 20, 316). Auch Mendelssohn betont also die prekäre Lage des Menschen und sucht eine Form des Umgangs damit. Auch für ihn ist diese Kluft in spezifischer Form überbrückbar; nämlich im Erleben des Schönen. Die durch die Ästhetik ausgebildeten Seelenkräfte stehen für Mendelssohn eben nicht zur Disposition20; im Gegenteil, sie ermöglichen dem Menschen erst des_____________ findet sich bei Altmann (ebd., S. 21) die Vermutung, dass Schiller auf dessen Aufklärungsaufsatz zurückgriff. 19 „Ohne Übung der Kräfte können weder Staaten noch einzelne Personen glücklich seyn. Die Kräfte aber müssen Widerstand haben, wenn sie rege werden sollen. Sobald die Feder den Widerstand überwunden und sich entwickelt hat, so ist ihre Spannung dahin, und sie hört auf, rege zu seyn. Der Zirkellauf liegt also in der Natur der Sache. Haben die Väter Ehre und Vermögen erworben und den Kindern hinterlassen, so bleibt diesen nichts übrig als der leidige Genuß ohne Erwerb. Haben jene die Freiheit erfochten und wider allen Angriff gesichert, so erfolgt bei den Kindern Gemächlickeit, Sklavensinn. Sind alle Vorurtheile bestritten und ausgerottet, so erlischt und erkaltet Liebe zur Wahrheit, und die Kinder haben keinen Sporn zur Aufklärung.“ (JubA, VI/1, 143-48, hier S. 145). 20 Vgl. Zelle, a. a. O., S. 218.
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sen ganze Erlebnisfülle, wenngleich auch keine immerwährende Ruhe – die aber ohnehin als Ziel nicht in Frage kommt. Mendelssohns spezifische Auffassung von der Perfektibilität des Menschen durch Bildung, die sämtliche Aspekte von Pflanze, Tier und Engel zusammenfasst und eine von Wolff signifikant abweichende Auffassung einer menschlichen Vernunft aufweist, ist mit derjenigen Auffassung Schillers wesensverwandt. Die Schriften des jüdischen Aufklärungsphilosophen waren Schiller seit der Karlsschulzeit bekannt, natürlich v. a. der Phädon, aber sicherlich auch die Philosophischen Schriften. Dass Schiller sich in der „Theosophie des Julius“ an den erwähnten Schriften orientiert hat, hat zuletzt Wolfgang Riedel gezeigt21; aber auch andere Texte mögen hier einschlägig sein, ob Schiller sie nun im Original oder aus Diskussionen kannte. Während sich Riedel also auf die metaphysischen Wurzeln Schillers früher Schriften bei Mendelssohn und Spalding konzentrierte, möchte ich hier darauf hinweisen, dass Schillers philosophische Schriften nach der Kant-Lektüre immer noch auch aus popularphilosophischer Sicht betrachtet werden müssen, um ihre Komplexität und ihr eigentümliches Schwanken zu verstehen.
Schiller: Der Weg zur Freiheit ein Selbstzweck? Das Problem in Schillers Bildungskonzept der Briefe ist folgendes: Hatte Schiller in den ersten Briefen die Schönheit als einen „Weg“ zur Freiheit beschrieben, so scheint am Ende doch der ästhetische Staat das eigentliche Ziel zu sein.22 Es stellt sich also die Frage: Soll nun der Mensch ganz Mensch sein, also ästhetisch spielen, oder soll er vernünftig werden? Wie soll er, mit dem „alles trennende[n] Verstand“ begabt, zur „alles vereinende[n] Natur“ (NA, 20, 322 f.) zurückkehren? Im Mittelteil der Ästhetischen Erziehung bezieht Schiller in dieser Hinsicht scheinbar eindeutig Stellung: Im Spiel, also im ästhetischen Zustand, ist der Mensch ganz Mensch, also im Zustand der erfüllten Bestimmung. In diesem Diskussionsstrang scheint es, als sei der ästhetische Staat, als der einzig menschlich erreichbare, das wahre Ziel der vollkommenen Bildung – wofür auch die hymnischen Töne der letzten Briefe sprechen: _____________ 21 Vgl. Riedel, a. a. O., S. 160. 22 Allerdings ist zu beachten, dass gegenüber einer „Monarchie der Vernunft“, dem Ziel der Augustenburger Briefe (NA, 26, 262), das Programm der Ästhetischen Briefe insgesamt gemäßigter ist (vgl. Violetta Waibel: Hölderlin und Fichte 17941800. Paderborn u. a. 2000, S. 122).
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Da nun aber bey dem Genuß der Schönheit oder der ästhetischen Einheit eine wirkliche Vereinigung und Auswechslung der Materie mit der Form, und des Leidens mit der Thätigkeit vor sich geht, so ist eben dadurch die Vereinbarkeit beyder Naturen, die Ausführbarkeit des Unendlichen mit der Endlichkeit, mithin die Möglichkeit der erhabensten Menschheit bewiesen. (NA, 20, 397)
Andererseits wiederum soll die ästhetische Erziehung letztlich doch den Menschen aller tierischen Regungen entkleiden, die Form den Stoff „vertilgen“ – und damit der Vernunftstaat erreicht werden. Auch die Zielrichtung in Ueber naive und sentimentalische Dichtung scheint auf eine ähnliche Versöhnung der sich entgegenstehenden Triebe hinauszulaufen. So soll der moderne Dichter ein höherstufiges Arkadien, eben Elisium, wieder erreichen (vgl. NA, 20, 472). Schiller formuliert dies so: „Sie [die Gegenstände der Natur bzw. das Naive, d. Vf.] sind, was wir waren; sie sind, was wir wieder werden sollen. Wir waren Natur, wie sie, und unsere Kultur soll uns, auf dem Wege der Vernunft und der Freyheit, zur Natur zurückführen.“ (NA, 20, 414) Sentimentalisch wird hier auch verstanden als eine geglückte Vereinigung von Gefühl und Reflexion, die der sentimentalische Dichter in der Form der „Idylle“ darstellen soll: einer Kunstform, in der die ausgeführte Bestimmung des Menschen anschaulich wird, auch wenn Schiller den Leser im Unklaren darüber lässt, wie dies genau aussehen soll. Der Mensch sei hier jedenfalls, so die Hoffnung, auf neuer Stufe, „wieder“ naiv geworden, zu einer höheren Form der Natur übergegangen. Doch nimmt man dies als Schillers Ziele an, muss man folgende Probleme gewärtigen: Zum einen: Ist der Mensch nur im Spiel wirklich Mensch, dann gibt es keine höhere menschenmögliche Stufe der Vollkommenheit (oder besser: der ausgeführten Bestimmung) als im ästhetischen Zustand. Der Mensch kann also per se nicht über den ästhetischen Staat hinaus gelangen. Ja, er kann das nicht einmal wollen, denn dann würde er sich verbiegen müssen: er handelte gegen seine Natur. Damit wäre die Forderung nach Freiheit, die schon den Anfang der Ästhetischen Erziehung prägt, mit einer genaueren Bestimmung und Modifizierung von Freiheit (und, wie es Schiller schon früher formulierte, einer nicht Kantisch verstandenen Freiheit) zu verbinden. Ästhetische Erziehung führt also nicht zur vollkommenen Freiheit in der reinen praktischen Vernunft, sondern eben zur menschenmöglichen Freiheit – diese beinhaltet die Möglichkeit, sich im ästhetischen Spiel von allen knechtenden Bestrebungen freizumachen, um von einem „neutralen“ Standpunkt aus eine nicht-repressive Gesellschaft zu erschaffen, in der der Kantische Kategorische Imperativ neben den hypothetischen Imperativen der menschlichen Natur steht. Die „anthropologische Schätzung“ ist also einer idealistisch-optimistischen Ansicht entgegenzustellen – damit ist
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einer möglichen Einheitlichkeit in Schillers Theorie eben nicht das Wort geredet, sondern im Gegenteil eine tiefe Spaltung benannt. Zum anderen: Ebenso kann die Synthese aus naiv und sentimentalisch nie gelingen und kann auch vernünftigerweise nicht angestrebt werden, denn das Sentimentalische ist gerade durch seine reflexive Doppelstruktur charakterisiert. Es kann nicht in irgendein Arkadien zurückkehren. „Jene Natur, die du dem Vernunftlosen beneidest, ist keiner Achtung, keiner Sehnsucht werth. Sie liegt hinter dir, sie muß ewig hinter dir liegen. Verlassen von der Leiter, die dich trug, bleibt dir jetzt keine andere Wahl mehr, als mit freyem Bewußtseyn und Willen das Gesetz zu ergreifen, oder rettungslos in eine bodenlose Tiefe zu fallen.“ (NA, 20, 428) Letztlich ist unser Interesse am Naiven eben schon sentimentalisch – das Naive ist Objekt der Reflexion, das eigentliche Ziel ist es nicht. Natürliche Einheit gibt es nicht mehr, dafür „moralische Einheit“, „d. h. als nach Einheit strebend“ (NA, 20, 437). Der vollständige Ausdruck der Menschheit umfasst beide Seiten, Natur und Vernunft. Das Sentimentalische ist Ausdruck dafür, dass dem ästhetischen Spiel immer auch ein tiefer Ernst zugrunde liegt (vgl. NA, 20, 447). Der Begriff der „moralischen Einheit“, wie ihn Schiller bestimmt, bietet eine mögliche Lesart, die dem Problemkomplex näher kommt. Demnach wäre die „moralische Einheit“ als eine regulative Idee aufzufassen, die der menschenmöglichen Einheit zwischen Vieh und Engel das Ziel gibt, während die beschriebene Auffassung der Anthropologie, die Schiller und Mendelssohn teilen, als das Maß, das der Ausführung dieser Aufgabe Kontur gibt, angesehen werden muss. Schiller schwankt also zwischen zwei philosophischen Konzepten. Vereinfacht gesprochen: Kant gibt ihm das Ziel vor, Mendelssohn zeigt das Maß auf. Das Menschenbild, das damit ins Spiel gebracht wird, ist zwischen zwei – maßgebenden – absoluten Sphären beheimatet, die es auszugleichen gilt. Dieser Ausgleich ist wiederum normativ23 zu verstehen: er ist eine Aufgabe, die im Spiel bzw. im „echten“ Sentimentalischen erreicht ist und idealiter den Vernunftstaat bzw. Elisium ergibt. Die Orientierung gebende Norm ist das „Gesetz der Übereinstimmung“ (NA 20, 420) zwischen den beiden Sphären. Noch einmal: Spricht Schiller vom „Vernunftstaat“ bzw. der sentimentalischen „Idylle“, spricht er von den Orientierung gebenden Leitideen. Wenn er hingegen vom ästhetischen Staat bzw. dem real existierenden, idealisch denkenden und schreibenden sentimentalischen Dichter redet, ist dies Ausdruck seiner anthropologischen Ansicht: dass nämlich die Ziele nur im Maß zwischen Natur und Vernunft bestehen können. _____________ 23 Vgl. Waibel, a. a. O., S. 131.
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Der Weg des Ausgleichs, den Schiller mit dem ästhetischen Spiel beschreibt, ist dem Kant-Studium zu verdanken. Hier konnte Schiller kaum auf Vorarbeiten Mendelssohns zurückgreifen, da dessen Vermögenslehre diese Form der Ausbalancierung nicht kannte. Bei Mendelssohn taucht höchstens ein Wechsel in den Modi der Vorstellungstätigkeit auf: der Mathematiker hat klar begrenzte klare und deutliche Vorstellungen von seinen mathematischen Gleichungen – oder er nimmt klar und verworren die gesamte Schlusskette seiner Überlegungen wahr. Die „Feinmechanik“ des ästhetischen Spiels, der „Wechselbestimmung“ musste Schiller also bei Kant und Fichte, nicht in der Popularphilosophie suchen,24 auch wenn er die wechselseitige Modifikation von geistiger und tierischer Natur des Menschen seit seinen Dissertationen, also vor der Kant-Lektüre, angedacht hatte, freilich noch kein überzeugendes Konzept dazu aufweisen konnte (vgl. NA, 20, 56). So schreibt er 1784 in seiner Schaubühnenrede Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken? (1784) mit Bezug auf einen anderen Popularphilosophen, nämlich Sulzer: Unsre Natur, gleichsam unfähig, länger im Zustand des Thiers fortzudauren, als die feinern Arbeiten des Verstandes fortzusezen, verlangte einen mittleren Zustand, der beide widersprechenden Enden vereinigte, die harte Spannung zu sanfter Harmonie herabstimmte, und den wechselweisen Uebergang eines Zustands in den andern erleichterte. Diesen Nuzen leistet überhaupt nur der ästhetische Sinn, oder das Gefühl für das Schöne. (NA, 20, 90)
Was Schiller an Kant faszinierte liegt auf der Hand, wenn man bedenkt, was ihn nicht nur ab 1791, sondern schon seit der Karlsschulzeit umtrieb. Kants Rede von der Urteilskraft als eines Übergangs muss Schiller wahrhaft elektrisiert haben. Die „Mittelkraft“ war es, nach der er schon in der ersten und dritten Karlsschuldissertation gefragt hatte. Das Interesse verlagerte sich nur tendenziell, weg von der eher spekulativ-philosophisch betriebenen denn wirklich praktizierten Medizin, die ohnehin nur den Plänen des Herzogs geschuldet war. Dafür dass Schiller der Arzneikunst nicht sonderlich nahe stand, mögen seine berüchtigten Eigentherapien Zeugnis ablegen. Aus Neigung und Begabung wandte er sich vielmehr der Ästhetik zu; allerdings unter Beibehaltung der schon anfangs vorhandenen Elemente, nämlich der Psychologie in rationalistischer sowie empiristischer Manier und der Sittenlehre – und dem Zielpunkt des Ausgleichs zwischen tierischer und geistiger Natur. Was Schiller hingegen an Mendelssohns Anthropologie geschätzt haben muss, war, dass sie weder eine Anthropologie von „unten“, also von _____________ 24 Vgl. Waibel, a. a. O., S. 122. Allerdings lässt Waibel in ihrer Rekonstruktion die vorkantischen ästhetischen Studien außer Betracht.
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den primär dunklen Empfindungen her, darstellte, noch völlig Wolffianisch die klare und deutliche Perzeption als die einzig vollkommene Daseinsweise des Menschen auswies. Vielmehr beinhaltet sie eben das, was auch Schillers Philosophieren (und seine Kritik an Kants „Rigorismus“) durchzieht: die Notwendigkeit, einen Ausgleich zu schaffen, der Lust und Denken gleichermaßen anspricht – und den Mendelssohn wie Schiller im Empfinden des Schönen verorten. Was Mendelssohn und Schiller eint – und dies ist keinesfalls bei Rousseau zu finden, von dem Schiller im Übrigen Wesentliches zum Verhältnis Natur und Freiheit übernahm, aber eben nicht dessen Kritik an der Ästhetik25 –, was sie also eint, ist die Betonung der Ästhetik als ein Stadium relativer Ruhe, das aber immer mit dem Bewusstsein seiner endlichen Dauer verbunden ist. Der ästhetische Zustand ist der einer kurzen Versöhnung, der einen Ausgangspunkt schafft für einen erneuten Versuch, seine Bestimmung auch in anderer Hinsicht praktisch tätig zu erfüllen. Die Stellung des Menschen ist zwar ausgezeichnet, aber prekär. Die Zerrissenheit zwischen Tier und Gott, zwischen den absoluten Ansprüchen von Stoff- und Formtrieb ist nur im ästhetischen Augenblick aufgehoben. Bei Mendelssohn in der Vollkommenheit der ästhetischen Perzeption – hier arbeitet er mit den Begriffen der gefühlten Entgrenzung, der scheinbaren Vollkommenheit, der menschenmöglichen Totalität. Bei Schiller im Augenblick des Spiels, in dem der ganze Mensch zwischen Form und Inhalt kurz aufleuchtet. Die Entzauberung der Welt durch ratio bzw. enthemmte Sinnlichkeit soll im ästhetischen Zustand – wenigstens kurzfristig – lebbar gemacht werden. Die Lektüre Kants und Fichtes half Schiller sicherlich, das Verworrene zu ordnen; trotzdem, so denke ich, lassen sich seine popularphilosophischen Wurzeln nur schwerlich leugnen.
_____________ 25 Zu Schillers Vorgehensweise, sich Rousseaus Kunstkritik und dessen anthropologisches Konzept für seine eigene Theorie fruchtbar zu machen vgl. Bernd Bräutigam: Rousseaus Kritik ästhetischer Versöhnung. In: JbdSG 31 (1987), S. 137-155. Ihm zufolge werden durch den Kunstgenuss die tätigen Kräfte und die Mitleidsdisposition des Individuums nicht saturiert und damit lahmgelegt, (wie es Bräutigam in Hinblick auf Rousseau als dessen „Kompensationstheorie“ (S. 149 f), sondern der Besuch der Schaubühne schafft gerade die Ausgangsbasis, um sich als ganzer Mensch zur Welt tätig zu verhalten: „Durch die ästhetische Kultur [...] ist weiter nichts erreicht, als daß es ihm [sc. dem Menschen, d. Vf.] nunmehr, von Natur wegen möglich gemacht ist, aus sich selbst zu machen, was er will – daß ihm die Freyheit, zu seyn, was er seyn soll, vollkommen zurückgegeben ist.“ (NA, 20, 377 f) Auch Mendelssohn war sich der Herausforderung durch Rousseau durchaus bewusst. Dies zeigen u. a. seine Überlegungen, die er im Sendschreiben (JubA, II, 81-109) formulierte.
Schillers schöne Seelen. Zur Auflösung eines Bildungsideals am Ende des 18. Jahrhunderts anhand von Schillers Über Anmut und Würde Annabel Falkenhagen Seit der Antike hat das Konzept der schönen Seele immer wieder Philosophen, Literaten und Theologen fasziniert und inspiriert; selten jedoch stieß es auf breiteres Interesse als im 18. Jahrhundert – in jener Zeit, die gleichzeitig seine Blüte und den Beginn seines langsamen Niederganges umfasst. Mit Schiller findet die schöne Seele gegen Ende des Jahrhunderts nicht nur einen ihrer bedeutendsten, sondern auch ihrer klarsten theoretischen Exponenten. Eben diese Klarheit macht jedoch auch die Spannungen und Brüche explizit, die das Konzept zunehmend aushalten muss. Zusammen mit Goethes literarischer Bearbeitung, den ‚Bekenntnissen einer schönen Seele’ in Wilhelm Meisters Lehrjahren, markieren Schillers theoretische Ausführungen zum Thema in Über Anmut und Würde den Wendepunkt in der Geschichte dieses großen Bildungsideals, das unter den Bedingungen der Moderne zum Scheitern verurteilt scheint: Grundsätzlich noch positiv konzipiert, stellt sich die schöne Seele in beiden Texten gleichzeitig ausgesprochen problematisch dar – eine Problematik, die Schiller selbst, dies legt bereits der zweigeteilte Aufbau von Über Anmut und Würde nahe, nicht entgangen ist.1 Die tiefer liegenden Gründe für diese Ambivalenz bei Schiller werden jedoch erst deutlich vor dem Hintergrund der jahrhundertealten Tradition dieses Konzepts, die letztlich zur Präsenz zweier unterschiedlicher Modelle2 der schönen Seele im 18. Jahrhundert führt.
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Ähnliches lässt sich für Goethes Wilhelm Meisters Lehrjahre behaupten, indem er dort der ursprünglichen schönen Seele ihre Nichte als eine zweite ‚Variante’ zur Seite stellt, auch diese freilich immer noch unter dem gleichen Titel. Auf das Vorhandensein dieser beiden Linien in der Geschichte der schönen Seele weist bereits Heinrich Pohlmeier hin (vgl. Heinrich Pohlmeier: Untersuchungen zum Begriff der „schönen Seele“ im 18. Jahrhundert und in der Goethezeit. Münster 1954 [Diss. Masch.], S. 8).
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1 Angesichts des vitalen Interesses an einer Verbindung von Ethik und Ästhetik, das seine philosophischen Studien insgesamt durchzieht, erscheint es geradezu unausweichlich, dass Schiller sich der schönen Seele zuwendet – steht ihm hier doch ein Konzept zur Verfügung, in dem die ästhetische Qualität traditionell bedingt erscheint durch bestimmte (im weitesten Sinne) ethische Eigenschaften. Als Innerstes und Eigenstes des Menschen, als Verbindung zur Sphäre des Göttlichen, ist die Seele in dieser Welt der zweifellos würdigste Träger ästhetischer Qualitäten. Obgleich diese Verbindung angesichts der immateriellen Natur der Seele und der gewöhnlich sinnlich erscheinenden der Schönheit keineswegs unproblematisch ist3, wird doch der Schönheit der Seele ihre exponierte Stellung als höchstes ästhetisches Ideal in einer Hierarchie des Schönen lange Zeit unbedingt eingeräumt4. Ihre Vorrangstellung im Bereich der Ethik ist zunächst ebenfalls nicht selbstverständlich – ist doch nicht klar, dass diejenigen Eigenschaften, welche die besondere Qualität der Schönheit der Seele bedingen, auch die ethisch wertvollsten sein müssen. Was die schöne Seele ausmachen soll, ist zumeist ihre derjenigen der sinnlichen Schönheit entsprechende interne Verfasstheit: Harmonie, Ordnung und Einheit, der Einklang ihrer Kräfte, die Übereinstimmung mit sich selbst. Obwohl diese formalen Vorgaben zu verschiedenen Zeiten inhaltlich unterschiedlich gefüllt worden sind, bleibt doch der Grundgedanke der gleiche: Die Verfassung, welche der Seele die Qualität der Schönheit verleiht, ist zugleich diejenige Verfassung, welche ihr die größtmögliche Vollkommenheit als Seele garantiert. Dieser Um_____________ 3
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Vgl. dazu bei Schiller besonders folgende Passage, auf deren Problematik Norton hinweist (Robert E. Norton: The Beautiful Soul. Aesthetic Morality in the Eighteenth Century, Ithaca, NY 1995, S. 239 f): „Diejenige Gemüthsverfassung des Menschen, wodurch er am fähigsten wird, seine Bestimmung als moralische Person zu erfüllen, muß einen solchen Ausdruck gestatten, der ihm auch, als bloßer Erscheinung, am vorteilhaftesten ist. Mit andern Worten: seine sittliche Fertigkeit muß sich durch Grazie offenbaren. [...] [Man] wird [...] also annehmen müssen, ‚dass die moralische Ursache im Gemüthe, die der Grazie zum Grunde liegt, in der von ihr abhängenden Sinnlichkeit gerade denjenigen Zustand nothwendig hervorbringe, der die Naturbedingungen des Schönen in sich enthält’.“ (Friedrich Schiller: Über Anmut und Würde (im Folgenden zitiert als: Über Anmut und Würde). In: Werke. Nationalausgabe. Hrsg. von Julius Petersen [u.a.] (im folgenden zitiert als: NA), Bd. 20: Philosophische Schriften I. U. Mitw. v. Helmut Koopmann hrsg. v. Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 251-308; hier: S. 277.) So wird z. B. im Symposion die Schönheit der Seele als der des Körpers eindeutig überlegen dargestellt, auch wenn die Bewunderung der letzteren auf die Liebe zur ersteren hinzuführen vermag (vgl. Platon: Symposion 210a-212a).
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stand wird besonders deutlich angesichts der Beschreibung derjenigen Seele, welche die zur Schönheit notwendigen Qualitäten (noch) nicht aufweist: So bezeichnet etwa Platon die unverständige Seele als ‚hässlich’, da des rechten Maßes entbehrend, diejenige, in welcher die unterschiedlichen Seelenkräfte miteinander in Widerspruch stehen, aber als ‚krank’.5 Die schöne Seele hingegen ist diejenige Seele, welche das in ihr angelegte Potential optimal verwirklicht hat, die Seele, wie sie sein soll – und damit, da dieses ‚Sollen’ immer moralisch aufgeladen ist, auch die in ethischer Hinsicht beste Seele. Unter diesen Umständen verwundert es wenig, dass die schöne Seele von Anfang an als Bildungsideal fungiert.6 Den Bildungsweg des Menschen, der ästhetisch-erotische, moralische und kognitive Elemente vereint, stellt Platon als Durchgang durch die Formen des Schönen dar: Die Wirkung sinnlicher Schönheit ist ein erster Schritt auf dem Weg zur Liebe und Erkenntnis höherer Formen der Schönheit: der Schönheit in den Seelen, in Sitten, Bestrebungen und Handlungsweisen, der Schönheit der Kenntnisse und schließlich des Schönen an sich oder des „göttlich schöne[n]“.7 Der Mensch als Körperwesen, seine sinnliche und emotionale Seite werden hier selbstverständlich in den Bildungsprozess integriert, wenn auch nur an dem ihnen jeweils gemäßen Platz. Im Hintergrund steht für Platon ein ganzheitliches Konzept der Seele; dass dem rationalen Seelenteil dabei eine ausgezeichnete Stellung zukommt8, entspricht der ‚gesunden’, naturgewollten Verfassung der Seele. Platon lenkt die Aufmerksamkeit weniger auf die Seelenschönheit als ‚Produkt’ des oben beschriebenen Bildungsprozesses – obgleich offenbar implizit vorausgesetzt wird, dass im Verlaufe desselben auch die Seele des ‚Schönheitsliebenden’ selbst zur Schönheit gebildet wird – als auf das Verlangen nach Umgang mit dem Schönen, auf die motivierende und resultierende Liebe und schließlich auf das aktive Streben, Schönheit wiederum neu zu erzeugen und sie in anderen heranzubilden. Betont wird die soziale Dimension dieses Prozesses: Gelernt wird mit und von anderen, wobei man gleichzeitig selbst zum Lehrer wird. Die Schönheit der menschlichen Seele ist damit nicht nur Ziel, sondern auch Mittel der Bildung: passiv, da ihre Schönheit anziehend auf den ‚Lernenden’ wirkt, der den Umgang mit ihr sucht und sich dadurch weiterentwickelt; _____________ 5 6
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Platon: Sophistes 227d-228e, vgl. auch Politeia 444d-e. Ein detaillierter Überblick über die Geschichte des Konzeptes der schönen Seele, die hier nur in ausgewählten Punkten angesprochen werden kann, findet sich in: Annabel Falkenhagen: Schöne Seele [Art.]. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding, Bd. 8, Tübingen [voraussichtl. 2008]. Platon: Symposion 210a-212a. Vgl. z. B. Platon: Timaios 89e-90d.
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aktiv, indem es sie selbst dazu drängt, diese Schönheit in anderen hervorzubringen. Mit Bezug auf diese Charakteristika – den Zusammenhang von Fühlen und Denken, die integrative Funktion der Körperlichkeit und der sinnlichen Schönheit, die Bemühungen des Menschen um die Schönheit der eigenen Seele, die zu verwirklichen in seine Verantwortung (und die seiner Mitmenschen) gestellt ist, und nicht zuletzt die aktive Rolle, welche dem seelisch schönen bzw. im Prozess der Verschönerung sich befindenden Menschen zukommt – soll im Folgenden von einem ‚antiken Ideal’ der schönen Seele gesprochen werden9, das zeitlich freilich nicht auf die Antike beschränkt bleibt (so nähert sich ihm in der Neuzeit etwa Shaftesburys mit seiner Vorstellung der mit dem moral sense eng verknüpften Konzeption der moral beauty10). Charakteristisch ist weiterhin, dass dieses Ideal in der vorchristlichen Antike im wesentlichen als männliches konzipiert erscheint. Zwar wird Sokrates über die Stufenleiter des Schönen u. a. von einer Frau, Diotima, belehrt, doch macht die enge Anbindung der idealen Bildung an das für die Zeit typische Verfahren der Erziehung der Knaben oder Jünglinge durch ältere Lehrer deutlich, dass Frauen im allgemeinen von diesem Prozess weitestgehend ausgeschlossen sind. (Ähnlich scheint es sich etwa mit der Schönheit der Seele bei Cicero und Seneca zu verhalten, die in ihrer negativen Einstellung den Affekten und ihrer kritischen Haltung der Körperlichkeit gegenüber allerdings von dem oben skizzierten Bild abweichen: Auch für sie ist die Frage nach der Schönheit der Seele, die sie u. a. mit Festigkeit und Beständigkeit in Haltung, Ausdruck und Urteilen assoziieren, ganz offenbar primär die nach der männlichen schönen Seele.11)
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Dabei handelt es sich jedoch, so muss betont werden, um ein abstraktes Konzept, das nicht den Anspruch erhebt, Platon oder antike Konzepte der schönen Seele insgesamt uneingeschränkt oder vollständig zu beschreiben. 10 Wie bei Platon kann auch für Shaftesbury die Macht der natürlichen Schönheit sich in unterschiedlichen Objekten äußern. So werde auf die eine oder andere Weise jeder zum Virtuoso: „The Venustum, the Honestum, the Decorum of Things, will force its way.“ (A. A. Cooper, Third Earl of Shaftesbury: Sensus Communis: An Essay on the Freedom of Wit and Humour [= Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times, Treat. II]. In: Standard Edition: Sämtl. Werke, Engl. m. dt. Übers.. Hrsg. u. übers. von Wolfram Benda u. a. Stuttgart/Bad Cannstatt 1992, Abt. I, Bd. 3, S. 14-129, hier: S. 116 (IV,2).) Die Liebe zur Schönheit impliziert grundsätzlich auch die zur ‚inneren Schönheit’, wenn auch nicht jeder dies realisiert (vgl. z.B. ebd., S. 110-112 (IV,2)). 11 Vgl. z. B. Seneca: Epistulae morales 66, 6; 114,22 sowie Cicero: Tusculanae disputationes IV, bes. 31-37.
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2 Mit dem Christentum, spätestens mit der mittelalterlichen Mystik, beginnt sich eine neue Variante der schönen Seele herauszubilden, die sich im 16. Jahrhundert beispielhaft im Werk Teresa von Avilas und ihres Schülers Juan de la Cruz beschrieben findet. Die Bildung der hermosura del’alma steht hier über weite Strecken im Zeichen einer weltabgewandten, passiven Verinnerlichung: Zur Schönheit vorbereitet wird die Seele durch die harmonische Ruhe, ja das Aufgehobensein aller Seelenkräfte wie Denken, Wollen und Empfinden in der Erfahrung Gottes12, der damit uneingeschränkt in der Seele wirken, sie bilden kann wie der Künstler sein Werk, so dass sie an der göttlichen Tugend und Schönheit partizipiert13. Nicht mehr dem Menschen selbst, sondern allein der Gnade Gottes ist die Bildung der schönen Seele anheim gestellt; der Beitrag des Menschen besteht gerade in der äußersten Passivität, der Auslöschung der eigenen Persönlichkeit und vollständigen Hingabe. Entsprechend verliert er im Zustand der Erhebung die Kontrolle über sich selbst und sein Handeln: Charakteristisch sind unkontrollierbare körperliche Begleiterscheinungen wie beseligende Tränen, Zustände der Verzückung, ‚Aufschweben’, Ohnmacht u. ä.; zeitweise versagt die Sprache14 oder wird zum expressiven und unwillkürlichen Gefühlsausdruck15. Die Vorbereitung auf das Wirken Gottes in der eigenen Seele verlangt eine hohe Sensibilität gegenüber dem eigenen Erleben, die Konzentration ganz auf das Innere. Wer ‚in der Welt lebt’, kann kaum hoffen, diesen Zustand zu erreichen. Die Isolation und Askese des Klosters ist nur der äußerlich sichtbare Ausdruck des Rückzugs nach Innen, weg von der Gemeinschaft der Mitmenschen, weg von den vielfältigen sinnlichen Ein_____________ 12 Vgl. Santa Teresa: Libro de la vida. In: Obras Completas, undecima edicion, preparada por T. Alvarez. Burgos 2001, S. 7-414 (im Folgenden zitiert als: Vida), hier: S. 151-153 (18,12-15), S. 174 f. (20,18 f.). 13 Ebd.: Conceptos del amor de Dios. In: Obras Completas, a. a. O., S. 1188-1238; hier: S. 1230-1232 (6,8-11); vgl. auch San Juan de la Cruz: Llama de amor viva. In: Vida y Obras de San Juan de la Cruz, Present. por P.P. Lucinio del SS. Sacramento, Madrid 21950, S. 1179-1264, hier: S. 1237 f. (3,40-45); ebd.: Cantico espiritual. In: Vida y Obras, S. 971-1154, hier: S. 1132-4 (36,3-5), S. 1140 (38, anot. 1). Ähnliches findet sich auch in der deutschen Mystik, wenn etwa Meister Eckhart die aller Werke und Eigenschaften ledige Seele mit dem schönen, da von „hindernissen“ freien Tempel vergleicht, den Jesus betritt (s. Meister Eckhart: Die deutschen und lateinischen Werke. Die deutschen Werke. Hrsg. u. übers. von Josef Quint u. a. Stuttgart 1958. Bd. 1: Meister Eckharts Predigten, Predigt 1: S. 4-20, hier: S. 5, Z. 11-13). 14 Vgl. Santa Teresa, Vida, a. a. O., S. 126 (15,9). 15 Ebd. S. 133 (16,4).
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drücken der Außenwelt – ein Weg, den derjenige antreten muss, welcher der Seelenschönheit teilhaftig werden will.16 Wirksam wird die spanische Mystik vor allem durch die Momente der persönlichen, tief empfundenen Beziehung zu Gott und der inneren Vervollkommnung durch hingebungsvolle Liebe. Insbesondere in Spanien (und später in Frankreich, wo der Quietismus, der auch auf den deutschen Pietismus Einfluss nimmt, diese Tendenzen verarbeitet) nehmen sich in zunehmendem Maße eine gefühlvolle Legendenliteratur sowie zahlreiche Anleitungen zur seelischen Vervollkommnung, Selbsterkenntnis und Selbstbeobachtung der Kultivierung und Popularisierung religiöser Empfindungsfähigkeit an.17 Das daraus resultierende Bild der schönen Seele, das hier – wiederum von individuellen Besonderheiten und Abweichungen abstrahierend – das ‚christliche’ genannt werden soll, ist gekennzeichnet durch Passivität, Hingabe, Innerlichkeit, Empfindsamkeit und Ausrichtung auf Gott. Die Bindung an das Diesseits, an ein aktives Leben, an den eigenen Körper erscheinen gelockert. Die Schwäche der christlichen schönen Seele ist ihre Tugend. Die offensichtlichen weiblichen Konnotationen dieses Ideals werden verstärkt durch die enge Beziehung der Mystik zum Hohelied, und damit zum Bild der Seele als Braut Christi.
3 Dass das 18. Jahrhundert zur eigentlichen Blütezeit der schönen Seele wird, verdankt sich dem Umstand, dass hier beide Traditionslinien, die antike und die christliche, zusammentreffen. Ein neuer Enthusiasmus für das antike Griechenland hebt das antike Ideal der schönen Seele als Inbegriff antiker Humanitätsideale ins Bewusstsein, während die christliche Variante in die Vorstellungen des Pietismus mündet, von dort ausgehend ihre Impulse jedoch einem weitaus größeren Kreis mitteilt.18 _____________ 16 Zwar findet sich die Seele nach dem Erwachen aus der Verzückung der letzten Stufe der Vereinigung mit Gott befähigt, in seinem Dienste mit Worten und Werken tätig zu sein (vgl. ebd. S. 183 f (21,5)), wie auch Teresa von Avila und Juan de la Cruz selbst es beispielhaft vorlebten. Auch dieses Wirken wird jedoch als ganz von Gott geleitet und auf ihn ausgerichtet verstanden, nicht als Verdienst des Subjekts. Nur in diesem Zusammenhang sind auch die sinnlichen, bilderreichen Beschreibungen, die poetischen Werke gerechtfertigt, in denen beide ihre Begegnungen mit Gott schildern. 17 Vgl. Max Freiherr von Waldberg: Studien und Quellen zur Geschichte des Romans I. Zur Entwicklungsgeschichte der „schönen Seele“ bei den spanischen Mystikern, Berlin 1910, S. 78, 82 ff., 90, 93 ff. 18 Vgl. dazu Norton, a. a. O., S. 7 u. passim. Neben der antiken Vorstellung der Kalokagathia und dem Einfluss christlicher Vorstellungen (er bezieht sich hier insbe-
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Dieses Zusammentreffen verleiht dem Konzept eine besondere Prominenz, die noch verstärkt wird durch die spezifischen Bedürfnisse des Jahrhunderts, welche sich aus einer gewissen Zwiespältigkeit des Zeitgefühls selbst ergeben, da im Optimismus und Fortschrittsglauben der Aufklärung immer auch deren Probleme deutlich werden: Im Aufbrechen starrer gesellschaftlicher Strukturen liegt die Gefahr einer Vereinzelung des Subjekts, in der Freiheit des Individuums die Gefahr, das Falsche zu wählen, im ökonomischen Fortschritt die des Überhandnehmens des Egoismus, in der Spezialisierung und Professionalisierung die der Zersplitterung; in der Utopie hingegen scheint das Bewusstsein um die Diskrepanz zwischen dem Möglichen und der Realität auf. Das Konzept der schönen Seele scheint nun geeignet, die Ideale der Zeit in einer Weise zu integrieren, die ihre Gefahren neutralisiert und die Erfahrung von Entfremdung, Zerrissenheit und Isolation abwendet: Moralität und ‚richtiges’ Empfinden, Sensibilität für und Einklang mit Umwelt und Mitmenschen, eine geistig und ethisch-ästhetisch verfeinerte Sinnlichkeit, die Harmonie von Selbstverwirklichung und Gemeinschaftsgefühl sollen gleichsam ‚natürlich’ in der menschlichen Seele begründet werden. ‚Abweichungen’ sind nur als Deformationen zugelassen und bedrohen damit nicht grundsätzlich die überzeitliche Sicherheit. Die der ‚schönen Tugend’ fähige Seele erscheint als lebendiges Zeichen menschlicher Möglichkeiten und Krönung des göttlichen Weltplans, als „göttliche[s] Meisterstück“19 und Bildungsideal der Menschheit20. Symptomatisch für die (übersteigerten) Erwartungen an die schöne Seele ist folgendes Zitat aus Friedrich Heinrich Jacobis Woldemar: Wir nennen [...] eine Seele schön und schöner, wenn sie leicht und leichter durch ihre Hülle dringt, überall Seele offenbar macht: – so empfangen wir von dem besseren Menschen, ohne zu wissen wie, den Saamen seiner Aehnlichkeit; er strahlt uns sein Bild ins Gemüth; und wir lernen froh – wie man sich selbst im Anschauen eines Andern verliert – lernen Freundschaft, Religion, Patriotismus – Jede Tugend; Alle Wahrheit.21
_____________ sondere auf den deutschen Pietismus) nennt Norton als dritte Quelle, aus der sich die Vorstellungen der schönen Seele im Deutschland des 18. Jahrhunderts speisen, die britische moral-sense philosophy. Tatsächlich lässt sich für die Zwecke der hier vertretenen Argumentation die Auffassung der moral oder inner beauty z. B. bei Shaftesbury der antiken Linie zurechnen. 19 Friedrich Gottlieb Klopstock: An des Dichters Freunde (1747). In: F. G. Klopstock’s Oden und Epigramme, Leipzig [ca. 1880], S. 8-15, hier S. 11. 20 Vgl. dazu z. B. Karl Phillip Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen. In: Schriften zur Ästhetik und Poetik. Kritische Ausgabe. Hrsg. v. Hans Joachim Schrimpf. Tübingen 1962, S. 63-93, hier: S. 66 ff, 88. 21 Friedrich Heinrich Jacobi: Woldemar. Erster und Zweiter Teil. Nachdruck der Ausg. Leipzig 1820. In: Werke. Hrsg. v. F. Roth u. F. Köppen. Darmstadt 1968. Bd. 5, S. 419.
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Das Potential, die oben beschriebene integrative Funktion zu übernehmen, kann, so lässt sich behaupten, der schönen Seele von Anfang an nur dadurch zugeschrieben werden, dass beide Modelle, das antike wie das christliche, im Bewusstsein der Zeit präsent sind und zusammengedacht werden. Indem ihre ursprüngliche Differenz aus den Augen gesetzt wird, erscheinen sie als Einheit, die tatsächlich verspricht, die potentiellen Defizite beider zu beheben22 und ihre positiven Möglichkeiten zu multiplizieren. Tatsächlich jedoch wird die schöne Seele des 18. Jahrhunderts damit zu einem bestenfalls prekären, schlimmstenfalls intern widersprüchlichen Konzept. Vor diesem Hintergrund muss Schillers Konzeption der schönen Seele in Über Anmut und Würde betrachtet werden. Der für die schöne Seele oft behaupteten, aber selten wirklich erklärten Harmonie von Gefühl und Verstand, innerer Natur und äußerer Erscheinung, immaterieller Seele und ästhetischer Wahrnehmung versucht Schiller in Auseinandersetzung mit der Kantischen Ethik eine präzise begriffliche Form zu geben. Dass gerade durch die Klarheit seines Konzeptes sichtbar werdende Konfliktpotential hat niemand früher erkannt als Schiller selbst. Als „vernünftig sinnliche[s] Wesen“23 sieht Schiller, Kant korrigierend24, es dem Menschen als Menschen aufgegeben, diese Wesenseinheit auch und gerade im Bereich des Moralischen zu leben.25 Als Antwort auf _____________ 22 Zu nennen sind z. B. die Möglichkeit des Scheiterns der in der Welt lebenden ‚antiken’ schönen Seele an der Welt, die Gefahr, ‚verführt’ auf einer der ‚niederen’ Stufen des Genusses der Schönheit zu verharren etc. auf der einen Seite oder die von Ferne drohende ‚Leere’, Enervierung und überspannte Irrationalität des ‚christlichen’ Modells auf der anderen Seite. 23 Schiller, Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 284. 24 Kants Theorie kann als die einer Negation des Affekts bzw. als Theorie der Selbstüberwindung aufgefasst werden. 25 Vgl. z. B. Schiller, Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 283 f., 286. Das Verhältnis Schiller – Kant kann hier nur gestreift werden. Zudem soll es nur um Schillers Position gehen, wie sie sich in Über Anmut und Würde darstellt, ohne Aussagen über andere Texte und insbesondere einen möglichen Wandel der Beziehungen in Schillers späteren Schriften zu treffen (vgl. dazu auch Anne Margaret Baxley: The Beautiful Soul and the Autocratic Agent: Schiller’s and Kant’s ‚Children of the House’. In: Journal of the History of Philosophy 41.4 (2003), S. 493-514, hier: S. 510, Fn. 30). Da, wie z. B. Georg Mein betont, „die Dichotomie“ der beiden Schillerschen „Positionen“ ‚Schönheit’/‚Anmut’ und ‚Würde’/‚Erhabenheit’ in Über Anmut und Würde „[w]ohl am deutlichsten [...] zu Tage [tritt]“ (Georg Mein: Die Konzeption des Schönen. Der ästhetische Diskurs zwischen Aufklärung und Romantik: Kant – Moritz – Hölderlin – Schiller. Bielefeld 2000, S. 167), können auch bestimmte Punkte der Kant-Kritik Schillers zumindest zeitweise besonders deutlich hervortreten – wie weit diese im Verlaufe der Schrift auch wieder zurückgenommen werden mögen. Wesentliche Differenzen zwischen Kant und Schiller sehen etwa Hans Reiner (Pflicht und Neigung. Die Grundlagen der Sittlichkeit.
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das Problem moralischen Handelns unter den Bedingungen der Sinnlichkeit bietet sich ihm die Chiffre der schönen Seele an: Die Harmonie von Pflicht und Neigung, Vernunft, Empfindung und Sinnlichkeit sei „das Siegel der vollendeten Menschheit, und dasjenige [...], was man unter einer schönen Seele verstehet“26. Sichtbar äußert sie sich als Grazie bzw. Anmut27 in der moralischen Handlung, die gleichzeitig als Wirkung der Natur erscheint und damit ethischen und ästhetischen Ansprüchen gleichermaßen Genüge tut.28 Das ethische Modell, das sich mit der schönen Seele bei Schiller am ehesten in Verbindung bringen lässt, ist das einer Tugendethik (wie sie z.B. von Aristoteles entworfen wird)29: Anders als im Begriff der Pflichterfüllung oder der Handlungskonsequenz ist im Begriff der T[ugend] immer schon die Anforderung enthalten, daß die richtigen Handlungen auch aus den richtigen Motiven heraus erfolgen, d. h. man muß die guten Handlungen freiwillig und gerne tun (Aristoteles), weil sich echte 30 t[ugend]hafte Gesinnung nur in einer fröhlichen Gemütsstimmung äußert [...].
Diesen Vorgaben gemäß steht „[i]m Unterschied zu einer an der Erfüllung von allgemeinen Regeln und Pflichten (deontische E[thik]) oder an den _____________
26 27
28 29
30
Erörtert und neu bestimmt mit besonderem Bezug auf Kant und Schiller, Meisenheim/Glan 1951, S. 42 ff.) oder Baxley (vgl. z. B. Baxley, a. a. O., S. 503). Für eine grundsätzliche Übereinstimmung (zu der Schiller sich zugegebenermaßen des öfteren explizit selbst bekennt (vgl. etwa Schiller, Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 282, 284)) argumentierte in letzter Zeit z. B. Antje Büssgen (Glaubensverlust und Kunstautonomie. Über die ästhetische Erziehung des Menschen bei Friedrich Schiller und Gottfried Benn. Heidelberg 2006; insbes. S. 68 u. 75). Büssgen zieht allerdings zur Interpretation von Über Anmut und Würde auch die Schriften Über die Gefahren ästhetischer Sitten (1795) und Über den moralischen Nutzen ästhetischer Sitten (1796) (beide allerdings früher entstanden) heran. Für weiter gehende Literatur zum Verhältnis der Positionen Kants und Schillers s. auch Baxley, a. a. O., S. 494, Fn. 3 f. Schiller, Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 287 f. Vgl. ebd., S. 288. Schiller selbst differenziert diese beiden Begriffe gegen Ende der Abhandlung (vgl. ebd., S. 305), scheint diese Spezifikationen jedoch im Text selbst nicht unbedingt beachtet zu haben. Vgl. ebd., S. 277. Womit natürlich keineswegs behauptet werden soll, Schiller sei ein Tugendethiker gewesen; selbst bei der Beschreibung der schönen Seele allein im ersten Teil der Schrift Über Anmut und Würde spielen immer wieder Kantische Vorstellungen herein. Ottfried Höffe: Tugend [Art.]. In: Lexikon der Ethik. Hrsg. v. Ottfried Höffe. 5. Aufl. München 1997, S. 308. Auf dieser Grundlage setzt auch Baxley die Konzeption Schillers in Bezug zur Aristotelischen Tugendauffassung (vgl. Baxley, a. a. O., S. 498). Vgl. auch Encyclopedia of Ethics. Hrsg. v. Lawrence C. u. Charlotte B. Becker. New York 1992, Bd. 2, S. 1277: “[V]irtues are dispositions not only to act, but also to judge and feel in accordance with the dictates of right reason […].”
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Folgen einer Handlung (konsequentialistische E[thik]) orientierten E[thik] [...] bei einer T[ugend]-E[thik] nicht die Bewertung der einzelnen Handlung, sondern die Bewertung der handelnden Person im Vordergrund.“31 Entsprechend formuliert Schiller in Über Anmut und Würde: Der Mensch nämlich ist nicht dazu bestimmt, einzelne sittliche Handlungen zu verrichten, sondern ein sittliches Wesen zu sein. […] Tugend ist nichts anders, „als 32 eine Neigung zu der Pflicht“. Daher sind bei einer schönen Seele die einzelnen Handlungen eigentlich nicht sitt33 lich, sondern der ganze Charakter ist es.
Fließt die Handlung zwanglos-natürlich aus dem Charakter des Handelnden, so ist es dieser Charakter, die Seele des Handelnden selbst, die sich in allen ihren Handlungen zu erkennen gibt, die eigentlich moralisch genannt zu werden verdient. Die einzelne Handlung ist die natürliche Folge der harmonischen Konstitution der Seele, deren Schönheit allerdings der Handlung bzw. Bewegung bedarf, um sinnlich zu erscheinen. Da jedoch ihr Sein, nicht ihre Entscheidungen der Grund der Schönheit ihres Tuns ist, ist der schönen Seele eine Handlung wie alle Handlungen, sie selbst erscheint im Netz dieser Handlungen, ihr Leben gleicht einem Gesamtkunstwerk: [I]n einem schönen Leben sind, wie in einem Titianischen Gemählde, alle jene schneidenden Grenzlinien [die Regeln] verschwunden, und doch tritt die ganze Ge34 stalt nur desto wahrer, lebendiger, harmonischer hervor.
Anders als beim Handeln aus Pflicht ‚erscheint’ die spezifische ethische Qualität in den Handlungen der schönen Seele als Anmut. Anders als in ‚gewöhnlichen’ Kunstwerken korrespondiert im Falle der schönen Seele dem ästhetischen Schein das moralische Sein als dessen Ursache. _____________ 31 Höffe, a. a. O., S. 308. Dies trifft natürlich auch auf die Kantische Ethik als Gesinnungsethik zu: Entscheidend ist nicht das pflichtgemäße Handeln, sondern das Handeln aus Pflicht, deshalb weil eine Handlung als vom Kategorischen Imperativ gefordert erkannt wird (vgl. Immanuel Kant: Kritik der praktischen Vernunft. Kants gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Deutschen (vormals: Königlich Preußischen) Akademie der Wissenschaften. 29 Bde. Berlin 1902 ff (im folgenden zitiert als AA, Bd.), Bd. 5, S. 82.). Zudem kennt auch Kant das Konzept der Tugend als Disposition (vgl. dazu ebd.: Die Metaphysik der Sitten, AA 6, 392) und schließt eine frohe Zustimmung zur moralischen Handlung keineswegs aus (vgl. auch Höffe, a. a. O., S. 308). Was er nicht gutheißen kann, ist Schillers Charakterisierung der Tugend als „eine Neigung zu der Pflicht’” (Schiller, Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 283; vgl. dazu auch Baxley, a. a. O., S. 501, 505 sowie Reiner, a. a. O., S. 45 f). 32 Schiller, Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 283. 33 Ebd., S. 287. 34 Ebd. Ein Vergleich, der wiederum an Aristoteles’ Konzept der eudaimonia als Inbegriff des idealen menschlichen Lebens denken lassen könnte.
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Als „persönliches Verdienst“35 kann die ästhetische Qualität der schönen Seele nicht einer dem Einfluss der Seele gänzlich entzogenen statischen Schönheit geschuldet sein. Ebensowenig kann sie an Bewegungen wie etwa Reflexen erscheinen, an denen diese keinen Anteil hat. Ihren sinnlichen Ausdruck kann sie nur in der kontingenten, beweglichen Schönheit36 bzw. Anmut der die moralische Gesinnung unwillkürlich begleitenden, der Empfindung entstammenden37 Mimik und Gestik finden, die, anders als die statische „architektonische“ Schönheit der Körperbildung, als unmittelbarer Ausdruck von Gesinnung und Charakter gelten können38. Insbesondere das weibliche Geschlecht erscheint Schiller als dazu prädestiniert, die Schönheit der Seele erscheinen zu lassen: Der zärtere weibliche Bau empfängt jeden Eindruck schneller und läßt ihn schneller wieder verschwinden. [...] Die zarte Fiber des Weibes neigt sich wie dünnes Schilfrohr unter dem leisesten Hauch des Affekts. In leichten und lieblichen Wellen gleitet die Seele über das sprechende Angesicht, das sich bald wieder zu einem 39 bloßen Spiegel ebnet.
Doch nicht nur im Hinblick auf die Körperbildung, sondern auch auf die Beschaffenheit der Seele, die Grundlage der der schönen Seele wesenhaften „sittliche[n] Harmonie der Gefühle“, so scheint es, „war die Natur dem Weibe günstiger“: Auch der Beytrag, den die Seele zu der Grazie geben muß, kann bey dem Weibe leichter als bey dem Manne erfüllt werden. Selten wird sich der weibliche Charakter zu der höchsten Idee sittlicher Reinheit erheben, und es selten weiter als zu affektionirten Handlungen bringen. Er wird der Sinnlichkeit oft mit heroischer Stärke, aber nur durch die Sinnlichkeit widerstehen. Weil nun die Sittlichkeit des Weibes gewöhnlich auf Seiten der Neigung ist, so wird es sich in der Erscheinung eben so ausnehmen, als wenn die Neigung auf Seiten der Sittlichkeit wäre. Anmuth wird also der Ausdruck der weiblichen Tugend seyn, der sehr oft der männlichen 40 fehlen dürfte.
Nicht zufällig markiert diese Charakteristik den Übergang der Argumentation von der ‚Anmut’ zur ‚Würde’. Was beim ersten Blick als Vollendung seelischer Schönheit erscheinen könnte, erweist sich hier als subtilste Form der Täuschung, denn: _____________ 35 36 37 38
Ebd., S. 264. Vgl. ebd., S. 252. Vgl. ebd., S. 266-268. Ebd., S. 255 f, 258, 261, 264-268, 270-275 – obgleich dieser flüchtige Ausdruck mit der Zeit die Züge dauerhaft verändern kann (s. ebd., S. 264 f (auch die Anm.), 274. 39 Ebd., S. 288 f; es macht sich allerdings „auch der falschen [i.e. gewollten, affektierten (A.F.)] [Anmuth] am meisten schuldig“ (ebd. S. 307). 40 Ebd., S. 289.
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Ist bey einem Menschen die Neigung nur darum auf Seiten der Gerechtigkeit, weil die Gerechtigkeit sich glücklicherweise auf Seiten der Neigung befindet, so wird der Naturtrieb im Affekt eine vollkommene Zwangsgewalt über den Willen ausüben, und wo ein Opfer nöthig ist, so wird es die Sittlichkeit und nicht die Sinnlichkeit bringen.41
Die ‚wahre’ schöne Seele ist folglich paradoxerweise erst dann wirklich als solche identifizierbar, wenn sie bereits keine schöne Seele mehr ist: Die schöne Seele muß sich also im Affekt in eine erhabene verwandeln, und das ist der untrügliche Probierstein, wodurch man sie von dem guten Herzen oder der 42 Temperamentstugend unterscheiden kann.
Die vermeinte Seelenschönheit der einen Hälfte der Menschheit, des ‚anmutigen Geschlechts’, wird damit mehrstenteils als „Temperamentstugend“ entlarvt, die im Affekt „zum bloßen Naturprodukt herab[sinkt]“43. Tatsächlich wird hier die Demontage der schönen Seele insgesamt eingeläutet. Im Affekt, so erklärt Schiller unter Verweis auf den Selbsterhaltungstrieb des Menschen, muss „die schöne Seele [...] ins heroische über[gehen] und [...] sich zur reinen Intelligenz [erheben]“44, Affekt und Sinnlichkeit also absondern, negieren. Schiller denkt hier nicht allein an Situationen heftigen Schmerzes o. ä.: Aber nicht bloß beym Leiden im engern Sinn, wo dieses Wort nur schmerzhafte Rührungen bedeutet, sondern überhaupt bey jedem starken Interesse des Begehrungsvermögens muß der Geist seine Freyheit beweisen, also Würde der Ausdruck seyn. Der angenehme Affekt erfordert sie nicht weniger als der peinliche, weil die Natur in beyden Fällen gern den Meister spielen möchte, und von dem Willen ge45 zügelt werden soll.
Deutet Schiller zunächst noch an, der Wille müsse nur dann „die Forderung der Natur dem Ausspruch der Vernunft nach[...]setzen“, „wenn der Trieb zu seiner Befriedigung eine Handlung fordert, die dem moralischen Grundsatz zuwider läuft“46, so stellt sich bald heraus, dass [s]o oft also [Hervorhebung v. Vf.] die Natur eine Forderung macht, und den Willen durch die blinde Gewalt des Affekts überraschen will, [...] es diesem zu[kommt], ihr so lange Stillstand zu gebieten, bis die Vernunft gesprochen hat. Ob der Ausspruch der Vernunft für oder gegen das Interesse der Sinnlichkeit ausfallen werde, das ist, was er jetzt noch nicht wissen kann; eben deswegen aber muß er dieses Verfahren in jedem Affekt ohne Unterschied beobachten, und der Natur,
_____________ 41 42 43 44 45 46
Ebd., S. 294. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 296. Ebd., S. 291.
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in jedem Falle [Hervorhebung v. Vf.], wo sie der anfangende Theil ist, die unmit47 telbare Kausalität versagen.
Man vergleiche diese These mit der vorangegangenen Passage, welche unmittelbar zur Charakterisierung der schönen Seele diente: Der Wille hat ohnehin einen unmittelbarern Zusammenhang mit dem Vermögen der Empfindungen als dem der Erkenntniß, und es wäre in manchen Fällen schlimm, wenn er sich bey der reinen Vernunft erst orientiren müßte. Es erweckt mir kein gutes Vorurtheil für einen Menschen, wenn er der Stimme des Triebes so wenig trauen darf, daß er gezwungen ist, ihn jedesmal erst vor dem Grundsatze der Moral abzuhören; vielmehr achtet man ihn hoch, wenn er sich demselben, ohne 48 Gefahr, durch ihn mißgeleitet zu werden, mit einer gewissen Sicherheit vertraut.
Eine Harmonie zwischen Gefühl, Sinnlichkeit und Vernunft derart, wie sie das Konzept der schönen Seele fordert, kann es damit nicht geben49, darf es nicht geben. Das ‚freie’ Wirken der Sinnlichkeit bzw. die Sinnlichkeit als im eigentlichen Sinne „mitwirkende Parthey“50 ist so nur noch höchst eingeschränkt, wenn überhaupt möglich (nämlich nur dort, wo die Entscheidung schon gefallen ist, die ‚Mitwirkung’ also letztlich nur in einer nachträglichen Zustimmung bestehen kann). Der Geist erweist sich als Gebieter, der seinen Untergebenen stets mit dem „Mistrauen gegen den einen Theil seines Wesens“ betrachten muss, was Schiller ursprünglich vehement ablehnt51, und der entsprechend „Indulgenz“ oder „Strenge“ walten lässt, die Natur hingegen als Knecht, dem nur da, wo er „die Be_____________ 47 Ebd., S. 292. 48 Ebd. S. 286 f. Tatsächlich äußert sich die Anmut eigentlich nur in den die willkürliche Handlung unwillkürlich begleitenden, der moralischen Empfindung entstammenden ‚sympathetischen’ Bewegungen (vgl. z. B. ebd., S. 266, 271), bei denen kein „Entschluß“ zwischen Gesinnung und Äußerung tritt (vgl. ebd., S. 268). Der ‚willkürliche Teil’ der Handlung kann damit zunächst auch vernunftbestimmt sein. Bei der Beschreibung der schönen Seele verlangt Schiller aber offenbar mehr als eine bloße 'Begleitung', wenn er erklärt, bei einer schönen Seele könne „dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen“ werden, der Wille müsse sich dann nicht „bey der reinen Vernunft erst orientiren“ oder ihre Handlungen könnten nicht eigentlich verdienstlich genannt werden, „weil eine Befriedigung des Triebes nie verdienstlich heißen kann.“ (Ebd., S. 287) Hier schildert Schiller Handlungen, bei welchen der Wille insgesamt unmittelbar durch die Empfindung bestimmt erscheint, nur eben in der Weise, in welcher ihn die Vernunft auch bestimmt hätte. Die Anforderungen an die schöne Seele werden also zunehmend strenger als die ursprünglich für die Anmut geltenden Bedingungen. Schillers Äußerungen scheinen hier ein Spannungsverhältnis sichtbar werden zu lassen, das mit der ‚Überforderung’ der schönen Seele in Zusammenhang steht. 49 Vgl. etwa ebd., S. 289 f.: „Aber diese Charakterschönheit [...] ist bloß eine Idee [...].“ 50 Ebd., S. 286. 51 Ebd.
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fehle“ seines Herrn „ausrichtet“, ein „Schein von Freywilligkeit“ belassen wird.52 Die Dualität des Menschen ist also zu keinem Zeitpunkt wirklich aufgehoben, die schöne Seele muss, so ließe sich argumentieren, entweder die erhabene Seele inkognito sein oder sie ist keine schöne Seele im eigentlichen Sinne, sondern eine bloße Temperamentstugend, die zwar tatsächlich ganz Natur, aber, und das ist das Problem, eben auch nur Natur ist – und „wo die bloße Natur herrscht, da muß die Menschheit verschwinden“53. Unter diesen Voraussetzungen kann kaum mehr überzeugend davon gesprochen werden, dass Anmut durch Würde, die schöne Seele, konzipiert als gleichberechtigte Einheit von Gefühl und Vernunft, durch die erhabene Seele, in der die Vernunft über die ‚Natur’ herrscht, ‚ergänzt’ werden müsse. Selbst als ‚Kunstprodukt’, unter der Bedingung eines ‚unschuldigen’, absolut ruhigen und konfliktfreien, damit aber notwendigerweise artifiziellen und realitätsfernen Lebens (das nicht zufällig zunehmend als Ideal weiblicher Erziehung und weiblicher Existenz erscheint) oder als bloße ‚Idee’, als die Schiller sie sehen möchte, wird die schöne Seele so tendenziell inkonsistent; das Konzept beginnt, seinen Sinn zu verlieren.
_____________ 52 Ebd., S. 297. Man beachte Schillers empörtes Angehen gegen Kants „imperatife Form des Moralgesetzes“, durch welche „die Menschheit angeklagt und erniedriget“ werde (ebd., S. 286). Die Notwendigkeit einer ständigen Kontrolle bzw. „Reserve“ der Vernunft gegen die Empfindung bringt Henrichs Formulierung treffend zum Ausdruck: „So wird der sittlichen Subjektivität zugemutet, es sich zum Ideale zu machen, sich ganz auf sogenannte Sinnlichkeit zu stellen, sich ihr anzuvertrauen, dennoch aber, man weiß nicht wo, die Energie des Entschlusses zu bewahren, in extremen Situationen gegen die Sinnlichkeit selbst tätig zu sein.“ (Dieter Henrich: Der Begriff der Schönheit in Schillers Ästhetik [Um Anmerkungen erweiterter Text der öffentlichen Antrittsvorlesung vom 9.5.1956 an der Universität Heidelberg]. In: Zs. f. philosophische Forschung 11, 4 (1957), S. 527-547, hier: S. 543; Hervorhebung v. Vf.) In Schillers Ästhetik des Erhabenen nur „eine Philosophie für den Ernstfall [...], eine Art Notstandsmoral“ zu sehen, wie z. B. Wolfgang Riedel es tut („Der Spaziergang“. Ästhetik der Landschaft und Geschichtsphilosophie der Natur bei Schiller. Würzburg 1989, S. 97), wird damit schwer. Auch die Rede von der Versöhnung eines „Teilbereich[s]“ der Sinnlichkeit, der „nach ästhetischen Kriterien begehr[t]“, mit der Vernunft (vgl. Büssgen, a. a. O. S. 88 f.) erscheint problematisch. Allerdings legt Schiller selbst stellenweise eine ‚Aufteilung’ der Sinnlichkeit in unkontrollierbaren ‚Naturtrieb’ (wobei offenbar nicht nur ganz der Kontrolle des Willens entzogene reflexartige Bewegungen u. ä. gemeint sein sollen) und der Veredelung fähige ‚Empfindung’ nahe (vgl. z. B. Schiller, Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 266, 290, 295). Seine Schrift scheint jedoch keine systematische Grundlage für eine solche Unterscheidung bereitzustellen. 53 Schiller, Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 280.
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4 Wie lässt sich dieses Dilemma der schönen Seele, diese Entwicklung vom Ideal des Menschseins zu einer von vornherein zur Irrealität verdammten Utopie erklären? Zu Beginn von Über Anmut und Würde erscheint die schöne Seele Schillers als Ergebnis eines Bildungsprozesses, der, ähnlich wie die Bildung der Seele bei Platon, im und am Leben geschehen muss, bevor das Gefühl so ganz im Sinne des Sittlich-Schönen wirkt, dass es vollkommen mit den Erkenntnissen der Vernunft harmoniert (bzw., im Falle Platons, bevor die Seele die Stufenleiter des Schönen so weit erklommen hat, dass sie das ‚göttlich Schöne’ als Urbild und höchste Stufe aller anderen Formen der Schönheit zu begreifen vermag). Eine schöne Seele nennt man es, wenn sich das sittliche Gefühl aller Empfindungen des Menschen endlich bis zu dem Grad versichert hat, daß es dem Affekt die Leitung des Willens ohne Scheu überlassen darf und nie Gefahr läuft, mit den Ent54 scheidungen desselben im Widerspruch zu stehen.
Auch wenn Schiller hier – man könnte vermuten: in visionärem Überschwang, als wolle er das Ideal ganz rein erhalten – von dem ‚sittlichen Gefühl’ spricht, welches sich der Empfindungen des Menschen versichert, liegt dabei doch eine leitende, ‚erzieherische’ Funktion der Vernunft nahe, die sich an dieser Stelle auch ohne Probleme in Schillers Konzept integrieren lässt, ja darin bereits integriert scheint.55 Fehler, Irrwege und ‚Rückschläge’ können auf einem solchen Bildungsweg nicht ausgeschlossen werden, doch sollte sich der Lernende zuletzt gerade deshalb seiner selbst und seiner Ideale sicher sein, weil er die Alternativen kennen gelernt hat – wenn sie auch am Ende dieses Weges für ihn keine Alternativen mehr sind: „es fällt ihr [der schönen Seele] nicht mehr ein, daß man anders handeln und empfinden könnte [...].“56 Auch eine Tugendethik, wie Schiller sie im ersten Teil von Über Anmut und Würde gelegentlich anzudeuten scheint, muss letztlich anstreben, das moralische Gefühl derart im Leben zu verankern, dass der Mensch gerade auch in kritischen Situationen noch gerne tugendhaft handelt. ‚Handeln’ und ‚Leben’ sind denn auch ursprünglich Grundmotive der schönen Seele bei Schiller, die, im Kontrast zur Trägheit und Nachgiebigkeit jenes „moralische[n] Weichling[s]“, den Kant allen_____________ 54 Ebd., S. 287. 55 Vgl. z. B. ebd., S. 284, 286. Dass die Kompetenz der Empfindung sich nicht auf den Bereich der moralischen Gesetzgebung erstreckt, sondern erst auf dem Feld der praktischen Ausübung wirksam wird, hatte Schiller ohnehin von vornherein klar gemacht (vgl. ebd., S. 283). Vgl. dazu z. B. auch Büssgen, a. a. O., S. 72 ff. Ob diese ‚Leitung’ deshalb so einseitig und streng, ja fast gewaltsam ausfallen muss, wie Büssgen sie zeichnet, darf bezweifelt werden. 56 Schiller, Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 287.
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falls fürchten könnte57, aktiv und kraftvoll konzipiert wird.58 Der Vernunft, dem Geist wird durch die Entwicklung des Affekts in diesem Falle nichts von seiner Stärke genommen; Schiller scheint vielmehr die Möglichkeit einer genuinen Vermittlung zwischen beiden anzuvisieren, in der die Vernunft durchaus eine herausragenden Stelle einnehmen könnte, doch, insbesondere nach Abschluss der Bildungsphase, eher in der Funktion eines überlegenen Freundes. Dieses Bild, das ganz offensichtlich vom antiken Ideal der schönen Seele inspiriert ist, verändert sich deutlich insbesondere im zweiten Teil der Abhandlung59: Gerade da, wo sie ursprünglich ihre Stärke zeigen sollte, in Fällen affektiver Bewegung, muss, so scheint es, die schöne Seele zwangsläufig versagen, die ‚reine Intelligenz’ die Führung übernehmen; gerade da, wo wir sie in ihrer vollen Schönheit wahrzunehmen glauben, erweist sie sich entweder als Spielball der Affekte, als Trugbild, das zwar als Temperamentstugend zufällig den Schein wahrer Tugend erhalten kann, diesen jedoch nicht wirklich verdient hat, oder aber als ‚erhabene’ Seele, in welche sich die schöne Seele in Wirklichkeit nicht verwandeln, sondern die sie immer schon gewesen sein muss. Die Ursachen dieses Wandels erschließen sich bei näherer Betrachtung des Konzeptes der schönen Seele, wie es sich im 18. Jahrhundert vor Schiller entwickelt.
5 Für die Aufklärung verkörpert die schöne Seele ein Ideal authentischer Kommunikation, ein Gegenbild zu der auf ‚leeren’ Formen basierenden ‚Scheinwelt’ des höfischen Lebens60, wie denn auch Schiller sich dem Phänomen der Seelenschönheit bezeichnenderweise über seine Ausdrucksdimension nähert.61 Bereits früh wird die ‚Einfalt’ ihrer Sprache zum Charakteristikum der schönen Seele. In Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste thematisiert Wieland sie unter dem Stichwort des ‚Naiven’, das „von einer schönen Seele unzertrennlich“ sei, und das mit einer Sprache
_____________ 57 Ebd., S. 285. 58 ‚Mitwirkung’, „Feuer“, ‚lebhafte Teilnahme’ kennzeichnen den Beitrag der Empfindung zum moralischen Leben des Menschen (vgl. ebd., S. 286). 59 Obgleich sich Spannungen auch bereits im ersten Teil konstatieren lassen. 60 Vgl. dazu z. B. Gerhard Vowickel: Von politischen Köpfen und schönen Seelen. Ein soziologischer Versuch über die Zivilisation der Affekte und ihres Ausdrucks, München 1983, S. 98 ff. 61 Vgl. besonders auch Schiller, Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 286.
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assoziiert wird, die „eigentlicher [sei] als die unsrige“.62 Endlich wird die Sprache selbst, als Medium, das naturgemäß Konvention, Reflektion und Abstraktion einschließt, verdächtig: „Spricht die Seele, so spricht, ach, schon die Seele nicht mehr.“63 Die Körpersprache wird zunehmend zur authentischen, gegenüber Verstellung und Manipulation resistenten, ‚natürlichen’ Form der Kommunikation, und Frauen, deren „zarte Fiber“ dem „leisesten Hauch des Affekts“ nicht widerstehen kann, erscheinen besonders geeignet, dieses Ideal zu verkörpern. Unmittelbarkeit soll zum Garanten des unverfälschten Informationsflusses werden. Entsprechend darf dem anmutigen Ausdruck der schönen Seele kein Entschluss, viel weniger eine konkrete Wirkungsabsicht zugrunde liegen64. Jegliches Bewusstsein ihrer Wirkung, so warnen die Zeug_____________ 62 [Christoph Martin Wieland]: Naiv. (Schöne Künste) [Einleitung von J. G. Sulzer], in: Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln [...] Artikeln abgehandelt von Johann Georg Sulzer, Theil 3, neue, verm. Aufl., Leipzig 1787, S. 399-406, hier: S. 403-405. Vgl. zu diesem Aspekt auch Amand Berghofer: Briefe an Cleis. In: Berghofers Schriften. Bd. 2. Wien 1783, S. 41-103; hier bes. S. 41-44, 48-51; Johann Georg Jacobi: Charmides und Theone, oder die sittliche Grazie. In: J. G. Jacobi’s sämmtliche Werke. 3. Aufl. Zürich 1819, Bd. 2., S. 69-163, hier: S. 71 f., 74 f., 97, 116 ff. Schillers charakteristische Ablehnung einer der Kunst geschuldeten Anmut (im Gegensatz zur „Wahrheit der Darstellung“ (des jeweiligen Charakters) des Schauspielers (Schiller, Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 269 f) als „unangemessenen Ausdruck Schillers“ zu werten, der vielmehr die „Ästhetik des Scheins“ auch hier hätte zugrunde legen sollen, wie Yoshiteru Yamashita es tut (der diese Stelle im Kontext anderer späterer Schriften Schillers betrachtet – allerdings legen auch bestimmte Formulierungen in Über Anmut und Würde selbst diese Vermutung nahe, vgl. z. B. S. 270), heißt, diesen Zusammenhang nicht zu berücksichtigen (Yoshiteru Yamashita: Schillers Körperästhetik: Auf der Suche nach ihren möglichen Konsequenzen. In: Literatur und Kulturhermeneutik. Beiträge der Tateshina-Symposien 1994 u. 1995. Hrsg. v. d. Japanischen Gesellschaft für Germanistik. München 1996, S. 217-226, hier: S. 224). Ästhetischer und ‚täuschender’ Schein (vgl. dazu Schiller, Ueber die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, NA 20, 309-412, hier 399 f., 402 f.) lassen sich im Falle der schönen Seele nicht wirklich trennen. Dass die schöne Seele einerseits für das ‚Sein’, das Wahre, Innerliche steht, andererseits aber durch die Dimension der Schönheit und den Anspruch der Erkennbarkeit, der Kommunikation auf das ‚Scheinen’, die (potenziell täuschungsanfällige) Veräußerung angewiesen ist, ist eine Grundspannung, die im Konzept der schönen Seele von vornherein angelegt ist. Zum Problem wird sie für Schiller jedoch durch seine übersteigerten Forderungen an eine unbedingt garantierte Authentizität dieses Ausdrucks. 63 Friedrich Schiller: Sprache (Votivtafeln), in: NA 1: Gedichte in der Reihenfolge ihres Erscheinens 1776-1799. Hrsg. v Julius Petersen u. Friedrich Beißner. Weimar 1943, S. 302. 64 Die Schiller, da das willentlich-Moralische fehlt, eigentlich wohl von den moralisch-sprechenden Bewegungen ausschließen müßte – ein zweifelhafter Fall ist für ihn das Erröten (vgl. Schiller, Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 267 f).
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nisse des 18. Jahrhunderts immer wieder, jedes Reflektieren auf die eigene Erscheinung zerstöre den Reiz der Anmut. Scheint es hier zunächst nur darum zu gehen, Künstelei und Verstellung einen Riegel vorzuschieben, Offenheit und Aufrichtigkeit zu fördern, so wird bald deutlich, dass die Konsequenzen, je dringlicher diese Forderung sich erhebt, desto problematischer werden. Kontrolle, Selbstbeherrschung, Reflektiertheit erscheinen zunehmend als Gefahr, nicht etwa deshalb, weil sie notwendig auf Täuschung hindeuten, sondern weil sie Täuschung überhaupt ermöglichen. Anzeichen von Kontrollverlust – Weinkrämpfe, Ohnmachten etc.65 – werden von den Zeitgenossen häufig als positive Garanten eines unverstellten Blicks auf das Innere gewertet. Dass bei Schiller sich gerade die ‚Natürlichkeit’ der (scheinbar) ‚schönen Seele’ als ‚Kommunikationsfalle’ erweist, erscheint als späte Rache für die tendenzielle Pervertierung des ursprünglichen Kommunikationsideals. Passivität, Emotionalität, körperliche Schwäche gelten als traditionelle Charakteristika des Weiblichen. Die schöne Seele wird so, auch und gerade bei Schiller66, ein tendenziell ‚weibliches’ Ideal.67 Entsprechend sind die ‚schönen Seelen’ der Empfindsamkeit – man denke etwa an Rousseaus Julie oder Wielands Lady Johanna Gray – häufig Mädchen, deren Jugend, Unschuld, Spontaneität und Naivität zunehmend als Bedingungen ihrer Seelenschönheit erscheinen. Die Folie bietet das zuvor beschriebene christliche Ideal der schönen Seele68, das nur den Bedingungen der Zeit entsprechend angepasst, und das heißt insbesondere: säkularisiert werden muss. Tatsächlich, so deutet etwa _____________ 65 Vgl. ebd., S. 271. 66 Vgl. dazu z. B. Constantin Behler: Nostalgic Teleology: Friedrich Schiller and the Schemata of Aesthetic Humanism. Bern u. a. 1995, S. 133 f.: „Schiller’s humanist discourse is [...] thoroughly gendered, and one can hardly overemphasize the importance ‘the other sex’ assumes in it. [...] [T]he nostalgic teleology of Schiller's aesthetic humanism is so thoroughly interwoven with sexual and gender metaphors, allusion, and connotations that the entire discourse can be said to take on a gendered quality.“ 67 Zur kontroversen Diskussion des Konzeptes der schönen Seele generell als Ausdruck und Form einer Beschränkung von Weiblichkeit vgl. z. B. Ralf Konersmann: Seelenschönheit als Weiblichkeitsideal. Versuch, ein Missverständnis aufzuklären. In: Psychologie u. Geschichte 5, 1/2 (1993), S. 94-109; Angelika Ebrecht: Die Krankheit der schönen Seele. Psychologischer Diskurs u. idealisierte Weiblichkeit im 18. u. frühen 19. Jahrhundert. In: Psychologie u. Geschichte 3 (1992), S. 1-16. 68 Baxley verweist denn auch auf Kants Kritik der Schillerschen Position: Die Moral müsse, so lässt sich Kant zusammenfassen, den Menschen als Menschen, ihrer „niederen Stufe als Geschöpfe“, d. h. als Nicht-Heilige, angemessen sein (vgl. KpV, AA 5, 82; s. dazu Baxley, a. a. O., S. 506-510 (auch Fn. 25)). Behler spricht entsprechend von der weiblichen schönen Seele „who is to [...] perform her task in a pre-lapsarian manner“ (Behler, a. a. O., S. 132).
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Norton an, lässt sich die Dominanz der schönen Seele im 18. Jahrhundert nicht zuletzt als Versuch verstehen, durch den zunehmenden Bedeutungsverlust der Religion verursachte Defizite zu kompensieren.69 Vorschub geleistet wird dieser Säkularisierung durch das zeitgenössische Ideal weiblicher Bildung.70 Die häusliche Abgeschiedenheit der weiblichen Erziehung ersetzt das Refugium des Klosters (selbst der empfindsame Freundeskreis ‚gleich gestimmter’ schöner Seelen trägt Züge einer Ordensgemeinschaft); Gehorsam gegenüber den Eltern, später dem Gatten, tritt an die Stelle des Gehorsams gegenüber dem ‚Seelenbräutigam’, und die nicht nur von Schiller favorisierte Körpersemiotik erscheint als säkularisierte Version der keiner Zeichen bedürftigen Schau der Seele durch Gott.71 Auf sich selbst verwiesen und weitestgehend passiv führt dieses Bild entsprechend zu einem gleichsam ‚organischen’ Entwicklungsmodell. Die tugendhafte Frau erscheint so zunehmend als ‚Naturwesen’72, das in einem wohl begrenzten Bereich ‚webt und wirkt’ und weder von den inneren Anfechtungen noch von den äußeren Gefahren bedroht wird, mit denen der Mann zu kämpfen hat – dem jedoch gerade deshalb auch ‚natürliche’ Grenzen gesetzt und eine Entwicklung weitgehend verwehrt ist. So erscheint sie in Schillers Lyrik, etwa in Die Würde der Frauen oder Die Macht der Frauen –
_____________ 69 Vgl. Norton, a. a. O., S. 4 f. Ähnliches lässt sich vom Konzept des ‘moral sense’ behaupten. 70 Vowinckel spricht hier – freilich nicht speziell auf die Erziehung der Mädchen, sondern des Kindes allgemein bezogen, von einer „radikale[n] Erfahrungsdiät in Bezug auf die soziale Wirklichkeit in seiner Umgebung und die affektiven Möglichkeiten in seiner eigenen Seele“ als Garantie der (habitualisierten) „Fraglosigkeit“ seiner „moralischen Orientierung“ (Vowinckel, a. a. O., S. 137), da das Kind – wie die Frau – gleichzeitig als grundsätzlich gut und dennoch in sich zutiefst gefährdet, da korrumpierbar, gedacht wird. 71 Diese Richtung scheint etwa Wieland in einem seiner Gedichte anzudeuten (vgl. Christoph Martin Wieland: Erinnerungen an eine Freundin. 1754. In: Sämmtliche Werke. Hrsg. v. der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft u. Kultur in Zusammenarbeit mit dem Wieland Archiv Biberach/Riß und H. Radspieler. Hamburg 1984, Suppl. IV, Bd. XIV, S. 3-18; insbes. S. 8). 72 Auf die vieldeutige Verwendung des Begriffes ‚Natur’ bei Schiller verweist z. B. Vowinckel, a. a. O., S. 113 f.; vgl. zu diesem Punkt auch Behler, a. a. O., S. 209; David Pugh: Schiller as Citizen of His Time. In: Schiller's „On Grace and Dignity“ in Its Cultural Context. Essays and a New Translation. Ed. by Jane V. Curran, Christophe Fricker. Rochester, N. Y. u. a. 2005, S. 37-54, hier S. 51: „Nature, the master concept of the Enlightenment, stands on both sides of the divide [Schiller's love of freedom allied to reason and his horror of unchained passions; d. Vf.], both as ‘holy nature’ and as ‘raw nature.’“
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In der Mutter bescheidener Hütte sind sie geblieben mit schamhafter Sitte, 73 treue Töchter der frommen Natur
– und so steht sie implizit im Hintergrund auch von Schillers theoretischen Texten. Unter diesen Bedingungen wird jedoch die Bildung zur schönen Seele, wie sie das antike Ideal beschreibt, unmöglich: Diese erfordert die aktive Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Aspekten des Lebens, das allmähliche Lernen, das auch Fehler einschließen kann, durchaus auch die ordnende Rolle der Vernunft. Die ‚antike’ schöne Seele ist im und am Leben gereift, reflektiert, kontrolliert und tätig74, die (säkularisierte) ‚christliche’, weibliche schöne Seele ist dies nicht.75 Betrachtet man die Entwicklung der schönen Seele in Über Anmut und Würde vor diesem Hintergrund, so scheint es, als ob bei Schiller ein ursprünglich antikes, ‚männliches’ Modell der schönen Seele immer mehr unter die Bedingungen des christlichen, ‚weiblichen’ Ideals gestellt wird – allerdings eines mittlerweile säkularisierten Ideals, dem der für seine Gestaltung ursprünglich verantwortliche Gott abhanden gekommen ist. Unter diesen Prämissen jedoch kann keines der beiden Modelle seine ursprüngli_____________ 73 Friedrich Schiller: Die Macht der Frauen. In: NA 1, a. a. O., S. 240-241, hier S. 240. Zusätzlich ließe sich verweisen auf die Tugend der Frauen, das Lied von der Glocke oder die Ehre der Frauen (vgl. dazu auch Behler, a. a. O., S. 125, 131f., 149). Darauf, dass Schillers Frauenbild und seine Frauengestalten (bezogen auf den Unterschied in der Darstellung von Frauen in Lyrik und Prosa einerseits und in seinen Dramen andererseits) nicht übereinstimmen, letztere vielmehr entschieden ‚moderner’ gestaltet sind, hat Helmut Fuhrmann hingewiesen (Zur poetischen und philosophischen Anthropologie Schillers. Vier Versuche. Würzburg 2001; darin v. a.: Revision des Parisurteils. ‚Bild’ und ‚Gestalt’ der Frau im Werk Schillers, S. 960). 74 Auch Schiller erklärt, dass der Mensch „eine Person“ sei, könne er „bloß durch seine Thaten beweisen“ (Schiller, Ueber Anmut und Würde, a. a. O., S. 272). 75 „Eine solche Wesensüberlegenheit freilich“, wie Schillers Bild der schönen Seele ihr zuschreibe, „vermag die Frau, wenn man dieser Theorie folgt, nur zu erwerben durch [...] den Verzicht auf unmittelbare Auseinandersetzung mit der Welt und damit auf Selbstbestimmung, die allein in dieser und durch diese Auseinandersetzung zu verwirklichen ist.“ Da aber die reale „Rollenunterlegenheit“ der Frau mit der „Ideologie [ihrer] Wesensüberlegenheit“ (Fuhrmann, a. a. O., S. 16) aus den oben genannten Gründen letztlich nicht zu vereinbaren ist, muss die so konzipierte schöne Seele ein irreales Wunschbild bleiben. Man vergleiche Schillers Bemerkung, dem ‚schönen Geschlecht’ könne, seinem besonderen (beschränkten) Auffassungsvermögen gemäß, „nur die Materie der Wahrheit, aber nicht die Wahrheit selbst überliefert werden“ (Schiller, Ueber die nothwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen. In: NA 21, 3-27, hier 17). So ließe sich sagen: Auf die von der Zeit anvisierte Weise vermag die Frau nur den Anschein der Tugend, nicht die Tugend selbst zu erwerben.
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che Funktion wahrnehmen, das Konzept dekonstruiert sich gleichsam von innen heraus selbst. In der Folge wird eine Trennung von ‚schöner’ und ‚erhabener’ Seele76 und eine Rückkehr zur Kantischen Pflichtethik nötig, die letztlich der schönen Seele ihre Daseinsberechtigung entzieht.77
6 Das Projekt einer Versöhnung von Geist und Sinnlichkeit hat Schiller in der Folge von Über Anmut und Würde nicht aufgegeben; die Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen etwa legen davon beredtes Zeugnis ab.78 Hier, im Kontext des ästhetischen Staates, wo mit den Konzepten etwa des Stoff- und Formtriebs ein neues theoretisches Vokabular entwickelt wird, stellt sich die Frage jedoch anders. In den Briefen spricht Schiller mit Bezug auf das Gleichmaß von Geist und Sinnen zwar noch von der „Seele der Schönheit“79, nicht jedoch von der Schönheit der Seele. Zwar taucht die Chiffre der ‚schönen Seele’ noch gelegentlich in seinen Schriften auf, doch steht sie unter diesem Titel nie mehr im Zentrum der Überlegungen. Schiller mag sich dessen bewusst geworden sein, dass mit diesem Begriff eine Tradition aufgerufen wird, die er seinem eigenen Projekt kaum anpassen kann. Schillers Anliegen selbst ist typisch für das 18. Jahrhundert, eine Zeit, in der Empfindsamkeit und Rationalismus, Spontaneität und Reflexion, Freundschaftskult und Autonomiebestrebungen, Natur und Kultur, Nostalgie und Fortschritt stets aufeinander bezogen scheinen – ‚Gegensätze’, die gegeneinander abzuwägen und miteinander zu vereinbaren die Zeit als eine _____________ 76 Auf diese ‚künstliche’ Trennung, welche die ‚Überfrachtung’ des Konzeptes der schönen Seele mit den Ansprüchen des antiken und des christlichen Ideals gleichzeitig nötig werden lässt, scheint auch Henrichs Kritik an Schiller zu zielen, wenn er erklärt: „In Wahrheit ist aber auch [...] jenes Versöhntsein, das Einssein mit sich, von dem mühevollen Tun des Guten nicht so verschieden, daß einmal das eine, dann wieder das andere geschehen könnte. Vielmehr fließt die Anstrengung des Sittlichen aus dem mit der Welt und dem Anspruche des Guten versöhnten Selbstbewußtsein.“ (Henrich, a. a. O., S. 544) 77 Dass Schiller selbst – angesichts der offensichtlichen Schwierigkeiten, wie Norton konstatiert, „with breathtaking calm“ (Norton, a. a. O., S. 243) die Vereinigung von Anmut und Würde fordert (vgl. Schiller, Über Anmut und Würde, a. a. O., S. 300) – muss weniger als Lösung denn als frommer Wunsch betrachtet werden. 78 Tatsächlich legt sein fortgesetztes Ringen um die Lösung dieses Problems in sich wandelnden Formen in nahezu allen seinen philosophischen Schriften beredtes Zeugnis davon ab, dass Schiller selbst die „Spannungen und Unzulänglichkeiten“ seiner Versuche „schmerzlich empfunden“ hat (vgl. Henrich, a. a.O., S. 544 f.). 79 Schiller, Ueber die ästhetische Erziehung, a. a. O., S. 398 f.
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ihrer dringlichsten Aufgaben empfindet. Über Schiller hinaus wird die Entwicklung des Konzepts der schönen Seele zu einem Spiegel dieser Zeit. Wird sie einerseits zunehmend als integratives Ideal konzipiert, das allen Seiten gerecht werden soll, eben dadurch jedoch überfordert ist, da es, um den verschiedenen Anforderungen entsprechen zu können, Elemente ganz unterschiedlicher Traditionslinien, der ‚antiken’, ‚männlichen’ wie der ‚christlichen’, ‚weiblichen’, aufnehmen muss, so korrespondiert dieser Entwicklung andererseits, den unterschiedlichen Bedürfnissen und Strömungen entsprechend, eine nie zuvor da gewesene Vielfalt unterschiedlicher ‚Varianten’ der schönen Seele (die zu einer Aufweichung des Begriffes und zu der von Ralf Konersmann konstatierten „semantischen Streuung“ führt80). Tatsächlich scheinen unter den veränderten Bedingungen der Neuzeit die beiden Hauptvarianten der schönen Seele nicht mehr in ursprünglicher Form zur Verfügung zu stehen, selbst wenn man bestrebt wäre, sie ‚in Reinkultur’ wiederzubeleben. So erscheint die schöne Seele der Bekenntnisse in Wilhelm Meisters Lehrjahren als Beispiel des christlichen Ideals, doch wirkt ihre Religiosität mehr ich- denn gottbezogen, mehr egozentrisches Spiel denn ernsthafte Hingabe, und erscheint eben darum als einseitig und leer. Ihre Nichte Natalie, möglicherweise mehr als Beispiel des antiken Typus der schönen Seele konzipiert, wirkt zwar beständig in der Welt, ihre selbstlos-selbstvergessene, unreflektierte Tätigkeit, die ganz ihrer eigentlichen ‚Natur’ entspringen soll, trägt jedoch bereits wieder Züge des ‚weiblichen’, ‚christlichen’ Ideals und wirkt unglaubwürdig, sie selbst ein eher blutleeres Kunstwesen. Das Defizitäre beider Figuren ist bereits von den Zeitgenossen bemerkt worden. Das theoretische Dilemma der Schillerschen schönen Seele verkörpern vielleicht noch besser zwei andere literarische Gestalten: die des Agathon in Wielands Die Geschichte des Agathon und Rousseaus Heldin Julie in seinem gleichnamigen Roman (Julie ou La nouvelle Héloise). Während Wieland in seinem nicht zufällig vielfach überarbeitetem Werk das immer wieder von Misserfolgen begleitete Ringen des Helden um eine Versöhnung von Ideal und aktiver Teilnahme am Leben zeigt81, scheitert die als unschuldig-unerfahrenes Mädchen von der Liebe überwältigte Julie am Ende an dem Versuch, Neigung und Tugend, individuelle Bedürfnisse und Pflichten der Gemeinschaft gegenüber in Einklang zu bringen. Die Rettung Agathons aus dem Gefäng_____________ 80 S. Ralf Konersmann: Die schöne Seele. Zu einer Gedankenfigur des Antimodernismus, Archiv für Begriffsgeschichte 36 (1933), S. 144-173, hier: S. 161 f. 81 Bemerkenswert auf rein formaler Ebene: Sieht sich Schiller gezwungen, die schöne Seele in schöne und würdige Seele aufzuspalten, so erfährt Agathon (der Gute) im Laufe des Romans eine Umbenennung (durch den hedonistischen Zyniker Hippias) in ‚Kallias’ (der Schöne).
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nis in die patriarchalische Haushaltung eines Freundes, eine begrenzte, kontrollierte ‚Kunstwelt’, am Ende von Wielands Roman muss, ebenso wie der Tod Julies, unter diesen Umständen letztlich als Scheitern der schönen Seele(n) interpretiert werden.
7 Ende des 18. Jahrhunderts befindet sich das Konzept der schönen Seele in einer Krise, von der es sich nie wieder ganz erholen soll. Trotz einer grundsätzlich positiven Aufnahme durch die Romantik82 assoziiert man es im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend mit Krankheit, Wahnsinn, Lebensunfähigkeit83 oder – bestenfalls – Naivität in einem neuen, negativen Sinne, während es im 20. Jahrhundert, ob positiv oder negativ gefasst, endgültig in die Bedeutungslosigkeit versinkt. Inwieweit sich das Schicksal der schönen Seele damit jedoch als beispielhaft für Schillers ursprüngliches Projekt oder gar das übergreifende Anliegen der Aufklärung, als dessen Teil Schillers Unternehmen in Über Anmut und Würde verstanden werden kann, auffassen lässt, kann hier nicht entschieden werden.
_____________ 82 Die ‚Lebensunfähigkeit’ der schönen Seele zeigt sich allerdings auch hier, etwa wenn Friedrich Schlegel den Begriff überträgt auf die im „Übermaß ihrer eigenen Seelenglut zu Grunde“ gehenden Figuren des Harfners und Mignons aus Wilhelm Meisters Lehrjahren (Friedrich Schlegel: Über Goethes Meister. In: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. v. Ernst Behler u. a. Bd. 2. Paderborn 1967, S. 126-146, hier S. 132, 141, 146. 83 Vgl. z. B. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes. Gesammelte Werke. Hrsg. v. Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 9. Hamburg 1980, S. 360.
Sind wir noch immer Barbaren? Ästhetische Bildungskonzepte bei Schiller, Fichte und Nietzsche Lars-Thade Ulrichs I Das Zeitalter der Aufklärung wird bekanntlich zugleich als das „philosophische“ und das „pädagogische Jahrhundert“ bezeichnet. Diese doppelte Benennung lässt sich als eine Reflexion darauf deuten, dass sich im Laufe des 18. Jahrhunderts der Bildungsbegriff allmählich aus dem Aufklärungsgedanken entwickelt, das „Pädagogische“ also aus dem „Philosophischen“ entsteht. Doch obwohl die Vernunft schon zur Zeit der Hochaufklärung in ersten tastenden Versuchen auf eine Einbeziehung ihres ‚Anderen’ zielte, handelte es sich zunächst um einen Gegensatz, insofern die Aufklärung in erster Linie auf die Ausbildung des rationalen Vermögens ging, die Bildungsbewegung dies hingegen als eine nicht gerechtfertigte Reduktion betrachtete und eine ganzheitliche oder allseitige Ausbildung des Menschen zum Ziel hatte – unter Einbeziehung der Leidenschaften, Gefühle und auch des Körpers. Einer wachsenden Zahl von Aufklärern wurde klar, dass eine bloße Unterwerfung der Affektivität unter die Leitung der Vernunft dem menschlichen Leben nicht gerecht wird. In ihren Augen ist Bildung immer zugleich Geschmacks- und Herzensbildung. Dabei ging es jedoch nicht um den Verzicht auf den Erwerb rationalen Wissens, sondern um eine vernünftige Durchdringung der Gefühle. Erst eine derartige ‚reflexive Empfindsamkeit’ – in Schillers Begrifflichkeit ließe sich auch sagen: ein „sentimentales“ Selbstverhältnis1 – konnte, so die Überzeugung dieser Aufklärer, die Dialektik von Vernunft und Leidenschaft, jene im 18. Jahrhundert so wichtige Herz-Kopf-Problematik einer Lösung näher bringen. Genauer betrachtet haben nun an der Entwicklung des Bildungskonzepts im 18. Jahrhundert verschiedene Strömungen einen mehr oder min_____________ 1
Der Begriff des sentimentalen Selbstverhältnisses wird hier in Analogie zur Unterscheidung Schillers zwischen „naiver“ und „sentimentaler“ Dichtung verwendet (vgl. Friedrich Schiller: Weimarer Nationalausgabe, Bd. 20: Philosophische Schriften, 1.Teil, hrsg. v. Benno von Wiese. Weimar 1962, S. 432).
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der exakt bestimmbaren Anteil. Im Hinblick auf die zunehmende Orientierung am ‚ganzen Menschen ist zunächst die pragmatische Popularphilosophie zu nennen, sodann wurde auch die neu sich formierende Disziplin der Anthropologie von großem Einfluss auf die Konstituierung der Bildungsvorstellungen, und schließlich wirkte die von Baumgarten in der Mitte des 18. Jahrhunderts begründete Ästhetik ebenfalls in Richtung eines ganzheitlichen Menschenbildes, indem sie sich nicht nur um eine „Rehabilitation der Sinnlichkeit“2, sondern vor allem um eine Bildung des Geschmacks bemühte. Geschmack zu haben und gebildet zu sein war für viele Aufklärer ein und dasselbe; und Geschmack zeigte man vor allem in der Auseinandersetzung mit der Kunst, die in Folge dessen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts enorm aufgewertet wurde und mehr und mehr zu dem Ort der Bildung avancierte. Diese Strömungen, denen sich eine Vielzahl anderer Einflussfaktoren – wie der Philanthropismus, der Pietismus, die am Ideal der Antike orientierte bildende Kunst oder auch die Naturwissenschaften mit ihren organologischen Modellen an die Seite stellen ließen –, haben einen jeweils unterschiedlich großen, stets aber bedeutenden Anteil an der Entstehung des Bildungs- aus dem Aufklärungsgedanken. Durch sie wird die Bildungsbewegung zugleich zum Teil und Gegensatz der Aufklärung: Wenn im Namen eines ganzheitlichen Erziehungsideals wider eine Verkümmerung des Menschen durch bloße Verstandesausbildung die Bedeutung der Geschmacks- und Herzensbildung betont wird, so artikuliert sich damit in der Bildungsbewegung genau jene Selbstkritik der Aufklärung, welche die Aufklärungsbewegung im Grunde von Anfang an begleitet hat. Es ließe sich sogar die These wagen, dass die Bildungskonzeption die wichtigste Äußerung dieser Selbstkritik der Aufklärung im 18. Jahrhundert ist. In der Bildungsbewegung, könnte man sagen, manifestiert sich eine Aufklärung, die an der Überwindung ihrer eigenen Einseitigkeiten arbeitet.3 In dieser Tradition stehen auch noch Fichte, Schiller und Nietzsche – dies gerät durch ihre jeweilige Zuordnung zum Deutschen Idealismus, zur Weimarer Klassik bzw. zur sogenannten Lebensphilosophie allzu oft aus dem Blick. Insbesondere bei Friedrich Schiller wird die Konzeption von Bildung als Selbstkritik der Aufklärung virulent. Das Entscheidende und nachgerade Revolutionäre seines Beitrags zur Bildungsphilosophie um 1800 ist aber, dass er mit seinen kulturkritischen Überlegungen der Bildungsbewegung zunächst eine geschichtsphilosophische Argumentations_____________ 2 3
Vgl. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. Stuttgart 1981, S. 19. Zu den vorangegangenen Überlegungen vgl. auch: Lars-Thade Ulrichs: Aufklärung durch Bildung – Wissenschaft, Kunst und kulturelles Leben im 18. Jahrhundert. Halle 2008. (= Sachsen-Anhalt und das 18. Jahrhundert; Bd. 1).
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basis gibt, diese jedoch sogleich – unter Rückgriff auf Kantische und Fichtesche Positionen – in Richtung auf ein grundsätzliches subjektivitätstheoretisches Begründungsunternehmen überschreitet, um schließlich sein utopisches Konzept einer ästhetischen Bildung zu formulieren. Im Rahmen seiner Entfremdungstheorie stellt er dabei seinem Zeitalter die Diagnose einer allgemeinen Barbarei. So beschreibt er in Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen neben der Verwilderung in den unteren Schichten vor allem die Depravation in den zivilisierten Klassen der Gesellschaft. Gerade hier lasse sich, so Schiller, die moderne Zerrissenheit und Disharmonie des Menschen beobachten, die durch kulturelle Verfeinerung, insbesondere durch die rein „theoretische Kultur“ der Aufklärung hervorgebracht werde und sich in einer immer stärkeren Spezialisierung und Arbeitsteilung in den Wissenschaften und im Staat manifestiere: Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zum Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft.4
Durch diese einseitige Kultivierung der rationalen Kompetenz des Menschen sieht Schiller die übrigen Kräfte im einzelnen Menschen verkümmern. Freilich ist er sich dessen bewusst, dass durch die Spezialisierung der Fortschritt der menschlichen Gattung beschleunigt wird. Aber einem solchen Gewinn für das Ganze steht stets ein Verlust für den Einzelnen gegenüber (vgl. ÄE, 327 f). So entsteht jene Ambivalenz des Zeitalters, die bald schon zu einem Gemeinplatz jeder Theorie der Moderne wurde: Einerseits ist der moderne Mensch in einem Grade aufgeklärt, der nie zuvor in der Geschichte erreicht war, andererseits sind wir „noch immer Barbaren“ – und zwar in einem Grade, welche die Barbarei des Naturmenschen weit in den Schatten stellt (vgl. ÄE, 331): Wenn die Kultur ausartet, so geht sie in eine weit bösartigere Verderbnis über, als die Barbarei je erfahren kann. Der sinnliche Mensch kann nicht tiefer als zum Tier herabstürzen; fällt aber der aufgeklärte, so fällt er bis zum Teuflischen herab, und treibt ein ruchvolles Spiel mit dem heiligsten der Menschheit.5
_____________ 4 5
Schiller, a. a. O., S. 323. Schillers Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen wird im Folgenden abgekürzt mit ÄE. Aus den Briefen an Augustenburg, zit. nach: Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen. Mit den Augustenburger Briefen hrsg. v. Klaus L. Berghahn. Stuttgart 2000, S. 139.
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So wird die rationale Kultur der Aufklärung zu „eine[r] äußerliche[n] Angelegenheit für innerliche Barbaren“.6 Dieser modernen Barbarei stellt Schiller mit den alten Griechen ein musterhaftes Vor- und Gegenbild gegenüber, innerhalb dessen jedes Individuum als „ein vollkommener Repräsentant seiner Gattung“ erscheint, während im Falle des modernen Menschen Individuum und Gattung auseinanderfallen (vgl. ÄE, 321 f). Johann Gottlieb Fichte dagegen, der seine Gegenwart ebenfalls als ein Zeitalter „der vollendeten Sündhaftigkeit“ bezeichnete7, rechtfertigt zumindest die Arbeitsteilung der modernen Gesellschaft mit dem Hinweis darauf, dass der einzelne Spezialist gerade durch seine Teilnahme an der Gemeinschaft (von Spezialisten) zu einem harmonischen Ganzen werde (vgl. Fichte, Werke 3, 243). Dennoch sollte auch seiner Auffassung nach die allseitige Bildung des Menschen allseitig durchgesetzt werden, also innerhalb der Gesellschaft eine allgemeine Verbreitung finden: [S]o ist in der Forderung, daß in jedem alle seine Anlagen gleichförmig ausgebildet werden sollen, zugleich die Forderung enthalten, daß alle die verschiedenen vernünftigen Wesen auch unter sich gleichförmig gebildet werden sollen. (ebd., 242)8
Eine ähnliche Diagnose wie Schiller und Fichte stellt über ein halbes Jahrhundert später Friedrich Nietzsche dem modernen Zeitalter aus: In seiner Schrift Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten sieht er den Bildungsbereich seiner Zeit durch zwei Hauptströmungen charakterisiert: Zum einen sei er beherrscht vom „Trieb nach möglichster Erweiterung der Bildung“ im Sinne einer Bildung des Volks oder der Masse, zum anderen vom „Trieb nach Verminderung und Abschwächung“ der Bildung i. S. einer Unterordnung der Bildung unter fremde Zwecke oder Lebensformen, insbesondere unter die verschiedenen Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft oder des Staates.9 Beides ist für Nietzsche gleichermaßen Ausdruck von Barbarei. So hält er gemäß seinem elitären Verständnis von Bildung dafür, dass die „allerallgemeinste Bildung [i. S. einer Massenbildung, d. Vf.]“ „eben die Barbarei“ (KSA 1, 668) sei. Einer solchen Entwicklung _____________ 6 7
8
9
Vgl. Rüdiger Safranski: Schiller oder die Erfindung des Deutschen Idealismus. München 2004, S. 410. Johann Gottlieb Fichte: Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters (1806). In: Werke. Auswahl in sechs Bänden. Bd. 4, S. 405. Hrsg. v. Fritz Medicus. Leipzig 1908 ff. Im Folgenden abgekürzt mit Fichte, Werke. Für Fichte muss jedoch bei jeder Bildungsbemühung das „radikale Übel“ des Menschen: die Trägheit – Fichte schreibt lakonisch: „Der Mensch ist von Natur faul.“ – bekämpft und überwunden werden (vgl. dazu auch Peter Rohs: Johann Gottlieb Fichte. München 1991, S. 108). Vgl. Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bdn. Hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari. 2., durchges. Aufl. München 1988, Bd. 1, S. 647. Im Folgenden zit. als KSA.
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könne nur eine „Concentration der Bildung auf Wenige“ begegnen – verbunden mit der Einsicht, dass „das eigentliche Bildungsgeheimnis“ darin bestehe, dass ein ungeheurer Bildungsapparat notwendig sei, um einige wenige wahrhaft Gebildete hervorzubringen (vgl. KSA 1, 665).10 Die Unterordnung der Bildung unter fremde Zwecke oder Lebensformen hingegen könne nur durch eine Stärkung der Selbstgenügsamkeit der Bildung verhindert werden. In seiner unzeitgemäßen Betrachtung Schopenhauer als Erzieher sieht Nietzsche die Bildung nicht nur durch die „Selbstsucht“ des Staates, der (bloß äußerlichen) schönen Form und der Wissenschaft, sondern vor allem durch die „Selbstsucht der Erwerbenden“ bedroht: Die Bildung wird dem Nützlichkeitssinn untergeordnet und nur mehr noch in Absicht auf die Karriere anerkannt – stets nach der Formel: „Möglichst viel Erkenntniß und Bildung – daher möglichst viel Produktion und Bedürfniß – daher möglichst viel Glück“ (KSA 1, 664/667 f). Zweierlei werde dabei von der entstehenden kapitalistischen Gesellschaft gefordert: erstens eine „rasche Bildung, um schnell ein geldverdienendes Wesen werden zu können“ und zweitens eine „gründliche Bildung, um ein sehr viel Geld verdienendes Wesen werden zu können“ (KSA 1, 668). In kritischer Absicht äußert sich wahre Bildung für Nietzsche hingegen in einem „stark entzündete[n] Gefühl für das Spezifische unserer gegenwärtigen deutschen Barbarei, für das, was uns als Barbaren des neunzehnten Jahrhunderts so merkwürdig von den Barbaren anderer Zeiten unterscheidet“ (KSA 1, 650). Unterschieden aber sind die modernen Barbaren von denen anderer Zeiten, wie er in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben darlegt, vor allem durch die zum Selbstzweck gewordene historische Bildung – gemäß der „Forderung, dass die Historie Wissenschaft sein soll“ (KSA 1, 271 f). Die „Entartung“ des modernen Menschen sei dem entsprechend gekennzeichnet durch die Disharmonie von innerem Gehalt und äußerer Form; die moderne Bildung aber erscheint bei Nietzsche als „keine wirkliche Bildung, sondern nur [als] eine Art Wissen um die Bildung“, die das Individuum zu einer bloßen lebenden Enzyklopädie, einem „Handbuch innerlicher Bildung für äusserliche Barbaren“ mache (KSA 1, 272 ff). Es lässt sich also behaupten, dass sich barbarische Unbildung für Nietzsche in einem falschen Selbst-Bewusstsein, einer missverstandenen Reflexivität oder einem gleichsam „sentimentalen“ Selbstverhältnis im schlechten Sinne äußert, in dem der Mensch sich selbst fremd gegenüber steht: Bloße Verstandesbildung, insbesondere eine ausschließlich historische Gelehrsamkeit führe zur Zerstörung der inneren Einheit, sie _____________ 10 Vgl. auch KSA 1, 698: „[N]icht Bildung der Masse kann unser Ziel sein: sondern Bildung der einzelnen ausgelesenen, für große und bleibende Werke ausgerüsteten Menschen.“
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mache uns zu lebenden Enzyklopädien, denen das Wissen rein äußerlich bleibe und niemals zur echten Bildung werde. Und auch die „Arbeitstheilung in der Wissenschaft“ zeitigt in den Augen Nietzsches nur das Ergebnis einer Verminderung der Bildung – äußerlich sichtbar in der Heraufkunft eines oberflächlichen, sich auf allen Gebieten informiert gebenden Journalismus (vgl. KSA 1, S. 669 f). Diese Arbeitsteilung reiße die „bedenkliche Kluft zwischen Inhalt und Form“ im Menschen nur noch weiter auf. Nietzsche geht sogar so weit zu behaupten, dass „das allseitige Gewährenlassen der sogenannten freien Persönlichkeit [..] nichts anderes als das Kennzeichen der Barbarei“ sei (KSA 1, 681).11
II Schillers erstes Anliegen in seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen war es zu ermitteln, wodurch ein solch barbarischer Zustand behoben werden könnte, wie man also die „Totalität in unsrer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wieder herzustellen“ vermöchte (ÄE, 328). Dies könne jedoch, so Schiller, nicht durch den Staat geschehen, da der bisherige Staat diese Entwicklung verschuldet oder zumindest begünstigt habe, ein höherer Staat aber auf der Totalität des Menschen bereits aufbauen müsste bzw. diese voraussetzte (vgl. ÄE, 328). Schiller sah also deutlich jene Zirkularität des Arguments, die ihm Fichte später zum Vorwurf machen sollte: Die theoretische Kultur soll die praktische herbeyführen und die praktische doch die Bedingung der theoretischen seyn? Alle Verbesserung im politischen soll von Veredlung des Charakters ausgehen – aber wie kann sich unter den Einflüssen einer barbarischen Staatsverfassung der Charakter veredeln? (ÄE, 332 f)
Die modernen gesellschaftlichen Bedingungen sind demnach für Schiller nicht geeignet, dem Menschen zu einer Existenz in einer seiner sinnlichgeistigen Doppelnatur gerecht werdenden Weise zu verhelfen.12 Vielmehr sei es notwendig, eine autonome Sphäre zu identifizieren, die „sich einer absoluten Immunität von der Willkühr der Menschen“ erfreut, um wahre Bildung zu ermöglichen und dadurch die verlorene Totalität des Menschen _____________ 11 Zu Nietzsches Bildungsphilosophie vgl. auch Lars-Thade Ulrichs: Braucht ein Übermensch noch Bildung? Nietzsches Ideen zu einer ästhetischen Erziehung vor dem Hintergrund der ‚Ästhetischen Briefe’ Schillers. In: Nietzsche-Forschung. Jb. d. Nietzsche-Gesellschaft 12 (2005), S. 111-124. In diesem Aufsatz gehe ich auch auf die Spätphilosophie Nietzsches ein, die hier ausgeblendet wird. 12 Vgl. Thomas Schütze: Ästhetisch-personale Bildung. Eine rekonstruktive Interpretation von Schillers zentralen Schriften zur Ästhetik aus bildungstheoretischer Sicht. Weinheim 1993, S. 243.
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wiederherzustellen. Als diese Sphäre bestimmt Schiller die Kunst, die dadurch zu einer autonomen Kunst wird. Wahre Bildung ist für ihn entsprechend ästhetische Bildung. Warum aber vermag, so ist zu fragen, nur die schöne Kunst bzw. der ästhetische Zustand zu wahrer Bildung zu verhelfen? Weil nur die Kunst, allgemeiner: die Beschäftigung mit dem Schönen den ganzen Menschen bildet. Soll der Mensch kein bloßes Bruchstück, kein Rädchen in der (Staats-)Maschine sein, so muss die Bildung selbst ganzheitlich sein, „weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden“: Ausbildung des Empfindungsvermögens ist also das dringendere Bedürfniß der Zeit, nicht bloß weil sie ein Mittel wird, die verbesserte Einsicht für das Leben wirksam zu machen, sondern selbst darum, weil sie zu Verbesserung der Einsicht erweckt. (ÄE, 332)
Eine solche „Ausbildung des Gefühlsvermögens“ ist also laut Schiller der „Ausbildung des Vernunftvermögens“ an die Seite zu stellen, will die Bildung der eigentümlichen Doppelnatur des Menschen gerecht werden. So schreibt er in Anmut und Würde: Es lassen sich in allem dreyerley Verhältnisse denken, in welchen der Mensch zu sich selbst, d. i. sein sinnlicher Teil zu seinem vernünftigen stehen kann. [...] Der Mensch unterdrückt entweder die Foderungen seiner sinnlichen Natur, um sich den höhern Foderungen seiner vernünftigen gemäß zu verhalten; oder er kehrt es um, und ordnet den vernünftigen Theil seines Wesens dem sinnlichen unter [...] oder die Triebe des letztern setzen sich mit den Gesetzen der erstern in Harmonie, und der Mensch ist einig mit sich selbst. 13
Die Bildungsproblematik wird nun von Schiller mit dem Kantischen Selbstbestimmungspostulat verknüpft, so dass die freie Selbstentfaltung des Menschen nicht bloß den individualistischen Vollzug der Existenz, sondern zugleich auch die gelingende Gestaltung eines Menschenlebens innerhalb der Gattungsbestimmtheit als sinnlich-vernünftigen Doppelwesens meint.14 Erst auf der Basis einer so verstandenen personalen Selbstgestaltungspotenz gerät Selbstbestimmung zu einem Bildungsprozess der vernünftigen Person ohne gewaltsame Unterdrückung der sinnlichleiblichen Triebhaftigkeit – sie führt in einem gelingenden Leben zu einer Harmonie von affektivem und kognitivem Potential und damit zu einer ganzheitlichen Existenz15, in der sich das Individuum in einem „Zustand des Gemüths [befindet], wo Vernunft und Sinnlichkeit – Pflicht und Neigung – zusammenstimmen“ (AuW, S. 282). _____________ 13 Schiller, Weimarer Nationalausgabe, Bd. 20, S. 280. Anmut und Würde wird im Folgenden abgekürzt mit AuW. 14 Vgl. Schütze, a. a. O., S. 112. 15 Vgl. Schütze, a. a. O., S. 134.
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Reduzierten sich jedoch die Ausführungen Schillers allein auf die Bestimmung des Menschen als eines vernünftig-sinnlichen Doppelwesens und auf die Forderung nach einer ganzheitlichen Bildung, wären sie im Kontext des ausgehenden 18. Jahrhunderts philosophisch kaum von Belang. Die Pointe ist vielmehr, dass die Bildungsphilosophie Schillers in umfassendere – teils anthropologische, teils subjektivitätstheoretische – Ausführungen integriert sind, die zwar ebenfalls dualistisch organisiert sind, dabei aber bereits auf eine – letztlich metaphysische – Dialektik der menschlichen Existenz verweisen.
III Schillers Überlegungen speisen sich bekanntlich aus dem Ungenügen an dem dualistischen Menschenbild Kants, das auf dem Gebiet der theoretischen Philosophie in der Zwei-Stämme-Lehre der Erkenntnis sichtbar wird, auf dem Feld der praktischen Philosophie zur Entgegensetzung von Pflicht und Neigung führt und sich im Bereich der Metaphysik in der Gegenüberstellung von intelligibler und empirischer Sphäre, von Freiheit und Notwendigkeit manifestiert. Dennoch entwickelt Schiller zunächst ebenfalls ein dualistisches Modell, um dieses jedoch mit Hilfe des Begriffs der Wechselwirkung oder des Wechselverhältnisses hin zu einer dritten Instanz zu überschreiten. In einem ersten Schritt trifft Schiller die an der Differenz von Substanz und Akzidenz orientierte Unterscheidung zwischen Person oder Selbst, mit dem er das bezeichnet, was im Menschen bleibt, auf der einen und den Zuständen dieser Person bzw. den Bestimmungen des Selbst auf der anderen Seite, mit denen dasjenige gemeint ist, was sich unaufhörlich im Menschen verändert. Gemäß seiner mit Fichte geteilten Überzeugung vom Primat des Praktischen spezifiziert Schiller diese Unterscheidung näherhin mit Hilfe von Begriffen der praktischen Philosophie: Die Person ist danach „ihr eigener Grund“; mit ihr verbindet sich das Postulat der Selbstbestimmung oder die „Idee des absoluten, in sich selbst gegründeten Seyns, d. i. die Freyheit“; die Zustände hingegen stehen unter der „Bedingung alles abhängigen Seyns oder Werdens“, nämlich unter den Bedingungen der Zeit und der Kausalität (vgl. ÄE, 341 ff). Diese Differenz wird nun von Schiller weiter ausgefaltet – und zwar in Orientierung an der Kantischen Unterscheidung zwischen Spontaneität und Rezeptivität. Entsprechend ordnet Schiller der beharrenden Person die Vernunft zu, die dem Stoff der sinnlichen Empfindung allererst die Form gibt und dadurch die Beharrlichkeit und Einheit der Person gewährleistet. Gemäß der Fichteschen Lehre, dass das Ich ein Handeln oder Tun sei, nennt Schiller dieses Vermögen den
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Formtrieb; er ist Ausdruck der Selbstständigkeit und Aktivität des Subjekts. Dem gegenüber steht die Sinnlichkeit, welche die menschliche Erkenntnis mit der Materie in Berührung setzt und den Realitätsbezug herstellt bzw. dem Subjekt eine veränderliche und mannigfaltige Welt schafft. Dieses Vermögen bezeichnet er auch als Stofftrieb, der Ausdruck der Abhängigkeit und Passivität des Subjekts sei. Beide „Tendenzen“ stehen für Schiller zwar im Widerspruch, aber nicht „in denselben Objekten“ – es handelt sich daher um keinen absoluten Widerspruch (ÄE, 347 f). Vielmehr stehen beide Triebe im Verhältnis wechselseitiger Unterordnung – sie sind „zugleich subordiniert und coordiniert“ – und können und müssen in Wechselwirkung treten, um ein gelingendes Weltverhältnis zu ermöglichen. Sie sind gleichursprünglich und stets aufeinander angewiesen: „ohne Form keine Materie, ohne Materie keine Form“ (ÄE, 347 f). Von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass Triebe für Schiller die „einzigen bewegenden Kräfte in der empfindenden Welt“ sind. Eine solche Auffassung ist aber verständlich allein vor dem Hintergrund (a) eines Primats des Praktischen, d. h. der Lehre Fichtes, dass das Wesen des Ich durch und durch praktisch und selbst das Sein noch aus dem Tun abzuleiten sei, und (b) eines idealistischen Standpunkts, nach dem auch der materielle Stoff noch eine Setzung des Ich ist und so auch die sinnliche Empfindung letztlich zu dessen Sphäre gehört. Auch jede Form von Bildung hat für Schiller mit dieser dualistischen Struktur des Menschen zu rechnen: Wird die Entwicklung des Menschen als dialektischer Prozess von Selbst- und Weltgestaltung bestimmt, ergibt sich daraus als Aufgabe der Kultur, beiden Trieben „gleiche Gerechtigkeit“ widerfahren zu lassen, d. h. „erstlich: die Sinnlichkeit gegen die Eingriffe der Freyheit zu verwahren: zweytens: die Persönlichkeit gegen die Macht der Empfindungen sicher zu stellen“. Dies bedeutet, dass Bildung gleichermaßen „Ausbildung des Gefühlsvermögens“ wie „Ausbildung des Vernunftvermögens“ ist und zu sein hat (ÄE, 348 f), wobei die Realisierung beider Grundtriebe aufgrund ihres dialektischen Wirkungszusammenhangs notwendigerweise einer Einschränkung jedes der beiden Triebe durch den jeweils anderen gleichkommt16. Dieses „Wechselverhältniß beyder Triebe“ ist jedoch eine „Aufgabe der Vernunft, die der Mensch nur in der Vollendung seines Daseyns ganz zu lösen im Stand ist“; es handelt sich also um einen Approximationsbegriff oder ein Ideal, in Schillers Worten: um „ein unendliches, dem er sich im Laufe der Zeit immer mehr nähern kann, aber ohne es jemals zu erreichen“ (ÄE, 352 f). Eine einseitige Befriedigung von Stoff- oder Formtrieb führe hingegen zu einer Verfehlung der Bestimmung des Menschen. _____________ 16 Vgl. Schütze, a. a. O., S. 179.
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Um der Notwendigkeit einer Synthese oder Vermittlung Genüge zu tun, wird Schiller auf die Annahme eines dritten Triebes geführt: diese Aufgabe der Vermittlung erfüllt der Spieltrieb. Die Annahme eines solchen Spieltriebs ist laut Schiller ein Postulat, das die Vernunft aufgrund ihres Strebens nach Einheit und Vollkommenheit formuliert (ÄE, 356). Schiller fasst zusammen: Der sinnliche Trieb will bestimmt werden, er will sein Objekt empfangen; der Formtrieb will selbst bestimmen, er will sein Objekt hervorbringen; der Spieltrieb wird also bestrebt seyn, so zu empfangen, wie er selbst hervorgebracht hätte, und so hervorzubringen, wie der Sinn zu empfangen trachtet. (ÄE, 354)
IV Nun ist es ein fundamentales Problem der Schillerschen Argumentation, dass er zwischen den genannten Begriffsreihen (Person – Freiheit – Vernunft – Formalität – Formtrieb – Aktivität auf der einen, Zustand – Notwendigkeit – Sinnlichkeit – Realität – Stofftrieb – Passivität auf der anderen Seite) nur Analogien herstellt, ohne die Begriffe sauber zu definieren oder auch nur klar von einander abzugrenzen. Zudem weiß man nie recht, in welchem Kontext – ob im epistemologischen, praktischen oder ästhetischen – Schiller sich gerade bewegt. Dies stellt die Argumentationsanalyse vor besondere Schwierigkeiten, bietet andererseits aber auch Anknüpfungspunkte, über die begrifflich klarer organisierte Texte in der Regel nicht verfügen.17 Im Folgenden soll darum mit Fichte, Schelling und Schopenhauer kurz dargelegt werden, dass der Schillersche Antagonismus von Stoff- und Formtrieb Ausdruck einer tiefer liegenden Dialektik ist, der metaphysischen Dialektik nämlich von Person und Subjekt – Ausdruck dessen also, was Henrich das „Grundverhältnis“ genannt hat. Betrachtet man Fichtes Schrift Die Bestimmung des Menschen in toto, erkennt man folgende Struktur: Nachdem im Abschnitt Zweifel der Standpunkt der ‚natürlichen Denkart’ des (materialistischen und deterministischen) Realismus dargelegt wurde, wird dieser einseitigen Perspektive im Abschnitt Wissen der ebenfalls letztlich einseitige Standpunkt des (subjektiven) Idealismus entgegengestellt. Beide Perspektiven werden sodann im Abschnitt Glaube vom Standpunkt der praktischen Selbstbestimmung her überschritten. Auf diesem artikuliert sich, so Fichte, zunächst nur ein dumpfes Unbehagen gegenüber der idealistischen Position, näherhin aber die Selbstauffassung des Menschen als eines Willens, der primär in einem _____________ 17 Dies soll allerdings kein Freibrief für die Beliebigkeit der Interpretation sein.
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praktischen Selbstverhältnis steht.18 Fichte entwickelt also eine Antinomie von transzendentem Realismus auf der einen und dogmatischem Idealismus auf der anderen Seite, um diese schließlich aus der Perspektive des praktischen Selbstverhältnisses aufzulösen. Zunächst stellt Fichte die natürliche Denkart dar, die – mit Hilfe des Begriffs einer „bildende[n] Kraft in der Natur“ – eine Ansicht des Universums als eines organischen Ganzen entwirft, das unter dem Gesetz strenger Notwendigkeit steht (vgl. Fichte, Werke 3, 273 f). Der Mensch ist danach bloß ein Teil in diesem Naturganzen (ebd., 275) und in seinem Denken und Handeln ebenso streng determiniert wie alle anderen Entitäten; sein Wille ist aus diesem Blickwinkel nichts weiter als „das unmittelbare Bewußtsein der Wirksamkeit unserer inneren Naturkräfte“ (ebd., 283 f)19 und das Freiheitsbewusstsein nur eine Täuschung des unmittelbaren Selbstbewusstseins (ebd., 280). Verknüpft sich diese natürliche Denkart mit einer evolutionistischen Sichtweise, so erhält der Mensch dadurch seine Dignität, dass er zu derjenigen Instanz wird, in dessen Bewusstsein sich die gesamte Natur spiegelt (ebd., 280 f). Gegen diese natürliche, in letzter Konsequenz zum Materialismus führende Sicht von Welt und Mensch stellt Fichte den Standpunkt des Idealismus, der dem Menschen aufgrund seines Bedürfnisses nach Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung zwar notwendig sei, der aber die Welt zu einem bloßen Traum verflüchtige (ebd., 285 ff): Es gibt überall kein Dauerndes, weder außer mir, noch in mir, sondern nur einen unaufhörlichen Wechsel. Ich weiß überall von keinem Sein, und auch nicht von meinem eigenen. Es ist kein Sein. – Ich selbst weiß überhaupt nicht, und bin nicht. Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder: – Bilder, die vorüberschweben, ohne daß etwas sei, dem sie vorüberschweben [...] Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum [...]. (ebd., S. 341)
Die Antinomie von Idealismus und Realismus hat in den Augen Fichtes zur Folge, dass der Mensch eine „doppelte Art des Seins“ hat, wobei sowohl für den Standpunkt „der Übersicht des Universums“ (natürliche Denkart) als auch für den „des unmittelbaren Bewußtseins deines Selbst“ (idea_____________ 18 Der Standpunkt der praktischen Selbstbestimmung unternimmt dabei den Versuch einer Rettung der Freiheit – gemäß dem Ziel der idealistischen Philosophie um 1800, ein „System der Freiheit“ (vgl. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: Werke. Nach d. Originalausgabe in neuer Anordnung hrsg. v. M. Schröter. München 192754, ND 1962-71, Bd. 3, S. 376; im Folgenden zitiert als Schelling, Werke) zu formulieren. 19 Die Neigung oder Begierde ist entsprechend „das unmittelbare Bewußtsein eines Strebens dieser Kräfte, das noch nicht Wirksamkeit ist“ (ebd.).
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listische Denkart) gelte, dass „keine von beiden Behauptungen hinlänglich begründet“ (ebd., 291) sei. Diese Ausführungen Fichtes – in deren Kontext m. E. auch die Überlegungen Schillers zu sehen sind – führen auf das, was Henrich das „Grundverhältnis“20 genannt hat. Hiermit ist die von jedermann mehr oder minder deutlich zu machende Erfahrung gemeint, dass man sich gleichursprünglich als Subjekt und damit als tragenden Mittelpunkt seiner Welt begreift und als eine einzelne Person unter vielen anderen, d. h. sowohl unter anderen Personen, die sich gleichermaßen als Subjekte auffassen, als auch unter einem Viel anderer Entitäten – als ein Einzelner also, der in dem Gesamt der eigenen Spezies und erst recht im Weltganzen eine bloß verschwindende Bedeutung hat.21 Der Mensch in seiner „doppelten Art des Seins“ betrachtet sich also – in der Terminologie Fichtes – zugleich aus der Perspektive der realistischen (als Person) und der idealistischen Denkart (als Subjekt). Seine Aufgabe besteht aber darin, beide Auffassungsweisen mit einander zu vereinbaren und zu einem Ganzen zu fügen. Nach Schiller wäre dies ein „Postulat der Vernunft“. Philosophisch verlangt der Gegensatz dieser beiden unvereinbaren Auffassungsweisen nach einer Deutung. Diese Deutung muss entsprechend der antinomischen Struktur der Grunderfahrung ebenfalls in zwei Richtungen erfolgen: sie muss zum einen den Sachverhalt auslegen, dass die gesamte Welt in meinem Kopfe ist, also vom Subjekt ausgehend zu dem gelangen, was für dieses Subjekt ist (die Gesamtheit der Natur als Objekt), zum anderen aber auch eine Interpretation des Umstandes leisten, dass dieser Kopf, in dem sich die ganze Welt darstellt, wiederum in der Welt ist und von der Natur in irgendeiner Form hervorgebracht wurde, d. h. vom Objekt ausgehend zu dem fortschreiten, was in dieser Hinsicht zwar ebenfalls ein Objekt unter anderen ist, aber dabei die besondere Eigenschaft hat, Träger eines erkennenden und handelnden Subjekts zu sein: zur Person.22 Diese Deutung muss des weiteren eine metaphysische sein, wenn Metaphysik diejenige Wissenschaft ist, die auf das Ganze des Seins und seinen Grund geht, und sie muss sich als eine spekulative erweisen, insofern Spekulation ursprünglich so viel heißt wie eine Übersicht über das Ganze zu _____________ 20 Vgl. hierzu Dieter Henrich: Fluchtlinien. Philosophische Essays. Frankfurt a. M. 1982, v. a. S. 20 f, S. 91 f sowie S .154 f. 21 Eine eindrückliche Schilderung dieses antinomisch verfassten Sachverhaltes findet sich bei Arthur Schopenhauer: Werke in 5 Bänden. Nach den Ausg. letzter Hand hrsg. v. Ludger Lütkehaus. Zürich 1988, Bd. 2 (Die Welt als Wille und Vorstellung II; im folgenden zit. als WWV II), S. 11 ff. 22 Vgl. hierzu bei Schelling den § 1 des Systems des transzendentalen Idealismus (Schelling, Werke 2, 339 ff) sowie die §§ 1-4 der Einleitung zu einem ersten Entwurf der Naturphilosophie, (Schelling, Werke 2, 269 ff, insbes. 272).
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erlangen23. Was hiermit in Frage steht, ist nichts Geringeres als eine Bestimmung der „Stellung des Menschen im Kosmos“. Das aber heißt, dass zugleich und in eins mit einer Klärung der Begriffe von Subjekt und Person ein Welt- bzw. Naturbegriff entwickelt werden muss – ein Naturbegriff aber, der den Menschen als Subjekt und Person einbezieht. Verlangt ist also nach einer hermeneutischen Metaphysik, die sich jedoch zugleich aus empirischen Erkenntnisquellen speist – nach einem Metaphysikbegriff also, der die Kantischen Restriktionen in doppelter Weise überschreitet: einerseits als einer nicht bloß formalen Metaphysik aus Begriffen a priori, andererseits als einer solchen, welche die Vernunftidee von der Einheit der Natur zu realisieren versucht und über deren bloß regulativen Gebrauch hinausgeht. Diesem Anspruch versuchen vor allem die philosophischen Systeme Schellings und später Schopenhauers zu genügen. Entsprechend der antinomischen Struktur des Grundverhältnisses sind sie dialektisch verfasst, insofern sie in den beiden Betrachtungsrichtungen vom Menschen zur Natur und von der Natur zum Menschen vorgehen. Diese doppelte Betrachtungsweise wird zunächst im Bereich der Erkenntnistheorie erprobt, wo sie sich als antinomischer Gegensatz von transzendentalem Idealismus und zum Materialismus führendem Realismus offenbart. Hierfür hatte Fichte die Vorgabe geleistet, indem er die beiden Grundoptionen von Idealismus und Realismus in voller Schärfe gegeneinander gestellt hat; sein Lösungsvorschlag, wonach es sich hierbei letztlich um eine existentielle Entscheidung zwischen zwei Weisen des menschlichen Selbstverständnisses handle, konnte seine Nachfolger jedoch nicht befriedigen.24 Zwar billigten sie sowohl dem Idealismus als auch dem Realismus durchaus ihre volle Berechtigung zu – wenngleich mit der Einschränkung der Einseitigkeit –, doch taten sie dies aus logischen Gründen, d. h. weil sie beiden Theoriemodellen nicht nur einen legitimen Ansatzpunkt, sondern auch eine gewisse Folgerichtigkeit zumaßen. Und aus ebenfalls logischen Gründen präferierten sie die (transzendental-)idealistische Option, da nur diese eine stringente Ableitung zu geben vermöchte – mit der Konsequenz, dass die legitimen Ansprüche der realistischen Theorie, die aus dem „Gefühl des Zwangs“ bzw. der Rezeptivität einerseits25 und aus dem intuitiven „innere[n] Widerstreben [..], mit welchem er [i. e. jeder Mensch, d. Vf.] die Welt als seine bloße Vorstellung annimmt“26, andererseits herrührten, nicht innerhalb der _____________ 23 Vgl. Dieter Henrich: Bewußtes Leben. Untersuchungen zum Verhältnis von Subjektivität und Metaphysik. Stuttgart 1999, S. 94 f. 24 Vgl. – neben den obigen Ausführungen in der Bestimmung des Menschen – Fichte, Werke 3, 16 f. 25 Vgl. Schelling, Werke 3, 343 u. 346. 26 Schopenhauer, WWV I, 32.
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Erkenntnistheorie, sondern nur im Rahmen der Metaphysik zu erfüllen seien. Nicht also die – mehr oder minder bewusste – Überzeugung von der Plausibilität des empirischen Materialismus, sondern der Wille als eine Tatsache des Selbstbewusstseins steht hinter jenem intuitiven Ungenügen an der Reduzierung der Wirklichkeit auf eine bloße Erscheinung: Der Wille tritt als das „schlechthin Reale“ auf, und der logisch inkonsistente, aber in gewissen Grenzen plausible Realismus wird im Rahmen der Metaphysik gesichert. Über alle Differenzen im Detail hinweg verbindet diese Position Schelling und Schopenhauer mit Fichte. Auf dem Standpunkt des Willens, also des praktischen Selbstverhältnisses erkennt der Mensch: Es ist eben so wahr, daß das Erkennende ein Produkt der Materie sei, als daß die Materie eine bloße Vorstellung des Erkennenden sei: aber es ist auch eben so einseitig. (Schopenhauer, WWV II, 23)27
Durch die Analyse der „Antinomie in unserem Erkenntnißvermögen“ wurde aber die Einführung einer dialektischen Grundstruktur in das spekulative Denken erreicht – eine Grundstruktur, die nun auch in der eigentlichen Metaphysik wiederkehrt, hier jedoch eine andere Gestalt annimmt als in dem erkenntnistheoretischen Gegensatz von Idealismus und Materialismus, indem dieser ersetzt wird durch ein dialektisches Verhältnis von transzendentalem Idealismus und metaphysischem Realismus und sich dadurch letztlich als ein Missverständnis erweist.28 Ähnlich wie bei Schelling und Schopenhauer soll auch bei Fichte die Antinomie von Idealismus und Realismus vom praktischen Standpunkt aus überwunden werden, wonach das „Tun“ die ganze Bestimmung des Menschen und der „Trieb zu absoluter, unabhängiger Selbsttätigkeit“ „unzertrennlich vereinigt mit dem Bewußtsein meiner selbst“ sei (Fichte, Werke 3, 345). Dem entsprechend schreibt Fichte: [D]er notwendige Glaube an unsere Freiheit und Kraft, an unser wirkliches Handeln, und an bestimmte Gesetze des menschlichen Handelns ist es, welcher alles Bewußtsein einer außer uns vorhandenen Realität begründet – ein Bewußtsin, das selbst nur ein Glaube ist, da es auf einen Glauben sich gründet [...]. Wir handeln nicht, weil wir erkennen, sondern wir erkennen, weil wir zu handeln bestimmt sind; die praktische Vernunft ist die Wurzel aller Vernunft. (ebd., 359)
Innerhalb der Antinomie von dogmatischem Idealismus und transzendentem Realismus besitzt bei Fichte die Einbildungskraft eine wichtige Funktion: _____________ 27 Vgl. auch Schopenhauer, WWV I, 65. Spierling sieht hierin die „antiidealistische Wende“ (vgl. Volker Spierling: Schopenhauers transzendentalidealistisches Selbstmißverständnis. Prolegomena zu einer vergessenen Dialektik. München 1977, S. 93 ff) oder auch die „kopernikanische Drehwende“ (vgl. ders.: Materialien zu Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“. Frankfurt a. M. 1984, S. 37 ff) in Schopenhauers Philosophie. 28 Vgl. Schopenhauer, WWV I, 156.
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Man sollte weder auf das Eine allein, noch auf das Andre allein, sondern auf beides zugleich reflektieren; zwischen den beiden entgegengesetzten Bestimmungen dieser Idee mitten inne schweben. Dies ist nun das Geschäft der schaffenden Einbildungskraft. (Fichte, Werke 1, 476)
Die Einbildungskraft wird dabei als „ein Vermögen [bestimmt], das zwischen Bestimmung und Nicht-Bestimmung, zwischen Endlichem und Unendlichem in der Mitte schwebt“: Jenes Schweben eben bezeichnet die Einbildungskraft durch ihr Produkt: sie bringt dasselbe gleichsam während ihres Schwebens, und durch ihr Schweben hervor. (ebd., 410)
Die Einbildungskraft ist also bei Fichte ein synthetisches Vermögen, das zwischen den Sphären von Ich und Nicht-Ich vermittelt. Ohne selbst realitätssetzend zu sein (dies ist laut Fichte nur das Ich), setze es Ich und NichtIch in eine intentionale Wechselwirkung und verbürge somit die Realität. Dahinter steht bei Fichte die Auffassung, dass innerhalb des Ich ein Wechselverhältnis von endlichem und unendlichem Ich, das wiederum bedingt sei durch und bedingend für das Verhältnis nach außen zum Nicht-Ich, oder eine wechselseitige Bestimmung von zentripetaler (reflexiver) und zentrifugaler (nach außen gehender) Richtung der Tätigkeit statthabe.
V Der schwierige Begriff der Einbildungskraft, der sowohl in der theoretischen als auch in der praktischen Philosophie nicht nur Fichtes als ein Platzhalterbegriff fungiert und als ein solcher dennoch zugleich ins Zentrum der Philosophie gelangt, wurde nur kurz gestreift, um verständlicher zu machen, dass dort, wo bei Fichte die praktische Philosophie in den Fokus des Interesses rückt, bei Schiller der ästhetische Zustand, der Spieltrieb und die Kunst in Recht und Funktion treten.29 Für Schiller ist nämlich das Gebiet des Ästhetischen der Ort, wo das antinomische Grundverhältnis des Menschen zu seinem adäquaten Ausdruck kommt, indem es innerhalb der Kunst spielerisch artikuliert wird. Das Spiel bringt die Antinomie von Stoff- und Formtrieb in die Schwebe: alles erscheint hier, wie Schiller sagt, „klein und leicht“; im Spiel der Kunst befinden sich Vernunft und Sinnlichkeit in Harmonie, im Spiel bin ich zugleich als Subjekt und Person beteiligt und aufgehoben und damit als ganzer Mensch angesprochen und beschäftigt. Der Spieltrieb übernimmt demnach die Aufgabe der Vermittlung zwischen den beiden Seiten des _____________ 29 Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass die Einbildungskraft schon innerhalb der Aufklärungsphilosophie in der Ästhetik verortet wurde.
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Menschseins, die Schiller mit den Begriffen Stoff- und Formtrieb beschreibt und die wir mit dem Hinweis auf das antinomische Grundverhältnis von Subjekt und Person näher zu erläutern versucht haben. „Durch den Spieltrieb werden die antagonistischen Triebe in ein Wechselverhältnis gebracht, in dem sie ‚zugleich subordiniert und coordiniert’ sind“ – heißt in der hier vorgestellten Interpretation: die beiden gleichursprünglichen Selbstauffassungsweisen des Menschen als Subjekt und Person kommen innerhalb des schönen Spiels der Kunst gleichermaßen zu ihrem Recht. Erst indem sich der Mensch zugleich als bestimmt und bestimmend, als abhängig von der natürlichen, sinnlich gegebenen Welt und als freies und selbstbestimmtes Subjekt begreift, handelt er als ein ganzer Mensch. Diese schlechthin metaphysische Leistung vollbringt aber für Schiller allein die Kunst bzw. die ästhetische Bildung. Erst vor diesem Hintergrund wird die Aussage verständlich: [D]er Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. (ÄE, 358 f)
Den ästhetischen Zustand beschreibt Schiller nun näher als eine mittlere Stimmung, „in welcher Sinnlichkeit und Vernunft zugleich thätig sind“; als solche ist er eine „freye Stimmung“ bzw. eine „erfüllte Unendlichkeit“ (ÄE, 375). Dabei ist der ästhetische Zustand laut Schiller einerseits „Null“, da er „in Rücksicht auf Erkenntniß und Gesinnung [..] völlig indifferent und unfruchtbar“ sei und weder einen moralischen Zweck noch eine Wahrheit beinhalte, andererseits aber der Zustand der höchsten Realität bzw. „die höchste aller Schenkungen, [..] die Schenkung der Menschheit“, da er die Möglichkeit gebe, „aus sich selbst zu machen, was er [der Mensch] will“, insofern ihm hier „die Freyheit, zu seyn, was er seyn soll, vollkommen zurückgegeben“ sei (ÄE, 377 ff). Der ästhetische Zustand ist daher „ein Ganzes in sich selbst“: Eben deswegen, weil sie [die ästhetische Stimmung] keine einzelne Funktion der Menschheit ausschließend in Schutz nimmt, so ist sie einer jeden ohne Unterschied günstig, und sie begünstigt ja nur deswegen keine einzelne vorzugsweise, weil sie der Grund der Möglichkeit von allen ist. (ÄE, 379)
Für den Bereich der ästhetischen Bildung bedeutet dies in den Augen Schillers: „[E]s giebt keinen andern Weg, den sinnlichen Menschen vernünftig zu machen, als daß man denselben zuvor ästhetisch macht.“ (ÄE, 383) Denn: Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet; durch die Schönheit wird der geistige Mensch zur Materie zurückgeführt, und der Sinnenwelt wiedergegeben. (ÄE, 365) 30
_____________ 30 Schillers Schönheitsbegriff kann an dieser Stelle nicht näher betrachtet werden. Es sei nur erwähnt, dass für Schiller durch die betrachtende oder ästhetische Perspek-
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Ein ästhetisch gebildeter Mensch ist – so lässt sich vor dem Hintergrund der Interpretation Schillers aus der Perspektive des Grundverhältnisses sa-gen – ein solcher, der gerade dadurch, dass er sein doppeltes Selbstverhältnis als Subjekt und Person in das dialektische Wechselverhältnis des schönen Spiels setzt, zu einem ganzen, selbstbestimmten und freien Menschen wird: Sobald [..] zwey entgegengesetzte Grundtriebe in ihm [dem Menschen] thätig sind, so verlieren beyde ihre Nöthigung, und die Entgegensetzung zweyer Nothwendigkeiten giebt der Freyheit den Ursprung. (ÄE, 373)31
Nur dadurch aber, dass er auf diese Weise ganzheitlich gebildet ist, kann der Mensch als ein freies, autonomes Wesen in ein intersubjektives Verhältnis zu anderen Menschen treten. Hierin sind sich Fichte und Schiller einig. Die Unterschiede ergeben sich erst bei der näheren Beschreibung dieser intersubjektiven Beziehung. Bei Fichte ist es das Rechtsverhältnis, in dem sich die Menschen in ein adäquates Verhältnis setzen: Nur wenn ich selbst als Subjekt und Person anerkannt werde, kann ich andere ebenfalls zugleich als Subjekt und Person anerkennen, und umgekehrt; erst dann lässt sich auch zu Recht von einer wechselseitigen Anerkennung der Freiheit sprechen.32 Das Rechtsverhältnis ist also bei Fichte ein Verhältnis freier und sich als frei anerkennender Individuen in einer „wechselseitig symmetrischen Beschränkung der Freiheitssphären“33. Bei Schiller hingegen, der das intersubjektive Verhältnis ebenfalls in den Begriffen von Freiheit und Autonomie denkt, erfolgt eine solche wechselseitige Anerkennung freier, selbstbestimmter Individuen erst im von ihm so genannten ästhetischen Staat. Ein adäquates intersubjektives Verhältnis könne nur realisiert werden von ganzheitlich und d. h. ästhetisch Gebildeten: Erst wenn ich selbst ganzheitlich gebildet bin und d. h. in unserer Interpretation: wenn ich mich als Subjekt _____________ tive auf die Welt eine Struktur aufgedeckt wird, die im Subjekt die Idee der Freiheit evoziert, welche dann ins Objekt zurückprojiziert wird: Durch die Anwendung der Vernunftform der Selbständigkeit auf einen äußeren Gegenstand wird diesem das Vermögen der Selbstbestimmung verliehen. Dadurch wird Schönheit zur „Freiheit in der Erscheinung“. (vgl. dazu Georg Mein: Die Konzeption des Schönen. Der ästhetische Diskurs zwischen Aufklärung und Romantik. Kant – Moritz – Hölderlin – Schiller. Bielefeld 2000, S. 179 sowie Schütze, a. a. O., S. 241) 31 Vgl. hierzu auch Safranski, a. a. O., S. 414 f, wo er in einem allgemeineren Sinne mit Bezug auf Schiller von der Sublimierung und Zivilisierung der Gewalt der Triebe im Spiel spricht, so dass etwa die Sexualität zur Erotik oder die Aggression zu Arbeit oder Krieg sublimiert wird. 32 Vgl. auch die Ausführungen Fichtes im Sonnenklaren Bericht (Werke 3, S. 371), wo das Ziel der Bildung in der Errichtung einer rechtlichen Verfassung und im darauf sich gründenden allgemeinen Frieden der Staaten gesehen wird. 33 S. Rohs, a. a. O., S. 86 f. Vgl. hierzu Johann Gottlieb Fichte: Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre. Hamburg 1960 (= Philosophische Bibliothek; Bd. 256), insbes. S. 40 ff u. 110.
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und Person in ein harmonisches Wechselverhältnis gesetzt habe und den dialektischen Prozess von Selbst- und Weltgestaltung vollbringe, bin ich dazu in der Lage, auch andere Menschen in ihrer doppelten Seinsweise und folglich als ganze Menschen anzuerkennen. Fichte und Schiller denken also beide zwar zunächst von der Subjektivität her, überschreiten diese jedoch in Richtung der Intersubjektivität. Wenn aber beide die Intersubjektivitätsproblematik auch in der Terminologie von Freiheit und Autonomie artikulieren, so sehen sie das wahre intersubjektive Wechselverhältnis von selbstbestimmten Individuen doch auf gänzlich verschiedenen Ge-bieten realisiert: Während es für Fichte bereits im Rechtsverhältnis innerhalb einer staatlichen Gemeinschaft statthat und er also in dem angestammten Bereich der praktischen Philosophie bleibt, wird ein solches Wechselverhältnis bei Schiller erst im ästhetischen Staat endgültig realisiert.34 Da-her kann laut Schiller allein der ästhetische Staat der Gesellschaft einen wahrhaft „geselligen Charakter“ verleihen und sie dadurch allererst „wirklich machen, weil er den Willen des Ganzen durch die Natur des Individuums vollzieht“ (ÄE, 410). In ihm allein herrscht das „Ideal der Gleichheit“ und „ist alles – auch das dienende Werkzeug ein freyer Bürger, der mit dem edelsten gleiche Rechte hat“ (ÄE, 412). Schiller relativiert diese Utopie allerdings am Schluss seiner Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen: Existiert aber auch ein solcher Staat des schönen Scheins, und wo ist er zu finden? Dem Bedürfniß nach existiert er in jeder feingestimmten Seele, der That nach möchte man ihn wohl nur [...] in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden. (ÄE, 410)35
_____________ 34 Schiller verknüpft seine Staatstheorie mit einem Entwicklungsmodell, wonach „sowohl der einzelne Mensch als die ganze Gattung“ drei Stufen der Entwicklung „nothwendig und in einer bestimmten Ordnung durchlaufen müssen, wenn sie den ganzen Kreis ihrer Bestimmung erfüllen sollen“ (vgl. ÄE, 388). Entsprechend unterscheidet er zwischen drei Staatsformen – nämlich dem dynamischen, dem ethischen sowie dem ästhetischen Staat: Erst im letzteren werde der „Willen des Ganzen durch die Natur des Individuums“ vollzogen (vgl. ÄE, 396 f). 35 Fichtes berechtigter Einwand, dass Schillers Idee, „durch ästhetische Erziehung die Menschen zur Würdigkeit der Freiheit und mit ihr zur Freiheit selbst zu erheben, uns im Kreise herum[führt]“, da die Entwicklung eines ästhetischen Sinns schon die soziopolitischen Verhältnisse voraussetzt, die durch ästhetische Erziehung erst hervorgebracht werden sollen, kann hier nicht weiter verfolgt werden (vgl. Über Geist und Buchstab in der Philosophie, in: Fichte, Johann Gottlieb: Werke. Gesamtausg. d. Bayerischen Akademie d. Wissenschaften. Hrsg. von Reinhard Lauth u. a., Bd. 8, S. 270-300; vgl. dazu auch Mein, a. a. O., S. 196). Wie wir gesehen haben, erkannte auch Schiller schon die Gefahr der Zirkularität.
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VI Die autonome Kunst hat allerdings auch in einem ästhetischen Staat mehr zu leisten als bloßes Transportmittel einer – durch die Philosophie begründeten – Moral zu sein: Die wohlgemeinte Absicht, das Moralischgute überall als höchsten Zweck zu verfolgen, die in der Kunst schon so manches Mittelmäßige erzeugte und in Schutz nahm, hat auch in der Theorie einen ähnlichen Schaden angerichtet. Um den Künsten einen recht hohen Rang anzuweisen [...], vertreibt man sie aus ihrem eigenthümlichen Gebieth, um ihnen einen Beruf aufzudringen, der ihnen fremd und ganz unnatürlich ist. Man glaubt ihnen einen großen Dienst zu erweisen, in dem man ihnen, anstatt des frivolen Zwecks zu ergötzen, einen moralischen unterschiebt [...].36
Dies bedeutet freilich nicht, dass die Kunst mit der Moralität nichts zu schaffen habe. Schiller führt vielmehr weiter aus: Für die Würdigung der Kunst ist es aber vollkommen einerley, ob ihr Zweck ein moralischer sey, ober ob sie ihren Zweck nur durch moralische Mittel erreichen könne, denn in beyden Fällen hat sie es mit der Sittlichkeit zu thun und muß mit dem Sittengesetz im engsten Einverständniß handeln; aber für die Vollkommenheit der Kunst ist es nichts weniger als einerley, welches von beyden ihr Zweck und welches das Mittel ist. Ist der Zweck selbst moralisch, so verliert sie das wodurch sie allein mächtig ist, ihre Freiheit, und das, wodurch sie so allgemein wirksam ist, den Reiz des Vergnügens. Das Spiel verwandelt sich in ein ernsthaftes Geschäft, und doch ist es gerade das Spiel, wodurch sie das Geschäft am besten vollführen kann. Nur indem sie ihre höchste ästhetische Wirkung erfüllt, wird sie einen wohlthätigen Einfluß auf die Sittlichkeit haben; aber nur indem sie ihre völlige Freyheit ausübt, kann sie ihre höchste ästhetische Wirkung erfüllen.37
Die autonome Kunst ist also gerade als moralisch entlastete zutiefst moralisch38: Dadurch, dass sie die Aufgabe der Bildung des ganzen Menschen übernimmt, indem sie Person und Subjekt in ein adäquates Wechselverhältnis setzt, treibt sie gewissermaßen moralische Grundlagenforschung. Anders gesagt: dadurch, dass sie dem doppelten Selbstverhältnis des Menschen, seiner „doppelten Art des Seins“ gerecht wird, klärt sie die Grundvoraussetzungen jedes praktischen Selbstverhältnisses und ermöglicht damit für Schiller allererst wahrhaft sittliches Handeln.39 _____________ 36 Aus: Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, in: Schiller, a. a. O., Bd. 20, S. 134. 37 Ebd., 134 f. 38 Vgl. auch Safranski, a. a. O. S. 416. 39 Dies bedeutet auch, dass die Autonomieästhetik (dem Rezipienten) einen Raum für den spielerischen Umgang mit Handlungsentwürfen eröffnet (vgl. Mein, a. a. O., S. 15).
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Die Kunst selbst aber kann dies nur leisten, wenn sie selbst vollkommen autonom ist und von allen externen Forderungen – von Nützlichkeitserwägungen, aber auch von allen moralischen Ansprüchen – frei gehalten wird. Wie bei Moritz40 erscheint das Kunstwerk als ein Produkt von innerer Zweckmäßigkeit, das „um sein selbst willen hervorgebracht“ wird und etwas „in sich selbst Vollendetes“ ist. Es ist als solches ein Modell von Selbstbezüglichkeit und -ursächlichkeit, dessen Scheincharakter dadurch gerechtfertigt ist, dass es ihn offen eingesteht; sich selbst als Schein gibt.41 Schiller geht gar so weit zu behaupten, dass der ästhetische Zustand der „Freyheit erst die Entstehung“ gibt und nicht etwa erst aus dieser entsteht. Die Kunst hat also keinen moralischen Ursprung, führt aber gerade dadurch, dass sie autonom in ihrer ästhetischen Sphäre bleibt, zur Moralität hin (vgl. ÄE, 398). Entsprechend eröffnet nach Schiller der „ästhetische Bildungstrieb“ das „dritte fröhliche Reich des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt, und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im physischen als im moralischen entbindet“ (ÄE, 410).
VII Fichte formuliert im Sonnenklaren Bericht als Ziel der Wissenschaftslehre die Herausbildung von absoluter Selbständigkeit des Geistes wie des Charakters, damit aber die Aufhebung des Schicksals und die Beförderung der Freiheit der Menschheit (Fichte, Werke 3, 629). Dies hofft er dadurch zu erreichen, dass das Geschäft der Erziehung „durch die Wissenschaftslehre vom abergläubischen Herkommen und dem Handwerksgebrauche losgemacht, und unter feste Regeln gebracht“ werde (ebd., 633). Dabei habe „alle Bildung meiner selbst und anderer“ von „dem Willen, nicht von dem Verstande“ auszugehen (ebd., 350). Um die Bestimmung des menschlichen Geschlechts, nämlich seine Vereinigung zu einem harmonischen Ganzen, zu verwirklichen, ist für Fichte die „Verbreitung der Bildung“ „das erste _____________ 40 In der Schrift Über die bildende Nachahmung des Schönen, in: Karl Philipp Moritz: Werke. Hrsg. v. H. Hollmer u. A. Meier. Frankfurt a. M. 1997, Bd. 2, S. 943. Vgl. dazu Mein, a. a. O., S. 68 f. 41 Vgl. ÄE, 403, wo Schiller fragt: „In wie weit darf Schein in der moralischen Welt seyn?“ – Antwort: „in so weit es ästhetischer Schein ist“ und hinzufügt: „Der ästhetische Schein kann der Wahrheit der Sitten niemals gefährlich werden.“ Zum Zusammenhang zwischen Autonomieästhetik und Organismusmodell vgl. auch Lars-Thade Ulrichs: Das ewig sich selbst bildende Kunstwerk. Organismustheorien in Metaphysik und Kunstphilosophie um 1800. In: Internationales Jahrbuch des deutschen Idealismus 4 (2006), S. 256-290.
Sind wir noch immer Barbaren?
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Ziel der Menschheit“ (ebd., 367 f). Der einzelne Mensch habe sich dabei selbst nur als „eins der Werkzeuge des Vernunftzwecks“ zu betrachten (ebd., 408). An den Gelehrten ergeht nach Fichte darüber hinaus die hohe Forderung, nicht nur Lehrer und Erzieher der gesamten Menschheit, sondern schlechthin „der sittlich beste Mensch seines Zeitalters“ zu werden. Die Wissenschaftslehre ist hierbei, so Fichte weiter, „erklärte Gegnerin derjenigen [..], welche alle Bildung und Erziehung des Menschen in die Aufklärung seines Verstandes setzen“, denn sie „weiß sehr wohl, daß das Leben nur durch das Leben selbst gebildet wird“ (ebd., 620 f). Schiller könnte dem sicherlich zustimmen – mit dem feinen Unterschied freilich, dass er die Wissenschaftslehre durch das schöne Spiel der Kunst oder die Beschäftigung mit dem Schönen ersetzen möchte. Und wenn die autonome Kunst auch nicht der Moral oder gar etwelchen Nützlichkeitszwecken dienen darf, so hat sie doch letztlich dem Leben zu dienen – allerdings einem Leben in Freiheit und Selbstbestimmung, das dem doppelten Selbstverhältnis des Menschen als Subjekt und Person Genüge tut. Damit sind wir aber zuletzt wieder bei Nietzsche angelangt. Was er über die Historie sagt, ließe sich mit Schiller sicherlich auch über die Kunst sagen: Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen: aber es giebt einen Grad, Historie zu treiben und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet. (KSA 1, 248)
Allerdings ist dagegen und damit zugleich gegen die barbarischen Bildungstendenzen der Zeit sogleich zu ergänzen: Sehr viel muß der Mensch lernen, um zu leben, um seinen Kampf um’s Dasein zu kämpfen: aber alles, was er in dieser Absicht als Individuum lernt und thut, hat noch nichts mit der Bildung zu schaffen. Diese beginnt im Gegentheil erst in einer Luftschicht, die hoch über jener Welt der Noth, des Existenzkampfes, der Bedürftigkeit lagert. (ebd., 713)
In den Augen Nietzsches ist eine solche Bildung klassisch und daher ungeheuer schwer zu erlangen; sie ist formal, denn eine materielle Bildung kann es gar nicht geben; und sie ist keine wissenschaftliche Bildung, denn Wissenschaft und Bildung sind für Nietzsche zwei völlig verschiedene Sphären (vgl. ebd., 682 f). Danach zeichnet sie sich durch drei wesentliche Merkmale aus: durch das „Bedürfnis zur Philosophie“, den „Instinkt für Kunst“ und schließlich durch das Ideal der klassischen Antike (ebd., 741 ff). Die historische Bildung hingegen ist bloß eine Verfallsform (vgl. ebd., 742); sie ist nur dann „etwas Heilsames und Zukunft-Verheissendes“, „wenn sie von einer höheren Kraft beherrscht und geführt wird“ (ebd., 257). Schillers Überzeugung nun war es, dass die recht verstandene ästhetische Bildung allein das zu leisten vermag, was andere Wissensformen nimmermehr zu
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erreichen vermögen – in den Worten Nietzsches: die „Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen“ (ebd., 334). Damit aber vermag sie für Schiller die moderne Barbarei zu überwinden, die uns in der vermeintlich aufgeklärten Kultur von allen Seiten bedroht. Die ästhetische Bildung und nur sie könne – in Nietzsches Sprache – gleichzeitig eine besondere Stärke und damit ein subjektives „Zentrum“ und eine harmonische Bildung aller Kräfte und damit eine personale „Peripherie“ erzeugen, die sich wechselseitig ergänzen. Dies aber vermag sie in unserer Interpretation nur, wenn sie dem Grundverhältnis jedes bewussten Lebens gerecht wird, dass wir gleichursprünglich Subjekt und Person sind und auch alle anderen in dieser doppelten Seinsweise aufzufassen haben. Dieses doppelte Selbstverhältnis in Einklang zu bringen, ist demnach Ziel und Aufgabe jeder echten Bildung, und die Auseinandersetzung mit der Kunst kann zur Erreichung dieses Ziels einen bedeutenden Beitrag leisten. Laut Nietzsche ist die wichtigste Bedingung für die Beförderung von Kunst und Bildung die Freiheit (vgl. ebd., 411). Freiheit ist aber auch Ergebnis von Kunst und Bildung. In diesem vielleicht unauflöslichen Zirkel haben wir uns zu bewegen, wenn wir über ästhetische Bildung nachdenken.
Von der „Idee einer Universität” zur „Zukunft unserer Bildungsanstalten” – Bildungsbegriff und Universitätsgedanke in der deutschen Philosophie von Schiller bis Nietzsche Holger Gutschmidt I Die Frage nach dem Bildungsbegriff in der Epoche von Kant bis Nietzsche lässt sich an ganz unterschiedlichen Merkmalen seiner Verwendung erörtern. Zum einen gehört er in die allgemeine Erziehungslehre, in der das Problem zu lösen war, wie der Mensch während seiner Kindheit alle die Anlagen ausbildet und übt, über die der Erwachsene zum eigenen wie zum fremden Nutzen verfügen soll. Zeitlich und auch von seinem Gebrauch her gehört er damit in die Diskussion über eine neue Pädagogik, wie sie in Deutschland von Männern wie Campe, dem frühen Hauslehrer Wilhelm von Humboldts, und vor allem Pestalozzi geführt wurde. Ebenso sehr lässt sich dieser Begriff aber in der folgenreichen Position studieren, die er in den Erörterungen der Weimarer Klassik einnimmt. Goethe und Schiller verbinden mit ihm die – bei dem einen eher anthropologisch, bei dem anderen eher ethisch verstandene – Konzeption einer Ausformung der Individualität zur reifen und sittlich schönen Persönlichkeit in steter Auseinandersetzung mit der Welt. „Bildung” ist hier der Inbegriff der Eigenschaften des Menschen, der die freie Entwicklung zur Persönlichkeit mit den Forderungen der Allgemeinheit versöhnt hat. Im sogenannten deutschen „Bildungsroman” ist dieses Erbe bis in das 20. Jahrhundert hinein lebendig geblieben, etwa in Thomas Manns Joseph und seine Brüder oder in Heinrich Manns Jugend und Vollendung des Henri Quatre. Verwandt wiederum mit diesem Bildungsverständnis, aber nicht mit ihm zu verwechseln ist jenes, das als Ziel menschlicher Entwicklung insgesamt die Bildung des Geistes ausweist und bekanntlich vom deutschen Neuhumanismus vertreten wurde, zu dem neben Friedrich August Wolf und Friedrich Immanuel Niethammer auch Wilhelm von Humboldt gehört. Die Geistes-Bildung ist hierbei nicht lediglich ein Element im Charakter der gebildeten Persön-
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lichkeit, sie ist das wesentliche Vehikel ihrer individuellen Freiheit, die sie wiederum durch eine harmonische Auffassung der Relation von Geist und Natur selbst darzustellen vermag. Allerdings ist es Alexander, dem jüngeren Bruder Wilhelm von Humboldts und vielleicht berühmtesten Naturforscher dieser Epoche, besser gelungen, ein derart ausgewogenes Persönlichkeitsideal tatsächlich zu leben, als den doch eher schwierigen Charakteren Wilhelm von Humboldts und Friedrich August Wolfs.1 Bemerkenswert ist es aber gleichwohl, dass diese Bildungskonzeption weniger über bestimmte Theorieleistungen, als vielmehr über ihre die Schul- und Universitätsausbildung bis heute revolutionierende Kraft wirkungsmächtig geworden ist. Es ist auch dieser Aspekt, der die folgenden Überlegungen in besonderer Weise beschäftigen wird. Kristallisationspunkt und gleichsam erste Konkretisierung der gedanklichen Anstrengungen zum Thema der Geistesbildung sind die um 1800 geführten Diskussionen zur Gründung einer neuen Universität und v. a.: zur Gründung einer Universität neuen Typs. Sie seien deshalb hier besonders herangezogen, um den darin sich hervorarbeitenden, aber auch verwandelnden Bildungsbegriff zu studieren und seine Konsequenzen zu betrachten. Dass die Entwicklung dieses humanistischen Bildungskonzeptes mit Humboldt nicht abgeschlossen ist, zeigt schließlich ein Blick auf einen späten Nachfahren dieser Pionierzeit, den jungen Friedrich Nietzsche. Hier sehen wir noch einmal eine Veränderung und neue Wandlung des damals schon zum Erbe der Wissenschaft gewordenen Humboldtschen Ideals. Zugleich bietet Nietzsche aber eine erhellende Zuspitzung in der Deutung einer Konzeption, die schon zu seiner Zeit eher gelobt als beherzigt worden sein dürfte.
II Wenn wir verstehen wollen, wie die Bildungsdiskussion um 1800 eine derart weitreichende Wirkung im Erziehungswesen Deutschlands und – ab etwa 1830 – auch der meisten übrigen Länder Europas sowie der Vereinigten Staaten von Amerika2 entfalten konnte, müssen wir einen kurzen Blick auf die traurige Realität dieses Erziehungswesens zu jener Zeit werfen. Die Entwicklung der Universitäten im Mittelalter war geprägt von dem Kampf um Autonomie. An der Bologneser Rechtsschule suchten im 12. _____________ 1 2
Vgl. zur Übersicht etwa den Artikel Bildung von Ernst Lichtenstein. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Basel 1971, Band 1, Kol. 921 ff. Vgl. hierzu die grundlegende Arbeit: Walter Rüegg (Hrsg.): Die Geschichte der Universität in Europa. Bd. 3: Vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg. München 2004.
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Jahrhundert ausländische Studenten – deren Prozentzahl an den bekannten mittelalterlichen Hochschulen zum Teil größer war als in jeder anderen Epoche danach – durch kaiserliche Privilegien und korporative Zusammenschlüsse Rechtssicherheit für sich und ihre Studien gegen Übergriffe kommunaler Behörden zu garantieren. An der Pariser theologischen Hochschule von Notre Dame schlossen sich die Lehrer (Magister) zusammen, um mit Hilfe des Papstes den Eingriffen des örtlichen Bischofs in ihre Lehrfreiheit zu begegnen.3 Studium und Wahrheitssuche der Angehörigen dieser frühen Schulen waren also von Anbeginn an von wissenschaftsfernen und z. T. gefährlichen Sonderinteressen bedroht. Diese Schulen konnten aber, gerade weil sie internationale und vornehmlich der Pflege der Wissenschaften gewidmete Studienstätten waren, geistige Freiheiten auch behaupten. Anders verhielt es sich da schon mit den ab dem 14. Jahrhundert im Heiligen Römischen Reich gegründeten Universitäten.4 Sie waren von vorneherein als „obrigkeitliche Gründungen von fürstlichen Stiftern” entstanden und daher „der obrigkeitlichen Aufsicht und Leitung stärker unterworfen”.5 Ihr Zweck bestand somit vor allem in der Berufsausbildung und hier besonders der von den Landesfürsten und dem Reich benötigten Beamtenschaft. Theologie, Rechtsgelehrsamkeit und Kameralwissenschaften waren insofern die sie prägenden Fächer. Aufgrund seiner föderalen Struktur war das Reichsgebiet in der frühen Neuzeit daher auch das am dichtesten mit Universitäten belegte Gebiet in Europa.6 Die Universitäten kamen jedoch zunehmend mit dem humanistischen Bildungsideal7 der Renaissance in Verbindung. So konnte Graf Eberhard von Württemberg 1477 für den Besuch der von ihm gerade gegründeten Tübinger Universität damit werben, dass „ein reines und keusches Gemüt [...] auf keine Weise besser und auf keinem Wege kürzer als durch wissen_____________ 3
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Vgl. Helmut Schelsky: Einsamkeit und Freiheit. 2. Aufl. Düsseldorf 1971, S. 14 ff; ferner Arnold Esch: Die Anfänge der Universität im Mittelalter. Bern 1985, S. 18 ff sowie Walter Rüegg: Was lehrt die Geschichte der Universität? Stuttgart 1994 (= Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M.; Bd. 32, 6), S. 146 ff. Z. B. Prag (1348), Wien (1384) oder Heidelberg (1385), aber auch schon die von Friedrich II. gegründete Universität von Neapel (1224), deren Verfassung wiederholt in der Gründungsurkunde Karls IV. für die Prager Universität zitiert wurde (vgl. hierzu Hartmut Boockmann: Wissen und Widerstand. Geschichte der deutschen Universität. Berlin 1999, S. 72 f). Schelsky, a. a. O., S. 17 f. Vgl. hierzu Thomas Ellwein: Die deutsche Universität vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Königstein/Ts. 1985, S. 42 ff. Vgl. ferner die Kapitel 3 u. 4 von Boockmann, a. a. O. Ein Ideal, das im Wesentlichen in der Artes-Fakultät, der Basisfakultät, heimisch war (Boockmann, a. a. O., S. 142).
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schaftliche Bildung erworben werden kann.”8 Hier klingt bereits die für das spätere aufklärerische Denken so bezeichnende Verbindung von Vernunfteinsicht und moralischer Besserung an. Während die Universitäten in Deutschland im Zeitalter von Reformation und Humanismus durchaus bedeutende geistige Zentren waren, ging diese Bedeutung im 17. und 18. Jahrhundert langsam zurück, was auch für die europäischen Universitäten insgesamt zutraf.9 Descartes, Leibniz, Locke, Spinoza waren keine Universitätsgelehrten mehr, ebensowenig wie Rousseau, Hume, Diderot oder Lessing. Zwar wurden in Deutschland mit Halle (1694) und Göttingen (1734) Aufklärungsuniversitäten gegründet, die durch das Wirken von Männern wie Christian Wolff und des Ministers von Münchhausen konfessionell offen und der freien Forschung und Lehre verpflichtet waren.10 Aber die Rechtsfreiheiten der Universitäten führten allmählich dazu, dass junge Männer sich eher einschrieben, um der Militärpflicht zu entgehen, als um zu studieren. Entsprechend verfielen die studentischen Sitten. Noch Fichte hat sich verschiedentlich damit auseinander zu setzen gehabt.11 Darüber hinaus aber waren sowohl Vorlesung als auch Disputation Ende des 18. Jahrhunderts häufig in Formalien erstarrt, die weder einen lebendigen wissenschaftlichen Austausch, noch überhaupt eine kritische Haltung zum Erlernten förderten. Besonders schwierig aber wurde die Lage der deutschen Universitäten dadurch, dass sie gegenüber den Spezialschulen als unpraktisch und weltfern galten. In Frankreich zog Napoleon aus einer vergleichbaren Situation die Schlussfolgerung, die höhere Ausbildung allein in Spezialschulen wie den polytechnischen Schulen durchführen zu lassen. Als darüber hinaus durch die napoleonischen Kriege eine Reihe von deutschen Universitäten untergingen und aufgelöst wurden, war die Zeit auch in Deutschland für eine Veränderung der Lage reif.
III Preußen hatte nach dem verlorenen Krieg von 1806/07 mit großen Teilen seines Landes auch viele Universitäten verloren, darunter z. B. die von Halle. Es blieben insgesamt nur die Universitäten von Königsberg und Frankfurt an der Oder für eine Hochschulausbildung der Landeskinder _____________ 8 9 10 11
Zitiert nach Schelsky, a. a. O., S. 18. Vgl. zum Folgenden Schelsky, a. a. O., S. 28 ff. u. Ellwein, a. a. O., S. 111 f. Boockmann, a. a. O., S. 165 ff. Vgl. Fichtes Antrittsrede als Rektor der Berliner Universität Über die einzig mögliche Störung der akademischen Freiheit.
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übrig. Dieser Sachverhalt brachte neue Bewegung in die bereits gefassten Pläne zur Neugründung einer Universität respektive einer „höheren Lehranstalt” – wie man sich angesichts des traurigen Zustandes der vorhandenen Universitäten vorsichtiger ausdrückte – in Berlin. Solche Pläne hatte es zwar schon im späten 18. Jahrhundert gegeben, aber erst als 1800 der liberale Kabinettsrat Karl Friedrich Beyme mit der Sache betraut wurde, wurden eine Reihe von Gutachten führender Intellektueller des Landes zu diesen Plänen eingeholt.12 Zu diesen zählten der Popularphilosoph Johann Jakob Engel13, der Jurist Theodor Anton Heinrich Schmalz, die Mediziner Johann Christian Reil, Christoph Wilhelm Hufeland und Johann Benjamin Erhard, welcher als Kantschüler auch heute noch bekannt ist, und – nach 1806 – auch der Philosoph Johann Gottlieb Fichte sowie der Philologe Friedrich August Wolf. Bereits aus den vor 1806 abgefassten Denkschriften gehen wichtige, für die spätere Diskussion folgenreiche Überlegungen zum Zweck der Universitäten hervor, selbst wenn diese Abhandlungen nicht das Niveau der nachfolgenden Arbeiten von Fichte, Schleiermacher und Humboldt erreichen. Während besonders Hufeland in seinen Ideen über die neu zu errichtende Universität zu Berlin und ihre Verbindung mit der Akademie der Wissenschaften und anderen Instituten14 die fachliche Ausbildung der Studenten in den Mittelpunkt rückt und die Universität als Bindeglied der in Berlin bereits vorhandenen Institute begreift15, sehen die _____________ 12 Die Texte finden sich abgedruckt in Wilhelm Weischedel (Hrsg.): Idee und Wirklichkeit einer Universität. Dokumente zur Geschichte der Friedrich-WilhelmsUniversität zu Berlin. Berlin 1960 (= Gedenkschrift der Freien Universität Berlin zur 150. Wiederkehr der Gründungsjahres der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin). Indessen ist diese Dokumentation nicht vollständig, da etwa das Gutachten von Johann Benjamin Erhard fehlt. Dies ist auszugsweise abgedruckt in der Ausgabe von Ernst Müller (Hrsg.): Gelegentliche Gedanken über Universitäten. Leipzig 1990, nach der die meisten Denkschriften hier auch zitiert werden. In dieser Sammlung fehlen allerdings die Texte von Hufeland und Schmalz. – Vgl. ferner auch die Textsammlung von Ernst Anrich (Hrsg.): Die Idee der Deutschen Universität. Die fünf Grundschriften aus der Zeit ihrer Neubegründung durch klassischen Idealismus u. romantischen Realismus. Darmstadt 1956, die neben den Denkschriften von Fichte, Schleiermacher und Wilhelm von Humboldt auch noch die in den weiteren Zusammenhang gehörenden Vorlesungsreihen von Schelling und Steffens abdruckt, und schließlich die kleinere Textsammlung von Eduard Spranger (Hrsg.): Über das Wesen der Universität. Leipzig 1919, die zwar weniger bietet, dafür aber eine instruktive Einleitung von Spranger selber enthält. 13 Auch er war ein ehemaliger Lehrer Alexander und Wilhelm von Humboldts, vgl. zu dieser Verbindung Herbert Scurla: Wilhelm von Humboldt. Düsseldorf 1976, S. 28 ff. 14 Undatiert. Vgl. Weischedel, a. a. O., S. 16 ff., besonders S. 22 ff. 15 Ein Gedanke, der unter der schwierigen finanziellen Lage des Staatswesens und der Zahl spezieller Institute, die es in Berlin bereits gab, naheliegend war (vgl. auch Engel, in: Müller, a. a. O., S. 12 ff); eine ähnliche Position vertraten auch
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anderen die neue Lehranstalt in erster Linie als Bildungsinstitution – ohne dass sie diesen ihren Begriff von Bildung genauer ausführten – und nicht als spezielle Fachhochschule oder einen Verbund solcher Fachhochschulen. Für Engel ist es in seiner Denkschrift über die Begründung einer großen Lehranstalt in Berlin16 gerade der Vorzug der Stadt Berlin, die ja schon über so viele Bildungs- und kulturelle Einrichtungen verfügt, dass sie dem Studenten einen umfassenden und auch einen besonders anschaulichen Unterricht zu vermitteln vermag. Nicht nur durch bloße Stubengelehrsamkeit werde „die jugendliche Seele gebildet”, sondern „mehr noch durch die Menge und Mannigfaltigkeit der Bilder, welche die Imagination, der Eindrücke, welche das Herz, des Stoffs zu Reflexionen, welchen der Geist erhält”: Was in Kollegien vorgetragen wird, mag für den Jüngling an manchen Tagen bei weitem nicht so viel Wert haben, als was er auf den Straßen sieht, in Konversationen hört, in kleineren oder größeren Zirkeln beobachtet.17
Für Engel ist somit die Universität ein Ort lebenspraktischer und gesellschaftlicher Bildung, die eines entsprechenden Umfeldes bedarf. Anders für Wolf: Er ist sehr viel mehr dem sittlichen Ideal der Aufklärungszeit verpflichtet und sieht in der Förderung von Sittlichkeit auch eine Chance für das Land nach dem verlorenen Krieg gegen Napoleon. Dem entsprechend weist er auch ausdrücklich darauf hin, dass die große und vielfältige Stadt Berlin in moralischer Hinsicht kein ernsthaftes Problem darstelle und erklärt in seinen Vorschlägen, wie ohne irgendeinen neuen Aufwand statt der jetzt verlorenen zwei am besten dotierten Universitäten eine für hiesige Lande und für ganz Deutschland wichtige Universität von größerer Anlage gestiftet und in kurzer Zeit in Gang gebracht werden könnte18 mit Blick auf das Universitätsprojekt als die neue Aufgabe des Staatswesens: Es ist nicht hinlänglich zur Wiederherstellung, daß Ackerbau, Handel, Fabriken verbessert, daß die Finanzen neu geordnet werden, – freilich sehr notwendige Gegenstände, aber doch nur von zweitem Range; – die lebendigsten, größten Kräfte liegen in dem moralischen Menschen; dieser muß jetzt nach einem alles umfassenden staatsbürgerlichen Zwecke bearbeitet werden, der bei aller Verschiedenheit der gesellschaftlichen Verhältnisse nur ein einziger, in sich selbst vollendeter sein kann.19
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Wolf (ebd., S. 47 ff) und Schmalz (Denkschrift über die Errichtung einer Universität in Berlin (1807), in: Weischedel, a. a. O., S. 11). 1802. In: Müller, a. a. O., S. 6 ff. Ebd., S. 8. 1807. In: Müller, a. a. O., S. 44 ff. Ebd., S. 46.
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Und auch Erhard kann sich im 5. Abschnitt seiner Abhandlung Über die Einrichtung und den Zweck der höhern Lehranstalten20 so ausdrücken, als sähe er in der Tugend des Menschen ein besonders vornehmes Ziel der Universitätsausbildung.21 Gleichwohl tritt mit seinem Text noch eine dritte Variante der gewissermaßen „antiutilitaristischen” Tendenz dieser Autoren auf die Bühne des Geschehens. Denn Erhard sieht weder die Moral als solche, noch die gesellschaftliche Bildung, sondern die reine Vernunft als oberstes Ziel und als Prinzip der Organisation einer Universität an.22 Da es die philosophische Fakultät ist, die den rechten Vernunftgebrauch einübt, ist sie im Grunde auch die wahre Universität23, während die theologische und juristische Fakultät langfristig wegfallen können24. Nur durch eine solche Ausrichtung der Universität kann diese helfen, Wahrheit und Recht zu achten, welches laut Erhard die Überlebensbedingung des Staates ist, wofern er nicht zu einer bloßen „Gewerbesache” herabsinken soll. Erhards Konzept ist (neben dem späteren Fichtes) vielleicht das radikalste und am strengsten einer „Idee” verpflichtete unter allen in dieser Zeit entwickelten Konzepten. Es hat mit den Überlegungen der anderen aber sowohl die entschiedene Ablehnung der durch Korporatismus und Formalismus eingeengten Universität alten Stils gemeinsam25 als auch den Widerstand gegen die bloße Zweckrationalität der Spezialschulen. Johann Christian Reil – später selber Professor an der Berliner Universität – hat diese Haltung besonders ungeschminkt ausgedrückt (obgleich er nur ein Gutachten über eine wissenschaftlich-medizinische Schule abfasste), als er schrieb: Vorzüglich müssen die Nützlichkeitsapostel von der Universität in die Industrieschulen verwiesen werden, weil es ihnen ganz an Sinn für Wissenschaft fehlt, sie dieselbe nicht um ihrer selbst willen, [...] sondern deswegen schätzen, weil sie dazu taugt, Häuser zu bauen, den Acker zu bestellen und das Kommerz zu beleben. (Hervorhebungen v. Vf.)26
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1802. In: Müller, a. a. O., S. 18 ff. Ebd., S. 31. Ebd., S. 27. Ebd., S. 29. Ebd., S. 19 ff u. 26ff; zur Durchsetzung des Vernunft-Rechtes vgl. auch S. 37 f. Schmalz drückt diese Gesinnung besonders deutlich aus: „Es ist unstreitig ratsam und nützlich, bei der Einrichtung dieser Anstalt alle Formen des alten Universitätswesens fallen zu lassen, welche einen Zunftgeist nähren, oder pedantischen Prunk, der ehemals Würde und Ansehen geben mochte, jetzt aber lächerlich macht.” (Weischedel, a. a. O., S. 11) 26 Zitiert nach: Weischedel, a. a. O., S. XXI. – Es ist die Grundhaltung fast aller der hier besprochenen Autoren, dass sie sich energisch gegen die Einrichtung einer Universität nach bloßen Nutzeninteressen des Staates oder der Wirtschaft stellen.
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Diese Eindeutigkeit war auch dringend vonnöten. Denn nicht Kabinettsrat Beyme, der sich mit den meisten seiner Gutachter einig wusste und der wirklich eine Lehranstalt neuen Typs anstrebte,27 sondern sein Ressortchef, der Minister von Massow, hatte hierin die Entscheidungskompetenz. Dieser allerdings war ein Praktiker und gedachte, dem französischen Vorbild entsprechend, die klassischen Universitäten durch Fachschulen für Juristen, Ärzte und andere Berufsgruppen zu ersetzen. – Aber kehren wir noch einmal kurz zu Erhard zurück. Seine Überlegungen verweisen nämlich in Stil und manchen grundlegenden Gedanken auf einen Autor und eine Arbeit, die erst einmal gar nicht in dem Kontext der Berliner Universitätsgründung stehen und doch am Ende eine weitreichende Wirkung entfaltet haben. Die Rede ist von Immanuel Kants Schrift Der Streit der Fakultäten.28 Kant hatte in diesem Werk die Frage gestellt, wie die Fakultäten an einer Universität sich zueinander zu verhalten haben. Trotz des Hintersinns seiner Argumentation und seines verschnörkelten Altersstils sind die Ergebnisse auch heute noch brisant. Denn im Gegensatz zu ihrer traditionellen Rolle als Vorbereitungsfakultät für die drei oberen Fakultäten von Medizin, Recht und Theologie während des Mittelalters und der frühen Neuzeit – als Fakultät der Artes Liberales – hat sich, Kant zufolge, die philosophische Fakultät nunmehr von den anderen emanzipiert. Diese sind lediglich ihres Nutzens wegen an der Universität und unterstehen so dem Befehl des Interesses der Regierung. Anders die philosophische Fakultät: sie ist wahrhaft frei, so dass sie keinem Befehl untersteht, aber die Macht hat, alle Befehle (und d. h. auch die Geltungsansprüche der oberen Fakultäten) auf ihre Vernunftgemäßheit hin zu beurteilen.29 Damit dient sie der Wahrheit der Wissenschaft, welche wiederum die wesentliche und erste Bedingung der Gelehrsamkeit ist, während deren Nützlichkeit nur ein _____________ Vgl. auch Friedrich Joseph Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, 2. und 3. Vorlesung. 27 Beyme hat sich erst spät zu seinen eigenen Absichten geäußert (vgl. Schelsky, a. a. O., S. 44 f). Danach muss es ihm um die Konzeption einer Eliteschule gegangen sein, die noch über den herkömmlichen Universitäten anzusiedeln gewesen wäre. Sie wäre auch nicht der Berufsausbildung, sondern nur der reinen Wissenschaft verpflichtet gewesen. Die Philosophie hätte dabei den Kern dieser Hochschule ausgemacht. – Zu der Schrift von Oswald Marbach, auf die sich Beyme mit seinen Äußerungen bezieht vgl. auch Jürgen Mittelstraß: Die Zukunft der Wissenschaft und die Gegenwart der Universität. In: Helmut Bachmaier und Ernst Peter Fischer (Hrsg.): Der Streit der Fakultäten. Konstanz 1997, S. 18 f. 28 1798. Zitiert nach: Immanuel Kant: Werke in zehn Bänden. Hrsg. von W. Weischedel. Darmstadt 1983, Bd. 9, S. 261 ff. 29 Ebd., S. 280 ff.
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Moment zweiten Ranges darstellt.30 Gerade durch diese Wahrheitsorientiertheit kann sie manchem „Wundergebaren” der oberen Fakultäten entgegenwirken und ist deshalb der Regierung besonders zu empfehlen.31 Die Regierung ihrerseits tut gut daran, den Fortschritt der Einsichten aus diesem „gesetzmäßigen” Streit der unteren mit den oberen Fakultäten nicht zu behindern, sondern sich daraus zurückzuhalten.32 Was Kant mit seinen Überlegungen erreicht, ist nichts Geringeres, als die philosophische Fakultät zur eigentlichen Stätte der Wissenschaft zu erklären und damit zur eigentlichen Universität. Die anderen Fächer sind Wissenschaften nur, solange sie vor dem Richterstuhl der Philosophie im Sinne Kants bestehen können. Kant hat damit gleichsam einen wissenschaftstheoretischen Ausdruck für ein verändertes Verhältnis zum Hochschulstudium und seinen Zwecken gefunden, was es von nun an erlaubte, die Universität als Stätte dessen zu begreifen, was – und ähnlich hatte sich ja schon Reil ausgedrückt – um seiner selbst willen angestrebt werden soll. Es ist dieser Gedanke, an dem sich die folgenden Konzepte orientieren33 und der seit dieser Zeit alle Diskussionen um die Hochschulausbildung bis heute durchgeistert. Mit seinen Darlegungen hatte Kant einen Gedanken theoretisch entwickelt, dessen eigentlicher Urheber er selber gar nicht war. Dieser Urheber muss hier erwähnt werden, obgleich er zu Organisation und Prinzip der Universität sich nicht geäußert hat. Aber er ist in gewissem Sinne der Schöpfer des deutschen Bildungsgedankens, noch vor Humboldt und bestenfalls neben dem Beispiel Goethes. Er begründet nicht nur den Gedanken der philosophischen Grundlegung der Wissenschaft, sondern auch den Zusammenhang zwischen einer so konzipierten Wissenschaft und dem individuellen Bildungsinteresse. Gemeint sind Friedrich Schiller und seine berühmte Jenaer Antrittsvorlesung Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte? (1789).34 Schiller geht es in diesem Text primär um ein neues Verständnis des Geschichtsstudiums. Um für die Bildung des Menschen und die eigene Zeit fruchtbar sein zu können, muss die Geschichtswissenschaft für Schiller allgemeingültige und wahre Ergeb_____________ 30 31 32 33
Ebd., S. 290. Vgl. speziell ebd., S. 294. Ebd., S. 282 (Anmerkung), ferner S. 298 f. Vgl. zur Bedeutung der Philosophie auch Müller, a. a. O., S. 306 ff. – Die Romantiker haben sich ähnlich eindeutig geäußert (vgl. Schelling: Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums, 4. Vorlesung (s. Anrich, a. a. O., S. 38) und Henrik Steffens in seinen Vorlesungen über die Idee der Universitäten, 1. Vorlesung (s. Anrich, a. a. O., S. 320 ff.)). 34 Zitiert nach Friedrich Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Frankfurt a. M. 2000, Bd. 6. Vgl. zum Folgenden auch den Herausgeberkommentar ebd., S. 832 ff.
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nisse hervorbringen. Dafür darf der Historiker nicht mehr bloß Chronist (Geschichtsschreiber) sein, er muss zum Geschichtsforscher werden. Nur der Geschichtsforscher ist in der Lage, zur allgemeinen Bestimmung des Menschen (die er selber natürlich teilt), sich zum Menschen allererst heranzubilden, beizutragen. Aber dies kann er erst dann, wenn er ein „philosophischer Kopf” und nicht lediglich „Brotgelehrter” ist.35 Nur ein solcher ist in der Lage, die Teleologie der Geschichte und damit auch die der Menschheitsentwicklung zu erkennen.36 Und nur durch diese seine philosophische Betrachtungsweise der Geschichte kann er auch das Gebiet seiner Disziplin mit neuen Einsichten erweitern und ihren „Bund” mit den übrigen Wissenschaften wieder herstellen.37 – Schiller bringt durch diese knappen Überlegungen einen gedanklichen Komplex hervor, der auch und besonders für die noch vorzustellenden Konzeptionen Fichtes und Humboldts entscheidend wurde: Wissenschaft dient der Menschenbildung und Menschheitsentwicklung; dazu aber muss sie auf eine philosophische Weise betrieben werden; diese philosophische Wissenschaft geht über den Kreis konventioneller Fachdisziplin hinaus auf die Gesamtheit des Wissens; daneben begründet sie einen anderen Typ von Wissenschaftler, der um die Menschheitsbedeutung seines Tuns weiß und daher Wissen nicht nur enzyklopädisch zusammenträgt, sondern zielgerichtet neues Wissen und neue Einsichten herausforscht; damit aber wird die Wissenschaft für diesen Typ von Wissenschaftler selbst bildend. – Man kann vor allem die späteren Denkschriften ohne Verzeichnung als Anwendung und Ausformulierung dieses Gedankens für das Konzept einer modernen Universität begreifen. Doch erst Humboldts Überlegungen erreichen den ganzen Umfang der Schillerschen Konzeption wieder. In den früheren Denkschriften, insbesondere bei Erhard, steht dagegen noch ganz die „Wissenschaftslogik”, nach der an einer Universität gelehrt und geforscht wird, im Zentrum. Den Übergang zwischen diesen beiden Blickwinkeln bezeichnet das Memorandum Fichtes, dem es sich nun zuzuwenden gilt. Während Kants Konzept noch von einer Art Dialog zwischen den Fakultäten ausgeht und auch keine besonderen strukturellen Veränderungen der Universität impliziert, ist das bei Erhard schon anders: hier entscheidet die philosophische Fakultät über die Gestalt und sogar das Schicksal der anderen Fakultäten. In Fichtes Deduziertem Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaften stehe38 ist dieser Gedanke noch einmal radikali_____________ 35 36 37 38
Schiller, a. a. O., Bd. 6, S. 412. Schiller, a. a. O., Bd. 6,, S. 427 f. Schiller, a. a. O., Bd. 6, S. 414 ff. 1807. Zitiert nach: Müller, a. a. O., S. 59 ff.
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siert. Bei Fichte ist es die Philosophie, die über das Wissen dessen verfügt, was die wissenschaftliche Kunst sei. Der Vermittlung eines solchen Wissens dient die Fichtesche Lehranstalt in ausgezeichneter Weise.39 Diese „Kunst” besteht aber nicht bloß in der Anwendung einer bestimmten Methode, sondern auch in einer Enzyklopädie der gesamten Wissenschaft als einer Art Regulativ für die Bearbeitung einzelner Disziplinen.40 Die Philosophie legt also den Grund des gesamten wissenschaftlichen Gebäudes und damit der gesamten wissenschaftlichen Studien, aber dies nicht bloß kritisch, wie Kant und Erhard noch wollten, sondern aus einem Prinzipienwissen, einer „Idee”41 heraus auch ganz buchstäblich. Zwar ist im Deduzierten Plan dieser Gedanke bloß Anspruch und wird nicht im Detail ausgeführt. Doch in Schellings Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums – in denen über die Methode des akademischen Studiums freilich nur am Rande gehandelt wird – konnte der Leser schon einige Jahre früher (1803) sehen, wie dies etwa gemeint gewesen sein musste.42 Schelling bietet dort eine systematische Darstellung des Verhältnisses der einzelnen Universitätsdisziplinen – bis hin zur Kunstwissenschaft – zum identitätsphilosophisch definierten Prinzip des absoluten Wissens. Ähnlich wie bei Fichte ist auch für Schelling der Grund seiner Erörterungen seine Auffassung vom Ziel einer wissenschaftlichen Ausbildung. Sie solle nicht nur eine spezifische, sondern eine universelle sein, was wiederum voraussetze, dass sie die Beziehung des einzelnen Faches zum lebendigen, organischen Ganzen der Wissenschaft enthalte. Die Methodenlehre des akademischen Studiums ziele somit auf die Erkenntnis dieses lebendigen Zusammenhangs ab, und das heißt im Falle Schellings: auf die Identitätsphilosophie. Mehr noch: Schelling meint, dass diese Art der Erkenntnis letztlich den Forschungserfolg sicherstellt. Programmatisch verkündet er in der 1. Vorlesung: Von der Fähigkeit, alles, auch das einzelne Wissen, in dem Zusammenhang mit dem Ursprünglichen und Einen zu erblicken, hängt es ab, ob man in der einzelnen Wissenschaft mit Geist und mit derjenigen höhern Eingebung arbeite, die man wissenschaftliches Genie nennt.43
So weit geht Fichte freilich nicht. In seinem Entwurf ist weniger die Entdeckung neuer Einsichten das, was die Philosophie ermöglichen soll, als vielmehr, das Wissen „zu gebrauchen” und „es in Werke zu verwandeln”.44 _____________ 39 40 41 42 43 44
Ebd., S. 62, 79 ff u. 139 ff. Vgl. ebd., S. 84. Vgl. ebd., S. 71. Vgl. zum Folgenden die 1. Vorlesung, zitiert nach: Anrich, a. a. O., S. 4 ff. Anrich, a. a. O., S. 8. In: Müller, a. a. O., S. 62 u. 71.
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Um die Effizienz der Lehranstalt in der Erreichung dieses Zweckes zu garantieren, unterwirft er Studenten und Lehrer strengen Regeln und einem festen Curriculum und möchte sie am liebsten fern von den Anfechtungen der bürgerlichen Welt leben lassen.45 Doch wäre der sich dabei vielleicht aufdrängende Gedanke monastischer Weltabgeschiedenheit irreführend, wenn man ihn so ohne Weiteres auf Fichtes Plan anwendete. Denn die Universität bleibt eine Vorbereitungsstufe auf die Bewährung des Erlernten im Leben. Und sie soll, als eine durch die Vernunft bestimmte Gemeinschaft, das Bild eines „vollkommenen” Staates abgeben und damit Vorbild für die Verhältnisse der Gesellschaft sein, in der Fichtes Lehranstalt – seine „Akademie”, wie er sie auch nennt – besteht.46 Fichtes Entwurf war keine besondere Berücksichtigung durch Humboldt beschieden, als dieser die Struktur der Berliner Universität entwarf. Humboldt sollte in seinem berühmten Organisationsplan schreiben, dass die Wissenschaft an der Universität als „etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten und unablässig als solche zu suchen” sei.47 Fichtes auf Professionalisierung und Umsetzung von letzter Prinzipienerkenntnis ausgerichtetes Institut konnte mit einer solchen Wissenschaftsauffassung schwerlich harmonieren. Während für Humboldt die Freiheit des Studiums die Voraussetzung gelingender Wissenschaft werden sollte, war für Fichte die Wissenschaft – wie er sie verstand – mit der Freiheit identisch. Hier noch besondere individuelle Freiräume und Wahlmöglichkeiten zu gestatten, musste auf die Verführung zur Unfreiheit, d. h. zur moralischen Heteronomie bei den Zöglingen hinauslaufen. Faktisch war Fichtes Lehranstalt tatsächlich so etwas wie eine Spezialschule – aber eine für die Wahrheit, und zwar für die wesentliche wissenschaftliche Wahrheit. Dies und nicht die Verbindung mit einem universellen menschlichen Bildungsideal sicherte ihr die Allgemeinheit ihrer Studien.48 Der Antipode Fichtes und ebenbürtige Gegner, auch wichtigste Bezugspunkt Humboldts in seinen eigenen Überlegungen aber wurde ein Autor, der vom Ministerium gar nicht aufgefordert war, eine Denkschrift _____________ 45 46 47 48
Ebd., S. 99 ff u. 72. Ebd., S. 156 f. Zitiert nach: Müller, a. a. O., S. 275. Vgl. auch Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation (1808), Anfang der 3. Rede. In: ders.: Werke. Hrsg. v. Fritz Medicus. Leipzig 1908 ff, Bd. 5, S. 407: „Sie [die reine Sittlichkeit, d. Vf.] ist die besonnene und sichere Kunst dieser sittlichen Erziehung. Sie schreitet nicht planlos und auf gutes Glück, sondern nach einer festen und ihr wohlbekannten Regel einher, und ist ihres Erfolges gewiß. Ihr Zögling geht zu rechter Zeit als ein festes und unwandelbares Kunstwerk dieser ihrer Kunst hervor, das nicht etwa auch anders gehen könne, denn also, wie es durch sie gestellt worden, und das nicht etwa einer Nachhilfe bedürfe, sondern das durch sich selbst nach seinem eignen Gesetze fortgeht.”
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vorzulegen, und der, verärgert darüber, 1808 einen eigenen ausführlichen Entwurf veröffentlichte. Die Rede ist von Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher und seinen Gelegentlichen Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende.49 Schleiermacher konzipierte in diesem Text eine dezidiert liberale Bildungsinstitution. Er war einig mit den meisten anderen Gutachtern, dass die Universität nur dann wahrhaft wissenschaftlich sein könne, wenn sie frei von staatlichen Nutzeninteressen existiere, woraus bei ihm eine strikte Trennung von Staat und Wissenschaft resultierte.50 Der Staat, zumal der preußische, habe die Kultur in Deutschland zu fördern, aber nicht zu bevormunden, ist der Tenor der Gelegentlichen Gedanken. Und vergleichbar zur Haltung der anderen war auch Schleiermacher davon überzeugt, dass die eigentliche Universität in der philosophischen Fakultät verkörpert sei. Sie ist für ihn auch die einzige, die ihre innere Einheit zu artikulieren vermag, während die anderen Fakultäten nur von Staatsinteressen zusammengehalten werden.51 Aber ebenso deutlich formuliert Schleiermacher auch, dass sich die Einheit aller Erkenntnis philosophisch nicht rein darstellen lasse, sondern nur in ihrem lebendigen Einfluss auf alles Wissen.52 Daraus folgt eine zu Fichte diametral entgegengesetzte Auffassung vom Zweck der Universität. Sie soll den wissenschaftlichen Geist in der Jugend erwecken, nicht ihn als Kunstprinzip dozieren. Sie soll den Freiraum dafür schaffen, dass die Studenten mit „Lust und Liebe” selbständig ihre Fächer studieren und nicht unter einer vorgegebenen Ordnung. Einen besonders prägnanten und auch heute noch höchst lesenswerten Ausdruck findet diese Haltung in Schleiermachers Verteidigung der studentischen Freiheit an der Universität. Er begreift diese mit allen ihren Allüren als einen Raum und eine Zeit der charakterlichen Selbstfindung der Studenten, die wiederum ein wichtiges Mittel darstellt, selbstständige Erkenntnis auszubilden.53 Schleiermacher kann hierbei sogar so weit gehen, studentische Duelle zu rechtfertigen.54 Kein Geringerer als der junge Karl Friedrich Savigny, der Begründer der historischen Rechtsschule, konnte in einer Rezension der Gelegentlichen Gedanken aus demselben Jahr zu diesem Abschnitt sagen: „So wahr und geistreich hat noch niemand über das Wesen und den Wert der akademischen Freiheit gesprochen.”55 Schleiermacher aber vermochte _____________ 49 Zitiert nach: Müller, a. a. O., S. 159 ff. 50 Vgl. zum Verhältnis von Staat und Universität Müller, a. a. O., S. 176 ff, 184 u. 252 f. 51 Ebd., S. 198 ff. 52 Ebd., S. 180 f. Vgl. auch ebd., S. 190 f. 53 Ebd., S. 219 ff. 54 Ebd., S. 227 f. 55 Zitiert nach: Müller, a. a. O., S. 265.
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deshalb so zu argumentieren, weil er, wie später Humboldt, die Bildung nicht als etwas Fertiges, als Regeln und Prinzipien auffasste. Die Universität war für ihn insofern auch nicht ein Instrument, sondern eher ein Ort der Bildung, der im Gegensatz zu andern Orten für diesen Zweck eben prädestiniert ist. Und daher war die individuelle und wirkliche Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit für ihn nicht nur etwas zu Regulierendes oder gar zu Beschränkendes, sondern sie war das Organ der Bildung selbst. Mit dieser Auffassung stand Schleiermacher schließlich derjenigen Wilhelm von Humboldts besonders nahe. Humboldt hatte in der kurzen Zeit, in der er Sektionschef für die Bildung und den Unterricht war, die Vorbereitungen für die Einrichtung der Berliner Universität so weit voranbringen können, dass diese 1810 tatsächlich gegründet werden konnte. Seine theoretischen Ansichten über die Aufgabe dieser Universität hat er aber nirgends vollständig dargelegt. Der wichtigste Text und gewiss schon klassisch ist das Fragment Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin.56 Es ist kaum möglich, diesen äußerst gedrängten und vielschichtigen Text in diesem Rahmen in angemessener Weise zu erörtern. Es sollen daher nur zwei Punkte zur Sprache kommen, die aber besonders charakteristisch sind, sowohl in der Weiterführung, als auch in der Zuspitzung bereits zur Sprache gekommener Ansichten. Humboldt teilt die Auffassungen vom allgemeinen Charakter der an der Universität zu lehrenden Wissenschaft. Er betont verschiedentlich den Gedanken der „reinen Idee der Wissenschaft” oder der „Wissenschaft als solcher”.57 Hierin scheint Humboldt der idealistischen Philosophie nahe zu stehen. Doch bemerkenswerter Weise vindiziert er diese Idee nicht der Philosophie oder der philosophischen Fakultät. In Philosophie und Kunst, so heißt es lakonisch, spreche sich ein solches Streben nur „am meisten und abgesondertsten” aus.58 Wissenschaft als solche zu suchen ist vielmehr etwas, das sich unabhängig von einem philosophischen Propädeutikum anstreben lässt. Es dürfte kaum ein Zufall sein, dass in diesem Zusammenhang auch die Worte von der „Einsamkeit und Freiheit”, als der im Kreise der Wissenschaft „vorwaltenden Prinzipien”, fallen.59 Humboldt waren diese Worte offenkundig besonders wichtig, denn sie stehen in einer fast
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1809 oder 1810. Zitiert nach: Müller, a. a. O., S. 273 ff. Etwa Müller, a. a. O., S. 274 u. 277. Ebd., S. 276 f. Ebd., S. 274.
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zeitgleichen Schrift, dem sogenannten „Litauischen Schulplan”,60 noch einmal. Die Erläuterung, die Humboldt hier gibt, ist aufschlussreich: Der Universität ist vorbehalten, was nur der Mensch durch und in sich selbst finden kann, die Einsicht in die reine Wissenschaft. Zu diesem SelbstActus im eigentlichsten Verstand ist notwendig Freiheit, und hülfereich Einsamkeit, und aus diesen beiden Puncten fließt zugleich die ganze äußere Organisation der Universitäten.61
Die Freiheit, von der hier gesprochen wird, soll also dazu dienen, die Spontaneität in der Verfolgung einer solchen reinen Wissenschaft zu garantieren. Von der Philosophie oder einer vergleichbaren Hinführung ist nirgends die Rede. Humboldt hat sich in diesem Punkt von der idealistischen Theoriebilddung also emanzipiert!62 – Aber diese Humboldtsche Freiheit hat noch einen anderen Gesichtspunkt, in dem sich die Überlegungen des Organisationsplanes auch mit den Ausführungen Schleiermachers eng berühren. Denn Humboldt wird nicht müde zu betonen, dass der Staat aus den wissenschaftlichen Anstalten und deren Tun sich nach Möglichkeit herauszuhalten habe.63 Die Charakterbildung geschehe durch die Wissenschaft alleine und eine Einmischung durch den Staat bedrohe die Freiheit, die wiederum die Voraussetzung der Wissenschaft sei. Humboldts Entschlossenheit in diesem Punkt hat nicht nur etwas mit seinem Begriff von Wissenschaft zu tun, sondern vor allem mit seinem Begriff vom Staat. In dem frühen Text Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792)64 opponiert Humboldt geradezu die Bildung zum Menschen derjenigen zum Bürger, d. h. zum Untertan. Das Menschengeschlecht, heißt es dort, könne sich nur durch die Ausbildung der Individuen höher entwickeln. Diese müsse in der größten Vielfalt geschehen, aber die öffentliche Erziehung sei zu einseitig. Sie sei nur auf die „bürgerlichen”, d. h. staatsbürgerlichen, Verhältnisse gerichtet. Dabei habe der Staat am meisten von selbsttätigen Menschen und der Auseinanderset-
_____________ 60 Unmaßgebliche Gedanken über den Plan zur Einrichtung des Litauischen Stadtschulwesens, zitiert nach: Andreas Flitner (Hrsg.): Humboldt. Anthropologie und Bildungslehre. Düsseldorf und München 1956. 61 Flitner, a. a. O., S. 79. 62 Ähnlich Dietrich Benner: Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie. Eine problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform. 2. Aufl. Weinheim/München 1995, S. 211 f.; anders Clemens Menze: Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts. Hannover 1975, S. 317. 63 In: Müller, a. a. O., S. 274 ff. 64 Zitiert nach: Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel. Stuttgart 1960, Bd. 1, S. 56 ff.
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zung mit ihnen. Deshalb, so Humboldts Schlussfolgerung schon damals, sei der Staat bei der Menschenbildung überflüssig.65 Beide Auffassungen Humboldts sind in den Gedanken von der akademischen Freiheit, wie er sich im 19. Jahrhundert durchsetzte, eingeflossen. Es ist in diesem Zusammenhang aber wichtig festzuhalten, dass gerade Humboldt zwei Kritikpunkten nicht ausgesetzt werden kann, die für gewöhnlich mit der Bildungskonzeption dieser Zeit verbunden werden: dass ihr Wissenschaftskonzept einer philosophischen Doktrin folgt, einer Leitoder Orientierungsdisziplin, und damit vorurteilsbehaftet sei – und dass sie auf eine zwar hervorragende kulturelle Bildung ihrer Absolventen, aber zugleich auf eine unpolitische, idealistisch versponnene Untertanenhaltung dieser hinauslaufe. Humboldts Ideal der „Einsamkeit und Freiheit” meint nicht gesellschaftlichen Eskapismus, sondern geistige Autonomie.66
IV Mit Humboldts Entwürfen hat eine Diskussion einen Abschluss gefunden, in der die wichtigsten Elemente moderner Universitäts- und Ausbildungskonzeptionen entfaltet und durchdacht wurden. Hierbei zeigte sich erstaunlicherweise, dass die anfänglichen, wenn auch zuweilen unklar bleibenden, positiv gemeinten Ideen von gesellschaftlicher und moralischer Erziehung, aber auch von effektiver und philosophisch erleuchteter Wissenschaft zum Schluss in ein abstraktes Ideal geistiger und sozialer Autonomie mündeten. Schleiermacher und Humboldt, doch auch schon Fichte und Schelling markieren so in der Bildungstheorie das Ende der Aufklärungsepoche. Dass dieses hier so genannte „abstrakte Ideal” im Hintergrund der Berliner Universitätsgründung stand, hat sicher die Anpassungsmöglichkeit der deutschen Universität an die modernen wissenschaftlichen Entwicklungen begünstigt, bei zugleich bestehender hoher Leistungsfähigkeit im Einzelnen. Aber die Frage, was denn nun die von allen so angestrebte Bildung _____________ 65 Humboldt, Werke, a. a. O., S. 103 ff. – Ähnlich Henrik Steffens: Vorlesungen über die Idee der Universitäten, 2. Vorlesung (zitiert nach: Anrich, a. a. O., S. 324): „Ein jeder gebildete Staat erkennt es an, daß die Grenze seiner Gewalt da sei, wo das Geistige ausgeht.” 66 Zu Humboldts Anthropologie sind besonders zu vergleichen: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, Kapitel 6; Über das Studium des Altertums und des griechischen insbesondere; Theorie der Bildung des Menschen sowie Über den Geist der Menschheit. Die Texte finden sich in den Bdn. 1 u. 2 der Werke. Vgl. ferner die genannte Arbeit von Dietrich Benner (s. Fußnote 62) und Clemens Menze: Wilhelm von Humboldts Lehre und Bild vom Menschen. Ratingen 1965.
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positiv auszeichne, blieb unbeantwortet. Das neuhumanistische Konzept schützte wohl die Wissenschaften und ihre Forschung, blieb aber die konkrete Bestimmung von deren Funktion und Bedeutung für den Einzelnen schuldig. Es ist 60 Jahre später Friedrich Nietzsche vorbehalten gewesen zu erkennen, dass sich die Wissenschaft so nicht dauerhaft davor schützen kann, erneut zu einem den Menschen innerlich nicht mehr betreffenden Betrieb auszuarten. Nietzsches Basler Vorträge Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten67 sind in erster Linie ein zeitdiagnostisches Dokument. Nietzsche konstatiert hier, dass sich die wissenschaftliche und schulische Bildung hinsichtlich des Umfangs des Wissens und der Beteiligten zwar erweitert habe und dies weiter tue, dass sie sich aber hinsichtlich der Intensität und Qualität der Bildungsleistungen abschwäche.68 Verantwortlich für diese Entwicklung ist laut Nietzsche – wir kennen diesen Gegner nun schon – das Nützlichkeitsdenken von Gesellschaft und Staat. Er prangert ausführlich und wortreich das Gewinnstreben seiner Zeit an, das, statt die wahren Bildungsanstrengungen zu unternehmen, in Spezialismus, Brotgelehrsamkeit und Journalistik abdriftet.69 Dazu kommt noch, dass der Staat sich selbst zum Ziel aller Bildungsbemühungen mache und über seine Bildungseinrichtungen eine „uniformierte Staatskultur” verbreite.70 Statt dass man sich in den Dienst der Bildung stelle, versuchten Staat und Gesellschaft diese stets nur für bildungsfremde Zwecke zu benutzen.71 Nietzsches Beschreibungen des Übelstandes sind z. T. äußerst sarkastische Kulturkritik. Während sich die Entwürfe um 1800 noch um den intellektuellen oder moralischen Verfall sorgten, konzediert Nietzsche seiner Epoche einen charakterlichen Niedergang, der ihr selbst verborgen bleibt. Die Betrachtung der Persönlichkeit des Einzelnen wird in dieser – Nietzscheschen – Sicht von der Betrachtung der Gesellschaft verdrängt oder auf diese reduziert. Dabei interessiert Nietzsche die allgemeine Bildung selbst wenig. Er hält Volksbildung eher für einen Teil des Problems72, da sie Ausdruck des _____________ 67 1872. Zitiert nach: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari. München 1980, Bd. 1, S. 641 ff. (abgekürzt als: KSA, Bd.). – Nur die 5. Vorlesung widmet sich den Universitäten, die anderen vier handeln hauptsächlich vom Gymnasium; doch wie aus KSA 1, S. 675 u. S. 738 ff. hervorgeht, gelten die Überlegungen dort prinzipiell auch für die Universitäten. Weitere Reflexionen finden sich in Schopenhauer als Erzieher (KSA 1) und in den Nachgelassenen Fragmenten 1869-1974 (KSA 7). 68 KSA 1, S. 647 u. 667. 69 Vgl. etwa KSA 1, S. 667 ff. 70 KSA 1, S. 707 f. 71 KSA 1, S. 729 f. 72 KSA 1, S. 668 f.
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mangelnden Wissens vom aristokratischen Charakter der Bildung ist, von der notwendigen „Improportionalität”73 zwischen der Zahl der wahrhaft Gebildeten und derer, die sich darum bemühen. – Nietzsches Verfahren in seiner Kritik gleicht dem Rückgriff auf die Vergangenheit. Ähnlich wie den Konzeptionen von Humboldt und Schleiermacher ermangelt auch Nietzsches Konzeption einer positiven Bestimmung des Bildungsbegriffs. Zwar soll die Bildung Selbstzweck sein, den Menschen veredeln und dem Leben dienen, doch welcher Art sie ihrerseits ist, bleibt unklar. Andererseits macht sich Nietzsche den Mythos der Bildung auch zunutze: er verwendet das Ideal der Bildung, das seine Hörer kennen und hochschätzen, als Appell, sich mit den zweckrationalen Formen der zeitgenössischen Schul- und Universitätserziehung nicht länger zufrieden zu geben. Zugleich verspricht er denen, die wahre Bildung anstreben, ein stärkeres Maß an Zucht und an Führung.74 Die Aura eines Mönchsordens scheint dabei mitzuschwingen, wenn Nietzsche von „Gehorsam und Gewöhnung an die Zucht des Geistes” spricht.75 Aber es zeigt sich darin auch das Dilemma der Nietzscheschen Variante des Bildungsgedankens: Nietzsche steht mit seiner eigenen Idee zwischen Humboldt und Fichte, zwischen einem offenen und einem geschlossenen Bildungskonzept.76 Immerhin hat diese Ambiguität auch ihre Vorteile: sie erlaubt es Nietzsche, seiner Kulturkritik eine besondere Schärfe zu geben, da er die Verhältnisse seiner Epoche mit den Idealvorstellungen verschiedener Bildungskonzeptionen zugleich messen kann.77 _____________ 73 74 75 76
KSA 1, S. 665. Vgl. KSA 1, 740 f. KSA 1, 729. Vgl. hierzu vom Vf. „Bildungsanstalten” beim frühen Nietzsche. Die Universitätsidee Nietzsches zwischen Fichte und Humboldt. In: Nietzscheforschung 12 (2005), S. 97 ff. 77 Es ist bemerkenswert, dass auch in der modernen Bildungsforschung die These vertreten wird, um 1870 sei eine erste Zäsur in der Entwicklung der Universität nach der Berliner Neugründung erreicht worden. Schon zu dieser Zeit habe sich die Universität in Deutschland erheblich von den Bildungsidealen Humboldts abgekehrt (vgl. Rüdiger vom Bruch: Langsamer Abschied von Humboldt? Etappen deutscher Universitätsgeschichte 1810-1945. In: Mitchell G. Ash (Hrsg.): Mythos Humboldt. Vergangenheit und Zukunft der deutschen Universitäten. Wien u. a. 1999, S. 30 ff (ohne Bezug auf Nietzsches Vorträge)). Nietzsches Unbehagen dürfte somit nicht nur in seinen individuellen Erwartungen an die Institutionen Gymnasium und Universität, sondern auch in der Registrierung wirklicher Veränderungen begründet gewesen sein. Von den bei von Bruch (S. 35 ff.) erwähnten vier Aspekten der Humboldtschen Universitätsidee – Abgrenzung gegenüber der Staatstätigkeit, Umformung der tradierten universitas litterarum zur philosophisch begründbaren Einheit der Wissenschaften, Bildungsbegriff der organischen Selbstentfaltung des Einzelnen, Befreiung der Wissenschaft aus der enzyklopädi-
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Nietzsche steht mit dieser Position nicht am Ende einer alten Diskussion, sondern eher am Anfang einer neuen. Sie kann als epigonal in dem Sinne bezeichnet werden, dass sie entweder implizit oder explizit auf die Diskussion um 1800 Bezug nimmt, anstatt diese selbst eigenständig weiterzuführen. Die „alte” Diskussion wirkt von nun an wie eine Norm oder ein Spiegel, der der eigenen Zeit vorgehalten wird. Man fragt jetzt nicht mehr: was ist Bildung? oder: was soll sie sein?, sondern nur noch: ist Bildung? und: soll sie sein? Vergleicht man jedoch die Situation, in der letztere Fragen gestellt werden, mit derjenigen, in der die erstgenannten gestellt wurden, also mit der Situation der Fichte, Schleiermacher, Humboldt und Schelling, dann kann man sich des Eindrucks nur schwer erwehren, dass die Epoche jener Denker gerade heute wieder als die glücklichere angesehen werden muss.
_____________ schen Wissenschaftstradition und Ausrichtung auf das Prinzip Forschung – konstatiert Nietzsche erkennbar die Abkehr der zeitgenössischen Universität von den ersten drei Prinzipien.
„Mannigfaltigkeit und Tätigkeit“. Wilhelm von Humboldts kritische Kulturphilosophie Günter Zöller [...] es erscheint mir unedel, überall da, wo es der Mensch ist, welcher die Untersuchung beschäftigt, nicht von den höchsten Gesichtspunkten auszugehen.1
Gegenstand der folgenden Überlegungen ist der kulturphilosophische Beitrag des philosophischen Frühwerks von Wilhelm von Humboldt. Im Mittelpunkt steht die bei Humboldt vorliegende enge Verbindung von Naturphilosophie und Kulturphilosophie. Der erste Abschnitt verfolgt die systematischen Anfänge der Kulturphilosophie in der klassischen deutschen Philosophie. Der zweite Abschnitt präsentiert den frühen Humboldt als einen immer noch unterschätzten Beiträger zur nachkantischen philosophischen Diskussion in Anthropologie, Geschichtsphilosophie und politischer Philosophie. Der dritte Abschnitt verfolgt die Übertragung des naturphilosophischen Bildungsbegriffs in die Sphäre von Kultur und Gesellschaft beim frühen Humboldt. Der vierte Abschnitt behandelt die natur- und kulturphilosophischen Grundlagen von Humboldts politischem Liberalismus in dessen früher Schrift Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Der fünfte Abschnitt erörtert abschließend die politische Aktualität von Humboldts doppeltem Junktim von Kulturphilosophie und politischer Philosophie sowie von Kulturphilosophie und Naturphilosophie.
Kulturphilosophie: heute, gestern und vorgestern Die Kulturphilosophie erfreut sich derzeit einer bemerkenswerten Konjunktur. Anthologien mit klassischen und zeitgenössischen Texten zu Fra-
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Wilhelm von Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. Nachwort von Robert Haerdter. Stuttgart 1967, S. 87.
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gen und Problemen der Kulturphilosophie erscheinen2, Bücher werden publiziert, die über die Kulturphilosophie allgemein orientieren sollen3, philosophische Institute offerieren kulturphilosophische Curricula4, und Lehrstühle werden im Fach Kulturphilosophie ausgeschrieben. Dabei ist nicht nur das Lehrfach Kulturphilosophie jüngeren Datums. Auch die disziplinäre Richtung Kulturphilosophie ist gerade einmal hundert Jahre alt und überdies im wesentlichen eine deutsche akademische Spezialität. Da wundert es nicht, wenn ein guter Teil der derzeit publizierten Texte zur Kulturphilosophie diese selbst zum Thema haben und erst einmal oder vorwiegend vom Selbstverständnis der Kulturphilosophie, ihrer Methodik, Thematik und Programmatik handeln. Der anhaltende Prozess der Selbstdefinition der Kulturphilosophie ist dabei nicht zuletzt auf den Umstand zurückzuführen, dass sich die Kulturphilosophie seit ihren disziplinären Anfängen in Lebensphilosophie und Neukantianismus bei Georg Simmel und Ernst Cassirer5 über ihre Fortentwicklung in der philosophischen Hermeneutik, Pädagogik6 und Anthropologie bei Erich Rothacker7 und Eduard Spranger8 bis in ihre gegenwärtige _____________ 2 3
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Vgl. Ralf Konersmann (Hrsg.): Kulturphilosophie. Leipzig 1996 sowie Franz-Peter Burkard (Hrsg.): Kulturphilosophie. Freiburg/München 2000. Ralf Konersmann: Kulturphilosophie zur Einführung. Hamburg 2003; Anton Grabner-Haider: Kritische Kulturphilosophie. Graz 1995; Carl-Friedrich Geyer: Einführung in die Philosophie der Kultur. Darmstadt 1994; Andreas Hetzel: Zwischen Poiesis und Praxis. Elemente einer kritischen Theorie der Kultur. Würzburg 2001 sowie Thomas Gil: Kulturphilosophie des Alltags. Berlin/Baden-Baden 1999. Ein früher, „unzeitgemäßer“ Beitrag zum Thema ist Walter Ehrlich: Kulturphilosophie. Tübingen 1964. Siehe die Studienangebote zum Bereich Kulturphilosophie und Ästhetik am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig (http://www.unileipzig.de/~kuwi/lehrea.html) und zur Kulturphilosophie Ost- und Ostmitteleuropas am Departement der Philosophie der Universität Freiburg (Schweiz) (http://www.unifr.ch/philo/de/dept/orientale/index.htm). Zu Cassirers Weg von Marburger Neukantianismus zur Berliner Kulturphilosophie siehe Ernst Wolfgang Orth: Von der Erkenntnistheorie zur Kulturphilosophie. Studien zu Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Würzburg 1996. Zur Gesamtdeutung von Cassirers Philosophie der symbolischen Formen als Kulturphilosophie siehe Ronnie M. Peplow: Ernst Cassirers Kulturphilosophie als Frage nach dem Menschen. Würzburg 1998. Zur Entwicklung der Kulturphilosophie im Kontext der Pädagogik siehe auch Friedrich Kainz: Hauptprobleme der Kulturphilosophie im Anschluß an die kulturphilosophischen Schriften Richard Meisters. Wien 1977. Zu der nach den Anfängen der Kulturphilosophie im Spätneukantianismus (Windelband, Rickert, Cassirer) und der Lebensphilosophie (Simmel) unter dem Einfluss Diltheys erfolgten Entwicklung einer materialen, anthropologisch spezifischen Kulturphilosophie bei Rothacker siehe die im Abstand eines halben
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Renaissance hinein, die nicht von ungefähr mit dem Wiederaufleben des Interesses am Neukantianismus und speziell am Werk Ernst Cassirer koinzidiert,9 niemals nur als eine weitere Sparte des sich disziplinär ausdifferenzierenden akademischen Philosophiebetriebs verstanden hat, sondern immer auch – und zumeist überwiegend – als eine, und oft sogar als die Grundform des Philosophietreibens. Kulturphilosophie soll nicht einfach Philosophie der Kultur sein, so wie es eine Philosophie-der-Logik oder eine Philosophie-der-Biologie gibt. Vielmehr versteht sich die Kulturphilosophie als philosophische Verständigung darüber, dass und wie wir Menschen unsere Mit- und Umwelt, und damit uns selbst, durch unser eigenes Tun verändern und (mit-)gestalten. Als solcherart zentral mit unserem Selbstverständnis befasste Philosophie drängt die Kulturphilosophie tendenziell in die traditionell von anderen Disziplinen, zumal der alten Metaphysik, der jüngeren Erkenntnistheorie und der jüngsten Geistphilosophie („philosophy of mind“) ausgeübte Leitfunktion der Ersten Philosophie.10 Diesem unter ihren Vordenkern und Praktikanten weit verbreiteten radikalen und avantgardistischen Selbstverständnis entspricht auch der teils latente, teils explizite Anspruch der Kulturphilosophie, ältere thematisch ähnliche oder verwandte Formen philosophischer Selbstverständigung wie die (philosophische) Anthropologie, die Geschichtsphilosophie oder die Ästhetik und Kunstphilosophie auf zeitgemäße Weise zu beerben und deren einstige Anliegen unter veränderten philosophischen Bedingungen, namentlich denen des „cultural turn“, fortzuführen. Doch ins gegenwärtige Bild und Selbstbild der Kulturwissenschaft gehören nicht nur die Züge von Übernahme und Besetzung klassischer Posi_____________ Jahrhunderts verfasste Darstellung des Rothacker-Schülers Wilhelm Perpeet: Kulturphilosophie. Anfänge und Probleme. Bonn 1997. 8 Die einschlägigen Aufsätze Sprangers aus dem Zeitraum von 1926 bis 1961 sind gesammelt in Eduard Spranger: Gesammelte Schriften. Bd. 5: Kulturphilosophie u. Kulturkritik. Hrsg. v. Hans Wehnke. Tübingen 1969. 9 Siehe dazu Christian Krijnen/Ernst W. Orth (Hrsg.): Sinn, Geltung, Wert. Neukantianische Motive in der modernen Kulturphilosophie. Würzburg 1998; Heinz Paetzold: Die Realität der symbolischen Formen. Die Kulturphilosophie Ernst Cassirers im Kontext. Darmstadt 1994; Gerold Hartung: Das Maß des Menschen. Weilerswist 2003; Birgit Recki: Kultur als Praxis. Eine Einführung in die Philosophie Ernst Cassirers. Berlin 2003 und Enno Rudolph: Ernst Cassirer im Kontext. Tübingen 2003. 10 Siehe dazu Ernst W. Orth: Was ist und was heißt „Kultur“? Dimensionen der Kultur u. Medialität der menschlichen Orientierung. Würzburg 2000, S. 7. Kritisch äußert sich zur Tauglichkeit der Kulturphilosophie als Fundamentalwissenschaft Alois Dempf: Kulturphilosophie. München 1932 (Handbuch der Philosophie. Hrsg. v. Manfred Schröter), S. 8 f.
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tionen und Problemstellungen. Die anhaltenden Bemühungen um eine zeitgemäße Kulturphilosophie sind ebenso sehr geprägt durch die dezidierte Distanzierung von ihren klassischen Anfängen und Vorläufern. Bei aller traditionellen Selbstlozierung ist der gegenwärtige Diskurs über Kulturalität wesentlich geprägt durch Problemhorizonte, die über das klassische Erbe hinauszureichen und mit dessen Mitteln nicht aufarbeitbar scheinen. Zu diesen gegenwärtigen Fragestellungen der Kulturphilosophie gehören die Perspektive auf maximal divergente synchrone Kulturformen (globale Interkulturalität), die Fokussierung auf das Innovationspotential der „neuen Medien“ (digitale Medialität von Kultur), einschließlich der Dominanz des Bildes gegenüber dem Wort („iconic turn“), sowie die Orientierung auf das kulturelle Erklärungspotenzial der Bio- und insbesondere der Neurowissenschaften (neuronale Kulturalität). Angesichts dieser rezenten Gegenstände kulturphilosophischer Methoden- und Sachreflexion treten die klassischen Positionen der Kulturphilosophie mit ihrer paradigmatischen Orientierung an westlicher schriftlicher Hochkultur tendenziell in den Hintergrund. Dies gilt insbesondere für die kulturphilosophischen Teile, Aspekte und Werkkomplexe der klassischen deutschen Philosophie von Kant, Jacobi und Herder bis Fichte, Schelling und Hegel, die allenfalls noch als entfernte, ahnungslose und naive Vorläufer, von denen es sich abzusetzen gilt, in Betracht zu kommen scheinen. Einzelne Autoren argumentieren gar, dass die idealistische Kulturphilosophie (eine Kulturphilosophie avant la lettre, denn der Terminus lässt sich erst im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert nachweisen) aufgrund ihrer „metaphysischen Konvention des Hinausfragens über den Horizont des Humanen“ die Kultur als solche gerade aus dem Blick verliere. Erst die „Abwendung vom Idealismus der Wesensschau“, zu dem der Autor auch noch die nachidealistischen Positionen von Marx, Darwin und Freud rechnen möchte, bringe die Kultur als spezifisch menschliche Daseinsform angemessen in den Blick.11 Gegenüber dieser Tendenz, gültige kulturphilosophische Reflexion allenfalls mit Simmel und Cassirer beginnen zu lassen, ist aus historischen wie sachlichen Gründen darauf zu insistieren, dass die reklamierten Begründer der Kulturphilosophie, zumal deren Hauptexponent Ernst Cassirer, ihrerseits im produktiven und kritischen Rückgriff auf die klassische deutsche Philosophie operieren und dass sich auch noch der gegenwärtige interkulturelle, medial orientierte und biowissenschaftlich informierte Diskurs über Kultur in einem kategorialen Rahmen bewegt, der sich der philosophischen Reflexion um 1800 verdankt. Insbesondere ist daran zu erinnern, dass die von Cassirer in den Mittelpunkt kulturphilosophischer _____________ 11 Konersmann, 1996, a. a. O., S. 18 f.
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Analyse und Theoriebildung gerückten Grundbegriffe von Form und Funktion12 auf die philosophische Selbstverständigung Kants und seiner Nachfolger zurückgehen und dass die von der klassischen wie gegenwärtigen Kulturphilosophie geforderte und praktizierte metaphysische Abstinenz nicht denkbar wäre ohne die von Kant sowie den Nach- und Neukantianern entwickelte Kritik der traditionellen Substanzmetaphysik und Naturteleologie. Gegenüber diesen methodologischen und doktrinalen Innovationen der klassischen deutschen Philosophie wiegt die peinliche Präsenz kultureller Vorurteile in den kulturphilosophischen Reflexionen um 1800 in systematischer Hinsicht vergleichsweise gering, betrifft sie doch nicht so sehr den argumentativen Kern der philosophischen Errungenschaften als vielmehr deren zeitgemäße – und damit historisch kontingente – Ausgestaltung. Freilich ist ein Hauptgrund für die perzipierte philosophische Anstößigkeit und Unzulänglichkeit der klassischen kulturphilosophischen Reflexion um 1800 deren normativer Grundzug, an dem auch noch das scheinbar historistisch und relativistisch vereinnehmbare Werk Herders partizipiert. Bei aller Bemühung um sachgerechte Erfassung der kulturellen Phänomene überwiegt in den kulturphilosophischen Ansätzen um 1800 die Frage nach den solchen Erscheinungen zugrundeliegenden und sie strukturierenden Bedingungen und damit nach prinzipiellen Formen kulturellen Lebens. Dies ist auch da der Fall, wo – wie bei Herder – eine kontingente Vielzahl von Erscheinungsformen menschlicher Kultur im Mittelpunkt steht. Hinzu kommt die durchgängige Tendenz der kulturphilosophischen Reflexion um 1800, die formal einer Vereinheitlichung unterzogene kulturelle Vielfalt als einen gerichteten Entwicklungsprozess aufzufassen und damit ein kryptometaphysisches Element von Zweck- und Zielgerichtetheit aufrechtzuerhalten. Insgesamt ergibt sich so das Bild einer gesetzlich strukturierten und teleologisch konzipierten Norm von Kulturalität, an dem im kulturphilosophische Diskurs um 1800 die partikularen Manifestationen kulturellen Lebens gemessen werden können und sollen. Doch statt eilfertig das Vorliegen universalistischer und normativer Erkenntnis- und Geltungsansprüche als anachronistisch im Verhältnis zu heutigen Standards zu monieren und daraus die Obsoleszenz der klassischen kulturphilosophischen Reflexionsleistungen herzuleiten, bietet der Rückgriff auf die um 1800 auf mannigfache Weise entwickelten und mit Emphase vertretenen Überlegungen zu den Bedingungen, Formen und _____________ 12 Ernst Cassirer: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik (Erstveröffentlichung 1910). Darmstadt 1980 sowie ders.: Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bde. (Erstveröffentlichung 1923, 1925 bzw. 1929). Darmstadt 1973/1977.
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Funktionen von Kulturalität die Chance, das gegenwärtige Theoretisieren über Kultur in seiner eigenen historisch-systematischen Bedingtheit zu erfassen und mit alternativen Ansätzen produktiv zu konfrontieren. Insbesondere die derzeit in kulturphilosophischen Debatten immer wieder geltend gemachte Wertneutralität und Wertpluralität im Nachdenken über unterschiedliche diachrone und synchrone Kulturen findet in der normativen Dimension der klassischen Kulturphilosophie ihr produktives Kontra und mögliches Korrektiv, zumal die in der philosophischen Diskussion um 1800 kurrente Normativität überwiegend nicht in spezifischen gegenständlich fixierten Normen („Werten“ oder „Gütern“ der vorkantischen praktischen Philosophie) besteht, sondern in formal und funktional ausgezeichneten Verfahren oder besser noch: Verfahrensweisen für die eigene, freie Gewinnung von Normen und Regeln. Damit wird die simple Alternative von spätmoderner Wertfreiheit und traditionalistischer Wertverhaftetheit erweitert um das klassisch-moderne Unternehmen der vernünftig-freien Begründungsleistung von Normativität. Im Rückgriff auf die Positionen der klassischen deutschen Philosophie lässt sich so ein Begriff von Kultur, und damit von Kulturphilosophie, ins Spiel bringen, der die unvollständige Disjunktion von dogmatischem Wahrheitsanspruch und „anything goes“ unterlaufen zu können verspricht und dessen charakteristisches Junktim von Traditionsskepsis und antirelativistischem Geltungssinn Anspruch darauf erheben könnte, eine spezifisch „kritische“ Gestalt von Kulturphilosophie zu repräsentieren.
Wilhelm von Humboldt: ein zu entdeckender Kulturphilosoph Beispielhaft für das diskursive Potential der kritischen kulturphilosophischen Reflexion um 1800 ist das Werk Wilhelm von Humboldts, insbesondere dessen frühe Arbeiten zur politischen Philosophie sowie zu anthropologischen, geschichtsphilosophischen, ästhetischen und kunstphilosophischen Themen und Fragestellungen aus den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts. Mit diesem Werkkomplex gehört der junge Humboldt (er ist 1767 geboren und hält sich 1794-95 sowie 1796-97 in Jena auf), zum engeren Kreis der in der Auseinandersetzung mit Kant und Goethe auf originelle Weise produktiv gewordenen deutschen Gelehrten und Schriftsteller des ausgehenden Jahrhunderts. Angeregt durch Kants kritische Schriften und dessen geschichtsphilosophische Beiträge in der Berliner Monatsschrift und bereichert durch persönliche Erfahrungen im revolutionären Paris (1789) entsteht ab 1791 in kurzer Folge eine Serie von Abhandlungen und Aufsätzen, in denen Humboldt, zeitgleich mit Schiller und Fichte, die politische und zeitgeschichtliche Reflexion auf fortgeschrittenem philoso-
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phischem Niveau mit grundsätzlichen Überlegungen zu Form und Funktion von Kultur verbindet. Dabei entgeht der politisch wie philosophisch reformerisch (und nicht revolutionär) gesinnte Humboldt den bei Schiller wie Fichte anzutreffenden kulturphilosophischen Extremen. Weder ästhetisiert er das Politische und die Kultur insgesamt, wie dies der Kulturrevolutionär Schiller in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) tut. Noch politisiert er die gesamte Kultur, wie dies der Radikaldemokrat Fichte („Jakobiner“) zunächst in seinen Revolutionsschriften (1793/94) tut, um deren Freiheitspathos dann in der Wissenschaftslehre als dem „erste[n] System der Freiheit“ spekulativ zu überhöhen.13 Die moderate Position Humboldts in politischen wie philosophischen Fragen erweist sich so als langfristig stabiler und anschlussfähiger als die Extrempositionen mancher seiner Zeitgenossen. Insgesamt findet sich bei Humboldt ein Ebenmaß des Denkens und Handelns und ein durchgehaltenes Gleichgewicht zwischen Empirie und Spekulation, das ihn von gewissen gedanklichen Exzessen seiner Zeitgenossen abhebt und seinen Überlegungen zu den Formen und Funktionen von Kulturalität ein hohes und aktualitätsfähiges Erklärungspotential verleiht. Angesichts dieser aktuellen Qualität von Humboldts Werk muss die relative Nichtbeachtung seines philosophischen Frühwerks in der gegenwärtigen Selbstverständigung der Kulturphilosophie zunächst befremden. Zwar hat Ernst Cassirer in den einschlägigen Partien des dritten Bandes seiner Philosophie der symbolischen Formen programmatisch wie inhaltlich auf die Sprachphilosophie des späten Humboldt zurückgegriffen. Doch haben weder er noch seine gegenwärtigen Interpretinnen und Interpreten noch auch die Champions der gegenwärtigen Kulturphilosophie die ebenso originellen wie aktuellen Voraussetzungen von Humboldts vergleichendem Sprachstudium in seinen frühreifen philosophischen Arbeiten der neunziger Jahre zur Kenntnis genommen und gewürdigt. Für diese Blindheit gegenüber Humboldts philosophischer Leistung lassen sich zwei Hauptgründe namhaft machen: der Überlieferungszustand von Humboldts philosophischem Frühwerk und, damit zusammenhängend, die weitverbreitete Auffassung von der Marginalität und Inferiorität des Philosophen Humboldt. Der Großteil der von Humboldt zwischen 1791 und 1799 verfassten Arbeiten, die in der modernen Edition von Andreas Flitner und Klaus Giel gut 500 Textseiten umfassen14, wurde von Humboldt nicht publiziert und _____________ 13 Siehe J. G. Fichte Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Hrsg. v. Reinhard Lauth u. Hans Gliwitzky. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962 ff., Reihe III, Bd. 2, S. 297-299 (Briefentwurf an J. Baggesen vom April oder Mai 1795). 14 Siehe Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel. Stuttgart 1960, Bd. 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, S. 1-518.
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in den meisten Fällen nicht einmal in abgeschlossener Form ausgearbeitet. Teile von umfangreicheren Arbeiten erschienen in Zeitschriften, namentlich in Biesters Berliner Monatsschrift und in Schillers Thalia und Horen.15 Doch die meisten frühen Arbeiten Humboldts wurden erst lange nach seinem Tod (1835) veröffentlicht und deshalb weder zu Humboldts Lebzeiten rezipiert noch in die Philosophiegeschichtsschreibung der klassischen deutschen Philosophie einbezogen. Hinzu kommt, dass in Humboldts äußerer Biographie lange Jahre einer privaten Gelehrtenexistenz immer nur für begrenzte und zumeist kurze Zeit von innegehabten und ausgeübten Ämtern unterbrochen wurden: von 1790 bis 1791 war er Referendar und Legationsrat im preußischen Staatsdienst; von 1802 bis 1808 Preußischer Resident am Heiligen Stuhl in Rom; von 1809 bis 1810 Direktor der Sektion Unterricht und Kultus im preußischen Ministerium des Innern; und von 1810 bis 1819 als Gesandter und Minister im preußischen Staatdienst tätig. Der bei Humboldt immer wieder vorzufindende Rückzug aus Amt und Würden in die private Existenz hat dazu beigetragen, in Humboldt den hochbegabten, aber ebenso konflikt- wie publikationsscheuen „Mann von Stand“ zu sehen, der über die nötigen Mittel verfügte, nur sich selbst zu leben und am eigenen Leben wie an einem Kunstwerk tätig zu sein – ein Selbstverständnis, dem allerdings eher der selbststilisierte „Olympier“ Goethe gerecht werden dürfte. Jedenfalls speist sich aus diesen biographischen Umständen das gängige Bild Humboldts als eines „gentleman scholar“ fern vom akademischen Betrieb und seinen literarischen Usancen und der damit verbundene Eindruck des Dilettantismus, der noch im Titel einer jüngeren, Humboldt im übrigen recht wohlgesonnenen Monographie zum Ausdruck kommt („un eccelente dilettante“16). Doch statt Humboldts fragmentarisches und weitgehend erst postum publiziertes philosophisches Frühwerk an den ganz anders gearteten Lebens- und Arbeitsbedingungen seiner Zeitgenossen, zumal der bestallten Philosophen unter ihnen, zu messen, sollte man Humboldts untypische intellektuelle Biographie als produktiven Faktor in der Entwicklung seines philosophischen Denkens begreifen, der ihn zu originellen Leistungen in solchen Bereichen befähigt hat, die außer schulischem Wissen und zünftiger Arbeitsweise weitläufige Erfahrung erfordern. Die auf seinen zahlrei_____________ 15 Ideen über die Staatsverfassung, durch die neue französische Constitution veranlaßt (Berlinische Monatsschrift 1792); Teilabdruck von Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (Thalia und Berliner Monatsschrift 1793); Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur und Über die männliche und weibliche Form (beide Horen 1793). 16 Antonio Carrano: Un eccelente dilettante. Saggio su Wilhelm von Humboldt. Con una nota di Fulvio Tessitore. Neapel 2001.
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chen, oft längeren Reisen und ausgedehnten Auslandsaufenthalten erworbenen anthropologischen, geographischen, gesellschaftlichen und staatspolitischen Kenntnisse, zusammen mit seiner im Privat- und Universitätsstudium (Frankfurt/Oder, Göttingen) erworbenen Vertrautheit mit Philosophie, Geschichte, alten Sprachen und Literatur, Recht und Naturwissenschaften haben Humboldt befähigt, im gezielt gesuchten und aufrechterhaltenen Abstand vom wissenschaftlichen und akademischen Alltag einen eigenen und originellen Beitrag zur deutschen kulturphilosophischen Diskussion zwischen Spätaufklärung und Frühidealismus zu leisten. Unter seinen Zeitgenossen ist Humboldts akademische Exterritorialität und die damit verbundene geistige Unabhängigkeit vergleichbar nur mit dem originellen Außenseitertum des gefeierten Weltumseglers, geachteten Anthropologen und glücklosen Mainzer und dann Pariser Revolutionärs Georg Forster (1754-1794)17 sowie des weitgereisten und bis kurz vor seinem Lebensende akademisch ignorierten Privatgelehrten Arthur Schopenhauer. Doch wie schon im Verhältnis zur theoretischen und praktischen Vehemenz Fichtes und Schillers zeichnet sich Humboldts Denken gegenüber der politischen Ungeduld Forsters und der philosophischen Insolenz Schopenhauers durch eine Weltläufigkeit und Moderation aus, die ihn Wissen mit Weisheit und Einsicht mit Selbstbescheidung und Moderation auf vorbildliche Weise vereinbaren lässt.
Humboldts Grundbegriffe: Bildung, Kraft und Individualität Die in Humboldts Werk und speziell in seinem philosophischen Frühwerk anzutreffende Verknüpfung von Weltkenntnis mit Schulwissen, von Empirie mit Spekulation, bildet eine besonders fruchtbare Grundlage für die Reflexion über jenen Bereich der Wirklichkeit, dessen Erfassung sich dem naturwissenschaftlich geprägten Gesetzesbegriff ebenso zu entziehen scheint wie der erschöpfenden Beobachtung und Beschreibung von Fakten – dem Bereich der Kultur als des Inbegriffs menschlicher Hervorbringungen in Natur und Gesellschaft. Humboldts Überlegungen zu den Formen und Normen von Kulturalität stehen dabei im Kontext seiner langjährigen Bemühungen um eine Charakteristik des Menschen im Allgemeinen und speziell der eigenen Zeit als der Ära von Aufklärung, Wissenschaft und _____________ 17 Zu Forsters Einfluss auf das politische Denken Humboldts siehe Detlev Rasmussen: Georg Forster, Wilhelm von Humboldt und die Idee der Freiheit. In: ders. (Hrsg.): Der Weltumsegler und seine Freunde. Georg Froster als gesellschaftlicher Schriftsteller der Goethezeit. Tübingen 1999, S. 133-174, bes. S. 140-143 u. S. 159 f.
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Revolution.18 Thematisch schließt Humboldt mit seinen Überlegungen an die zeitgenössischen Arbeiten in Anthropologie und Geschichtsphilosophie zum Charakter des Menschen als Einzelwesen, als Gesellschaftswesen und als Gattungswesen an. In methodischer Perspektive ist das zentrale philosophische Problem bei der inhaltlich spezifischen Festlegung von Charakteren verschiedener Extension (Individuum, Gemeinschaft, Nation, Menschheit) die Ermittlung solcher Regularitäten, die kriteriologisch dazu dienen können, die Allgemeinheitsfähigkeit des Besonderen herauszustellen. In der Kritik der Urtheilskraft (1790) hatte Kant für die Erfassung der Gesetzlichkeit des Zufälligen als solchen die Tätigkeit der freien, „reflektirenden“ Urteilskraft eingeführt, die nicht, wie die gebundene, „bestimmende“ Urteilskraft im Ausgang vom vorliegenden Allgemeinen fallweise Gegebenes mechanisch darunter subsumiert, sondern im Ausgang vom jeweils gegebenen Besonderen ein etwa herrschendes Gesetzlich-Allgemeines allererst interpretatorisch erschließen soll.19 Der offene, im Prinzip unabschließbare, Charakter des reflektierenden Urteilens erweitert dabei die von Kant bislang auf den naturwissenschaftlichen Gegenstandsbereich eingeschränkte Konzeption von Erfahrung um einen spezifisch hermeneutischen Begriff von Erfahrung als Medium des reflektierenden Gleichgewichts zwischen dem logischen Erfordernis von Allgemeinheit und der faktischen Kontingenz des Besonderen. Besonders virulent wird das spannungsreiche Verhältnis von Besonderem und Allgemeinem im hermeneutisch erweiterten Erfahrungsbegriff im Hinblick auf die gesetzliche Bestimmtheit menschlichen Tuns und Handelns. Partikulares Sein und Geschehen ist daraufhin zu befragen, welche allgemeinen, fallinvarianten Formen und Strukturen das scheinbar zufällig Eintretende regulieren. Dabei sind obwaltende Gesetzlichkeiten nicht einfach dem Faktischen zu entnehmen, so als könnten sie umstandslos an diesem abgelesen werden. Vielmehr ist das Besondere daraufhin zu untersuchen, in welche umfassenderen Ordnungsverhältnisse es sich einfügen lässt, damit aus dem vereinzelten Buchstabieren des Besonderen die Lektüre eines sinnvollen kulturellen Textes werden kann.20 _____________ 18 Siehe dazu insbesondere Das Achtzehnte Jahrhundert. In: Humboldt, Werke, a. a. O., Bd. 1, S. 376-505 sowie Plan einer vergleichenden Anthropologie (ebd., S. 337-375). 19 Siehe Kant’s gesammelte Schriften. Hrsg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften (Bd. 1-22), der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Bd. 23) und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (ab Bd. 24). Berlin bzw. Berlin/New York 1900 ff, Bd. 5, S. 179-194 (Einleitung, IV-VII). 20 Das Bild vom zunächst nur erst buchstabierten Text, der dann in einem zweiten Schritt als lesbarer Text in Erscheinung tritt, stammt von Kant selbst, der es in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik heranzieht, um zwischen (Ein-
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Kant selbst hat das Verfahren der reflektierenden Urteilskraft auf die beiden Domänen der ästhetischen und teleologischen Betrachtung der Natur angewandt, dabei das subjektiv-notwendige Prinzip der Zweckmäßigkeit zugrundegelegt und so die Reflexion auf die Allgemeinheitsfähigkeit des Besonderen an die apriorische Voraussetzung einer den Erkenntnisbedingungen konformen Natur gebunden.21 In Kants geschichtsphilosophischen Arbeiten entspricht dem subjektiven Prinzip teleologischer Naturbetrachtung das subjektive Prinzip teleologischer Kulturbetrachtung, dem zufolge die menschliche Geschichte als freiwillig-unfreiwilliges, durch Operation naturaler Mechanismen bewerkstelligtes unendliches Fortschreiten zur moralisch gebotenen globalen Rechtsordnung („ewiger Friede“) anzusehen ist.22 Gegenüber diesen apriorischen Teleologien von Natur und Kultur sind die im engeren Sinne anthropologischen Betrachtungen Kants vorwiegend faktisch-deskriptiver Art und beschränken sich weitgehend auf die Inventarisierung kurrenter Vorstellungen zur Disposition der Vermögen und Kräfte des Gemüts (einschließlich von deren Pathologien), zu den vier Temperamenten sowie zu den Charakteren der beiden Geschlechter und der verschiedenen Nationen.23 Im Vergleich zur Kantischen Disjunktion von apriorischer Kulturteleologie und aposteriorischer Kulturanthropologie erscheint Humboldts kulturphilosophische Reflexion in der Theorie homogener und in der Ausführung detailgenauer. An die Stelle inhaltlich spezifischer Zielvorgaben, die unter dem Titel „Bestimmung“ (vocatio, destinatio) das Nachdenken über Kultur bei Kant und den meisten seiner Zeitgenossen prägen,24 tritt bei Humboldt die durchweg formale, inhaltlich ganz unspezifische Grundvorstellung vom Menschen als dem sich selbst bildendem Wesen. Faktisch ist damit der Mensch als Kulturwesen definiert – als Wesen, das sich selbst zu dem bildet, was es ist. Den zentralen Begriff der Bildung entnimmt Hum_____________
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zel-)Wahrnehmung und (Gesetzlichkeits-)Erfahrung zu unterscheiden. Siehe Kant’s gesammelte Schriften, a. a. O., Bd. 4, S. 312. Siehe Kant’s gesammelte Schriften, a. a. O., Bd. 5, S. 201-356 u. S. 357-485 (Kritik der ästhetischen Urtheilskraft bzw. Kritik der teleologischen Urtheilskraft). Siehe Kant’s gesammelte Schriften, a. a. O., Bd. 8, S. 15-31, bes. S. 27 f (Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, Achter Satz). Siehe Kant’s gesammelte Schriften, a. a. O., Bd. 7, S. 125-282 und S. 283-333 (Anthropologische Didaktik bzw. Anthropologische Charakteristik der Anthropologie in pragmatischer Absicht) sowie ebd., Bd. 25, 1-2 (Vorlesungen über Anthropologie). Siehe dazu Günter Zöller: Die Bestimmung der Bestimmung des Menschen bei Mendelssohn und Kant. In: Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des 9. Internationalen Kant-Kongresses (26. bis 31. März 2000 in Berlin). Hrsg. v. Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horstmann u. Ralph Schumacher. Berlin/New York 2001, Bd. 4, S. 476-489.
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boldt dabei der zeitgenössischen naturphilosophischen und speziell biologischen Diskussion über die Bildung oder Formation der Wesen in der Natur, insbesondere die Bildung der Lebewesen. So rekurriert der Göttinger Anatom und vergleichende Zoologe Blumenbach (1752-1840) auf einen den Lebensprozessen zugrundeliegenden „Bildungstrieb“ (nisus formativus),25 den Kant in der Kritik der Urtheilskraft affirmativ aufnimmt und der später auch von Goethe, unter Verweis auf Kant, übernommen wird.26 Der ursprünglich aus der Naturphilosophie stammende Bildungsbegriff wird sodann in der deutschen Spätaufklärung, namentlich bei Mendelssohn und Kant, zusammen mit den Begriffen „Aufklärung“ und „Kultur“, definitorisch für das modernistische Projekt der Selbstbestimmung des Menschen. Dabei dient der Begriff der Bildung als generischer Titel für die praktisch-technische Selbstbestimmung durch Kultur einerseits und für die theoretisch-kognitive Selbstbestimmung durch Aufklärung anderseits.27 Humboldt selbst gebraucht immer wieder die stehende Wendung „Aufklärung und Kultur“ für das theoretisch-praktische Doppelanliegen der Menschenbildung.28 Von der naturphilosophischen in die kulturphilosophische Sphäre transferiert, meint so „Bildung“ die Formung des Menschen durch den Menschen selbst und umfasst sowohl die Formung eines Menschen oder mehrerer Menschen durch einen oder mehrere andere Menschen als auch die eminente Selbstbestimmung des einzelnen durch sich selbst. In Humboldts Übernahme und Fortführung des naturphilosophisch begründeten und kulturphilosophischen erweiterten Bildungsbegriff spielt zusätzlich der von Goethe zu Beginn der neunziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts in der Botanik entwickelte Begriff der Metamorphose eine Rolle, bei dem es sich um das Konzept der progressiven Umbildung eines vorgegebenen Bestandes nach festgelegtem Schema („Urpflanze“) unter variablen Bedingungen und mit unterschiedlichen Produkten handelt.29 Es bedarf nach dem Gesagten nicht eigens der Erwähnung, dass das gegenwärtig geläufige Verständnis von Bildung als geistigem wie materiellem _____________ 25 Siehe Johann Friedrich Blumenbach: Über den Bildungstrieb und das Zeugungsgeschäfte. Göttingen 1781. Unter dem Titel: Über den Bildungstrieb. Göttingen 1789. 26 Siehe Kant’s gesammelte Schriften, a. a. O., Bd. 5, S. 424 (§ 81) sowie Johann Wolfgang von Goethe: Bildungstrieb (Erstdruck 1812). In: ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. v. Erich Trunz. 9., neubearb. Aufl. Hamburg 1981 ff, Bd. 13, S. 32-34. 27 Siehe dazu Günter Zöller: Kant, Fichte und die Aufklärung. In: Fichte und die Aufklärung. Hrsg. v. Erich Fuchs, Marco Ivaldo, Carla de Pascale u. Günter Zöller. Hildesheim/New York 2004, S. 35-52. 28 Siehe z. B. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, a. a. O., S. 16. 29 Siehe Johann Wolfgang von Goethe: Die Metamorphose der Pflanzen (1790). In: ders.: Werke, a. a. O., Bd. 13, S. 64-101. Für Humboldts expliziten Verweis auf Goethes Schrift siehe Humboldt, Ideen zu einem Versuch, a. a. O., S. 25.
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Besitz von Kulturgütern, die gar in die fazil kosumierbare Handlichkeit eines Kanon sollen gebracht werden können, eine absurde Depravation und Perversion dieses natur- wie kulturphilosophischen Grundbegriffs der deutschen Spätaufklärung und des deutschen Frühidealismus darstellt. Einen naturphilosophischen Hintergrund hat auch der bei Humboldt mit dem kulturphilosophischem Grundbegriff der Bildung korrelierte Begriff dessen, was der Bildung unterliegt oder besser: ihr zu unterziehen ist. Humboldt fasst das (logische) Subjekt bzw. das (ontologische) Objekt von Bildung als „Kraft“. Der Ausdruck entstammt der modernen dynamischen Konzeption der Natur als Produkt von physischen Kräften, deren Widerspiel, speziell deren Gleichgewicht, sich die Stabilität der Natur bei aller ihrer Varianz verdanken soll. Leibniz hatte die ursprünglich physikalisch aufgefasste Dynamik der Natur unter Rückgriff auf Aristoteles’ Lehre von der Entelechie metaphysisch interpretiert und erweitert. Substanzen galten ihm als suisuffiziente Kraftzentren für progressive Selbstentfaltung („développement“, Entwicklung) und wurden überdies von ihm als von geistiger Natur – als vorstellend und wollend – angesehen (Monaden). Die inflationäre Handhabung des Kraftbegriffs führte dann in der deutschen Philosophie nach Leibniz einerseits zu immer spezifischeren Ansätzen physischer wie geistiger Kräfte und andererseits zu Versuchen, die Pluralität, ja Infinität der Kräfte auf wenige Grundkräfte oder gar auf Eine Grundkraft zurückzuführen (typischerweise die „vis repraesentativa“ oder Vorstellungskraft). Konzeptuell weichenstellend ist die Übernahme einer ursprünglich biologischen Kontroverse in die naturphilosophische und metaphysische Theoriebildung des achtzehnten Jahrhunderts. Den Präformisten, die alle Entwicklung (von Einzelwesen wie Kräften) bloß für die quantitative Expansion eines Keimes halten, treten die Epigenetiker entgegen, für die Entwicklung die Verwirklichung von Anlagen und damit den Eintritt eines zwar virtuell Vorbereiteten, aber nicht zuvor bereits aktual Vorliegenden und insofern das Auftreten eines Neuen beinhaltet.30 Dem metaphysischen Präformationismus von Leibniz tritt damit ein Epigenetizismus entgegen, der Kraftentwicklung nicht als bloße Entfaltung eines latent Präsenten, sondern als bereichernden, differenzierenden Zuwachs auffasst. Unter den für Humboldt wichtigen Anregern sind Herder wie Kant Epigenetiker – und dies nicht nur in der Theorie der Generation, sondern ebenso in der Kulturphilosophie und, zumindest im Fall Kants, in der Erkenntnislehre.31 _____________ 30 Zum wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund siehe Shirley A. Roe: Matter, Life and Generation. Eighteenth-Century Embryology and the Haller-Wolff Debate. Cambridge 2003. 31 Siehe Kants Ausführungen zum „System der Epigenesis der reinen Vernunft“ in der Kritik der reinen Vernunft, B 167 („Transzendentale Deduktion der reinen
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Im Einsatz und der Ausgestaltung des Kraftbegriffs bei der Grundlegung seiner Kulturphilosophie, die terminologisch exakter, aber unter Gefahr der Banalisierung als „Bildungsphilosophie“ anzusprechen wäre, folgt Humboldt allerdings weniger Herders Pandynamismus, der tendenziell alle Natur, ja das ganze Universum als animiert ansieht, als vielmehr Kants kritischem Verfahren, das Vorliegen von Kräften zwar hypothetisch im Ausgang von gezielt beobachteten gleichförmigen Wirkungen zu erschließen, aber auf die Identifikation einer einheitlichen Grundkraft, die mehr wäre als der gemeinsame Titel pluraler Kräfte zu verzichten.32 Für Humboldt sind Kräfte nur über ihre Manifestationen und nach deren Maßgabe anzusetzen: Nur die Betrachtung der wirkenden Kräfte und ihrer Wirkungen, nur also die Erfahrung, sei es die innere in unsrem eignen Bewusstsein, oder die äussre durch Beobachtung, Ueberlieferung und Geschichte, kann hier Lehrmeisterin sein.33
Besondere Schwierigkeiten konzediert Humboldt bei dem Versuch, die Vielfalt der Wirkungen im menschlichen Leben auf spezifische Kräfte und deren gesetzmäßige Entfaltung zurückzuführen. Alle derart zu erwerbende Erkenntnis ist ihrem Wesen nach „nur immer allgemein“, während doch „jede menschliche Handlung ein Resultat der ganzen Beschaffenheit der Kräfte des Handelnden ist, in ihrer durchaus bestimmten Individualität“.34 Der von Humboldt hier eingebrachte Begriff der Individualität ist nach dem der Bildung und dem der Kraft der dritte Grundbegriff von Humboldts Kulturphilosophie. Anders als der korrelativ zum Allgemein-Gesetzlichen konzipierte Begriff des Fallweisen-Besonderen bringt der Begriff des Individuellen dasjenige zum Ausdruck, was sich als solches der kognitiven Erfassung entzieht und dabei ein Letztes, Unreduzierbares an Wirklichkeit oder selbständiger Existenz beinhaltet. Individuell ist so für Humboldt nicht nur der einzelne Mensch, sondern alles und jedes in seiner komplexen, aus dem Zusammenspiel multipler Kräfte resultierende Eigenbestimmte, das immer mehr ist als der besondere Fall eines zu korrelierenden Allgemeinen.35 Doch kommt der Individualität besondere Bedeutung zu im _____________
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Verstandesbegriffe“). Siehe dazu auch Günter Zöller: Kant on the Generation of Metaphysical Knowledge. In: Hariolf Oberer/Gerhard Seel (Hrsg.): Kant. Analysen – Probleme – Kritik. Würzburg 1988, S. 71-90. Siehe Kant’s gesammelte Schriften, a. a. O., Bd. 8, S. 180-182, bes. Anm. 2 („Über den Gebrauch teleologischer Principien in der Philosophie“). Humboldt, Werke, a. a. O., Bd. 3, S. 46 („Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte“). Ebd., S. 49. Zur Entdeckung des Individuellen in der ästhetischen Reflexion des achtzehnten Jahrhunderts siehe Alfred Bäumler: Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und
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Bereich der Gestaltung von Natur und Gesellschaft durch menschliches Handeln – der Kultur –, bei dem die „physischen, intellektuellen und moralischen Kräfte“36 einander gegenseitig beeinflussen und in der Dynamik ihrer multiplen Interaktion eine Individualität zustandebringen, die von keinem Intellekt auf die zugrundliegenden Kräfte und obwaltenden Gesetze zurückgeführt werden kann. Humboldts Individualisierung des kulturphilosophischen Kraftbegriffs steht in der Tradition von Leibniz’ Auffassung der Monaden als individueller Kraftzentren mit einem je eigenen Gesichtspunkt, aus dem die Welt in perspektivischer Brechung perzipiert wird. Doch anders als bei Leibniz unterliegt die Kraft bei Humboldt externen Bedingungen ihrer Entwicklung. Erst das Zusammentreffen einer Kraft, die innerlich vorliegt und bereitliegt, mit Umständen, die die jeweilige Kraft zur Wirkung zu bringen vermögen, führt zur individuellen Kraftäußerung. Nach Humboldts Auffassung sind dabei die Umstände der individuellen Kraftwirkung nicht lediglich veranlassende Umstände (Okkasionen) für einen in der Kraft bereits vorbestimmten Manifestationsverlauf, sondern mitgestaltende Faktoren bei der Festlegung der Art und der Richtung einer Kraftäußerung. Verbunden mit der Kant verpflichteten Überzeugung Humboldts von der Unerkennbarkeit der Kraft als solcher, die nur von ihren Wirkungen her erschlossen werden kann, führt dies zu einer radikal offenen Konzeption von Kraft als der Grundlage multipler, differenter und in ihrer Multiplizität und Differenziertheit unvorhersehbarer Verwirklichungen. Doch gehört zu Humboldts Bild von der Kraft als offen-unbestimmter Basis bestimmter Äußerungen auch die Einschränkung, dass sich eine gegebene Kraft unter gegebenen Umständen immer nur einseitig und nicht in der Fülle äußern kann, die erst eine Vielzahl unterschiedlicher Umstände bei der Kraftäußerung hervorzubringen vermag. Schließlich führt die konstitutive intrinsische Unbestimmtheit des Kraftbegriffs bei Humboldt auch dazu, Kräfte aller Art als formal gleich anzusehen und insbesondere den Unterschied zwischen Kräften physischer und solchen intellektueller oder moralischer Art nicht als einen radikalen Gegensatz anzusehen, sondern als unterschiedliche Positionierung in einem Spektrum von Krafttypen, das extensional von der unbelebten Natur bis zum Menschen und intensional von physikalischen bis zu geistigen Kräften reicht.
_____________ Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft. Mit einem Nachwort zum Neudruck 1967. Darmstadt 1975. 36 Siehe Humboldt, Werke, a. a. O., Bd. 3, S. 53 („Über die Gesetze der Entwicklung der menschlichen Kräfte“).
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Energische Tätigkeit Auf der Grundlage der ins Kulturphilosophische transponierten naturphilosophisch begründeten Dreieinheit von Bildung, Kraft und Individualität entwickelt Humboldt eine normative Konzeption von menschlicher Entwicklung, in deren Mittelpunkt die Freiheit steht. Doch anders als in den gleichzeitigen kulturkritischen Ansätzen von Schiller und Fichte ist die Freiheit bei Humboldt nicht das normative Ziel oder der Zweck des Menschen. Vielmehr fungiert für Humboldt die Freiheit als notwendige Bedingung für die dynamisch-individuelle Selbst-Bildung des Menschen.37 Freiheit ist für Humboldt auch nicht, jedenfalls nicht vorwiegend, der im Ausgang von Kant radikal gefasste, metaphysisch dimensionierte Begriff vernünftiger Selbstgesetzlichkeit (Autonomie). Vielmehr rekurriert Humboldt auf einen dezidiert politisch gefassten Begriff von Freiheit, der – in Kantischer Begrifflichkeit formuliert – die Freiheit des äußeren Willkürgebrauchs beinhaltet38 und also in systematischer Hinsicht nicht in die Sphäre der Moralphilosophie gehört, sondern zur Rechtsphilosophie. Diesem Grundverständnis entsprechend hat Humboldt die systematischen Grundlinien seiner Kulturphilosophie im Rahmen einer staatstheoretischen Schrift entwickelt, die 1792 abgeschlossen vorlag, zur gleichen Zeit in Auszügen publiziert wurde, aber vollständig erst, ein halbes Jahrhundert nach ihrem Entstehen, im Jahr 1851 veröffentlicht wurde. Mit den Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (so der Titel der Schrift, die ihr Autor auch das „grüne Buch“ nannte) hat Humboldt einen der klassischen Texte des politischen Liberalismus verfasst, der zur Entstehungszeit eine unbeachtete genuine Alternative zur Staatsphilosophie des aufgeklärten Absolutismus wie der pseudodemokratischen Parteidiktatur des revolutionären Jakobinertum bereitstellte. Wirksam wurde Humboldts Schrift dann seit der Mitte des 19. Jahrhunderts insbesondere in der angelsächsischen politischen Theorie, ausgehend von John Stuart Mills Freiheitsmanifest On Liberty (1859), dem bürgerlich-liberalen Gegenstück zum Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels (1848). In der Schrift nennt Mill Humboldt wiederholt und nachdrücklich als seinen Vorläufer und Anreger.39 In deut_____________ 37 Siehe Humboldt, Ideen zu einem Versuch, a. a. O., S. 15. 38 Siehe Kant’s gesammelte Schriften, a. a. O., Bd. 6, S. 219 f. (Die Metaphysik der Sitten, Einleitung III.) 39 Siehe John Stuart Mill: On Liberty. Annotated Text, Sources and Background Criticism. Hrsg. v. David Spitz u. W. W. Norton. New York 1975, S. 54 f., 68, 95 f., 100 u. 114 f.
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schen Landen hat allerdings die fatale Allianz des politischen Liberalismus mit dem Nationalismus während des 19. und auch des 20. Jahrhunderts Humboldts Staatsschrift, die eine Staatskritikschrift ist, die fortgesetzte Nichtbeachtung gesichert. Und auch in der deutschen akademischen Humboldt-Rezeption wurden immer wieder die antiliberalen Vorwürfe des Individualismus, Formalismus und Kosmopolitismus gegen Humboldts politische Theorie wie auch gegen die dieser zugrundeliegende Theorie der menschlichen Bildung erhoben.40 Der kulturphilosophische (oder bildungstheoretische) Grundsatz Humboldts, der den staatstheoretischen Ausführungen der Schrift zugrunde liegt und der als das philosophische Credo ihres Autors gelten kann, lautet: „Der wahre Zweck des Menschen [...] ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen.“41 An dieser definitorischen Festlegung ist viererlei hervorzuheben. Erstens die inhaltliche Unbestimmtheit des Zwecks, der damit nicht in einem vorgegebenen zu Bildenden liegt, sondern im Vorgang des Bildens selbst; zweitens die normative Orientierung nicht auf einen einzelnen Menschen oder auch jeden einzelnen Menschen hin, sondern auf den Menschen als (unerreichbares) Ideal; drittens die Bezugnahme auf plurale Kräfte, deren jede Gegenstand von Bildung sein soll; sowie viertens die Vorstellung einer Einheitsbildung, die nicht reduktiv viele Kräfte auf eine zurückführt oder in eine zusammenführt, sondern die Pluralität von Kräften in ein harmonisch gespanntes, produktives Verhältnis bringt und so die komplexe Einheit eines in sich gegliederten Ganzen hervorbringt. Damit nun das Ziel, der in allen Kräften ganzheitlich zur Ausbildung gelangende Mensch, erfolgreich verfolgt werden kann, bedarf es, Humboldt zufolge, zweier unabdingbarer Voraussetzungen: „Freiheit [...] und Mannigfaltigkeit der Situationen“.42 Die allseitig-harmonische Bildung der Kräfte des Menschen kann nur stattfinden, wenn die von innen erfolgende Entwicklung der einzelnen Kräfte ebenso wie deren wechselseitige Einwirkung auf einander nicht durch äußere Umstände gehemmt oder gar verhindert wird. Doch genügt zur Entfaltung der einzelnen Kräfte und zu deren Fortentwicklung im freien Zusammenspiel nicht schon die Absenz von externem Zwang. Vielmehr bedarf es der Herausforderung des in den Kräften bereitliegenden Potentials durch vielfältige Anregungen von außen. Jede Einseitigkeit im Umfeld einer zur Entwicklung bereitliegenden Kraft führt ihrerseits zu einer bloß einseitigen Äußerung der jeweiligen _____________ 40 Irmgard Kawohl: Wilhelm von Humboldt in der Kritik des 20. Jahrhunderts. Ratingen 1969, bes. S. 89 ff. 41 Humboldt, Ideen zu einem Versuch, a. a. O., S. 22. 42 Ebd.
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Kraft und verhindert damit die zu erzielende maximal komplexe Ausprägung („Bildung“) der Kräfte. So lautet die Humboldtsche Losung für die Bildung des Menschen durch den Menschen: „Mannifaltigkeit und Tätigkeit“.43 Allerdings konzediert Humboldt auch, dass der Mensch als endlichbegrenztes Wesen in jeder Situation nur einseitig zu handeln vermag: „Jeder Mensch vermag auf einmal nur mit einer Kraft zu wirken, oder vielmehr sein ganzes Wesen wird auf einmal nur zu einer Tätigkeit gestimmt.“44 Doch kann und soll der Mensch die fallweise Einseitigkeit kompensieren. Dies geschieht zunächst, auf der Ebene des Individuums, durch die „Verbindung“ der eigenen jeweils einseitig ausgeübten Kräfte zu einem diachronen biographischen Ganzen, das allerdings immer noch durch die Einseitigkeit des jeweiligen Individualcharakters gekennzeichnet ist. Erst auf der interindividuellen Ebene, durch „Verbindung mit andren“45, vermag der einzelne Mensch indirekt jene Viel-, ja Allseitigkeit zu erreichen, die dem Kräftebildungsideal der Ganzheit entspricht. Humboldts Insistieren auf der Bildung und Ausbildung von menschlicher Individualität beinhaltet also keinen isolationalistischen Individualismus, sondern ist, ganz im Gegenteil, an den korrelativen Begriff der Verbindung gebunden, durch den der eine am „Reichtum des andren“ partizipiert, ohne das Eigene aufzugeben. Das Musterbeispiel solcher „Selbständigkeit der Verbundenen“ bei gleichzeitiger „Innigkeit der Verbindung“ ist für Humboldt die „Verbindung der beiden Geschlechter“, zu der er in zwei anderen frühen Arbeiten eine natur- und kulturphilosophische Geschlechtertheorie entwickelt hat, die ein modernes Gegenstück zu Platons Eroslehren aus dem Symposium darstellt.46 Das doppelte Erfordernis von individueller Selbständigkeit und interindividueller Verbindung bestimmt auch Humboldts liberale Theorie über den Vorzug der freien Vereinigung vor zwangsmäßiger Korporation durch den Staatsapparat und die daraus abgeleitete kulturelle Minimalfunktion des Staates als des Garanten von Rechtlichkeit („Sicherheit“).47 Humboldts Hauptargument gegen jede über die Rechtssicherung hinausgehende staatliche Regulierung ist die mit solcher Vorsorge verbundene Einseitigkeit der Situationen, die die freie Bildung der Kräfte vereitelt und zu men_____________ 43 44 45 46
Ebd., S. 31. Ebd., S. 22. Ebd. Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur (1794), in Humboldt, Werke, a. a. O., Bd. 3, S. 268-295 sowie Über die männliche und weibliche Form (1795), ebd., S. 296-336. 47 Zur Alternative von Sicherheit und „Wohlanstand“ oder „Glückseligkeit“ als Zweck des Staates siehe Humboldt, Ideen zu einem Versuch, a. a. O., S. 29 ff.
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schenunwürdiger Uniformität führt, indem sie „aus Menschen Maschinen“ macht.48 Das Zusammenspiel der individuellen Kräfte zum gesellschaftlichen Ganzen versteht Humboldt denn auch nicht nach dem Modell eines zu stabilisierenden Gleichgewichts, sondern als agonales Verhältnis der produktiven Auseinandersetzung im spannungsreichen Miteinander.49 Der zentrale naturphilosophische Begriff, der Humboldts kulturphilosophischer Reflexion über die freie ganzheitliche Bildung der Kräfte des Menschen zugrunde liegt, ist der der „energischen Tätigkeit“ oder kurz der „Energie“.50 Mit „Energie“ bezeichnet Humboldt den Modus der Bildung des Menschen durch sich selbst, die sich nämlich nicht einfach zuträgt als Geschehen von Kraftmanifestation unter günstigen Umständen, sondern die vom Menschen initiativ zu erwirken ist unter Einsatz von Spontaneität und „Selbsttätigkeit“.51 Mit dem Energiebegriff schließt Humboldt, wohl durch Leibniz’ dynamische Naturauffassung vermittelt, an die Aristotelische Modalunterscheidung von Möglichkeit oder Fähigkeit (dynamis) und Wirklichkeit (energeia) an. Auch Humboldts Konzept der kraftbegabten, sich selbst bildenden Individualität dürfte sich dem Aristotelischen, von Leibniz wieder aufgenommenen Begriff der Entelechie (entelecheia) verdanken, der freilich bei Humboldt von inhaltlich spezifischen teleologischen Elementen befreit erscheint. Die ultimative Dignität von Tätigkeit, Kraft und Energie in Humboldts Natur- und Kulturphilosophie manifestiert sich in der von Humboldt für den Menschen geltend gemachten Vorrangstellung von Arbeit und Anstrengung gegenüber Muße und Ruhe sowie des Strebens nach etwas gegenüber dessen Besitz und Genuss – kurz der Kräfte gegenüber den Gütern.52 Jahrzehnte später, in seinen erst postum publizierten sprachwissenschaftlichen und sprachphilosophischen Schriften, wird Humboldt an einer Stelle den hier geltend gemachten faktischen wie normativen Vorrang des Wirkens gegenüber dem Werk im Hinblick auf das Wesen und die Funktionsweise der Sprache mit der Unterscheidung von „Werk“ (Ergon) und „Tätigkeit“ (Energeia) wieder aufnehmen.53 Für Humboldts Philosophie, die wesentlich Kulturphilosophie ist, wie auch für seine Biographie, legt dies _____________ 48 49 50 51 52 53
Ebd., S. 31. Siehe ebd., S. 25 f. Siehe ebd., S. 19, 22, 25 u. 33. Ebd., S. 35. Ebd., S. 31. Siehe Einleitung zum Kawi-Werk. In: Wilhelm von Humboldt: Schriften zur Sprache. Hrsg. v. Michael Böhler. Stuttgart 1973, S. 36. Michael Böhler (ebenda, S. 249) vermutet hier einen Anschluss Humboldts an Aristoteles’ Gegenüberstellung von ergon („Zustand“) und energeia („Tätigkeit“) in der Nikomachischen Ethik (1098 b 33; Übersetzung von Olof Gigon).
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die Formel nahe: „Wirken – nicht Werke“. Von der Kultur im ganzen wie in ihren einzelnen Zügen wäre dann zu sagen, was Humboldt in seinem Memorandum Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin aus dem Jahr 1809 im Hinblick auf die Wissenschaft als das zu beachtende Prinzip angibt, nämlich sie „als etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes zu betrachten und unablässig sie als solche zu suchen“.54
Humboldt Now Über zweihundert Jahre nach ihrer Entstehung sind Humboldts kulturphilosophische Reflexionen natürlich nicht umstandslos in die Gegenwart zu transponieren. Humboldts Zutrauen in die Fähigkeit des Einzelnen, sich selbständig und in produktiver Konfrontation mit anderen herauszubilden, scheint einem Heroismus verpflichtet, der weniger der Realität als der Bewunderung für die griechische Klassik entstammte.55 Insbesondere aber wird man bei Humboldt das Fehlen jeglichen Sinns für die gesellschaftlichen Grundlagen und Voraussetzungen seines Menschenbilds der freien Selbstgestaltung bemängeln, auch wenn zu bedenken ist, dass erst die von Humboldt und anderen diagnostizierte und propagierte Befreiung der Menschen von feudalen Ordnungen und deren sozialen Zwängen, zusammen mit der einsetzenden Industrialisierung Europas, die soziale Frage zum Gegenstand des politischen Denkens und die Wirtschaft zum Faktor der Politik hat werden lassen. Doch neben dieser zeit- und klassenbedingten Kurzsichtigkeit Humboldts ist auch zu verweisen auf das anhaltende kritische Potential von Humboldts energischem Individualismus. Der vormodernen Befangenheit des Menschen in vorgegebenen Ordnungsverhältnissen, wie sie Humboldt kritisiert und mit seiner hochmodernen Konzeption des frei-selbsttätigen Individuums konterkariert hat, entspricht in unserer spätmodernen Gegenwart die Dekomposition des Individuums durch medial durchgestylte ökonomische Zwangsmechanismen in den Zyklen von Erwerb und Konsum, bei denen die von Humboldt gerade erst nobilitierte Arbeit zum „job“ verkümmert und deren angebliches Gegenteil, die Freizeit, zum vorinszenierten Simulakrum von Selbstverwirklichung wird. Hier könnte man sich von Humboldt daran erinnern lassen, dass nur diejenige Bildung des Menschen _____________ 54 Ernst Müller (Hrsg.): Gelegentliche Gedanken über Universitäten von J. J. Engel, J. B. Erhard, F. A. Wolf, J. G. Fichte, F .D. E. Schleiermacher, K. F. Savigny, W. v. Humboldt, G. W. F. Hegel. Leipzig 1990, S. 275. 55 Siehe Humboldt, Ideen zu einem Versuch, a. a. O., S. 17-19.
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der Gefahr der Deformation entgeht, die sich der ebenso kritischen wie selbstkritischen Arbeit an sich verdankt. Des weiteren wäre von Humboldts kritischer Kulturphilosophie zu lernen, dass die Grundlagen und Normen von Kulturalität nicht losgelöst von einer politischen Theorie, des Staates wie der Zivilgesellschaft, fruchtbar erörtert werden können. Denn nach Humboldts Einsicht in die Chancen und Gefahren staatlicher Regelung der Menschenbildung ist die Politik nicht nur Teil der Kultur, sondern die Politik ist die ermöglichende wie verhindernde Bedingung von Kultur. Eine Kulturphilosophie, die das komplexe Junktim von Politik und Kultur („Bildung“), von sanktionierter Gewaltausübung und von sich dagegen behauptender Freiheit, nicht mitbedenkt, könnte zum belanglosen Feuilletonismus verkümmern. Schließlich ist die bei Humboldt zu beobachtende enge terminologische, begriffliche und doktrinale Anbindung der Kulturphilosophie an die Naturphilosophie von einigem Interesse angesichts der gegenwärtig zu verzeichnenden naturwissenschaftlich und speziell lebenswissenschaftlich geprägten Paradigmen unseres kulturellen Selbstverständnisses, etwa in der Frage der Willensfreiheit. Im Unterschied zum Dualismus von Natur und Geist bei Kant und zur Reduktion von Natur auf Geist bei Fichte und Hegel, steht Humboldts Name für eine Position, bei der die Natur in systematischer Kontinuität mit dem Geist und mit dessen Wirkungssphäre – der Kultur – steht, ohne dass dies Reduktion oder Monismus beinhaltete.
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Selbststeigerung. Nietzsches Idee der Bildung Beatrix Himmelmann Ausgangspunkte Der Mensch ist nicht einfach da wie ein Stein, sondern bedarf der Entfaltung und Entwicklung dessen, was mit seinem Dasein gegeben ist. Gegeben sind neben einer bestimmten körperlichen und biologischen Ausstattung individuelle Dispositionen – Kräfte, Talente, Befähigungen, Energien. Ihnen stehen wir offensichtlich nicht in der Haltung bloßen Entgegennehmens gegenüber, so dass sie uns zum Beispiel nichts als ein Gegenstand der Betrachtung und Kontemplation wären. Nein, wir stehen zu ihnen immer schon in einem Verhältnis tätigen Umgangs. Wir machen etwas mit und aus ihnen; für sich genommen sind sie nicht mehr als unsere Mitgift. So sind und existieren wir wesentlich als Anlage und Potential, aus dem wir uns selbst zu formen und zu gestalten haben. Ohne diese Art von Arbeit an uns selbst blieben wir – trotz unserer Anwesenheit und Existenz in dieser Welt – ein bloßes Versprechen. Wir kämen gleichsam niemals bei uns selbst an. Was könnte es aber heißen, bei sich selbst anzukommen? Dieses Rätsel ist eine der Fragen, die Nietzsche vom Anfang bis zum Ende seines Schreibens in Atem hielten. Zu Beginn schickt er seiner frühen, preisgekrönten philologischen Arbeit De Laertii Diogenis fontibus, die er als Student an der Universität Leipzig verfasste, das Motto voran: „Werde, der du bist“, eine Sentenz Pindars aufnehmend.1 Zum Ende seines bewussten Lebens versieht er seine letzte, autobiographisch aufgeladene Schrift Ecce Homo mit dem Untertitel: „Wie man wird, was man ist.“ Wie ließe sich nun erkennen, was einer ist, so dass er fähig würde, sich selbst zu folgen? Fühlen wir, was wir sind, oder müssen wir uns mit Hilfe von Begriffen und Konzepten über diese vielleicht wichtigste aller Fragen klar werden? Oder liegt sogar auf der Hand, wer wir sind und auf was hin wir zu leben haben? _____________ 1
Vgl. Kritische Gesamtausgabe der Briefe Nietzsches. Hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, fortgeführt v. N. Miller u. A. Pieper, Berlin/New York 1975 ff, Abt. I, Bd. 4 (Nachbericht), S. 473. Im Folgenden zit. als KGB.
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Der junge Nietzsche, soeben als Professor für klassische Philologie nach Basel berufen, trägt dort über die Zukunft der Bildungsanstalten vor. Als öffentliche Institutionen sind solche „Bildungsanstalten“ seit je mit der Aufgabe der Erziehung des Menschen betraut. Nietzsche stellt den damit befassten Einrichtungen seiner Zeit kein gutes Zeugnis aus. Vor allem um ein Problem kreisen seine Überlegungen: Es gibt ein fatales Missverständnis von Bildung und Erziehung, das tiefe Wurzeln schlägt. Es handelt sich um die Verwechslung der Erlernung von Fertigkeiten, die uns den Lebensund Überlebenskampf bestehen lassen, mit jener Entwicklung der besten Kräfte eines Individuums, die Nietzsche ‚Bildung’ nennt. In diesem Sinn spricht er von einem „wahren Gegensatz“ zwischen Institutionen, die es vermöchten, der „Bildung“ zu dienen, und Institutionen, die es als ihre Aufgabe begreifen, Fertigkeiten im Umgang mit der „Lebensnoth“ zu vermitteln.2 Auf den Spuren Schillers rechnet er zur Vermittlung dieser zuletzt genannten Fertigkeiten auch all jene Ausbildungen, die zur Ausübung der verschiedenen „Brotberufe“ befähigen: die Menschen zu Kaufleuten, Beamten, Offizieren, Landwirten, Ärzten, Technikern machen.3 Schiller, der in seiner berühmten Jenenser Antrittsvorlesung 1789 den „Brotgelehrten“ gegen den „philosophischen Kopf“ stellt, wird von Nietzsche hier im Übrigen als Beispiel für ein Dasein aufgerufen, das an der Bildungsferne seiner Zeit gelitten habe und endlich an ihr zugrunde gegangen sei. Was jedoch meint ‚Bildung’ im Gegensatz zur Fähigkeit, den „Lebenskampf“ zu bestehen? In den Vorträgen, die Nietzsche dem gelehrten Bürgertum der Stadt Basel zu Gehör brachte, das sich traditionell – und dies ist bis heute so! – seiner Universität wie auch den übrigen Bildungseinrichtungen in besonderer Weise verpflichtet fühlt, in diesen Vorträgen gibt Nietzsche einige Hinweise. ‚Bildung’ habe zentral mit der Reflexion auf Sinn und Bedeutung menschlichen Lebens zu tun.4 Insofern liegt sie auf einer ganz anderen Ebene als dessen schiere Sicherung. Nietzsche lässt durchblicken, dass es insbesondere in den Händen großer Einzelner liege, in Werken der Kunst und der Philosophie einen Beitrag zu einer solchen Verständigung des Menschen über sich und seine Existenz zu leisten. Die Vermittlung „wahrer Bildung“ wäre dann mit der Aufgabe verbunden, diese Werke tatsächlich gegenwärtig zu halten, so dass sie ihre sinnerschließende Kraft entfalten können. Bekanntlich verwandte gerade der junge Nietzsche viel _____________ 2
3 4
Vgl. Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. In: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bdn. Hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari. 2., durchges. Aufl. München 1988, Bd. 1, S. 717. Im Folgenden zit. als KSA. Vgl. ebd., 715. Ebd., 714 f.
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Mühe auf den Versuch, die Schätze der Kultur der Antike in diesem Sinn zu bewahren und neu fruchtbar zu machen. Entsprechend geht Bildung in seinen Augen auch nicht in wissenschaftlicher Ausbildung auf. Insbesondere wenn Wissenschaft allein historisch-sichernd verfährt und Gewesenes, aus dem alles Leben gewichen ist, registriert, katalogisiert und mumifiziert, vermag sie der Bildung eines Individuums nicht zu dienen. Diese bedarf vitalerer Impulse. Wichtig oder sogar unerlässlich ist das „Beispiel“, das uns Andere geben – nicht bloß durch ein Werk, das sie uns hinterlassen mögen, sondern auch durch ihr sichtbares Leben, in dem sie sich als diese je besonderen Menschen zeigen.5 Nietzsche analysiert drei typische „Bilder des Menschen“, die für die Moderne prägend geworden sind.6 Der Mensch Rousseaus sieht sich und sein Eigenstes in lauter „Unnatur“ begraben. Die Bedrückung durch gesellschaftliche Hierarchien, die Ungerechtigkeit der Verteilung von Lebensgütern, die Verbiegung durch schlechte Erziehung und unzuträgliche Sitten lässt ihn nach der unverbildeten Natur als Ideal des ursprünglich Guten rufen. Der ganze Firnis der Kultur, Kunst und Wissenschaft sowie die Finessen verfeinerter Lebensart, erscheint als etwas dem Menschen an sich unzugehöriges Äußerliches. Wie jedoch könnte einer jemals ablegen, was als seine so genannte „zweite Natur“ unablöslich zu ihm gehört und was ihn allererst zum Menschen macht? Es verhält sich doch wohl so, wie es Nietzsche in seinem bemerkenswerten frühen kleinen Essay über Homer ’s Wettkampf herausstellt: dass die „natürlichen“ Eigenschaften des Menschen und die kulturell erworbenen untrennbar miteinander „verwachsen“ sind.7 Der Mensch Rousseaus jedoch, der sich einer Art „Mythologie der Natur“ verschreibt8, wird immer zum Umsturz bestehender Formationen des Lebens neigen – auf der Suche nach Authentizität. Wie Nietzsche an anderer Stelle seiner dritten Unzeitgemässen Betrachtung zu bedenken gibt, ist es jedoch ein wenig versprechendes Unternehmen, nach einem hypothetisch angenommenen Persönlichkeitskern als nach dem eigentlichen Selbst zu suchen: Wie kann sich der Mensch kennen? Er ist eine dunkle und verhüllte Sache; und wenn der Hase sieben Häute hat, so kann der Mensch sich sieben mal siebzig anziehn und wird doch nicht sagen können: „das bist du nun wirklich, das ist nicht mehr Schale.“ (KSA 1, 340)
Dem Blick nach innen und der Suche nach einer gleichsam natürlichen, unverbildeten Authentizität korrespondiert die entgegengesetzte Option _____________ 5 6 7 8
Vgl. Schopenhauer als Erzieher (ebd., 350 ff). Vgl. ebd., 369-371. Ebd., 783. Vgl. Nachlass (1876/77) 23[7] (KSA 8, 405).
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einer Haltung, die so viel wie möglich von außen in sich aufnimmt und zum eigenen Wachstum für sich produktiv macht. Dies ist die Grundeinstellung des von Nietzsche so genannten Goetheschen Menschen. Anders als in dem fünfzehn Jahre später veröffentlichten großen Aphorismus der Götzen-Dämmerung, in dem Nietzsche den Goetheschen Menschen über alles preist und als Beispiel der von ihm selbst eingeforderten Haltung der Lebensbejahung vorstellt9, sieht er in der dritten seiner Unzeitgemässen Betrachtungen in ihm eher eine zu vermeidende Strategie der Entfaltung eines Individuums verkörpert. Hier betont er die Tendenz zum Philisterhaften, die im Goetheschen Menschen als „erhaltender“ und „verträglicher“ Kraft beschlossen liege. Er habe die Haltung eines „Weltreisenden“ angenommen, der „alles Grosse und Denkwürdige, was je da war und noch ist, zu seiner Ernährung zusammen bringt“ (KSA 1, 370 f). Nietzsches Sympathien gehören unzweifelhaft einem dritten paradigmatischen Typus des Menschseins: dem Schopenhauerschen Menschen. Er ist derjenige, der am Leben leidet und dem es sich gerade deshalb erschließt. Während sich die meisten in den kulturellen und sozialen „Ordnungen“ eingerichtet haben und je spezifischen Rollen gemäß als „Jünglinge, Männer, Greise, Väter, Bürger, Priester, Beamte, Kaufleute“ ihrem Dasein eine der eingespielten Formen geben, liegt dem Schopenhauerschen Menschen genau diese Selbstverständlichkeit fern.10 Er stellt in Frage, er zweifelt, er verneint. Dadurch, dass er das Leben nicht einfach in den vorgeformten Linien und Spuren führt, leidet er. Jedoch setzt ihn diese selbstgewählte kritische, ja verneinende Distanz auch in den Stand zu erkennen, was menschliches Dasein in seinem Kern ist. Die das Leben leicht zu nehmen wissen und es sich in ihm wie in einem weichen Bett bequem gemacht haben, geraten gar nicht in die Lage, es aus einem Abstand heraus zu betrachten. Sie gehen schlicht in ihm auf. Der Schopenhauersche Mensch ist für Nietzsche der heroische Mensch. Es geht ihm nicht um sein eigenes Wohl, sein Glück oder die Vollendung seiner Persönlichkeit. Auf all dies ist er bereit, dem Ideal der „Wahrhaftigkeit“ zuliebe zu verzichten. Während der Goethesche Mensch erkennen will, um sich im Angesicht der Vielheit der Dinge zu bewahren und sich ihnen durch eine Haltung des Aufnehmen-, aber auch des Loslassenkönnens gewachsen zu zeigen, scheut der Schopenhauersche Mensch nicht, sich selbst zum Opfer zu bringen. Für und von sich hofft er nichts mehr, er will in allen Dingen bis auf ihren „hoffnungslosen Grund sehen“ (ebd., 375). Nietzsche fügt ausdrücklich an, was sich als Essenz eines solchen Lebenskonzeptes ohnehin ergibt: Die „Kraft“ des Schopenhauerschen Menschen, sagt Nietzsche, „liegt in seinem Sich_____________ 9 Vgl. Götzen-Dämmerung, Streifzüge eines Unzeitgemässen 49 (KSA 6, 151 f). 10 Vgl. ebd., 373 f.
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selbst-Vergessen; und gedenkt er seiner, so misst er von seinem hohe Ziele bis zu sich hin“ (ebd.). Die kritische Reserve gegenüber einer Gegenwart, die brüchiger ist als ihr Selbstverständnis zuzugeben vermöchte, und der sich daraus speisende Impetus, in Richtung auf eine, wenn vielleicht nicht bessere, so doch ganz andere Zukunft hin zu wirken, sind deutlich. So stark ist dieser Impetus, dass darüber die Selbsterhaltung und Selbstverwirklichung des Individuums wohl in den Hintergrund treten kann. Entsprechend müssen auch einige der bekanntesten Passagen aus den Anfangspartien des Zarathustra gelesen werden. „Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll“, gibt Zarathustra in seiner ersten Ansprache nach Verlassen des Gebirges, in dem er zehn einsame Jahre verbracht hat, seinem Publikum zu verstehen (KSA 3, 14). „Was gross ist am Menschen“, fügt er an, „das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist“: Ich liebe Die, welche nicht zu leben wissen, es sei denn als Untergehende, denn es sind die Hinübergehenden. Ich liebe die grossen Verachtenden, weil sie die grossen Verehrenden sind und Pfeile der Sehnsucht nach dem anderen Ufer. Ich liebe Die, welche nicht erst hinter den Sternen einen Grund suchen, unterzugehen und Opfer zu sein: sondern die sich der Erde opfern, dass die Erde einst des Übermenschen werde. (ebd., 16 f )
Es versteht sich, dass es nicht die Dutzendmenschen sind, welche ihre Existenz dem Streben nach diesem Ideal verschreiben. Nietzsche folgt Schopenhauer, wenn er gegen den Menschen der „Masse“, der bloß „Fabrikwaare“ sei, polemisiert und die großen Einzelnen preist, die eine Kette bilden und sich zu einem „Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende“ formieren.11 In den großen Individuen wird offenbar, was der Mensch ist und vor allem: was er werden kann. Denn nur sie hören tatsächlich auf, gegen sich „bequem“ zu sein und werden schließlich ihrem „Gewissen“ folgen, das ihnen zuruft: „sei du selbst! Das bist Du alles nicht, was du jetzt thust, meinst, begehrst.“ (KSA 1, 338) Heidegger wird diese Unterscheidung zwischen einer gewöhnlichen Weise zu existieren, die sich in den Gepflogenheiten des „Man“ bewegt, und dem authentischen Ergreifen der je eigenen Existenz speziell in Momenten von Grenzerfahrungen aufnehmen.12 Wichtig für Nietzsche ist, wie schon angedeutet, dass sich das besondere und zu Großem geborene Individuum einer Lebensaufgabe verschreibt – und gegebenenfalls zum Opfer bringt. In diesem Sinne wollte er _____________ 11 Vgl. KSA 1, 338 sowie Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (ebd., 259). 12 Vgl. Sein und Zeit, §§ 25 ff.
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nicht zuletzt sein eigenes Dasein verstanden wissen. In dem kurz vor dem Zusammenbruch verfassten Lebens- und Werkbericht Ecce Homo, in dem er der eigenen Existenz den Rang des Exemplarischen zuweist, handelt er zentral von der „Grösse (s)einer Aufgabe“ im Blick auf die „Geschichte der Menschheit“.13 Nach diesen Ausgangsüberlegungen, die einen Zugang zu der Eigenart von Nietzsches Überlegungen zur Idee der Bildung eröffnen sollten, wird im Folgenden seine Position im Hinblick auf einige ihrer zentralen Argumentationen vorgestellt und geprüft.
Bildungsstufen Charakteristisch für Nietzsches Konzept der Bildung ist die Anstrengung der Selbstverwirklichung im Sinne einer Selbststeigerung. Dafür wählt er den Begriff der „Selbstüberwindung“.14 Er analysiert verschiedene Stufen solcher Arbeit an sich selbst. Drei Stadien lassen sich unterscheiden: das Stadium der Selbstbildung mit dem Ziel, einen festen Stand zu gewinnen, das Stadium der Kritik und Revision des eigenen Selbstbildes und schließlich das Stadium des reifen, über sich selbst hinauswachsenden Umgangs mit sich selbst. Nietzsches Kunstfigur Zarathustra, die ihm teilweise wohl auch als Identifikationsfigur dient, belegt in einer Rede über die „drei Verwandlungen des Geistes“ diese Stufen mit den Namen von „Kamel“, „Löwe“ und „Kind“.15 Das „tragsame“ Selbst einer ersten Stufe der Selbstentwicklung hat dem individuellen Profil von Talenten und Kräften gemäß Fertigkeiten und Fähigkeiten zu übernehmen und zu üben – mit dem Ziel der Selbstbildung und -ausbildung. In dem schon betrachteten frühen Text über Schopenhauer als Erzieher untersucht Nietzsche einige Facetten dieses ersten Stadiums der Selbstentfaltung. Auch auf dieser basalen Ebene haben wir es bereits mit Reflexionsprozessen zu tun. Insofern „Bildung“, wie Reinhart Koselleck einmal formuliert hat, „keine vorgegebene Form (ist), die zu erfüllen wäre, sondern ein prozessualer Zustand, der sich durch Reflexivität ständig und aktiv verändert“16, hat dies nichts Überraschendes. So finden wir uns selbst auf einer ersten Bildungsstufe nach Nietzsche dadurch in _____________ 13 Vgl. KSA 6, 257 mit 373. 14 Vgl. z. B. Also sprach Zarathustra, Von der Selbst-Ueberwindung (KSA 4, 146149). 15 Vgl. ebd., 29-30. 16 Reinhart Koselleck: Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert. Teil II. Bildungsgüter und Bildungswissen. Stuttgart 1990, S. 15 f.
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einer grundlegenden Weise, dass wir überlegen, welche von den faktisch angenommenen Vorlieben und Abneigungen, welche unserer „Freund- und Feindschaften“ uns geprägt haben.17 Sieht jemand auf sein bisheriges Leben zurück mit ebendieser Frage: „was hast du bis jetzt wahrhaft geliebt, was hat deine Seele hinangezogen, was hat sie beherrscht und zugleich beglückt?“, so wird durch Eigenart und Folge dieser Stationen ein Gesetz, genauer: ein Grundgesetz seines Selbst erkennbar. Vielleicht lassen sie sich zu einer Stufenleiter verbinden, welche die Richtung zu individueller Perfektibilität weist. Insofern wäre unser „wahres Wesen“ gar nicht „tief verborgen“ in uns, sondern „unermesslich hoch“ über uns. Unsere verschiedenen Kräfte und Antriebe sollten dabei, wie Nietzsche argumentiert, weder so erzogen werden, dass zugunsten nur einer einzigen Tugend und Stärke alle anderen bloß noch dienenden Charakter hätten, noch so, dass alle vorhandenen Kräfte in ein gleichgewichtiges, harmonisches Verhältnis zu bringen wären. Beiden Maximen ließe sich vielleicht gerecht werden, spekuliert Nietzsche, wenn ein Individuum zwar einer „Centralkraft“ folgte, diese aber keineswegs alle anderen Kräfte zerstörerisch dominierte, sondern ihnen ihren eigenständigen Wert als „Peripherie“ beließe. Der Mensch hätte dann beides: ein Zentrum und das, was sich um es herum bewegt – ganz wie es in einem „Sonnen- und Planetensystem“ der Fall ist.18 Die Vervollkommnung des Einzelnen wäre möglich, da die peripheren Aspirationen mit der zentralen Kraft nicht in Konflikt gerieten, wenn sie vielleicht auch nicht direkt auf sie bezogen wären, sondern ein gleichsam entferntes Dasein hätten. Die Selbststeigerung des Individuums sollte, wie Nietzsche betont, ausdrücklich als Aufgabe ergriffen werden. Er ist ja im übrigen der Meinung, dass alle lebendigen Organismen nach solcher Selbststeigerung streben, um zur bestmöglichen Entfaltung ihrer Kräfte zu gelangen.19 Seine Vorstellung von Sinn und Zweck des Daseins steht somit in scharfem Kontrast zu einer Auffassung, die sie mit dem Überlebenswillen von Individuum und Gattung, mit dem Streben nach möglichst intensiver und dauernder Lebenslust oder dem Wunsch nach Sicherheit verbunden sieht. Die Einzelnen, deren Existenz Zeugnis ablegt für Umfang und Reichtum solcher auf dem Weg der Selbststeigerung gewonnenen Exzellenz, vermögen laut Nietzsche sogar die bemerkenswerte Verschwendung und Vergeudung von Ressourcen zu kompensieren, welche die Natur als Grund des Lebens allenthalben offenbart.20 Als Beispiele für solch große Individuen _____________ 17 18 19 20
Vgl. hier und im Folgenden: Schopenhauer als Erzieher (KSA 1, 340 f). Vgl. ebd., 342 f. Vgl. ebd., 384 f. Vgl. ebd., 404-406.
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hat Nietzsche vor allem Künstler und Philosophen im Auge. Sie transfigurieren das Leben, indem sie dessen Zweck explizit und bewusst machen. Schopenhauer, den er als seinen eigenen hauptsächlichen „Erzieher“ anerkennt, preist Nietzsche unter anderem für drei Tugenden, die dieser – wie vor ihm Montaigne – exemplarisch verkörpere, die aber jedem behilflich sein könnten, der sich selbst zu vervollkommnen suche. Diese Tugenden sind Ehrlichkeit, Heiterkeit und Beständigkeit. Wer auf der Suche nach sich selbst und der Steigerung seiner Kräfte ist, sollte aufrichtig zu sich selbst sein, weil Fehler und Schwächen zuzugeben, die Voraussetzung dafür ist, aus ihnen lernen zu können. Ehrlichkeit im Umgang mit Anderen erlaubt diesen, sich ohne Verstellung und Positur geben zu können. Eine freie, kräftige Atmosphäre entsteht, „Unbefangenheit und Natürlichkeit, wie sie Menschen haben, die in sich zu Hause und zwar in einem sehr reichem Hause Herren sind“ (KSA 1, 243), können gedeihen. Beide Typen von Ehrlichkeit erfordern Courage, weil sie Disharmonie und Enttäuschung mit sich bringen können. Einige Wahrheiten über sich selbst sind nur schwer zu akzeptieren, Aufrichtigkeit im Verhältnis zu Anderen mag diese veranlassen, verletzt oder empört zu reagieren, wie auch – umgekehrt – ihre Ehrlichkeit mich selbst verstören kann. Die Weigerung, aufrichtig zu sein, jedoch führt zur Preisgabe der Möglichkeit, Mängel aufzudecken, und verführt zur Trägheit. So ist Ehrlichkeit unerlässlich, soll die Chance zur Selbststeigerung ergriffen werden. Heiterkeit ist für Nietzsche Ausdruck des Zutrauens, das aus erfolgreich bestandenen Herausforderungen, aus der Überwindung von Widerständen erwächst. Beständigkeit schließlich ist Quell der Energie und Konzentration, die erforderlich sind, um sich großen Aufgaben stellen und widmen zu können. Die genannten drei Tugenden vermögen als Heilmittel gegen einige typische Gefahren zu wirken: gegen Vereinsamung, Verzweiflung, Skeptizismus und Verhärtung. Nicht selten weichen diejenigen, die ernsthaft auf der Suche nach sich selbst sind, von den Normen der Mehrheit ab. Der daraus entstehenden Einsamkeit kann nach Nietzsche dadurch begegnet werden, dass die Suchenden sich mit ihresgleichen zu verbinden trachten. Damit stellt sich der Einzelne in den Kreis dessen, was für Nietzsche „Kultur“ in einem basalen Sinn bedeutet.21 Nicht nur mit Zeitgenossen ist eine solches Bündnis möglich, sondern auch mit den historischen Persönlichkeiten, von denen wir wissen, dass sie ihre je spezifischen Ziele mit bemerkenswerter Konsequenz und oftmals mit weit ausstrahlender Kraft und Wirkung verfolgt haben. Aus ihren Fehlschlägen ist dabei ebenso zu lernen wie aus ihren Erfolgen. Diese Art von Konversation auch über die Zeiten _____________ 21 Vgl. ebd. 385.
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hinweg kann vor Selbstmitleid, Ressentiment und Selbstzweifel bewahren helfen. Skepsis und Zweifel, die auf der zweiten Stufe der Selbstentwicklung eine positive und konstruktive Rolle spielen werden, sind auf der jetzt betrachteten ersten Stufe der Selbstverwirklichung zu überwindende Bedrohungen. Sie sind geeignet, das Streben nach Selbststeigerung zu unterminieren. So werden Skepsis und Zweifel von Nietzsche hier eher als ein motivationales denn als epistemisches Problem diskutiert.22 Alles, was auf dieser ersten Stufe erreicht und erworben wurde, muss sich im Prozess der „grossen Loslösung“ der kritischen Befragung stellen.23 Die nun zu betrachtende zweite Stufe auf dem Weg der Selbstverwirklichung steht ganz im Zeichen einer grundstürzenden Revision der eigenen Werte und Überzeugungen. Jene „Pflichten“, „jene Ehrfurcht, [...] jene Scheu und Zartheit vor allem Altverehrten und Würdigen, jene Dankbarkeit für den Boden, aus dem sie wuchsen“ – all diese Bindungen stehen nun zur Disposition. Und „die grosse Loslösung kommt für solchermaassen Gebundene plötzlich, wie ein Erdstoss: die junge Seele wird mit Einem Male erschüttert, losgerissen, herausgerissen, – sie selbst versteht nicht, was sich begiebt“ (KSA 2, 16). Während sich die Errungenschaften einer ersten Stufe der Selbsttransformation der inspirierenden Kraft des Bestehenden verdanken, das zu entdecken und aufzunehmen war, beruhen die Erfolge der zweiten Stufe der Selbstverwirklichung typischerweise auf einem dezidiert vollzogenen „Ich will“ bzw. „Ich will nicht“ des Individuums. Dergestalt beginnt es, die Kontrolle über seine Werte, Ziele und seinen Charakter zu übernehmen. Dazu muss alles zuvor Angeeignete in eine kritische Distanz gebracht werden. Geliebtes und Gehasstes unterliegt gleichermaßen einem Prozess der Loslösung, so dass es wie ein Fremdes angeschaut und eingeschätzt werden kann. Auch Lust an der Zerstörung, eine beträchtliche Portion Mutwille sowie Willkür der Beurteilung von Werten, Sitten, Zwecken gehören dieser Stufe der Selbstentwicklung an.24 Deshalb birgt sie die Gefahr, zur Krankheit auszuarten, die den Menschen beschädigen kann. Dies wäre definitiv der Fall, wenn dem Bezweifeln, Negieren und Ablösen kein Einhalt mehr geboten werden kann. Dann wären Individuen von Kritik und Selbstkritik so besessen, dass diese schließlich um ihrer selbst willen vorangetrieben würden. Idealerweise aber dient die zweite Stufe der Selbstwerdung – in der Terminologie des Zarathustra: der „Geist des Löwen“ (KSA 4, 30) – der Vorbereitung einer dritten Stufe der Selbsttransformation. Wiederum in Anlehnung an Zarathustra können _____________ 22 Vgl. ebd. 360. 23 Vgl. Menschliches, Allzumenschliches I, Vorrede (KSA 2, 15 ff). 24 Vgl. ebd., 16 f.
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wir sie als Stadium des „Kindes“ und einer neugewonnenen „Unschuld“ bezeichnen (ebd., 29 u. 31). Einen entscheidenden Übergang zwischen beiden Stufen beschreibt Nietzsche in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches. Die auf der zweiten Stufe erworbene Fähigkeit, die eigenen Werte, Überzeugungen, Ideale und Ziele zu distanzieren, enthält eine Qualifikation, die im Weiteren positiv genutzt werden kann und sollte. Denn erst die Fertigkeit, zu unseren Tugenden, Werten und Einschätzungen auf Abstand gehen zu können, ermöglicht nach Nietzsche wahre Selbstbestimmung. Diese Tugenden, Werte und Einschätzungen nämlich sollten uns seiner Überzeugung nach nicht etwa beherrschen, sondern wir sollten ihre Meister sein. Entsprechend heißt es in einer wichtigen Passage der rückblickend verfassten Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches: Du solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden. Früher waren sie deine Herren; aber sie dürfen nur deine Werkzeuge neben andren Werkzeugen sein. Du solltest Gewalt über dein Für und Wider bekommen und es verstehn lernen, sie aus- und wieder einzuhängen, je nach deinem höheren Zwecke. Du solltest das Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen — die Verschiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte und was Alles zum Perspektivischen gehört; auch das Stück Dummheit in Bezug auf entgegengesetzte Werthe und die ganze intellektuelle Einbusse, mit der sich jedes Für, jedes Wider bezahlt macht. Du solltest die nothwendige Ungerechtigkeit in jedem Für und Wider begreifen lernen, die Ungerechtigkeit als unablösbar vom Leben, das Leben selbst als bedingt durch das Perspektivische und seine Ungerechtigkeit. (KSA 2, 20)
Die Einsicht in die unausweichliche Perspektivität aller und so auch meiner Wertschätzungen, Tugenden, Talente und Antriebe vermag sie uns gleichsam vom Leib zu rücken, so dass wir zu ihnen in ein reflektiertes Verhältnis treten können. Erst auf diese Weise sind sie expliziter Begutachtung und Bewertung zugänglich. Werden sie nun angeeignet, so im Bewusstsein der Freiheit ihnen gegenüber. Eine Haltung der Gelassenheit stellt sich ein, die sowohl Selbstkontrolle ermöglicht als auch Anerkennung der je spezifischen Perspektiven und Horizonte Anderer. Die sich auf divergenten Pfaden befinden, vermögen jetzt sogar zur Selbststeigerung beizutragen – indem sie uns zur Herausforderung werden, zu wahren ‚Freunden’, die – eher als Behaglichkeit und Beruhigung zu bieten – durch ihr von uns akzeptiertes Anderssein für unsere Beweglichkeit und Geschmeidigkeit sorgen.25 Jede Art von Dogmatismus, die an sich Dynamisches zu fixieren trachtet – und dies oftmals mit Gewalt –, steht dem Gedanken der Selbstentwicklung durch Selbstüberwindung denkbar fern. _____________ 25 Vgl. z. B. Zarathustra, Vom Freunde (KSA 4, 71-73).
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Im Durchgang durch das Stadium der „grossen Loslösung“ lässt sich der Weg zur Autonomie, zur eigenen Gesetzgebung, und zur Authentizität der eigenen Existenz finden. Erst auf einer dritten Stufe jedoch ist er Nietzsche zufolge wirklich beschritten. Er beschreibt sie als die Stufe des „Kindes“, die Stufe der „Unschuld“, des „Vergessens“ und des „Neubeginnens“. Auch spricht er in den Metaphern eines „aus sich rollenden Rades“, einer „ersten Bewegung“ und eines „heiligen Ja-Sagens“ von ihr.26 All diese Formulierungen scheinen Folgendes nahe zu legen: Zwar ist unzweifelhaft von einer je eigenen Bewegung die Rede, eine aus sich selbst heraus erfolgende Aktivität steht im Blick. Alles Forcierte, Ge- und Erzwungene jedoch ist negiert. Eine ihrer selbst gewisse, gelassene, durch keine Überanstrengung der Reflexion gezeichnete, sondern eher intuitive Spontaneität dagegen wird betont. Damit sind entscheidende Charakteristika der dritten Stufe der Selbstentwicklung benannt. Die das Leben strukturierenden Werte und Tugenden erhalten nun die Fassung des Habituellen, sie werden zur zweiten Natur.27 Diese Art Rahmen verleiht den Handlungen etwas ‚leicht von der Hand Gehendes’. Eine „tiefe Genügsamkeit“ stellt sich ein, „sodass mich nach Anderem nicht verlangt, ohne dass ich zu vergleichen oder zu verachten oder zu hassen hätte“. Interessant ist jedoch, dass Nietzsche im gleichen Atemzug betont, wie wichtig die Fähigkeit ist, auch solche habituell verfestigten, eingeschliffenen „Gewohnheiten“ wieder loslassen zu können. Nicht zuletzt darin liegt die Reife, die mit der dritten Stufe der Selbstentwicklung erreicht ist. Wenn das Leben durch ständige Bewegung und Veränderung gekennzeichnet ist, ist es gut, sich auch von „guten Dingen“ trennen zu können. Im günstigen Fall verhält es sich so, dass „die gute Sache von mir (scheidet), nicht als Etwas, das mir nun Ekel einflösst – sondern friedlich und an mir gesättigt, wie ich an ihm, und wie als ob wir uns so die Hände zum Abschied reichten“. Ein „Neues“ wartet schon und, wie Nietzsche hinzufügt, „ebenso mein Glaube – der unverwüstliche Thor und Weise! – diess Neue werde das Rechte, das letzte Rechte sein“. Der Vorteil, der mit der Wertschätzung solcher stets nur „kurzen Gewohnheiten“ einhergeht, ist die Möglichkeit, „viele Sachen und Zustände kennen zu lernen und hinab bis auf den Grund ihrer Süssen und Bitterkeiten“. Keine „Tyrannei“ bestimmter Tugenden wird dann aufkommen; es wird vermieden, dass die „Lebensluft sich verdickt“. Freilich sind gewisse einverleibte habituelle Formen und Haltungen überhaupt lebensnotwendig, so dass Nietzsche ihr Fehlen „das Unerträglichste“ und „eigentlich Fürchterliche“ nennen kann. Sie erlauben uns näm_____________ 26 Vgl. Von den drei Verwandlungen (ebd., 31). 27 Vgl. hier und im Folgenden: Die Fröhliche Wissenschaft 295 (KSA 3, 535 f).
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lich, in ungewohnten Situationen und überraschenden Lagen erfolgreich zu improvisieren. Unangestrengte Kreativität und Gelassenheit sind Charakteristika der Freiheit des „Neubeginnens“ auf der dritten Stufe der Selbsttransformation. Zwar sind Selbstbeherrschung und die Fähigkeit zur Selbstüberwindung, beide Voraussetzungen jener grundsätzlichen Beweglichkeit, die Nietzsche gegen alle Versteifungstendenzen aufruft, keineswegs suspendiert. Aber sie können nun leichthändiger eingesetzt werden als zuvor, weil das individuelle Selbst des zu bildenden Individuums in sich geschlossener ist. Die verschiedenen Kräfte, die es integriert, sind zu einer produktiven Einheit gebracht. Widerstreiten sie einander, so wird ihre Gegensätzlichkeit eher konstruktiven denn destruktiven Charakter haben – weil Umfang und Reichtum des gewachsenen Selbst dies zulassen.28 Es kann nun vieles gelten lassen, ohne zu zerbrechen. Diese Reife befreit das Individuums zu anspruchsvolleren Experimenten der Selbststeigerung. Nietzsche betont vor allem die jetzt mögliche Wahrnehmung und Würdigung der „Nuance“.29 Ein Merkmal der Jugendlichkeit und entsprechender Unreife ist es in seinen Augen, „Menschen und Dinge mit Ja und Nein (zu) überfallen“. Der „Geschmack für das Unbedingte“ werde sich früher oder später unweigerlich rächen, indem diese „Selbst-Verblendung“ zu Fehleinschätzungen von „Menschen und Dingen“ und in deren Gefolge zu den entsprechenden Lebensenttäuschungen führt. So belehrt, entwickelt der Mensch schließlich die „Kunst der Nuance“ und kommt damit dem Stand der „rechten Artisten des Lebens“ näher. Eine ihrer wesentlichen Stärken ist die grundsätzliche Offenheit: gegenüber sich selbst und den eigenen Möglichkeiten, gegenüber den Anderen und dem Leben in Kultur, Natur, Religion und Politik insgesamt.
Bildungsstrategien In Ergänzung seiner Diskussion verschiedener Bildungsstufen untersucht Nietzsche drei Strategien jener im Sinne der Selbstüberwindung zu verstehenden Selbststeigerung, die für ihn der Inbegriff individueller Bildung ist. Diesen Strategien gebührt besondere Beachtung. Es handelt sich um Selbstbeherrschung, Selbstkultivierung und reinigende Selbstbefreiung. Der Gedanke der Selbstbeherrschung legt die Vorstellung expliziter diesbezüglicher Absichten nahe und setzt das Vorhandensein eines zu organisierenden Materials, die Existenz von Antrieben, Leidenschaften etc. _____________ 28 Vgl. den Goethe gewidmeten bedeutenden Aphorismus 49 der Götzen-Dämmerung (KSA 6, 151 f). 29 Vgl. hier und im Folgenden Jenseits von Gut und Böse 31 (KSA 5, 49 f).
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voraus. Nietzsche zufolge ist dabei aber nicht ein von den diversen Kräften selbst zu unterscheidendes Ich oder Selbst anzusetzen. Vielmehr argumentiert er, dass jeweils einige der Antriebe als eine Art ‚Subjekt’ fungieren, indem sie die anderen steuern und strukturieren. In genau diesem Sinn spricht er in einer späten nachgelassenen Notiz von der „Sphäre eines Subjektes“, die als „beständig wachsend oder sich vermindernd“ vorzustellen sei: „der Mittelpunkt des Systems sich beständig verschiebend —; im Falle es die angeeignete Masse nicht organisiren kann, zerfällt es“.30 SelbstBeherrschung wird je nach den besonderen Intentionen eines Individuums durch die Verschiebung von Allianzen innerhalb seiner Kräfte erreicht. Freilich impliziert aber gerade der von Nietzsche so häufig verwandte Begriff des Individuums immer schon die Idee eines Etwas an einem Ganzen, das sich durchhält! Wir werden auf diese Schwierigkeit zurückkommen. Selbstkultivierung wirkt weniger direkt als Selbstbeherrschung, aber doch intentional. Sie ist in Gestalt von Hintergrundbedingungen effektiv, welche Gewicht und Äußerung der verschiedenen Neigungen eines Menschen beeinflussen. Sie sucht den Rahmen individueller Bemühungen um Selbstvervollkommnung so zu bestimmen, dass durch den Einsatz befruchtender oder hemmender Faktoren spezifische Tugenden und Antriebe befördert, andere dagegen beschnitten werden. So verfährt sie wie ein Gärtner, der seine Pflanzen kultiviert – eine Metaphorik, die Nietzsche nutzt und schätzt.31 Selbstbefreiung schließlich dient der Reinigung von fragwürdigen Bedrängnissen, die auch eingefleischten historischen Einflüssen geschuldet sein können und die Kraft, Selbstachtung, Gesundheit und Courage des Einzelnen zu ersticken drohen. Diese Fehlhaltungen blockieren Nietzsche zufolge nicht selten die Entwicklung hin zu gesteigerter Humanität, indem sie Ressentiment, Selbsthass, Trägheit, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung nähren. So müssen solche Schwächen seiner Überzeugung nach entschlossen eliminiert oder transformiert werden, weil sie die Anstrengung der Selbstvervollkommnung direkt gefährden. Wenn Nietzsche behauptet und beansprucht, ein genuiner „Psychologe“ zu sein, so verdankt sich diese Qualifikation nicht zuletzt seiner Untersuchung der genannten Strategien. Sie sollen im Folgenden genauer und im Einzelnen betrachtet werden. Nietzsche diskutiert verschiedene Methoden der Selbstbeherrschung. Er skizziert zum Beispiel sechs voneinander zu unterscheidende Wege, _____________ 30 Vgl. Nachlass 9[98], Herbst 1887 (KSA 12, 391 f). 31 Vgl. z. B. Morgenröte 382 u. 560 (KSA 3, 248 u. 560), Fröhliche Wissenschaft 17 (ebd., 389) sowie Nachlass 1880-1881 7[30] (KSA 9, 324).
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einen Trieb zu kontrollieren.32 Man kann ihn durch die Versagung seiner Erfüllung, indem man den Gelegenheiten seiner Befriedigung ausweicht, schwächen; man kann ihn durch Auferlegen einer strengen Regel und Regelmäßigkeit seiner Befriedigung in eine Ordnung einpassen, so dass er im Rahmen dieses Korsetts kontrollierbar wird; man kann ihn durch Übererfüllung erschöpfen; man kann mit seiner Befriedigung sehr peinliche Gedanken (wie den der Schande oder des beleidigten Stolzes) so fest verbinden, dass der Gedanke seiner Erfüllung selbst schließlich als peinlich erfahren wird; man kann ihn von seinen Kraftquellen abschneiden, indem man sich neuen Reizen und Vergnügungen unterwirft und auf diese Weise das psychische und physische Kräftespiel in andere Bahnen lenkt; man kann für eine allgemeine Schwächung der gesamten leiblichen und seelischen Konstitution sorgen, wie es manche Asketen versucht haben, und mit dem Ganzen natürlich auch das Einzelne eines störenden Triebes aushungern. Welche Strategie wann wirksam ist, ist eine Frage je situationsgebundener Beurteilung. Solche Beurteilung jedoch, so betont Nietzsche, sei nicht etwa Sache unseres sogenannten „Willens“. Weder dass wir überhaupt einen bestimmten Trieb wegen seiner Heftigkeit bekämpfen ‚wollen’, stehe eigentlich bei uns selbst und „in unserer Macht“ noch welche Methode gewählt werde und ob sie Erfolg habe. Während das zuletzt Genannte leicht zuzugeben ist, dürften die zwei zuvor behaupteten angeblichen Tatbestände unserer Ohnmacht strittig sein. Für Nietzsche ist diese Ohnmacht genauer eine Ohnmacht unseres „Intellects“, der nicht als Akteur, sondern bloß als „Werkzeug“ des jeweils mächtigsten Triebes arbeite. Der aber ist darauf aus, seine Rivalen und Konkurrenten zu neutralisieren, weshalb ihm an ihrer Schwächung gelegen ist. Nietzsche – es ist deutlich – zeigt sich hier als gelehriger Schüler Schopenhauers, wenn er „uns“ allenfalls mit dem im Streit der Triebe Partei nehmenden „Intellect“ identifiziert. Gibt es jedoch Gründe oder Motive, die „uns“ Partei für die eine oder andere Seite ergreifen lassen? Sind wir fähig, Urteile zu fällen? Oder haben wir uns diesen Akt der Parteinahme als arbiträres, als willkürliches Unternehmen vorzustellen, als blinde Dezision? Falls Nietzsche Gründe und Urteile zulässt (und ein Blick in viele seiner Texte spricht dafür, dass er beides nicht aufgeben möchte), wären wir allerdings wieder bei einer beurteilenden und begründenden Instanz angelangt, die sich nur als Kern unserer Persönlichkeit, als Ich, das zu allem mindestens „Ja“ und „Nein“ sagen kann, beschreiben lässt. Und welchen Sinn schließlich hätte die Rede von „Selbstbeherrschung“, wenn ein „Selbst“ schlechthin nicht existiert? So viel zu einer internen Schwie_____________ 32 Vgl. zum Folgenden: Morgenröte 109 (KSA 3, 96-99).
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rigkeit des Nietzscheschen Denkens, die hier nur notiert werden kann und soll.33 Im Allgemeinen schließt Selbstbeherrschung die Reduktion von Komplexität und Widerstreit zugunsten eines Gewinns an Kohärenz und Geschlossenheit ein. Selbstbeherrschung hat also eine einigende Wirkung. Damit dient sie der Möglichkeit des Handelns, das eine zumindest momentane gültige Festlegung und Sammlung auf ein Ziel hin verlangt. Selbstbeherrschung ist auch vonnöten, damit habituelle Arten der Aktion und Reaktion in bestimmten typischen Situationen etabliert werden können. Jene erlauben, auf diese entspannt und mühelos zu antworten. Die Einrichtung solcher habitueller Verhaltensmuster erfordert einen über gewisse Zeiten sich erstreckenden strengen Gehorsam gegen entsprechende Direktiven, die ‚eingeübt’ werden müssen.34 Sie erleichtern dann jedoch den Umgang mit den Subtilitäten besonderer Lagen, eben weil auf ihre offensichtlichen typischen Charakteristika sofort und sicher reagiert werden kann. So werden Kräfte frei, die es erlauben, sich auch mit Blick auf die Besonderheiten einer je einmaligen Handlungssituation angemessen zu verhalten. Um die eigenen Kräfte zu steigern, empfiehlt Nietzsche prinzipiell, sich Herausforderungen zu stellen.35 Idealerweise sollten sie je nach der relativen Stärke eines Individuums bemessen sein. Das Leben selbst freilich hält solche Herausforderungen stets bereit, ohne lange nach den Grenzen individueller Belastbarkeit zu fragen: Herausforderungen wie den unerwarteten Tod uns nahestehender Menschen, den uns zustoßenden Verlust bestimmter Fähigkeiten oder der Gesundheit, überraschende Fehl- und Rückschläge. Mancher mag seine Widerstandskraft überschätzen. Doch müssen Fehlkalkulationen dieser Art nicht einmal von Nachteil sein: Wer wie benebelt und gleichsam betrunken durchs Leben stolpert, kann natürlich leicht fallen. Aber gerade „Dank eurer Trunkenheit“, so Nietzsche in einem Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft, „brecht ihr doch nicht dabei die Glieder: eure Muskeln sind zu matt und euer Kopf zu dunkel, als dass ihr die Steine dieser Treppe so hart fändet, wie wir Anderen!“ (KSA 3, 496) Auf die bildende Macht der Selbstkultivierung setzt Nietzsche – wie oben erwähnt – ebenfalls. Sie bezieht sich auf die Heranbildung von Antrieben, Kräften, Fähigkeiten, Tugenden. Nietzsche empfiehlt, dass sie in _____________ 33 Vgl. zu Nietzsches Position auch: Morgenröte 119 (ebd., 111-114). 34 Vgl. Jenseits von Gut und Böse 188 (KSA 5, 108-11). 35 Vgl. z.B. den markig formulierten Kurz-Aphorismus 8 des ersten Abschnitts („Sprüche und Pfeile“) der Götzen-Dämmerung: „Aus der Kriegsschule des Lebens. – Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.“ (KSA 6, 60).
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Vielzahl ausgebildet werden sollten, damit eine gesunde Balance zwischen ihnen gewahrt werden kann. Jedes mächtige einzelne Talent nämlich kann sich zum „Vampyr“ entwickeln, das den übrigen Kräften ihr Blut absaugt. Leicht könnte dann der ganze Mensch von einzelnen seiner Antriebe und Begabungen dominiert und geknebelt werden. Dem ist nach Nietzsche entgegenzuwirken sei, wozu viel „Cultur“ erforderlich sei.36 Denn die Menschen, so Nietzsche, „unterwerfen sich aus Gewohnheit Allem, was Macht haben will“ (KSA 2, 214). Durch ernsthafte Kritik eines einzelnen Antriebs ist er in der Regel in seine Schranken zu weisen.37 Kritik, wir haben es gesehen, ist Nietzsche zufolge das entscheidende Merkmal des zweiten der von ihm unterschiedenen Bildungsstadien, des Stadiums der „grossen Loslösung“. Während sich dort jedoch die Kritik auf die allgemeine Orientierung der Selbsttransformation bezog, richtet sie sich hier auf Unausgewogenheiten innerhalb des Haushaltes unserer Kräfte und Antriebe. Kritisierend im Sinne der Kultivierung auf sie einzuwirken, bedeutet dann, sich keinem unreflektierten bloßen Getriebenwerden zu überlassen. Noch einmal können wir an dieser Stelle das Problem festhalten, wie sich die von Nietzsche eingeforderte Kritik und Reflexion verstehen lassen sollte, ohne dass eine mit unseren Trieben nicht zu identifizierende kritische und reflexive Instanz angenommen würde. Die in Rede stehende Selbstkultivierung kann nach Nietzsche auch darin bestehen, bestimmte Erfahrungen in einem anderen Licht als bisher zu sehen. Dadurch werden inspirierende Neuinterpretationen möglich. Wie der Künstler es vermag, die Dinge so zu präsentieren, dass wir sie „um die Ecke und wie in einem Ausschnitte sehen“ können, oder sie „so zu stellen, dass sie [...] nur perspektivische Durchblicke gestatten“, oder „ihnen eine Oberfläche und Haut (zu) geben, welche keine volle Transparenz hat“ – genau so sollen wir wenigstens zeitweise mit uns selbst und unserem Leben umgehen. Dies „Alles sollen wir den Künstlern ablernen“ – und „im Uebrigen“, wie Nietzsche hinzufügt, „weiser sein, als sie“. Denn: „bei ihnen hört gewöhnlich diese feine Kraft auf, wo die Kunst aufhört und das Leben beginnt; wir aber wollen die Dichter unseres Lebens sein, und im Kleinsten und Alltäglichsten zuerst“ (KSA 3, 538). Die im 18. Jahrhundert mit dem Bildungsgedanken klassisch verknüpfte ästhetische Komponente, _____________ 36 Vgl. Menschliches, Allzumenschliches I, 260 und II, 345 (KSA 2, 214 u. 519). Nietzsches Auffassung steht der Kantischen Diskussion derselben Frage, wie sie in der Anthroplogie in pragmatischer Hinsicht vorgetragen wird, überraschend nah (vgl. Akademie-Ausgabe (AA) der Werke Kants, Bd. VII, S. 251 ff. Zur Interpretation vgl. von der Verf.: Kants Begriff des Glücks. Berlin/New York 2003, S. 159171. 37 Auch diese Figur ähnelt einem entsprechenden Gedanken Kants. Vgl. Kants Begriff des Glücks, a. a. O., 162-165.
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wie sie vor allem Schiller hervorgehoben hatte, leuchtet in dieser Überlegung Nietzsches wieder auf.38 Wie aber könnte eine solche dichtende Interpretation unserer Erfahrungen und unserer Tugenden beispielsweise aussehen? Nietzsche ist sich im Klaren und betont, dass wir „freilich durch kein Kunststück aus einer armen Tugend eine reiche, reichfliessende machen [können]“.39 Somit ist das Dichten hier nicht im Sinne eines Umfälschens zu verstehen. Was wir „aber wohl können“, ist, „ihre Armuth schön in die Nothwendigkeit umdeuten, sodass ihr Anblick uns nicht mehr wehe thut, und wir ihrethalben dem Fatum keine vorwurfsvollen Gesichter machen“. Nietzsche schließt seine Betrachtung mit einer uns wohlbekannten Metaphorik: So thut der weise Gärtner, der das arme Wässerchen seines Gartens einer Quellnymphe in den Arm legt und also die Armuth motivirt: – und wer hätte nicht gleich ihm die Nymphen nöthig!
Durch geeignetes Kombinieren von schwach oder arm ausgebildeten Tugenden und Erfahrungen mit korrespondierenden stark oder reich entwickelten Tugenden und Erfahrungen vermögen wir zuletzt, auch mit jenen uns wenigstens zu arrangieren, wenn nicht sogar, sie als notwendige Kehrseiten des Schönen und des Gelungenen unseres Lebens zu akzeptieren. Sie würden dann ihren möglichen destruktiven, zum Beispiel entmutigenden, Einfluss verlieren. Und gerade Nietzsche wird nicht müde darauf hinzuweisen, dass im Grunde jedes Ding und jeder Wert auf sein komplementäres Gegenteil bezogen und ohne dieses ohne Bedeutung und Gewicht wäre. Selbstkultivierung zielt auf Ausbildung eines Sinnes für Balance, Konzentration auf Wesentliches und damit verbunden auf die Fähigkeit zum ‚langen Atem’, der die zumeist auf bloßen Aktionismus hinauslaufende Hast und Unrast moderner Bildungsstrategien vermeidet.40 Die dritte Strategie der Selbststeigerung, die Nietzsche diskutiert, ist die Selbstbefreiung. Sie ist in seinen Augen unerlässlich, weil das Individuum sich von selbstzerstörerischen Tendenzen zu reinigen hat. Diese können selbstgemacht, aber auch zusammen mit bestimmten kulturellen Traditionen auf es gekommen sein. Los- und aufzulösen ist jedenfalls alles, was die Aussichten auf Wachstum und Entwicklung des Menschen vergiftet. Abgesehen vom Einzelnen und bezogen auf das gesamte kulturelle Klima Europas ist eine in Nietzsches Augen fatale Unentschiedenheit zwi_____________ 38 Vgl. hierzu Lars-Thade Ulrichs: „Braucht ein Übermensch noch Bildung? Nietzsches ästhetisches Bildungskonzept vor dem Hintergrund von Schillers Ästhetischen Briefen“. In: Nietzscheforschung 12 (2005), S. 111-124. 39 Vgl. hier und im Folgenden: Die fröhliche Wissenschaft 17 (KSA 3, 389). 40 Vgl. z.B. Schopenhauer als Erzieher (KSA 1, 366 ff).
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schen dem, was er „ethischen Naturalismus“ nennt, und den christlichen Vorstellungen von Sittlichkeit wahrzunehmen. Mit dem genannten Naturalismus ist eine „Natürlichkeit“ gemeint, wie sie Nietzsche zufolge in den antiken Moralsystemen noch lebendig war, dann jedoch vom Christentum durch die „Höhe seines Ideals“ überboten wurde. Der „Anreiz“ des Natürlichen aber lässt sich nicht vertilgen, gleichzeitig erregt es infolge der Prägung des Empfindens durchs Christentum nun „Furcht“. Entsprechend fühlt sich der moderne Mensch nach Nietzsche hin- und hergerissen. Friedlosigkeit und vor allem Hass, auch Selbsthass, sind das Ergebnis dieses Ringens.41 Solcher Hass, inklusive des Selbsthasses, der als Resultat verschiedener gesellschaftlicher und individueller Konstellationen und Dispositionen auftreten kann, ist die eigentliche Zielscheibe reinigender Selbstbefreiung. Es ist evident, dass Hass die zur konstruktiven Entwicklung nötigen Kräfte in entscheidender und negativer Weise bindet. Als zerstörerisches, destruktives Element ist er nach Nietzsche stets ein Symptom der décadence, ein Zeichen von Müdigkeit, Erkrankung, Erschöpfung und Verarmung. Zwar kann er gelegentlich auch einmal als ein produktives, vorwärtstreibendes Moment wirken, so wenn er im zweiten Stadium der Selbststeigerung die nötige „grosse Loslösung“ von den eigenen Werten, Überzeugungen, Idealen und Zielen zu befördern hilft.42 Doch abgesehen von dieser bestimmten Funktion im Dienste der Kritik, die ein Moment im Rahmen der Geschichte individuellen Wachstums ist, muss der Hass als bedeutendes Hindernis der Selbstentwicklung gewertet werden. Er richtet sich als Ressentiment gegen alles im Leben, das vom Hassenden eigentlich hochgeschätzt wird, von dem er selbst sich jedoch ausgeschlossen fühlt: gegen Schönheit zum Beispiel und Sinnlichkeit, gegen Macht, Ansehen, Erfolg der Anderen. So gibt es einen von Nietzsche zu Recht hervorgehobenen Unterschied zwischen der Haltung der Verachtung, die herabsieht, und dem Hass, der „gleich“ und „gegenüber“ stellt.43 Auch ist deutlich, dass der Hass gegen Andere und gegen das Leben insgesamt, einschließlich seiner von uns nicht gemachten, sondern vorgefundenen Signatur und Geschichte, im Selbsthass wurzelt. Nietzsches wohlbekannte Lehre vom amor fati, von der Liebe also zu dem, was verfügt, bestimmt oder schicksalhaft festgelegt ist, kann als ein Versuch gelesen werden, der Dynamik des Selbsthasses zu entgehen. Amor fati bedeutet für Nietzsche, die Haltung „eines dionysischen Jasagens zur _____________ 41 Vgl. ebd., 345 sowie Nachlass 5 [138], Frühling-Sommer 1875 (KSA 8, 75); vgl. auch: Götzen-Dämmerung, Moral als Widernatur (KSA 6, 82-87). 42 Vgl. Menschliches, Allzumenschliches I, Vorrede 3, 6 (KSA 2, 15-17, 20 f). 43 Vgl. Die fröhliche Wissenschaft 379 (KSA 3, 632).
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Welt“ einnehmen zu können.44 Das, was uns und unseren Ambitionen anscheinend unüberwindbar entgegensteht, auch das, was wir unabhängig von unseren eigenen Belangen als Ungerechtigkeit sehen und brandmarken, sollten wir danach nicht wie ein uns lähmendes Gift in uns wirken lassen. Im Gegenteil sollten wir es als Herausforderung begreifen lernen, an der wir unsere Kräfte zu messen und zu steigern haben. Dies dürfte allerdings gerade nicht im „Geist der Rache“45 geschehen, so dass wir das uns Opponierende und Wehtuende zu vernichten und auszurotten suchen – mit allen uns zur Verfügung stehenden intellektuellen, psychischen und physischen Mitteln. Lebenserhaltend, -fördernd und -steigernd wäre es, dies Opponierende als Widerstand akzeptieren zu können. Dann vermöchten wir mindestens im Idealfall, alles und jedes im Leben zugunsten der Entwicklung und Reifung unseres Daseins fruchtbar zu machen. So würde es an perspektivischem Durchblick, Reichtum der Erfahrung, Tiefe des Verständnisses, Sicherheit des Handelns unendlich gewinnen können. Dass diese Idee ihre Grenze finden mag an Geschehnissen und Taten, die absolut unerträglich sind, versteht sich. Vielleicht oder sogar wahrscheinlich aber würde Nietzsche, der ausnahmslos allen Beurteilungen und Werten allein relationale Qualität zugestehen möchte, diese Schlussfolgerung vermeiden wollen. In jedem Fall darf Nietzsches aus Leiden geborenes Ringen um die Fähigkeit, zum Leben uneingeschränkt „Ja“ sagen zu können, nicht als plan optimistisches, das Dasein von Mensch und Natur schönfärbendes Bemühen missverstanden werden. Allein seine eingangs erwähnte Überzeugung, dass der Einzelne und insbesondere das zu „Großem“ berufene Individuum sich gegebenenfalls einer Lebensaufgabe zu verschreiben hat, an der es scheitern und zugrunde gehen kann, würde solches Reden Lügen strafen. Der tragische Grundzug, der dem Denken Nietzsches auch und nicht zuletzt mit Blick auf die Bildbarkeit des Menschen zu eigen ist, bleibt unübersehbar.46
_____________ 44 Vgl. Nachlass 16[32], Frühjahr-Sommer 1888 (KSA 13, 492). 45 Vgl. Also sprach Zarathustra, Von der Erlösung (KSA 4, 180 f). 46 Ich danke meinem Kollegen William R. Schroeder vom Department of Philosophy der University of Illinois at Urbana-Champaign, der ein Buch zu Nietzsches Ethik vorbereitet und der meine im zweiten und dritten Abschnitt dieses Textes vorgetragenen Überlegungen vielfältig angeregt hat.
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Epilog: Deutsche Bildung Schließen möchte ich mit einem Text Nietzsches, den er vor 127 Jahren, also zehn Jahre nach Gründung des Deutschen Reiches, als 190. Aphorismus der Morgenröthe publizierte. Er dürfte auch heute von Interesse sein. Immer noch ist das spezifisch deutsche Konzept der ‚Bildung’ attraktiv – im Ausland paradoxerweise stärker als in Deutschland selbst47, wo man sich besonders modern und weltläufig geben möchte und immer mehr Gefallen daran findet, die eigenen Traditionen entschlossen abzuwerfen. Anregend ist die Analyse Nietzsches nicht zuletzt, weil sie – im Geiste eines Heinrich Heine – die Besonderheiten und auch Bedenklichkeiten dieser deutschen und preußischen Idee der Bildung gleichsam von außen betrachtet: aus nicht allein deutscher, sondern europäischer Perspektive: Die ehemalige deutsche Bildung. — Als die Deutschen den anderen Völkern Europa’s anfiengen interessant zu werden — es ist nicht zu lange her —, geschah es vermöge einer Bildung, die sie jetzt nicht mehr besitzen, ja die sie mit einem blinden Eifer abgeschüttelt haben, wie als ob sie eine Krankheit gewesen sei: und doch wussten sie nichts Besseres dagegen einzutauschen, als den politischen und nationalen Wahnsinn. Freilich haben sie mit ihm erreicht, dass sie den anderen Völkern noch weit interessanter geworden sind, als sie es damals durch ihre Bildung waren: und so mögen sie ihre Zufriedenheit haben! Inzwischen ist nicht zu leugnen, dass jene deutsche Bildung die Europäer genarrt hat und dass sie eines solchen Interesses, ja einer solchen Nachahmung und wetteifernden Aneignung nicht werth war. Man sehe sich heute einmal nach Schiller, Wilhelm von Humboldt, Schleiermacher, Hegel, Schelling um, man lese ihre Briefwechsel und führe sich in den grossen Kreis ihrer Anhänger ein: was ist ihnen gemeinsam, was an ihnen wirkt auf uns, wie wir jetzt sind, bald so unausstehlich, bald so rührend und bemitleidenswerth? Einmal die Sucht, um jeden Preis moralisch erregt zu erscheinen; sodann das Verlangen nach glänzenden knochenlosen Allgemeinheiten, nebst der Absicht auf ein Schöner-sehen-wollen in Bezug auf Alles (Charaktere, Leidenschaften, Zeiten, Sitten), — leider „schön“ nach einem schlechten verschwommenen Geschmack, der sich nichtsdestoweniger griechischer Abkunft rühmte. Es ist ein weicher, gutartiger, silbern glitzernder Idealismus, welcher vor Allem edel verstellte Gebärden und edel verstellte Stimmen haben will, ein Ding, ebenso anmaasslich als harmlos, beseelt vom herzlichsten Widerwillen gegen die „kalte“ oder „trockene“ Wirklichkeit, gegen die Anatomie, gegen die vollständigen Leidenschaften, gegen jede Art philosophischer Enthaltsamkeit und Skepsis, zumal aber gegen die Naturerkenntniss, sofern sie sich nicht zu einer religiösen Symbolik gebrauchen liess. Diesem Treiben der deutschen Bildung sah Goethe zu, in seiner Art: danebenstehend, mild widerstrebend, schweigsam, sich auf seinem eignen, besseren Wege immer mehr bestärkend. Dem sah etwas später auch Schopenhauer zu, — ihm war viel wirkliche Welt und Teufelei der Welt wieder sichtbar geworden, und
_____________ 47 Vgl. z. B. Robert B. Louden: The World We Want. How and Why the Ideals of the Enlightenment Still Elude Us. Oxford 2007.
Selbststeigerung. Nietzsches Idee der Bildung
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er sprach davon ebenso grob als begeistert: denn diese Teufelei hat ihre Schönheit! — Und was verführte im Grunde die Ausländer, dass sie dem nicht so zusahen, wie Goethe und Schopenhauer, oder einfach davon absahen? Es war jener matte Glanz, jenes räthselhafte Milchstrassen-Licht, welches um diese Bildung leuchtete: dabei sagte sich der Ausländer „Das ist uns sehr, sehr ferne, da hört für uns Sehen, Hören, Verstehen, Geniessen, Abschätzen auf; trotzdem könnten es Sterne sein! Sollten die Deutschen in aller Stille eine Ecke des Himmels entdeckt und sich dort niedergelassen haben? Man muss suchen, den Deutschen näher zu kommen.“ Und man kam ihnen näher: während kaum viel später die selben Deutschen sich zu bemühen anfiengen, den Milchstrassen-Glanz von sich abzustreifen; sie wussten zu gut, dass sie nicht im Himmel gewesen waren, — sondern in einer Wolke!
Knowing how. Ein Plädoyer für Bildung jenseits von Modul und Elfenbeinturm Birgit Sandkaulen Die Institution der Vorlesung und das Prinzip der Wiederholung Wozu brauchen wir Universitäten, wenn es Bücher gibt? Wozu lässt man, „was schon gedruckt vor jedermans Augen liegt, auch noch durch Professoren recitiren“?1 Das Argument, das Fichte vorbringt, ist schlagend. Universitäten wurden gegründet, als der mündliche Austausch die fehlenden Bücher ersetzen musste. Jetzt aber gibt es Bücher in Hülle und Fülle – und an den Universitäten liest man daraus buchstäblich vor: eine groteske Situation. Nicht allein wird überflüssigerweise wiederholt, was jeder selber lesen könnte. Sogar das Selberlesen treibt man den Studenten aus, nachdem die Vorlesung sie in eine solche Passivität versetzt hat, dass jeder Ansporn zu eigener Tätigkeit ebenfalls erstickt.2 Unter solchen Umständen vergeht den Studenten beides, sowohl das Hören als auch das Lesen, und am Ende bleiben bestenfalls „abgerissene _____________ 1
2
Johann Gottlieb Fichte: Deducirter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt (1812). In: Fichtes Werke. Hrsg. v. I. H. Fichte. ND Berlin 1971, Bd. VIII, S. 98. Im Folgenden abgekürzt mit FW. „Nun ist von den genannten zwei Mitteln der Belehrung das eigene Studiren der Bücher sogar das vorzüglichere, indem das Buch der frei zu richtenden Aufmerksamkeit Stand hält, und das, wobei diese sich zerstreute, noch einmal gelesen, das aber, was man nicht sogleich versteht, bis zum erfolgten Verständnisse hin und her überlegt werden, auch die Lectüre nach Belieben fortgesetzt werden kann, so lange man Kraft fühlt, oder abgebrochen werden, wo diese uns verlässt; dagegen in der Regel der Professor seine Stunde lang seinen Spruch fortredet, ohne zu achten, ob irgend jemand ihm folge, ihn abbricht, da wo die Stunde schlägt, und ihn nicht eher wieder anknüpft, als bis abermals die Stunde geschlagen. Es wird durch diese Lage des Schülers, in der es ihm unmöglich ist, in den Fluß der Rede seines Lehrers auf irgend eine Weise einzugreifen und ihn nach seinem Bedürfnisse zum Stehen zu bringen, das leidende Hingeben als Regel eingeführt, der Trieb der eigenen Thätigkeit vernichtet, und so dem Jünglinge sogar die Möglichkeit genommen, des zweiten Mittels der Belehrung, der Bücher, mit freithätiger Aufmerksamkeit sich zu bedienen“ (FW VIII, 98 f.).
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Bruchstücke“ hängen (FW VIII, 98). Zwar mag es hier und da unter der Professorenschaft „selbstthätige Geister“ geben, die die „blosse Wiederholung des vorhandenen Buchinhalts“ durch eigene Gedanken ergänzen (FW VIII, 99). Aber deren Anteil ist zu klein, als dass er aufs Ganze gesehen ins Gewicht fallen könnte. Was daraus folgt, ist klar: Eine solche, zunächst überflüssige, sodann in ihren Folgen auch schädliche Wiederholung desselben, was in einer anderen Form weit besser da ist, soll nun gar nicht existiren; es müßten daher die Universitäten, wenn sie nichts Anderes zu seyn vermöchten, sofort abgeschafft, und die Lehrbedürftigen an das Studium der vorhandenen Schriften gewiesen werden. (FW VIII, 100)
Mit diesem Paukenschlag eröffnet Fichte 1807 eine Schrift, die den bemerkenswerten Titel Deducirter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt trägt. Entweder wir schaffen die Universitäten auf der Stelle ab – oder wir reformieren sie an Haupt und Gliedern. Entscheiden wir uns für die Reform, dann heißt es, systematisch ans Werk zu gehen. Nur planmäßig zu verfahren, wäre nicht genug. Der Plan, der die neue Verfassung der Universität bis ins Detail hinein erfasst, muss deduziert, also aus einem Prinzip, einem „klaren Begriff“ der Sache „vollständig abgeleitet“ und zu einem „organischen Ganzen“ verbunden sein (FW VIII, 182). Wüsste man nichts von Fichte – hier tritt er geradezu leibhaftig auf die Bühne: in seiner Aufrichtigkeit und Konsequenz, die erfrischend radikal den Kompromiss verabscheut; in seinem Interesse an den Verhältnissen des Lebens, das, wie man sieht, auch das Engagement für die konkreten Belange der Universität umfasst; und in seinem philosophischen Anspruch auf systematische Einheit und Transparenz. Dass Fichte sich zeitlebens dem Projekt der „Wissenschaftslehre“ verschrieben hat, schlägt durch den Universitätsplan erkennbar hindurch. Um so neugieriger ist man zu erfahren, was denn der „klare Begriff“ ist, aus dem, ginge es nach Fichte, die Verfassung einer neuen Universität deduziert werden soll. Wozu dienen Universitäten, nachdem der völlig marode Vorlesungsbetrieb das beste Argument für ihre Abschaffung liefert? Die Antwort hat etwas mit „Bildung“ zu tun, mit Fichtes Verständnis dieses Konzepts. Genau deshalb aber verrate ich die Antwort zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht. Nicht weil Fichtes Programm so schwer zu verstehen wäre, dass es beträchtlicher Anläufe dorthin bedürfte. Der Grund liegt anderswo. Denn kennen wir diese Antwort nicht längst? Glauben wir nicht im Rückblick auf die Epoche, die man unter Bildungsaspekten das „Humboldtsche Zeitalter“ nennt, immer schon zu wissen, was Bildung hier meint?
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Schöngeistige Bildung und ökonomische Ausbildung: Zwei Seiten einer Medaille Bildung, so hat es Georg Bollenbeck formuliert, ist ein „deutsches Deutungsmuster“.3 Das ist unbestreitbar richtig, und darauf spiele ich an, wenn ich die nähere Vorstellung Fichtes fürs erste noch verschiebe. Dieses Deutungsmuster „Bildung“ hat uns nämlich in erheblichem Maße den Blick dafür verstellt, was Bildung um 1800 bedeutet. Wie Mehltau hat es sich über die ursprünglichen philosophischen Konzepte und ihre innovativen Ressourcen gelegt. Damit sehe ich die Probleme dieses Deutungsmusters keineswegs da, wo Bollenbeck sie sieht. Seiner Darstellung zufolge wurde das Bildungsprogramm der Aufklärung in seiner nüchternen Ausrichtung auf praktische Interessen durch die Philosophie des deutschen Idealismus auf bedenkliche Weise gebrochen. In bewusster Distanz zu lebensweltlicher Praxis wird Bildung jetzt idealisiert und auf die schöngeistige Idee der harmonisch sich vervollkommnenden Persönlichkeit eingeschworen. Dieses nunmehr typisch deutsche Bildungsprogramm hat dann der Neuhumanismus kanonisiert und im Selbstverständnis eines Kulturbürgertums verankert, dem das hehre Reich der Bildung als willkommene Fluchtburg vor politischen und ökonomischen Misshelligkeiten galt.4 Zugutehalten muss man dieser Darstellung, dass sie wenigstens den Versuch unternimmt, zwischen dem Aufbruch der klassischen deutschen Philosophie und der Strömung des Neuhumanismus zu unterscheiden. Dieser Unterschied wird indes sogleich verwischt, wenn es heißt, dass das Neue des neuhumanistischen Bildungsbegriffs nur in der „Vereinfachung des Gedankens der sich selbstvervollkommnenden Persönlichkeit, in der Verstofflichung der Bildungsmittel und in der Stabilisierung des Bildungsideals durch Institutionen“ bestünde.5 Böse gesagt haben sich die Philosophen demnach, wie immer, allzu kompliziert und ‚idealistisch’ in ihren Systemen verstiegen, während sich die geistige Originalität der Neuhumanisten in Grenzen hielt. Weshalb aber ihnen, die philosophische Vorlage simplifizierend, der durchschlagende Erfolg gelang. Das ist auch ein einleuchtendes „Deutungsmuster“. Und wenn es nun ganz anders wäre? Wenn der Bildungsbegriff des Neuhumanismus keine Vereinfachung des angeblich selben philosophischen Gedankens, sondern dessen Fehldeutung wäre? Die Wirkungsgeschichte des Neuhumanismus bestreite ich selbstverständlich nicht. Im Gegenteil halte ich sie für fatal, weil sie Bildung auf die _____________ 3 4 5
Georg Bollenbeck: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters. Frankfurt a. M. u. Leipzig 1994. Vgl. ebd. S. 98 ff, 126 ff. Ebd., S. 149.
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emphatische Kultivierung der Persönlichkeit einschließlich ihrer Entfremdung von allen praktischen Erfordernissen festgelegt hat.6 Die machtvolle Präsenz dieses Motivs dokumentiert Bollenbecks Darstellung selbst, indem sie die Autoren der klassischen deutschen Philosophie ihrerseits auch nur noch auf einschlägige Wiedererkennungseffekte hin präsentiert. Daraus folgt eine erste These, die mir sehr wichtig ist: Um die philosophische Bildungsidee um 1800 freizulegen, muss man das typisch deutsche Bildungsmuster, das unser Bildungsbewusstsein prägt, dezidiert in Klammern rücken. Diesbezügliche Assoziationen führen hier definitiv nicht weiter. Bezogen auf die Fragestellung im Titel des vorliegenden Bandes muss die Antwort also lauten: „nur als ästhetisches Phänomen gerechtfertigt“ ist Bildung ursprünglich gerade nicht. Daran schließe ich eine zweite, nicht weniger wichtige These an. Fatal ist die skizzierte Geschichte nämlich auch deshalb, weil sie die Gegenreaktion auf den Plan gerufen hat, die die gegenwärtige Bildungsdiskussion bestimmt und somit gleichfalls ein Teil unseres aktuellen Bildungsbewusstseins ist. Wenn irgendetwas dem Bologna-Prozess zu seiner – eigentlich unbegreiflichen – Durchschlagskraft verholfen hat, dann war es die Überzeugung, dass das sogenannte „Humboldtsche Bildungsideal“ in die heutige Welt endgültig nicht mehr passt. Von Verlautbarungen der Hochschulrektorenkonferenz über Forderungen der Bildungspolitik bis hin zu eindeutigen Willensbekundungen der Wirtschaft: Gegenüber dem traditionellen Bildungsbegriff wird eine neue Bildungsvision gefordert, die das auratisch aufgeladene Wort „Bildung“ unter der Hand mit einem ganz anderen Sinn besetzt. Man sagt „Bildung“, aber was man meint, ist die Reduktion auf instrumentelle Belange der Ausbildung. Die neuen Studiengänge auf die modularisierte Vermittlung arbeitsmarktrelevanter Kompetenzen auszurichten, ist dabei der entscheidende Punkt, der indes leicht missverstanden werden kann. Dass ein Studium möglichst nicht im Nirwana enden, sondern zu einer qualifizierten Berufstätigkeit führen soll, ist schließlich recht und billig. Diese Lesart übersieht, worin die Tücke des neuen Bildungsbegriffs besteht. Hier geht es um die instrumentelle Logik einer Zweck-MittelRelation, die sich nicht darin erschöpft, Bildung als Mittel für eine zukünftige Berufstätigkeit zu begreifen. Wie der Begriff der Zweck-MittelRelation selber schon kenntlich macht, kommt es dieser Logik gemäß vielmehr darauf an, dass der Zweck die effektive Ausgestaltung des Mittels je schon bestimmt. Indem der Zweck die Mittel seiner erfolgreichen Durchsetzung definiert, dringt er unmittelbar in das Mittel selber ein. Die _____________ 6
Vgl. dazu auch die typisch neuhumanistisch imprägnierten Darlegungen von Manfred Fuhrmann: Bildung. Europas kulturelle Identität. Stuttgart 2002.
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Rolle einer in diesem Sinne effizienten Ausbildung erfüllt Bildung somit nur dann, wenn sie den ökonomischen Zweck nicht etwa nur als zukünftiges Ziel vor Augen hat, sondern unmittelbar selber schon umsetzt und erfüllt. Mit anderen Worten: Während man harmloserweise meint, die instrumentelle Logik hielte Mittel und Zweck auseinander, liegt ihre Tücke darin, dass sie Mittel und Zweck in Wahrheit unmittelbar zusammenfallen lässt. Dass diese Logik, und zwar bis in die getroffenen Sprachregelungen hinein, direkt zur ökonomischen Unterwanderung der Hochschulen führt, ist ebenso evident wie die Pointe der sogenannten „Output-Orientierung“, die daraus entspringt und explizit auch von der HRK vertreten wird: Die Bologna-Erklärung verlangt, dass in den Studiengängen ‚arbeitsmarktrelevante’ Inhalte gelehrt und gelernt werden – eine Vorgabe, die gemäß dem Hochschulrahmengesetz für alle Studiengänge schon jetzt gilt. Von den neuen Studiengängen wird verlangt, dass sie für ihre Absolventen ein Qualifikationsprofil definieren, auf [das] die Inhalte und Strukturen ausgerichtet werden. Sie definieren sich also nicht über (traditionelle) Lehrinhalte, sondern über die Frage, welche Kompetenzen ein Absolvent oder eine Absolventin nach Ende des Studiums vorweisen muss, um im Berufsleben erfolgreich zu sein (‚Kompetenzorientierung’, ‚Outputorientierung’).7
_____________ 7
www.hrk-bologna.de/bologna/de/home/1930_2103.php. Abgerufen am 18.10. 2008. Die im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e.V. 2003 erstellte Studie Bildung neu denken! Das Zukunftsprojekt folgt ebenfalls diesem Ansatz, wie u.a. die folgenden Leitsätze exemplarisch verdeutlichen: „Das Bildungsverständnis des deutschen Bildungssystems ist revisionsbedürftig im Hinblick auf mehr Verbindlichkeit, mehr Standardisierung, eine stärkere Vermittlung personaler (Schlüssel-)Qualifikationen und eine deutlichere Orientierung an der Arbeits- und Berufswelt“ (S. 2). „Bildung darf nicht im leeren Raum stattfinden, sondern muss sich am Vollzug des Lebens, der Arbeit und des Berufs orientieren“ (ebd., S. 5). „Ziele und Inhalte auch des allgemein bildenden Systems sind an der Tradition und den längerfristigen Beständen an Wissen und Werten der europäischen Kultur zu orientieren. Ebenso bedeutsam ist aber eine konsequente Arbeits- und Berufsorientierung des Lernens. Der Gegensatz zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung ist überholt. Allgemeinbildung im Sinne personaler Kompetenzen kann auch durch arbeitsbezogene bzw. berufliche Bildung erworben werden“ (ebd., S. 9). „Das Lernen in akademischen Bildungsgängen muss die enge Fachorientierung schnellstens überwinden und die Prinzipien von Überfachlichkeit, Berufsorientierung, exemplarischem Lernen, Transdisziplinarität, Repräsentativität und Interkulturalität (Internationalität) umsetzen“ (ebd., S. 9): www.bayme.de. Abgerufen am 15.11.2008. Vgl. zur Problematik dieses Ansatzes auch Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Wien 2006 sowie Birgit Sandkaulen: Bildung und lebenslanges Lernen. Eine kritische Analyse des Bildungsbegriffs aus normativer Perspektive. In: Ursula Staudinger u. Heike Heidemeier (Hrsg.): Bildung und Lebenslanges Lernen als Chance und Herausforderung einer alternden Gesellschaft. Acta Nova Leopoldina. Halle (Saale) 2009 [im Erscheinen].
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Unmissverständlich klar wird so zugleich, dass die Wucht, mit der dieser Ansatz Platz gegriffen hat, aus der genannten Gegenreaktion erwächst: der Reaktion auf das neuhumanistische Deutungsmuster Bildung, dessen kulturbürgerlicher Sitz der Elfenbeinturm und eben nicht das wirkliche Leben ist. Bildung als schöngeistige Kultivierung der Persönlichkeit und der neue Ruf nach ökonomischem „Output“ gehören als zwei Seiten derselben Medaille zusammen. Vor diesem Hintergrund besagt meine zweite These: Um den philosophischen Bildungsbegriff um 1800 freizulegen, muss man auch die Opposition von Bildung und Ausbildung aufgeben. Auch sie verstellt, worum es damals ging. Ob man aber, wenn man sich so gerüstet nun wieder Fichte zuwendet, wirklich in die Vergangenheit zurück- und nicht vielmehr in die Zukunft voranschreitet? Meine dritte These kündige ich mit Blick auf die aktuelle Initiative einer Reihe europäischer Hochschulen an, die unter dem Namen „EUniCult“ (European Universities Cultural Competencies Network) auffälligen Fehlentwicklungen des Bologna-Prozesses zu steuern sucht. Bildung sei mehr als „Wissensvermittlung, Anwendungsorientierung oder Kultivierung von Wissensbeständen“. Gerade „in Zeiten durchrationalisierter Studienbedingungen“ sei auch „die Perspektive der Selbstbildung des Menschen bzw. die Vermittlung allseitiger kultureller Kompetenzen“ zu beachten, was allerdings – dies ist der fällige Reflex auf das deutsche Bildungsmuster – auf Belange der „globalen Wissensgesellschaft“ zielt und nicht etwa auf die „Rekultivierung“ des alteuropäischen Elfenbeinturms.8 In die Zukunft weist demnach ein dritter Bildungsbegriff. Diese Zukunft, so meine dritte These, hat um 1800 begonnen, wobei es, wie am Ende hervorzukehren sein wird, ein bezeichnendes Differenzmerkmal gibt.
Wissenschaft und Leben Damit zurück zu Fichte. Vorauszuschicken ist, dass sein Konzept den philosophischen Bildungsbegriff um 1800 natürlich nicht zur Gänze abdeckt. Der Aufstieg der Bildung zu einem modernen Leitbegriff geht vielmehr damit einher, dass um die Bedeutung und Ausgestaltung dieses Konzepts gestritten wird. Bereits in unmittelbarer Nachbarschaft Fichtes legen Schelling und Hegel anders orientierte Konzepte vor. Wenn ich mich also im Folgenden auf Fichte, und zwar gezielt auf seine Universitätsschrift konzentriere, präsentiere ich nur einen Ausschnitt aus dieser Debatte – einen hochinteressanten Ausschnitt allerdings, der eine ausführlichere Betrachtung verdient, dies zumal deshalb, weil Fichtes Berliner Schrift im Wind_____________ 8
www.eunicult.eu/cms/front_content.php. Abgerufen am 18.10.2008.
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schatten derjenigen Aufmerksamkeit liegt, die man vorzugsweise Humboldts oder Schleiermachers Universitätsentwürfen zollt. Im Anschluss an die nötige Vorverständigung über unser Bildungsbewusstsein beginne ich ganz bewusst mit dem heikelsten Punkt. Wer ein bürgerliches Gewerbe ergreift, so Fichte, tut gut daran, außerdem eine Schule zu besuchen. Der Besuch dieser Schule, einer Berufsschule nach heutiger Terminologie, ist dann aber nur „Nebensache und blosses Mittel für den besseren Fortgang des bürgerlichen Gewerbes“. Anders der „Gelehrte“: ihm muss die „Wissenschaft nicht Mittel für irgend einen Zweck, sondern sie muss ihm selbst Zweck werden“ (FW VIII, 110). Aha, möchte man jetzt sagen, haben wir es doch geahnt. Das also ist die mit großer Geste angekündigte Universitätsreform. Dem instrumentellen Einsatz der Bildung im Sinne der Ausbildung für einen konkreten Beruf wird die höhere Bildung, deren Ort die Universitäten sind, als Selbstzweck gegenübergestellt. Ohne auf die praktischen Erfordernisse des Lebens zu achten, ja in bewusster Abkehr davon, schneidet der Gedanke des Selbstzwecks einen exklusiven Raum aus der Welt heraus. Und Fichte unterstreicht dies sogar noch, indem er die „Absonderung“ der Studenten „von aller andern Lebensweise, und vollkommene Isolirung“ fordert (ebd.). Was, wenn nicht dies, wäre der sprichwörtliche Elfenbeinturm, der definitiv zur alteuropäischen Vergangenheit gehört? Dem Deutungsmuster Bildung und seinen Folgen gemäß schlägt diese Assoziation in der Tat jederzeit wie eine Falle zu. Während der Ansatz der Zweck-Mittel-Relation über sich hinauszuweisen scheint, beschwört der Gedanke des Selbstzwecks die Vorstellung einer in sich abgeschlossenen Situation herauf, die keinerlei Verbindung zur Außenwelt unterhält. Ein Missverständnis ist das eine wie das andere. Zwar lässt sich der Gedanke des Selbstzwecks nicht ignorieren – Fichte verteidigt ihn ja ausdrücklich. Entscheidend ist aber, dass und wie er seine Bedeutung aus dem Kontext heraus gewinnt. Denn nicht etwa ist er das Prinzip der Universität, sondern eine Folge, die sich aus dem Prinzip ergibt. Worin liegt also das Prinzip? Diese Frage führt an den Anfang zurück. Angesichts des maroden Vorlesungsbetriebs sind die Universitäten entweder abzuschaffen oder neu zu erfinden. Neu erfinden können wir sie aber nur dann, so lautet die Prämisse der Überlegungen Fichtes, wenn man „die Beziehung der Wissenschaft auf das wirkliche Leben betrachtet“ – und sowie man jetzt noch einmal „aha“ sagen möchte und den Elfenbeinturm schon deutlich aufragen sieht, kommt es ganz anders als gedacht. Fichte fährt fort: Man studirt ja nicht, um lebenslänglich und stets dem Examen bereit das Erlernte in Worten wieder von sich zu geben, sondern um dasselbe auf die vorkommenden Fälle des Lebens anzuwenden, und so es in Werke zu verwandeln; es nicht bloss zu wiederholen, sondern etwas Anderes daraus und damit zu machen: es ist demnach
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auch hier letzter Zweck keineswegs das Wissen, sondern vielmehr die Kunst, das Wissen zu gebrauchen. (FW VIII, 100 f.)
In scheinbarem Widerspruch zu der eben zitierten These kann vom Selbstzweckcharakter der Wissenschaft demnach keine Rede sein. Alle Wissenschaften beziehen ihre Relevanz aus der anwendungsorientierten Bewährung im Leben. Das gilt generell und radikal. Das heißt: Fichte verzichtet sogar darauf, wie man sieht, zwischen Grundlagenwissenschaften und angewandten Wissenschaften zu trennen. Auch die geläufige Unterscheidung zwischen Forschung und Lehre, zwischen der Generierung von Wissen einerseits und seiner Vermittlung andererseits, kommt hier noch nicht vor. Die Leitperspektive dieses Universitätsentwurfs stellt in jeder Hinsicht auf den Gebrauch des Wissens und damit auf die über die Universität hinausweisende Praxis ab. Die Universität, so Fichte wörtlich, soll keine „in sich selbst abgeschlossene Welt bilden“, sondern „eingreifen in die wirklich vorhandene Welt“ (FW VIII, 120). Vergewissert man sich dieser Forderung als Prämisse Fichtes, dann erübrigt sich die These, dass hier unter ‚idealistischen’ Vorzeichen das anwendungsorientierte Bildungsprogramm der Aufklärung angeblich verabschiedet wird. Im Gegenteil hält Fichte an den praktischen Intentionen der Aufklärung offenkundig fest. Und mehr noch: sein Projekt scheint mit einem Mal so aktuell, als wolle es die gegenwärtigen Reforminteressen sogar noch übertrumpfen. Plädiert Fichte demnach selber für einen instrumentellen Bildungsbegriff? Und hätte dabei übersehen, dass er sich in einen Widerspruch verstrickt, wenn er gleichzeitig die auf den praktischen Gebrauch des Wissens zielende Lebensrelevanz der Wissenschaften und auch deren Betreibung als Selbstzweck verlangt? Erst mit dieser bewusst zugespitzten Frage kommt die Pointe des Fichteschen Programms in Sicht. Denn was im Rahmen der eingeschliffenen Semantik unseres Bildungsbewusstseins allerdings wie ein Widerspruch aussieht und hier dazu führt, Bildung entweder nach dem schöngeistigen Muster des Selbstzwecks oder nach dem nutzenkalkulierenden Muster der Zweck-Mittel-Relation zu begreifen, eben dies ist hier kein Widerspruch, sondern des Rätsels Lösung. Damit Universitäten ihren Zweck, nämlich die Ausrichtung auf lebensrelevantes Wissen, erfüllen können, müssen sie sich als selbstzweckhafte Gebilde organisieren. Oder umgekehrt: Universitäten müssen sich gegenüber ihrer Umwelt abschließen, damit sie desto besser ins Leben eingreifen können – das eine ist Folge des andern. Das ist deshalb der Fall, weil Fichte diesen Zusammenhang durch ein Motiv vermittelt, das eigentlich naheliegt, aber eben nicht so präsent ist, wie es sollte. Gemeint ist die Einsicht, dass der Transfer des Wissens in die Praxis wesentlich an einer Fähigkeit hängt, nämlich an der zu übenden „Kunst“, wie Fichte sagt, eine solche
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Umsetzung adäquat zu leisten. Hier, in diesem Schlüsselwort „Kunst“, löst sich der scheinbare Widerspruch der Optionen auf. Fichtes Bildungsprojekt ist weder instrumentell noch auf die Errichtung des Elfenbeinturms angelegt, weil es im wahrsten Sinne ein künstlerisches Projekt ist. Indem Fichte die Kunst des Umgangs mit Wissen ins Zentrum stellt, ist das Prinzip gefunden, das seinen Universitätsentwurf trägt.
Knowing how: Die Kunst des wissenschaftlichen Verstandesgebrauchs Was genau zeichnet diese Kunst aus? Wie sehen Universitäten aus, die diese Kunst vermitteln, und wie sollten sie auf keinen Fall verfahren? Ich habe andernorts die These aufgestellt, dass der philosophische Bildungsbegriff um 1800 als neuer Leitbegriff nicht im luftleeren Raum konzipiert wird, sondern gerade in der Orientierung an tradierten Paradigmen und deren Transformation seinen jeweils spezifischen Sinn erhält. Bei Hegel ist dieses Paradigma die Arbeit, bei Schelling die Kunst.9 Dasselbe gilt auch für Fichtes Rede von der Kunst. Bezeichnend ist allerdings, dass er im Unterschied zu Schelling unter „Kunst“ nun gerade nicht die sogenannte „schöne Kunst“ versteht. Vielmehr ist hochinteressant zu sehen, dass Fichte genau zu der Zeit, in der der Terminus „Kunst“ mit der emphatischen Bedeutung der „schönen Kunst“ verwächst und in dieser Form unseren heutigen Sprachgebrauch prägt, eine ältere, bis auf Aristoteles zurückreichende Schicht des Begriffs mobilisiert. Ohne den Einschlag extraordinärer genialischer Talente, der bei Schelling in der Unterscheidung von „Kunst“ und „Poesie“ dafür sorgt, dass Bildung ein Moment von Unwillkürlichkeit, von Unkontrollierbarkeit behält, geht es Fichte dezidiert um die Verbindung von Kunst und Können: um Kunst im Sinne einer „techne“ oder „ars“, der ausgebildeten und im Bewusstsein ihrer Regeln zum Einsatz gebrachten Fähigkeit, mit der jemand sein Metier beherrscht und über die Bedingungen seiner Ausübung professionell verfügt. „Kunst wird dadurch erzeugt, dass man deutlich versteht, was man und wie man es macht.“ (FW VIII, 121) Dass Fichte diese technische oder „poietische“ Bedeutung von „Kunst“ auf das Feld des Wissens zieht und Universitäten auf deren Ausbildung verpflichtet, unterstreicht noch einmal seine aufklärerische Intention: _____________ 9
Vgl. Birgit Sandkaulen: Zwischen Schellings Kunst und Hegels Arbeit. Perspektiven der (philosophischen) Bildung. In: Rudolf Rehn u. Christina Schües (Hrsg.): Bildungsphilosophie. Grundlagen – Methoden – Perspektiven. Freiburg/Br. 2008, S. 63-85.
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diesmal aus der Perspektive der Einsicht, dass die mit Recht verlangte Anwendung des Wissens im Leben die Kunst des Umgangs mit Wissen zur Voraussetzung hat.10 Drei Stufen kognitiver Dispositionen sind demnach zu unterscheiden. Auf der untersten Stufe waltet ein „blinder Mechanismus“, demzufolge vieles in unserem Geist passiert, ohne dass wir es mit „mit klarem und freiem Bewußtseyn durchdrungen“ haben. Was wir auf diese Weise mechanisch wissen, steht uns nicht zur Verfügung. Es ist nicht „unser sicheres und stets wieder herbeizurufendes Eigenthum, sondern es kommt wieder oder verschwindet nach den Gesetzen desselben verborgenen Mechanismus, nach welchem es sich erst in uns anlegte“. Erst auf der nächsten Stufe kommt der Verstand als die „freie Thätigkeit des Auffassens“ ins Spiel. Unter Beteiligung des Verstandes lernen wir im Bewusstsein, dass wir lernen und nach welchen Regeln wir lernen. Das so angeeignete Wissen wird deshalb „ein eigenthümlicher Bestandteil unserer Persönlichkeit, und unseres frei und beliebig zu entwickelnden Lebens“. Es gibt demnach, so kann man sich dies auch verdeutlichen, definitiv kein „knowing that“ ohne Bewusstsein des „knowing how“. Die dritte Stufe ist indes die entscheidende. Sie verhält sich reflexiv zur zweiten, indem hier die Verstandestätigkeit als solche „wiederum zu klarem Bewusstseyn erhoben“ und zur „besonnene[n] Kunst des Verstandesgebrauches im Erlernen“ entwickelt wird. Anlässlich des Erlernens bestimmter Sachverhalte geht es hier immer zugleich um die „Bildung des Vermögens zum Lernen“, um die generelle Einsicht also in das „knowing how“ überhaupt. Wer so ausgebildet wird, wird ein „Künstler im Lernen“. Er hat sich die „Fertigkeit“ angeeignet, „ins Unendliche fort nach Belieben leicht und sicher alles Andere zu lernen“. Er weiß prinzipiell, worauf es ankommt und kann sich in allen möglichen Materien und Situationen des Lebens frei und sicher bewegen. Und dementsprechend ist eine Universität, die sich planmäßig der Aufgabe stellt, freie „Künstler im Lernen“ hervorzubringen, eine „Schule der Kunst des wissenschaftlichen Verstandesgebrauchs“ (FW VIII, 101 f.). _____________ 10 Dazu passt, dass man gewisse Verwandtschaften zwischen Fichtes Konzept und demjenigen Konzept von Aufklärung feststellen kann, das Rainer Enskat im Rekurs auf Rousseau herausgearbeitet hat. Nach dieser Darstellung zielt Rousseaus Kritik an dem durch die Enzyklopädisten repräsentierten szientifischen Modell von Aufklärung alternativ auf die Kultivierung der Urteilskraft und damit derjenigen Fähigkeit, die den Erwerb von Aufklärung allererst erlaubt (vgl. Rainer Enskat: Bedingungen der Aufklärung. Philosophische Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft. Weilerswist 2008, v. a. S. 369 ff). Eben diese Intention verfolgt Fichte unter dem Stichwort „Kunst“, womit er gleichfalls das geübte Urteilsvermögen ins Zentrum des Interesses rückt.
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Daraus ergibt sich nun zugleich, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit diese Vision einer neuen Universität Wirklichkeit werden kann. Negativ formuliert scheiden zwei Varianten aus.11 Die eine Variante attackiert Fichte in Gestalt des gegenwärtigen Zustands der Universitäten. Solange Universitäten dem Prinzip der Wiederholung folgen, Professoren also aus Büchern rezitieren und Studenten das Gehörte mehr schlecht als recht nur repetieren, solange handelt es sich in dieser Form allerdings um alteuropäische Institutionen, die offenbar auf der untersten Stufe mechanischen Wissens verharren und vor den Anforderungen einer modernen Wissensgesellschaft schlicht versagen. Ich verwende diesen Terminus bewusst, ohne Fichte damit in eine künstlich aufstilisierte Aktualität zu ziehen. Umgekehrt gilt, dass er dieses Argument längst antizipiert und seinen Entwurf gerade im Blick auf die Wissensdynamik der Moderne verteidigt hat. Dem Einwand, dass nur die antiken Völker aufgrund der geringeren Wissensfülle außerdem noch über die Zeit verfügten, das Lernen selber zu kultivieren, hält Fichte entgegen, dass gerade die Moderne die Einübung der Kunst des Umgangs mit Wissen verlangt. Weil wir mehr als jemals zuvor in der „Unermesslichkeit unsers wissenschaftlichen Stoffes“ wie in einem „ungeheuren Ocean“ zu versinken drohen, besteht die Lösung gerade nicht im mechanischen Anhäufen von vermeintlichem Wissen, sondern einzig und allein darin, sich solchen Fluten mittels einer „kunstmässigen Ausbildung des Vermögens“ zu lernen überhaupt gewachsen zu zeigen (FW VIII, 108). Die andere Variante, der sich Fichtes Programm entgegenstellt, besteht darin, Universitäten mit Berufsschulen zu verwechseln. Die instrumentelle Ausrichtung auf unmittelbar „arbeitsmarktrelevante“ Erfordernisse verkennt, dass die Lebensrelevanz universitär angeeigneten Wissens sich nur vermittels der Übung von Fähigkeiten erreichen lässt, die das „knowing how“ des Verstandesgebrauchs selbst betreffen. Was Fichte darunter konkret versteht, sagt er klar und deutlich. Gemeint ist die „Kunst der Kritik, des Sichtens des Wahren vom Unwahren, des Nützlichen vom Unnützen, und das Unterordnen des minder Wichtigen unter das Wichtige“ – mit einem Wort: auf das „Beurtheilungsvermögen“ kommt es an (FW VIII, 103). Wird der Freiraum, den der Gedanke des Selbstzwecks der Wissenschaft verbürgt, durch die Logik der Zweck-Mittel-Relation unterhöhlt, geht der entscheidende Raum verloren, in dem die kritische Fähigkeit zu kompetentem Urteil gebildet werden kann. Und das hat dann zur Folge, dass man auf die Umstände der Wirklichkeit immer nur reagiert, anstatt sie künstlerisch geübt nach eigenen Kräften zu gestalten. _____________ 11 Es ist bezeichnend, dass die aktuellen Folgen des Bologna-Prozesses offenkundig in einer Gemengelage beider Varianten bestehen.
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Positiv formuliert heißt das, dass Universitäten als Schulen der „Kunst des wissenschaftlichen Verstandesgebrauchs“ ihr ganzes Augenmerk – auf Seiten der Lehrenden wie der Studierenden, quer durch alle Fächer und bis hinein in ihre konkrete Verfassung – auf die Kultivierung des Urteilsvermögens richten müssen.12 Das schließt einerseits die äußere Sicherung des universitären Freiraums ein. Das Studium darf keinen ökonomischen Zwängen unterliegen und muss unabhängig von finanzieller Potenz allgemein zugänglich sein. Fichte, der selber in allerärmsten Verhältnissen aufgewachsen war, verlangt staatliche Stipendien für die, die von Hause aus über ausreichende Mittel nicht verfügen, und fordert zugleich, dass die Mittelvergabe allen anderen unbekannt bleibt, um in die eigentlichen Belange des Studierens keine sachfremden Ungleichgewichte einzutragen. Bemerkenswerterweise gehört zu dieser äußeren Sicherung des Freiraums auch die Forderung nach Mobilität. Die Einrichtung von Universitäten in jeder Provinz fördert die Sache der wissenschaftlichen Bildung nicht, sondern liefert sie vielmehr dem Gesichtspunkt lokaler Abhängigkeiten aus.13 Der äußeren Sicherung entspricht andererseits die innere Ausgestaltung der künstlerischen Übung. Wie schon gesagt, geschieht die Bildung der Urteilskraft selbstverständlich nicht im freien Fall, so als seien die Gegenstände des Wissens ohne Belang. Auch das ist ja ein aktuelles Missverständnis der Bildungsdebatte, wenn arbeitsmarktrelevant vom „Lernen _____________ 12 Ein gewisses Privileg kommt dabei der Philosophie zu, jedoch nicht aus inhaltlichen Gründen, sondern deshalb, weil sie die Disziplin ist, die die „gesammte geistige Thätigkeit, mithin auch alle besonderen und weiter bestimmten Aesserungen derselben wissenschaftlich erfasst“ (FW VIII, 122). „Philosophische Kunstbildung“ in alle anderen Disziplinen einzuführen, hat demnach mit der basalen Übung und Anregung zu „systematische[m] Denken“ zu tun, womit einhergeht, dass der Philosoph gerade nicht auf seinem eigenen System insistieren darf. Er darf nur die „sehr natürliche Voraussetzung“ machen, dass ein gründlich geübtes Denken am Ende zu den Resultaten kommen wird, bei denen auch er angekommen ist (ebd., 124). Als indirekter Hinweis darauf, wie Fichte das Verhältnis des Universitätsentwurfs zu seiner eigenen Wissenschaftslehre konzipiert, ist dieser Passus aufschlussreich. Entscheidend ist gleichwohl, mit welchem Nachdruck der Ausbildung der kognitiven „Kunst“ und deren Bedeutung für alle Disziplinen – vor inhaltlichen bzw. materialen Entscheidungen der Philosophie – das Wort geredet wird. 13 „Das Bestreben, die Schule und Universität recht nahe am väterlichen Hause zu haben, und in dem Kreise, in welchem man dumpf und bewußtlos aufwuchs, ebenso dumpf fortzuwachsen und in ihm sein Leben hinzubringen, ist unseres Erachtens zuvörderst entwürdigend für den Menschen; – denn dieser soll einmal herausgehoben werden aus allen den Gängelbändern, mit denen die Familien-, Nachbarund Landsmannsverhältnisse ihn immerfort tragen und heben, und in einem Kreise von Fremden, denen er durchaus nichts mehr gilt, als was er persönlich werth ist, ein neues und eigenes Leben beginnen, und dieses Recht, das Leben einmal selbstständig von vorn anzufangen, soll keinem geschmälert werden“ (FW VIII, 170).
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des Lernens“ unter Verzicht auf „traditionell“ genannte Inhalte die Rede ist. Fichtes Konzept ist deutlich elaborierter. Nicht die Auseinandersetzung mit Inhalten ist einzustellen, sondern die Art ihrer Behandlung ist zu ändern. An die Stelle der mechanischen Präsentation von Stoff, der auswendig gelernt und abgefragt wird, muss eine neue Unterrichtsform treten, die die Vermittlung von Wissen jederzeit mit der Aufforderung zum Selbstdenken, zur selbständigen Einsicht in Zusammenhänge und deren produktiver Weiterführung versieht. Eben das hat Fichte während der Zeit seiner Jenaer Professur vorgemacht. Er ist der erste überhaupt, der das Vorlesen aus Lehrbüchern abgeschafft hat und in fortgesetzten Austausch mit seinen Hörern getreten ist.14 Wörtlich verlangt er darum auch in seinem Universitätsentwurf „die dialogische Form“, die Universität „im Sinne der Sokratischen Schule“ (FW VIII, 104), die dazu anhält, mündlich wie schriftlich Aufgaben zu stellen und zu bearbeiten, die „im Geiste der Kunst“ nicht darauf aus sind, Gelerntes wiederzugeben, sondern „etwas Anderes“ damit zu machen (FW VIII, 105). Das ist selbstverständlich nicht nur an die Studierenden, sondern auch an die Lehrenden adressiert, deren einschlägigem Qualifikationsprofil Fichte eine Reihe von Seiten widmet. Die „Kunst der wissenschaftlichen Künstlerbildung“ auszuüben und zu beherrschen, macht sich schließlich nicht von selbst. Neben intellektuellen Fähigkeiten ist hier vor allem eine Passion, die „Liebe zur Kunst“ gefordert, die nicht zuletzt auch soziale Auswirkungen hat: in der Form der Achtung, die Lehrende und Lernende und die Lernenden untereinander zur „wechselseitigen Mittheilung Aller“ verbindet und so den Grund auch für den späteren gesellschaftlichen Verkehr miteinander legt (FW VIII, 113 f.).
Modularisierung der Urteilskraft? Auf diese Weise verschreibt sich die Universität der „kunstmässigen Bildung“ des „Selbst“ (FW VIII, 161), der Bildung von Persönlichkeiten also, die, indem sie die „Kunst des wissenschaftlichen Verstandesgebrauchs“ beherrschen, nicht in schöngeistige Distanz zum Leben treten, sondern zur Klarheit über ihr Wissen und Wollen befreit den Anforderungen der Wirklichkeit praktisch begegnen können. Man mag bei Gelegenheit darüber _____________ 14 In die Jenaer Zeit fallen natürlich auch Fichtes erste bildungstheoretische Einlassungen, insbesondere in den Vorlesungen zur Bestimmung des Gelehrten von 1794. Während Fichte hier aber im weitesten Sinne sozialphilosophisch argumentiert, geht es im späteren Universitätsplan aus aktuellem Berliner Anlass um die engere und spezifische Frage der Begründung und Verfassung einer neuen Universität.
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streiten, ob Fichte in seinem Anspruch auf die planmäßige Eroberung völliger Klarheit die poietische Kraft der Bildung womöglich überschätzt und im normativen Furor seines Aufklärungsprogramms übersehen hat, dass wir nicht alles „kunstmäßig“ beherrschen. Dessen ungeachtet aber sollte deutlich geworden sein, dass hier in jedem Fall ein anspruchsvoller und produktiver Bildungsbegriff vorliegt, dessen Verdienst es ist, aus den beschriebenen Sackgassen der Bildungsdiskussion und ihrer gegenwärtigen Folgen immer schon herausgeführt zu haben. Das belegt zum Schluss die bemerkenswerte Verwandtschaft des Fichteschen Ansatzes mit dem aktuellen Forderungskatalog der eingangs erwähnten Bildungsinitiative EUniCult. Fehlentwicklungen des BolognaProzesses zu steuern, heißt nämlich hier, unter dem Gesichtspunkt der Bildung an erster Stelle für kritisches Denken und stringentes Argumentieren, für Selbstverantwortung und Sozialkompetenz sowie für kulturelle Kompetenz als Voraussetzung für Kreativität zu werben. Das entspricht Fichtes Programm offenkundig genau. Und wo liegt dann der angekündigte Unterschied zwischen seinem Projekt und dem Ansatz der EUniCultInitiative? Er liegt darin, dass die genannten Fähigkeiten hier, anstatt die Universität insgesamt als eine „Schule der Kunst des wissenschaftlichen Verstandesgebrauchs“ zu engagieren, in der Form eines einzelnen, speziell zu entwickelnden Studienmoduls erworben werden sollen. Das ist sicher besser als nichts. Gleichwohl: Stellt man Fichtes Aufrichtigkeit und Radikalität in Rechnung, mag man sich ausmalen, was er dazu wohl gesagt haben würde.15
_____________ 15 Vgl. hier auch den alternativen Ansatz in der Denkschrift der Friedrich-SchillerUniversität: Das Spezifikum universitärer Bildung. Hrsg. v. der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Jena 2007.
Personenregister Abel, Jacob Friedrich 88 Anders, Günter 41 Aristoteles 111 f, 181, 187, 221 Avilas, Teresa von 107 f Basedow, Johann Bernhard von 2 Baumgarten, Alexander Gottlieb 90, 128 Benjamin, Walter 50 Beyme, Karl Friedrich 153, 156 Biester, Johann Erich 176 Bloch, Ernst 50 f Blumenbach, Johann Friedrich 70, 180 Bollenbeck, Georg 215 f Burke, Edmund 89 Campe, Johann Heinrich 149 Cassirer, Ernst 170-173, 175 Castiglione, Baldassarre 21 Cervantes, Miguel de 19 Cicero 74, 76, 106 Cruz, Juan de la 108 f Darwin, Charles 172 Dechsler, Julius 30 Descartes, René 70, 152 Diderot, Denis 152 Elias, Norbert 21 Engel, Johann Jakob 153 f Engels, Friedrich 184 Erhard, Johann Benjamin 9, 153, 155 f, 158 f, 188 Ernesti, Johann August 76 Evers, Ernst August 69 Fichte, Immanuel Hermann 33, 41, 43 Fichte, Johann Gottlieb 4-12, 14, 18 f, 29-58, 59-68, 69-84, 87 f, 101, 128130, 134-141, 143-145, 147, 152-155, 158-161, 164, 166 f, 172, 174 f, 177, 184, 188 f, 213-226 Forster, Georg 177
Freud, Sigmund 172 Fuhrmann, Manfred 71 Garve, Christian 21, 89 Gaudig, Hugo 52 Goethe, Johann Wolfgang 8, 18, 23 f, 59, 69, 71, 103, 149, 157, 174, 176, 180, 194, 210 f GutsMuths, Johann Christoph Friedrich 2 Habermas, Jürgen 20, 23 Haller, Albrecht von 70, 91 f Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 7 f, 14, 17-20, 69-73, 77 f, 81, 84-86, 172, 189, 210, 218, 221 Heidegger, Martin 195 Heine, Heinrich 59 f, 210 Henrich, Dieter 116, 136-138 Herder, Johann Gottfried 59 f, 63, 69, 172 f, 181 f Hobbes, Thomas 63 Homer 193 Hufeland, Christoph Wilhelm 153 Humboldt, Wilhelm von 1-3, 6, 9 f, 12, 69, 149 f, 153, 157 f, 160-164, 166 f, 169-189, 210, 216, 219 Humboldt, Alexander von 150, 153 Hume, David 152 Jacobi, Friedrich Heinrich 38, 109, 172 Jahn, Ludwig 2, 59 Jean Paul 6, 59 Kant, Immanuel 1, 4, 8, 14, 18, 2022, 24-26, 29, 60, 63, 86, 88 f, 95, 98102, 110, 117, 123, 129, 133-135, 139, 149, 156-159, 172-174, 178-185, 189 Klein, Ernst Ferdinand 97 Klopstock, Friedrich Gottlob 74, 109 Knigge, Adolph Freiherr von 13, 21 Leibniz, Gottfried Wilhelm 1 f, 152, 181, 183, 187
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Personenregister
Lessing, Gotthold Ephraim 39, 59 f, 74, 89-91, 152 Locke, John 21, 152 Lukács, Georg 13 Mann, Heinrich 149 Mann, Thomas 149 Marx, Karl 14, 172, 184 Massow, Julius E. W. E. von 156 Mendelssohn, Moses 8, 25, 87-102, 180 Mill, John Stuart 184 Montaigne, Michel de 198 Moritz, Karl Philipp 109, 146 Münchhausen, Gerlach Adolf von 152 Napoléon Bonaparte 49, 64, 68, 152, 154 Nicolai, Friedrich 24, 39-42, 44, 48, 91 Niethammer, Friedrich Immanuel 69, 150 Nietzsche, Friedrich 5 f, 9 f, 127-132, 148, 149 f, 165-167, 191-211 Ott, Antonius 36, 38 Paulsen, Friedrich 69, 72 Pestalozzi, Johann Heinrich 43, 49, 65, 149 Pindar 191 Platon 46, 51, 104 f, 117, 186 Quintilian 74 Reil, Johann Christian 153, 155, 157 Rothacker, Erich 170 Rousseau, Jean Jacques 17, 88, 102, 120, 124, 152, 193, 222 Savigny, Karl Friedrich von 162
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 39, 41, 69, 136, 138-140, 153, 156 f, 159, 164, 167, 172, 210, 218, 221 Schiller, Friedrich 4-6, 8 f, 13-23, 26 f, 59, 69, 87-89, 91, 95-102, 103 f, 110-125, 127-138, 141-146, 148, 149, 157 f, 174-177, 184, 192, 207, 210 Schlegel, August Wilhelm 39 f Schlegel, Friedrich 39, 125 Schleiermacher, Daniel Ernst Friedrich 9, 13, 20-23, 25, 63, 153, 161164, 166 f, 210, 219 Schmalz, Theodor Anton Heinrich 153 Schopenhauer, Arthur 131, 136, 138140, 177, 194-196, 198, 204, 210 f Schurr, Johannes 30 Sextus Empiricus 79 Shaftesbury 21, 106, 109 Simmel, Georg 170, 172 Sokrates 29, 106 Solger, Karl Wilhelm Ferdinand 50 Spalding, Johann Joachim 96, 98 Spinoza, Benedictus de 152 Spranger, Eduard 170 f Stahl, Georg Ernst 70 Steffens, Henrik 153, 157, 164 Sulzer, Johann Georg 89, 101, 118 f Varnhagen, Rahel 23 Vogeler, Heinrich 52 Voltaire 29, 39 Voss, Christian Daniel 61 Weber, Max 21 Weiße, Christian Felix 36 Wieland, Christoph Martin 74, 118 f, 120, 122, 124 Wolf, Friedrich August 150, 153 f Wolff, Christian 1, 29, 98, 152 Württemberg, Eberhard Graf von 152
Autorenverzeichnis Andreas Brandt (Göttingen): geb. 1959; Studium der Philosophie, Evangelischen Theologie und der Mittleren und Neueren Geschichte in Münster und Göttingen; 1995 Magister Artium; 2000 Promotion bei Prof. Dr. Konrad Cramer über Ethischer Kritizismus. Untersuchungen zu Leonard Nelsons „Kritik der praktischen Vernunft“ und ihren philosophischen Kontexten; seit 1999 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Universität Göttingen; Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Geschichte der Philosophie (vorkantischer Empirismus und Rationalismus, Kant, Fries und Nelson), Religionsphilosophie und Ethik. Annabel Falkenhagen (Göttingen): geb. 1971; Studium der Philosophie, Germanistik und Anglistik an den Universitäten Göttingen und Oxford (Somerville College); 1998 1. Staatsexamen in den Fächern Deutsch und Philosophie; 1999-2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Philosophischen Seminar sowie am Seminar für deutsche Philologie der Universität Göttingen; 2001 Visiting Scholar am Department of Germanic Languages and Literature, Rutgers University, New Jersey; 2004-2006 Lehrbeauftragte an der Universität Göttingen; 2008 Promotion zum Thema Der Wandel literarischer Wertmaßstäbe in Poetiken und poetologischen Texten des 18. Jahrhunderts; Artikel und Aufsätze zur Poetik, Ästhetik und Philosophie insbesondere der Aufklärung. Holger Gutschmidt (Göttingen): geb. 1968; 1988-1990 Studium an der Evangelischen Kirchlichen Hochschule Neuendettelsau; 1991-1998 Studium der Altorientalistik, Philosophie und Evangelischen Theologie an den Universitäten Göttingen, Heidelberg und Turin; 1998 M. A. im Fach Ägyptologie an der Universität Göttingen; 2003 Promotion im Fach Philosophie bei Konrad Cramer mit der Arbeit Vernunfteinsicht und Glaube. Hegels These zum Bewusstsein von etwas „Höherem“ zwischen 1794 und 1801; seit 2003 Mitarbeiter am Lehrstuhl für Rechts- und Sozialphilosophie der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen; derzeit Habilitation mit einer Arbeit zu den Begriffstheorien im Rationalismus; Veröffentlichungen in den Bereichen Ägyptologie, Linguistik und Philosophie; seit 1998 Mitherausgeber der Göttinger Beiträge zur Sprachwissenschaft.
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Autorenverzeichnis
Beatrix Himmelmann (Urbana-Champaign/Illinois): 1995 Promotion im Fach Philosophie an der Justus-Liebig-Universität Giessen über Freiheit und Selbstbestimmung. Zu Nietzsches Philosophie der Subjektivität; 2002 Habilitation in Philosophie an der Wilhelm-von-HumboldtUniversität Berlin über Kants Begriff des Glücks; seit 2007 Visiting Professor am Department of Philosophy an der University of Illinois at Urbana-Champaign; seit 2004 Präsidentin der Deutschen NietzscheGesellschaft e.V.; Publikationen zu verschiedenen Themen der klassischen deutschen Philosophie des 18. bis 20. Jahrhunderts, insbesondere zu Kant, Nietzsche und Heidegger sowie im Bereich der Ethik. Anne Pollok (Columbia/South Carolina): geb. 1979; Studium der Philosophie, Germanistik und Rechtswissenschaften in Marburg und Maribor; seit 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der University of South Carolina; 2007 Promotion über die Anthropologie Moses Mendelssohns; seit 2008 Stipendiatin des Leo-Baeck-Fellowship-Programms mit einem Projekt zur Renaissance der Anthropologie Mendelssohns in Cassirers Kulturphilosophie; Herausgeberin der Ästhetischen Schriften von Moses Mendelssohn. Hans-Georg Pott (Düsseldorf): geb. 1946; Studium der Germanistik und Philosophie in Berlin (FU), Mainz und Düsseldorf; 1974 Promotion; 1979 Habilitation; 1983-89 Leiter des Eichendorff-Instituts an der Universität Düsseldorf; seit 1983 Professor für Neuere Deutsche Philologie an der Heinrich-Heine-Universität; Forschungsschwerpunkte: Literatur- und Kulturgeschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Literaturtheorie und Philosophische Ästhetik; zahlreiche Publikationen. Birgit Sandkaulen (Jena): Studium der Philosophie und Germanistik in Tübingen, Poitiers und München; 1989 Promotion im Fach Philosophie 1989 in Tübingen mit einer Studie zu Schelling; 1989-1991 wissenschaftliche Angestellte bei dem DFG-Forschungsprojekt „Macht und Meinung“ unter der Leitung von Rüdiger Bubner; 1992-1996 wissenschaftliche Assistentin am Philosophischen Seminar in Tübingen. 1996-1998 wissenschaftliche Assistentin am Philosophischen Seminar in Heidelberg; 1999 Habilitation an der Philosophischen Fakultät in Heidelberg mit einer Studie zu Jacobi; seit 2000 Professorin für Philosophie mit Schwerpunkt deutscher Idealismus in Jena; Mitglied im Direktorium des Forschungszentrums „Laboratorium Aufklärung“ der FSU; zahlreiche Publikationen zum Deutschen Idealismus, zur Subjektivitätsphilosophie und zur Ästhetik.
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Jürgen Stolzenberg (Halle): geb. 1948; 1965-1970 Studium am Konservatorium der Stadt Köln Rheinische Musikschule; 1967-1979 Studium der Philosophie, Germanistik und Linguistik an den Universitäten Köln, Stuttgart, Heidelberg; 1978 Magister Artium im Fach Philosophie; 1978-1983 Wissenschaftlicher Assistent am Institut für Philosophie der Pädagogischen Hochschule Westfalen-Lippe in Münster; 1982 Promotion im Fach Philosophie; 1983-1990 Wissenschaftlicher Assistent am Philosophischen Seminar der Georg-August-Universität Göttingen; 1993 Habilitation; 1994-1998 Oberassistent (C2) am Philosophischen Seminar der GeorgAugust-Universität Göttingen; seit 1998 Professor an der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg; seit 2000 Mitglied des Direktoriums des IZEA; seit 2003 Präsident der Fichte-Gesellschaft; seit 2004 Mitglied des Vorstandes der Kant-Gesellschaft; zahlreiche Publikationen u. a. zum Deutschen Idealismus, Neukantianismus, zur Subjektivitätsphilosophie und zur Ästhetik, zu Wolff, Kant und Heidegger. Hartmut Traub (Mülheim an der Ruhr): geb. 1952; Studium der Philosophie, Evangelischen Theologie und Sozialwissenschaften in Bochum, Essen und Duisburg. Studiendirektor am Studienseminar in Essen. 1992 Promotion J. G. Fichtes Populärphilosophie; wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Mercator Universität Duisburg im Forschungsprojekt zur Philosophie F. H. Jacobis; seit 1997 Mitglied des Vorstands der Internationalen Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft, seit 2003 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats und Herausgeber der Fichte-Studien; Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen zu Fichte, zuletzt: Schelling-Fichte Briefwechsel (2001) und gemeinsam mit P. L. Oesterreich: Der ganze Fichte. Die populäre, wissenschaftliche und metaphilosophische Erschließung der Welt (2006). Lars-Thade Ulrichs (Halle/Göttingen): geb. 1970; Studium der Philosophie, Deutschen Philologie, Klassischen Philologie und der Neueren Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen; 2007 Promotion Die Tradition der anderen Vernunft. Eine Untersuchung zum Verhältnis von Philosophie und Literatur in der Zeit von 1770 bis 1820; 2003-2005 wissenschaftlicher Projektbetreuer des Themenjahres Aufklärung durch Bildung des Landes Sachsen-Anhalt; 2004-2005 Lehrbeauftragter an der Universität Göttingen; seit 2004 wissenschaftlicher Mitarbeiter des Museums Schloss Bernburg, des Gleimhauses Halberstadt, der Städtischen Museen Quedlinburg sowie der Franckeschen Stiftungen zu Halle; 2008 Post-docStipendiat der Fritz Thyssen Stiftung an der Universität Erfurt (Forschungsbibliothek Gotha); 2008 Christian-Gottlob-Heyne-Preis der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen (GSGG) für die beste
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Göttinger geisteswissenschaftliche Dissertation des Jahres 2007; seit 2008 Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Universität Halle; Veröffentlichungen zu Literatur und Philosophie der Aufklärung, der Romantik und zum Deutschen Idealismus. Temilo van Zantwijk (Jena): geb. 1966; Studium der Germanistik und Philosophie in Utrecht, Münster und Essen. Magister Artium 1989; Promotion 1998 (Titel: Pan-Personalismus. Schellings transzendentale Hermeneutik der menschlichen Freiheit); Assistent am Institut für Philosophie der Friedrich-Schiller-Universität Jena; Mitwirkung im Sonderforschungsbereich „Ereignis Weimar-Jena. Kultur um 1800“ sowie am Forschungszentrum „Laboratorium Aufklärung“ an der FSU Jena; zahlreiche Publikationen zur Anthropologie, Rhetorik und zum Deutschen Idealismus. Günter Zöller (München): geb. 1954; Studium der Philosophie, Romanistik, Komparatistik und Kunstgeschichte an der Universität Bonn, der Ecole normale supérieure Paris und der Brown University Providence, U.S.A. 1984-87 Assistant Professor of Philosophy am Grinnell College; 1986-1999 Assistant Professor an der University of Iowa; seit 1999 Professor für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München; seit 2000 Mitherausgeber der J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; 2000-03 Präsident der Internationalen Johann-Gottlieb-Fichte Gesellschaft e.V.; Autor, Herausgeber und Mitherausgeber von 25 Büchern und Verfasser von über 170 Aufsätzen; zahlreiche Übersetzungen klassischer und jüngerer philosophischer Texte.