Nietzscheforschung: BAND 12 Bildung - Humanitas - Zukunft bei Nietzsche 9783050047058

Mit der Diskussion des Verhältnisses von Bildung, Humanitas und Zukunft bei Nietzsche widmet sich die neueste Ausgabe de

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German Pages [354] Year 2009

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Nietzscheforschung: BAND 12 Bildung - Humanitas - Zukunft bei Nietzsche
 9783050047058

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Nietzscheforschung Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft Band 12

Bildung Humanitas -

-

Zukunft bei Nietzsche

Nietzscheforschung Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft

Humanitas Zukunft bei Nietzsche

Bildung

-

-

Herausgegeben

Volker Gerhardt und Renate Reschke von

in Zusammenarbeit mit

J0rgen Kjaer Jacques Le Rider Annemarie Pieper Robert B. Pippin und Vivetta Vivarelli

Akademie Verlag

Band 12

Drucklegung erfolgte mit Unterstützung der Landesregierung Sachsen-Anhalt (Regierungspräsidium Halle)

Die

Einbandgestaltung unter Verwendung eines Ausschnitts aus einem Exlibris für Torsten Unger von Olaf Gropp (Magdeburg). Mit Genehmigung des Künstlers. Redaktion: Veit Friemert, Julia Niemann, Jan Prause

ISBN 3-05-004185-4

© Akademie Das

Verlag GmbH, Berlin 2005

eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.

Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. -

-

Satz: Veit Friemert, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Printed in the Federal

Republic of Germany

Langensalza

Inhaltsverzeichnis

Siglenverzeichnis

.

9

I. Der Nietzsche-Preis Volker Gerhardt Ein Arzt der Kultur Laudatio auf Durs Grünbein anlässlich der Verleihung des Nietzsche-Preises des Landes Sachsen-Anhalt am 27. Durs Grünbein Die Stimme des

August 2004

....

Denkers.

13 23

II.

Schwerpunktthema: Bildung Zukunft Humanitas -

-

Christian Niemeyer Nietzsches Bildungsvorträge von 1872 Einige Deutungshinweise zu einem überaus

fragwürdigen Text.

35

Christiane Thompson / Gabriele Weiss Das Bildungsgeheimnis Herausforderung und Zumutung der Lektüre von Nietzsches Bildungsvorträgen.

53

Jürgen Oelkers Friedrich Nietzsches Basler Vorträge im Kontext der deutschen Gymnasialpädagogik.

73

Inhaltsverzeichnis

6

Holger Gutschmidt ,Bildungsanstalten' beim frühen Nietzsche

Die Universitätsidee Nietzsches zwischen Fichte und Humboldt

Lars-Thade Ulrichs Braucht ein Übermensch noch Bildung? Nietzsches ästhetisches Bildungskonzept vor dem Hintergrund von Schillers Ästhetischen

.

97

Briefen.111

III. Friedrich Nietzsches Ecce homo 12. Nietzsche-Werkstatt, Schulpforta 15.-17.

September 2004

Enrico Müller / Andreas Urs Sommer

Einleitung zur Werkstatt.127 Rüdiger Görner Die Humanität der Selbstüberwindung Ecce homo oder die Autobiographie eines posthum Geborenen.133 Klaus Wellner Nietzsches Masken in Ecce homo.143

Miguel Skirl Selbsteinholungsfiguren bei Nietzsche.151 Fernando de Moraes Barros Geist und Fleisch gewordene ,Umwerthung aller Werthe' Ecce homo als lebendiger Kommentar zum Antichrist.163

Heinrich Niehues-Pröbsting

„Welthistorischer Cynismus"?.171

Jürgen Müller Ecce homo -

Nietzsches unmögliches Glück

.183

Matthew H. Meyer Ecce Homo und die Alte Komödie.193 Janske Hermens

„und so [...] nenne ich Wagner den grossen Wohlthäter meines Lebens" On Ecce Homo and Nietzsche's Ideal of the ,Grosse Gesundheit'.201 Tobias Dahlkvist Why Was Nietzsche so Wise and so Clever? Ecce homo and the Melancholy Tradition .209 Christian Benne Ecce Hanswurst Ecce Hamlet Rollenspiele in Ecce Homo.219 -

Inhaltsverzeichnis

1

IV. Aufsätze Ekaterina Poljakova Die Umwertung ästhetischer Werte Zu Andrej Belyjs Nietzsche-Lektüre

.231

Christian Wollek A realibus ad realiora Vjaceslav Ivanov, Nietzsche und der russische

Symbolismus

.243

Vjaceslav Ivanov Nietzsche und Dionysos.249

Henning Hahn Wozu Wahrheit? Nietzsches Frage nach dem Wert der Wahrheit und ihre pragmatistische Rezeption bei Ferdinand Canning Scott Schiller.261

Thomas Mittmann Religion nach dem ,Tod Gottes' Friedrich Nietzsche als Wegbereiter des Neuheidentums bei Ernst Horneffer

.

.

275

Anikó Juhász / Dezsö Csejtei Überlegungen zu Nietzsches Todesverständnis.295 Robert Pippin Nietzsche's Moral Psychology and the French Moralist Tradition.313

V. Rezensionen Christian Niemeyer, Nietzsches andere Vernunft (Hans Gerald Hödl).335 Opus. Nietzsche-Revisionen im 20. Jahrhundert, v. hg. R. Görner, D. Large (Matthew H. Meyer) .337 Aldo Venturelli, Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche (Renate Reschke) .342 Nietzsches persönliche Bibliothek, hg. v. G. Campioni et al.; Supplementa Nietzscheana Bd. 6; H. Reich, Nietzsche-Zeitgenossenlexikon; Alfons Reckermann, Lesarten der Philosophie Nietzsches (Stephan Günzel) 347 Nietzsche and the German Tradition, hg. v. N. Martin (Diana Behler) 351 P. Bishop, R. H. Stephenson, Friedrich Nietzsche and Weimar Classicism (Hans-Gerd von Seggern) .359 Ecce

.

.

....

Personenverzeichnis Autorenverzeichnis

.363 372

Siglenverzeichnis

Werkausgaben Werkausgaben nach den Kritischen Werk-/ Briefausgaben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967ff. und 1980. KGW KGB KSA KSB

Kritische Gesamtausgabe, Werke Kritische Gesamtausgabe, Briefe Kritische Studienausgabe, Werke Kritische Studienausgabe, Briefe

sowie nach der Historisch-Kritischen

1933ff. HKGW HKGB

Historisch-Kritische Historisch-Kritische

Gesamtausgabe

Werke bzw. Briefe, München

Gesamtausgabe, Werke Gesamtausgabe, Briefe

Siglen einzelner Werke AC BA CV DD DS DW EH FW GD

Der Antichrist

Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten

Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern

Dionysos-Dithyramben

David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller

(Unzeitgemäße Betrachtungen 1) Die dionysische Weltanschauung Ecce homo Die fröhliche Wissenschaft

Götzen-Dämmerung

10

Siglenverzeichnis

GG GM GMD GT HL

Die Geburt des tragischen Gedankens Zur Genealogie der Moral Das griechische Musikdrama Die Geburt der Tragödie Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben

IM

(Unzeitgemäße Betrachtungen 2) Idyllen aus Messina

JGB M

Jenseits

von

Gut und Böse

Morgenröthe

MA MD

Menschliches, Allzumenschliches (I und II)

NF

Nachgelassene Fragmente Ein Neujahrswort an den Herausgeber der Wochenschrift Im neuen Reiche Nietzsche contra Wagner Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen Schopenhauer als Erzieher (Unzeitgemäße Betrachtungen 3) Sokrates und die griechische Tragödie Sokrates und die Tragödie Vermischte Meinungen und Sprüche Der Fall Wagner Richard Wagner in Bayreuth (Unzeitgemäße Betrachtungen 4) Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne

NH NW PHG SE SGT ST VM WA WB WL WS WzM Za

Mahnruf an die Deutschen

Der Wanderer und sein Schatten Wille zur Macht Also sprach Zarathustra

Abkürzungenfür Nietzsche-Periodika Nietzsche-Studien Nietzsche-Studien. Internationales dahrbuch fur die Nietzscheforschung, begründet von Mazzino Montinari, Wolfgang Müller-Lauter, Heinz Wenzel, hg. von Günter Abel, Josef Simon, Berlin/New York: Walter de Gruyter Verlag -

Nietzscheforschung Nietzscheforschung,

dahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, und Renate Reschke, Berlin: Akademie Verlag -

hg.

von

Volker Gerhardt

I. Der Nietzsche-Preis

VOLKER GERHARDT

Ein Arzt der Kultur Laudatio auf Durs Grünbein anlässlich der Verleihung des Nietzsche-Preises des Landes Sachsen-Anhalt am 27. August 2004

1. Der Schnee von heute. Die Moderne ist die Zeit, die sich selbst als das Neue präsentiert. Das gelingt ihr nur, indem sie das vorausliegende Jahrtausend als finster und verblendet schmäht und das Jahrtausend davor als wahrhaft alt, eben als antik' bezeichnet. So ist sie von der Zumutung befreit, selbst lediglich eine ,Renaissance' dieser Antike zu sein. In einem großen Poem hat unlängst ein großer Dichter die Fiktion vom Anfang aus dem historischen Nichts in das einfache Bild Vom Schnee gerückt: Die Modernen betrachten alles Vergangene als tief verschneit, so dass ihnen, wenn sie eigene Schritte tun wollen, nichts anderes übrig bleibt, als etwas ursprünglich Neues in das unberührte Weiß der reinen Oberfläche zu setzen. Der Dichter es ist Durs Grünbein, den wir heute ehren hält sich freilich bei der epochalen Selbstverblendung der Moderne nicht lange auf. Wichtiger ist ihm, dass im Schnee ein nach dem Anfang suchendes Individuum zu sich selber findet. Er besingt die cartesische Entdeckung des ,Ich denke', das sich in der Welt bewegt, als bestehe sie, wie der Schnee, aus den reinen Formen des Kristalls. Der Dichter weiß, dass er damit eine antike Lehre in Erinnerung ruft, die in der literarischen Gestalt eines platonischen Dialogs ihre größte Wirkung bei den mittelalterlichen Denkern entfaltet hat. So kehrt im Anfang des angeblich völlig Neuen das nie verlorene Alte wieder. Je länger die Moderne dauert, desto schwieriger wird es, den Zeitgeist mit der Illusion epochaler Selbsterzeugung zu betören. Die Geschichtsphilosophie, die sich als Disziplin dieser Illusion verdankt, ist schon lange nicht mehr in der Lage, die Loyalität mit der Moderne zu sichern. Da es ihr zwangsläufig an Alternativen fehlt, kann sie nur das Ende der Epoche proklamieren, um anschließend kleinlaut zuzugeben, dass alles so modern wie eh und je nur merklich schneller weitergeht. ,

-

-

-

-

2. Ein Aufbruch ins Vergangene. Die Fixierung auf die Moderne führt zur Unterschätzung eines anderen Epochenschnitts, der uns bis heute schmerzhaft von dem abtrennt, was bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, zumindest für die Dichter und Denker, als selbstverständlich galt. Gemeint ist der romantische Aufbruch, die erste nicht nur litera-

14

Volker Gerhardt

rische, sondern auch existenzielle Inszenierung eines generellen Abschieds

von der menschlichen Zivilisation. Die historische Innovation der Romantik ist, dass sie erstmals die Bedeutung des Wissens in Frage stellt und grundsätzliche Zweifel an der Zuständigkeit der Vernunft in Umlauf bringt. Sie kehrt Motive der mystischen Versenkung nach außen und nimmt die Welt nach innen, ins ,Gemüth'. Die Subjektivität' wird zur ersten und letzten Instanz des Daseins. Die damit verbundene Provokation des gesunden Menschenverstandes, der Wissenschaft und der klassischen Philosophie wird nur noch durch den proklamierten Primat der Kunst überboten. Der Protest gegen den Primat der Technik in der sich erstmals abzeichnenden Industrialisierung des Lebens ist nicht zu übersehen. Was aber kann er ausrichten, wenn sich auch die Technik nur als eine Kunst verstehen lässt? Friedrich Nietzsche ist ein Kind der Romantik. Ihr verdankt er, wie schon Karl Marx und Richard Wagner, seinen revolutionären Impuls; sie macht es ihm möglich, sich ungeniert als Genie zu produzieren; sie erlöst ihn von den Verbindlichkeiten der Rationalität; sie eröffnet ihm den Glauben an die Vollendung im Fragmentarischen, so dass er sich als Dichter und Denker, als Musiker und Lyriker, als Sophist und Mythologe in einem stilisieren kann. Doch so groß die Nähe auch ist: In seinen Leistungen ist Nietzsche über die Romantiker der ersten und zweiten Generation weit hinaus. Er schätzt die strenge Schule der Philologie, nimmt sich die Größen der Aufklärung zum Vorbild, verteidigt die Wissenschaft, sucht Anschluss an die neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und hält den Schwärmern die Mechanik der Macht entgegen, die durchgängig alles bestimmt, ganz gleich ob es als Natur oder Gesellschaft, als Geschichte oder Geist verstanden wird.

3. Die Wiederkehr des Alten. In seiner kaum einen Gegensatz auslassenden Produktivität gibt Nietzsche dem inneren Widerspruch der Romantik die Form eines Lebenswerks: Er ästhetisiert das Denken und macht die Kunst zu einer Frage der Existenz. Er literari-

siert die Wissenschaft und stellt die Literatur als Rettungsanker des Lebens dar. Er verwirft die Schlüssigkeit philosophischer Systeme, verlegt sich aber mit dem ganzen Gewicht seines Daseins auf die Redlichkeit einer konsequenten Lebensführung. Wer darin nur eine Häufung von Paradoxien sieht, die man weder einstimmig denken noch bruchlos leben kann, der unterschätzt die Folgerichtigkeit, die in der ästhetischen Stilisierung des Denkens liegt: Hier hat jeder Gedanke der sinnlichen Form zu genügen, die ihre Gültigkeit darin beweist, dass sie überzeugend wirksam ist. Nur in der sinnlichen Individualisierung gewinnt die Einsicht eine Allgemeinheit, in der sie den Begriff hinter sich lässt. Man kann auch sagen, in der ästhetischen Form wird die Wahrheit zugespitzt: Sie macht Eindruck, weil sie in ihrer Vollendung an das Ganze eines Erlebens appelliert. Dabei ist sie in ihrer Eindringlichkeit nicht zu übertreffen, wenn sie die Wahrhaftigkeit des existenziellen Ausdrucks mit sich führt. Doch sei dem, wie ihm sei: Durch Nietzsche kommt ein neuer Ton in die Philosophie. Er holt das Denken in den alltäglichen Erfahrungsraum zurück, ohne es von den höchsten Ansprüchen an das Leben zu entlasten. Dabei geht er schon als junger Mann, als sei dies gar nicht anders möglich, auf den historischen Ausgangspunkt zurück, an

Ein Arzt der Kultur

15

dem die Philosophie ihrer bislang schwersten existenziellen Krise durch die Kunst entkommen ist. Die Krise bestand im Tod des Sokrates, und die Kunst zeigte sich in den Dialogen Piatons. Für Nietzsche ist Sokrates der erste moderne Theoretiker, und in Piatons Dialogen sieht Nietzsche das ,Vorbild des Romans', also der modernen Form des Erzählens schlechthin. Mehr braucht zum Verhältnis von Antike und Moderne nicht gesagt zu werden. Das eine kehrt im anderen wieder. Beide stehen in einem einzigartigen epochalen Zusammenhang, der durch die Leistungen von Technik, Wissenschaft und Kunst geformt und an den Erwartungen auf das Gute, Wahre und Schöne ausgerichtet ist. Dabei mag man die Leistungen wie die Erwartungen nennen wie man will: Alles, was auf Homer und Hesiod, auf Aischylos und Sophokles, auf Perikles und Thukydides, auf Sokrates und Piaton folgt, ist auf das Selbstbewusstsein der menschlichen Eigenständigkeit gegründet. Dieses praktisch fundierte Selbstbewusstsein war seit den Anfangen von Selbstzweifeln belastet, die in dreißig Jahrhunderten, weiß Gott, nicht geringer geworden sind. Sie haben das Selbstbewusstsein eher gestärkt als widerlegt. 4. Der Anfang des Neuen. Der

begründen zu müssen,

warum

lange theoretische Vorspann hat den Vorzug, nicht mehr

Durs Grünbein den Nietzsche-Preis verdient: Er ist der

Dichter, der, vier Generationen nach Nietzsche, wie kein zweiter die Antike lebendig

macht. Während Politik und Pädagogik derzeit alles daran setzen, die alten Sprachen, die alte Geschichte und die älteste Literatur vergessen zu machen, während auch die Wissenschaft die Antike sträflich vernachlässigt und die neueste Philosophie sogar so tut, als stamme sie gar nicht von ihr ab, übersetzt Grünbein die Perser des Aischylos und inszeniert sie selbstverständlich so, als wären sie von ihm. In seiner Aufführung des Stücks1 hat er die ganze Handlung auf eine schiefe Ebene gebracht, von der sie dem Publikum entgegen kommt. Die schiefe Ebene, auf der Nietzsche die Moderne seit Kopernikus ,gleichsam ins Nichts' hinabrollen sieht, wird von Grünbein bis hin zu den Persern des Aischylos hinauf verlängert. Sie läuft aber auf nichts weniger als uns selber zu. Somit bewegt sich dieses älteste Stück attischer Tragödienkunst sichtlich auf dem Problemniveau der Gegenwart: Kaum haben die Griechen die Invasion der asiatischen Großmacht abgewehrt, da nehmen sie Anteil am Schicksal des an ihnen gescheiterten Königs. Mit dem Besten, das ihnen eigen ist, versetzen sie sich in das Fremde, das sie gerade noch bedrohte. Sie lassen sich durch das Schicksal dessen zu Tränen rühren, dem sie dieses Schicksal bei Salamis selbst angetan haben. So wird an den Persern alles Gerede über das ,Fremde' und das ,Eigene' zur Makulatur, denn die Kultur Europas ist von Anfang an damit beschäftigt, aus dem Eigenen und dem Fremden keinen Gegensatz werden zu lassen. Schon die in ihrer eigenen Population vielfaltig unterschiedenen Griechen streben nach der einen Welt mit einer Menschheit, die in ihren kulturellen Differenzen vornehmlich eine weitere Chance zur Steigerung ihrer Kräfte wahrzunehmen

sucht.

Auf der Bühne der Akademie der Künste in Berlin 2001.

Volker Gerhardt

16

5. Das Eigene im Anderen. Grünbein hat auch Sénecas Thyestes übersetzt und mit einem eindringlichen Kommentar versehen. In diesem Drama wird beschrieben, wie der Bruder dem Bruder die Söhne als Festmahl serviert. Das ist in der Sache derart schrecklich und in der Form so gewaltig, dass ich jeden augenblicklich verstände, der glaubte, nach dem Thyestes könne kein Gedicht mehr geschrieben werden. Auch die Weigerung Sénecas, den mythischen Stoff vom Brudermord des Aigistos in dramatische Verse zu fassen, hätte ich sofort verstanden. Aber Grünbein schreibt Gedichte. Gedichte, die nicht harmlos sind, Verse, die das Entsetzen der Geschichte gegenwärtig halten, Reime, die sich auch dem industriell perfektionierten Schrecken des 20. Jahrhunderts stellen. Doch im Unterschied zu den Berufspessimisten der älteren Generation schweigt er nicht von sich selbst, spricht einsichtig vom Ich, das in der erlebten Übermacht des Geschehens nicht umhin kann, lebendig zu sein. „Die Existenz erklärt sich und wird Heiterkeit", so lautet eine seiner Schädelbasislektionen. Es ist dieselbe, die ihn eine Ungeheuerlichkeit aussprechen lässt, ohne die auch der Tag des größten Bedenkenträgers nicht zu Ende geht: „Schlaft blaue Flecken, Wunden. Hohler Zahn du, schlaf./ Das Leben, später, kriegt es mit dem Tod zu

tun."3

Der noch nicht

dreißigjährige Dichter, der hier spricht, weiß mehr vom Leben als jesechzig unterschiedslos gegen jede Anpassung polemisieren und schon die Erleichterung des Daseins moralisch verdächtig finden. 6. Selbstgespräch mit einem Anderen. Im Anhang zur Übersetzung von Sénecas Tragödie richtet der Übersetzer ein Gedicht an sich selbst: „Helles Köpfchen du, strebsamer Schüler,/ Wie erklärst du dir, daß in Neros Regierung/ Roms zweitreichster Mann, Seneca,/ So gerne die Armut pries inmitten des Luxus?// Was bleibt von der Tugend ne, die noch mit

und all den Gütern,/ Die den Charakter des Weisen bilden -/ Von der Milde, der Seelenruhe, der Muße,/ Wenn selber im Zwielicht lebt, der sie lehrt?" Da wird die Ambivalenz benannt, in der sich jeder befindet, der die Muße hat, Gedichte oder Dramen, Traktate oder Aphorismen zu schreiben. Grünbeins gereimte Antwort lautet am Ende: „Ein Leben lang von den Schwächen schrieb,/ Der selber schwach war und Mensch./ Ist nicht zerrissen, doppelgesichtig wie Janus,/ Wer so wie dieser die Dialogkunst beherrscht?// Nein, kein Besserwissen wird hier verlangt./ Nicht von dir, Jüngling du mit der rosigen Haut./ Solange kein Barthaar dir die Züge entstellt,/ Sag uns Süßer, was du von Seneca hältst."4 Wie ernst es das helle Köpfchen des süßen Jünglings mit dieser Selbstauforderung meint, hat er schon ein Jahr nach diesem Gedicht mit einem Kommentar zu Sénecas Brief über Die Kürze des Lebens unter Beweis gestellt. Er weiß von der Zeit, die ihn von dem antiken Weisen trennt, und die Asymmetrie zwischen den Toten und den Lebenden ist ihm schmerzlich bewusst: „Verzeih mir, Toter. Deine Ruhe stört/ Ein Nachfahr jener Rüpel, die euch manche Scherereien/ Bereitet haben an den Grenzen Seneca, Thyestes. Deutsch Studien des 3 4

Durs Durs

von

Durs

Grünbein, lateinisch

Übersetzers), Frankfurt/ M. 2002.

deutsch, (mit beigefügten Seneca-

Grünbein, Schädelbasislektionen, Frankfurt/ M. 1991, 131. Grünbein, Sand oder Kalk, in: Thyestes, a.a.O., 170f.

Ein Arzt der Kultur

17

eures Reiches./ Ich hab so viel von Dir gehört, doch du hast nie von mir gehört,/ zweitausend Jahre später mir das Ohr zu leihen/ War etwas viel verlangt. Ich bin nicht deinesgleichen./ Und außerdem, was bist du jetzt? Ein paar Atome?/ Ein Streifen Asche in Italiens Erde? Etwas DNA?"5 Doch die Zweifel hindern ihn nicht, den großen Weisen mit seinen Fragen zu behelligen. Er dringt auf Antwort wie von seinesgleichen: „Verzeih mir Toter./ Ein Verdacht beschleicht/ Selbst den, der bei dir nichts als Wahrheit sucht./ Was, wenn wir unbelehrbar sind, verstockt, und in uns regt/ Mit jedem Ja und Nein sich, treu dem Dämon Eigensinn?/ Blind oder nicht, was, wenn der nobelste der Triebe/ Der Drang nach Freiheit ist? Nur er riskiert/ Die Existenz, dein Seelenheil. Nur er gibt alles hin." Am Ende bedrängt der Jüngling den alten Weisen wie einen Freund, als hätte er in seiner Gegenwart nicht einen, der ihm Antwort geben könnte: „Sein eigner Herr, Freund sapiens, wie wird man das,/ Zerzaust von tausend Interessen, jeder gegen jeden?/ Das Menschenherz, hast du es je gesehn, den Klumpen,/ Den blutig zuckenden? Ein bodenloses Faß./ Es sind die Nerven selbst, die sich da subkutan befehden./ Ein schöner Traum, das Denken, wo die Adern pumpen./ Verzeih mir Toter den mokanten

-

Ton."7

7. Ein Dichter bedenkt das Leben. Ein Impuls, den Nietzsche aus der Romantik aufnimmt (obgleich er ihn auch von Piaton oder Aristoteles, von Baruch de Spinoza oder Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling oder Georg Wilhelm Friedrich Hegel hätte haben können) zielt auf die Philosophie des Lebens. Zwar gibt es den Begriff der Lebensphilosophie bereits seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, aber erst unter dem Einfluss Nietzsches ist es zur Ausbildung einer Philosophie unter diesem Titel gekommen. Durch den Missbrauch der Nazis und die nicht weniger ideologisch motivierte Abwehr durch den Marxismus haben es bereits die auf das Leben bezogenen Fragen nicht leicht, überhaupt zur Kenntnis genommen zu werden. Unter diesen Bedingungen ist es ein bemerkenswerter Akt intellektueller Eigenständigkeit, wenn ein spät geborener Dichter sich ohne Vorbehalte auf das Leben bezieht. Bei Grünbein geschieht das bereits in der Grauzone morgens, seinem ersten Gedichtband von 1988. In den Schädelbasislektionen von 1991 rückt das Thema schon in den Titel und das ,Dasein' erscheint als „Zellverkehr [...] in Einzelzellen".8 In Falten und Fallen von 1994 gibt es einen Biologischen Walzer und das Requiem für einen Höhlenmenschen. Besungen werden der Homo sapiens correctus und der Mensch ohne Großhirn. Am Ende steht das Pech für den zweiten Wurf. Der 2002 veröffentlichte Gedichtband Erklärte Nacht beginnt mit der Nachfrage Was ist das, Frühling? Im Grau des Berliner Friedrichshain liegt diese Frage besonders nahe, doch sie findet eine gerade hier besonders sinnfällige Antwort: Frühling ist das, was im Monat

6 7

Ders., An Seneca. Postskriptum. Seneca, Die Kürze des Lebens, aus dem Lateinischen von Gerhard Fink, Frankfurt/ M. 2003, 9. Im Text steht, wie zitiert, „dein" Seelenheil. Durs Grünbein, An Seneca, a.a.O., 12f. Ders., Casta Diva, in: Schädelbasislektionen, a.a.O., 116.

Volker Gerhardt

18

März mit „Frösteln" im Nacken jeden Schritt in „Richtung Rasen" lenkt, „wo der Krokus Respekt verlangt, aufrecht, in kleinen Konvents".9 Später ist von Metamorphosen die Rede, durch die man dem Leben nicht entkommt: „Spiel nur die Katze. Mehr als ein Leben hat noch keiner erlebt." Wenn der Dichter am Ende die Nacht erklärt, wird die Dichtung zur leibhaftigen Konspiration mit den Sternen; als „Entführung in alte Gefühle", ganz „Stimmenfang", ganz „Silbenzauber" scheut sie die Kontamination mit der Vernunft keineswegs: „Jene Zickzacknaht Vernunft, an Affekt und Mythen gebunden,/ Die den schläfrigen Leib präpariert mit empfindsamen Stellen." -

8. Durchlebter Anfang. Wie sehr das Leben auch den Essayisten Grünbein beschäftigt, hat er in seinen Reden und Aufsätzen über die Weltliteratur, über die Unmöglichkeit „schriftlos" zu leben oder über das „künstliche Biotop" öffentlicher Plätze vor Augen In allen seinen Versuchen, die Eigenart der Poesie zu beschreiben, ist das Leben gegenwärtig. Gedichte, so sagt er, seien „Gefäße des Metaphysischen, so sehr sie sich der Sinnenwelt verdanken. Es ist ihr semantischer Absolutismus, der sie zum Memento macht überm Abgrund der Existenz."13 In einer biographischen Reflexion auf seine Kindheit macht er sich bewusst, dass er sie im wörtlichen Sinn „durchlebte": „das heißt, die Sache war schneller vorbei als gedacht, und bis heute lässt mich die Gewissheit nicht los, dass in die ausgestreckten Arme, die das Leben umfassen wollen, sofort der Wind fährt und einen weitertreibt, mit dem Rücken zur Zukunft, [...] eine Lebensphase ist immer großartiger als die vorige, und somit wächst bald ins Unendliche das Gleichwohl hält der Dichter unendlich viel vom Verlorenen fest. Man denke nur an Das erste fahr, ein Tagebuch des ersten Jahres des neuen Jahrtausends, zugleich des ersten Jahres seiner Tochter Vera, die am 19. August 2000, nach einer in drei Tagen erkämpften Entbindung, geboren wird.15 In dieser Geburt wiederholt sich das Drama der Menschwerdung in einem singulären Fall. Ich kenne kein anderes Stück Literatur, dass mich genötigt hätte, so lange den Atem anzuhalten bis die befreiende Feststellung folgt: „Solange sein Schrei nicht den Lebenswillen bekundet, kann man von Dasein kaum sprechen." In einer Schilderung von erhabener Nüchternheit bestätigt sich hier, dass der Mensch geboren wird. Das Metaphysische der menschlichen Existenz verschwindet mit dem Einsatz medizinischer Geräte Und die Lebenskunst des Neugeborenen

geführt.12

Verlustgefühl."14

-

keineswegs.17

9

10

11 12

13

15 16

17

Ders., Was ist das, Frühling? in: Erklärte Nacht, Frankfurt/ M. 2002, 9. Der Dichter spricht von „kleinen Konvents", was ich hier natürlich stehen lasse. Ders., Verwandlungen, in: Erklärte Nacht, ebd., 143. Erklärte Nacht, in: Erklärte Nacht, ebd., 145. Zum „künstlichen Biotop" siehe: Durs Grünbein, Der verschwundene Platz, in: Ders., Warum schriftlos leben. Aufsätze, Frankfurt/ M. 2003, 94-110, 109. Ders., Betonte Zeit, in: Warum schriftlos leben, ebd., 74-93. Ders., Kurzer Bericht an eine Akademie, in: Warum schriftlos leben, ebd., 9f. Ders., Das erste Jahr. Berliner Aufzeichnungen, Frankfurt/ M. 2001. Ebd., 133. „Als sie endlich herausgeplumpst war, hilflos vornübergefallen auf allen vieren, den schweren

Kopf und

den Buddhabauch

gotterbärmlich

auf das

fleckige

Laken

gesenkt, vergingen

ein paar

Ein Arzt der Kultur

19

holt sich die Lust dort, wo sie sich ihm bietet. „Zu Hause", so notiert der Dichter am 5. November, ist Veras „Lieblingsplatz der Wickeltisch im Badezimmer, ein flaches Luftkissen auf dem Gehäuse der Waschmaschine. Man könnte glauben, das Rumoren der Trommel beim Waschgang erinnere sie an die goldenen Zeiten im Uterus, so entspannt gibt sie sich den Geräuschen hin." 9. Eine Wiederkehr des Neuen. Bedarfes noch des Hinweises darauf, dass Grünbein ein scharfsinniger Interpret und Kritiker Nietzsches ist? Ich meine, nein. Gleichwohl erhöht es seine Prädestination für den Preis, wenn ich sage, dass seine kongeniale Kritik an dem „sächsischen Sprachakrobaten", diesem „Ohrendenker" zum besten gehört, was nach Thomas Mann über Nietzsche geschrieben worden ist. Dass auch der junge Dichter sich, wie alle nachgeborenen Künstler, an Nietzsches abgründigen Einsichten und Fertigkeiten schult, bedarf keines Kommentars. Viel wichtiger, auch im Interesse einer wissenschaftlichen Rezeption, ist der scharfe Blick für die Absonderlichkeiten einer Wirkungsmanie, die selbst bei fähigen Köpfen die abwegigsten Blüten getrieben hat. Der Name Heideggers mag hier genügen. Was fängt „ein erwachsener Mensch heute", so fragt Grünbein, mit Nietzsches „verbalen Sprengsätzen an? Was sollen uns, den gründlich Ernüchterten, derart hochprozentige Reflexionen in einer Zeit, da Denken endlich Wasser zu werden verspricht?' Schon der Provokateur sei nach den gemachten Erfahrungen fraglich. Nach „soviel Totalitarismus" werde jede „Demokratieverachtung" banal; Blasphemie sei längst „die Würze des täglichen gottlosen Mahls"; das Dionysische sei nur noch eine „Funktion der Werbeindustrie". Die Antwort, die Grünbein auf seine selbstgestellten Fragen gibt, lassen die Ironie erkennen, mit der er über seine eigene Dichtung spricht: Was bestehen bleibt, ist das „Geheul einer Seele", für die das Erdendasein Zeit seines Lebens ein „Exil" gewesen ist: „Wer wäre so blind, in ihm nichts zu sehen als den Königstiger im Tierpark Bismarcks, so taub, in dem waghalsigen Aufruhr nichts herauszuhören als das Gebrüll des Eingesperrten hinter den Käfigstangen einer Gesetzt, wir sind weder so taub noch so blind, dann entdecken wir in diesem auf Genuss und Belehrung für die Anderen berechneten Erlebnispark ein lebendiges Individuum ziemlich von jener Art, wie Grünbein sie schildert, wenn er von sich selber

Gründerzeitgesellschaft."23

furchtbare, bange Sekunden. Es waren die längsten in meinem bisherigen Leben. Nein, das war nicht die lang ersehnte Ekstase." Und dennoch heißt es: „Nie zuvor hat mir der Titel jenes berühmten Gemäldes eines französischen Meisters so unmittelbar eingeleuchtet: ,L'origine du monde'. Nicht nur irgendein Menschenwesen stand am Ursprung, das erste eigene Kind, das zukünftige Kleinod der Familie. Umfassender, in jeglicher Dimension unabsehbar, ja transzendent, war, was da geboren wurde, der Beginn einer neuen Welt." (Ebd., 132). Ebd., 240. Ebd., 139. Ebd., 123. Ebd., 139. Ebd., 140. Ebd., 141.

20

spricht.

Volker Gerhardt

Mehr braucht ein Theoretiker der Individualität nicht

zu

sagen. Es

gibt

die

Wiederkehr, aber nicht des Gleichen. 10. Poeta medicus est. „Seit die Moderne schwierig wurde und aus dem Trotz gegen die unübersichtliche Welt und die einfachen ästhetischen Lösungen auf das große Publikum zu pfeifen begann, ist dieses Rollenfach zu fragwürdigen Ehren gekommen." So urteilt Grünbein über den „gelehrten Dichter", obgleich er weiß, dass die „Gelehrtenpoesie so

alt ist wie die Lyrik selbst". Dennoch höhnt er über das „Scheusal poeta doctus in seiwechselnden Erscheinungen der Dekadenz": „Die Musen flirten nicht mit den Mumien, der Engel der Dichtung ist ein Jüngling mit klaren Augen." Deshalb möchte er selbst „wenn schon Titel" ein poeta empiricus sein. Die Gereiztheit gegen den poeta doctus kommt aus der richtigen Abwehr jener unsäglichen Alternative zwischen Dichten und Denken. Die Romantik hat hier besonders unheilvoll gewirkt; ich versage es mir, die maßgeblichen Künstler zu nennen, deren Größe sich ihrer intellektuellen Einbildungskraft verdankt. Nur eines sage ich mit allem Nachdruck: Wenn ich mich zu einer Aufzählung der großen Dichter hinreißen ließe, gehörte Grünbein mit dazu. Er aber möchte, in aller Bescheidenheit, ein Dichter der Erfahrung sein, ein Mensch, der seine Sinne und seinen Verstand gebrauchen kann und sein Wissen aus der Anschauung gewinnt. Was er weiß, muss er bedenken, vergleichen, bewerten und sowohl im wie am einzelnen Fall bewähren können. Grünbein illustriert die Fähigkeiten eines poeta empiricus an den Ärzten der Antike, an Hippokrates und Galen: „Gegen das Schwelgen in spitzfindigen Terminologien setzten sie die präzise Untersuchung des kranken Körpers. Dem medizinischen Disput zogen sie die unmittelbare Anschauung vor, die genaue Diagnose am Einzelfall des Patienten [...] Heilkunde und Poesie haben mehr miteinander gemein, als es dem Laien vielleicht erscheint." Die Poesie ist demnach eine „Erfahrungskunst": „Der Dichtung ebenso wie jeder wirksamen Heilbehandlung zugrunde liegt eine Fülle von Einzelbeobachtungen, Schocks oder Glücksmomenten, die jedes Mal anders durchlebte Geschichte eines Erlebens von Sterblichkeit, Vernunft und Passion. Hier wie dort führt erst die Versuchsanordnung zu neuen Ergebnissen, der freie Fall durch die Netze der Tradition hindurch auf den Boden persönlicher Wahrnehmung und Existenz. Die poetischen Formen sind dabei allenfalls, was dem Chirurgen sein Sezierbesteck ist, dem Heilmediziner seine Kräutersammlung oder dem Wunderheiler sein Repertoire undurchschaubanen

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Tricks."27 langen Notiz vom 26. Dezember ergänzt der Dichter sein Lob auf den unbestechlichen Blick für den Einzelfall durch eine Eloge auf das Auge, die unversehens zu einer posthumen Preisrede auf Charles Darwin wird, denn dessen „Berufungsinstanz ist rer

In einer

Ebd., 277. Ebd., 278. Ebd., 278. Ebd., 279.

Ein Arzt der Kultur

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Auge".28 Es erlaubt dem Wissenschaftler ein „Maximum an biologischer Ikonographie".29 Und damit haben wir die Verbindung von der Wissenschaft zur Kunst: das

„Darwins Auge funktionierte [...] ganz wie das Auge des Kunstkenners, der aus einer Handvoll Scherben den Stil einer Epoche deduziert, dem sich im Bruchstück das Abbild des Ganzen zeigt." Wer sich selbst als ein solches Bruchstück erfahrt und das Ganze auch im anderen vor Anderen ins Bild zu rücken versteht, der gibt den stärksten Impuls zur Entfaltung der besten Kräfte, die jeder verspürt, der denken und träumen kann. „Was tut der Geist? Er bekritzelt Kerkermauern, wirft Schatten auf Höhlenwände, richtet den Traumreflektor nach draußen durchs Fensterkreuz des Gerippes."31 Dadurch gibt er, der Gegenwart und der Vergangenheit zum Trotz, eine Zukunft, um derentwillen man einen Grund zum Leben hat. Niemals zuvor hat ein Dichter Nietzsches Vision vom Philosophen als dem ,Arzt der Kultur' beredter und konkreter entworfen. Und da dieser Dichter zugleich ein Denker ist, der wirklich über die Fähigkeit verfügt, dem alten Ideal auf neue Weise zu entsprechen, ist er auf dem Weg, poeta et medicus zu werden. Das allein reichte aus, um ihm den Nietzsche-Preis zu verleihen.

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Ebd., 308. Ebd., 309. Ebd., 311. Ebd., 285.

Durs Grünbein

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Wird sich der Schwatz nie enden, der Philosophie heißt? Friedrich Klopstock, Delphi

Lassen Sie mich mit den geflügelten Worten beginnen. Sie sind es, die einem als erstes um die Ohren schwirren, sobald die Rede auf Friedrich Nietzsche kommt. Sie sind bis heute in aller Munde, und keiner kann sie je mehr vergessen. Würde man eine Umfrage machen, wie sie heutzutage üblich sind im Zeitalter der Statistik, nach dem Muster: nennen Sie uns ein paar typische Nietzsche-Schlagworte man bekäme sie alle präsenalle die tollen Formeln dieses Sachsen. Kaum einer, der nicht tiert, sprachmächtigen schon vom ,Willen zur Macht' geraunt hätte, von der ,blonden Bestie' oder vom ,Übermenschen', der leider sein elendes Gegenteil, den Untermenschen bedrohlich heraufbeschwört. ,Also sprach Zarathustra', die bekannte Redewendung, ich habe sie mehr als einmal aus dem Mund meines Großvaters zu hören bekommen beim gemeinsamen Schachspiel, ein Euphemismus, wie geschaffen hinwegzutrösten über das brutale und herzlose ,Schach matt'. Kaum ein Stammtisch, an dem das Wort von den Frauen und von der Peitsche, die man mitnehmen solle, wenn man zu ihnen geht, nicht genüsslich wiederholt würde. Seltsamerweise ist noch jedesmal vom Weibe die Rede, wo das Original von den Frauen spricht. Aber wie Heinrich Heine in der Harzreise schon sagt: .Solche Corruption des Textes ist beim Volke etwas Gewöhnliches'. Will einer recht streng und entschlossen auftreten, deutet er an, dies oder das bewege sich Jenseits von Gut und Böse'. Gewiss, das meiste ist aus der Mode gekommen, so das Sprüchlein ,Menschliches, Allzumenschliches' und ganz sicher das Verdikt von der sogenannten ,Herdentier-Moral'. Denn Nietzsche zu zitieren, ohne ihn gelesen zu haben, mag noch angehen; seine Bosheiten auf sich zu beziehen, kommt niemandem in den Sinn. Dagegen ist es noch immer guter Ton, eine Sache zu ,hinterfragen', und schon der Pennäler kommt sich sehr wichtig vor, wenn er auf die Schulbank kritzelt: ,Gott ist tot'. Ich weiß, wovon ich rede ich selber habe das hingekritzelt. Und da ich einmal dabei bin: Jahre später las ich an einer Hauswand eine Art von Replik, die mir, verglichen mit jener Aussage, nun wirklich brutal und herzlos erschien. Jemand hatte da, in schreienden Graffiti-Farben, hingesprüht: ,Nietzsche ist tot. Gott'. So also geht es zu im Reich -

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der Philosophie, dachte ich damals: Auge um Auge, Argument gegen Argument. Dann aber geschah es, dass ich zum ersten Mal den Riss sah, den Nietzsches Satz im allgemeinen Bewußtsein (auch in meinem) hinterlassen hatte, und mir fiel auf, wieviel wirksamer sein negatives Gebet war als jedes dahingeplapperte Vaterunser. Sein kalkulierter Sarkasmus, immerhin, konnte jederzeit wie ein Sprengsatz hochgehen, während das tägliche Credo auf Neutralisierung hinauslief. Auch Nietzsche ist davon nicht verschont geblieben. Gerade an seinen geflügelten Worten kann man den Abnutzungseffekt studieren, wie ihn allzu häufiger ZitatMissbrauch mit sich bringt. Am Ende läuft alles auf Sinnentleerung hinaus, da geht es den philosophischen Einsichten kaum anders als den brillanten Gedichten. Kaum war der Meisterdenker gestorben und mausetot, hatte jeder seinen eigenen Nietzsche parat, den er griffbereit aus der Tasche zog. Der Witz war, dass Nietzsche selber nach Kräften dazu beigetragen hatte. Um es faustisch auszudrücken: dieser Mann hatte, und da beginnt seine Tragik, einen Pakt mit der eigenen Muttersprache geschlossen. Gott und der Teufel und wer weiß welche alten und neuen Musen haben ihm, dem Ausdrucksbegabten, einen Höhenflug ohnegleichen gestattet, ehe sie ihn hinabstießen in die Tiefen des absoluten Verstummens. In der Zeit seiner höchsten schriftstellerischen Produktivität war er die unangefochtene Nummer Eins auf dem Gebiet der Gedanken-Prosa, der Sprachbild-Denker im Deutschen, ein Meister aller idiomatischen Klassen. Dieser einsame Sachse hat so gut wie alles gewusst, was es im Deutschen nach Johann Wolfgang Goethe und Arthur Schopenhauer, Friedrich Hölderlin, Heimich von Kleist und Heine zu wissen galt über Stil, Satzbau, Rhythmen und Tempi sprachlichen Ausdrucks. Das trifft sowohl auf die formale Meisterschaft zu, die Beherrschung des Metiers, als auch auf die besondere Intonation das Pendant zur Handschrift, die spontane, lyrische Beweglichkeit im Medium der Sprache. Es ist seine Stimme man erkennt sie auf Anhieb, die Wort für Wort als gebündelte semantische Energie auftritt. Die Stimme, verstanden als Instrument von Vernunft, Instinkt, Musikalität, Urteilskraft, persönlicher Strategie, und Erotik. Diese Stimme zieht alle Register, vom Täubchengurren der zarten Seele bis zum schneidenden Kasernenhofton. Alles wird in die Diktion verlagert. Raffinierte Tonlagen- und Perspektivenwechsel sorgen dafür, dass die Grundspannung von der ersten bis zur letzten Zeile nie nachlässt; seine Ansichten ändern sich, manchmal innerhalb eines Jahres, bis exakt das Gegenteil gilt aber jede von ihnen beansprucht die gleiche Dringlichkeit, die gleiche Brisanz. Was man von der Photographie gesagt hat, die zu seiner Zeit ihren Siegeszug antrat und von der Nietzsche, bewusstseinstechnisch, unmittelbar profitierte, ist auch auf seine Stimme anwendbar. Sie wurde, indem sie alle Ressourcen der sprachlichen Expressivität nutzte wie jene die der Abbildbarkeit, zu einer Funktion von Ausdruck überhaupt. Im mathematischen Sinne eine veränderliche Größe, die auf jederlei Erkenntnisschwankung flexibel zu reagieren wüsste. Gelegentlich rutschte sie in die Totale, woraus folgte, dass sie alles, selbst noch die blinden Flecken der Benennbarkeit besetzt hielt; und genau darin liegt bis heute ihre zeitübergreifende Wirkung. Vergessen wir nicht: bei den Griechen galt Handeln und Schaffen als gleichbedeutend; Dichtkunst und Tätigsein war bei ihnen ein und dasselbe. Beides war mit dem gleichen Wort be-

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zeichnet: poiesis. Es ist die poetische Stimme, die erzwingt, was wir denken und fühlen, sie gibt den Grundton an, auf den sich der Leser einstimmen wird. Nietzsche, soviel ist sicher, hat gewusst, was Gesangskunst heißt. Er hat mehr von der Zauberkraft der Intonation verstanden als die meisten seiner Denkerkollegen. Seine Ausdrucksfähigkeit testet die Übergänge von der Literatur zur Musik. So ist seine Prosa, laut Selbstauskunft, ,eine Art Musik, die zufällig nicht mit Noten, sondern mit Worten geschrieben ist'. Verräterisch ist daran allenfalls das ,zufällig', es plaudert den geheimen Unterschied aus, unter dem dieser Künstler-Philosoph gelitten hat wie kein zweiter. Sein Ohr war geschult an der täglichen Klavierimprovisation. Es hat seinen Reiz, sich vorzustellen, wie um dieselbe Zeit in Paris der Dichter Lautréamont, der letzte der schwarzen Romantiker, nachts beim Klavierspiel seine monströsen Gesänge des Maldoror entwirft. Neben Charles Baudelaire, den Nietzsche mehrfach lobend erwähnt, gilt er als Miterfinder des modernen Prosagedichts. Dasselbe ließe sich auch vom Autor des Zarathustra behaupten. Er fangt mit Stilkritik an, sobald er sich in die Philosophiegeschichte vertieft. Alle Parameter seiner Prosa weisen in dieselbe Richtung. Da ist das eigentümlich Alliterierende seiner Redeweise, die häufige Verwendung stabreimähnlicher Konstruktionen (,Wahn, Wille, Wehe'). Da ist das Vielsagende seiner Interpunktion. Man muss nur einmal probeweise eine beliebige Seite Nietzsche weit genug von sich halten, um zu sehen, wie da mit den Kommata, Pünktchen und Gedankenstrichen gearbeitet wird. Vor allem der Gedankenstrich, er ist die Muskulatur dieser Prosa, während der Sperrdruck ihr als optisches Sensationsmittel dient. Alles in allem ist hier eine Sprache am Werk, die auf maximale rhetorische Wirkung berechnet war. Schon der junge Nietzsche sammelt in seinen Notizbüchern besonders gelungene Stellen, eine Praxis die er sein Leben lang beibehalten wird. Da ist sein Trieb zur Metaphernbildung, laut Nietzsche ein Fundamentaltrieb des Menschen. Die Wahrheit selbst war ihm, wir wissen es, ein bewegliches Heer von Metaphern. Sein enormer Einfluss auf die europäische Dichtung nach ihm hat genau damit zu tun. Nietzsche war sich der Tatsache bewusst, die ein russischer Dichter unserer Zeit einmal so formuliert hat: ,Poesie, das ist die höchste Existenzform der Sprache.' Untrüglich ist sein Orientierungssinn beim Flug durch die verschiedenen Sprachsphären. Er verstand sich auf das Umgarnen des Lesers, wohlwissend, dass Lesen auf Selbstverstrickung hinausläuft, zumindet im Idealfall: dem einer komplexen seelischen Intrikation. Dies war seine Verführerseite, der Redner mit Engelszungen, der Bewusstseins-Belletrist. Er konnte auch anders, immer dann, wenn er auf Widerstand stieß oder fürchten müsste, vereinnahmt zu werden. Dann wechselt der Ton schlagartig ins Kalte, Herrische. Dann häufen die Selbstzitate sich, werden dem Leser die eigenen Thesen solange eingebläut bis sie Gesetzeskraft haben. ,Wie man mit dem Hammer philosophiert', nannte Nietzsche das, und er erwies sich darin als Erfinder einer Reklametechnik, die sehr bald Karriere machte: in den modernen Diktaturen als Propagandawaffe, in der freien Marktwirtschaft

Rekursprinzip aller Werbeindustrie. Die Überredung, die einschmeichelnde Wiederholung, die autoritäre Pointe und Pose, dies sind, neben der garantierten Prägnanz, die typischen Stilmittel, mit denen Nietzsche aus dem Philosophieren eine Kunstform gemacht hat. Und zwar so gründlich, dass sich mitunter schwer sagen lässt, wo hier das Denken aufhört und die schöne Sentenz beginnt. ,Dann kommt Nietzsche', sagt Gottals

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„und die Sprache beginnt, die nichts will (und kann) als phosphoreszieren, luziferieren, hinreißen, betäuben". Der spezifische Nietzsche-Stil, was war das? Jedenfalls mehr als nur eine Bewegung innerhalb der Grenzen des Satzes; in Wirklichkeit jedoch ein Entfesselungsakt, eine Dynamik, ins Krankhafte gesteigert, den Satzbau sprengend, ihn von allen Seiten zugleich angreifend das Diktat der Zeit (in Form der Grammatik, der Logik) zu überwinden. Seine Mittel hierfür sind dieselben, wie die Poetik sie kennt: der Assoziationssprung, das Enjambement, der Einsatz von Echo und Evokation, in den späteren Texten

fried Benn,

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das strikte Staccato und Da capo. Das neue an seiner Philosophensprache war dabei gleichzeitig das Allerälteste, die Wiederannäherung an die Orakelsprache der Vorsokratiker. Was hier stattfand, war eine Ausdruckserneuerung aus dem Geiste der Sprache selbst auf Kosten des Sprechers, der bei dieser Übung zugrunde ging. Kennzeichen dieses Stils ist die äußerste Verkürzung, die Mitteilung innerer Zustände, inszeniert als dramatische Abbreviatur. Das Genre ist eher begrenzt oder vielmehr hochkonzentriert; seine Konstanten sind der Gedanken-Monolog, die Koloratur der Affekte und Leidenschaften, eine Variation auf das sehr cartesische Thema ,Passions de l'âme' nach dem Muster von Richard Wagners ,unendlicher Melodie'. Was nach außen oft unfreiwillig komisch erscheint, diese ganze herzzereißende Orgie in Narzissmus, ist in Wahrheit ein Paroxysmus des Selbstbewusstseins: ,Man weiss vor mir nicht, was man mit der deutschen Sprache kann, was man überhaupt mit der Sprache kann.' Der vertraute Nietzsche-Ton: liegt in ihm vielleicht jene Verwandtschaft zur Dichtung begründet, die man dem Philosophen bis zum heutigen Tag attestiert? Philosophie und Dichtung, im Grunde ist es die Geschichte einer unglücklichen Liebe. Nietzsche selbst war darüber völlig im Bilde. In seiner Abhandlung über Schopenhauer als Erzieher gibt er, merkwürdig einfühlsam, eine Briefstelle wieder, in der von Kleist davon berichtet, wie er zum ersten Mal Immanuel Kant las. Sie ist es wert, im Ganzen zitiert zu werden: „Vor kurzem, schreibt er einmal in seiner ergreifenden Art, wurde ich mit der Kantischen Philosophie bekannt und dir muss ich jetzt daraus einen Gedanken mittheilen, indem ich nicht fürchten darf, dass er dich so tief, so schmerzhaft erschüttern wird als mich. Wir können nicht entscheiden, ob das, was wir Wahrheit nennen, wahrhaft Wahrheit ist oder ob es uns nur so scheint. Ist's das Letztere, so ist die Wahrheit, die wir hier sammeln, nach dem Tode nichts mehr, und alles Bestreben, ein Eigenthum zu erwerben, das uns auch noch in das Grab folgt, ist vergeblich. Wenn die Spitze dieses Gedankens dein Herz nicht trifft, so lächle nicht über einen andern, der sich tief in seinem heiligsten Innern davon verwundet fühlt. Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken und ich habe keines mehr." Ich kenne einen Menschen, dem es später ganz ähnlich erging, nur dass Wahrheit zu seiner Zeit, einer durch und durch politisierten Zeit, Utopie hieß, und dieser Mensch schrieb damals in derselben ausweglosen Lage in einem frühen Gedicht: „[...] man/ sah uns nicht an wie/ uns zumute war beim/ Verlöschen der Ziele". Dieser Jemand bin ich gewesen, aber das gehört schon nicht mehr hierher. Sowenig wie die Schilderung der Umstände, unter denen ich, ein ostdeutsches Schattengewächs, auf Nietzsche stieß, damals im Tal der Ahnungslosen. Oder vielleicht doch? Aufgewachsen bin ich mit den blauen Bändchen des AlfredKröner-Verlages, Beutestücke von meinen Streifzügen durch die diversen Dresdner -

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In der DDR gehörte Nietzsche, was heute längst vergessen ist, zu den verbotenen streng Autoren, wie Sigmund Freud und Franz Kafka ein Fall für die Giftschrank-Abteilungen der staatlichen Bibliotheken. Insofern erfüllt mein Auftritt hier mich mit einer gewissen Genugtuung. Zumindest hilft er mir über einige heikle Erinnerungen hinweg, Anekdoten wie jene von der einzigen Nietzsche-Publikation zu Lebzeiten der DDR. Als in der Bertolt-Brecht-Buchhandlung zu Berlin, anderthalb Jahre vor dem Mauerfall, die Prachtausgabe ausgerechnet des Ecce homo im Schaufenster auslag, stand im strömenden Regen der Marxist Wolfgang Harich, ein Schüler des NietzscheVerächters Georg Lukács, und versuchte sich in der garstigen Kunst der Agitation, indem er jeden potentiellen Käufer, der den Laden betreten wollte, warnte vor diesem faschistischen Scheusal, dem Hofnarren Adolf Hitlers und heimlichen Mordkomplizen der Himmler und Goebbels. Die peinliche Szene, ich nahm sie damals als Menetekel. Ich weiß noch, wie ich frohlockte und dachte: nun ist es vorbei. Nietzsche in Ostberlin, in unmittelbarer Nähe zu Hegels Grab auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof, das ist der sozialistische Weltuntergang. Oder die Legende von der Entstehung der HistorischKritischen Ausgabe, bei der, wie es hieß, der intrigante Kulturminister Hager seine Hände im Spiel gehabt habe, indem er, als Oberster Hüter des Weimarer Archivs, westdeutschen Forschern die Tür versperrte, nur um sie nachher mit diebischer Freude zwei Italienern zu öffnen. Die beiden, höchstpersönlich von ihm mit der Herausgabe der Schriften betreut, hatten, so der Volksmund, angeblich ihre Sporen in der kommunistischen Bewegung ihres Landes verdient. Nietzsche als Agent der Fünften Kolonne Moskaus derlei Gerüchte kursierten. Versteht man, wie mir zumute war damals beim Verlöschen der Ziele? Doch zurück zu Kleist und seinem todtraurigen Geständnis. Nietzsches Kommentar: ,Ja, wann werden wieder die Menschen dergestalt Kleistischnatürlich empfinden, wann lernen sie den Sinn einer Philosophie erst wieder an ihrem heiligsten Innern messen?' Wohlgemerkt, hier spricht ein Denker von einem Dichter, und dies im Ton innigster Mitleidenschaft, als Bruder im Geiste. Wer so eindringlich von der Verzweiflung an der Wahrheit schreibt, von den Risiken schöpferischer Einsamkeit, die beim vulkanischen Menschen manchmal zur Implosion aller seiner Kräfte fuhren, der weiß Bescheid über die Künstlernatur. Die Einsamkeit des Metaphysikers unterscheidet sich, so gesehen, wenig von der des Dichters. Insofern mag gerade in Nietzsches Fall unangebracht sein, was ich jetzt sage. Es ist dies der heikelste Teil meiner Rede, aber er führt mich zu einigen Schlussfolgerungen und damit zum Schluss. Philosophie und Dichtung es war ein Euphemismus zu sagen: die Geschichte einer unglückliche Liebe. In Wirklichkeit war es die eines Verrats, eines Liebesverrats. Seine lange, verworrene Chronik handelt von der Inbesitznahme der Sprache zum Zwecke des Wahrheitsvorteils, und sie fallt zusammen mit jener der Ideengeschichte selbst. Vergessen wir nicht: die Philosophie ist, zumindest in unsren Breiten, eine griechische Pflanze, und sie wuchs, zunächst als dunkles Unkraut am Wegrand, später in den Gewächshäusern der Piaton und Aristoteles, aus dem Boden des weitaus älteren Epos das heißt: aus der fruchtbaren Text-Erde homerischer Heldengesänge, dem Humus der Lehr- und Welterschaffungsgedichte des Hesiod. Anders gesagt, sehr verkürzt und brutal: sie ist ein Nebenprodukt der großen Erzählungen, die lange vor ihr da waren und das meiste

Antiquariate.

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schon wussten. In ihrem Schatten gedeiht sie als Arabeske und Kommentar, bevor sie sich eines Tages als Spruchweisheit emporreckt und in den Rätsel- und Orakelreden der Vorsokratiker zur wilden Sonnenblume erblüht. Systematik, wohin man sah: „Vom vielwissenden Manne erzähle mir, Muse [...]', hebt Homer in seiner Odyssee an, deutlich einen Bezug zur Wahrheit setzend, nur dass hier alle Ethik, Lebensphilosophie, alles Erkenntnisstreben restlos aufgehen in einem Abenteuerroman. Und Hesiods Théogonie startet, denkbar sachlich und genealogisch, mit einer Untersuchung der Helikonischen Musen als solcher. Wir haben es mit einer Urszene zu tun. Noch ehe sich Ontologie, Dialektik und Kategorienlehre breit machen konnten, waren hier die Prinzipien geklärt für die Sagbarkeit aller Erscheinungen, war der kosmische Reigen aus Namen und Dingen in Gang gesetzt. Versammelt war, in mythologischer Kostümierung, was irgend sichtbar und unsichtbar in der Welt vorhanden war. Was immer an Elementarkräften wirksam war, fand sich aufgehoben in Wortverbindungen, die allemal nicht-trivial waren, lange vor jeder höheren Mathematik. Mit verteilten Rollen, in Metaphernordnung, den Regeln der Anschauung folgend, trat dort auf, was Philosophie nachher, in eigenmächtiger Regie, umbesetzte und verdrängte durch abstrakte Begriffe. Alles war gut, solange Logik und Evidenz fest zusammenhielten. Den Fragmenten des Parmenides sieht man ihre Herkunft noch an, die HexameterForm bezeugt noch die Nähe zu universeller Bildlichkeit und Gesang. Sie beginnen mit einer Anrufung der Musen, den Inspiratorinnen aller Erkenntis, und auch der ,vielwissende Mann', dem Athene die Augen öffnet, hat seinen Auftritt in ihnen. Aus den Prosafetzen des Heraklit dagegen spricht bereits eine andere Sprache: die der bewussten Vieldeutigkeit, auch Rätselhaftigkeit, der Lossagung von allerlei lexikalischen Zwängen, beste Voraussetzung für jede zukünftige semantische Hegemonie (vulgo: der Wille zur Macht). Was war geschehen? Nichts Geringeres als eine vollständige Usurpation. Im Grunde hat alles Philosophieren ganz harmlos angefangen als kluge Textauslegung und -deutung. Bald aber wurde aus solcher Hermeneutik der Diebstahl der Botschaft durch ihren Überbringer in diesem Fall Hermes, den flinken Götterboten. Er wird zum Schutzgott der Denker, indem er die Dichter um ihre Früchte bringt. Es mußte so kommen: ,Das Mehr nämlich ist die Erkenntnis", wie es bei Parmenides verräterisch schillernd heißt. Und so nimmt eine Konfliktgeschichte ihren Lauf, die bis heute fortwirkt. Sie beginnt mit der Enteignung der Poesie und endet mit ihrer totalen Entmündigung. Nach der öffentlichen Infragestellung der angestammten Erzählerautorität war es nur noch ein Katzensprung bis zu Piatons perfidem Vorschlag, die Dichter selbst, diese Bande von Lügnern und Illusionisten, aus dem Staat zu verbannen. Aus Fabulierern wurden Verlierer. Jahrtausendelange Gewöhnung und Disziplinierung half den Gewaltakt vergessen zu machen. Aber immer noch spricht aus dem Gewissen einzelner redlicher Philosophen (von Empedokles über Giambattista Vico und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling bis zu Walter Benjamin und Gilles Deleuze) die Erinnerung an den Verrat. Durch die Ursünde ihrer Entzweiung sind sie bis heute aneinandergekettet geblieben zu ihrem beiderseitigen Glück. Über all das kann man bei Nietzsche Auskunft erhalten. Angenommen, es gäbe sie wirklich, die Demarkationslinie zwischen Dichtung und Philosophie (zwischen Dichtung und Wahrheit, um genauer zu sein), dann war Nietzsches Leben ein Tanz auf der -

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Grenze, besser: im Niemandsland zwischen den beiden Reichen. „Ich will der Dichter meines Lebens sein", lautet seine Devise. Er träumte davon, so gelesen zu werden, wie

Philologen ihre Schriftsteller lesen. Und keiner kann sagen, es sei ihm nicht gelunvergaß nie, was er der Poesie (und der Musik natürlich) zu verdanken hatte; mehr noch, als einer der wenigen Philosophen wusste er, was Poesie überhaupt war die

gen. Er

eine Sonde für die noch unbekannten Bewusstseinszonen. ,Denken in sichtbaren und fühlbaren Vorgängen, nicht in Gedanken ist das eigentlich Dichterische', schrieb er 1875 in einem Brief aus Turin. Was aber ist Dichtung? Wenn man mich fragt: die Konzentration auf das Wesentliche, Wahrnehmung nach Rhythmus und Maß, die Herausarbeitung plastischer, teils auch drastischer Details, das Wort auf die Goldwaage gelegt. Sie ist, so banal es oft scheint, eine Variation auf die Invarianten Leben, Liebe, Zeit, Raum und Tod. Der Vers kehrt zum Anfang zurück, er hält die Verbindung zu den Universalien von Sprache und Denken (und das allein schon erklärt seine zeitliche Resistenz). Ob er auch nützlich ist, sei dahingestellt, süß und tröstlich ist er im gelungenen Einzelfall allemal. Die Dichter, sagt unser Seelenkenner, wissen sich immer zu trösten, wobei sein Ehrfurchts-Akzent ganz auf dem ,sich' liegt, dem Reflexivpronomen, das als solches Gegenstand ist von unendlichem Neid. Wer sich selber zu trösten vermag, ist niemals verloren. Und doch gilt bis heute: wenn sich die Dichter als Denker aufspielen wollten, wo kämen wir hin? Trotz aller Höhenflüge der Poesie, keiner, der sich für zurechnungsfähig hält, würde je zweifeln an der Überlegenheit der Philosophie, ihrem Privileg auf das höhere und höchste Prinzip. Philosophieren, das heißt Apollon, dem Gott der Denkkraft, dem Lichtbringer, zu folgen. Wer dichtet, liefert sich Dionysos aus, dem Führer ins Dickicht der Triebstruktur. Er hält es mit den Zaubermächten des Gesanges und der Musik, mit Orpheus, der die Zerrissenheit aller Erscheinungen am eigenen Leibe erfuhr, von den Mänaden zerstückelt. Wir kennen die schaurigen Mythen, die davon handeln, was geschieht, wenn man sich mit Apollon anlegt als Musenliebling. Sie alle landen im Hades auf der Verliererbank oder, schlimmer noch, es wird ihnen die Haut abgezogen bei vollem Bewusstsein, ohne Narkose wie dem armen Marsyas, der keine Chance hatte im Wettkampf der Flöte gegen die Leier. So verwirrend die Ursprungssagen, das Durcheinander von Saiten- und Blasinstrumenten, so wenig auf einen Nenner zu bringen, entscheidend ist: der Kitharaspieler ist immer der Sieger, der Gott der Denker, der Chef aller Intellektuellen und seine Waffe, die Leier, als Instrument durchaus symptomatisch. Sein Hoheitsgebiet ist die Weisheitslehre, und wer als Philosoph auf sich hält, wird sich auf ihn berufen und nur auf ihn. Er hat damit Partei ergriffen gegen alles phänomänologische Ungefähr, alles Panflötengedudel der Poesie. Er hat sich damit, ob er es weiß oder nicht, ins Unrecht gesetzt, ein hermeneutischer Chauvinist (siehe oben). Wiedergutmachung würde bedeuten, eine Poetik der Philosophie zu schreiben. Aber war es nicht eben das, was Nietzsche auf seine Weise geleistet hat? Liegt nicht sein größtes Verdienst genau darin: Wiedergutmachung an der Poesie? Nicht umsonst tauchen bei ihm, wie aus der Trickkiste, die griechischen Götter wieder auf an einer Stelle, wo kaum ein ernstzunehmender Philologe sie mehr erwartet hätte. Mit einer Intensität, zu der Hölderlin, sein Lieblingsdichter aus frühen Schulpforta-Tagen, ihn ermuntert hat, lässt er sie abermals auftreten, und zwar als physische Kräfte inmitten -

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Metaphysik. Und dies, die Wiederbelebung der Mythen für den Diskurs, hat ihn, jenseits der Romantik, zu einem der folgenreichsten Denker aller Zeiten gemacht. Drei Eigenschaften sind es, die einen Menschen zum Dichter prädestinieren. Der Verfasser von denseits von Gut und Böse hat sie alle drei gut gekannt. Erstens: die dem Augenblick hingegeben, Fragen zu stellen wie nur enorme Fähigkeit, zu staunen der

das Kind sie sonst stellt. In dieser Hinsicht bestand zwischen Nietzsche und seinen Favoriten kein nennneswerter Unterschied. Und das waren immerhin Leute wie Giacomo Leopardi und Baudelaire, Lord Byron, Edgar Allan Poe oder Nikolaj Gogol. ,Die Welt ist für ihn ein Urwald, den es zu erforschen gilt, nur so ist sie interessant', hat sein Herausgeber Giorgio Colli, einer der oben erwähnten Italiener, ihm bescheinigt. Das Zitat erinnert an einen Ausspruch der russischen Dichterin Marina Zwetajewa, die überzeugt war: „Wir alle sind Wölfe im Urwald Ewigkeit." Das zweite Charakteristikum ist etwas vertrackter, es betrifft den Umgang des Dichters mit seiner Muttersprache. Hier kann als eine Art Faustregel gelten: im Gedicht ist das Wort in einen höheren Schwingungszustand versetzt. Ein Gedicht wird über die bloße Wortkombination hinaus zum Gedicht, weil in ihm unzählige andere Gedichte mitschwingen. Weil es die Relationen von Wort und Welt, Ding und Definition zum Klingen bringt. Weil es das Sprachempfinden des Lesers elektrisiert. Die Mittel sind dabei denkbar mannigfaltig. Die Stromstöße sind nicht beschränkt auf das, was man gebundene Rede genannt hat oder gar auf ihr Gegenteil etwa, den freien Vers. Eine der besten Begründungen für die Metrik im Vers allerdings stammt von Nietzsche. Er nennt es ,in Ketten tanzen' und deutet hier an, dass es womöglich Techniken gibt, die einem helfen über sich selbst hinauszugelangen durch Disziplinierung des Ausdrucks. Die dritte Qualitätsforderung, vielleicht die wichtigste überhaupt, ist: du sollst ein Primärautor sein. Du sollst dich nicht kümmern, wie andere vor dir dasselbe schon einmal dachten, du sollst es auf deine Weise sagen. Bleibe immun gegen die Gifte der Sekundärliteratur. An dieser Stelle kommt Nietzsches Stimmbegabung zur Geltung. In puncto Originalität des Selbstausdrucks war er den meisten seiner dichtenden Zeitgenossen turmhoch überlegen. Man lese nur einmal im Zarathustra, Zweiter Theil, das Kapitel mit der Überschrift Von den Dichtern, wo es heißt: ,Aber gesetzt, dass Jemand allen Ernstes sagte, die Dichter lügen zuviel: so hat er Recht, wir lügen zuviel'. Aber Vorsicht! Es heißt dort auch: ,Ich wurde der Dichter müde, der alten und der neuen: Oberflächliche sind sie mir Alle und seichte Meere.' Ach Nietzsche... Der Dichter gehört einem NichtStand an, meint Novalis. Und längst ist das Frohlocken darüber oder sagen wir besser: die Schadenfreude einem Unbehagen gewichen, seit sich herumgesprochen hat, dass niemand mehr in irgendeiner Profession einem festen Stand angehört. Alles ist ins Wanken geraten auf diesem globalisierten Erdball, und die meisten Leute fliegen nun wie die Hummeln umher zwischen kurzfristigen Tätigkeiten, die ihnen immer weniger Befriedigung verschaffen. Nur der Dichter steht dort, wo er immer schon stand, am Rand der Gesellschaft. Nur er tut das, was seinesgleichen seit zwei, drei Jahrtausenden immer schon taten. Im übrigen, was heißt es denn, sich als Dichter durchs Leben zu schlagen? Die Ansichten hierüber gehen unter den Betroffenen weit auseinander. Eine der schlüssigsten stammt von der russischen Dichterin Anna Achmatowa, die sagt: „Ein Dichter ist jemand, dem man nichts sehen-

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ken und dem man nichts nehmen kann." Da ist es wieder, nicht wahr, sie trösten sich selbst? All sein Sehnen, all sein Streben, alles Denken hebt so ein Vögelchen auf in diesen kleinen Sprachgebilden, die man Gedichte nennt. Sie sind es, die ihn Zeile für Zeile hinaustragen über alles, was bis dahin gedacht und gefühlt wurde. Unbekümmert singt das und tiriliert vor sich hin, verantwortungslos oder vielmehr: verantwortlich nur vor sich selbst. Der Preis für solchen Eigensinn, Eigensingsang ist mitunter recht hoch. Das Wort Elfenbeinturm sagt es, er kann zur Einzelhaft führen, zu Käfig und Isolation. Doch er ist noch viel höher für den, der wie Nietzsche durchschaut hat, was die Dichter da treiben, mit ihren Aufflügen Vergessenheit suchend vor einem allzutreuen Gedächtnis, wie er in Jenseits von Gut und Böse orakelt. Er selber war ja nicht frei von solcherlei Elevation. Er war das, was mancher von ihnen sich unter dem idealen Leser vorstellt. Man hat es hier mit einem Menschen zu tun, der in einem ungeheuren inneren Echoraum lebte. Entsprechend groß war sein Resonanzboden für alles, was zwischen Himmel und Erde auf Schallwellen daherkam, für jedes fordernde DichterTimbre, jede orphische Schwingung. Nietzsche, der Resonator: die einmalige Erscheinung eines schwingungsfähigen, philosophischen Systems. Der Mensch als Frequenzverstärker, als wandelnde Luftsäule unterwegs durch die Wüste, die wächst. Er kann einem Leid tun mit seiner hypernervösen Empfänglichkeit für alle Schwingungen, Strömungen, Zwischentöne, physischen und metaphysischen Dissonanzen. Wie vor ihm Hölderlin hat er tief in den Knochen den Schlag des Apollon gespürt; doch in der Blutbahn rauschte Dionysos, der Gott der Entgrenzung, der Trunkenheit. Dies und sein Sensorium für alles, was direkt zu ihm sprach, erzeugte in ihm eine Stimmenvielfalt, die ihn zuletzt von innen gesprengt hat. In diesem Kopf mit der mächtigen Schädelwölbung muss es zugegangen sein wie in einer Voliere voller exotischer Papageien. Alles ging gut, solange die Tiere in ihm das Gleichgewicht hielten. Er feiert die Welt, schreibt Gedichte wie jene wundervollen Idyllen aus Messina, wo es heißt: ,Du ein Dichter? Du ein Dichter?/ Stehts mit deinem Kopf so schlecht?' Auf dem Höhepunkt beherrschte er wie kein zweiter die Kunst, das Auftauchen der Worte im rechten Augenblick zu inszenieren. Was dann geschah, wissen wir. Etwas zerbrach, und übrig blieb nurmehr der einsame Schrei des Ara. Hier kommt nun leider das schlimme Wort von der Schizophrenie ins Spiel, und es verbietet sich, weiter zu spekulieren. Doch diese Stimme, noch im Moment des geistigen Zusammenbruchs war sie deutlich vernehmbar. Es ist dieselbe noch immer, die in den Turiner Wahnsinnsbriefen um Worte ringt. Man darf mit ihr weiterträumen, auch wenn es zu spät ist und alle zukünftige Geschichte längst uneinholbar. An Franz Overbeck, einen der alten Freunde, schreibt er: „Ich lasse eben alle Antisemiten erschiessen [...] Dionysos". Hätte man nur auf ihn gehört, ein anderer Stimmgewaltiger wäre uns möglicherweise erspart geblieben. Das Phänomen Stimme ist, soweit ich sehe, das einzige, was die beiden verbindet. Wie hat Mazzino Montinari, der zweite der glücklichen Italiener und sein Herausgeber, gesagt?: „Durch Hitler wissen wir, was Nietzsche nicht war; durch Stalin wissen wir, was Marx nicht war." Und doch überwiegt hier die Trauer überlebt ihn: das Verlöschen der Ziele. Seltsam, bei soviel Ruhm, diese Trauer. Ich sehe mich um in den Regalen der klassischen Philologie, und da stehen sie, aufrecht Rücken an Rücken, alle die Meilensteine -

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Durs Grünbein

des wiedererweckten Altertums. Friedrich Creuzers Symbolik und das Mutterrecht des alten Johann Jacob Bachofen, Jacob Burckhardts Griechische Kulturgeschichte und Erwin Rohdes Psyche (das Hauptwerk des Freundes aus Studientagen, der ihn früh gewarnt hatte: ,Du deduzierst allzu wenig [...] Du verfolgst, so scheint mir, nicht ganz glückliche, oft recht stark hinkende Bilder.') lauter Großtaten der deutschen Philologie und Ursprungskunde, nur einer fehlt in der Runde, einer der Ehemaligen seiner Epoche, der einsame Wanderer Nietzsche. Sein Werk steht woanders in den Bibliotheken. Er als Einziger war aus dem Philologenkreis ausgebrochen oder besser: einer Rakete gleich in den Himmel geschossen. Er allein unter all den tüchtigen Gelehrten hatte sich eine Aura verschafft, einen unvergänglichen Ruf. Ihn, und nur ihn haben die Musen zu etwas Besonderem gemacht: zur ersten Kultfigur im heranbrechenden Zeitalter des Intellektuellen der Esoteriker als der Intellektuelle par excellence. Die Geburt der Tragödie hieß seine Rache an der Philologie, in deren Dienst er halbblind geworden war beim Registerschreiben und Exzerpieren. Die Rache war fürchterlich, sie zwang ihn auf die schiefe Bahn des Anti-Akademikers, warf ihn hinaus auf den Ozean geistiger Einsamkeit. Sie verdammte ihn zu seiner Philosophie ,für alle und keinen'. Man denkt an Nietzsche, wenn man das bittere Fazit des alten Francesco Petrarca liest: ,Die Bücher haben manche ins Wissen, manche in den Wahnsinn getrieben.' Ich betrachte die Photographie seiner Totenmaske, aufbewahrt im Marbacher Literaturarchiv dies schiefe Gesicht, zerrüttet von der Psychose, und der Mann tut mir unendlich Leid. Dass einer so weit davonlaufen musste vor der Menschheit, um bei sich selbst anzukommen, erfasst mich mit Furcht und Schrecken. Doch es hat nichts von Katharsis, wenn ich mir sage: ein Denker, gewiss, beinah ein Dichter; so nackt mit all seinen geflügelten Worten, so unverstanden, so populär. -

-

-

-

IL

Bildung

-

Schwerpunktthema:

Zukunft

-

Humanitas

Christian Niemeyer

Nietzsches Bildungsvorträge von 1872

Einige Deutungshinweise zu einem überaus fragwürdigen Text

Vorträge, die Nietzsche Anfang 1872 in Basel unter dem Titel Über die Zukunft Bildungsanstalten (im Folgenden Bildungsvorträge) hielt, gehören in der pädagogischen Nietzsche-Rezeption seit Jahrzehnten zu den wichtigsten Quellen in Sachen der Fragen nach Nietzsches Erziehungs- und Bildungsvorstellungen. Mehr oder weniger anregende Paraphrasen des Textinhalts1 sind folglich ebenso Legion wie Auslegungen derart, dass Nietzsche in den Bildungsvorträgen eine besonders bildungsaristokratische, wenn nicht gar demokratiefeindliche Grundeinstellung eingenommen habe und insofern ad acta zu legen sei.2 Ebenso selbstverständlich scheint es, Nietzsches Vorträge als Teil der sich auch bei Paul de Lagarde oder Julius Langbehn artikulierenden, als völkisch Die

unserer

resp. antisemitisch/antislawisch einzuordnenden Kulturkritik des auslaufenden 19. Jahrhunderts zu lesen. Mitunter wird Nietzsche gar als diesbezüglich epigonal beiseitegesetzt.

Claudia Solzbacher

beispielsweise

vertrat

vor

einigen

Jahren die

Meinung,

dass

„die Kritik bei beiden (bei Lagarde und Nietzsche C.N.) ihre Ähnlichkeiten hat und Nietzsche sicherlich manches äußerte, was er zuvor bei Lagarde gelesen hatte."3 Angesichts derlei weitgehender Urteile, die zumeist in Unkenntnis des jeweiligen Standes der Nietzsche- und Wagnerforschung sowie in Ignoranz gegenüber pädagogisch gesehen sehr viel ergiebigeren Texten Nietzsches, wie beispielsweise die Morgenröthe oder Die fröhliche Wissenschaft, gefallt werden, ganz abgesehen von gleichfalls -

kaum interessierenden Details der Text- und Editionsgeschichte6, scheint es angebracht,

Vgl. zuletzt Timo Hoyer, Nietzsche und die Pädagogik, Würzburg 2002, 264-278. Vgl. zusammenfassend Christian Niemeyer, Nietzsche, die Jugend und die Pädagogik, Weinheim,

'

München 2002, 245. Claudia Solzbacher, Literarische Schulkritik des frühen 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M. 1993, 47. Vgl. Christian Niemeyer, Auf die Schiffe, ihr Sozialpädagogen! Ein einführender Textkommentar zu Nietzsches .Morgenröthe', in: Zeitschriftfür Sozialpädagogik 2 (2004). Vgl. Ders., Auf die Schiffe, ihr Pädagogen! Ein einführender Textkommentar zu Nietzsches Aphorismensammlung Die fröhliche Wissenschaft', in: Zeitschrift fur Religions- und Geistesgeschichte, 58 (2005). Hierzu gehört auch der gleichermaßen banale wie básale Hinweis, dass die Bildungsvorträge zwar im Januar, Februar und März 1872 in Basel gehalten wurden und an sich sofort, beim Wagner,

6

Christian Niemeyer

36

Nietzsches Bildungsvorträge neu zu sichten und von dem Kontext her zu begreifen, dem sie zugehören bzw. dem sie entstammen. Ein wichtiger Deutungshinweis verbirgt sich in der Bemerkung eines frühen Interpreten, des Franz Overbeck-Schülers Carl Albrecht Bernoulli, der aus der Perspektive des Jahres 1908 die Frage aufwarf, wieso Nietzsche, „der doch eigentlich seiner Griechen- und Wagnerbegeisterung nach im ästhetischen Fahrwasser segelte, dazu kam, sich an die europäische Menschheit als echter und rechter Schulmeister zu wenden".7 Bernoulli dachte dabei an Nietzsches im Januar 1872 erschienenen Erstling Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musk (im Folgenden Tragödienschrift), übersah allerdings, dass Richard Wagners Fahrwasser keineswegs ein rein ästhetisches war. Auch offenbaren Nietzsches Bildungsvorträge durchaus nicht nur Harmlosigkeiten, etwa, so Bernoulli, „Nietzsches erwachende Genialität [...] als Pädagog", womit er sich würdig einreihe in „die althergebrachte Vorliebe des Schweizers für Probleme der Erziehung und Volksbildung". In der Umkehrung gesprochen: Mit seinen Bildungsvorträgen, so die hier verfochtene, nun schrittweise zu erläuternde These, beabsichtigte Nietzsche nicht mehr und nicht weniger als die Fortschreibung der in der Tragödienschrift skizzierten bildungs- und kulturpolitischen Programmatik, die zugleich jene Wagners war und über ihn ihre völkischen Akzente gewann. Das Ästhetische war dabei nur ein Randaspekt.

I. Eine

,harmlose' Lesart der Bildungsvorträge

Die in Rede stehende These macht allererst eine kritische Lektüre der Bildungsvorträge von der Tragödienschrift ausgehend erforderlich. Allerdings kann nicht in Abrede gestellt werden, dass sich die Bildungsvorträge auch jener von Bernoulli angedeuteten ,harmlosen' Lesart unterwerfen lassen. Hierzu gehört beispielsweise der Umstand, dass diese Vorträge der Form nach den Eindruck erwecken, Nietzsche referiere nichts weiter als das Gespräch zwischen einem ,Schüler' und seinem ,Professor', der für Wagner stehen könnte, der aber auch Züge Arthur Schopenhauers trägt. An Wagner und mithin an die Wiedergabe von Gesprächen Nietzsches mit diesem lässt beispielsweise der Umstand denken, dass der ,Schüler' ermahnt wird, sich nicht ,jener schweren Nothwendigkeit" zu entziehen, „für den Genius arbeiten zu müssen, um seine Erzeugung möglich zu machen" (KSA, BA, 1, 666). Denn nur ein Jahr zuvor, im Nachgang zu seinem Weihnachtsbesuch in Tribschen, war Nietzsche einer derartigen Ermahnung nicht bedürftig. Er war sich vielmehr sicher, dass jeder Mensch „nur so viel Würde (hat) als er, bewusst oder unbewusstes Werkzeug des Genius ist" (KSA, NF, 7, 348). Nun

Verleger Ernst Wilhelm Fritzsch in Leipzig

8

,

in Druck gehen sollten. Davon

allerdings nahm Nietz-

sche sukzessive Abstand, so dass die Bildungsvorträge, die erstmals 1893/94 in Auszügen erschienenen, zwar als öffentlich gehaltene und insoweit als .veröffentlichte' gelten können, streng genommen aber dem Nachlass zugehören und sinnvoll nur unter Berücksichtigung der Vorbehalte zu interpretieren sind, die Nietzsche selbst gegen sie geltend machte. Carl Albrecht Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche, Eine Freundschaft, Erster Band, Jena 1908, 70. Ebd., 71.

Nietzsches Bildungsvorträge von 1872

37

jedoch ist Nietzsche sehr viel vorsichtiger und ermahnt sich gleichsam noch einmal, im fünften der Bildungsvorträge: „alle Bildung fängt mit dem Gegentheile alles dessen an, was man jetzt als akademische Freiheit preist, mit dem Gehorsam, mit der Unterordnung, mit der Zucht, mit der Dienstbarkeit" (KSA, BA, 1, 750). Bevor man derartige Sätze als programmatische liest und als solche verwirft oder, so wie im ,Dritten Reich' beobachtbar, heilig spricht im Blick auf die nun geltenden didaktischen Vorgaben9, wäre also zu prüfen, aber dies ist hier nur ein Randproblem, ob Nietzsche hiermit nicht seiner eigenen Dienstbarkeit in Sachen Wagner eine gleichsam letzte Weihe zu geben sich bemühte. Andere Passagen

Bildungsvorträgen reflektieren offenbar Nietzsches eigene „Gymnasialerfahrungen" (ebd., 675) bzw. universitäre Bildungserfahrungen. Dies gilt etwa für des ,Schülers' Bemerkung, dass die Philologie ihre Geschöpfe „vampyrartig" (ebd., 670) verbrauche, eine Bemerkung die gegen Nietzsches ,Doktorvater' Friedrich Wilhelm Ritschi gehen und auf die Differenz zum Genius (Wagner) als des einzig legitimierten Unterordnungssujets abstellen könnte. Die Vampirmetaphorik hatte Nietzsche schon als Student in Leipzig im Oktober 1868 aufgeboten, in einem Brief an Paul Deussen, in welchem er Verwahrung einlegte gegen jene, die „abgezehrten Leibes, mit vertrockneten Adern, welkem Munde das Blut junger und blühender Naturen aufsuchen und vampyrartig aussaugen" (KSB, 2, 329). Zornig führ Nietzsche seinerzeit fort: ,ja, es ist die Pflicht eines Pädagogen, die frischen Kräfte fern zu halten von den Umschlingungen jener greisen Scheusale: die vom Standpunkt des Historikers Ehrerbietung, von dem der Gegenwart Widerwillen, von dem der Zukunft Vernichtung zu erwarten haben" (ebd.). Neben der Vampir- hatte es Nietzsche vor allem die Maulwurfsmetapher angetan, mit Folgen, die sich auch noch in Also sprach Zarathustra III (1884) nachweisen lassen. So wird beispielsweise Zarathustras Stimme als „Heilmittel noch für Blindgeborne" (KSA, Za, 4, 270) angepriesen. Die Rede ist des Weiteren von Zarathustras aus

den

Widerstreben gegen den „Geist der Schwere", seinem „Teufel und Erzfeinde", der, ihn „abgrundwärts" ziehend, auf ihm sitzt: „halb Zwerg, halb Maulwurf; lahm; lähmend; Blei durch mein Ohr, Bleitropfen-Gedanken in mein Hirn träufelnd" (ebd, 198), wiederum also eine Metaphorik, die an Ritschi erinnert. Von hier aus besehen stehen Nietzsches Bildungsvorträge auch für eine scharfe, deutlich auch im Sinne einer Bilanz des eigenen Bildungswerdegangs zu lesenden Kritik an Ritschi und der sich in seiner Figur symbolisierenden didaktischen Zustände an deutschen Gymnasien und Universitäten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dies gilt auch, wenn Nietzsche von einem jungen Menschen redet, der auf das Höchste einer „führenden Hand" bedürftig sei, „weil er plötzlich und fast instinktiv sich von der Zweideutigkeit des Daseins überzeugt hat und den festen Boden der bisher gehegten überkommenen Meinungen verliert" (KSA, BA, 1, 742) und der in dieser seiner Not schmählich allein gelassen werde. Was diesem widerfahre, so Nietzsche weiter und weiter so, als rede er von sich selbst und seinem eigenen Bildungswerdegang, sei in der Regel nichts weniger, als dass man ,jenen naturgemäßen philosophischen Trieb durch die sogenannte ,historische Bildung' zu paralysieren" (ebd.) sich bemühe, mit einem mehr als betrüblichen Ergebnis, das Nietzsche beschreibt: „So ist langsam, an Stelle Christian Niemeyer, Nietzsche, die Jugend und die Pädagogik, 216.

Christian Niemeyer

38

einer tiefsinnigen Ausdeutung der ewig gleichen Probleme ein historisches, ja selbst ein philologisches Abwägen und Fragen getreten: was der und jener Philosoph gedacht habe oder nicht oder ob die und jene Schrift ihm mit Recht zuzuschreiben sei oder gar ob diese oder jene Lesart den Vorzug verdiene. Zu einem derartigen neutralen Sichbefassen mit Philosophie werden jetzt unsere Studenten in den philosophischen Seminarien unserer Universitäten angereizt: weshalb ich mich längst gewöhnt habe, eine solche Wissenschaft als Abzweigung der Philologie zu betrachten und ihre Vertreter darnach abzuschätzen, ob sie gute Philologen sind oder nicht. Demnach ist nun freilich die Philosophie selbst von der Universität verbannt: womit unsere Frage nach dem Bildungswerth der Universitäten beantwortet ist" (ebd.). Aber nicht nur um den Status quo der schon von Schopenhauer mit Hohn und Spott belegten ,Universitätsphilosophie' war es ihm zu tun, sondern, auch um die Kunst als (Universitäts-)Fach und die Stellung der Universität ihr gegenüber: „Wie diese selbe Universität zur Kunst sich verhält, ist ohne Scham gar nicht einzugestehen: sie verhält sich gar nicht. Von einem künstlerischen Denken, Lernen, Streben Vergleichen ist hier nicht einmal eine Andeutung zu finden" (ebd., 743). So gelesen, wird man die Bildungsvorträge zu verstehen haben als Zeugnis für eine Epoche, die eine immer stärkere Spezialisierung der Wissensformen kannte und in der folglich der Bildungswert von Philosophie und Kultur und mithin der Status der Allgemeinbildung verloren zu gehen drohte zugunsten einer, zunehmend Nützlichkeitserwägungen unterworfenen, berufsbezogenen Bildung. Diese Tendenz ist auch im Zusammenhang zu sehen mit dem damaligen so genannten Berechtigungswesen, also der bevorzugten Zulassung derjenigen, die ihren Militärdienst absolvierten. Nietzsche warnte hier vor der „allgemeinen Überfüllung aller preußischen Gymnasien" und rechnete dem eine „allgemeinhin bedrohliche und für den wahren deutschen Geist gefahrliche Bedeutung" (ebd., 707) zu. Dass Wagner allerdings dabei im Hintergrund Rat gebend wirksam war, zeigt der Umstand, dass er mit seinem Einspruch gegen eine „nur auf zukünftigen industriellen Erwerb zugeschnittene Erziehung" offenbar das Stichwort gegeben hatte für sein Argument, von „Bildungsanstalten" sei dort nicht zu reden, wo „ein Amt oder ein [...] Brodgewinn" (ebd., 715) angestrebt werde. Ersatzweise brachte Nietzsche den polemisch gemeinten Titel „Institutionen zur Überwindung von Lebensnoth" (ebd.) in Vorschlag, mit der Pointe, dass ihm die Altphilologie, die als zentrale Produktionsstätte für Staatsbeamte im 19. Jahrhundert derartige Institutionen bediente, zunehmend fraglich wurde in ihrem Recht und Rang. Vor dem Hintergrund des auch in dieser Hinsicht bestehenden vorübergehenden Gleichklangs der Kultur- und Bildungsauffassungen Nietzsches und Wagners überrascht es denn kaum, dass Wagner Nietzsche wenige Monate, nachdem dieser seine Bildungsvorträge gehalten hatte und wegen seiner Tragödienschrift in einigen Verdruss geriet, Nietzsche öffentlich beistand mit einem philologiekritischen Offenen Brief. In diesem vermerkte er es als „auffallend, daß Alles, was bei uns von der Gunst der Musen als abhängig sich kundgiebt, also unsere gesammte Künstler- und Dichterschaft, ganz Richard Wagner, Die Kunst und die Revolution, in: Ders., Gesammelte Bd. III, Leipzig 1907, 24.

Schriften und Dichtungen,

Nietzsches Bildungsvorträge von 1872

39

Philologie sich behilft".11 Dem schloss er die ketzerische Frage an, ob es denn möglicherweise „nur die Philologen selbst (sind), welche sich gegenseitig instruiren, und vermuthlich einzig zu dem Zwecke, immer wieder nur Philologen abzurichten".1 Diese Frage nahm Bezug auf die exponierte Stellung des altsprachlichen Unterrichts im Lehrplan der neuhumanistischen Gymnasien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ohne

und rekurrierte erkennbar auf eine von Nietzsche unterdrückte Textvariante aus seiner Baseler Antrittsrede, derzufolge die Philologie „ihr Dasein nicht einem wissenschaftlichen Triebe, sondern einem praktischen Bedürfhiß verdankt" (BAW, 5, 476). Folgerichtig bemühte sich Nietzsche in seinen Bildungsvorträgen um den Rückgewinn eines ganzheitlichen Bildungsideals, als dessen Repräsentant seiner Auffassung nach zwar der Philosoph der griechischen Antike gelten dürfe, nicht aber der jetztzeitliche' Philologe und Historiker. Begrifflich spiegelt sich dies in seiner Unterscheidung zwischen ,Pseudobildung' und ,wahrer' Bildung. Von Letzterer abzuirren wirft er dem Philologen und namentlich, nicht expressis verbis, aber für den Nietzscheexperten erkennbar, dem sich in der Figur Ritschis dokumentierenden Typus des Gelehrten vor. Dieser nämlich, so Nietzsche mit bitterem Spott, trägt „die Unbildung jenseits des Fachs [...] als Zeichen edler Genügsamkeit zur Schau" (KSA, BA, 1, 670). Auch bei dieser Kritik stand Wagner Pate, hatte er doch immerhin schon 1849 seinen Unmut geäußert über jene, die mit ,,hochmütige[m] Behagen" auf ihre „künstlerische[...] Ungeschicklichkeit" verwiesen, um dann den Kunstgenuss ausserhalb ihrer selbst abzufragen, und zwar „mit ungefähr demselben Verlangen, wie der Wüstling den flüchtigen Liebesgenuß einer Prostituierten aufsucht".13 Dem Ton nach war Nietzsche zumindest in dieser Frage moderater, wenngleich er der Sache nach fast noch weniger Spaß verstand als Wagner. Denn Nietzsche vertrat zusätzlich die Auffassung, dass es gelte, „an der aristokratischen Natur des Geistes" festzuhalten und eine „Ordnung im Reiche des Intellekts" (ebd., 698) zu verteidigen, deren Umsturz durch Volksbildungsbestrebungen bevorstehe. Um dieser Gefahr zu trotzen, empfahl er seinen Hörern ein seiner Auffassung nach probates, von ihm jedenfalls praktiziertes Mittel: „Ich habe mich längst daran gewöhnt, alle diejenigen vorsichtig anzusehn, welche eifrig für die so genannte ,Volksbildung' [...] sprechen: denn zumeist wollen sie [...] für sich selbst die fessellose Freiheit, die ihnen jene heilige Naturordnung nie gewähren wird; sie sind zum Dienen, zum Gehorchen geboren, und jeder Augenblick, in dem ihre kriechenden oder stelzfüßigen oder flügellahmen Gedanken in Thätigkeit sind, bestätigt, aus welchem Thone die Natur sie formte und welches Fabrikzeichen sie diesem Thone aufgebrannt hat" (ebd.). Als sei dies noch nicht genug an Provokation, fügte er noch die Schlussfolgerung an: „Also, nicht Bildung der Masse kann unser Ziel sein: sondern Bildung der einzelnen ausgelesenen, für große und bleibende Werke ausgerüsteten Menschen: wir wissen nun einmal, daß eine gerechte Nachwelt den gesammten Bildungsstand eines Volkes nur und ganz allein nach jenen großen, einsam schreitenden Helden einer Zeit beurtheilen und je nach der Art, wie Ders., Offener Brief in der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung vom 23. Juni 1872, in: Der Streit um Nietzsches Geburt der Tragödie', Eingeleitet v. Karlfried Gründer, Hildesheim u.a. 1989, 58. Ebd., 59. Richard Wagner, Die Kunst und die Revolution, 24. ,

12

13

Christian Niemeyer

40

dieselben erkannt, gefordert, geehrt oder sekretirt, mißhandelt, zerstört worden sind, ihre Stimme abgeben wird" (ebd.). Mit diesen wenigen Sätzen hatte sich Nietzsche seinen eingangs angesprochenen und

später zumal in der Pädagogik immer wieder aufs Neue skandalisierten Ruf als antidemokratischer Denker und .elitärer Bildungsphilosoph' redlich erarbeitet, der in der

Einleitung

der Bildungsvorträge als seine These den Satz präsentierte, dass er beides nicht wolle: weder die im zeitgenössischen Diskurs verbreitet geforderte „Erweiterung der Bildung" im Sinne der Bildung immer weiterer Kreise, noch die „Vermindung der Bildung" im Sinne der Unterordnung der Bildung unter Staatszwecke. Was ihm hingegen ersatzweise vorschwebe, sei die „Koncentration der Bildung", statt ihrer Erweiterung, auf wenige bei gleichzeitiger Rückbesinnung auf die Idee der „Selbstgenügsamkeit der Bildung, als dem Gegenstück ihrer Verminderung" (ebd., 647). In dieser Logik gedacht, gerann Nietzsche im weiteren Argumentverlauf die im Aufgreifen der ,,sociale[n] Frage" voranschreitende Tendenz zur Bildungserweiterung zu einer Gefahr, insoweit die Bildung dann notwendig so abgeschwächt werde, „daß sie gar keine Privilegien und gar keinen Respekt mehr verleihen kann" (ebd., 668). Ebenso fatal schien ihm die Verminderung der Bildung, die sichtbar werde an jenem spezialisierten Gelehrten, bei dem „die ,Treue zum Kleinen', die ,Kärrnertreue' [...] zum Prunkthema [wird]" (ebd., 670). Ganz verhasst war Nietzsche schließlich die Journalistik, bei welcher „Erweiterung und Verminderung der Bildung" zusammenträfen mit dem Ergebnis, dass das Journal „geradezu an die Stelle der Bildung [tritt]" (ebd., 671). All dies mag man aus heutiger Sicht, je nach gusto, empört, schulterzuckend, gelangweilt oder auch zustimmend zur Kenntnis nehmen, entscheidend ist nur: die Kenntnis Wagners oder auch nur die kritische Lektüre der Bildungsvorträge von der Tragödienschrift ausgehend, scheint entgegen unserer Ausgangsthese keineswegs unabdingbar, um zu einem Urteil über Nietzsche zu gelangen.

II. Eine Lektüre der Bildungsvorträge im

Spiegel der Tragödienschrift

Freilich: Was Nietzsche in der erwähnten Einleitung so selbstbewusst und als scheinbar geschlossenen Gedankengang darbietet und unter der Überschrift anpreist, es handele sich hierbei um sein „Wappenschild", das jeden Hinzutretenden daran erinnern soll, „in wessen Haus und Gehöft er zu treten im Begriff steht" (ebd., 647), erinnert bei genauerem Zusehen durchaus an Wagner. Schon Wagner hatte in seiner 1867er Schrift Deutsche Kunst und Deutsche Politik betont, „die materielle Nützlichkeit der Volksbildung" sei zwar im Staatsinteresse, nicht aber in dem einer zu sich gekommenen Kulturauslegung des deutschen Volkes, wie er sie drei Jahre später mit seinem Beethoven in Reaktion auf den siegreichen Frankreichfeldzug anmahnen sollte. Hieran an-

knüpfend brachte Nietzsche im zweiten der Bildungsvorträge folgendes zu Gehör: „Was [...] sich jetzt mit besonderem Dünkel .deutsche Kultur' nennt, ist ein kosmopolitisches Aggregat, das sich zum deutschen Geiste verhält, wie der Journalist zu Schiller,

Ders., Deutsche Kunst und Deutsche Politik, in: Ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. VIII, Leipzig 1907, 97.

Nietzsches Bildungsvorträge

von

1872

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Meyerbeer zu Beethoven: hier übt den stärksten Einfluß die im tiefsten Fundamente ungermanische Civilisation der Franzosen [...] Mit dieser angeblich deutschen, im Grunde unoriginalen Kultur darf der Deutsche sich nirgends Siege versprechen" (ebd.,

wie

690). Nietzsche, der sich hier eines ihm von Wagner her vertrauten antisemitischen Geheimcode (Journalist'; ,Meyerbeer') bedient, blieb auch die Konsequenz nicht schuldig: „Um so fester halten wir (Wagner und ich C.N.) an dem deutschen Geiste fest, der sich in der deutschen Reformation und in der deutschen Musik offenbart hat und der in der ungeheuren Tapferkeit und Strenge der deutschen Philosophie und in der neuerdings erprobten Treue des deutschen Soldaten jene nachhaltige, allem Scheine abgeneigte Kraft bewiesen hat, von der wir jetzt auch einen Sieg über die modische Pseudokultur der Jetztzeit' erwarten dürfen" (ebd., 691). Man will allein im Blick auf -

diese Sätze gern glauben, dass sich das hiermit umrissene Bildungs- und Kulturprogramm Nietzsches späterhin breiter nationalsozialistischer Zustimmung erfreute15, zumal er auch den Plan für das gleichsam praktische Proedere nicht schuldig blieb: „In diesen Kampf die wahre Bildungsschule hineinzuziehn und besonders im Gymnasium die heranwachsende neue Generation für das zu entzünden, was wahrhaft deutsch ist, ist die von uns gehoffte Zukunftsthätigkeit der Schule: in welcher auch endlich die sogenannte classische Bildung wieder ihren natürlichen Boden und ihren einzigen Ausgangspunkt erhalten wird. Eine wahre Erneuerung und Reinigung des Gymnasiums wird nur aus einer tiefen und gewaltigen Erneuerung und Reinigung des deutschen Geistes hervorgehn" (ebd.). Soviel also zur (mehr als fragwürdigen) Hauptsache an Nietzsches Bildungsvorträgen, deren Vorgeschichte einen nun durchaus zurückverweist auf Nietzsches Tragödienschrift und den hier vergleichsweise offen zutage tretenden Wagnerbezug. Er begegnet einem schon in dem Wagner gewidmeten, Ende 1871 verfassten Vorwort, insofern es hier im Nachgang zu dem Hinweis, dass ihm, Nietzsche, Kunst mehr sei als ein „lustiges Nebenbei, als ein auch wohl zu missendes Schellengeklingel zum ,Ernst des Daseins'", heißt: „Diesen Ernsthaften diene zur Belehrung, dass ich von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens im Sinne des Mannes überzeugt bin, dem ich hier, als meinem erhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn, diese Schrift gewidmet haben will" (KSA, GT, 1, 24). Dass Nietzsche hiermit zugleich einer elitären Bildungsphilosophie zuarbeiten wollte, die Künstler wie Wagner hervorzubringen und in Wertschätzung zu halten versprach, verdeutlicht der unveröffentlicht gebliebene Entwurf dieses Vorworts vom 22. Februar 1871: „Weder der Staat, noch das Volk, noch die Menschheit sind ihrer selbst wegen da, sondern in ihren Spitzen, in den großen ,Einzelnen', den Heiligen und den Künstlern liegt das Ziel" (KSA, NF, 7, 354). Einige Zeilen später folgt als eindeutige Quintessenz: „Es giebt keine höhere Kulturtendenz als die Vorbereitung und Erzeugung des Genius" (ebd., 355). Wenige Wochen zuvor, im Nachgang zu einem einwöchigen Weihnachtsbesuch in Tribschen und seiner dadurch wieder in voller Blüte stehenden Begeisterung auch für Wagner als Person, hatte er sich diese Quintessenz in einer privaten Niederschrift gleichsam als Auftrag in eigener Sache zurecht gelegt: ,jeder Mensch, mit seiner gesammten Thätigkeit, hat nur so viel Würde als er, bewußt oder unbewußtes Werkzeug Christian Niemeyer, Nietzsche, die Jugend und die Pädagogik, 212.

Christian Niemeyer

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des Genius ist" (ebd., 348). Nietzsche zog in aller Radikalität die „ethische Consequenz [...], daß der ,Mensch an sich' [...] weder Würde, noch Rechte, noch Pflichten besitzt" und „nur als völlig determiniertes, unbewußten Zwecken dienendes Wesen [...] seine Existenz entschuldigen [kann]" (ebd.). Wer so redet, darüber muss man nicht lange streiten, bekundet kaum mehr als seine Not, einer Rechtfertigung zu bedürfen für die Preisgabe des eigenen Strebens. Für eine Deutung der kultur- wie bildungsphilosophischen Botschaft der Tragödienschrift ist es allerdings wichtiger, jene Stelle aus dem Ende 1871 verfassten Vorwort in Betracht zu ziehen, in der Nietzsche Wagner daran erinnert, dass er sich zu eben jener Zeit, in der dessen „herrliche Festschrift" über Beethoven entstand, „dass heisst in den Schrecken und Erhabenheiten des eben ausgebrochenen Krieges" (KSA, GT, 1, 23), zu diesen Gedanken gesammelt habe. Informativ ist in diesem Zusammenhang ein Brief Nietzsches an Erwin Rohde vom 15. Dezember 1870: „Ein eben erschienenes Buch von Wagner über Beethoven wird Dir Vieles andeuten können, was ich jetzt von der Zukunft will. Lies es, es ist eine Offenbarung des Geistes, in dem wir wir! in der Zukunft leben werden" (KSB, 3, 166). Rohde reagierte unter dem Datum des 29. Dezember 1870 in einem an Nietzsche in Tribschen gerichteten Brief vergleichbar begeistert und vermeinte aus Wagners Beethoven „die Stimme des Propheten" (KGB, 11/2, 296) vernehmen zu können. Nietzsche selbst vermeldete am nächsten Tag von Tribschen aus via Naumburg nicht ohne Stolz, er habe von Wagner zu Weihnachten „ein prachtvolles Exemplar des .Beethoven'" (KSB, 3, 172) bekommen. Und schliesslich ließ Cosima Wagner unter dem Datum des 22. Januar 1871 Nietzsche Dank sagen für die von ihm übermittelten Lobesworte Rohdes, „denn sie sind fast das Schönste das wir über den Beethoven vernommen" (KGB, II/2, 313). Verallgemeinernd folgt daraus: Es ist Pflicht des Interpreten, Nietzsches Tragödienschrift, und, wie gezeigt wurde, auch die Bildungsvorträge aller erst im Kontext der hiermit im Zentrum stehenden und vom Autor selbst für sie geltend gemachten Quellen zu bedenken. In Betracht zu ziehen ist dabei nicht nur Wagners Beethoven, sondern auch seine bereits erwähnte 1867er Schrift Deutsche Kunst und deutsche Politik, die Nietzsche seinem Freund Carl von Gersdorff sowohl im August 1869 (KSB, 3, 36) als auch im März 1870 (ebd., 105) brieflich wärmstens anempfahl. Der Grund hierfür liegt auf der Hand: Es ist vor allem die von Wagner popularisierte Figur des ,deutschen Jünglings', die es Nietzsche angetan hatte und die ihn im bereits erwähnten Vorwort-Entwurf vom 22. Februar 1871 geradezu emphatisch ausrufen ließ: „Wer anders als der deutsche Jüngling wird die Unerschrockenheit des Blicks und den heroischen Zug in's Ungeheure haben, um allen jenen schwächlichen Bequemlichkeitsdoktrinen des liberalen Optimismus in jeder Form den Rücken zu kehren und im Ganzen und Vollen .resolut zu leben'?" (KSA, NF, 7, 356). Erst nach seiner Abwendung von Wagner, genauer: Im Sommer 1879, im Verlauf der Erstellung von Der Wanderer und sein Schatten, wird Nietzsche erkennen, dass Wagners 1867er Loblied auf die von Friedrich Schiller rehabilitierte Gestalt des ,deutschen Jünglings', „der sich mit Verachtung dem Stolze Britanniens, der Pariser Sinnenverlockung gegenüberstellt"16, nicht viel mehr gewesen war als eine Fiktion in politischer Absicht. Denn Wagner, dieser, so Nietzsche mit endlich greifen-

Richard Wagner, Deutsche Kunst und Deutsche Politik, 36.

-

Nietzsches

Bildungsvorträge von 1872

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der Klarheit, „Prediger[...] des Franzosenhasses" (KSA, WS, 2, 652), habe schlicht ignoriert, dass zumindest die Grossväter dieses angeblich ,deutschen' Jünglings in Paris (sprich: Voltaire) sowie Genf (sprich: Jean Jacques Rousseau) zu Hause gewesen seien. Hiermit freilich hatte Nietzsche einen Vorstellungskomplex angesprochen, der für Wagner gänzlich unannehmbar war. Dass „der Deutsche der Schöpfer und Erfinder, der Romane der Bildner und Ausbeuter" sei und dass folglich „der wahre Quell fortwährender Erneuerung"17 im deutschen Wesen gründe, steht für die zentrale Botschaft aus Wagners Schrift Deutsche Kunst und deutsche Politik. Nietzsche nahm hieran sowie an dem dabei mitklingenden antisemitischen Klischee in der Phase der Erstellung seiner Tragödienschrift keinerlei Anstoß, im Gegenteil: Wenn Nietzsche in Kommentierung eines Goethe-Gedichts darüber fabuliert, die Prometheussage könne als „ein ursprüngliches Eigenthum der gesammten arischen Völkergemeinde" und als „Document für deren Begabung zum Tiefsinnig-Tragischen" gelesen werden und diesem Mythus wohne „für das arische Wesen eben dieselbe charakteristische Bedeutung inne [...], die der Sündenfallmythus für das semitische hat", schlimmer noch: Wenn Nietzsche dies noch dahingehend ergänzt, dass die muthaften Aspekte der Prometheusfigur mit arischmännlichen Vorzeichen zu versehen seien, die zum Sündenfall disponierenden semitisch-weiblichen Wesenszüge hingegen mit Vokabeln wie „Neugierde", „lügnerische Vorspiegelung", „Verführbarkeit" oder „Lüsternheit" (KSA, GT, 1, 69) belegt werden könnten, bleibt nur ein Schluß: Nietzsche erprobte hier eine besonders perfide Variante des von Wagner herrührenden Duals, wonach der Deutsche ,Schöpfer' sei, der Romane hingegen ,Ausbeuter', eine Variante mit dämonischen Zügen. Immerhin sollte es kein anderer als Adolf Hitler sein, der Prometheus als Sinnbild des Arischen18 lesen und dem kulturell angeblich unproduktiven, weil schmarotzendem jüdischen Typus' entgegen9 setzen wird. Dieser Umstand allein macht Nietzsche nicht zu einem Hitlervorläufer, verdeutlicht aber sehr wohl die Problematik seiner Tragödienschrift. Mit seinem Erstling erwies Nietzsche aber nur der aus Wagners Schrift Deutsche Kunst und deutsche Politik herrührenden Denkfigur des ,deutschen Jünglings' seine Reverenz, sondern auch Wagners hier vorgetragener Absicht, das „Streben der Deutschen nach einer höheren politischen Bedeutung" mittels Rekurses auf ,,deutsche[...] Kunstbestrebungen" zu stärken. Wagner hatte diese Überlegung zwei Jahre später (1869) seiner erstmals 1850 deutlich hervorgetretenen antisemitischen Grundausrichtung eingefügt, indem er einer durch „Einmischung der Juden" veranlassten „Schwäche und Unfähigkeit der nachbeethovenschen Periode unserer deutschen Musikproduktion' das Wort redete. Damit war das entscheidende Stichwort (,Beethoven') gefallen, das neue Dynamik gewann im Kontext des deutsch-französischen Krieges. Wagner jedenfalls stimmte nun, in seinem Beethoven von 1870, ein Loblied an auf die „Siege deutscher Tapferkeit" und auf den, in Beethoven symbolisch gewordenen, deutschen „Weltbeglücker" und „Bahnbrecher in der Wildnis des entarteten Paradieses" (lies: Ebd., 49. Adolf Hitler, Mein Kampf, München 1933, 317. Peter Pütz, Nietzsche und der Antisemitismus, in: Nietzsche-Studien 30 (2001), 297. Richard Wagner, Deutsche Kunst und Deutsche Politik, 31. Ders., Censuren, in: Ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. VIII, Leipzig 1907, 250.

Christian Niemeyer

44

Frankreich), der, gleichsam im Rahmen eines Kulturfeldzuges, den

ersten

Rang

vor

„Welteroberer"22 beanspruchen könne. Erst von dieser martialischen Schlusswendung aus wird verständlich, wieso Nietzsche im Vorwort seiner Tragödienschrift versicherte, dass man es (auch) bei seiner Schrift trotz ihres ästhetischen Kerns und der Rückwendung auf die griechische Antike mit einem „ernsthaft deutschen Problem" zu tun habe, „das von uns recht eigentlich in die Mitte deutscher Hoffnungen, als Wirbel und Wendepunkt hingestellt wird" (KSA, GT, 1, 24). Rückschlüsse darüber, worum es Nietzsche im Rahmen der hiermit markierten kulturpolitischen Zielsetzung im Einzelnen zu tun war, erlaubt der Entwurf dieses Vorworts vom 22. Februar 1871. Hier heißt es im deutlichen Nachklang zur gut vier Wochen zurückliegenden Reichsgründung und mithin zur Deklarierung Wilhelms I. von Preußen zum Kaiser der Deutschen: „Die einzige produktive politische Macht in Deutschland, die wir Niemandem näher zu bezeichnen brauchen, ist jetzt in der ungeheuersten Weise zum Siege bekommen und sie wird von jetzt ab das deutsche Wesen bis in seine Atome hinein beherrschen" (KSA, NF, 7, 355). Hier sowie mit dem Nachsatz, dass diese Macht den im Liberalismus kulminierenden „Krankheitszustand" beenden werde, „an dem das deutsche Wesen vornehmlich seit der großen Französischen Revolution zu leiden hat" (ebd.), hatte sich Nietzsche auch in dieser Frage vollständig auf die Seite Wagners geschlagen. Immerhin hatte dieser im Soge der Reichsgründung beschlossen, für sein gleichermaßen anti-frankophon wie anti-aufklärerisch angelegtes Bayreuth-Projekt und die mit ihm beabsichtigte Regeneration des deutschen Wesens verstärkt um die auch politische Unterstützung Otto von Bismarcks und Wilhelms I. zu werben, bei gleichzeitiger Hintansetzung des von ihm zunehmend als weitabgewandt diagnostizierten bisherigen Mäzen Ludwig II. Insoweit hatte Nietzsche durchaus Anlass, mit den Worten fortzufahren: „Mein edler Freund, ob ich wohl bis hierher mich auch in ihrem Sinne geäußert habe? Fast möchte ich's vermuthen: und jeder Blick, den ich in ihren ,Beethoven' werfe, führt mir auch die Worte zu: ,der Deutsche ist tapfer: sei er es denn auch im Frieden. Verschmähe er es, etwas zu sein, was er noch nicht ist. Die Natur hat ihm das Gefällige versagt; dafür ist er innig und erhaben'" (ebd., 356). Dies war zwar etwas ungenau zitiert und unter Auslassung der nachfolgenden martialischen Schlusswendung aus Wagners Beethoven. Aber es genügte, um Wagner zu signalisieren, dass sein Beethoven in Nietzsches Tragödienschrift eine würdige Fortsetzung fände, eine Fortsetzung zumal im Sinne eines Bildungsprogramms. Unmissverständlich sind in dieser Hinsicht die dem Zitierten nachfolgenden Sätze aus Nietzsches Vorwort-Entwurf vom Februar 1871: „Diese Tapferkeit, sammt den letztgenannten Eigenschaften, ist das andere Unterpfand meiner Hoffnungen. Wenn es wahr ist [...], daß jede tiefere Erkenntniß schrecklich ist, wer anders als der Deutsche wird jenen tragischen Standpunkt der Erkenntniß einnehmen können, den ich, als Vorbereitung des Genius, als das neue Bildungsziel einer edel strebenden Jugend fordere?" (ebd.) Dem ließ Nietzsche das bereits angeführte Loblied auf den ,deutschen Jüngling' folgen, das fast wortgleich in der Druckfassung der Tradem deutschen

gödienschrift begegnen

wird. Mit einer Ausnahme: Statt

vom

,deutschen Jüngling'

Ders., Beethoven, in: Ders., Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. IX, 4., Leipzig 1907, 126. Peter L. Rose, Richard Wagner und der Antisemitismus, Zürich, München 1999, 174ff.

Nietzsches Bildungsvorträge

von

45

1872

redet er nun von einer „heranwachsenden Generation mit dieser Unerschrockenheit des Blicks" und vom „kühnen Schritt dieser Drachentödter" (KSA, GT, 1, 118f.), die beauftragt seien, für die „Wiedergeburt des deutschen Mythus" (ebd., 147) Sorge zu tragen, ein, wie in Rückerinnerung an das zu Nietzsches Ausdeutung der Prometheusfigur Gesagte zu ergänzen ist, gefährliches Vorhaben. Der Sache nach allerdings glaubte Nietzsche im Recht zu sein: „Ohne Mythus [...] geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab" (ebd., 145). Es ist dieses von Nietzsche hier erstmals aufgestellte Kultureinheitsideal, von dem ausgehend ihm „das regellose, von keinem heimischen Mythus gezügelte Schweifen der künstlerischen Phantasie" ebenso fraglich wird wie jedwede „Cultur, die keinen festen und heiligen Ursitz hat, sondern alle Möglichkeiten zu erschöpfen und von allen Culturen sich kümmerlich zu ernähren verurtheilt ist" (ebd., 146). Fraglich wird ihm von hier aus besehen auch „der mythenlose Mensch, ewig hungernd unter allen Vergangenheiten", notwendig erfolglos „grabend und wühlend nach Wurzeln", und dies irregeleitet durch ein historisch gerichtetes Bildungsstreben, das ihm, diesem nun erstmals als Historismusverächter auftretenden (ehemaligen) Altphilologen, die Quelle allen Übels zu sein scheint. Nietzsche jedenfalls ist sich in dieser Frage seiner Sache sicher: „Worauf weist das ungeheure historische Bedürfnis der unbefriedigten modernen Cultur, das Umsichsammeln zahlloser anderer Culturen, das verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht auf den Verlust des Mythus, auf den Verlust der mythischen Heimat, des mythischen Mutterschoosses?" (ebd., 146) Diesen Verlust abzugelten, ist das Ziel von Nietzsches Kulturkritik, die auf die Wiedergeburt des deutschen Mythus' setzt und dabei im Wesentlichen an Wagner denkt, wie insbesondere die Schlusspassage der Tragödienschrift deutlich macht, in der es vieldeutig heißt: „Glaube Niemand, dass der deutsche Geist seine mythische Heimat auf ewig verloren habe, wenn er so deutlich noch die Vogelstimmen versteht, die von jener Heimat erzählen. Eines Tages wird er sich wach finden, in aller Morgenfrische eines ungeheuren Schlafes: dann wird er die Drachen tödten, die tückischen Zwerge vernichten und Brünnhilde erwecken und Wotan's Speer selbst wird seinen Weg nicht hemmen können!" (ebd., 154) Wenige Zeilen später folgt im Stil einer Geheimbotschaft für Wagner und die Wagnerianer („Meine Freunde, ihr, die ihr an die dionysische Musik glaubt"): „Das Schmerzlichste aber ist für uns alle die lange Entwürdigung, unter der der deutsche Genius, entfremdet von Haus und Heimat, im Dienst tückischer Zwerge lebte. Ihr versteht das Wort wie ihr auch, zum Schluss, meine Hoffnungen verstehen werdet" (ebd.). Für den Eingeweihten war so erkennbar, dass er sein Einverständnis mit Wagners Absicht bekundete, den Ring des Nibelungen als Moritat auf die Unterdrückung des ,deutschen Genius' Siegfried durch die als Judenkarikaturen angelegten .tückischen Zwerge' Mime und Alberich aufzubereiten. ,

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Offener zu reden, und dies zumal nach außen hin, schien im Wagnerkreis nicht opportun. Dies hatte Nietzsche schon im Zusammenhang seines Vortrages Socrates und die Tragödie erfahren müssen, den er am 1. Februar 1870 in Basel gehalten hatte und den er an sich mit einer Invektive gegen die Jüdische Presse" (KSA, NF, 14, 101) ausklingen lassen wollte. Nietzsche sah sich gehalten, diese Passage zu streichen, nach-

Christian Niemeyer

46

dem sie in Tribschen taktische Bedenken ausgelöst hatte. Cosima hatte Nietzsche unter dem Datum des 5. Februar 1870 im Stil einer ,mütterlichen Bitte' wissen lassen: „Nennen Sie die Juden nicht, und namentlich nicht en passant; später wenn Sie den grauenhaften Kampf aufnehmen wollen, in Gottes Namen, aber von vornherein nicht [...]. Sie misverstehen mich hoffentlich nicht; dass im Grunde der Seele ich Ihrem Ausspruch beistimme, werden sie wissen; allein jetzt noch nicht und nicht so; ich sehe förmlich das Heer von Mißverständnissen das sich um sie aufwirbelt" (KGB, II/2, 140). Die Bereitwilligkeit, mit der Nietzsche die derart inkriminierte Passage unterdrückte, bezeugt ebenso seine Stellung als kritiklos Verehrender wie der Umstand, dass er in einem Anfang 1871 verfassten Fragment einer erweiterten Form der, Geburt der Tragödie zwar Klartext sprach, diesen aber zu veröffentlichen sich scheute. Aufschlussreich sind dabei die Einzelheiten. Dieses Fragment schliesst unmittelbar an das im Juli 1870 entstandene Manuskript Die Geburt des tragischen Gedankens an, welches er Ende Dezember als Geburtstagsgeschenk für Cosima mit nach Tribschen brachte, wo es Wagner am Abend des 2. Weihnachtstages dem versammelten Triumvirat feierlich vorlas. Wagners Begeisterung über Nietzsches Text war offenbar auch motiviert durch dessen Anschlussfähigkeit im Blick auf das eigene Konzept. Die Folgen dessen sowie die Wirkungen der dem angeschlossenen zahlreichen Gespräche, Nietzsche blieb noch bis Neujahr in Tribschen, lassen sich bald studieren: Nietzsche, zurück in Basel, ergänzte Cosimas Geburtstagsgeschenk durch eben jenes Fragment einer erweiterten Form der Geburt der Tragödie ', das sich, bei Lichte betrachtet, als das sicherlich skandalträchtigste Fundstück aus der im Wesentlichen aus den Beständen Wagners bestückten Waffenkammer des frühen Nietzsche erweist. Nicht nur, dass Nietzsche hier zu Felde zog gegen die „Verbreitung der liberal-optimistischen Weltanschauung, welche ihre Wurzel in den Lehren der französischen Aufklärung und Revolution d.h. in einer gänzlich ungermanischen, acht romanisch flachen Philosophie hat" (KSA, NF, 7, 346), nein, schlimmer noch: Nietzsche hielt es auch für ausgemacht, dass gelegentlich „der Krieg für den Staat eine ebensolche Nothwendigkeit ist wie der Sklave für die Gesellschaft" (ebd., 347), und zwar dies vor allem im Blick auf,jene wahrhaft internationalen heimatlosen Geldeinsiedler [...], die [...] es gelernt haben, die Politik zum Mittel der Börse und Staat wie Gesellschaft als Bereicherungsapparate ihrer selbst zu mißbrauchen" (ebd.). Dass er diese „kaum verschlüsseltet...] Kriegserklärung an das ,internationale' Judentum"24 nicht in die Tragödienschrift übernahm, ehrt ihn zwar, wenngleich man dies wohl nur als Folge jener ihm von Cosima schon im Februar 1870 übermittelten Klugheitserwägung wird deuten dürfen. Etwas komplizierter verhält es sich mit dem Umstand, dass er diesen Passus gleichwohl fast wortgleich in eine jener Cosima zu Weihnachten 1872 vermachten Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern übernahm. Denn dies spricht für beides: dafür, dass Nietzsche seinem Erstling nicht unnötig Brisanz verleihen wollte; sowie dafür, dass er sichergestellt wissen wollte, dass man in Bayreuth gleichsam letztmalig darum wusste, wie sehr er sich noch seiner '

,

Weihnachten 1870 in Tribschen empfangenen Zentrallektion erinnerte.

Joachim Köhler, Friedrich Nietzsche und Cosima

Wagner, Berlin 1996, 91.

Nietzsches Bildungsvorträge von 1872

47

III. Verbleibende Irritationen

Auffällig ist allerdings, dass Nietzsche nicht nur die Bildungsvorträge nicht in Druck gab, sondern dasjenige, was er in dieser Angelegenheit noch zu Papier brachte, überaus blass blieb. So findet sich in einem Cosima Weihnachten 1872 vermachten und gleichfalls nicht publizierten Text mit dem Titel Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern auch eine, unter der Überschrift Gedanken über die Zukunft unserer Bildungsanstalten, die man als endgültigen Nekrolog auf diese Bildungsvorträge lesen kann.

Geboten werden letztlich nur Banalitäten der Art, dass der Leser „ohne Hast" lesen müsse und „nicht immer sich selbst und seine ,Bildung' dazwischen bringen" (KSA, CV, 1, 761) dürfe: Sätze, die deutlich machen, dass Nietzsche die Lust am Stoff verloren hat. Im Blick auf die Gründe hierfür ist vor allem auf Paul de Lagarde zu verweisen, der allein deswegen schon entgegen von Solzbachers eingangs angeführter Behauptung nicht als Quelle für Nietzsches Bildungsvorträge in Frage kommen kann, weil er sich erst nach deren Fertigstellung über die von Nietzsche erörterte Thematik äußerte. Immerhin nahm auch Lagarde in einem Anfang 1873 veröffentlichten Text das von Nietzsche problematisierte Berechtigungswesen zum Anlass scharfer Kritik und brachte es in Verbindung mit der zunehmenden Gleichgültigkeit der Jugend gegenüber nicht unmittelbar verwertbaren Wissensbeständen sowie mit dem damit im Zusammenhang stehenden Verfall der Overbeck, der seit 1864 mit Lagarde korrespondierte, machte Nietzsche mit diesem Text bekannt und teilte Lagarde Anfang Februar 1873 mit, er habe mit Nietzsche „kaum einmal in der Literatur des Tages so viel Anklänge gefunden" als in Bezug auf Lagardes Bemerkungen über „die Frage der heutigen Bildung", und er, Nietzsche, werde „uns" über Bildungsfragen „gewiss noch sehr schöne und beherzigenswerthe Dinge eine Prognose, mit der Overbeck danebenlag: Nietzsche, darf man vermuten27, verzichtete auf den Druck der Bildungsvorträge, weil er sie zunehmend als das zu lesen lernte, was er im Januar 1873 gegenüber Rohde über Lagardes Text meinte: als eine Schrift, „die 50 Dinge falsch, 50 Dinge wahr und richtig

Bildungsidee.25

sagen"26,

sagt" (KSB, 4, 121).

Aufschlussreich sind die Details: Nietzsche berichtete Wagner im April 1873 in Bayreuth von Lagarde und übersandte wenig später sogar dessen Schrift (KSB, 4, 145). Das Ergebnis war, wie von Nietzsche offenbar erwünscht: Wagner reagierte zunächst nicht weiter auf Lagarde und zeigte damit, dass sich Nietzsche seiner Rolle als bildungs- und kulturtheoretischer Chefideologe im Hause Wagner sicher sein konnte. Gut drei Jahre später allerdings, als Lagarde, diesmal aufgefordert und protegiert durch Overbeck, in Bayreuth in Erscheinung trat, war der Erfolg ein ganz anderer. Cosima jedenfalls gePaul de Lagarde, Über das Verhältnis des deutschen Staates zu Theologie, Kirche und Religion, in: Ders.: Deutsche Schriften, Göttingen 41903, 70ff. Nikiaus Peter, Andreas Urs Sommer (Hg.), Franz Overbecks Briefwechsel mit Paul de Lagarde, in: Zeitschrift für Neuere Theologiegeschichte, 3 (1996), 143. Vgl. hierzu sowie zum Folgenden auch Christian Niemeyer, Nietzsches Vorträge Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten im Kontext. Kritische Anmerlungen aus rezeptionsgeschichtlicher Perspektive mit Schwerpunkt auf Wagner, Lagarde und Langbehn, in: D. Hoffmann, (Hg.), Rekonstruktion und Revision des Bildungsbegriffs, Weinheim 1999. ,

'

Christian Niemeyer

48

um sich bei einem Gleichgesinnten heimisch zu fühlen. Entsprechend schloss sie eine gemeinsam mit Wagner absolvierte abendliche Lektüre Lagardes am 20. Januar 1876 mit der Tagebuchnotiz ab: „Immer mehr bedenken wir, R. und ich, die Erziehungsfrage; Gedanken der Errichtung einer Musterschule, mit Nietzsche, Rhode, Overbeck, Lagarde." Nietzsche, so sah es aus, war aus Bayreuther Sicht allenfalls noch ein primus inter pares. Und demjenigen (Lagarde), der ihm seinen bevorzugten Rang streitig zu machen im Begriff stand, hatte er selbst noch in das zunehmend in gefährliche Fahrwasser abdriftende Boot Wagners hinein geholfen. Hans v. Wolzogen, der von Wagner als Ersatz für Nietzsche berufene Redakteur der Bayreuther Blätter, hat denn auch Lagarde im Juli 1877 mittels eines Briefes an den seit Oktober 1875 mit Lagarde befreundeten Wagnerianer (und späteren Lagarde-Biographen) Ludwig Schemann als Teil jenes mit diesem Blatt zu organisierenden geheimbündlerischen Ordens anzuwerben versucht. Nietzsche brauchte einige Zeit, um Einblick in diese Zusammenhänge zu gewinnen und seinen Gegensatz zu Wagner und Lagarde zu finden. Was Wagner angeht, stand ihm dessen Problematik spätestens ab Sommer 1876 außer Frage, bei Lagarde benötigte er etwas länger. Erst nachdem 1886 Lagardes Aufsatzsammlung Deutsche Schriften erschienen war, stand für ihn fest: „man muß schon bis zum letzten Wagner und seinen Bayreuther Blättern hinuntersteigen, um einem ähnlichen Sumpf von Anmaaßung, Unklarheit und Deutschtümelei zu begegnen, wie es die (Lagardes; d. Verf.) Reden an die D N sind" (KSA, NF, 12, 55). Dieses Urteil stellt klar, dass Nietzsche einerseits sowie Wagner und Lagarde andererseits als Antipoden zu sehen sind bzw. sich in solche gewandelt haben, und zwar ausgehend von anfänglichen Übereinstimmungen, wie sie sich in seinen Bildungsvorträgen dokumentieren. Dass er die Vorträge nicht mehr publizierte, könnte man als allererstes Indiz für diese Distanz nach beiden Seiten hin lesen. Daraus allerdings folgt wiederum nicht, Nietzsche habe keine seiner Positionen aus den Bildungsvorträgen beibehalten. So haben wir es kaum mit mehr zu tun als mit einer Fortschreibung der in den Bildungsvorträgen geübten Bildungs- und Kulturkritik, wenn er in seiner Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung Vom Nutzen und Nachtteil der Historie für das Leben (1874) „unsere jetzigen Litteraten, Volksmänner, Beamte, Politiker" nicht als „Menschen" gelten lassen will, sondern nur als „historische Bildungsgebilde, ganz und gar Bildung, Bild, Form ohne nachweisbaren Inhalt, leider nur schlechte Form und überdies Uniform" (KSA, HL, 1, 283). Auf der nämlichen Seite zieht Nietzsche über „kleine vorlaute Burschen" her, die „mit den Römern umgehen als wären diese ihresgleichen" (ebd.). Zwei Seiten darauf müssen die „Kritiker" dran glauben, deren „historische Bildung" es gar nicht mehr erlaube, „dass es zu einer Wirkung [...] auf Leben und Handeln komme" (ebd., 285). Noch ein paar Seiten weiter scheint er gänzlich im Themenumfeld seiner Bildungsvorträge angekommen. Er kritisiert nun und insoweit erneut, dass die Menschen zu den „Zwecken der Zeit" abgerichtet werden; dass sie „in der Fabrik der allgemeinen Utilitäten arbeiten (sollen), bevor sie reif sind, ja damit sie gar nicht mehr reif werden weil dies ein Luxus ist, der ,dem Arbeitsmarkte' eine Menge von Kraft entziehen würde" (ebd., 299). Kaum neu scheint auch die Ausdehnung dieser Kritik auf den Bereich der „wissenschaftlichen Fabrik", in der die

nügte das Gelesene,

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Cosima

Wagner, Die Tagebücher, Band II, München, Zürich 1976, 966.

Nietzsches

Bildungsvorträge von 1872

49

Nachwuchskräfte, die „nutzbar werden sollen, bevor sie reif sind" (ebd., 300), in Kürze

die Wissenschaft selbst ruinieren würden. Fast in eigener Sache klagend, fügt Nietzsche bitter-böse an: „Die Kärrner haben unter sich einen Arbeitsvertrag gemacht und das Genie als überflüssig decretirt dadurch dass jeder Kärrner zum Genie umgestempelt wird" (ebd., 301). Gewiss: All dies liest sich recht vergnüglich. Die Frage aber bleibt, ob das, was Nietzsche als Therapeutikum in Vorrat hält, wirklich weiterhilft. Denn wieder einmal, so will es scheinen, redet er den „höchsten Exemplaren" und einer neuen Zeit das Wort, „in welcher man überhaupt nicht mehr die Massen betrachtet, sondern wieder die Einzelnen, die eine Art von Brücke über den wüsten Strom des Werdens bilden" (ebd., 317). Wenige Zeilen später versteigt sich er gar zu einem Ausblick auf eine „GenialenRepublik, von der einmal Schopenhauer erzählt; ein Riese ruft dem andern durch die öden Zwischenräume der Zeiten zu, und ungestört durch muthwilliges lärmendes Gezwerge, welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das hohe Geistergespräch fort" (ebd.). Diesem Lob des Einzelnen korrespondiert eine Verachtung der Massen unter den Vorzeichen, dass diese, wie die Statistik belege, den „Schwerkräfte(n) Dummheit, Nachäfferei, Liebe und Hunger" (ebd., 320) gleichsam gesetzmäßig unterliege. Er resümiert: „Die Massen scheinen mir nur in dreierlei Hinsicht einen Blick zu verdienen: einmal als verschwimmende Copien der grossen Männer, auf schlechtem Papier und mit abgenutzten Platten hergestellt, sodann als Widerstand gegen die Grossen und endlich als Werkzeuge der Grossen; im Uebrigen hole sie der Teufel und die Statistik!" (ebd.). Nietzsche, so scheint es, will mit derlei Überlegungen seinen Ruf als gleichermaßen anti-egalitärer wie elitärer Bildungsphilosoph, den er sich mit seinen unveröffentlicht gebliebenen Bildungsvorträgen zumindest in der Optik des Baseler Hochschulpublikums redlich erarbeitet hatte, gleichsam offiziell dokumentieren. Aber man muss hier vorsichtig sein. Man darf Nietzsches Historienschrift nicht nur von den Bildungsvorträgen ausgehend lesen, sondern auch von der ersten Unzeitgemässen Betrachtung her. Tut man dies, stellt man als erstes fest, dass auch dem Leser der Historienschrift der Grundgedanke aus David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller begegnet, also die These von der notwendigen „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes" (ebd., 274). Dem folgt nun, in der Historienschrift, als gelte es, die Dringlichkeit der Forderung nach Stileinheit zu unterstreichen: „Man durchwandere eine deutsche Stadt alle Convention, verglichen mit der nationalen Eigenart ausländischer Städte, zeigt sich im Negativen, alles ist farblos, abgebraucht, schlecht copirt, nachlässig, jeder treibt es nach seinem Belieben, aber nicht nach einem kräftigen, gedankenreichen Belieben, sondern nach den Gesetzen, die einmal die allgemeine Hast und sodann die allgemeine Bequemlichkeits-Sucht vorschreiben" (ebd., 275). Folgen zeigte derlei Rede vor allem im »Dritten Reich', als man daran ging, Nietzsche als geistigen Führer zu einer nicht-,entarteten' deutschen Einheitskultur -

-

in

Anspruch zu nehmen.2

Vgl. Christian Niemeyer, Nietzsche,

die Jugend und die Pädagogik, 210.

Christian Niemeyer

50

Dabei gilt es allerdings zu beachten, dass sich derlei Indienstnahme Nietzsches nur auf einen Teilaspekt der Historienschrift berufen darf30, denn die Stileinheitsthese, mit ihr auch die Vokabel ,Volk', tritt im Verlauf dieser Schrift zunehmend in den Hintergrund. Nur ganz zu Anfang spielt sie eine tragende Rolle, etwa wenn Nietzsche von der, notwendig zu steigernden, ,,plastische[n] Kraft eines Menschen, eines Volkes, einer Cultur" spricht, „aus sich heraus eigenartig zu wachsen, Vergangenes und Fremdes umzubilden und einzuverleiben, Wunden auszuheilen, Verlorenes zu ersetzen, zerbrochene Formen aus sich nachzuformen" (ebd., 251). Dies klingt so, als gäbe es das Ganze eines spezifisch deutschen Kulturvermächtnisses und eine darauf bezügliche Selbstheilungskraft, gründend in einem spezifisch deutschen Kulturschaffen, zumal dem nachfolgt: ,jedes Lebendige kann nur innerhalb eines Horizontes gesund, stark und fruchtbar werden; ist es unvermögend einen Horizont um sich zu ziehen [...], so siecht es matt oder hastig zu zeitigem Untergang dahin" (ebd.). Auffällig ist: Nietzsche eröffnet diesen Satz nicht mit den Worten ,das Deutsche' was notwendig gewesen wäre, wenn er vollständig im Geiste Wagners hätte argumentieren wollen. Er nutzt vielmehr die Vokabel jedes Lebendige', und muss dies auch tun, weil er ein „allgemeines Gesetz" (ebd.) zu verkünden sich anheischig macht. Über den Sinn dieses Gesetzes und die Triftigkeit der, letztlich auf den .deutschen Volkskörper' gerichteten, Organismusvorstellung, die ihm unterliegt, kann trefflich gestritten werden. Nicht gestritten werden kann aber darüber, dass die hier in Rede stehende Denkfigur in der Historienschrift randständig bleibt, weitergehender gesprochen: dass sich in Nietzsches Hintanstellung der Vokabel ,das Deutsche' ein Paradigmenwechsel ankündigt, den man vielleicht in zwei Punkten auf den Begriff bringen kann: 1) Es geht Nietzsche in der Historienschrift nicht mehr primär um Einheitsstiftung qua Rückbesinnung auf deutsche ,Mythen' im Sinne etwa von Wagners Beethoven und unter Anknüpfung an die Tragödienschrift. 2) Auch die Idee der Einheitsstiftung im Sinne eines künftigen, spezifisch deutschen Kulturschaffens, verkörpert im Gegentypus zu Strauss, dem ,Bildungsphilister', hat weitgehend ausgespielt. Ersatzweise erprobt er eine neue Kontextualisierung des in Rede stehenden Problems, gründend in der These, dass „der Deutsche keine Cultur hat, weil er sie auf Grund seiner Erziehung gar nicht haben kann" (ebd., 328). Dies klingt auf den ersten Blick vergleichsweise schlicht und unspektakulär, aber man sollte den programmatischen, vor allem den proklamatorischen Charakter dieses Satzes nicht ignorieren: Erst mit ihm bringt sich Nietzsche offiziell als Erziehungs- und Bildungskritiker und nicht lediglich als Propagandist einer endlich in ihr Recht einzusetzenden ,deutschen Leitkultur' à la Wagner zur Anzeige. Die Folgen dessen liegen auf der Hand: Sehr viel genauer als in allen vorhergehenden Arbeiten sucht er in der Historienschrift zu bestimmen, was es mit der deutschen Erziehung (und Bildung) und vor allem mit deren Defiziten auf sich hat und wie man diesen abhelfen kann. Dies geschieht unter Konzentration auf ein Feld, das Nietzsche, -

diesem der Schule Ritschis entstammenden Altphilologen, wohlvertraut ist und für das er, in seiner Eigenschaft als Altphilologiekritiker, neue Optionen meint freilegen zu

Vgl. Ders., Nietzsches Zweite Unzeitgemäße Betrachtung Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben im Kontext, Ein Deutungsversuch aus pädagogischer Sicht, in: Vierteljahrschriftfür Wissenschaftliche Pädagogik 80 (2004). ,

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Nietzsches Bildungsvorträge

von

1872

51

können: im Blick auf eine Neubegründung der Historie. Thema ist weiterhin die „Vernichtung der modernen Gebildetheit (Strauss C.N.) zu Gunsten einer wahren Bildung", dies aber unter Konzentration auf die Frage, wie die „durch Historie gestörte Gesundheit eines Volkes" (ebd., 275) wiederhergestellt werden kann. Allerdings hat sich der Ansatz ein wenig verschoben: Nicht mehr, noch einmal seien die von Wagner herrührenden Metaphern bemüht, um den Gegensatz zwischen den ausbeuterischen' (und nur in Grenzen produktiven') „Romanen" sowie dem schöpferischen' (wenngleich teilweise epigonalen) „deutschen Jüngling" ist es Nietzsche primär zu tun. Es geht ihm vielmehr um ,die' Jugend selbst, also um die Rehabilitierung ihrer „stärksten Instincte [...]: Feuer, Trotz, Selbstvergessen und Liebe [...], die Hitze ihres Rechtsgefühles [...], die Begierde langsam auszureifen [...], die Ehrlichkeit und Keckheit der Empfindung" (ebd., 323). Es geht Nietzsche darum, all dies gegenüber der potentiell gleichermaßen lebens- wie volksgesundheitszerstörenden Wirkung von Historie zur Geltung zu bringen. Diese Thematik begegnet auch noch in der im September 1888 abgeschlossenen Götzen-Dämmerung. So meint Nietzsche hier im Rahmen einer vehementen Kritik an der damaligen Bildungsdebatte und so, als wolle er seine Bildungs- und Kulturkritik von 1872 aktualisieren: „unsre ,höheren' Schulen sind allesammt auf die zweideutigste Mittelmässigkeit eingerichtet, mit Lehrern, mit Lehrplänen, mit Lehrzielen. Und überall herrscht eine unanständige Hast, wie als ob etwas versäumt wäre, wenn der junge Mann mit 23 Jahren noch nicht ,fertig' ist, noch nicht Antwort weiss auf die .Hauptfrage': welchen Beruf? Eine höhere Art Mensch, mit Verlaub gesagt, liebt nicht ,Berufe', Sie hat Zeit, sie nimmt sich Zeit, sie denkt genau deshalb, weil sie sich berufen weiß nicht mit zu daran,,fertig' werden, dreissig Jahren ist man, im Sinne hoher Cultur, gar ein Anfänger, ein Kind" (KSA, GD, 6, 108). Nietzsche, so macht zumal der letzte Satz deutlich, spricht hier auch von sich, also davon, dass er erst mit seiner im Alter von dreißig Jahren anhebenden Loslösung von Wagner reif zu werden begann für das, was ihm nun zunehmend als seine ,hohe Kultur' galt. Das bildungskritische Zentralargument Nietzsches korrespondiert aber nach wie vor jenem der Bildungsvorträge von 1872, wie das folgende Zitat belegt: „Dem ganzen höheren Erziehungswesen in Deutschland ist die Hauptsache abhanden gekommen: Zweck sowohl als Mittel zum Zweck. Dass Erziehung, Bildung selbst Zweck ist und nicht ,das Reich' -, dass es zu diesem Zweck der Erzieher bedarf und nicht der Gymnasiallehrer und der Universitäts-Gelehrten man vergass das ..." (ebd., 107). Wenige Zeilen später folgt, wieder in deutlicher Anknüpfung an die schon in den Bildungsvorträgen von 1872 eingenommene Sicht der Dinge: „Jede höhere Erziehung gehört nur den Ausnahmen: man muss privilegirt sein, um ein Recht auf ein so hohes Privilegium zu haben. Alle grosssen, alle schönen Dinge können nie Gemeingut sein [...]. Was bedingt den Niedergang der deutschen Cultur? Dass ,höhere Erziehung' kein Vorrecht mehr ist der Demokratismus -

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der allgemeinen', der gemein gewordnen ,Bildung' Nicht zu vergessen, dass militärische Privilegien den Zu- Viel-Besuch der höheren Schulen, das heisst ihren Untergang, förmlich erzwingen" (ebd., 107f.). Wir sehen also: Die Themen des Jahres 1888 sind jene des Jahres 1872, abgesehen von der kulturpolitischen Sendung Wagners, der Nietzsche nun, 1888, nicht mehr folgt. -

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52

Christian Niemeyer

Umkehrung gesprochen: Nicht alles, aber vieles an der frühen Bildungs- und Kulturkritik Nietzsches erweckt der Eindruck, als habe er seinen Auftrag darin erblickt, Loyalität gegenüber Wagner zu signalisieren und Kulturwidriges aus der „Bahn des Genius" (KSA, NF, 7, 356), den er in Wagner verehrte, zu räumen. Insoweit kann, was diese Phase angeht, von einer in der Hauptsache rhetorischen Bildungs- und Kulturkritik gesprochen werden, die ihrerseits in manchen Teilen allerdings noch im Spätwerk von Bedeutung bleibt und mithin die tatsächliche Meinung auch schon des frühen Nietzsche wiedergibt. In der

Resümee Nietzsche zog mit seinen Vorträgen Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten die Bilanz aus seinen eigenen Bildungserfahrungen. Zugleich wollte er die kultur- und bildungspolitische Absicht, die er in der Geburt der Tragödie nur angedeutet hatte, deutlicher markieren. Dass er mit dem Ergebnis nicht zufrieden war, belegen zwei Briefe vom Ende 1872, in welchen es in durchaus realistischer Selbsteinschätzung heißt, seine Vorträge sollten nicht gedruckt werden, weil sie „nicht genug in die Tiefe" (KSB, 4, 83) gingen und der Leser der Weitschweifigkeit des Textes wegen einen „trockenen Hals" bei der Lektüre „und zuletzt nichts zu trinken" (ebd., 104) bekomme. Aus heutiger Perspektive erweisen sich die Bildungsvorträge als fragwürdiges Dokument eines gleichermaßen demokratiefeindlichen und deutschtümelnden Autors, der als elitärer Bildungsphilosoph im Wagner-Umfeld Furore machen wollte und der insofern seine Zeit gehabt hat und für die Zwecke der (Gegenwarts-)Pädagogik nicht in Betracht kommt. Auszunehmen sind von diesem Verdikt allenfalls Einzelaussagen aus diesem Text, etwa solche zur Kritik der (Alt-)Philologie sowie ihrer Didaktik, aber auch Nietzsches Versuch der Rehabilitierung des Anspruchs der Philosophie als Teil der Allgemeinbildung, die dem Leser in der Götzen-Dämmerung wieder begegnen wird. Zu beachten bleibt, ob und in welchem Ausmaß in den Bildungsvorträgen Nietzsche redet oder nur bzw. in der Hauptsache Wagner, dessen kultur- und bildungspolitisches Programm, langfristig gesehen, sehr viel eher mit jenem Lagardes als mit jenem Nietzsches übereinstimmt. Diese in der pädagogischen Rezeption Nietzsches bis auf den heutigen Tag zumeist übersehenen oder gar ignorierten Zusammenhänge sowie Nietzsches abschätzige Urteile über seine Bildungsvorträge und deren Veröffentlichungswert müssen jedenfalls beachtet werden, wenn man nicht Legendenbildungen Vorschub leisten will.

Christiane Thompson / Gabriele Weiss

Das

Bildungsgeheimnis

Herausforderung und Zumutung der Lektüre von Nietzsches Bildungsvorträgen

,,[N]ur vor solchen Zuhörern werde ich mich, bei der Größe der

Aufgabe und der Kürze der Zeit verständlich machen können wenn sie nämlich sofort errathen, was nur angedeutet werden konnte, ergänzen, was verschwiegen werden mußte, wenn sie überhaupt nur erinnert zu werden, nicht belehrt zu werden

-

brauchen"

KSA, BA, 1, 644

Friedrich Nietzsches Vorträge Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten, gehalten 1872 in Basel, gehören zu den aus erziehungswissenschaftlicher Sicht viel beachteten Äußerungen Nietzsches. Neuere Analysen zeigen, wie die vornehmlich auf die Bildungsvorträge begrenzte pädagogische Rezeption Nietzsches durch die jeweiligen Deutungshorizonte der Rezipienten (z.B. im Kontext der Jugendbewegung oder des Nationalsozialismus) bestimmt ist und damit ein Ausblenden der spezifisch systematischen und biographischen Entstehungskonstellation der so genannten Basler Vorträge einhergeht. Für eine Interpretation, die sich ihrer Herangehensweise an Nietzsches Vorträge versichern will, ergeben sich weitere Hindernisse aufgrund der Tatsache, dass Nietzsche von der Publikation der Vorträge nach anfänglichem Enthusiasmus bald abgesehen hat, und ihm der Druck der Vorträge „unmöglich" erschien (KSB, 3, 83). Verunsichernd ist ebenfalls der vorzeitige Abbruch der Vortragsreihe und des Projekts in seiner Entschlossenheit und Systematik. Das obige Zitat aus der nachträglich angefügten Einleitung zu den Vorträgen verweist auf ein weiteres Problem verlässlicher Textinterpretation: Nietzsche spricht u.a.

Vgl. Christian Niemeyer, Nietzsches Vorträge Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten im Kontext. Kritische Anmerkungen aus rezeptionsgeschichtlicher Perspektive mit Schwerpunkt auf Wagner, Lagarde und Langbehn, in: Rekonstruktion und Revision des Bildungsbegriffs. Vorschläge zu seiner Modernisierung, hg. von Dietrich Hoffmann, Weinheim 1999; Ders., Wie wurde mit Nietzsche im 20. Jahrhundert Bildungspolitik gemacht? Ein Rückblick aufgut einhundert Jahre Rezeptionsgeschichte, in: Nietzscheforschung 7, Berlin 2000; Timo Hoyer, Nietzsche und die Pädagogik. Werk, Biografíe, und Rezeption, Würzburg 2002. "



Christiane

54

Thompson / Gabriele Weiß

angesichts der Größe der Aufgabe, die er sich gestellt hat, davon, dass der Leser zum Raten aufgefordert ist, dass er mit dem Schweigen umgehen muss und schließlich das Gesagte, sich erinnernd, in einen Bezug zu sich selbst zu bringen hat. Besonders die Notwendigkeit des Verschweigens' erregt die Aufmerksamkeit des Lesers: Wie ist es zu verstehen, dass das zu Sagende nicht durch das Gesagte eingeholt ist, dass, mit anderen Worten, das Ungesagte gegenüber dem Gesagten eine Bedeutsamkeit beansprucht, auf die der Leser einzugehen hat? Dass Nietzsche in seinen Vorträgen nicht auf Belehrung setzen kann oder will, lässt sich als Hinweis auf ein eigentümliches Verhältnis

zwischen Nietzsche und seinen Zuhörern bzw. Lesern verstehen, welches genauer zu betrachten sein wird. Die Vorträge Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten richten sich nicht als Expertenaussage, d.h. mit dem Anspruch fachlicher Autorität, an eine zu informierende Allgemeinheit. Ohne an dieser Stelle späteren Erörterungen vorzugreifen, kann die Plausibilität einer solchen Lesart an Nietzsches vorsichtiger Selbstverständigung und Inszenierung der Vorträge aufgewiesen bzw. erprobt werden. In einer solchen Interpretation spiegelt sich im Verhältnis zwischen Nietzsche und seinen Lesern die Bildungsproblematik selbst: In Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten geht es um nichts anderes als die Fragen nach der (Un-)Wirklichkeit und der Möglichkeit von Bildung. Dass die zeitgemäßen Bildungsanstalten keine sind und wie bzw. ob überhaupt eine Zukunft der Bildung gedacht werden kann, lässt die Angesprochenen mit ihren je eigenen Bildungsvorstellungen nicht unberührt; denn die aufgeworfenen Fragen betreffen das Verständnis der eigenen Bildung, d.h. der Bildung der Leser ebenso wie derjenigen Bildung, die Nietzsche meint, für sich selbst beanspruchen zu können. Aus diesem Grund wirkt sich die Bildungsproblematik auch auf die Beziehung Nietzsches zu seinen Lesern aus, wie sich bereits in Nietzsches Ablehnung gegenüber Belehrung angedeutet hat. Der Leser ist jedenfalls auf seine Erinnerung angewiesen, damit ihm die Vorträge verständlich werden können, was wir als Hinweis begreifen, dass die Vorträge dem Leser nur etwas sagen, wenn er selbst etwas dazu zu sagen hat. Und je nachdem, was er dazu zu sagen hat, werden ihm die Vorträge anderes sagen. Als konsequenter wiewohl gewagter Leitgedanke der hier versuchten Lesart wird angenommen, dass Nietzsches Fragen nach den Wirklichkeits- und Möglichkeitsdimensionen der Bildung als die Aufgabe des Lesers der Bildungsvorträge zu denken ist. Gewagt ist diese These in zumindest zweifacher Hinsicht: Die These relativiert zum ersten bestimmte inhaltliche Aussagen und historische Hintergründe der Vorträge, da sie die Vorträge nicht in intentione recta betrachtet, diese mithin nicht vornehmlich als von Nietzsche vertretene Aussagen untersucht. Sie löst sich zweitens von einer philologisch oder biographisch gestützten Deutungsabsicht. Der anvisierte Umgang mit Nietzsches Vorträgen im Sinne eines Versuchs beinhaltet ein Abrücken von der Dimension interpretatorischer Verlässlichkeit. Entsprechend der Forderung nachzudenken, anstatt Standpunkte zu belegen (vgl. KSA, BA, 1, 658), wird die folgende Beschäftigung mit Nietzsches Bildungsvorträgen unter die Maßgaben von Offenheit und Irritation gestellt. Wir '

analysieren

mit anderen Worten den Text auf eine

geforderte

Produktivität des

Folgenden sprechen wir von Nietzsche auch als ,Autor', selbst wenn diese Bestimmung gerade problematisiert werden soll, sowie von ,Lesern', da dies unseren heutigen Bezug zu Nietzsches Vorträgen darstellt. Im

Das Bildungsgeheimnis

55

Lesers hin und versuchen uns

an einer bildungstheoretischen Auslegung dieser Produktivität. Unser Vorhaben schließt eine gewisse Situierung zur jüngeren pädagogischen Nietzsche-Forschung ein, auf die an dieser Stelle kurz eingegangen werden soll. Christian Niemeyer, der ausführlich den historisch-biographischen Kontext der Bildungsvorträge analysiert hat, fragt, ob die ideengeschichtliche Forschung in der Pädagogik hinreichend historisch gestützt ist oder man „(nach wie vor) meint, sich [...] mit Hilfe textimmanenter Deutungsbemühungen [...] auf dem laufenden halten zu können."3 Dieser vor allem auf den geschichtlichen Hintergrund rekurrierenden Interpretationsmaßgabe steht eine Herangehensweise gegenüber, die dem Text als solchem eine Autorität gibt und ihn nach Maßgabe seiner inneren gedanklichen Systematik unter Berücksichtigung philosophischer Bezugskontexte (z.B. zu Arthur Schopenhauer) auslegt. Eine solche detaillierte Interpretation hat z.B. Torsten Schmidt-Millard 1982 vorgelegt.4 Wenn auch die Berechtigung und Bedeutung solcher Herangehensweisen nicht bestritten werden, so folgt der vorliegende Beitrag diesen Richtungen in ihrem Anspruch interpretatorischer Selbstversicherung durch Kontextualisierung nicht, sei diese historisch oder werksystematisch angelegt. Wenn es im Folgenden nicht um eine Verortung des Textes, sondern um dessen Öffnung im Nachdenken des Lesers geht, so ist damit zugleich eine Haltung zurückgewiesen, die einen späten ,authentischen' Nietzsche gegen den Nietzsche der Bildungsvorträge ausspielt.6 Unsere Herangehensweise sieht sich demgegenüber in Nähe zu Tobias Klass' und Rainer Kokemohrs bildungstheoretisch motivierter Auseinandersetzung mit dem Zarathustra.7 Nach ihrer Auffassung erscheint die nahe liegende Forderung einer unbefangenen Beschäftigung mit Nietzsches Texten aufgrund der dynamischen ,textuellen Praxis' in diesen unmöglich, zumindest problematisch. Nietzsches Texte verweigern sich einem scheinbar neutralen, wissenschaftlich distanzierten oder philologisch gesicherten Zugang. Klass und Kokemohr betonen dagegen die Bedeutung des Aufsprengens und der Dynamisierung in den Texten Nietzsches. Verstehen als ein produktiver Prozess erfordert dann das Einbringen

3

Christian Niemeyer, Nietzsches Vorträge Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten im Kontext, 53, Hervorh. i.O. Torsten Schmidt-Millard, Nietzsches Basler Vorträge Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten ": die Aporie der Bildungstheorie des Genius und ihre Überwindung in den Unzeitgemäßen Betrachtungen", (Diss.) Köln 1982. Einen interessanten Beitrag zur Reflexion historiographischer Forschung hat Johannes Bellmann vorgelegt, in dem die Probleme kontextanalytischer Zugänge präzise benannt werden. Johannes "



4



"



6



Bellmann, Kontextanalyse versus Applikationshermeneutik. Reflexionsprobleme pädagogischer Historiographie, in: Vierteljahrsschriftfür wissenschaftliche Pädagogik 80, 2004. So Christian Niemeyer, Nietzsches Vorträge Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten im "



Kontext, 71. Vgl. Tobias Klass, Rainer Kokemohr: „Man muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können" Bildungstheoretische Reflexionen im Anschluß an Nietzsches „Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen", in: Nietzsche in der Pädagogik? Beiträge zur Rezeption und Interpretation, hg. von Christian Niemeyer, Heiner Drerup, Jürgen Oelkers, Lorenz von Pogrell, Weinheim 1999. -

Christiane

56

Thompson / Gabriele Weiß

eines systematischen Zentrums und muss dabei ausblenden, dass dieses Zentrum kein verankertes Fundament hat und sich selbst Im Bewusstsein eines solchen bewegten Zentrums verschiebt sich die Aufmerksamkeit von einem bestehenden Gehalt zum von Nietzsche selbst geforderten Umgang des Lesers mit dem, was uns in seinen Texten zugemutet wird. Die Zumutung der Bildungsvorträge liegt unserer Auffassung nach in der Irritation, der Unsicherheit bzw. Täuschung des Lesers hinsichtlich seiner eigenen Bildung und seines Verständnisses von Bildung. Der Leser verliert seine Standpunkte zur Bildung (vgl. KSA, BA, 1, 650) und damit einen verlässlichen systematischen Zugriff auf die Vorträge. Zugleich entzieht Nietzsche dem Leser die Möglichkeit, sich und seine Bildung zu verorten, dies bereits aufgrund der Aufteilung von Inhalten und Ideen auf verschiedene Teilnehmer am dargestellten Gespräch, das sich zu Nietzsches Studienzeit in Bonn abgespielt haben soll. Angesichts dieser doppelten Verunsicherung geraten die verwendeten Begriffe und dargelegten Sachverhalte in Bewegung, so dass Vordergründiges und Hintergründiges nicht mehr voneinander geschieden werden können.10 Der erste Teil dieses Beitrags beschäftigt sich aus diesem Grund mit der Bedeutung von Nietzsches Bildungskritik, die wir für grundsätzlich halten: Das Problem besteht gerade darin, wahre und scheinbare Bildung nicht voneinander unterscheiden zu können. Im zweiten Teil zeigen wir, wie diese Ununterscheidbarkeit aufgrund der Inszenierung im Text zur Bildungsaufgabe des Lesers wird, sich mit der Täuschung seiner eigenen Bildung auseinander zu setzen. Das prekäre Verhältnis von Bildung und Pseudobildung verweist drittens auf eine andere Auslegung des so genannten ,Bildungsgeheimnisses', welches häufig in einem elitären Sinn gelesen wird. Erprobt werden soll, ob mit diesem Geheimnis, dass die meisten nach Bildung streben, die wenigsten es aber mit der Bildung zu tun bekommen, aufgrund der Ununterscheidbarkeit von Wahrheit und Täuschung der Bildung ein aporetisch-kritischer Zug der Bildung einbehalten bleibt.

bewegt.8

I. Die

Bedeutung von Nietzsches Bildungskritik

Ein für die Bildungsfrage bedeutsamer Ausgangspunkt ist Nietzsches Bildungskritik, welche die Vorträge von ihrem Anfang, an dem die allgemeinen Bildungstendenzen der Zeit zur Sprache kommen, bis zum Ende, wo die Kritik in einer Analyse der Bildung an 8

10

Vgl. ebd., 281 f. Nietzsche und sein Freund treten als Studierende auf, die bei einem abendlichen Treffen am Rhein das Gespräch eines Philosophen mit seinem ehemaligen Schüler über die gegenwärtige Situation der Bildungsanstalten belauschen und später an diesem Gespräch über die Bildungsfrage teilnehmen. Aus den Vorträgen geht hervor, dass Philosoph und Schüler einen weiteren Gesprächspartner, einen Künstler, erwarten. Dieser kündigt sich im fünften Vortrag an, tritt in den gehaltenen Vorträgen aber nicht mehr auf (vgl. KSA, NF, 7, 254ff.). In einem Brief an die Schwester äußert Nietzsche später: „Das Gefühl, [...] daß es bei mir viel bunten Vordergrund giebt, welcher täuscht genau dieses Gefühl, das mir neuerdings von verschiedenen Seiten bezeugt wird, ist immer noch der feinste Grad von ,Verständniß', den ich bisher gefunden habe" (KSB, 7, 52f.). -

Das Bildungsgeheimnis

57

der Universität kulminiert, durchziehen. Die Bildungsvorstellungen der Zeit werden durch Tendenzen der Erweiterung und der Verminderung von Bildung charakterisiert (vgl. ebd., 667ff). In allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens werde, so Nietzsche, die allseitige Verbreitung von Bildung durchgängig proklamiert, vor allem dort, wo dies Vorteile für die ökonomische Entwicklung des Staates bedeute: „Die Bildung würde ungefähr von dieser Richtung aus definiert werden als die Einsicht, mit der man sich auf der Höhe seiner Zeit hält, mit der man alle Wege kennt, auf denen am leichtesten Geld gemacht wird, mit der man alle Mittel beherrscht, durch die der Verkehr zwischen Menschen und Völkern geht" (ebd.). Die Bildung ermöglicht den Individuen, sich ihren Platz im Kampf um Ressourcen und gesellschaftliches Ansehen zu erstreiten. In dieser von Nietzsche kritisierten Interpretation von Bildung werden gesellschaftliche Brauchbarkeit und persönliches Glück, ähnlich wie schon bei den Philanthropen der Aufklärung, kurzgeschlossen: Wo Fortschritt und Prosperität als übergeordnete Ziele der Bildung leitend sind, wird der Rahmen und die Bedeutung der Bildung selbst eingegrenzt.11 So stellt Nietzsche heraus, dass die Bildungsbemühungen seiner Zeit sich darauf beschränken, die Menschen ,courant' zu machen (vgl. ebd., 667). Das Ziel ist die Ausbildung eines flexiblen Menschen, dessen Wissen und Erkenntnisse Teil des Zirkulationsprozesses kultureller und ökonomischer Erwerbsgüter werden. Dazu gehört ein Selbstverständnis, in dem die eigene Entwicklung auf Investition und Gewinnmaximierung ausgelegt wird. Diese Anpassung des Menschen an gesellschaftliche und speziell ökonomische Anforderungen gelingt umso besser, als sich die Individuen auf Selbstgewinn und Selbstbestätigung hin auslegen und somit ihre Bildung bzw. ihre Unbildung zu einem Kriterium der Überlegenheit bzw. Unterlegenheit im Konkurrenzkampf um soziale Stellungen machen. Entsprechend kritisiert Nietzsche, dass ,,[e]in jeder [...] sich selbst genau taxiren können [müsse], er müsse wissen, wie viel er vom Leben zu fordern habe" (ebd., 668). In diesem Verständnis von Bildung steckt zugleich deren Verminderung und Verflachung, da die Anpassung an die Bedürfhisse der Zeit zu Spezialisierungen und bestimmten Anforderungsprofilen nötigt. Neben dem Diktat der Nützlichkeit setzt sich zudem eine bestimmte Herangehensweise an allgemeine bzw. philosophische Themen und Fragestellungen durch, welche laut Nietzsche journalistisch' behandelt werden. Wissenschaft und Kultur sind ebenfalls von der Erweiterung und Verminderung der Bildung betroffen, wie sich an Nietzsches Kritik am so genannten Bildungsphilister 11 12

Vgl. Jörg Ruhloff, Bildung heute, in: Pädagogische Korrespondenz, Heft 21, 1997. Theodor W. Adorno wird dies 1959 als sozialisierte Halbbildung bezeichnen, die nach seiner Aussage der „Todfeind" der Bildung ist (Theodor W. Adorno, Theorie der Halbbildung, in: Gesammelte Schriften Band 8, Frankfurt/M. 2003, 111). In aktuellen erziehungswissenschaftlichen Arbeiten zu den gegenwärtigen Universitäts- und Bildungsreformen werden

Überlegungen zur

insbesondere durch

Rückgriff auf Michel

.Gouvernementalität' die Tendenzen der Ökonomisierung von Bildung Andrea Von kleinen Herren und großen Knechten. GouvememenLiesner, analysiert (vgl. Foucaults

talitätstheoretische Anmerkungen zum Selbständigkeitskult in Politik und Pädagogik, in: Michel Foucault: Pädagogische Lektüren, hg. von Norbert Ricken, Markus Rieger-Ladich, Wiesbaden 2004; Ulrich Bröckling, „You are not responsible for being down, but you are responsible for getting up." Über Empowerment, in: Leviathan. Zeitschriftfür Sozialwissenschaft 31, Heft 3, 2003).

58

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verdeutlichen lässt. Vor allem im Anschluss an den deutsch-französischen Krieg hat sich, so Nietzsches These, jener Typus des Bildungsphilisters entwickelt, der im Glauben ist, „der satte Ausdruck der rechten deutschen Kultur" zu sein (KSA, DS, 1, 165). Die Werke der Literatur und Kunst dienen dem Bildungsphilister, jenem bedürfnislosen und eigentümlich unempfindlichen Individuum, zur Erbauung und Erquickung.1 Dem eigenen Geschmack angeglichen findet der Bildungsphilister in ihnen, was er immer schon zu haben meinte: sich selbst. Demgegenüber werde, so Nietzsche, jegliche Bildungsanstrengung, welche über Erwerb und Besitz hinausstrebt und sich also der Logik der Selbstbestätigung entzieht, als ,,höhere[r] Egoismus" bzw. ,,unsittliche[r] Bildungsepikureismus" denunziert (KSA, BA, 1, 668). Nietzsches Bildungskritik in den Basler Vorträgen enthält Motive, die der Bildungs-

tradition nicht unbekannt sind. Die Wendung gegen eine Verzweckung der Bildung, die Differenz von Bildung und Ausbildung, leitet bereits das antike Bildungsdenken. Bildung, paideia, kennzeichnet den Bürger der Polis, der von den Zwängen der täglichen Lebensnot befreit ist. Bildung bedeutet hier Muße (schole), als einen sich in sich selbst erfüllenden Vorgang gegenüber der Rastlosigkeit der Prominent wird die Unterscheidung von Bildung und Ausbildung im Neuhumanismus, der gegen den Utilitarismus des bereits erwähnten Philanthropismus protestiert. Neuhumanistische Denker wie Wilhelm von Humboldt, Friedrich Schiller oder Friedrich Immanuel Niethammer wenden sich gegen eine Verzweckung der Bildung: Im Gegensatz zur Fremdbestimmung wird der sich bildende Mensch selbst zum Maß seiner sittlichen und ästhetischen Selbstbestimmung. Humboldt denkt den Bildungsprozess als „allgemeinste^..], regeste[...] und freieste[...] Wechselwirkung" von Ich und Welt und interpretiert Bildung als einen Vorgang, der nicht als von gesellschaftlichen Imperativen beeinträchtigt zudenken ist.15 Nietzsche charakterisiert entsprechend der Bildungstradition die Bildungsvorstellungen seiner Zeit als „Pseudo-Bildung" (KSA, BA, 1, 671), als eine falsche Bildung. Es handelt sich hierbei um eine Täuschung über die Bildung als Im weiteren

Lebenserhaltung.14

Bildung.16

13

14 15

16

Vgl. auch: Rainer Kokemohr, Friedrich Nietzsche (1844-1900), in: Klassiker der Pädagogik, Band II hg. von Hans Scheuerl, München 1979, 37ff; Eliyahu Rosenow, Nietzsche und das Autoritätsproblem, in: Zeitschriftfür Pädagogik 38, Heft 1, 1992, 7f. Vgl. für diese Unterscheidung z.B. Piaton, Gesetze, hg. von Günther Eigler, Darmstadt 1990, 644a. Wilhelm von Humboldt, Schriften in 5 Bänden, hg. von Andreas Flitner, Klaus Giel, Darmstadt 2002, 1, 235f; zum Verhältnis von Bildung und Ausbildung bei Humboldt: Herwig Blankertz, Bildung im Zeitalter der großen Industrie: Pädagogik, Schule und Berufsbildung im 19. Jahrhundert, Hannover 1969; Christoph Lüth, Arbeit und Bildung in der Bildungstheorie Wilhelm von Humboldts und Eichendorffs. Zur Auseinandersetzung Humboldts und Eichendorjfs mit dem Erziehungsbegriff der Aufklärung, in: Eichendorffund die Spätromantik, hg. von Hans-Georg Pott, Pa-

derborn 1985. In der Täuschung halten wir etwas für etwas, was dieses nicht ist. Die Schwierigkeit liegt dabei in der seltsamen Einheit bzw. der Konfusion von Kennen und Verkennen. Kokemohr verweist auf Nietzsches Differenzierung von Bildung (wahrer Bildung) und ,Bildung' (Pseudobildung) (vgl. Rainer Kokemohr, Zukunft als Bildungsproblem: die Bildungsreflexion des jungen Nietzsche, Ratingen, Kastellaun 1973, 11 f.). Dass sich diese Differenz nur in den Anführungszeichen äußert, lässt umso mehr auf die Frage stoßen, wie beide unterschieden werden können.

59

Das Bildungsgeheimnis

Verlauf der

Vorträge wird daraufhin eine Unterscheidung zwischen Anstalten der Le-

zu denen die jetzigen Bildungsanstalten bzw. Pseudobildungsanstalten zu rechnen sind, und Anstalten der Bildung gemacht, welche es allerdings momentan nicht

bensnot,

gebe (vgl. 713f). Die knapp skizzierte Kritik an den damaligen Bildungsvorstellungen und deren Überschneidungen mit Motiven der europäischen Bildungstradition können zu der Interpretation führen, dass Nietzsche eine Verfallsgeschichte der Bildung aufgrund der damaligen gesellschaftlichen Entwicklungen nachzeichnet. In einer solchen Geschichte rekurriert man auf unverdorbene Ursprünge und bemüht sich, eine Revision, Restauration oder Revolution der bestehenden Verhältnisse abzuleiten. Es geht dann um eine zu erwirkende bessere Zukunft, die sich nach der Klarheit und Verlässlichkeit der Analyse bemisst. Auch wenn sich manche Äußerungen in den Vorträgen durchaus in diesem

auf einen „idealen Geist" rekurriert wird, aus dem die Bildungsanstalten hervorgegangen sind (ebd., 645), so lässt sich diese Lesart kaum mit der Gestaltung der Vorträge in Einklang bringen, die im weiteren Verlauf genauer zu analysieren sein wird (vgl. II.). Dass eine ,Aufklärung über die wahre Bildung' nicht erfolgt, wird an der scharfen Zurückweisung der Anfrage der beiden Studenten und des Philosophen-Schülers deutlich, was sie denn nun für eine wahre Bildung zu tun hätten und ob diese für sie im Bereich des Möglichen liegt. Der Philosoph ist erbost, da diese Anfrage von dem Streben des Bildungsphilisters bestimmt ist, von dem Versuch, sich ein „Mausoleum dieses seines Subjekts" zu schaffen (ebd., 714). Dass eine Bestimmung dessen, was Bildung heißt, in den Vorträgen nicht identifizierbar ist, kann als Indiz für eine andere Zukunft der Bildungsanstalten gewertet werden. Eine solche These würde implizieren, dass eine Aussage wie die am Ende des zweiten Vortrags nicht bloß in Entgegensetzung zu den gegenwärtigen kritikwürdigen Zuständen verständlich zu machen ist; vielmehr würde hier etwas Grundsätzliches über die Bildung gesagt: ,,[D]ie beschränktesten Standpunkte sind gewissermaßen im Recht, weil Niemand im Stande ist, den Ort zu erreichen oder wenigstens zu bezeichnen, wo alle diese Standpunkte zum Umecht werden. Niemand? fragte der Schüler den Philosophen mit einer gewissen Rührung in der Stimme: Und Beide verstummten" (ebd., 691 f.). Die Textstelle ist bestimmt von einer Unterscheidung, welche zuvor bereits angeklungen ist, die Unterscheidung von „Standpunkten" und „Gedanken" (ebd., 658, 662f). In der zitierten Textstelle werden die Bildungsvorstellungen der Gegenwart als Standpunkte bezeichnet. Es scheint nun problematisch, wenn nicht unmöglich, die Standpunkte der Pseudobildung ihres Unrechts zu überführen. Ein Standpunkt der wahren Bildung wird also angezweifelt: Nietzsche legt dem Philosophen in den Mund, dass der Ort der Bildung nicht zu bezeichnen ist. Die Bildung erscheint dem Subjekt entzogen, was sich an einer Bemerkung im Nachlass nachvollziehen lässt, in der Nietzsche von einer Definition von Bildung absieht (vgl. KSA, Sinne lesen lassen, z.B.

wo

-

NF, 7, 412).

Nietzsches Position erschöpft sich folglich nicht in der Haltung des Kulturkritikers, der durch seine unzeitgemäßen Thesen die Fehlentwicklungen der Zeit entlarvt. Zur Frage steht grundsätzlich das Verhältnis des Subjekts zu seiner Bildung. Dass Bildung etwas ist, das dem Subjekt prinzipiell nicht zur Verfügung steht, wird mittelbar an der

Christiane

60

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Bildungsphilisterkritik deutlich. Wenn Nietzsche im Gegenzug die Nutzlosigkeit der Bildung, d.h. die Abstinenz von jeglichen Zweck-Mittel-Beziehungen in der Bildung, einschließlich solchen, die sich auf den Selbstgewinn und die Selbsterweiterung richten (vgl. KSA, BA, 1, 713ff), behauptet, so erhalten unsere Selbstbestimmungsversuche hinsichtlich der Bildung etwas Auswegloses. Die ,Zukunft' im Titel Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten scheint dann auf eine Zukunft zu verweisen, die nie Gegenwart wird oder sein kann, eine Zukunft, die unserer Planung und unserem Handeln entzogen ist. Bevor diese gedankliche Linie, die durch Nietzsches Bildungskritik eröffnet worden ist, im dritten Abschnitt weiterverfolgt werden kann, ist zunächst eine genauere Fassung der Bildungsproblematik notwendig. Im Folgenden geht es dementsprechend um eine Interpretation der Inszenierung der Vorträge mit Blick auf das Verhältnis von Bildung und Pseudobildung. Wir richten unser Augenmerk auf die Art und Weise, wie Nietzsche seine Beziehung zu den Lesern im Hinblick auf die Unsicherheit der Bildung gestaltet. II. Untiefen der eigenen Bildung Lenkt

man

den Blick

vom

sachlichen Inhalt der

wird, auf die rhetorische Inszenierung, d.h. wie

Vorträge,

es

also von dem, was gesagt gesagt wird, fällt einerseits die dra-

maturgische Rahmenerzählung, die Begegnung der Studenten mit dem Philosophen und seinem Begleiter in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Andererseits fällt auf, dass dem Rahmengespräch selbst eine Einleitung und eine Vorrede vorausgehen. Auf diesen Rahmen des Rahmens, in dem das Verhältnis zwischen Autor und Leser Thema ist, soll als erstes eingegangen werden. Nietzsche beginnt seine Vorrede folgendermaßen: „Der Leser, von dem ich etwas erwarte, muß drei Eigenschaften haben" (ebd., 648, Hervorh. C.T./G.W.). In welche Position wird der Leser versetzt, wenn er liest, dass etwas von ihm erwartet wird, dass er bestimmte Kriterien zu erfüllen hat, um dem Anspruch des Autors zu entsprechen? Damit werden die üblichen Erwartungen des Lesers, Informationen zu erhalten, über einen Sachverhalt aufgeklärt oder einfach unterhalten zu werden, desavouiert und die Erwartungen von Autor und Leser gegeneinander verschoben. Die Anforderungen des Autors an seine Leser werden verstärkt und führen hinter die Hoffnung des Lesers zurück, dass ihm etwas geboten wird, ihm ein wie auch immer gearteter Stoff zur Verfügung gestellt wird. Die Vorrede zu den Bildungsvorträgen verlangt hingegen, dass der Leser vorab auf sich selbst sieht und sich in seiner Haltung überprüft. Dass Nietzsche an seine Leser Anforderungen stellt, kann so verstanden werden, dass er damit eine Auswahl von Wenigen trifft und diejenigen, welche die Eigenschaften nicht erfüllen, ausschließen will (vgl. KSA, NF, 7, 254). Wie ernst es Nietzsche auch mit einem Aus-

schluss gewesen sein mag, der Leser wird sich davon wahrscheinlich nicht abhalten lassen. Wird der Leser sich nicht vielmehr provoziert fühlen, die Haltung, die der Autor von ihm fordert, bei sich zu erreichen, d.h. die scheinbar angelegten Kriterien zu erfüllen? Die Frage deutet daraufhin, dass Nietzsches Anforderungen an den Leser nicht bloß als Hindernis zu verstehen sind, sondern als Möglichkeit, sich von den eigenen

Das Bildungsgeheimnis

61

Erwartungen zu befreien. Gleichzeitig emanzipiert er sich von der Bevormundung des Autors. Die Anforderungen an den Leser bilden dann nicht so sehr Auswahlkriterien als Versuche, den Leser in eine Lage zu versetzen, in welcher er sich auf den Text einlassen kann. So kann er sich zwar der „Führung des Verfassers überlassen" (KSA, BA, 1, 650), muss aber dennoch selber mitgehen. Er wird mithin nicht informiert, sondern ist aufgefordert, selbst zu denken und über den Text hinauszugehen (vgl. ebd.). Dass Nietzsche seine Führung nicht aus einem Vorsprung an fundiertem Wissen ableitet, macht er bereits in der Vorrede deutlich: Er beansprucht lediglich eine Führung vom „Nichtwissen und dem Wissen des Nichtwissens aus" (ebd., 650) und weist damit die ihm vom Leser zugesprochene Autorität und Kompetenz in Sachen Bildung zurück. Nietzsche würde selbst gerne etwas von Jedem Beliebigen [...], der über dasselbe etwas zu lehren verspräche" hören (ebd., 651). Der Autor spricht hier von möglichen Erwartungen an ihn, über die Zukunft der Bildungsanstalten zu lehren, wehrt dies aber ausdrücklich ab, wie anhand des Eingangszitats bereits entwickelt wurde. Die Betonung der Größe, Brisanz und Schwere der Aufgabe sowie der Abweis der Kompetenz, etwas Lehrreiches über Bildung zu sagen, dies alles vergrößert die Verantwortung des Le-

sers.17

-

Dies wird noch deutlicher, wenn man die Art, wie der Leser zu sein hat, genauer betrachtet: ,,[E]r muß ruhig sein und ohne Hast lesen, er muß nicht immer sich selbst und seine .Bildung' dazwischen bringen, er darf endlich nicht, am Schlüsse, etwa als Resultat, Tabellen erwarten" (ebd., 648). Der Autor fordert vom Leser eine Zurückhaltung hinsichtlich praktischer Erwartungen. Der Leser hat nicht mit Lehrplänen oder pädagogischen Handlungsanweisungen für den Unterricht zu rechnen. Zwar geht Nietzsche „von der Tiefe der Empirie aus bis hinauf zur Höhe der eigentlichen Kulturprobleme" (ebd.), aber die Kraft und vielleicht den Mut, von diesem Berg wieder hinab zu steigen, hat er nicht. Diese Aufgabe werden Andere zukünftig zu übernehmen haben.18 Im Augenblick darf der Leser nicht auf Resultate, auf einen verwertbaren Nutzen aus den Vorträgen hoffen. Schon hier zeigt sich die Parallele von dem, was vom Leser als Eigenschaft erwartet wird, und der Beschreibung einer unzeitgemäßen, also nicht gegenwärtigen, aber zukünftig möglichen Bildung. So wie der Leser sein Lesen nicht zu einem Mittel für einen Nutzen degradieren soll, so soll und kann Bildung nicht mediatisiert werden. Die Forderung nach einem ruhigen Leser korrespondiert mit der Ablehnung und Kritik der gegenwärtigen ,,rasche[n] Bildung" (ebd., 668), die schnellstmöglich einen höchstmöglichen Nutzen erbringen soll. Die Bildung der Ruhigen, „die viel Zeit verbraucht" (ebd.), und der ruhige Leser, welcher sich verschwendet, verweisen auf eine Befreiung vom Zwang, Ergebnisse und Resultate zu erzielen. In Muße kann sich ein Leser seinen Gedanken hingeben und ihnen freien Lauf lassen. Er ist nicht gezwungen, das Gesagte aufzunehmen und direkt zu verwerten. Was einen derartigen Leser betrifft, Nietzsche erwartet in diesem Sinn, dass seine Leser von ihm nur als Herold gerufen werden, dass sie in eigener Rüstung auf dem Kampfplatz der Auseinandersetzung um Bildung erscheinen (vgl.

KSA,BA, 1,650). Gerade der Leser, der sofort handeln will, steht im Verdacht, den Autor nicht verstanden zu haben. Wird Handeln

problematisch, wenn man den Autor versteht?

Christiane

62

nachzudenken" (ebd., 649). Weder will er später daraus ziehen noch wird er sein Denken in einer Rezension praktische Schlussfolgerungen anerkannt werden. Er verliert seinen zielstrebigen Blick, der um zu präsentieren wollen, sich öffnet und weitet. Er verliert seine Ziele aus den Augen und kann ein anderes Verhältnis zur Bildung gewinnen. Dem entspricht die wichtigste Eigenschaft des Lesers: sich auf den Text einzulassen, ohne „sich selbst und seine Bildung unausgesetzt dazwischen" zu bringen (ebd., 649f). Der Leser soll also von seiner eigenen Bildung absehen. Damit ist nicht nur sein Wissenshorizont gemeint, sondern auch sein eigenes Urteil über den Stand seiner Bildung. Er selbst als „ein sicheres Maaß und Kriterium aller Dinge" (ebd., 650) wird in Frage gestellt, sein sicherer Standpunkt ist (von ihm selbst) als unbrauchbar für die Reflexion außer Kraft zu setzen. Das Beharren auf dem eigenen Bildungsstandpunkt als ein Maß aller Dinge verhindert die anvisierte Bewegung im Denken. Der Leser soll von seiner Bildung gering denken; diese soll ihm fraglich werden (vgl. ebd.). Er wird auf diese Weise veranlasst, über seine eigene Bildung kritisch zu reflektieren. Auch wenn die eigene Bildung immer im Spiel bleibt, kann die Haltung, seine Bildung nicht für das nonplus ultra zu halten, die Voraussetzung für ein anderes Denken schaffen. Der Leser und sein Denken wird auch durch das Rahmengespräch in Bewegung gebracht. Die Gestaltung der Vorträge als Gespräch zwischen verschiedenen Teilnehmern legt mögliche Identifikationen nahe, z.B. von studentischen Lesern mit dem Studenten Nietzsche und seinem Kommilitonen. Tatsächlich wird zu Beginn der Vorträge eine solche Identifikation von den Lesern gefordert: „Wir versetzen uns mitten in den Zustand eines jungen Studenten hinein" (ebd., 652). Die beiden Studenten sind zunächst nicht aktiv am Gespräch beteiligt: Sie belauschen das Gespräch zwischen dem Philosophen und seinem ehemaligen Schüler und hören, was teilweise nicht für sie bestimmt ist. Die Missverständnisse seitens der Studierenden verweisen auf die Schwierigkeiten, das Gesagte zu verstehen. Der Leser der Vorträge wird selbst in diese Zwischenposition des Hörenden versetzt. Er ist zum einen nicht sich selbst genug und auf das Hören angewiesen; zum anderen zeigt sich eine erstaunliche Nähe zu den geforderten Eigenschaften des Lesers: ein „zweckloses Sich-Behagenlassen am Moment" ein unbekümmertes „Sich-Wiegen auf dem Schaukelstuhl des Augenblicks" (ebd., 664, 652f). Der Leser wird in einen derartigen Zustand der Muße versetzt und identifiziert sich mit den Studenten. Spätestens mit dem Auftauchen des Philosophen bekommen die Studenten als Sympathieträger Konkurrenz. Doch soviel Autorität dem Philosophen durch dessen analytischen Blick auch zukommt, gerade aufgrund seiner strengen und zurückweisenden Art bleibt das Verhältnis des Lesers zu diesem gebrochen. Die Studenten und der Begleiter des Philosophen sprechen an jener Stelle dem Leser aus dem Herzen, an der sie sinngemäß fragen, was sie nun für sich und ihre Bildung tun könnten (ebd., 722f). Die Rahmenhandlung erlaubt insgesamt keine Standpunktfixierung des Lesers, der sich mit dem Gespräch der Teilnehmenden und durch dieses bewegt. In diesem Sinne führt so

liest er den Text „nur so,

Thompson / Gabriele Weiß

um

Frage, wer von den Gesprächsteilnehmern der Bildung am nächsten ist, in eine Sackgasse; denn einerseits wird nahe gelegt, dass die Studierenden in ihrem anfänglichen Zustand ohne „aller Pläne und Zwecke, losgelöst von allen Zukunftsabsichten" auf dem Weg der Bildung sind (ebd., 653); andererseits weist der Philosoph ihre Bildungsdie

Das Bildungsgeheimnis

63

aspirationen als .Jmippelhafte Argumentationen" zurück (ebd., 724). Man kann sich allerdings auch nicht auf die Bildung des Philosophen verlassen. Trotz seiner weitreichenden Analyse der Pseudobildung ist er gerade derjenige, der sich in die Einsamkeit zurückgezogen hat, was er seinem eigenen Schüler zum Vorwurf gemacht hatte. Betrachtet man die gesamte Rahmenhandlung unter diesem Aspekt, zeigt sich die permanente Stabilisierung und DeStabilisierung von Standpunkten, was den Leser auf sich selbst zurückwirft. Er beginnt, sich im Denken zu bewegen oder, wie in den Vorträgen

gesagt wird, der Leser ,Jiat noch nicht verlernt zu denken, während er liest, er versteht noch das Geheimniß zwischen den Zeilen zu lesen" (ebd., 649). Im gesamten Text wird der Leser für sein Verhältnis zur Bildung sensibilisiert, was sich auch an den zahlreichen bildhaften Andeutungen zeigen lässt. Die Aufforderung, zwischen den Zeilen zu lesen, provoziert eine Produktivität des Lesers, die rätselhaften Andeutungen im Text zu verstehen. Dabei besteht die große Schwierigkeit von Andeutungen darin, dass nicht ausgemacht ist, wie tief sie sind; es ist nie klar, wie weit eine Andeutung geht. Die Bedeutung der Andeutung steigt mit dem Bezug, den diese zu demjenigen hat, der die Andeutungen auszulegen hat. Wie stellt sich der Leser mit seiner Bildung zu den mannigfachen Andeutungen in den Bildungss orträgenl Ein (vielleicht harmloses) Beispiel für eine der Andeutungen ist das Pentagramm im Baumstumpf, welches die beiden Studenten vor Jahren einritzten und das ihnen nun als Zielscheibe für ihre Übungen im Pistolenschießen dient. Der Leser gerät in den Sog dieses Bildes: Warum ein Pentagramm? Zwar lassen sich gerade Linien leichter in eine alte Baumrinde ritzen als ein Kreis, aber ein Dreieck hätte es auch getan. Sprechen uns die Vorträge womöglich auf unsere vermeintliche Bildung an, indem hier durch das Pentagramm auf Johann Wolfgang von Goethes Faust, auf einen nach Wissen Strebenden, verwiesen wird, in dessen Haus nur durch die Öffnung an einer Spitze im Pentagramm Mephisto Einlass findet? Oder gibt der Drudenfuß einen Verweis auf die Abwehr von schlechten Träumen, die (weibliche) Dämonen schicken? In den Vorträgen wird mehrfach auf das Traumhafte der Situation, in der sich die Studenten befunden haben, Bezug genommen (ebd., 653). Weitere Hintergründe sind denkbar, z.B. eine Verbindung zu den Pythagoreern, denen das Pentagramm eine unüberwindliche mathematische Schwierigkeit bereitete. Tatsächlich kommt der Philosoph wenig später auf die Pythagoreer zu sprechen, als er die Studenten dazu anhält, es diesen gleichzutun und fünf zeitliche Einheiten zu schweigen (ebd., 663). Die Vorträge bieten keinen Anhaltspunkt, die eigenen Deutungen zu prüfen und zu finalisieren. Die Bedeutung der Andeutung bleibt also offen, offen für jeden anderen Bildungsstandpunkt, von dem aus auf das Bild gesehen wird. Verunsichernd ist dabei die Einsicht, dass die Deutung in der Schwebe bleibt, dass nicht einsichtig wird, was dieser Bezug auf die Gesamtheit der Vorträge zu bedeuten hat. Durch die Unentscheidbarkeit, welche die richtige Interpretation der Andeutung ist, gerät die Bedeutung der Vorträge insgesamt in die Schwebe. -

19

Schmidt-Millard sieht zwar in den vier Gesprächspartnern mögliche Weisen, sich ins Verhältnis zur Wahrheit zu setzen, nimmt aber mit dem Verweis auf das Höhlengleichnis bei Piaton eine Hierarchie zwischen den Gesprächspartnern an (Torsten Schmidt-Millard, Nietzsches Baseler Vorträge

...,

17ff.).

64

Christiane

Thompson / Gabriele Weiß

Es gibt weitere Beispiele für Andeutungen. Eine besonders starke ist die Identifikatides Philosophen. Ob es der Hund ist, die inhaltlichen Aussagen (z.B. über den intellektuellen Charakter) oder die Charakterzüge, es werden Andeutungen gemacht, welche die Annahme nahe legen, dass es sich bei dem Philosophen um Schopenhauer handelt. Wohin führt eine solche Deutung und was bedeutet sie für die Vorträge, für die Möglichkeit und Wirklichkeit der Bildung? Geht die Andeutung noch darüber hinaus, dass die inhaltlichen Aussagen nicht Nietzsche zugerechnet werden müssen? Insgesamt liegt in dieser Andeutung mehr Konfusion der Standpunkte als deren Klärung. Eine philologische Auslegung der Sachverhalte klärt zuletzt nicht auf, was zwischen den Zeilen steht. Die Andeutungen beinhalten vielmehr ein Zwischen-den-Zeilen-Sein des Lesers, eine Herausforderung an ihn, der er sich zu stellen hat. Eine dritte und letzte Andeutung kann diese Herausforderung nochmals von einer anderen Seite verdeutlichen. In der Charakteristik und Kritik der Philologen wird deren Art zu graben und zu wühlen, um „die Wahrheit aus dem Brunnen zu ziehen" (ebd., 702), mit der Warnung versehen: „Hast du gehört, daß es nach Aristoteles ein untragischer Tod ist, von einer Bildsäule erschlagen zu werden?" (ebd.). In der Geschichte bei Aristoteles wird ausgerechnet derjenige von der Bildsäule des Mitys erschlagen, der an dessen Tod die Schuld trug. Das könnte für die Philologen, welche nach der Meinung des Philosophen das Altertum durch ihre philologische Forschung zerstören, bedeuten, dass sie selbst von dem zerbrechenden Altertum erschlagen werden. Was hat der Leser bei einer philologischen Interpretation zu befürchten, bei der er meint, die unumstößliche Wahrheit der Andeutungen auszugraben? Erstarrt der Leser in Bewunderung über sich selbst; geht er mit seiner zerbrechenden Bildung unter? Wenn die Tiefe der Andeutungen, aus denen man die Wahrheit zu ziehen glaubt, nicht ausgelotet werden kann, dann kann der Leser nie wissen, wo er mit seiner Bildung steht. Vermeint man am Text selbst prüfen zu können, d.h. in ihm ein Kriterium zu finden, wie es um die eigene Bildung steht, so verschließt man sich der Herausforderung, darin irritiert zu werden. Unter diesem Gesichtspunkt führt die ganze Vorrede in die Aporie. Nietzsche stellt an den Leser Anforderungen, um den Sinn der Vorträge eröffnen zu können. In seinen Anforderungen kann man sich aber nur als Leser bewähren. Mit dem Lesen des Textes wird sich jedoch nicht zeigen, ob man den Erwartungen entsprochen hat, da einem der eigene Standpunkt abhanden gekommen ist. Der Leser kann nicht herausfinden, ob er so ist, wie es von ihm erwartet wird. Es bleibt nur das Lesen und die Herausforderung, zwischen den Zeilen zu ,lesen' und zu ,sein'. Am Ende bleibt unklar, ob man sich mit seiner Deutung täuscht. Die Vorträge legen es darauf an, immer wieder gelesen zu werden, ein besseres oder höheres Verständnis versprechend, aber nicht einlösend. Dies konkretisiert nochmals die zu Beginn angedeutete Zwecklosigkeit und die (bildende?) Verschwendung im Nachdenken. In diesem Sinne erscheinen die Andeutungen als Anlässe zu denken und nicht als Möglichkeit, eigene Standpunkte zu gewinnen oder den Standpunkt des Autors herauszufinden. Die Inszenierung der Vorträge verpflichtet den Leser auf eine Auseinandersetzung mit seiner eigenen Bildung. on

Aristoteles, Poetik (übersetzt von Manfred Fuhrmann), Stuttgart 1994,

1452a.

65

Das Bildungsgeheimnis

III. Das

Bildungsgeheimnis und seine Täuschung

Nach einer ersten Einführung in das Rahmengespräch der beteiligten Personen entwickelt sich der Spannungsbogen der Vorträge durch das vom Studenten Nietzsche belauschte Streitgespräch zwischen dem Philosophen und seinem ehemaligen Schüler. Der Leser hofft an dieser Stelle, nun endlich etwas Substanzielles über die Bildung und die Bildungsanstalten zu erfahren. Diese Erwartung wird bereits in den ersten Sätzen des Vortrags gefördert, in denen von Männern gesprochen wird, die den Mut hätten, „verbotene Wahrheiten" (ebd., 652) zu sagen. Die unerhörte Wahrheit des Philosophen, die der Schüler an dieser Stelle wiederholt, ist der so genannte Kardinalsatz der Bildung: ,,[E]s würde kein Mensch nach Bildung streben, wenn er wüßte, wie unglaublich klein die Zahl der wirklich Gebildeten zuletzt ist und überhaupt sein kann. Und trotzdem sei auch diese kleine Anzahl von wahrhaft Gebildeten nicht einmal möglich, wenn nicht eine große Masse, im Grunde gegen ihre Natur, und nur durch eine Täuschung bestimmt, sich mit der Bildung einließe. Man dürfe deshalb von jener lächerlichen Improportionalität zwischen der Zahl der wahrhaft Gebildeten und dem ungeheuer großen Bildungsapparat nichts öffentlich verrathen; hier stecke das eigentliche Bildungsgeheimniß: daß nämlich zahllose Menschen scheinbar für sich, im Grunde nur, um einige wenige Menschen möglich zu machen, nach Bildung ringen, für die Bildung arbeiten" (ebd., 665, Hervorh. C.T./G.W.). Von einem Kardinalsatz der Bildung, jenem Bildungssatz, um den sich alles dreht (cardo, lat.: Türangel), würde man wahrscheinlich etwas mehr oder etwas anderes erwarten als die bloß konstatierte Faktizität der wenig wahrhaft Gebildeten und der Unzähligen, die erfolglos nach Bildung streben. Demgegenüber wird hier, wie bereits im ersten Abschnitt entwickelt worden ist, einerseits die Unterscheidung von Bildung und Pseudobildung als die maßgebliche für die Bildungsproblematik angesetzt; andererseits wird der Leser im Hinblick auf diese Unterscheidung verunsichert. Inwieweit unterliegen wir hinsichtlich unserer eigenen Bildung der Täuschung? An welchen Kriterien können wir unsere Bildung prüfen? Die Verunsicherung vermischt sich mit der Kuriosität, dass die Täuschung für die Bildung selbst konstitutiv sein soll. Im Gegensatz zu der Unterscheidung der Vielen von den Wenigen in der philosophischen Tradition bleibt es hier nicht bei der angelegten Differenz zwischen den wenigen wahrhaft Gebildeten und der Masse: Letztere, aufgrund einer Täuschung nach Bildung strebend, ermöglicht erst die Ausnahme der Bildung. Ohne die Täuschung der Masse wären die Wenigen nicht einmal möglich. Dies wird als das „eigentliche Bildungsgeheimniß" bezeichnet (ebd.). Es ist vor allem der Bezugspunkt der ,Natur', der eine an Begabung ausgerichtete Lesart der Textstelle nahe legt. In einer solchen Lesart reicht bei den meisten das, was sie ,von Natur aus' mitbringen, für die Bildung nicht aus, es wären dann nur ganz wenige Menschen für die wahre Bildung geeignet. Das Bildungsgeheimnis wäre damit ein -

Geheimnis der wahrhaft Gebildeten, die nur gleichgesinnte Hochbegabte in ihren aristokratischen Kreis aufnehmen. Das Geheimnis enthält dann einen sozialen

geteiltes

21

Dabei sollte man im Auge behalten, dass es nur um diejenigen geht, welche nach Von jenen, die einer solchen Täuschung nicht unterliegen, ist hier nicht die Rede.

Bildung streben.

Christiane

66

Thompson / Gabriele Weiß

Exklusionsmechanismus: Es dient dazu, Bildung zu sichern, obwohl diese nur für eine Minderheit erreichbar ist. Diese nur knapp skizzierte elitäre Auslegung geht jedoch nicht mit der Einsicht des ersten Abschnitts zusammen, in dem Selbstbehauptung und Selbstgewinn sich gerade als Zerstörung der Bildung erwiesen haben.22 Lässt sich die „lächerliche[...] Improportionalität" noch anders verstehen als den Spott eines Gebilde-

vergebliche Zuversicht der Masse, Bildung zu erreichen (ebd., 665)? Erlaubt der Naturbegriff2 noch eine andere Deutung, so dass die Ermöglichung der Bildung eine andere Bedeutung erhält? Bei der Untersuchung der weiteren Textstellen lassen wir uns nicht so sehr von einer anderen Lesart als der elitären bestimmen, mit der Nietzsche gegen die letztere verteidigt werden könnte. Leitend soll hingegen die schon den zweiten Abschnitt bestimmende Verunsicherung der Bildung bleiben. Gibt es ein anderes Verhältnis des Lesers zum Bildungsgeheimnis? Die Vorträge spielen beständig mit der Frage nach der Zuschreibung von Bildung. Wann und wie ist es möglich, für sich das Prädikat der Bildung in Anspruch zu nehmen? Der Philosoph enttäuscht seinen ehemaligen Schüler gleich zu Beginn des Gesprächs. Er wirft ihm vor, dass er „unverändert", derselbe wie vor sieben Jahren sei (ebd., 665). Die Aussage bezieht sich darauf, dass der Philosophenschüler geringschätzig von seiner Lehrtätigkeit gesprochen hatte und darauf bedacht war, sich von der herandrängenden Menge der Lernenden abzusetzen. Dies zeige, so der Philosoph, dass es sich um eine „umgehängte moderne Bildungshaut" handele (ebd.), die er seinem Schüler abziehen müsse. Eine Haut eignet sich zwar zum Schutz gegen Angriffe von außen, sie kann einem auch ein ansehnliches Aussehen verleihen; in Wahrheit lässt sie aber das Denken unverändert.24 Auch die bereits thematisierte Rückfrage der Studenten und des Philosophenschülers, ob Bildung für sie erreichbar sei und was sie dafür tun mussten, zeugt immer noch von jener Denkart, die der Pseudobildung zuzurechnen ist. In diesem Zusammenhang äußert Nietzsche: „Vielleicht sprach aus uns nur die instinktive Angst, ob gerade unsere Individuen bei solchen Ansichten, wie sie der Philosoph hatte, vorteilhaft bedacht seien, vielleicht drängten sich alle jene früheren Einbildungen, die wir über unsere eigene Bildung gemacht hatten, jetzt zu der Noth zusammen, um jeden Preis Gründe gegen eine Betrachtungsart zu finden, durch die allerdings unser vermeintlicher Anspruch auf Bildung recht gründlich abgewiesen wurde" (ebd., 727). Es scheint nach der Untersuchung dieser Äußerungen nicht die prädestinierte Begabung oder Fähigkeit eines Menten über die

Egon Schütz setzt sich von einer solchen auf sozialer Selektion beruhenden Interpretation ab, wenn er von Nietzsche sagt, dass dieser nicht als Soziologe denke (Egon Schütz, Friedrich Nietzsches Bildungs- und Schulkritik und die Krise der Identität. Marian Heitger zum 50. Geburtstag, in: Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Pädagogik 53, 1977, 487). Die Unterscheidung von bildungstheoretischer vs. soziologischer Betrachtung ist in ihrer Begrifflichkeit u.E. unglücklich, da die Differenz nicht mehr innerhalb der Bildung selbst greifbar ist. Im vorliegenden Zusammenhang kann auf das Naturverständnis Nietzsches nicht eingegangen werden; hier besteht weiterer Forschungsbedarf. Der Philosoph spielt anhand der Gegenüberstellung von Kants intelligiblem und Schopenhauers intellektuellem Charakter mit der Frage nach der Veränderlichkeit des Menschen (dazu Torsten Schmidt-Millard, Nietzsches Baseler Vorträge 52f). ...,

Das Bildungsgeheimnis

67

sehen zu sein, welche über die Möglichkeit der Bildung entscheidet. In den Vorträgen wird an mehreren Stellen deutlich, dass die beiden Studenten sich nicht mit dem Pensum von Schule und Universität zufrieden gegeben hatten, sondern in der Sorge um ihre Bildung einen Verein gegründet hatten, in dem sie sich regelmäßig zu geistiger Produktion und gedanklichem Austausch verpflichteten (vgl. ebd., 663). Mit dieser strebenden Haltung heben sich die zwei Freunde von der Masse der Studierenden scheinbar ab, sie sind es schließlich auch, welche die Semesterabschlussfeier der Studentenverbindung vorzeitig verlassen, um eine Erinnerungsfeier ihrer privaten Bildungsanstalt abzuhalten. In ihrer Äußerung hingegen wird deutlich, wie sehr die beiden noch im zeitgemäßen Verständnis von Bildung befangen sind, indem sie meinen, sich selbstzufrieden und selbstsicher um ihre Bildung kümmern zu können, und auf ihren Vorteil hoffen.25 Doch Bildung entzieht sich, wenn man meint, sie für sich reklamieren zu können, wenn man sie den individuellen Zielen und Zwecken unterordnet: Die Bildung „weiß demjenigen, der sich ihrer als eines Mittels zu egoistischen Absichten versichern möchte, weislich zu entschlüpfen" (ebd., 715). Diese Beobachtung ist aus der Perspektive der Bildung geschrieben; wer könnte diesen Standpunkt einnehmen? Mit anderen Worten: Über die Bereitschaft der Bildung, sich auf ein Individuum einzulassen, können die Individuen selbst nicht verfügen. Zuschreibung, Beanspruchung, Erwerb und Besitz von Bildung sind ein Zeugnis für die Notlosigkeit der Bildung und damit für Pseudobildung. An dieser Stelle wird die Frage virulent, um was für Selbst- und Weltverhältnisse es sich bei der in den Vorträgen angedeuteten Bildung handeln kann. Die Metapher des Kreuzwegs vermag zu zeigen, dass mit der Entzogenheit und Unverfügbarkeit der Bildung keine Begabungsmetaphysik verbunden sein muss. Nachdem sich die beiden Studenten in der Gefahr befunden hätten, von den Bildungsvorstellungen ihrer Zeit eingenommen zu werden, ständen sie nun, so der Philosoph, an einem Kreuzweg, an dem sie sich zu entscheiden hätten, welchen Weg sie einschlagen wollten: „Auf dem einen [Weg] wandelnd, seid ihr eurer Zeit willkommen, sie wird es an Kränzen und Siegeszeichen nicht fehlen lassen: ungeheure Parteien werden euch tragen, hinter eurem Rücken werden ebensoviel Gleichgesinnte wie vor euch stehen [...] Der andere Weg führt euch mit seltneren Wandergenossen zusammen, er ist schwieriger, verschlungener und steiler: die welche auf dem ersten gehen, verspotten euch, weil ihr dort mühsamer schreitet, sie versuchen es auch wohl, euch hinüberzulocken. Wenn aber Der Student Nietzsche sinniert in „weihevollen Selbstbetrachtungen" und ,,selbstzuffiedene[m] Tone" (KSA, BA, 1, 664) über die Frage nach der Zukunft der privaten Bildungsanstalt, die er mit seinem gymnasialen Freund gegründet hatte. Der krönende Abschluss des Erinnerungsfestes sollte beiden einen Blick in die Zukunft eröffnen (ebd., 660). Dies ist interessanterweise der Moment, wo er auf den Inhalt des Gesprächs zwischen dem Philosophen und seinem Begleiter (genauer den Kardinalsatz der Bildung und das Bildungsgeheimnis) aufmerksam wird. Diese Notlosigkeit, wie man im Anschluss an Martin Heideggers Beiträge sagen könnte, äußert sich in der bequemen Auffassung der Studierenden, dass sich ein Genius auch gegen die größten Widerstände seiner Zeit durchsetzen könne. Sie verleitet zu der überheblichen Annahme, dass „immer erst die späteren Generationen sich bewußt werden müssen, durch welche himmlische Geschenke eine frühere ausgezeichnet worden sei" (KSA, BA, 1, 723). Dies verärgert den Philosophen, weil der Eindruck der Mühelosigkeit von Bildung erweckt wird.

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einmal beide Wege sich kreuzen, so werdet ihr mißhandelt, bei Seite gedrängt oder man weicht euch scheu aus und isolirt euch" (ebd., 728). Obwohl die Bildung als unverfügbar gedacht wird, wird an dieser Stelle eingeräumt, dass es eine Entscheidung für die Bildung gibt. Eine solche Entscheidung erfolgt gegen den Widerstand der Konvention und des Zeitgemäßen und führt in die Isolation. Zugleich zeigt sich an den beiden Wegalternativen, dass der Bildungsweg nicht als Privileg, sondern als Leidensweg gedacht wird. Es ist ein unwegsamer Weg, der kaum beschriften werden kann und auf dem keine Bestätigung zu erwarten ist. Irritierend ist die Wegmetapher dahingehend, dass nicht auf unterschiedliche Endstationen der Wege Bezug genommen wird. Demgegenüber verlaufen beide Wege in Nähe zueinander (sonst wäre ein ,Hinüberlocken' auf den Weg der Pseudobildung nicht denkbar); außerdem kreuzen sich die beiden Wege hin und wieder. Wer sich für die Bildung entschieden hat, bleibt gleichwohl mit der Gefahr der Pseudobildung konfrontiert. In der deutlichen Unterschiedenheit der Wege liegt zugleich das große Risiko der eigenen Bildung: Ist mit Blick auf eine gut ausgebaute Straße der verschlungene steile Bildungspfad noch erkennbar? Während die Wegmetapher die Unverfügbarkeit der Bildung auf den ersten Blick zu neutralisieren scheint, erweist es sich auf den zweiten Blick als sehr viel komplizierter, sich im Verhältnis zu den beiden möglichen Wegen zu situieren. Der Kreuzweg bietet dem Leser keine Sicherheit hinsichtlich seiner Entscheidung; vielmehr stellt er die Herausforderung und die mögliche Täuschung der eigenen Bildung auf Dauer. Die sich kreuzenden Wege der Bildung und der Pseudobildung geben nicht nur beständig Anlass, das Verhältnis zur eigenen Bildung kritisch zu befragen. Sie stellen in Frage, inwieweit dieses Verhältnis überhaupt für uns Transparenz besitzt: Mitten auf einer Kreuzung stehend ist es nicht auszumachen, auf welchem der sich kreuzenden Wege man sich befindet. Aufgrund dieser beständigen Herausforderung ist es zudem unmöglich, sich auf den bisherigen Verlauf seines Weges zu stützen. Eine Stütze findet lediglich jener, der in „Reih' und Glied" auf dem Weg der Zeit wandelt (ebd., 728). Die Kreuzung ist zuletzt das Rätsel der Einheit und Differenz, der Kontinuität und Diskontinuität von Bildung und Pseudobildung. Insgesamt impliziert die Metapher, dass der Mensch im Hinblick auf die Bildung als Wandlung des Selbstund Weltverhältnisses keinen privilegierten Standpunkt besitzt. Zur Frage steht damit die Auffassung eines selbstdurchsichtigen und Wahrheit verbürgenden Subjekts, eines Subjekts, welches Aufschluss über sich und die Welt erhalten kann.27 Diese Provokation neuzeitlichen Subjektdenkens wird im vierten Vortrag ausdrücklich, in dem das Subjekt-Objekt-Verhältnis in der Bildung bzw. Pseudobildung verschieden ausgelegt wird. Der Orientierung an der Lebensnot in der Pseudobildung entspricht ein instrumentelles Verhältnis des Subjekts zur Welt: ein „kluges Berechnen und Überlisten der Natur" (ebd., 714ff). An die wissenschaftliche Betrachtungsart der Natur heften sich Wahrheitsansprüche, mit denen sich das Subjekt seinen Betrachtungen ge-

genüber als einheitliches sichert und versichert. Es ist klug, geistesgegenwärtig, beredsam etc. (vgl. ebd.). Dieses Verständnis von Subjektivität im Sinne eines „Mauso-

dazu auch Alfred Schäfer, der diese Problematik im Anschluss an „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne" analysiert (Alfred Schäfer, Genealogie Macht Bildung, in: Nietzscheforschung 1, Berlin 2000).

Vgl.

-

-

Das Bildungsgeheimnis

69

leum[s]" wird durch die Begriffe von Instinkt und Intuition irritiert. Die Intuition geht auf das „metaphysische Einssein aller Dinge an dem großen Gleichniß der Natur" und bildet zur sezierenden wissenschaftlichen Betrachtungsart den Gegensatz (ebd.). In diesem Kontext wird die Ökonomie der Erkenntnis wie des Bedürfnisses als durchbrochen verstanden zugunsten eines ,,erleuchtete[n] Aetherraumfs] der subjektfreien Contemplation" (ebd., 714). Die Vorträge zeichnen an dieser Stelle ein Verständnis von Bildung vor, welches an der Überwindung des Subjekts ansetzt. Dabei bleibt der Begriff der Überwindung selbst prekär, da das Subjekt nicht durch ein machtvolleres Subjekt überboten wird. Begriffe wie Intuition und Instinkt verweisen dagegen auf jene Entzogenheit und Unverfügbarkeit, die bereits in Bezug auf den Bildungsgedanken zur Sprache gekommen sind. Intuition kann nicht hervorgebracht oder erarbeitet werden; sie trifft einen unvorhergesehen. Es handelt sich insbesondere nicht um einen einheitlichen Begriff, der dem Individuum im Hinblick auf seine bildende Kontemplation eine Struktur verleihen würde. Aus systematischer Sicht verlässt eine solche Auslegung den sicheren Boden' bildungstheoretischer Reflexion, da sie die Einheit stiftenden Momente des Bildungsprozesses problematisiert. Wenn auch der Bildungsbegriff der abendländischen Tradition immer ein Spannungsbegriff, kein Erfüllungsbegriff, gewesen ist, so hat dieser gleichwohl einen transzendentalen Bezugspunkt: Dafür muss man nicht auf ein metaphysisch konnotiertes Persönlichkeitskonzept rekurrieren. Es reicht der Bezug auf Bildung als Erfahrung oder auch als Denken, in dem zumindest ein formaler Bezugspunkt, als eine Sammlung des Selbst bzw. Rückkehr zu sich selbst29 oder eine Selbständigkeit im Denken30, enthalten ist. Solche Vorstellungen sichern dem Bildungsgedanken seine Prozesshaftigkeit oder zumindest seine Systematik. In den Vorträgen wird der bildenden Bedeutung auf eine Persönlichkeit hin oder auf eine verlässliche Repräsentation von Welt hin mit Argwohn begegnet (vgl. ebd., 728f). Das Subjekt wird als jene Instanz, welche über Wahrheits- und Geltungsansprüche entscheidet, problematisiert. Die Konfrontation mit der Täuschung im Hinblick auf die Bildung kann nicht mehr als Stimulans der Wahrheitssuche dienen, so dass man nach einer Selbstkritik geläutert aus dieser Konfrontation hervorgehen könnte. Eine solche Läuterung von der Selbsttäuschung wird in der Kantischen Vernunftkritik noch für -

,

Rainer Kokemohr interpretiert diese Gegenüberstellung im Anschluss an die Zweite Unzeitgemäße als Gegensatz von Leben und Erkenntnis und verweist auf eine „ungerechtfertigte Voraussetzung" Nietzsches für diese Entgegenstellung. Mit Jürgen Habermas wird Nietzsche ein positivistisch verengter Wissenschaftsbegriff vorgeworfen (Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1973, 358f.). In der folgenden Erörterung geht es uns nicht um die Tragfähigkeit dieser Kritik am wissenschaftlichen Denken, welches in dem unveröffentlichten Manuskript Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne noch stärker auf seine Lebensdienlichkeit befragt wird. Für die Konfrontation des Lesers mit dem Bildungsgeheimnis ist vielmehr die schwierige Positionierung zu Bildung versus Pseudobildung von Interesse. In seinem Nietzsche-Buch legt Kokemohr die Unterscheidung mit Bezug auf Intuition vs. Konvention aus (Rainer Kokemohr, Zukunft als Bildungsproblem 19ff.). Günther Buck, Rückwege aus der Entfremdung. Studien zur Entwicklung der deutschen humanistischen Bildungsphilosophie, Paderborn 1984. Theodor Ballauff, Pädagogik als Bildungslehre, Baltmannsweiler 2004. ...,

Christiane

70

Thompson / Gabriele Weiß

realisierbar gehalten, obschon dort der Schein, dem die Vernunft unterliegt, nicht aufhört, sich immer wieder öffnet.31 Nietzsches Bildungsvorträge zeichnen im Hinblick auf die Bildungsproblematik vor, dass der wahren Bildung kein erkenntnismäßiger, moralischer oder anderweitiger Vorrang gegenüber der Pseudobildung zukommt. Eine endgültige Absetzung der Bildung von der Pseudobildung, so die vorliegende Interpretation der Kreuzwegmetapher, erscheint unmöglich. Im Kardinalsatz der Bildung wird behauptet, dass die Möglichkeit der Bildung selbst auf Täuschung beruht. Die Textbezüge zeigen, dass eine Argumentation, die meint, sich auf der Ebene von Wahrheit und Täuschung bewegen zu können, übersieht, wie grundlegend unser Selbst- und Weltverhältnis in die Täuschung verstrickt ist. Der Rekurs auf Instinkt und Intuition droht den Bildungsgedanken exzentrisch aufzulösen, da diesem Einheitlichkeit und Gerichtetheit abgeht.3 Ohne eine transzendentale Verankerung der Bildung wird diese ortlos. Nietzsche nimmt dies auf, wenn er das Bildungsgeschehen im Äther der Kontemplation situiert. Der Äther ist unbezüglich bzw. isotrop, überall und doch nicht greifbar. Er ist unabhängig von kulturellen und geschichtlichen Sinnstrukturen (überkommener Bildung); er steht z.B. für die Abstinenz von Zweck-Mittel-Bezügen der Bildung und von der Verführung zur Selbstbehauptung durch Bildung. Als „Ort der Reinigung vom Subjekt" bildet der Äther den unbezüglichen Bezugspunkt der Bildung.34 Um abschließend auf die Frage eingehen zu können, wo dieses Bildungsgeschehen hinführt, ist auf das Verständnis des Bildungsgeheimnis-

zurückzugehen. Interpretation des Bildungsgeheimnisses im Kontext der genannten Stellen des Bildungsvottrags stellt dieses nicht länger als (un)problematisches Wissen mit Wahrheits- bzw. Geltungsanspruch dar. Das Geheimnis liegt, mit anderen Worten, nicht in der selbstverständlichen Identifikation der wenig wahrhaft Gebildeten und der sich täuschenden Masse, die vergeblich nach Bildung strebt. Der Glaube an eine solche Identises

Die vierten

2

3

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft (A 297). Das Festhalten an dieser Selbsttäuschung fuhrt Nietzsche in die Konsequenz eines „exzentrischen Zirkels": die ewige Wiederkunft des Gleichen (Georg Siegmann, Wahrheit als Selbsttäuschung: Die ewige Wiederkunft des Gleichen, in: Kategorien der Existenz. Festschriftfür Wolfgang Janke, hg. von Klaus Held, Würzburg 1993, 245). In der Fröhlichen Wissenschaft verbindet Nietzsche den Gedanken der Bildung mit dem der Täuschung, wenn er sagt, dass die „ganze Geschichte der Narcótica [...] beinahe die .Geschichte der Bildung', der sogenannten höheren Bildung" ist (KSA, FW, 3, 444). Dies ist wohl der Grund, warum in der Literatur gesagt worden ist, dass dieser Bildungsgedanke „allenfalls noch von postmodernen Metaphysikern des Ästhetischen als Fortschritt gefeiert wird" (vgl. Christian Niemeyer, Nietzsches Vorträge „Über die Zukunft unserer Bildungsanstaltungen" 71). Eine solche Haltung lässt sich nicht mehr auf die Provokation der immer schon als unproblematisch gehandelten Voraussetzungen von Bildung und Selbst ein. Vgl. KSA, BA, 1, 729. In den Vorträgen bleibt allerdings ein Überstieg greifbar: In der Figur des Kultur schaffenden Genius. An den Stellen jedoch, wo auf diese Bildungsausnahmen Bezug genommen wird, steht nicht die Ausnahmepersönlichkeit, sondern die Ausnahmeerscheinung im Vordergrund. Vorgestellt wird nicht ein selbstbewusster Genius, ein Genius auf der Grundlage personaler Identifikation, sondern ein bei den Jesuiten bettelnder Johann Joachim Winckelmann und ein Schiller mit „entzündet funkelnde[m] Auge" (KSA, BA, 1, 724f). Zu dieser Problematik einer Personifikation der Intuition Rainer Kokemohr, Friedrich Nietzsche (1844-1900), 40f. ...,

34

71

Das Bildungsgeheimnis

fikation ist selbst noch Bestandteil der Täuschung, von der im Bildungsgeheimnis gesprochen wird. In einer solchen Haltung der Wissensübernahme wandelt sich womöglich der eingenommene Standpunkt; das Denken aber bleibt unverändert. Die Täuschung ,im' Bildungsgeheimnis besteht darin, Bildung als einen Ort oder Standpunkt erreichen zu können; die Täuschung ,des' Bildungsgeheimnisses meint, dass man glaubt, mit dessen Offenbarung entkäme man der Täuschung ,im' Bildungsgeheimnis. Die Einsicht hingegen, dass das Bildungsgeheimnis nicht verraten werden kann, da wir mit der Täuschung im Hinblick auf Bildung und Pseudobildung nicht ins Reine kommen, macht die Täuschung produktiv, wenn auch nicht überwindbar. Durchkreuzt wird unser Glaube an die Wahrheit der Bildung und das Wissen von ihr.36 Die Einsicht in die Täuschung impliziert eine Auseinandersetzung, welche das Verhältnis zu uns selbst und zur Welt in seiner Einheitlichkeit in Frage stellt. Vor diesem Hintergrund lässt sich der Aufbau des vorliegenden Beitrags abschließend rekapitulieren. Den Ausgangspunkt bildete Nietzsches Bildungskritik, ein zentrales Motiv der Basler Vorträge, welches zu dem schwierigen Gegensatz von Bildung versus Pseudobildung führt. Der erste Teil zeigt, dass sich die Gegenüberstellung von Bildung und Pseudobildung nicht in ihrer Gegensätzlichkeit erschöpft, sondern die Vorträge gerade von der Schwierigkeit bestimmt sind, die Bildung gegenüber der Pseudobildung auszuweisen. Es ist diese mögliche Täuschung über die Bildung, die auch das Verhältnis Nietzsches zu seinen Lesern bestimmt. Der zweite Abschnitt verdeutlichte daraufhin die Verunsicherungen der eigenen Bildung: die Bildung des Lesers wie auch Nietzsches Bildung. Die Gestaltung der Vorträge sehen weder einen gebildeten Nietzsche vor, von dem die Leser lernen, noch lassen sie einen Leser zu, der an den Vorträgen lediglich seine eigenen Bildungsstandpunkte bestätigt oder gegen neue ersetzt. Dagegen legen es die Vorträge auf das Lesen und Denken an: Der Leser wird durch die Vorträge in seiner Bildung herausgefordert und kann sich seiner Deutungsversuche nicht (durch die eigene oder Nietzsches Autorität) versichern. Der dritte Teil versuchte dementsprechend eine andere Interpretation des Bildungsgeheimnisses, in dem die Unsicherheit und Irritation, genauer: die Täuschung über die eigene Bildung, als grundsätzlich für unser Verhältnis zu uns selbst und zur Welt entwickelt wurden. Dieses Ergebnis der vorliegenden Auseinandersetzung mit Nietzsches Vorträgen ist nach unserer Auffassung bildungstheoretisch bedeutsam, da die Produktivität im Lesen das prekäre Selbstverhältnis in der Bildung, die Einheit und Differenz von Wahrheit und Täuschung unserer Bildung und damit ihr notwendiges, aber produktives Scheitern, fassbar macht. Es erlaubt zum Abschluss den Verweis auf die kritischen bzw. aporetischen Implikationen von Nietzsches

Bildungsvorträgen. „Die Befreiung neue

Illusionen"

2000, 70).

von

Illusionen führt vielleicht nicht nur in die Unsicherheit, sondern zugleich in Macht Bildung, in: Nietzscheforschung 7, Berlin

(Alfred Schäfer, Genealogie

-

-

Es sind verschiedene Bildungsreflexionen im Anschluss an eine solche Auseinandersetzung mit Nietzsche denkbar. Die Gebrochenheit der Bildung stellt einen interessanten Ansatzpunkt für aktuelle Fragestellungen um eine systematische Neufassung des Bildungsbegriffs dar (dazu Michael Wimmer, Zerfall des Allgemeinen Wiederkehr des Singnlären, in: Jan Masschelein, Michael Wimmer, Alterität Pluralität Gerechtigkeit. Randgänge der Pädagogik, Sankt Augustin 1996). —

72

Christiane

Thompson / Gabriele Weiß

Der Begriff ,Bildungsgeheimnis' zeichnet sich dadurch aus, dass man sich nicht mit ihm, dem darin enthaltenen Wissen oder schließlich der eigenen Bildung beruhigen kann. Das Bildungsgeheimnis nach unserer Lesart bildet einen beständigen Einsatzpunkt für eine Reflexion und Verständigung über unser Selbst- und Weltverhältnis, das immer schon mit Täuschung zu tun hat. Eine solche Lesart gibt der bildungstheoretischen Auseinandersetzung mit Nietzsches Vorträgen ein kritisches und aporetisches Moment. Aporetisch und damit enttäuschend ist diese, weil sich die Reflexion nicht einlösen lässt, nicht als Standpunkt zu gewinnen ist. So zeigt sich überhaupt das Wagnis des Versuchs sowie die Unmöglichkeit des Abschlusses im Umgang mit Nietzsches Bildungsvorträgen. Daran bemisst sich letztlich auch der kritische Zug der Auseinandersetzung, da das Bildungsproblem ideologisch nicht zu lösen ist: Aufgrund der Unmöglichkeit, aufgelöst zu werden, treibt das Bildungsgeheimnis zu immer wieder neuen und anderen Versuchen an, sich mit der Wahrheit und Täuschung der eigenen Bildung

auseinander zu setzen.

JÜRGEN OELKERS

Friedrich Nietzsches Basler Vorträge im Kontext der deutschen Gymnasialpädagogik

Im Jahre 1904 bereiste eine

Gruppe von Kommissaren des Königlich Preußischen Ministeriums für Handel und Gewerbe im Auftrag des Preussischen Abgeordnetenhauses für mehrere Monate die Vereinigten Staaten und untersuchte das amerikanische Bildungswesen. Die Gruppe legte zwei Jahre später Reiseberichte über Nord-Amerika vor, in denen die Eindrücke der Reise zusammengefasst wurden. Dabei entstand ein recht positives Bild. Argumentiert wurde durchgehend, dass die Gleichheit der Bildung im Durchschnitt für eine Höherqualifizierung der Arbeitskraft sorgen würde.2 Die amerikanische Public School habe die ständische Verfassung des Schulwesens abgelöst und garantierte bessere Chancen für alle.3 Gelegentlich störten sich die Beobachter am Führungsstil der Schulen4, auch waren nicht alle mit der demokratischen Schulverfassung

4

Die Kommission reiste Ende August 1904 in die Vereinigten Staaten und kehrte Anfang November 1904 zurück. Der 1906 vorgelegte Abschlussbericht besteht aus vierzehn Einzelberichten, die sämtlich von Berufs- oder Gewerbepädagogen verfasst wurden. Am 4. Juni 1902 hatte das Preußische Haus der Abgeordneten einen Antrag des Kölner Juristen und Zentrums-Abgeordneten Carl Trimborn (1854-1921) angenommen, der die Preußische Staatsregierung ersucht, Maßnahmen zur Förderung des Kleingewerbes zu treffen. In diesem Zusammenhang wurden Kommissare bestellt, die gewerbliche und berufspädagogische Einrichtungen in anderen Ländern des Deutschen Reichs sowie in der Schweiz, Österreich und England besuchen sollten. Die entsprechenden Berichte wurden dem Abgeordnetenhaus 1904 vorgelegt. Die Weltausstellung in St. Louis im gleichen Jahr gab Anlass, den Auftrag auf die USA auszudehnen. Carl Trimborn war seit 1896 Abgeordneter im Reichstag und im Preussischen Abgeordnetenhaus, nachdem er seit 1894 Vorsitzender der Rheinischen Zentrumspartei war. 1914 wurde er erster Vorsitzender des Volksvereins för das katholische Deutschland. So argumentierten bis zum ersten Weltkrieg zahllose deutsche Pädagogen, etwa auch Georg Kerschensteiner (Georg Kerschensteiner, Die nationale Einheitsschule, in: Bericht über die Deutsche Lehrerversammlung zu Kiel, Pfingsten 1914, hg. vom Geschäftsfuhrenden Ausschuss des Deutschen Lehrervereins, Leipzig, Berlin 1914, 32). Reiseberichte über Nord-Amerika erstattet von Kommissaren des Königlich Preussischen Ministers für Handel und Gewerbe. Berlin 1906, 47ff. Ebd., 62.

Jürgen Oelkers

74

einverstanden, aber überwiegend beurteilten sie das Gesehene als Fortschritt in der

Schulentwicklung.5

internationalen Der Abstand zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Bildungswesen wird unterschiedlich beurteilt. Die kritischen Stimmen des Berichts betreffen überwiegend die höhere Bildung und hier insbesondere die Universität. Auf der anderen Seite wird die „Ausgestaltung der Handarbeit" als vorbildlich hingestellt. Das gilt auch für betriebsnahe Schulgründungen wie etwa in der Keramikindustrie generell für alles, was der direkten Qualifizierung der Arbeitskraft diente. Besonders die Fächer des Handfertigkeitsunterrichts zeigten „vorzügliche Resultate".8 Dieser Unterricht gilt als „hochentwickelt"9, und von seinem Qualifizierungseffekt könne die deutsche Schule nur lernen.10 Auch das Erfolgsprinzip wird genannt, nämlich „Lernen durch Tätigkeit"11, im Zusammenspiel mit der „Leichtigkeit des Anschlusses und der Übergänge zwischen der Volksschule, der höheren Schule, den fachlichen Bildungsanstalten und der Universi,

tat."12

Das Ziel der amerikanischen Schule sei die

Bildung von Bürgern für die Demokra-

tie, und dieses Ziel wird auch in seiner didaktischen Konsequenz wahrgenommen: „Nicht einen abgeschlossenen Wissensschatz soll die Schule vermitteln, sondern sie will anregen und den Weg zeigen, auf welchem der junge Bürger sich allein weiter

helfen kann." Der Bezug des Unterrichts ist die demokratische Gesellschaft und nicht ein Kanon von Unterrichtsfächern, die einem klassischen Bildungsideal folgen. Die Probe des Unterrichts ist die soziale Realität. Ziel und Methode der amerikanischen Volksschule weisen in hohem Maße auf das .wirkliche Leben' hin. „Die Amerikaner wollen eine im guten Sinne ,moderne' Volksschule haben"14, eine, die allen Schülern dient, einheitlich ist und in sich keine Gliederung enthält. In dem Bericht 5

6

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8 9 10 11 12

13 14

Fortschritte in der amerikanischen Erziehung wurden im 19. Jahrhundert fortlaufend beobachtet, etwa 1838 in der Allgemeinen Schulzeitung mit Blick auf die weibliche Erziehung {Ueber das Schulwesen 1838, Nr. 29 vom 19. Februar 1838, 237). Mitte des Jahrhunderts häufte sich die Kritik, die deutsche ,Kultur' und amerikanische .Zivilisation' gegenüberstellt. Das amerikanische Schulwesen dient einem „Volk, das bloss Civilisation hat und nicht für Cultur und Bildung arbeitet" (J. Garns, Ein Blick in das amerikanische Schulwesen, in: Allgemeine Schul-Zeitung, Nr. 2 vom 10. Januar 1863, 9ff.). Ebd., 287f. Der Kronzeuge ist George Trumball Ladd und seine Essays on Higher Education

(1899).

Ebd., 409. Ebd., 151. Ebd., 169. Ebd., 171 ff. Ebd., 187. Ebd., 187. Berichterstatter ist der Regierungs- und Gewerbeschulrat Ernst von Czihak aus Berlin. Ebd., 51. Das ist zutreffend gesehen: Die Ablösung der höheren Bildung vom europäischen Ideal der Kultiviertheit begann Mitte des 19. Jahrhunderts und führte zur Entwicklung der High School, einer Einheitsschule und so einer gleichen Bildung für alle (Jürgen Oelkers, Kanon und Variation: Zur historischen Wirkkraft klassischer Bildung, in: Th. Fuhrer, P. Michel, P. Stotz (Hg.), Geschichten und ihre Geschichte, Basel 2004).

Friedrich Nietzsches Basler

Vorträge im Kontext der Gymnasialpädagogik

75

wird auch die allgemeine Differenz des deutschen und des amerikanischen Bildungswesens beschrieben. Es heißt: „Das deutsche Erziehungsideal des gebildeten Menschen, seinem Inhalte nach eher zu empfinden als zu definieren, ist wesentlich aristokratisch, da es nur in wenigen verwirklicht werden kann. Das amerikanische der gesunde, selbständig urteiErziehungsideal ist einfach, konkret und demokratisch: 5 lende und selbständig handelnde Bürger." Wie kommt Friedrich Nietzsches Kernthese aus den Basler Vorträgen von 1872 in ein offizielles Dokument des preußischen Abgeordnetenhauses, dessen Empfang der zuständige Minister Clemens von Delbrück16 am 18. Januar 1906 bestätigte? Verfasser des Berichts, aus dem das Zitat stammt, ist der Berliner Landesgewerberat Karl Theodor Dunker17, der unverdächtig ist, je Nietzsche-Leser gewesen zu sein. Dunker vertritt Positionen der Berufs- und Gewerbepädagogik, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts scharf kontrastieren mit denen der Gymnasialpädagogik. Dabei steht aristokratische Geistesbildung gegen die Erziehung zur Brauchbarkeit oder humanistische Gymnasien gegen Schulen der Nützlichkeit. Das Bildungsideal der humanistischen Gymnasien, so wie es im 19. Jahrhundert ausgeprägt wurde, steht hinter Nietzsches Vorträgen. Ihre zentralen Argumente sind Teil eines ausgedehnten Diskurses, der zwischen dem Ilfelder Reformplan von Christian Gottlob Heyne (1780)18 bis zur Prorektoratsrede von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf 189219 in Göttingen hunderte von Autoren gefunden hat und im gesamten 19. Jahrhundert von scharfen Kontroversen geprägt war. Im Folgenden werde ich zunächst die Konturen dieser deutschen Gymnasialpädagogik herausarbeiten (1). Danach versuche ich, die Schulen selbst zu beschreiben (2). Abschliessend komme ich auf die Basler Vorträge Nietzsches zu sprechen, die vor dem Hintergrund dieser Zusammenhänge zu sehen sind (3).

15

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19

Ebd., 36. von Delbrück (1856-1921) studierte Rechtswissenschaft in Halle und Berlin. Er war ab 1905 preußischer Minister für Handel und Gewerbe. 1914 wurde er Vizepräsident des Preußischen Staatsministeriums und in diesem Amt einer der Organisatoren der deutschen Kriegswirtschaft. Delbrück wurde später Reichsinnenminister und trat von diesem Amt am 11. Mai 1916 zurück. Karl Theodor Dunker (1860-1910) war ab 1906 Professor fur Facherziehung an der neu gegründeten Handels-Hochschule in Berlin und ihr erster Rektor. Christian Gottlob Heyne (1729-1812) reorganisierte von 1770 das Pädagogium in Ilfeld, das einen philologischen Lehrplan erhielt und eine darauf zugeschnittene Prüfungsordnung. Er war 1798 mit der Neuorganisation des Gymnasiums von Göttingen befasst und führte 1802/1803 die Reform der Höheren Schulen Hannovers durch. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff (1848-1931) war im Akademischen Jahr 1891/1892 Prorektor der Universität Göttingen.

Clemens

Jürgen Oelkers

76

1. Die deutsche

Gymnasialpädagogik

Im Herbst 1840 hielt der Rektor des Frankfurter Gymnasiums der Gräzist Johann 71 Theodor Vömel eine Progressionsrede zur Verabschiedung der Abiturienten. Die Rede trug den Titel Das Gymnasium, besonders das Frankfurter, im Kampfe mit dem Zeitgeiste. Die Rede wurde im ersten Band der neuen Zeitschrift Pädagogische Revue veröffentlicht, die Carl Mager in Stuttgart herausgab. Die Zeitschrift nannte sich Centralorgan für Pädagogik, Didaktik und Culturpolitik, war aber faktisch eine der zahlreichen Standeszeitschriften der Gymnasiallehrerschaft im deutschen Sprachraum. Im Vergleich zu anderen dieser Zeitschriften war die Pädagogische Revue eher kurzlebig, sie bestand nur bis 1858. Im ersten Jahrgang beklagte Rektor Vömel den „Zeitgeist", den er für das Übel des Niedergangs des Gymnasiums hielt. Der Zeitgeist hieß „Materialismus" und damit verbunden eine Bildung, die nichts suche als „unmittelbaren Nutzen und Genuss." Die Gymnasien widerstreiten aber, „ihrer Natur nach", „dem gemeinen Nützlichkeitsprinzip" und kennen wenn, dann nur „ein geistiges Vergnügen": „Denn diese lehren weder einen industriellen Zweig, noch dienen sie der Unterhaltung der Schüler, sondern bereiten nur vor zur strengen Wissenschaft, und spannen die Geisteskräfte immer mehr und mehr an. Wir brauchen und geben nicht Vielerlei und Mannigfaltiges, sondern führen nur auf einem Wege nach dem einen Ziele, immer näher zur höheren Auffassung des Lebens, somit immer mehr zum Gefühl des unermesslichen Abstandes, welcher zwischen dem Wissen an sich und dem Lernenden sich erhebt, somit also führen wir immer mehr zum Forschen und zu Demuth, während das von unserer Zeit verlangte Vielwissen die Oberflächlichkeit und den Dünkel Einer der Gewährsmänner für diese Kritik war Joachim Günther,24 der 1839 in Halle eine Broschüre gegen den Materialismus und das Nützlichkeitsdenken in der Bildung veröffentlicht hatte. Hier wird auch der Gegner genannt, nämlich die Realschulen als neuer Typus der höheren Bildung. Realschulen wurden gegründet, um eine Alternative zu ,

,

begünstigt."23

Das Gymnasium Francofortanum ist 1519 als Lateinschule gegründet worden. 1897 erfolgte die Trennung zwischen humanistischem und Realgymnasium. Das erste hieß fortan Lessing-, das zweite Goei/ze-Gymnasium". Erfolgreicher Schulleiter im 19. Jahrhundert war Tycho Mommsen (18191900), der die Schule seit 1864 leitete. Theodor Vömel gab u.a. Demosthenes heraus {Orationes contra Aescinem de Corona et Legatione, Leipzig 1862). Carl Mager (1810-1858) studierte Philologie und Philosophie in Bonn und Paris. Er war einer der Begleiter Alexander von Humboldts auf dessen Russland-Reise. 1837 wurde er als Professor an das Genfer Collège berufen. Bei Gründung der Pädagogischen Revue war er Privatgelehrter in Stuttgart, 1841 bis 1844 Professor für Französische Sprache und Literatur der Kantonsschule in Aarau. Danach lebte er als pädagogischer Schriftsteller in Zürich. Zu Beginn des Jahres 1848 wurde er Direktor der Realschule und der ersten Bürgerschule in Eisenach. Das Konzept der .Bürgerschule' ging wesentlich auf ihn zurück. Er behielt beide Direktorenämter bis 1852. Ebd. 432. Joachim Günther war Lehrer am Pädagogium in Halle. Er veröffentlichte 1840 die Schrift Über den deutschen Unterricht auf Gymnasien, Essen 1840. Das Pädagogium in Halle ist 1696 von August Hermann Francke (1663-1727) als Schule für wohlhabende Kinder gegründet worden.

Friedrich Nietzsches Basler

Vorträge im Kontext der Gymnasialpädagogik

11

den humanistischen Gymnasien und früheren Lateinschulen zu entwickeln. 1806 hatte Carl Georg Fischer .Realgymnasien' zur wissenschaftlichen Bildung derjenigen Schüler gefordert, für die die alte Literatur, wie es hieß, kein dringendes Bedürfnis sei. Eine dieser Gründungen war die Frankfurter „Musterschule"26, die als höhere Bürgerschule geführt wurde und neben dem Frankfurter Gymnasium bestand. Die Idee, die vielen kleinen Lateinschulen in anwendungsorientierte Bürgerschulen zu verwandeln, hatte bereits Ludwig Gedike (1799) ins Spiel gebracht.27 Günther verteidigte die alten Sprachen und ihren herausgehobenen Rang in der gelehrten Bildung. Eine Bildung, die unter das Nützlichkeitsprinzip gestellt werde, sei nichts als eine „Tochter des Rationalismus" und „Pflanzschule desselben"28, inkarniert in Realschulen,29 die Mathematik, Naturwissenschaften und neuere Sprachen auf dem Lehrplan haben. Realschulen wurden als Produkt der Revolution angesehen und der gelehrten Bildung entgegengesetzt. Selbst die Mittelmäßigen" streben danach, „sich eine möglichst hohe Geistesbildung zu verschaffen, um es mit Hülfe dieser [...] den Talentvollen gleichzuthun."30 Die Absicht, Schulen für den Mittelstand zu schaffen, schlägt ins Gegenteil um: Je gebildeter der Mittelstand wird, desto mehr zieht er die Bildung hinab. Die „Lehrer der gründlichen Erudition" verschwinden, der Unterricht wird „oberfachlich" und was gelernt oder studiert wird, steht nicht mehr „mit der Gründlichkeit und Gediegenheit des Wissens im Bunde". Viele dieser „materialistischen" Realschulen31 gab es im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts nicht, die Tatsache jedoch, dass ,Bürgerschulen', wie sie auch hießen, seit Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem in den größeren Städten den Gymnasien Konkurrenz machten, genügte, ein Arsenal von Argu-

26

:7

28 9

30 31

Die Gründe waren oft profan. Die Einführung der Reifeprüfung in Preußen 1788, besonders der die Anforderungen verschärfende Erlass von 1812 zwang kleinere Schulen dazu, auf die Vorbereitung zum Universitätsstudium zu verzichten und für ihre Schüler andere Angebote zu entwickeln. Den Namen ,Musterschule' erhielt die Höhere Bürgerschule am 6. Oktober 1804 mit Beschluss des

Senats. Die neue Schule sollte Modell sein für die Reform der anderen Schulen der Stadt. Reformelemente waren neben naturwissenschaftlichen Fächern und Turnunterricht auch die jährlichen ,Musterstunden', öffentliche Prüfungen, die Einblick geben sollten in die methodischen und didaktischen Fortschritte der Schule. Ludwig Gedike (1761-1838) wurde 1791 Rektor des Bautzener Gymnasiums. Sein literarischer ,Traum' über die bessere Schule der Zukunft erschien 1799 als Programmschrift des Gymnasiums. Ab 1803 bis 1830 war er Leiter der ersten Bürgerschule von Leipzig. J. Günther, Die Realschulen und der Materialismus, Halle 1839, 12. Der Ausdruck .Realschulen' wird Mitte des 18. Jahrhunderts üblich, zunächst zur Bezeichnung von Handels- oder Berufsschulen. Er kommt vermutlich zum ersten Male im Schulplan von Christoph Semler (1669-1740) vor. Semler eröffnete 1708 in Halle eine mathematische und mechanische „Realschule", die in seinem Haus geführt wurde und zwei Jahre Bestand hatte. 1738 gründete er die Schule neu, als „mathematische, mechanische und ökonomische Realschule bei der Stadt Halle" (Christoph Semler, Von königlicher preussischer Regierung des Herzogtums Magdeburg und von der berlinischen Societal der Wissenschaften approbirte und wieder eröffnete mathematische, mechanische und ökonomische Realschule bey der Stadt Halle, Halle 1739). 1747 gründete Johann Julius Hecker (1707-1768) in Berlin erneut eine Realschule, die 1768 in das Königliche Friedrich-

Wilhelm-Gymnasium überging. Ebd., 23. Ebd.,26f.

Jürgen Oelkers

78

zu entwickeln, mit denen die „gelehrten Schulen" verteidigt und abgegrenzt wurden. Polemische Stellungnahmen wie die von Günther3 gegen den Bildungsanspruch der noch kaum vorhandenen und real gar nicht bedrohlichen Bürgerschulen finden sich im Vormärz an verschiedenen Stellen in der Gymnasialliteratur. Die Diskurspolitik war darauf ausgerichtet, unter ,Bildung' einzig und allein ,gymnasiale' oder ,gelehrte' Bildung zu verstehen, die nur im Blick auf den eigenen Zweck verstanden werden kann. Faktisch wurden zu diesem Zeitpunkt einige wenige neue Realgymnasien gegründet,35 zumeist sind an den Gymnasien nur Realklassen geführt worden, die sich dadurch unterschieden, dass der Stundenanteil der klassischen Sprachen gesenkt wurde. Ideen der frühen dreißiger Jahre, wonach ,Gelehrtenschulen' und .Volksschulen' als nahe Verwandte zu verstehen seien, weil sie beide aus der Pädagogik stammten und beide auf demselben Grund basierten, nämlich der „Bildsamkeit des Geistes", so dass sie Glieder seien der „allgemeinen Schule"36, solche Ideen wurden massiv bekämpft und im ganzen 19. Jahrhundert kurz gehalten. Wo es entsprechende Entwürfe eines einheitlichen Schulsystems gab wurden sie nicht weiterverfolgt und gelangten nie auch nur in die Nähe eines deutschen Schulgesetzes. Die Gymnasiallehrerschaft verstand sich in strikter Abgrenzung von den anderen Schulständen. Sie sah ihre Aufgabe in der ,Bildung der humanitas', unter der die Schulung der Sprachen verstanden wurde. Die Lehrer der Gymnasien, schrieb Carl Mager, müssen „Philologen sein", nicht die alten Sprachmeister, die wohl „übersetzen und parlieren lehren", aber nicht bilden könnten. „Wie unendlich viel Deutschland gewonnen hat, seitdem sich durch Heyne, Wolf, Hermann, Lobeck u.A. ein Gymnasiallehrerstand von Philologen gebildet (hat) [...], ist bekannt."39 Auch in Positionen, die die Realschule nicht grundsätzlich bekämpften, war ,Humanität' die zentrale Begründung

menten

,

F. W.

Thiersch, Ueber gelehrte Schulen

mit besonderer Rücksicht auf Bayern, Bde 1-3, Stuttgart, 1826-1837. Eine scharfe Kritik an den philologischen Positionen Günthers stellvertretend für den Neuhumanismus veröffentlichte Wilhelm Jakob Georg Curtmann (1839) in der Allgemeinen Schulzeitung. Curtmann (1802-1871) war zwischen 1834 und 1841 Realschuldirektor in Offenbach. Chr. H. Nagel, Über das wahre Ziel der materiellen Richtung unserer Zeit. In: Correspondenzblatt für Gelehrten- und Realschulen Württembergs 1837; „Ohne hellenischen Anhauch wäre der Deutsche im Ganzen höchstens ein frommer, solider, hausbackner Philister oder Barbar!" (H. Axt, Das Gymnasium und die Realschule, Darmstadt 1840, 30). Ein Realgymnasium mit Lateinunterricht wurde 1836 in Gotha gegründet, 1845 ein Realgymnasium in Wiesbaden, in beiden Fällen mit dem Zweck, „eine allgemeine wissenschaftliche Bildung" derjenigen Schüler zu bewirken, die einen „technisch-praktischen Beruf ergreifen wollen (K. Knabe, Realschulwesen in Deutschland, in: W. Rein (Hg.), Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik, Bd. 5 {Nachahmnung Römische Erziehung), Langensalza 1898, 720). Die Gelehrtenschule und Volksschule in ihrer nahen Verwandtschaft, in: Die deutsche Schule, Nr. 4 vom 22. Oktober 1832, 13f. A. L. J. Ohlert, Die Schule. Elementarschule. Bürgerschule und Gymnasium in ihrer höheren Einheit und nothwendigen Trennung, Königsberg 1826. Jürgen Oelkers, Die Diskussion der „Einheitsschule" in Deutschland, Zürich 2005. Carl Mager, Die moderne Philologie und die deutschen Schulen, in: Pädagogische Revue, Erster Band (Juli 1840), 26.

Tübingen

-

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Vorträge im Kontext der Gymnasialpädagogik

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der Gymnasien. Sie bilden für einen Stand aus, dessen Bildung „im Volke die Spitze Theorie und „geistige Unabhängigkeit" stehen gegen „das der Humanität Moment des Utilitarismus und der Praxis."41 Für die beiden Letzteren sollten andere Schulen zuständig sein. Die Abgrenzung betraf freilich auch den eigenen Stand. Wenn etwa von Hegelianern unter den Gymnasiallehrern gefordert wurde, das oberste Ziel des Gymnasiums sei es nicht, Wissen zu vermitteln, sondern die Schüler denken zu lehren42, dann wurde eingewandt, das Gymnasium sei eine „Gelehrtenschule" und nicht eine Schule höherer „Allgemeinbildung". Dem Gymnasium falle das Allgemeine der Gelehrtenbildung zu: „Zuerst dieses, dass das Gymnasium, weil Schule, auf Bildung, nicht auf Wissenschaft gestellt ist."44 Und zweitens lehrt das Gymnasium nicht ,formale' oder .universelle', sondern ,elementarische' Gemeint waren die Elemente der Humanität, die ihre Grundlage einzig im Studium der Sprachen, vornehmlich der alten Sprachen, haben könne. Alle wirkliche Bildung, Kunst und Wissenschaft verweise zurück „auf die Culturvölker des Alterthums".46 Theologische Bestimmungen der „menschlichen Bildung"47 verschwanden im 19. Jahrhundert allmählich und wurden ersetzt durch standespolitische. Bildung wurde in die Tradition humanistischer Studien gestellt, als „Neuhumanismus" bezeichnet und mit dem Gymnasium verknüpft. Den Kern der Bildung sollten die griechische und römische Sprache und Literatur ausmachen, deren Bedeutung nicht in ihrem „praktischen Nutzen" liege, auch nicht in ihrem „formellen" Bildungswert, sondern in der Teilhabe an

behauptet."40

Bildung.45

Kapp, Fragmente aus einer neuen Bearbeitung der Gymnasial-Pädagogik, mitgetheilt zur wissenschaftlichen Verständigung bei der bevorstehenden Reorganisation des gesammten und insbesondere des Gymnasial-Schulwesens, Arnsberg 1848, 32. Kapp war Professor am Archigymnasium in Soest. Das Archigymnasium ist 1532 als Lateinschule gegründet worden, erhielt seinen Namen 1620 bei Neugründung von zwei anderen Gymnasien. Der Wandel von der evangelischen Gelehrtenschule zum humanistischen Gymnasium vollzog sich Ende des 18. Jahrhunderts. 1788 war die Schule an der ersten preußischen Abiturprüfung beteiligt. Kapp hatte bereits 1841 eine GymnasialPädagogik im Grundrisse veröffentlicht. Ebd., 35. J. H. Deinhardt, Der Gymnasialunterricht nach den wissenschaftlichen Anforderungen der jetzigen Zeit, Hamburg 1837. Carl Mager, Die philosophische Propädeutik auf Gymnasien, in: Pädagogische Revue Erster Band, A.

218f.

Ebd., 225. „Die Elemente der Wissenschaften sind dasjenige,

was zu dem menschlichen Geiste, und zwar Geiste in unmittelbarer und leicht aufzunehmende Beziehung steht, das jugendlichen und Ethische in den und auf dem Wege der Anschauung und der was Wissenschaften, Logische dem jugendlichen Geistes schon zu Gebote stehenden Erfahrung, sowie der Uebung subjectives Eigenthum des Gemüthes, der Intelligenz und des Charakters werden kann" (Carl Mager, ebd.). W. Herbst, Die höheren Schulen in ihrer Bedeutung für die Nation. Ein Vortrag, in: Ders., Karl Gustav Heiland. Ein Lebensbild, Halle 1869, 103. Lorenz Chrysostomos Pfrogner, Ueber die menschliche Bildung und ihr Verhältniss zur letzten Bestimmung: als Hülfsmittel zur genauen Berichtigung theologischer und philosophischer Begriffe, Prag 1810. Pfrogner (1751-1812) war Theologie-Professor in Prag, ab 1801 Abt des Prämonstrantenserstiftes Tepl im Sudentenland.

schon

zum

Jürgen Oelkers

80

Grundlagen der Kultur. „Ihr Gehalt und innerer Werth liegt [...] vornehmlich und hauptsächlich darin, dass diese Sprache und Literaturen neben dem Christenthum die Hauptquelle unserer modernen Cultur sind, zu der eine Elite der Gebildeten sich den Zutritt erhalten muss."48 Es ist nicht möglich und auch nicht nötig, dass „alle Menschen" und nicht einmal „alle Gebildeten" zu den Quellen der Bildung geführt werden. „Aber es ist durchaus nothwendig, wenn die Continuität der Bildung nicht unterbrochen, wenn nicht die Gefahr eines Verfalls der Bildung, eines Zurücksinkens in die Barbarei stets über der Menschheit schweben soll, dass unter den gebildeten Leitern der Völker eine Phalanx von jenen Conservatoren vorhanden sei, welche den heilen Gral hüten und den durch umeine Zuflüsse getrübten Strom der Bildung durch fortwährende Ergüsse aus der Quelle wieder reinigen." Carl Hirzel50 war seit 1864 Direktor des Gymnasiums von Tübingen und außerordentlicher Professor an der Universität Tübingen. Das Zitat ist Vorlesungen über ,Gymnasialpädagogik' entnommen, die Hirzel zwischen 1867 und 1873 regelmässig für angehende Lehrkräfte gehalten hat. Der Ausdruck ,Gymnasialpädagogik' ist seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts gebräuchlich, er entstand parallel zum Ausbau der Gymnasien, gestützt durch Autoren, die, wie Friedrich Thiersch in München, sich den

selbst dem ,Neuhumanismus' zurechneten und eine strenge Linie vertraten, die der Giessener Pädagoge Hermann Schiller am Ende des 19. Jahrhunderts52 .konservativ' nennen konnte. Karl Ludwig Roths Gymnasiale Pädagogik5 zählte dazu eben so wie Carl Friedrich von Nägelsbachs Gymnasialpädagogik. 9 0

1

2

3

Carl Hirzel, Vorlesungen über Gymnasialpädagogik, hg. von C. Hirzel, Tübingen 1876, 25. Ebd., 16. Carl Hirzel (1808-1874) absolvierte das theologische Seminar in Urach, studierte klassische Philologie in Tübingen. Danach war er Lehrer an der Fellenbergschen Erziehungsanstalt in Hofwyl bei Bern, 1835 Rektor der Lateinschule in Nürtingen, 1845 Professor am Seminar Maulbronn, 1852 Oberstudienrat in Stuttgart, 1857 ordentlicher Professor für klassische Philologie an der Universität Tübingen. Er war zugleich Vorstand des Philologischen Seminars. 1864 Wechsel an das Gymnasium Tübingen mit außerordentlicher Professur. Friedrich Wilhelm Thiersch (1784-1860) besuchte seit 1798 Schulpforta, studierte in Leipzig Theologie und Philologie; 1808 habilitierte er sich für klassische Philologie in Göttingen, folgte 1809 einem Ruf an das Gymnasium von München; 1812 gründete er nach Göttinger Vorbild das Philologische Seminar zur Vorbildung der Gymnasiallehrer; 1815 Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften; bis zur Übersiedlung der Universität von Landshut nach München war das Seminar mit der Akademie verbunden. 1827 Ruf an die Universität München. Thiersch war der Begründer der deutschen Philologenversammlungen, deren erste 1837 in Göttingen stattfand. H. Schiller, Gymnasialpädagogik, in: W. Rein (Hg.), Encyklopädisches Handbuch der Pädagogik. Dritter Band: Griechischer Unterricht dünglingsvereine, Langensalza 1897, 76. Karl Ludwig Roth, Gymnasial-Pädagogik, Stuttgart 1865. Roth (1790-1868), Absolvent des Tübinger Stifts; ab 1821 Rektor des 1526 gegründeten Egidien-Gymnasiums von Nürnberg, berufen von Friedrich Immanuel Niethammer (1766-1848); 1850 auf Empfehlung von Gustav Schwab Rektor des Gymnasiums von Stuttgart; 1858 als Prälat in den Ruhestand versetzt. 1859 habilitierte er sich in Tübingen und hielt Vorlesungen über Gymnasialpädagogik. Carl Friedrich von Nägelsbach, Gymnasialpädagogik, Aus dem Nachlass hg. von G. Autenrieth, Erlangen 1862. von Nägelsbach (1806-1859) war von 1827 bis 1842 Lehrer am Gymnasium von Nürnberg, seit 1842 Mitdirektor des Philologischen Seminars an der Universität Erlangen. -

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Vorträge im Kontext der Gymnasialpädagogik

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Eine geschlossene Front der Gymnasialpädagogik gab es allerdings zu keinem Zeitpunkt im 19. Jahrhundert. Das zeigen die Kontroversen, etwa die zwischen dem Merseburger Schulrat Christian Weiss55 und dem späteren Kurator der Universität Jena, Moritz Seebeck.56 Weiss vertrat die humanistische Richtung, Seebeck die realistische, wenngleich aus heutiger Sicht die Unterschiede nicht sehr groß scheinen. Gemeinsam war die Abwehr der Realschulen, die in Preußen von 1832 an offiziell auch „höhere Bürgerschulen"57 genannt wurden. Ihnen wurde das „Mass (der) Bildung" bestritten, das nicht im .künftigen Lebensberuf der Zöglinge" gefunden werden könne. In keinem der Berufe lasse sich nachweisen, dass dafür das Bildungsmaß und die Kenntnisse der Bürgerschulen notwendig seien.5 Es handle sich um „Abrichtungsanstalten" für einen „willkürlich gegebenen äusserlichen Zweck". Am Ende des Jahrhunderts ließ sich nach wie vor die These vertreten, dass es die primäre Aufgabe eines „humanistischen Gymnasiums" sei, die Gegenwart aus der Antike zu erschließen.60 Dabei ist schon 1872 die Frage gestellt worden, „ob nicht das Gymnasium mehr Naturwissenschaft lehren, d.h. also seinen Grundcharacter ändern soll, um seine Zöglinge für die Bedürfhisse der Gegenwart geeigneter zu machen." Das war zu lesen im Pädagogischen Archiv,61 im ersten Heft des Jahres 1872, genau parallel zu Nietzsches Vorlesungen in Basel. Der Verfasser, der Oberlehrer Friedrich Schmeding aus Duisburg, ist unbekannt, aber er widmet sich dem gleichen Thema wie Nietzsche, der Frage nämlich, in welchem Verhältnis ,klassische' und ,reale' Bildung verstanden werden müssen.63

Christian Weiss, Gymnasien und Realschulen in ihrem gegenseitigen Verhältnisse. Mit Bezugnahauf die Schrift des Herrn Moritz Seebeck über Sinn und Zweck unsers Gymnasialunterrichts, Jena 1840. Weiss (1774-1853) wurde 1805 Direktor des Lyzeums in Fulda; 1808 Rektor der Domschule von Naumburg, die im gleichen Jahr mit der Ratsschule zusammengelegt wurde; ab 1816 Schulrat von Merseburg. Moritz Seebeck, Einige Worte zur Verständigung über Sinn und Zweck unsers Gymnasialunterrichts, Jena 1840. Seebeck (1805-1884) unterrichtete zunächst an einem Berliner Gymnasium, ab 1835 Erzieher des Erbprinzen und späteren Herzog Georg II. von Sachsen-Meiringen; 1851 bis 1877 Kurator der Universität Jena. Gemeint sind Realgymnasien. Die Instruktion vom 8. März 1832 sicherte den Abiturienten dieser Anstalten den Zugang zu staatlichen Ämtern und legte einheitliche Prüfungsbedingungen fest. Ueber die preussischen sogenannten höheren Bürgerschulen, in: Allgemeine Schulzeitung, Nr. me

102-107,1843,859. Ebd., 860. P. Dettweiler, Die Erschließung der Gegenwart aus dem Altertum als Aufgabe des humanistischen Gymnasiums. Aus und nach einer Rede zur Feier des Geburtstages Sr. Majestät des Kaisers Wilhelm IL, Bielefeld, Leipzig 1889. F. Schmeding, Realschule und Gymnasium, in: Pädagogisches Archiv, Bd. XIV, Nr. 1, 1872, 3. Pädagogisches Archiv. Monatsschriftfür Erziehung, Unterricht und Wissenschaft ig. 1 (1859)-Jg. 56 (1914). Das Pädagogische Archiv war die Nachfolgezeitschrift für Carl Magers Pädagogische Revue, gedacht als Zeitschrift für beide Typen des Gymnasiums. Ebd., 13.

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Nur ist die Antwort eine ganz andere.

Schmeding präsentiert Universitätsgutachten, politische Petitionen, Verwaltungserlasse und sogar Selbstkritik der Philologen die die Vergeblichkeit der humanistischen Bildung nachweisen sollen. Die zentrale Legitimation der humanistischen Bildung, wonach „dem Lehrstoff der klassischen Sprachen ,

etwas den Geist veredelndes, stärkendes, eine Kräftigung der inneren Dynamis innewohne" wird mit empirischen Argumenten verworfen. Ein exklusiver Bildungswert der antiken Literatur und Kunst sei nicht gegeben, und das Argument, nur so werde man auf die Zweckfreiheit der Wissenschaft vorbereitet, wird mit Blick auf Mathematik und Naturwissenschaft widerlegt Sich vorzustellen, die klassische Bildung könnte „von sich aus [...] einmal Liebe zur Botanik, dann Liebe zur Musik, dann Liebe zur Astronomie" hervorbringen 7, grenze an Magie. Das ist keine einzelne Stimme. Die „unabweisbare Nothwendigkeit einer gründlichen Reform" der Gymnasien ist schon vorher nachzuweisen versucht worden. Nach der Reichsgründung häuften sich die Reform-, Programm- und Verteidigungsschriften. Bereits 1869 hatte der Berliner Stadtschulrat Friedrich Hofmann69 in einer Eingabe an den Magistrat die Einrichtung öffentlicher Mittelschulen gefordert, die mit gleichen Berechtigungen wie die Gymnasien verbunden sein sollten. Dies war die zentrale Streitfrage, sie macht die Schärfe der Auseinandersetzung verständlich, während parallel dazu das Schulwesen auf allen Stufen ausgebaut wurde. ,

.

2. Die

Gymnasien im 19. Jahrhundert

Am Ende des 19. Jahrhunderts

waren die humanistischen Gymnasien als Schultyp in keiner Hinsicht gefährdet, im Gegenteil, sie wurden parallel zu den Realgymnasien ausgebaut, weil die Nachfrage ungebrochen war. Die Dekadenzannahmen der Standesliteratur standen in keinem Verhältnis zur realen Entwicklung; vergleicht man die Zahlen Mitte und Ende des 19. Jahrhunderts, dann lässt sich nur festhalten, dass auf allen Ebenen Verbesserungen erreicht wurden. In Preußen gab es zum Stichtag Ostern 1839 113 Gymnasien, die von 21728 Schülern besucht wurden. Im Jahre 1840 waren dort 964 ordentliche und 522 Hilfslehrer angestellt. Jedes einzelne Gymnasium hatte zwischen acht und neun ordentliche Lehrkräfte. Die Schulen waren klein und bildeten keineswegs

Ebd., 29ff. Schmeding, Realschule und Gymnasium. Artikel II, in: Pädagogisches Archiv, Bd. XVI, Nr. 7 (1873), 484. Ebd., 505ff. Ebd., 513. H. Bonitz, Die gegenwärtigen Reformfragen in unserem höheren Schulwesen, in: Preußische dahrbücher, Jg. 35, Heft 2, 1875; J. Lattmann, Reorganisation des Realschulwesens und Reform der Gymnasien: Theil I: Reorganisation des Realschulwesens. Theil II: Reform der Gymansien, Göttingen 1873. Friedrich Hofmann (1820-1895) studierte klassische Philologie in Halle und Berlin, promovierte 1842 in Berlin, danach Gymnasiallehrer, 1864 bis 1875 Stadtschulrat von Berlin, 1876 bis 1893 Leiter des Gymnasiums zum Grauen Kloster. F.

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Vorträge im Kontext der Gymnasialpädagogik

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überwiegend für die Universität aus. Von den preußischen Absolventen des Jahrgangs 1839 gingen gerade einmal 631 zur Universität, 2249 wählten, wie Johann Gustav Droysen7 festhielt, „Lebensberufe". Und längst nicht alle Schüler, die ein Gymnasium besuchten, machten dort auch einen Abschluss.

Betrachtet man das Schulwesen insgesamt, dann fällt auf, dass Mitte des 19. Jahrhunderts öffentliche Schulen noch unter starker Konkurrenz privater Institute standen. 1844 besuchten in Kiel fast ein Drittel aller Kinder Privatschulen, ein Fünftel waren Freischüler und ein gutes Viertel besuchte überhaupt keine Schule.71 In Berlin erhielten von den rund 44000 schulpflichtigen Kindern etwa 325000 öffentlichen Unterricht, die anderen wurden privat unterrichtet. 12500 Kinder erhielten Armenunterricht, der keine ausgebaute Schule voraussetzte, sondern oft nur in Kursen erteilt wurde. Diese Kurse fanden auf Kosten der Kommunen statt, aus diesem Grunde zählte der Armenunterricht auch zum öffentlichen Unterricht. In Hamburg gab es gemäß Schulstatistik noch im Februar 1872 lediglich zwanzig Staatschulen, darunter die beiden höheren Schulen.73 19 Schulen der Stadt waren Kirchenschulen, 202 waren Privatschulen, darunter 24 Kurse für den Armenunterricht. Von den 27693 Schülern der Stadt gingen 15531 in Privatschulen, nur 6135 besuchten öffentliche Volksschulen, 635 waren Schüler an staatlichen höheren Schulen.74 Der Staat investierte erst nach dem Gesetz massiv in das Bildungswesen. Innerhalb von fünf Jahren, zwischen 1872 und 1877, verdoppelten sich die Ausgaben für das Volksschulwesen, während die Kosten für das Höhere Bildungswesen wesentlich rascher anstiegen75, ein Phänomen, das sich bis heute beobachten lässt. 1897 gab es im gesamten deutschen Reich 438 humanistische Gymnasien mit 116588 Schülern, zu denen noch die eigenen Progymnasien gezählt werden müssen. Die Realgymnasien waren inzwischen eine etablierte Variante mit einem abgeschwächten Lehrplan in den klassischen Sprachen, also ohne Griechisch, aber immer noch mit einem hohen Lateinanteil. Rechnet man diese beiden Gymnasialtypen zusammen, dann bestanden im Deutschen Reich zu diesem Zeitpunkt rund 800 Gymnasialeinrichtungen mit rund 165000 Schülern, denen 215 Real- oder höhere Bürgerschulen gegenüberstanden, in denen nicht mehr als 50000 Schüler unterrichtet wurden.76 Zum Vergleich: Für 1891 ist in Preußen ein Gesamtbestand von 5401566 Schülern nachgewiesen, von denen 91,02 % in öffentlichen Volksschulen unterrichtet wurde.77 -

Droysen, Über unser Gelehrtenschulwesen, Kiel 1846, 4. Ders., Denkschrift das Schulwesen der Stadt Kiel betreffend, Kiel 1847, 1 Of. Bericht über die Verwaltung der Stadt Berlin, Berlin 1842. J. G.

Darunter das 1529 gegründete Johanneum. Eine Höhere Mädchenschule wurde erst 1872 gegründet. Th. Blickmann, Die öffentliche Volksschule in Hamburg in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Hamburg 1930, 82f. Ebd., 89. Centralblattßr das Deutsche Reich, Jg. 1897, Mainz 1897, 180ff. W. Lexis (Hg.), Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich. Aus Anlass der Weltausstellung in St. Louis unter Mitwirkung zahlreicher Fachmänner herausgegeben, Bd. III: Das Volksschulwesen und das Lehrerbildungswesen, Berlin 1904, 10.

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Die Zahlen stehen für einen Ausbau, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch gar nicht abzusehen war. 1859 gab es in Preußen 173 Gymnasial- und 86 Realanstalten, wenn man alle verschiedenen Realschulen im Bereich der höheren Bildung zusammenzählt. In Preußen wurden Realschulen erster und zweiter Ordnung unterschieden.79 Berechtigt für die Entlassungsprüfungen waren nur die erster Ordnung; die lateinlosen' Realschulen fielen unter die zweiter Ordnung, so dass sie sich mangels Berechtigung auch nicht entwickeln konnten. Im Jahre 1873 hatte sich das Verhältnis nicht grundlegend verändert, 247 humanistischen Gymnasien standen 179 Realschulen aller Art gegenüber, die sich in der Stundendotation bestimmter Fächer unterschieden. Der Bildungswert der klassischen Sprachen, vor allem des Latein, war weitgehend unstrittig. Der Gymnasialanteil lag bei knapp drei Prozent der Gesamtschülerschaft, wobei hinzu gedacht werden muss, nochmals gesagt, dass die wenigsten Schüler der Gymnasien das Schulziel erreichten. 1885 betrug der Anteil derjenigen Abgänger, die das Gymnasium mit dem Zeugnis der Reife verließen, 14,3 % oder in Zahlen ausgedrückt: Am 1. April 1885 verließen 29330 Schüler die preußischen Gymnasien, davon 4204 mit dem Reifezeugnis. Die Übrigen wechselten die Schule oder wurden ohne Abschluss entlassen. Diese gingen, wie der bekannte Physiologie und Schulreformer William Preyer festhielt, „ganz unreif und unberechtigt" ab. In diesem Sinne hatte einen Vorteil, wer mit der Volksschule abschloss, ohne sich dem „Berechtigungs-Wettlauf der höheren Bildungsanstalten auszusetzen. Fünfzehn Jahre später lag die Volksschulquote reichsweit bei 90,8%. 8,9 Millionen Schülerinnen und Schüler erhielten Unterricht in öffentlichen Volksschulen83, also in Schulen, die staatlich unterstützt wurden und der Schulpflicht unterstellt waren. Die private Konkurrenz ist innerhalb weniger Jahrzehnte erfolgreich marginalisiert worden. ,

'

Am 6. Oktober 1859 erschien in Preußen die Unterrichts- und Prüfungsordnung für die Realschulen und Bürgerschulen. Als Aufgabe dieser Schulen wurde festgelegt, dass der Unterricht zu einer wissenschaftlichen Vorbildung für die höhern Berufsarten führe, zu denen keine akademischen Fakultätsstudien erforderlich seien {Unterrichts- und Prüfungsordnung der Realschulen und höheren Bürgerschulen, Berlin 1859). Alle diese Schulen, hieß es 1843 in der Allgemeinen Schulzeitung, zerfallen in „zwei Classen: in wirklich höhere Bürgerschulen mit der Befugniss von Abiturientenprüfungen [...] und in blosse

gehobene Volksschulen" {Ueber die preussischen sogenannten höheren Bürgerschulen 1843, 860). Das sächsische Regulativ für Realschulen vom 2. Juli 1860 anerkannte den Bildungswert des Latein, legte obligatorischen Unterricht aber nur für diejenigen Schüler fest, die nach dem Realschulkurs die Reifeprüfung absolvieren wollen {Regulativ für die Realschulen vom 2. Juli 1860, Dresden 1860). Lateinlose Realschulen wurden in verschiedenen Ländern eingeführt, aber sie erhielten keine mit dem Reifezeugnis vergleichbaren Berechtigungen. Gymnasien wuchsen daher schneller als Realschulen.

Für das Schuljahr 1889/1890 gelten in Preußen folgende Zahlen: Von den in diesem Schuljahr an allen höheren Lehranstalten abgegangenen Schülern erreichten 20,5 % das Ziel dieser Anstalten, die Hochschulreife. 40,2 % schlössen mit dem Zeugnis für den einjährigen Dienst ab, 39,3 % verließen die Schulen ohne dieses Zeugnis (Lehrpläne der preussischen höheren Lehranstalten des

Jahres 1891, Berlin 1891, 67f). W. Preyer, Zur Schulstatistik, in: Pädagogisches Archiv, 30, 1888, 235. W. Lexis (Hg.), Das Unterrichtswesen im deutschen Reich, 57.

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Vorträge im Kontext der Gymnasialpädagogik

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De facto bestand eine

Gesamtschule, der immer noch wenige Eliteschulen gegenüberstanden. Die entscheidende Achse des deutschen Schulsystems, die Unterscheidung zwischen ,höherer' und ,niederer' Bildung, ist gerade mit dem Ausbau der Volksschule erfolgreich zementiert worden. Hinter den ständigen Dekadenzannahmen der Standesliteratur steht ein interner Konflikt, der mit der allmählichen Verschiebung der Stundentafel zu tun hat. Der Lehrplan des königlichen Gymnasiums in Stuttgart sah Mitte des 19. Jahrhunderts, als Carl Hirzel dort unterrichtete, für die zehn Klassenstufen insgesamt 105 Lektionen in Latein und 42 in Griechisch vor. Lateinunterricht wurde von der ersten Klasse des Gymnasiums an erteilt, Griechischunterricht ab der vierten Klasse, Latein hatte einen Anteil von 12 Lektionen pro Woche in den ersten sechs Klassen, daneben mussten die Schüler mit Beginn der vierten Klasse 5 und danach 6 Stunden Griechisch lernen. Zum Vergleich: Die Normalverordnung für das Stuttgarter Gymnasium vom 2. November 1818 sah für die zwölf Klassen der Schule bei einen Wochendeputat von 33 bis 36 Stunden zwischen 20 am Anfang und 18 Lektionen Latein am -

Ende

vor.

Naturwissenschaften wurden Mitte des 19. Jahrhunderts nur auf den beiden obersten Klassenstufen unterrichtet, in weniger als die Hälfte der Zeit, die auf dieser Stufe noch für den Lateinunterricht aufgewendet wurde. Die einzige lebendige Fremdsprache, Französisch, wurde auf den sechs oberen Stufen als Randfach mit zwei oder drei Wochenstunden unterrichtet, Deutschunterricht wurde auf allen Stufen erteilt, aber ebenfalls nur als Randfach, die beiden nach Latein und Griechisch bestdotierten Fächer des Stuttgarter Gymnasiums, Mathematik und Turnen, wurden in den zehn Schuljahren mit 33 bzw. 30 Lektionen unterrichtet Das entsprach in etwa dem Lehrplan der sechsklassigen Oberstufe von Eton, der 1861 revidiert wurde.86 Mitte des 19. Jahrhunderts waren in Preußen und Österreich die Anteile von Latein und Griechisch niedriger, wenngleich beide klassischen Sprachen deutlich den Schwerpunkt des Curriculums darstellten. Der preußische Normallehrplan des Jahres 1856 sah für neun Schuljahre 86 Stunden Latein und 42 Stunden Griechisch vor, der 1854 eingeführte Lehrplan für die österreichischen Gymnasien verlangte für acht Schuljahre 50 Stunden Latein und 28 Stunden Griechisch.87 In der vierten Klasse des Gymnasiums erhielten die Schüler in Stuttgart 13 Lektionen Latein, in Preußen 10, in Österreich 6. Der Normallehrplan der Gymnasien in Bayern aus dem Jahre 1854 verlangte ein ähnliches Pensum an Latein und Griechisch wie in Preußen und sah zugleich weniger Französisch und Naturwissenschaften vor als in Stuttgart. In den französischen Lycéen wurden in sieben Schuljahren 22 Stunden Mathematik, Physik und Chemie unterrichtet gegenüber 92 Stunden Französisch, Latein und Grie.

Carl Hirzel, Sammlung der württembergischen Schulgesetze, Zweite Abtheilung, enthaltend die Gesetze für die Mittel- und Fachschulen bis zum Jahr 1846, Stuttgart 1847. G Uhlig, F. Burckhardt-Brenner, Zusammenstellung der Gymnasiallehrpläne der deutschen Schweiz, der bedeutendsten deutschen Staaten und Frankreichs; nebst pädagogischen Thesen. Gerichtet an den am 3. Oktober 1868 in St. Gallen zusammentretenden Verein schweizer. Gymnasiallehrer, Aarau 1868, 15. Ebd., 17. Ebd., 12f.

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chisch. Charakteristisch höher ist der Anteil Mathematik in Schweizer Gymnasien. In Bern wurden 1868 in acht Schuljahren 32 Stunden Mathematik und 54 Stunden Latein unterrichtet, in St. Gallen waren es in sieben Jahren 26 Stunden Mathematik und 46 Stunden Latein, in Zürich bei gleich langer Schulzeit 24 Stunden Mathematik und 48 lA Stunden Latein89. Am wenigsten Latein und Griechisch mussten die Schüler im Gymnasium Aargau lernen, sie erhielten 45 Stunden Latein und 30 Stunden Griechisch. Dafür wurden durchgehend Geschichte und Naturgeschichte unterrichtet, Chemie und Physik in den Oberklassen und Deutsch sowie Französisch mit einem vergleichsweise hohen Stundenanteil.90 Im Herbst 1867 wurde in Stuttgart eine realistische Abteilung des Gymnasiums eingerichtet, die von dem Mathematiker Christian Heimich Dillmann geführt wurde. Vier Jahre später, im Herbst 1871, wurde die Abteilung von 600 Schülern besucht, die Anerkennung als eigenständiges Realgymnasium erfolgte ebenfalls 1871. Von der bestehenden Realschule in Stuttgart wurde das neue Gymnasium mit Hilfe eines hoch dotierten Lateinunterrichts abgegrenzt. Die beiden Gymnasien unterschieden sich dadurch, dass die Schüler des Realgymnasiums kein Griechisch lernen mussten. Diese Klassen hießen ,Barbaren-Klassen', was aber den relativen Ausbau der Realgymnasien nicht aufhalten konnte. 1897 gab es im Deutschen Reich 125 Realgymnasien mit insgesamt 32.455 Schülern, was einen Anteil von etwas mehr als einem Viertel aller Gymnasiasten darstellte. Die ,Barbaren-Klassen' hatten durchgehend Lateinunterricht, also von der ersten bis zur zehnten Klasse, darunter 12 Stunden in den ersten beiden Klassen, 12 Stunden in der dritten Klasse, unterteilt nach ,lateinischer Exposition' und ,lateinischer Composition', 11 Stunden in der vierten Klasse nach gleicher Aufteilung und dann langsam sinkend von 10 Stunden in der fünften bis fünf Stunden in der zehnten Klasse, insgesamt betrug der Aufwand für den Lateinunterricht über 90 Stunden während der gesamten Schulzeit. Am Ende mussten Horaz und Tacitus gelesen werden können, in der schriftlichen und mündlichen Reifeprüfung wurde die Übersetzung eines zuvor nicht gelesenen Abschnittes eines Klassikers abverlangt.94 Diese Anforderungen erschienen vielen Philologen als unerhörte Absenkung des Niveaus, und alle Beteuerungen des Realschullagers, wonach „das ideale Ziel einer jeden höheren Lehranstalt [...] das humane" sein müsse95, beruhigten den Dekadenzverdacht nicht. Ein solcher Verdacht begleitet die Entwicklung der Gymnasien in Deutschland 88

89 90 91

Ebd., 16. Ebd.,5ff. Ebd., 11. Christian Heinrich Dillmann (1829-1899) studierte Theologie in Tübingen, später Mathematik am in Stuttgart; ab 1859 Mathematiklehrer am Gymnasium in Stuttgart, unterrichtete die Klassen, die kein Griechisch hatten; 1871 Rektor am neuen Realgymnasium; 1891 bestand dort Maria Gräfin von Linden (1869-1936) als erste Frau Württembergs die Reifeprüfung. Errichtet wurde die selbständige Real- und Elementarschule in Stuttgart mit Reskript des Ministeriums des Kirchen- und Schulwesens Württembergs am 22. März 1817. Centralblatt für das Deutsche Reich 1897, 182. Das Realgymnasium in Stuttgart, in: Pädagogisches Archiv 14, 1872. C. Schmelzer, Fromme Wünsche. Ein Beitrag zur Schulfrage. Prenzlau 1872, 9.

Polytechnikum

12

93 94

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Vorträge im Kontext der Gymnasialpädagogik

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und ist in dieser Intensität in keinem anderen europäischen Land festzustellen. Das humanistische Prinzip könne und dürfe nur unter „totaler Verwerfung" des utilitaristischen Prinzips der Grund der Reform der höheren Schulen sein, schrieb Eduard von Hartmann, es dürfe auch nur „[ejine Art von höheren Schulen geben".96 Als Friedrich Nietzsche nach Basel berufen wurde, fand er eine Schulsituation vor, die nicht auf den deutschen Bildungsdiskurs zugeschnitten war. Wesentliche Modernisierungsprobleme waren entweder bereits gelöst oder politisch auf den Weg gebracht, ohne dabei eine lang anhaltende Querelle wie in der deutschen Gymnasiallehrerschaft in Kauf nehmen Im Kanton Baselstadt bestand 1868 eine dreijährige ,Gewerbeschule', die zu müssen. für eine „höhere realistische Bildung" sorgen sollte und deren Ziel es war, „zum Übertritte in das Geschäftsleben oder in eine technische Fachschule zu befähigen". Der Lehrplan dieser Schule enthielt weder Latein noch Griechisch, unterrichtet wurden neben Deutsch zwei Fremdsprachen, Englisch und Französisch, dazu Physik in allen drei Stufen, Chemie in den letzten beiden Jahrgangsklassen, dazu Zeichnen und sogar Nationalökonomie. Am höchsten von allen Fächern war Mathematik, wobei insgesamt Q7 Der Lehrplan sieht im nur zwischen 28 und 32 Wochenstunden unterrichtet wurden Bereich Unterricht in und der Epochen Exempla Literaturgeschichte der sprachlichen drei Sprachen vor, Unterricht in Stilistik und Rhetorik, dazu Übersetzungen und Übungen im sprachlichen Ausdruck98, alles ohne Latein und Griechisch. Das öffentliche Schulwesen in Basel umfasste zu diesem Zeitpunkt drei verschiedene Schultypen, die in sich gestuft waren.99 Der erste Typus war die Volksschule, sie bestand aus zwei Stufen, den beiden Schulen, die für Kenntnisse und Fertigkeiten sorgen sollten, „welche zur Volksbildung gehören", die dreijährige ,Gemeindeschule' und die vierjährige Realschule'. Die Gemeindeschulen konnten nach dem „vollständig zurückgelegten fünften Lebensjahre" besucht werden, unterrichtet wurden elementare Kenntnisse in Lesen, Schreiben, Rechnen, Gesang, deutscher Sprache und Religion. Die vier Jahrgangsklassen der Realschulen haben einen nach Fächern unterschiedenen Lehrplan mit den Schwerpunkten Deutsche Sprache, Rechnen und Französisch.100 Beide Schulen zusammen sorgen für Elementar- oder Volksbildung, die allen Kindern zugänglich ist. Davon unterschieden ist eine mittlere Stufe mit zwei Zweigen, das fünfklassige Realgymnasium' einerseits, das sechsklassige ,humanistische Gymnasium' andererseits, die beide an die Gemeindeschulen anschließen. Eigene Vorschulen für das Gymnasium gibt es nicht. Das Realgymnasium vermittelt Kenntnisse derjenigen allgemeinen Bildung', die zum Eintritt in die Gewerbeschule befähigen101, das humanistische Gymna-

.

-

Eduard von Hartmann, Zur Reform des höheren Schulwesens, Berlin 1875, 21. A. Beer, Das Unterrichtswesen der Schweiz, Wien 1868, 146f. Ebd., 147f. Das gilt für die Verschulung der Knaben: „Die für die weibliche Jugend bestimmten Schulen sind Gemeindeschulen und Töchterschulen" (ebd., 153). Das entsprechende Gesetz ist am 30. März 1857 erlassen worden. Es sah sechsjährige Gemeindeschulen und fünfjährige Töchterschulen vor

(ebd., 153f.). Ebd., 139f. Ebd., 142.

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sium bereitet zum Eintritt in die Gewerbeschule und in das Pädagogium vor. Pädagogium und Gewerbeschule bilden die Oberstufe, beide dauern drei Jahre und nur das Pädagogium hat die Aufgabe, auf den Übertritt in die Universität vorzubereiten. Der Lehrplan sieht 8 Stunden Latein und 6 Stunden Griechisch pro Woche in jeder der drei Klassen vor.103 Zusammen mit dem humanistischen Gymnasium ist der Lateinanteil mit 67 Lektionen in neun Schuljahren der höchste aller Schweizer Gymnasien104, aber das liegt weit unter dem Anteil in Stuttgart und tiefer als in Preußen. Die Zahlen verweisen auf kleine Verhältnisse, an der Universität Basel waren im Wintersemester 1865/1866 106, im Sommersemester 1866 99 und im Wintersemester 1866/1867 105 Studenten immatrikuliert, das Pädagogium hatte im Winter 1866/1867 51 Schüler, die Gewerbeschule 118. Das humanistische Gymnasium wurde 1866 von 413 Schülern besucht, das Realgymnasium von 366, die Realschule hatte in diesem Jahr 349 Schüler. Die Zahlen schwankten, weil viele Schüler aus anderen Kantonen kamen und nur zeitweise Basler Schulen besuchten. Die Knaben-Gemeindeschulen der Stadt Basel hatten 1866 insgesamt 670 Schüler, davon 234 aus Basel, 330 aus anderen Kantonen und 106 Ausländer.105 Der Schulbesuch war nicht kostenlos, und die Nachfrage richtete sich nach Preis und Qualität gleichermaßen. Starre Prinzipien, wie in der deutschen Gymnasialliteratur, wurden nicht vertreten. Das humanistische Bildungsideal war nicht dominant, und dies nicht nur, weil die Zahl der Absolventen für die Universität klein gehalten wurde, sondern weil andere Abschlüsse genauso attraktiv waren und nicht mit einem Bildungsbegriff alle Begabungen oder Bedürfnisse bewertet wurden. Genau das unternimmt Nietzsche aber in seinen Basler Vorträgen, die die Schulsituation Basel nicht zur Kenntnis nehmen, sondern unmittelbar an den deutschen Gymnasialdiskurs anschließen. Als Lehrer am Pädagogium zwischen 1869 und 1876 hielt er sich im übrigen weitgehend an den Lehrplan106, der ebenso wenig wie die Schüler Anlass bot für einen allgemeinen Dekadenzverdacht.107

102 103

Ebd., 145. Ebd., 150.

1

G.

Uhlig, F. Burckhardt-Brenner, Zusammenstellung der Gymnasiallehrpläne der deutschen Schweiz ...,4. 10 A. Beer, Das Untereichtswesen der Schweiz, 159. 106 „Was den lateinischen Sprachunterricht anbelangt, so wird Livius, Virgil, Cicero, Horaz, Tacitus, Lucrez, Catull, Tibull, Properz, und zwar theils cursorisch, theils statarisch gelesen, ferner ausgewählte Partien der lateinischen Grammatik behandelt.

Aus dem Griechischen umfasst die Leetüre

Homer, Herodot, Xenophon, Sophokles, Plato, Demosthenes; ausgewählte Abschnitte der Syntax werden sorgfältig eingeübt; auch die Privatlectüre, die sich auf Homer, Herodot, Sophokles und Plato erstreckt, controliert" (ebd., 1 60). 107 A. Bollinger, F. Trenkle, Nietzsche in Basel, Mit einem Geleitwort von Curt Paul Janz, Basel 2000, -

7 Iff.

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Vorträge im Kontext der Gymnasialpädagogik

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3. Die Vorträge in Basel und ihr unmittelbares Umfeld

Köchly108

Der Dresdner Gymnasiallehrer Hermann bestritt 1844 die Exklusivität des gymnasialen Humanitätsideals und schlug vor, den Auftrag von Realgymnasien und humanistischen Gymnasien mit der realen Arbeitsteilung der Wissenschaften zu begründen, nicht mit einem eigenen Bildungsideal. Realschulen oder Realgymnasien bereiten auf das Studium der Naturwissenschaften, humanistische Gymnasien auf das der historischen Wissenschaften vor. Einen Zielkonflikt kann es so nicht geben, Voraussetzung ist die Preisgabe des Anspruchs auf humanistische Bildung, die allen anderen Bildungsansprüchen überlegen sei: „Das Gymnasium [...] entlässt seine Zöglinge zu den historischen, die Realschule als gleichberechtigte Schwester zu den Naturwissenschaften vorbereitet auf die Universität. Haben wir so die eigenthümliche Aufgabe des Gymnasiums erfasst, so ist damit auch das gründliche Studium des klassischen Altthertums als die Grundlage der Gymnasialbildung in seiner Nothwendigkeit erwiesen."109 Diese Aufteilung, die bis auf den Universitätszugang dem entspricht, was Nietzsche in Basel vorfand, wurde in Deutschland heftig bestritten, etwa von dem Kieler Historiker und ehemaligen Gymnasiallehrer Johann Gustav Droysen.110 Die Gymnasien, so Droysen, seien keineswegs Anstalten, „deren Zweck es ist für die Universität vorzubereiten". Vielmehr: „Ihr Zweck, ihre Aufgabe ist durch Unterricht und Zucht eine bestimmte intellectuelle und moralische Ausbildung zu erzielen, eben die, welche als Voraussetallgemeine Grundlage für die höheren Lebensberufe, als die gemeinsame '' zung bei Allen, die zum Stande der Gebildeten gehören, gelten darf."1 Genau diesen Anspruch erneuerte Nietzsche in Basel, ohne dabei den Ausdruck Roherer Lebensberuf zu verwenden. Zeitgleich ist das nichts Ungewöhnliches. Viele Autoren waren der Auffassung, dass die Gymnasien für den Stand der Gebildeten da seien und keinen anderen Zweck verfolgen. Bildung kann sich nur auf sich selbst beziehen, sie ist klassischen Ursprungs und setzt „einige wenige hochbegabte [...] Geister" voraus. Für die wahre Bildung sind nur wenige auserwählt, war der Standardsatz in der Gymnasialliteratur, Realschulen sind für die „mittlere Geistesbildung" zuständig113, es kann nicht zwei Sorten höherer Bildung geben.114 Hermann Köchly (1815-1876), seit 1840 Oberlehrer an der Kreuzschule in Dresden arbeitete 1848 an der Vorbereitung des neuen, liberalen sächsischen Schulgesetzes mit, war im Mai 1849 an der Bildung der provisorischen Regierung in Sachsen beteiligt und musste nach dem Ende dieser Regierung in die Schweiz fliehen, 1850 Professor an der Universität Zürich, 1864 Ruf nach Heidelberg. Hermann Köchly, Über das Princip des Gymnasialunterrichtes der Gegenwart und dessen Anwendung auf die Behandlung der griechischen und römischen Schriftsteller. Eine Skizze, Dresden, Leipzig 1845, 5. 110 Johann Gustav Droysen (1808-1884), 1840 Berufung nach Kiel, lehrte von 1829 bis 1840 am Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin. 111 Johann Gustav Droysen, Über unser Gelehrtenschulwesen. Kiel 1846, 4. J. Lattmann, Reorganisation des Realschulwesens und Reform der Gymnasien. Theil I: Reorganisation des Realschulwesens. Theil II: Reform der Gymansien, Göttingen 1873, Teil I, 7. 113 Eduard von Hartmann, Zur Reform des höheren Schulwesens, 16. 114 Ebd., 22.

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1870 druckte die Zeitschriftfür das Gymnasialwesen eine Kritik an der Denkschrift des Berliner Stadtschulrates Hofmann. In dieser Kritik wird eine Metapher gebraucht, die zwei Jahre später auch in Nietzsches Reden verwendet werden sollte. Mit dem Ausbau der Gymnasien, speziell der Realgymnasien, habe „der Strom der Bildung eine Breite erlangt [...], die uns fast mit Beängstigung erfüllen könnte, ob die festen Ufer nicht ganz aus der Gesichtsweite verschwinden werden; allein es fragt sich, ob dieser IIS* Strom nicht, was er an Breite gewonnen, an Tiefe verloren hat." Hinter der „weiten Ausbreitung der Bildung" steht keine „reine Begeisterung", sondern die Verschärfung der Zugänge zu staatlichen Beamtenstellen sowie des Zugangs zum Militärdienst. Die meisten Schüler sind nur mittelmässig begabt und leisten so auch nur Mittelmäßiges.117 Nur „verhältnismässig wenige" sind imstande, den Anforderungen der gelehrten Bildung standzuhalten, die Gymnasien „kranken an der Überfüllung mit schwach oder doch mittelmässig begabten Schülern"."8 Die Polemik der Basler Vorträge Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten von 1872119, Nietzsche war 27 Jahre alt, gerade berufen12 und äußerte sich vor einem republikanischen Publikum, ist also gut vorbereitet. Der effektvolle Nivellierungsverdacht durchzieht die gesamte Diskussion, verstärkt durch eine ,aristokratische' Sicht des griechischen Altertums, die den Gipfel der Bildung mit radikaler Verengung auf wenige beschreibt, die sich der Masse entziehen müssen und die nur dann gebildet sind, wenn sie dies auch können. Kein Mensch würde Bildung anstreben, wenn er wüsste, „wie unglaublich klein die Zahl der wirklich Gebildeten zuletzt ist und überhaupt sein kann".1 ' Die „Gegenwart unserer Bildungsanstalten", so Nietzsche (KSA, BA, 1, 667), aber sei von ganz anderen Tendenzen beherrscht, die nur „verderblich" wirken können. Die eine Tendenz richte sich auf die Erweiterung und Verbreitung der Bildung", also der Demokratisierung, die letztlich alle und jeden erreichen soll. Mit ihr gehe notwendig einher die andere Tendenz der „Verringerung und Abschwächung" (ebd.), die Bildung kraft- und niveaulos macht. Je mehr Bildung verteilt wird, und dies aus einem nationalökonomischen Kalkül heraus,122 desto mehr wird sie abgeschwächt, verliert nicht nur das einmal erK. Schütz, Vorschlag zu einer theilweisen Reform der Gymnasien. In: Zeitschriftfür das Gymnasialwesen Jg. 1870, 2. 116 Ebd., 3f. 117 Ebd., 5. 118 Ebd., 8. 119 Von den sechs geplanten Vorträgen wurden fünf gehalten. Sie waren von der Basler „Academischen Gesellschaft" in Auftrag gegeben und wurden am 16. Januar, 6. Februar, 27. Februar, 5. März und 23. März 1872 gehalten {Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten, Im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik zusammengestellt von R. J. Benders, St. Oettermann, München, Wien 2000, 258ff.). 120 Der Ruf an die Universität Basel war vom kleinen Rat des Kantons am 10. Februar 1869 beschlossen worden. Nietzsche begann seine Lehrveranstaltungen als Extraordinarius am 20. April 1869. Er wurde am 9. April 1870 zum Ordniarius befordert (ebd., 188ff). 121 Ebd., 665. 122 „Diese Erweiterung gehört unter die beliebtesten nationalökonomischen Dogmen der Gegenwart. Möglichst viel Erkenntniss und Bildung daher möglichst viel Produktion und Bedürfhiss daher möglichst viel Glück: so lautet etwa die Formel" (KSA, BA, 1, 667). -

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reichte Niveau, sondern zugleich die Ansprüche und so die ihr inhärente Kraft. Bildung, so Nietzsche, werde für jedermann erreichbar und so in die Ebene des Egalitären hinabgezogen. Damit schwinden die Anforderungen. „Man demokratisiert die Rechte des Genius, um der eignen Bildungsarbeit und Bildungsnoth enthoben zu sein" (ebd., 666). „Wahre Bildung" (ebd., 698) ist „mühselig" und macht „einsam" (ebd., 682, 668), sie verbraucht viel Zeit, ohne Nutzen nachzuweisen, und sie hat keinen Zweck außerhalb ihrer selbst. Sie dient daher weder dem Nationalstaat noch der demokratischen Republik, sie dient sich selbst, und sie ist niemandem zugänglich außer den wenigen, die die Natur auserwählt hat. Ihr Weg ist der zurück zu den Anfangen. Es gibt, so Nietzsche, nur eine einzige „Bildungsheimat", und die ist das „griechische Alterthum" (ebd., 686). Die „Jetztzeit" ist nichts als „modische Pseudokultur" (ebd., 691), die die „aristokratische Natur des Geistes" gefährdet und auflöst. Das Ziel der modernen, unwahren Bildung ist „Emancipation" der Massen, und genau das korrumpiert den Geist durch „Dienstbarkeit" (ebd., 698). Allgemeine Bildung nämlich verlangt staatliche Organisation, und die überführt die Freiheit des Geistes in didaktische Verwaltung (ebd. 709f.). Anstalten der Bildung können nicht zugleich Anstalten der „Lebensnot" sein (ebd., 717ff), werden beide Prinzipien nicht getrennt, dann kann der Zustand der Bildungsinstitutionen nur „erbarmungswürdig" sein (ebd., 727). Es gibt zwei Wege für die künftige Entwicklung der Bildungsinstitutionen. Den ersten will der große „Schwärm" gehen, der dem Geist der „Zeit" folgt und folglich ihren Beifall findet. Dieser Weg ist der der Abrichtung oder der Nützlichkeit in „Reih' und Glied": „Jener ungeheure Schwärm, der sich auf dem ersten Wege zu seinen Zielen drängt, versteht darunter eine Institution, wodurch er selbst in Reih' und Glied aufgestellt ist und von der alles abgeschieden und losgelöst wird, was etwa nach höheren und entlegeneren Zielen hinstrebt" (ebd., 728). Für die „andere kleinere Schaar" ist eine „Bildungsanstalt" etwas ganz Anderes. Alle, die an der wahren Bildung unter dem Schütze einer „festen Organisation" teilhaben, sind gehalten, ihr „Werk" zu vollenden und so von den „Spuren des Subjekts" zu reinigen und zum „ewigen und unveränderlichen Wesen der Dinge" zu gelangen (ebd., 729). Damit wird der Genius auf den Wege gebracht, der nur in der Anstalt der wahren Bildung zur Welt kommen kann, getragen durch Begabungen minderer Art, die sich in seinen Dienst stellen: „Alle, die an jenem Institute Theil haben, sollen auch mit bemüht sein, durch eine solche Reinigung vom Subjekt, die Geburt des Genius und die Erzeugung seines Werkes vorzubereiten. Nicht Wenige, auch aus der Reihe der zweiten und dritten Begabungen, sind zu einem solchen Mithelfen bestimmt und kommen nur im Dienste einer solchen wahren Bildungsinstitution zu dem Gefühl, ihrer Pflicht zu leben!" (ebd., 729). Nietzsches Vorträge sind bekanntlich nicht zu Lebzeiten veröffentlicht worden,123 so dass niemand darauf antworten konnte. Wie hoch das Bildungsniveau der Eliten um 1870 tatsächlich gewesen ist, lässt sich historisch schwer abschätzen und nicht aus Die fünf Vorträge sind in einem eigenhändigen Druckmanuskript überliefert, Nietzsche dachte 1872 an eine Veröffentlichung, verzichtete aber darauf. Die Basler Vorträge wurden, in Auswahl, erstmalig in der Dritten Abteilung der Grossoktavausgabe (Bd. XIX) veröffentlicht.

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Beispielen erschliessen. Nietzsche setzte vermutlich einfach Schulpforta voraus, also eigenen Bildungsgang,124 aber der kann schwerlich die Grundlage sein für die sehr weitgehende Kritik am Zerfall der Bildung durch Öffnung der Zugänge. Verfallstheoden

rien dieser Art sind immer wieder formuliert worden, ohne auch nur in einem Falle historische Längsschnittsdaten zur Verfügung zu haben, die auch schwer zu erzeugen sein dürften. Um 1870 lässt sich in der europäischen pädagogischen Literatur auch nur das Stichwort „demokratische Bildung" kaum finden, geschweige denn eine irgendwie einflussreiche Richtung, die das Stichwort mit Postulaten eingeklagt und öffentlich wirksam inszeniert hätte. Es ist kein Zufall, dass große Reformimpulse in Richtung Demokratisierung der Bildung nach dem Sezessionskrieg vor allen in den Vereinigten Staaten nachzuweisen sind. Erst am Ende des Jahrhunderts, dabei durchaus zögerlich und im Publikationsstrom marginal, ist in der europäischen Pädagogik von demokratischer Erziehung' überhaupt die Rede. Die staatliche Verschulung in Deutschland hat zu diesem Zeitpunkt nirgendwo wirklich demokratische Vorzeichen. Sie ist ein Projekt der Staatsverwaltung und muss paternal verstanden werden. Ihr Ursprung ist der absolute und nicht der demokratische Staat. Die Verbreiterung der Bildung durch den Ausbau der Volkschule bedrohte die „höhere Bildung" nicht, sondern schützte sie. Orden oder Klöster der „wahren" Bildung in der „kleinen Schar" sind während der deutschen Reformpädagogik vor und im Ersten Weltkrieg verschiedentlich thematisiert worden, ohne mehr darzustellen als ambitionierte Entwürfe, die gedacht waren als „Schutzwehr" (ebd., 729) gegen Dekadenz und Zerfall der Bildung. Eine solche Bildung, so Nietzsche, müsste man „fast sektiererisch" nennen -

(ebd., 731). Die Idee, eine „rechte und strenge Bildung" sei nicht zu haben ohne „Gehorsam und Gewöhnung" (ebd., 685), ist Gemeingut in der Literatur. Viele Autoren sind besorgt über die „Barbarei des Geschmacks" und den „Abfall" des Niveaus (ebd.). Und viele hätten Nietzsche zugestimmt, hätten sie hören können, was er in Basel zu sagen hatte: Ein „sicheres zur Sitte gewordenes, durch richtige Erziehung eingeleitetes Bedürfnis der Bildung" ist „vor allem Gehorsam und Gewöhnung an die Zucht des Genius" (ebd., 720). Vermutlich hätten sie auch nichts dagegen gehabt, den deutschen Klassikern mehr Platz einzuräumen, wenn sich dadurch der Weg zur „Heimat der Bildung" verbessern lassen würde (ebd., 686f). Schließlich ist in der Literatur auch immer wieder gefragt worden, ob sich die heutigen Gymnasien nicht „von jener durch Wolf angestrebten Humanitätsbildung entfernt" hätten (ebd., 689). Nietzsche besuchte nach der Versetzung in die vierte Klasse des Domgymnasiums zu Naumburg die Landesschule Pforta von Oktober 1858 bis zum Zeugnis der Reife am 7. September 1864. Mo-

ritz von Sachsen hatte 1543 in Pforta eine von drei Fürstenschulen gegründet, die sich zur Eliteschule des deutschen Protestantismus entwickelte, mit Schülern wie Friedrich Gottlieb Klopstock, August Ferdinand Möbius, Johann Gottlieb Fichte, Leopold von Ranke. Zur Schulzeit von Nietzsche bestand die Schülerschaft aus etwa 200 männlichen Zöglingen, die in sechs Klassen organisiert waren. (Friedrich Nietzsche. Chronik in Bildern und Texten, 45-110; vgl.: P. Dorfmüller, E. Kissling, Schulpforte: Zisterzienserabtei Sankt Marien zur Pforte, Landesschule Pforta, München, Berlin 2004).

Friedrich Nietzsches Basler

93

Vorträge im Kontext der Gymnasialpädagogik 125

Rektor der Landesschule Pforta, Carl Peter, einen Vorschlag „zur Reform unserer Gymnasien". Der Vorschlag läuft darauf hinaus, „Unterrichtsweise und Unterrichtsgegenstände" der unteren von denen der oberen Gymnasialklassen zu unterscheiden. Die unteren Klassen müssen streng geführt und zum „mechanischen Auswendiglernen" angehalten werden, wie es der „Natur des Kindes" entspreche.126 Hier müsse das Lernen „mit Nachdruck und Consequenz getrieben" werden, in den oberen Klassen dagegen könne „der Freiheit und Individualität der Schüler mehr 7 Rechnung getragen werden, als bisher geschehen ist".1 Peter sieht die Ursache für die vielfach beklagte Misere der Gymnasien nicht in der in Grenzen berechtigten „Einführung der sogenannten Realien", sondern in der Überfüllung und im Verkennen des Bildungsl ?R ziels. Es gäbe Gymnasien mit mehr als 750 Schülern, die überwiegend nicht studieren wollen oder sollen.129 Nur etwa 15 von 100 Schülern erreichen das Ziel des Gymnasiums, und die Ursache dieser „Symptome" sei dort zu suchen, wo das ursprüngliche Ziel abhanden gekommen sei. Vom „grossen Publikum", auch von nicht wenigen Schriftstellern der Gymnasialliteratur130 werden die Gymnasien nicht als Vorbereitungsschule für die Universität, sondern als in sich geschlossene, eine allgemeine umfassende Bildung bietende Schulen angesehen. Danach bemessen sich auch die „Forderungen in Bezug auf die Lehrpläne" und das müsse als die „Quelle" der „grossen Verirrungen" angesehen werden.1 ' Sein Schüler Nietzsche löste den Streit durch Überbietung: „Realschulen und höhere Bürgerschulen" sollen gleiche Berechtigungen erhalten, die Zeit sei nicht mehr fern, „wo man derartig Geschulten die Universitäten und die Staatsämter überall eben so unumschränkt öffnet wie bisher nur den Zöglingen des Gymnasiums" (ebd., 716f). Allerdings sei mit diesem Schluss ein „schmerzlicher Nachsatz" verbunden: „Wenn es wahr ist, dass Realschule und Gymnasium in ihren gegenwärtigen Zielen im ganzen so einmüthig sind und nur in so zarten Linien von einander abweichen, um auf eine volle Gleichberechtigung vor dem Forum des Staates rechnen zu können so fehlt uns somit eine Species der Erziehungsanstalten vollständig: Die Species der Bildungsanstalten!" (ebd., 717). Am wenigsten sei dies ein Vorwurf gegen die Realschulen, die „viel niedrigere, aber höchst nothwendige Tendenzen ebenso glücklich als ehrlich" verfolgt haben. Beschämt sein müssten die Gymnasien, deren Institut seit der Reformation (ebd., 730) „schmählich degradirt" worden ist (ebd., 717). Auch noch so kluge Apologien könnten „die barbarisch-öde und sterile Wirklichkeit" nicht übertünchen (ebd.). 1874 veröffentlichte der

ehemalige

-

Der Altphilologe Carl Ludwig Peter (1808-1893) war zur Zeit Nietzsches Rektor in Schulpforta. Carl Ludwig Peter, Ein Vorschlag zur Reform unserer Gymnasien, Jena 1874, 10. 127 Ebd., 14. 128 Gymnasien dieser Größe sind zeitgenössisch das Magdalenen-Gymnasium in Breslau, das Gymnasium von Münster, das Mariengymnasium in Posen, das Gymnasium von Ratibor, das FriedrichWilhelm-Gymnasium in Berlin: L. Wiese (Hg.), Das höhere Schulwesen in Preussen. Historischstatistische Darstellung, Bd. 2: 1864-1868, Berlin 1869, 522ff. 129 Carl Ludwig Peter, Ein Vorschlag zur Reform unserer Gymnasien, 5. 130 Erwähnt wird Wilhelm Julius Carl Mützell, Pädagogische Skizzen, die Reform der deutschen höheren Schulen betreffend. Der elften Versammlung der deutschen Philologen, Schulmänner und Orientalisten überreicht, Berlin 1850. 131 Carl Ludwig Peter, Ein Vorschlag zur Reform unserer Gymnasien, 1. 126

94

Jürgen Oelkers

Auch das ist Gemeingut der Kritik. Gymnasium und Realschule sind unfähig, ihre Schüler mit einer allseitig genügenden „allgemeinen Bildung" auszustatten, weil sie beide ein Stück Fachbildung „für specielle Berufszweige in ihren Lehrplan mit hereinziehen", statt sich ganz auf die Bildung zu konzentrieren. 32 Keine der beiden Arten von Vorbildungsschulen für die Universität „erfüllt ihre Aufgabe, weil beide zu einseitig sind." Keine vermag es, den Menschen „allseitig auszubilden, alle seine Kräfte zu entwickeln". Die Masse von Gegenständen, mit denen sich ein Schüler jeden Tag zu beschäftigen hat, bringt die Abstumpfung des Auffassungsvermögens" mit sich, desgleichen der bloß äusserliche Gedächtnisstoff, der nicht in das Innere des Gegenstandes eindringt. Von „Vereinfachung des Unterrichts"135 war allerdings ständig die Rede, eben so wie ständig die „Überbürdung" mit zuviel Stoff beklagt wurde. In der Allgemeinen Schulzeitung wurde 1843 darauf verwiesen, dass die Hauptübel des Schulunterrichts und der dabei in Kauf genommenen „Körper- und Geistesschwächung der Jugend" im „mechanischen Anlernen" und in der „gedächtnissmässigen Wortkrämerei" zu suchen seien.1 Von „barbarisch-öder" oder „steriler" Wirklichkeit nicht nur der Gymnasien wird im1 "\1 mer gesprochen, ohne dass sich „Gymnasialpädagogik der Gegenwart" aus dieser Semantik heraus verstehen ließe.138 Die unablässige Kritik der fehlenden ,wahren' Bildungsanstalten übersieht die Fortschritte und die Verschiebung der Anspruchsniveaus, die nicht ,ewig und unveränderlich' Bestand hatten. Die General-Verordnung über das Elementar-Schulwesen des Königsreichs Württemberg vom 26./31. Dezember 1810 legte fest, ,jede Schule, die 100 Kinder und darüber zählt, [erfordere] mehr als einen Lehrer."139 Die Lehrkräfte dürfen nicht vor dem Eduart von Hartmann, Zur Reform des höheren Schulwesens, 13. Lothar Meyer, Die Zukunft der Deutschen Hochschulen und ihrer Vorbildungs-Anstalten, Breslau 1873, 34. Meyer (1839-1895) war seit 1868 ordentlicher Professor für Chemie am Polytechnikum in Karlsruhe; Absolvent des Realgymnasiums in Oldenburg, Medizinstudium in Zürich; Mitbegründer des Periodensystems der chemischen Elemente. Ernst von Sallwürk, Pädagogische Forderungen, in: Pädagogisches Archiv 14 (1872), 673. von Sallwürk (Sallwürk von Wenzelstein) (1839-1926) war zu diesen Zeitpunkt Rektor der Höheren Bürgerschule von Hechingen im Zollernalbkreis; ab 1873 Dozent am Polytechnik in Karlsruhe, später im badischen Staatsdienst. J. F. E. Meyer, Über die Reform der Gymnasien bei der Überfillung derselben mit Lehrgegenständen und über Vereinfachung des Unterrichts, Vortrag, gehalten in der neunten Versammlung norddeutscher Schulmänner zu Schleswig, Schleswig 1842. In dem mechanischen Anlernen und in der gedächtnismässigen Wortkrämerei liegen die Hauptübel des Schulunterrichtes und die Ursachen der Körper- und Geistesschwächung der Jugend, in: All-

gemeine Schulzeitung, Nr. 9-11, 1843. Innozenz Schmitt-Blank, Zur Gymnasial-Pädagogik der Gegenwart. (Ein Votum an den badischen Gymnasiallehrer-Verein), in: Allgemeine Schul-Zeitung, Nr. 43^15, 49-51, 1873. Der Freiburger Gymnasialprofessor Innozenz Schmitt-Blanck thematisiert in Gymnasialpädagogik der Gegenwart methodische Probleme des Unterrichts, Fragen der Stundentafel und der Stoffvertei-

lung und Vorschläge zur Verbesserung der Lehrerbildung, keine Klagelieder, keine Verfallssemantik. Th. Eisenlohr, Sammlung der württembergischen Schul-Gesetze. Erste Abtheilung, enthaltend die Gesetze über die Volksschulen bis auf die neueste Zeit und die Einleitung in dieselben, 1839,232.

Tübingen

Friedrich Nietzsches Basler

Vorträge im Kontext der Gymnasialpädagogik

95

„17ten Jahre ihres Alters" angestellt werden, müssen mindestens drei Jahre lang ein „öffentliches Schullehrer-Seminar" oder eine anerkannte „Privat-Anstalt" besucht ha-

ben.140

Zur Fortbildung der Lehrkräfte werden Schullehrer-Konferenzen und Lesegesellschaften eingerichtet.141 Die Anstellung erfolgt in drei Lohnklassen, je nach Tüchtigkeit werden Lehrkräfte befördert oder nicht. Ein Teil der Besoldung erfolgt in Aufsicht führt neben Naturalien142, Lehrfächer und Lehrmethode sind dem Schulinspektor der Ortsgeistliche.144 Hundert Jahre später sind die meisten der mit diesen Regelungen verbundenen Probleme gelöst, ohne dass die Kritik an den Bildungsanstalten nachgelassen hätte.

vorgegeben143,

142

Ebd., 239. Ebd., 246ff.

Holger Gutschmidt

,Bildungsanstalten' beim frühen Nietzsche Die Universitätsidee Nietzsches zwischen Fichte und Humboldt

I Die Bildungsidee ist in Deutschland seit jeher mit dem Universitätsgedanken verknüpft. So ist die Aufklärung durch das Wirken von Christian August Wolff und des Ministers von Münchhausen bedeutend gefördert worden, nicht nur durch die Schriften des ersteren, sondern auch durch beider Tätigkeit bei der Gründung und Gestaltung der bedeutendsten deutschen Universitäten im 18. Jahrhundert, der Universität von Halle (gegründet 1694) und der von Göttingen (gegründet 1734). Bekannter noch und wichtiger wurde die Universitätsgründung durch Wilhelm von Humboldt in Berlin (gegründet 1810), deren Ausstrahlung weit über Deutschland auf ganz Europa wirkte.2 Für sie wurden neben den Gedanken der deutschen Reformpädagogik, besonders Johann Heinrich Pestalozzis3, die Ergebnisse einer intensiven Diskussion um 1800 bedeutsam, an der durch Denkschriften und Veröffentlichungen Immanuel Kant, Johann Benjamin Erhard, Christoph Wilhelm Hufeland, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Daniel Schleiermacher, Henrik Steffens und andere wissenschaftliche Zelebritäten dieser Zeit teilnahmen und in denen diese nicht nur Fragen der ,inneren und äußeren' Organisation einer neu zu errichtenden Universität diskutierten, sondern auch die viel weiter reichende Frage, ob und in welchem Ausmaß eine solche Universität nur Institution der fachwissenschaftlichen Ausbildung oder auch der allgemeinen Menschenbildung sein soll. In Humboldts eigenem, Fragment gebliebenen Entwurf von 1809/10 Über die innere

;

Dazu H. Boockmann, Wissen und Widerstand. Geschichte der deutschen Universität, Berlin 1999, 165 ff. Dazu Die Geschichte der Universität in Europa, hg. von W. Ruegg, Bd. 3: Vom 19. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg, München 2004. Vgl. C. Menze, Die Bildungsreform Wilhelm von Humboldts, Hannover 1975, 186ff. Dazu W. Weischedel (Hg.), Idee und Wirklichkeit einer Universität. Dokumente zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, Berlin 1960; E. Anrieh (Hg.), Die Idee der deutschen Universität. Die fünf Grundschriften aus der Zeit ihrer Neubegründung durch klassischen Idealismus und romantischen Realismus, Darmstadt 1956; E. Müller (Hg.), Gelegentliche Gedanken über Universitäten, Leipzig 1990.

Holger Gutschmidt

98

und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin wird zu fast allen wesentlichen Problemkreisen in diesen Texten Stellung genommen und gleichsam die Summe der Diskussion gezogen. Für Humboldt und für viele seiner Diskussionspartner waren die Universitätsstudien ein ganz entscheidender Faktor im Bildungsweg eines Höhergebildeten. Diese Auffassung war allgemein verbreitet und beflügelte die Entwicklung der deutschen Universität im 19. Jahrhundert erheblich. Gleichwohl blieb die ,neue' Universität hinter den Erwartungen ihrer Geburtshelfer zurück, obwohl oder vielleicht gerade weil sie so erfolgreich war. In Humboldts Konzeption und der anderer Bildungstheoretiker galt die damals bestehende Universität, eine allein berufsvorbereitende Ausbildungseinrichtung, nicht als geeignetster Ort der Vermittlung allgemeiner Bildung. Man strebte vielmehr schon im frühen 19. Jahrhundert nach einer Bildungsanstalt, die über der Universität steht und den Zwängen einer auf Nützlichkeit und Bewährung im Erwerbsleben ausgerichteten Fachbildung nicht mehr ausgesetzt ist. Zumindest in der Gegnerschaft zu bloßen Fachschulen in der Art polytechnischer Schulen, wie sie Napoleon in Frankreich verbreitete, wussten Humboldt und seine Gesinnungsfreunde die Mehrheit ihrer Diskussionspartner aus jener Zeit hinter sich.7 Indessen sollte sich die 1810 aus dem Geiste Humboldts gegründete Universität schnell zu einer professionellen Forschungs- und Ausbildungseinrichtung entwickeln, die Tendenzen zur Spezialisierung und Abschottung gegenüber allgemeineren Bildungsbedürfnissen annahm. Arthur Schopenhauer hat den geistlosen Betrieb und die Selbstgenügsamkeit der Universitätsgelehrten früh gegeißelt. In einer Zeit, in der die deutsche Universität Weltgeltung beanspruchte und die Stellung deutscher Wissenschaft in den national überschätzten Kontext des Sieges deutscher Waffen gestellt wurde, kam mit Friedrich Nietzsche ein weiterer Kritiker hinzu. An ihm, deutlicher als an Schopenhauer, ist die innere Ambivalenz vieler Wissenschaftskritiken seit Humboldt zu studieren. Nietzsche ist in seiner Kritik der Bildungsanstalten im Allgemeinen und der Universität im Besonderen nicht nur einem, sondern zwei Bildungsidealen verpflichtet, die ganz unterschiedliche Begründungspotentiale beanspruchen und einander im Einzelnen sogar widersprechen. Man kann den Problemgehalt dieser Konzeption mit dem Ausdruck ,Erziehung zur Bildung' umschreiben und hat damit ein Dilemma artikuliert, vor dem viele wohlmeinende Bildungsfachleute bis heute stehen. Historisch lässt es sich bis genau in jene Epoche zurückverfolgen, die so einflussreich für die Bildungspolitik Deutschlands und vieler anderer Länder werden sollte, in die Zeit der Diskussion um 1800. Hier tritt es als Opposition von zwei BilWilhelm 25 5 ff. 6

von

Humboldt, Werke

in fünf Bänden,

hg.

von

A.

Flitner, K. Giel, Stuttgart o.J., Bd. 4,

H. Schelsky, Einsamkeit und Freiheit, Düsseldorf 1971, 44f.; J. Mittelstraß, Die Zukunft der Wissenschaft und die Gegenwart der Universität, in: H. Bachmaier, E. P. Fischer (Hg.), Der Streit der

Fakultäten, Konstanz 1997, 18f. Vgl. W. Rüegg (Hg.), Die Geschichte der Universität in Europa, Bd. 3, 18ff. Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, in: Ders., Werke in fünf Bänden, hg. von L. Lütkehaus, Zürich 1991 (besonders in den Abschnitten Ueber die Universitäts-Philosophie; Ueber Gelehrsamkeit und Gelehrte), Bd. 4, 139ff, Bd. 5, 424ff.

,

Bildungsanstalten

'

beim frühen Nietzsche

99

dungsbegriffen auf, die, obgleich sie kaum gegensätzlicher sein könnten, ebenso wichtige übereinstimmende Anliegen haben als auch entscheidende Elemente einer jeweils überzeugenden Bildungsidee aufweisen. Da sie von ihren Grundgedanken einander

eines von ihnen sich wirklich durchsetzen konnte, blieben unaufgelöste Widersprüche in der Beantwortung der Frage nach einer den Bildungserfordernissen tatsächlich entsprechenden Universitätsidee bestehen. Die gemeinte Opposition lässt sich durch die Namen von Fichte und Humboldt angeben; sie ist als internes Problem von Nietzsches Bildungsgedanken, soweit er rekonstruierbar ist, wiederzuerkennen. Es wird daher im Folgenden der Versuch unternommen, diesen Bildungsgedanken vor dem Hintergrund der Universitätsideen Fichtes und Humboldts zu verstehen, um dadurch das ihm inhärierende grundsätzliche Problem herauszuarbeiten.

ausschließen und

nur

II allem der frühe Nietzsche, der sich mit dem Problem der Bildungsanstalten auseinandergesetzt und hierfür zum ersten Mal eine eigene Konzeption von Bildung entwickelt hat. Er soll daher im Zentrum der folgenden Darstellung stehen. Ausgangspunkt sind seine fünf Vorträge Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten aus dem Jahr 1872. Nietzsches Ausführungen in den Vorträgen haben einen Tenor, in dem sich sowohl seine zeitkritische Einstellung, als auch sein Bildungsbegriff kristallisieren und der sich resümieren lässt: ,Bildung ist eine den Bildungsanstalten genuine, im Charakter und in der Zwecksetzung von äußeren Umständen unabhängige Aufgabe; die Bildungstastitutionen der Gegenwart (d.h. vor allem Gymnasium und Universität1 ) sind dieser Aufgabe hingegen abtrünnig geworden und gehorchen vornehmlich staatlichen und ökonomischen Interessen.' Seine Darlegungen in den Vorträgen, aber auch seine Bemerkungen in den anderen Texten sind durchzogen von dieser Verbindung zwischen systematischer Exposition und kritischer Zeitdiagnose. Schon damit besitzt seine Argumentation einen gegenüber der Diskussion um 1800 grundsätzlich verschiedenen Charakter, da diese eine solche Zeitdiagnostik kaum kennen. Nietzsche bringt seine Diagnose bereits in der Einleitung zu den Vorträgen auf eine grundsätzliche These: Zwei Tendenzen (,Triebe') beherrschen die Gegenwart der Bildungseinrichtungen, die ,Ausweitung' hinsichtlich der Zahl der ,Gebildeten' und die ,Abschwächung' im Grad der Bildung, die den Absolventen der Bildungsanstalten abverlangt wird, zugunsten des Anspruches, sich anderen Lebensformen (z.B. dem Staat) dienend einzufügen (KSA, BA, 1, 647, 667). Die ,Zukunft' der Bildungseinrichtungen, die er bereits im Titel der Vorträge anspricht, muss aber darin bestehen, von der Zeitbezogenheit ihres Bildungsbegriffs abzukommen Es ist

9

10

vor

Nietzsche war als Professor der Basler Universität auch Lehrer der oberen Klassen des Pädagogiums für die Fächer der klassischen Sprachen. Nietzsche handelt nur in dem letzten der fünf Vorträge von der Universität. Das zuvor Gesagte, das sich auf das Gymasium bezieht und der folgenden Darstellung zu Grunde liegt, kann auch von der Universität gelten, da sie in Wirklichkeit für ihn nicht viel mehr ist als ein „Ausbau der Gymnasialtendenz" (KSA, BA, 1, 675, 738ff).

Holger Gutschmidt

100

und sich wieder an den „idealen Geist, aus dem sie geboren sind", anzunähern (ebd., 645). Dieses Ideal steht in prononciertem Gegensatz zu allen Nützlichkeitserwägungen, Nietzsche kann nachgerade ein „Lob der Unnützlichkeit" (ebd., 663f.) verkünden, die er für die wahrhafte Bildung reklamiert. Demgegenüber fällt seine Diagnose zeitgenössischer Bildungsanstrengungen bitter aus, und dies, obwohl man denken könnte, dass vieles von dem, was Nietzsche kritisiert, zum legitimen und unverzichtbaren Teil jeder Bildung gehören sollte. Da Nietzsche in seiner Kritik wesentlich konkreter ist als in der Beschreibung der seiner Ansicht nach idealtypischen Bildungsziele, wenden wir uns ihr zuerst

zu.

im weitesten Sinne den Broterwerb. Ohne dass ,Brotstudium' benutzte, steht deutlich Schillers (von Schopenhauer polemisch aufgenommene) Unterscheidung zwischen dem „Brotgelehrten" und dem „philosophischen Kopf im Es ist aber weniger der Vorwurf an den Einzelnen, nicht das Höchste angestrebt zu haben, der Nietzsche bewegt,1 als vielmehr, dass der Staat und die ökonomischen Interessen die Bildungseinrichtungen für ihre Zwecke benutzen und teils dadurch, teil durch entsprechende Verlautbarungen den Charakter erwecken, diese ihre Zwecke seien mit denen der Bildung identisch (,Bund von Intelligenz und Besitz', ebd. 668). Die Zweckentfremdung durch den Staat findet ihren besonderen Ausdruck durch die ,Verbreitung' der Bildung. Sie führt dem Staat unter dem Titel der „Volksbildung" und unter dem vorgeblichen Interesse, sie von religiöser Bevormundung zu befreien (ebd., 669), eine Menge spezialisierter Fachleute zu, die nur darin geformt sind und sich als Einzelne ausweisen, dass sie sich in ihrem Fachgebiet besser auskennen als jeder andere („Treue im Kleinen"), darüber hinaus aber die Bildungeinrichtungen als die Dutzendmenschen verlassen, als welche sie hineingegangen sind. Bildung aber, so Nietzsche, individuiert und stellt die höchsten Ansprüche an die Formbarkeit des Einzelnen in allen seinen Aspekten, Ansprüchen, welchen naturgemäß nur die wenigsten voll genügen können; Bildung ist so im Kern aristokratisch. Während der gradus ad parnassum für Nietzsche im wesentlichen nur Dienst am Ideal der Bildung darstellen kann, verspricht der Staat einen leichten, schnellen Erfolg, sozialen Aufstieg und gesellschaftliche Unabhängigkeit. Nietzsches impliziter Vorwurf lautet deshalb, der Staat korrumpiere den Einzelnen mit diesem Versprechen und hindere ihn an der Einsicht, Bildung sei nicht Mittel zum Zweck, sondern Selbstzweck, der entsprechende Hingabe verlangt (ebd., 707ff, 729f). Bildung ist für Unter Nützlichkeit' versteht Nietzsche die Terminologie vom

er

Hintergrund."

Friedrich Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?", in: Ders. Werke und Briefe in zwölf Bänden, Frankfurt am Main 2000, Bd. 6, 414. Obwohl es auch von der „sittlichen Erhabenheit" des Einzelnen und seinem inneren „Bedürfnis" abhängt, ob der Mensch den dornenreichen Weg der Bildung anstrebt oder ihm aus dem Wege geht, versteht Nietzsche die gegenwärtigen Universitätsstudenten in erster Linie als Opfer (vgl. „

12

13

14

KSA,BA, 1,730, 744f.).

Für Nietzsche steht beides nahe beieinander, wie es sich im Wort Nationalökonomie' ausdrückt (vgl. KSA, BA, 1, 668). Die Kritik wird verschiedentlich wiederholt (vgl. KSA, SE, 1, 387f.; KSA,

WB, l,450f.,462f.). Vgl. KSA, BA, 1, 698, 710; KSA, NF, 7, 380). Bildung diene nur dazu, ihn wirken zu lassen und ihn ausfindig zu machen.

den Genius

zu

vollenden,

,

Bildungsanstalten

'

beim frühen Nietzsche

101

Nietzsche daher niemals Mittel der Bereicherung, sondern immer Vehikel der Artikulation eines bereits vorhandenen, inneren Reichtums.1 Wem dieser Reichtum abgeht, der soll wenigstens sich in den Dienst der Entwicklung dessen stellen, wozu andere fähig sind oder es werden können.1 Für Nietzsche ist gegenwärtige Bildung daher auch Kampf gegen die „Staatsbildung" und Kritik an der Utilitätsphilosophie der Moderne, die sich in Spezialistentum, Brotgelehrsamkeit und der besonders verachteten Journalistik („Diener des Augenblicks", ebd., 670) äußert. 7 Worin besteht nun dieses ,IdeaP der Bildung, von dem Nietzsche so pathetisch spricht und das den Hintergrund seiner energischen Kritik bildet? Der Leser, der seine Bemerkungen hierzu für indirekt und vage hält, mag sich bestätigt fühlen durch eine nachgelassene Notiz, die offenkundig zu den Konzepten der Vorträge gehört: „Haupttheil. Keine Definition von Bildung" (KSA, NF, 7, 412). Das ist natürlich zu wenig; daher müssen wir wenigstens im Ansatz versuchen, aus Nietzsches Charakterisierungen ex negativo den zugrundeliegenden Bildungsbegriff zu rekonstruieren. Neben den Vorträgen, in deren Rahmenhandlung ein Philosoph als Bildungskritiker auftritt, der unverkennbar die Züge Arthur Schopenhauers trägt, kann Nietzsches 1874 veröffentlichte dritte Unzeitgemäße Betrachtung mit dem Titel Schopenhauer als Erzieher wichtige Hinweise geben. Wir hatten gesehen, dass die ,Unnützlichkeit' der Bildung bei Nietzsche nicht ästhetisch begründet wird, sondern damit, dass Bildung einen Eigenwert besitzt. Diesem Eigenwert entspricht ein eigentümlicher Charakter, der die Bildung über die Zeiten hinweg auszeichnet. Nicht nur Nietzsches Anliegen, dass wir heutzutage „uns gegen unsere Zeit erziehen" (KSA, SE, 1, 363.), sondern auch seine erklärte Ansicht, dass für die höchste Bildung die Griechen das wichtigste Vorbild sind18, weisen daraufhin. Die Bildung hat danach nichts mit einem bloßen Erwerbsmittel zum „roh verstandenen Erdenglück" (KSA, NF, 7, 243) zu tun. Sie steht nicht im Dienste des einzelnen Subjektes und seiner Bedürfnisse. Wahre Bildung wird vielmehr (in der Manier Schopenhauers) als „subjektfreie Contemplation" charakterisiert (KSA, BA, 1,714; auch KSA, SE, 1, 383). Dies stimmt mit der Auffassung von der Bildung als ,Dienst' überein. Neben dem Dienst an der Ausbildung des Genius wird von Nietzsche pauschal auch gesagt,

„Bildung nicht Lebensnoth, sondern Überfluß" (KSA, NF, 7, 502), ähnlich KSA, BA, 1, 717. Vgl. KSA, SE, 1, 382ff; KSA, NF, 7, 413. -Nietzsche spricht von notwendiger Improportionalität zwischen der Zahl wahrhaft Gebildeter und dem Bildungsapparat, der für sie aufgewendet wird. Das Ringen und Arbeiten der Vielen nach Bildung hat faktisch nur den Zweck, einige wenige wahrhaft Gebildete möglich zu machen (vgl. KSA, BA, 1, 665). Als Grundgedanke der Kultur wird angegeben, den Philosophen, den Künstler und den Heiligen zu fordern, in uns und außer uns, und dadurch an der Vollendung der Natur zu arbeiten (ebd., 382). Er unterscheidet drei „Weihen" der Kultur: 1. Das Vermögen, über sich hinaus zu schauen und den Anspruch zu erkennen, der an die eigene Bildung geht (etwa in Gestalt der Liebe zu einem großen und genialen Menschen, an der sich die eigene Enge und Begrenztheit schmerzhaft fühlbar macht); 2. Die Beurteilung der Kultur außer uns gemäß einer solchen Erkenntnis; 3. Die Tat, d.h. der Kampf für die wahre Kultur. (KSA, BA, 1, 365f). Zur Bedeutung klassischer Bildung, besonders des richtigen altsprachlichen Unterrichtes (KSA, BA, 1, 687ff.): „Die höchste Bildung erkenne ich bis jetzt nur als Wiedererweckung des Hellenenthums. Kampf gegen die Zivilisation" (KSA, NF, 7, 385). -

-

Holger Gutschmidt

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Aufgabe der Bildung sei, dem „Leben" zu dienen (KSA, NF, 7, 257). Die Bedeutung dieser Behauptung bleibt unklar, es ist aber naheliegend, sie in den Kontext jener Äußerungen zu stellen, die von der Vollendung der Natur, nicht nur der menschlichen, durch die Bildung sprechen. So heißt es, dass durch den Philosophen, den Künstler und schließlich den Heiligen als den wahren Gebildeten die Natur eine Aufklärung dass

es

über sich selbst, über das, was in ihrem steten ,Werden' das ,Sein' darstellt, erfahrt. Im Heiligen mit seinem Gleich-, Mit- und Einsgefühl in allem Lebendigen geschieht der Natur eine „Erlösung von sich selbst", eine Befreiung von allem Streben und allem Trieb in einem Naturding selbst (KSA, SE, 1, 382f). Durch die besondere Bedeutung der großen Menschen kann Nietzsche wohl davon sprechen, dass sie für die Menschheit eine .Grenze', einen „Übergang in eine höhere Art" darstellen, von welcher aus ein Bewusstsein der Menschheit über ihren Zweck möglich ist (ebd., 384). Dieses Bewusstsein ist das, was sich in den einzelnen Bildungsbeflissenen als Bewusstsein der „metaphysischen Bedeutsamkeit des Lebens" ausdrückt (ebd., 378.). Obwohl es für Nietzsche der sich mit der Natur eins wissende Heilige ist, auf den die Bildung als Fernziel hinauszulaufen scheint, lassen sich seine Bemerkungen gegen das ,Subjekt' als Bildungsziel nicht als Anti-Individualismus lesen. Er betont die Einzelnheit des Gebildeten, erörtert auch die Gefahren, die sich daraus für diesen ergeben (ebd., 352ff). Das Bildungsideal, das den Menschen leitet und erzieht (vgl. ebd., 340f, 373ff, 385), ist kein kollektives, sondern ein individuelles: durch den wahren Erzieher wird der Mensch zur Natur und dadurch zu sich selbst befreit (ebd., 341, 338.). Nietzsches These ist, dass der Einzelne nur dann ein wahres Verständnis von sich hat, wenn er sich in seiner Bedeutung für die Natur oder das Leben erfasst und vom Zusammenhang her begreift, in dem er mit diesen steht. Dieses Sich-Verstehen geschieht jedoch nicht in Form unmittelbarer Selbsthabe, sondern als Streben nach einem im Bewusstsein auftretenden Ideal. Ein solches Streben formt den Gebildeten (KSA, NF, 7, 512). Es zielt auf Fülle der Bildung und deren Entwicklung, nicht auf kurrentes Spezialistentum (ebd., 384). Es macht ihn selbstgenügsam und befähigt ihn, Führer der anderen zu sein. Und dies ist laut Nietzsche seine Aufgabe und die Aufgabe jeder wahren Bildungseinrichtung: Führung der Jugend durch „Gehorsam und Gewöhnung an die Zucht des Genius" (KSA, BA, 1, 730,

740f).

III Diese Erörterungen lassen nun aber nicht erkennen, welche Stellung die Universität in diesem Bildungskonzept besitzt, ob sie überhaupt eine besondere Stellung besitzt. Im fünften Vortrag über die Zukunft der Bildungsanstalten wirft Nietzsche der Universität vor, sie gaukele dem Studenten durch akademische Freiheit eine scheinhafte Selbstän-

digkeit

und verweigere der Jugend eine richtige Führung in einer Zeit, in der sie meisten bedürfe (ebd., 739ff), eine Führung, die ihr „Ziele, Meister, Methoam Genossen" den, Vorbilder, (ebd., 747) geben könnte, welche sie davon abhielte, zu journalistischen Bildungsmenschen zu werden, deren einziges Bestreben es ist, sich in rastlos gelehrter Produktion selbst zu vergessen. Den Wert einer solchen Führung illusderen

vor

.Bildungsanstalten

'

beim frühen Nietzsche

103

triert er durch sein „Orchestergleichnis" (ebd., 751 f.), nach dem erst die Führung durch ein ,wirkliches Genie' die Kräfte der anderen entwickelt und in einen sinnvollen, harmonischen Zusammenhang bringt. Es ist offenkundig, dass der Charakter der Führung entscheidend für Nietzsches Verständnis der Bildungsanstalten allgemein und der Universität speziell ist. Die an der Universität gepflegte Selbstbildung wird von ihm als Täuschung beargwöhnt. Doch nicht nur im Umgang mit den Studenten und der Abzweckung, mit der Bildung vermittelt wird, sondern auch an den Lehrgegenständen macht Nietzsche den au fond bildungsfeindlichen Charakter der Universität fest. Das, was die höchsten Stufen der Bildung kennzeichnet, wird an der Universität entweder schlecht (Philosophie) oder gar nicht (Kunst) behandelt (ebd., 742f.).19 Und die gelehrte universitäre Beschäftigung mit den Griechen als Vorbild ist durch den Verrat an dem von ihnen gepflegten Sinn der Bildung überflüssig und ohne weiteren Wert (ebd., 743f.). Für Nietzsche sind nicht in erster Linie die Förderung von Wissenschaft und Forschung, sondern der Wert für die Bildung entscheidende Auswahlkriterien für die Unterrichtsgegenstände. Nicht der Bearbeitung von Sachen und der Lösung von Problemen, sondern der Entwicklung zum Menschen, seiner ethischen und intellektuellen Reife ist die Universität verpflichtet. Man wird bemerkt haben, dass sich in der Darstellung Nietzsches die Universität vom Gymnasium nicht sonderlich unterscheidet; in gewissem Sinne ist sie auch für Nietzsche die Fortsetzung der Gymnasialtendenz', einer Tendenz, die den Menschen zum ,Genius' oder wenigstens zur Beförderung des Genius und dem Dienst am Genius befähigen soll. Die Definition für das Ziel der Universitätsausbildung, wie auch der Erziehung an den vorbereitenden Schulen ist der gelungene Einzelfall als Vorbild der Nacheiferung und nicht die zertifizierbare Regel. Ein Kriterium darüber, was den ,Genius' jeweils ausmacht, wird aber, wenig überraschend, nicht

geboten.

An einzelnen Stellen, darauf soll hingewiesen werden, zeigt der frühe Nietzsche indessen, dass er auch andere, höhere Bildungseinrichtungen kennt als nur die Universitäten: „Um so stärker wird sich einmal der volle Mensch wieder erheben müssen, nicht als Mittler für alle Kreise, sondern als Führer der Bewegung. Für diese Führer giebt es jetzt keine Organisation. Es wäre denkbar eine Schule der edelsten Männer, rein unnütz, ohne Ansprüche, ein Areopag für die Justiz des Geistes, aber diese Bildungsmenschen dürften nicht jung sein. Sie müßten als Vorbilder leben: als die eigentlichen Erziehungsbehörden" (KSA, NF, 7, 384f.). Nietzsche dürfte hier eine Akademie in der Art der platonischen vorschweben, deren Mitglieder sich selber gewissen Beschränkungen unterziehen, um ihre Vorbildfunktion erfüllen zu können. Sie hat somit auch Züge eines Ordens. Dies stützt die vorgeschlagene Einrichtung einer pädagogischen Brüderschaft, deren Mitglieder „untereinander lernen und sich gegenseitig befestigen" sollen (ebd., 259). Zucht, Selbstbeschränkung, Unterordnung unter eine geistige Autorität waren auch die Eigenschaften, die die Ausbildung von Schülern und Studenten prägen soll-

19

Die

20

Hierzu R. Löw, Nietzsche

Bedeutung des Kunstunterrichtes scheint für Nietzsche vor allem in der Bildung der Anschauung zu liegen, wie er im Zusammenhang einer Erörterung der Kunst Wagners zeigt, vgl. KSA, NF, 7,511.

Sophist und Erzieher, Weinheim 1984, -

167f.

104

Holger Gutschmidt

ten.21 Nietzsches Ausdrucksweise rückt die Bildungsanstalten in die Nähe von Einrichtungen mit klösterlichen oder militärischen Lebensformen und Gesinnungen, wenngleich sie im Dienste geistiger und musischer Ziele stehen sollen. IV Nietzsches Bildungsbegriff ist von zwei Zügen beherrscht: a) Bildung soll den Menschen zu seinen höchsten Möglichkeiten entwickeln, nicht jedoch als Gattungswesen, sondern als Einzelnen, weshalb sie ihn individuiert und zu sich selbst befreit; b) die Weise, wie dies zu geschehen hat, ist Orientierung an und Unterordnung unter den ,Genius' oder .Führer', d.h. sie ist eine strenge Disziplinierung, die, obgleich ihr kein konkretes Bildungsziel vor Augen zu stehen scheint, hinreichend präzise Vorstellungen davon in die Wirklichkeit umsetzen können soll, was hierzu zu begreifen, einzuüben und zu vermeiden bzw. abzuerziehen sei. Niezsche steht damit, wohl ohne es selbst zu wissen, in der Nähe der Universitätsidee Fichtes, die dieser in seinem Deduzierten Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt, die in gehöriger Verbindung mit einer Akademie der Wissenschaften stehe21 (1807) entwickelt hat. Fichtes Überlegungen sind inhaltlich und im Duktus von seiner theoretischen Philosophie und seinem Wissenschaftsideal bestimmt. In seinem Text ist der nietzschesche Gedanke der Bildung als Erziehung am reinsten vorformuliert. Deshalb sei es erlaubt, sich an dieser Stelle mit den Grundzügen von Fichtes Entwurf zu befassen. Für Fichte ist der Zweck des Wissens in der Praxis begründet, d.h. es in „Werke zu verwandeln."23 Die Praxis wird aber nicht durch lebensweltliche oder staatliche Bedürfnisse definiert, sondern durch die Philosophie. Sie gibt sowohl den Zweck der wissenschaftlichen Tätigkeit als auch den Begriff der wissenschaftlichen Kunst an. Der vollendete Gelehrte gestaltet die Wirklichkeit nach der (philosophisch begründeten) Idee und nicht umgekehrt und weiht diesem Zweck sein ganzes Leben.2 Fichte

Vgl. das schon zitierte „Gehorsam und Gewöhnung an die Zucht des Genius" (KSA, BA, 1, 730).

Johann Gottlieb Fichte, Deduzierter Plan einer zu Berlin zu errichtenden höheren Lehranstalt..., in: E. Müller, Gelegentliche Gedanken über Universitäten zitiert, der die meisten Beiträge der Diskussion um 1800 dokumentiert. Ebd., 62 (§ 5). Ebd., 81 ff. (§ 16ff.) Ebd., 71; „Das Prinzip, durch welches die wissenschaftliche Kunst zu dieser Höhe sich steigert, ist die Liebe zur Kunst. Dieselbe Liebe ist es auch, die die wirklich entstandene Kunst der Künstlerbildung immerfort von neuem beleben, und in jedem besonderen Falle sie anregen und sie auf das Rechte leiten muß. Sie ist, wie alle Liebe, göttlichen Ursprungs und genialischer Natur, und erzeugt sich frei aus sich selber; für sie ist die übrige wissenschaftliche Kunstbildung ein sicher zu berechnendes Produkt, sie selbst aber, die Kunst dieser Kunstbildung, läßt sich nicht jedermann anmuten, noch läßt sie selbst da, wo sie war, sich erhalten, falls ihr freier Geniusflügel sich hinwegwendet. Diese Liebe jedoch pflanzt auf eine unsichtbare Weise sich fort und regt unbegreiflich den Umkreis an. Nichts gewährt höheres Vergnügen, als das Gefühl der Freiheit und zweckmäßigen Regsamkeit des Geistes und des Wachstums dieser Freiheit, und so ent-

,

Bildungsanstalten

'

beim frühen Nietzsche

105

denkt die Wissenschaft autonom hinsichtlich der Begründung von Zweck, Methode und Gesinnung, aus der sie handelt und verlangt, dass diese Autonomie auch Prinzip der Ausbildung zum Wissenschaftler ist. Bemerkenswerterweise entwickelt er detaillierte Auffassungen davon, auf welchem Wege der angehende Wissenschaftler die wissenschaftliche ,Kunst' zu erlernen habe. So werden das erste Lehrjahr und die Beförderung in eine höhere ,Klasse' genau geregelt, es wird zwischen solchen unterschieden, die sich dem weiteren Curriculum aus Examina, Konversatorien, Lehrerberatung und -beaufsichtigung unterwerfen (regulares) und denjenigen, die freier studieren wollen (irregulares); vor allem aber die ersteren sind für die höchsten Ämter im Staat und der Gesellschaft vorgesehen. Die Universität soll von großstädtischem Leben abgeschirmt sein und die Studenten sollen gehalten sein, Uniformen zu tragen. Fichtes höhere Lehranstalt trägt viele Züge eines Internates, auch wenn er auf Freiwilligkeit und Einsicht in die Vernünftigkeit dieser Bestimmungen bei allen Beteiligten als wesentliche Bedingungen für das Gedeihen der Universität mehrmals pocht. Das wesentliche Ziel der Ausbildung der fichteschen Lehranstalt ist festgesetzt als ,stete Vervollkommnung und steter Fortschritt' in der wissenschaftlichen Kunst. Sie soll in der Vernünftigkeit des Umgangs von Lehrern und Studenten, in der Rationalität und moralischen Begründung der Ziele und Zwecke der Anstalt und in der steten Hingabe aller Beteiligten an diese Zwecke das Bild eines vollkommenen Staates bieten, als organische Vereinigung der Individuen und als Republik, so dass Fichtes Akademie als Urbild eines Staates und selbst als Vorbild für den Staatslenker taugen kann. Fichte hat in seinen Abhandlungen vom Wesen und von der Bestimmung des Gelehrten von 1805 und 1811 immer die Inkommensurabilität, die innere Freiheit und Souveränität des vollendeten Gelehrten betont, doch zugleich darauf bestanden, dass die Voraussetzung für deren Existenz eine vernünftig begründete, in sich notwendige und konsequent umgesetzte Erziehungskonzeption sei. Er ist kein Lebensphilosoph wie Nietzsche, und es geht ihm nicht um die Selbstaufklärung der Natur durch den Genius. Fichte besitzt in Gestalt der Wissenschafts- und

26 27 28

29 30 31 32

33

steht das liebevollste und freudenvollste Leben des Stoffe derselben" (ebd., 74, § 11). Ebd., 99ff. (§ 28ff.) Ebd., 72 (§ 10).

Lehrlings

in diesen

Übungen und in

dem

Ebd., 102 (§ 30). Ebd., 100 (§ 29). Ebd., 139ff. (§ 59f.). Ebd., 156 (§67). Ebd.

G. Fichte. Der Erzieher, Leipzig 1928, 235ff. „Sie (sc. die reine Sittlichkeit) ist die besonnene und sichere Kunst dieser sittlichen Erziehung. Sie schreitet nicht planlos und auf gutes Glück, sondern nach einer festen und ihr wohlbekannten Regel einher, und ist ihres Erfolges gewiß. Ihr Zögling geht zu rechter Zeit als ein festes und unwandelbares Kunstwerk dieser ihrer Kunst hervor, das nicht etwa auch anders gehen könne, denn also, wie es durch sie gestellt worden, und das nicht etwa einer Nachhilfe bedürfe, sondern das durch sich selbst nach seinem eignen Gesetze fortgeht" (Johann Gottlieb Fichte, Reden an die deutsche Nation, in: Ders., Werke. Auswahl in sechs Bänden, hg. von Fr. Medicus, Leipzig o.J., Bd. 5, 407).

Vgl. E. Bergmann, J.

106

Holger Gutschmidt

Sittenlehre eine klare Begründung und Charakteristik des Erziehungszieles, wiewohl er darin zustimmt, dass Begabung und Kreativität für die höchste Entwicklungsstufe nicht zu lehren oder anzuerziehen sind. Gleichwohl teilen beide die Auffassung, dass durch strenge Erziehung der Erfolg der Universitätsstudien sichergestellt werden kann. Dieser

Erfolg

ist auch für Fichte, der im Gegensatz zu Nietzsche nicht mit Staat und Gesellschaft zerfallen ist, geistige und moralische Unabhängigkeit des Studenten, zu dem Zweck, einmal Staat und Gesellschaft als Vorbild und als Führer zu dienen.35 Entscheidend für beider Erziehungskonzeption ist, dass sie sie ganz von den jeweiligen Bildungszielen her definieren und ihre Behauptung, durch das Streben nach diesen Bildungszielen würde der Mensch erst zum Menschen und verwirkliche hierdurch seine innere Bestimmung, normativ besetzen. Hieraus entspringt fast beiläufig der bemerkenswerte Gedanke, dass für alle Menschen ,Bildung' im wesentlichen ,Diensf ist, an einem Ideal, das sie entweder zu realisieren oder dessen Realität sie zu befördern haben. Wesentlich ist, dass dem Gedanken einer freien, durch eigene Entscheidungen und freiwillige Annahme von Bildungszielen, -Vorbildern oder -idealen geprägten Entwicklung eine Absage erteilt wird. Der angemerkte Gedanke vom Bildungsgang als Dienst wird somit illustriert, aber auch direkt konkretisiert durch den Gedanken vom Bildungsgang als langjähriger Schülerschaft. Ziel ist die Sicherstellung eines wahren, moralisch-edlen oder erhabenen, im Natureinklang befindlichen Daseins, demgegenüber die Resultate faktischer Bildungsorganisation als Abirrungen oder als Erliegen unter Anfechtungen angesehen werden. In beiden Fällen werden nicht nur die Fehlgeleitetheit der Bildungseinrichtungen hinsichtlich der Ausbildungsziele und inhalte, sondern auch eine falsche Freiheit der Studenten von strenger Disziplin und Formung verantwortlich gemacht. Sowohl bei Fichte, als auch bei Nietzsche ist Bildung mithin immer auch Disziplinierung und Formung der Persönlichkeit. Allerdings gibt es einen, bereits mehrfach genannten Unterschied zwischen beiden Autoren. Nietzsche zeigt den Unterschied in gewissen Sinne selbst an, wenn er den Menschen, in dem die Selbsterkenntnis heranreift, in Schopenhauer als Erzieher sagen lässt: „ich sehe etwas Höheres und Menschlicheres über mir, als ich selber bin, helft mir alle, es zu erreichen, wie ich jedem helfen will, der Gleiches erkennt und am Gleichen leidet: damit endlich wieder der Mensch entstehe, welcher sich voll und unendlich fühlt im Erkennen und Lieben, im Schauen und Können, und mit aller seiner Ganzheit an und in der Natur hängt, als Richter und Wertmesser der Dinge" (KSA 1, 385). Nietzsche spricht von dem Ideal, auf das sich die Bildungstendenz richtet, das der Mensch als etwas Hohes, weit über ihm Thronendes begreift. Wichtig ist hierbei jedoch, was Nietzsche nicht sagt. Das Ideal wird an keiner Stelle in seinem Sachgehalt, nicht einmal hinsichtlich der Weise, in der es im Bewusstsein des Menschen vorkommt, hinreichend beschrieben. Wenn er davon spricht, dann charakterisiert er es formal: Es ist das wahre Wesen des Menschen, es repräsentiert die Einheit mit der Natur, die Ganzheit des Menschen, das Sein der Natur im Gegensatz zu seinem Werden usw., und funktional: es lässt den Menschen seine beschränkte Existenz überwinden, es erzieht ihn zu neuen Pflichten, es lässt -

Fichte könnte in mancher Hinsicht Nietzsches provokativer Feststellung zustimmen, dass sich ein Volk „durch seine Genien [...] das Recht zur Existenz [erwirbt]: höchster Nutzen" (KSA NF, 7, 413), solange .Genie' an die durch Einsicht vervollkommnete Sittlichkeit gebunden bleibt.

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Bildungsanstalten

'

beim frühen Nietzsche

107

ihn seine Ganzheit erfahren. Kraft welcher deskriptiven Züge das Ideal jedoch diese seine Bestimmtheit erfüllen kann, wird an keiner Stelle der frühen Schriften ausreichend angegeben. Es wird anscheinend auch gar nicht angestrebt. Diese Haltung stimmt gut damit zusammen, dass auch der Erzieher nicht planmäßig den Schülern eine bestimmte Form verleiht, sondern dass er nur die Hindernisse wegräumt, die sie zuvor nicht haben diese Form erreichen lassen, dass er der Natur Raum verleiht zur Entfaltung.36 So soll Nietzsches Prinzip der Formung der Persönlichkeit eher von negativer Wirkung sein, trotz ihres disziplinierenden Charakters. Damit lässt er im Gegensatz zu Fichte das Bildungsziel offen. Da er aber darüber hinaus den individuellen Charakter dieses Bildungszieles betont, läuft Bildung, d.h. Universitätsbildung, sehr wohl auf eine, wenngleich reglementierte und rektifizierte Form der Selbsterfahrung hinaus. Obwohl Nietzsche mehrfach gegen die akademische Freiheit an den Universitäten seiner Zeit polemisiert, hat er ihren wesentlichen Kern berührt, der auch Humboldt und Schleiermacher in ihren

Bildungskonzeptionen so wichtig war. V

Humboldt, dem Fichtes Denkschrift wohl vorgelegen haben dürfte, hat sich in seiner

Universitätsidee in eine ganz andere Richtung bewegt. Er hat methodisch den Ansatz des Deutschen Idealismus, die Grundlagen menschlichen und gesellschaftlichen Handelns durch Ableitung und Letztbegründung aus reinen, apriorischen Prämissen zu legen, nicht geteilt. Daher konnte er seine eigenen Bildungsvorstellungen in Fichtes Memorandum auch nicht wiedererkennen. Man verbindet heute Humboldts Bildungstheorie in der Regel mit seiner Anthropologie, und dies meint zugleich eine methodische Beziehung. Sein Verständnis vom Menschen ist in einem bestimmten Sinne formal und empirisch. Statt eine Natur des Menschen festzulegen und in ihren wesentlichen Zügen vorweg verstehen und wissen zu wollen, begreift er ihn a priori nur als durch die Kraft zur Selbstbildung bestimmt.37 Selbstbildung bedeutet hierbei die Entwicklung der Individualität. Dadurch verwirklicht der Mensch aber auch für Humboldt ein Allgemeines. Er realisiert in seiner Person die Menschheit, nicht so, dass er einer abstrakten, für alle gleich gültigen Norm entspricht, sondern so, dass er mit seiner entwickelten Individualität eine Facette der in sich vielgestaltigen und reichen Menschheitsform ausbildet. Dabei bedeutet Ausbildung der Individualität des Einzelnen, dass er alle seine Kräfte entwickelt, und wozu er keine besonderen Begabungen hat, sich durch Studium und Rezeption ,aneignet'. Da Individualität nicht nur ein Vehikel der Erreichung des Bildungszwecks ist, sondern selbst das Ideal der Menschheit darstellt (so dass die Verwirk-

,,[D]eine Bildung:

Erzieher vermögen nichts zu sein als deine Befreier. Und das ist das Geheimniss aller sie verleiht nicht künstliche Gliedmassen, wächserne Nasen, bebrillte Augen, vielmehr ist das, was diese Gaben zu geben vermöchte, nur das Afterbild der Erziehung. Sondern Befreiung ist sie, Wegräumung alles Unkrauts, Schuttwerks, Gewürms, das die zarten Keime der Pflanze antasten will" (KSA, SE, 1, 341). Vgl. C. Menze, Grundzüge der Bildungstheorie W. von Humboldts, in: H. Steffen (Hg.), Bildung und Gesellschaft. Zum Bildungsbegriff von Humboldt bis zur Gegenwart, Göttingen 1972, 6ff. -

108

Holger Gutschmidt

lichung der allgemeinen Form der Menschheit gleichbedeutend ist mit der umfassenden Entwicklung der einzelmenschlichen Potentiale38), kann Humboldt die einzelne Individualität als Form des Ideals der Menschheit auffassen, alle Formen in ihrer Summe schließlich als das Ideal der Menschheit.39 Zugleich ist jede entwickelte Individualität eine Belehrung der Menschheit über sich selbst. Humboldt hat daher in seiner Konzeption der Universitätsstudien den Aspekt des Studiums als ungestörte Selbstbildung besonders herausgearbeitet. Sowohl seine Forderung nach „Einsamkeit und Freiheit"40, als auch die Ermahnung, jede Einseitigkeit in der Ausbildung zu vermeiden und seine Forderung, der Staat habe sich mit seinen Nützlichkeitsinteressen aus der Bildung der Menschen herauszuhalten,42 sollen diesen Charakter der Universitätsstudien für die neuzugründende Berliner Universität sichern. Schleiermacher, der in vieler Hinsicht einer seiner wichtigsten Gesprächspartner war, hat selbst die studentischen Abirrungen als wichtige Elemente dieser Selbstbildung begreifen können und vor Eingriffen in die akademische Freiheit schützen wollen. Humboldts und Schleiermachers Vorstellungen von akademischer Freiheit hat Nietzsche, wie wir gesehen haben, nicht geteilt. Aber es ist wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass er aus der Erfahrung heraus urteilte, dass die Studenten sich durch die akademische Freiheit gerade nicht selbst bilden, sondern es versäumen, die Resistenz gegen die bildungsfeindlichen Tendenzen von Staat und Gesellschaft zu entwickeln. Humboldt wiederum stellt in seinen Darlegungen den Elite-Gedanken nicht in den Vordergrund. Ausbildung der je eigenen Potentiale (ohne dass diese weiter bewertet würden), nicht der gleichsam heilsbringende Genius stehen im Zentrum humboldtscher Bildungsanstrengungen. Gleichwohl könnte Humboldt Nietzsches späteres Motto ,Werde der du bist' anerkennen: für beide impliziert Bildung Individualität der geistigen und sittlichen Persönlichkeit und daher die lebenslange Auseinandersetzung mit sich. VI

Bildung

durch erfolgssichernde Erziehung und Bildung aus freier Selbsterfahrung bezeichnen schon die Spannungspole der Diskussion um 1800 und gehen von dort in das Erbe ein, mit dem sich implizit auch Nietzsches Bildungstheorie auseinandersetzt. Im-

39 40

41

43

Menze will Humboldts Kraftbegriff auf Leibniz zurückführen (ders., ebd., 6). Auch ders., Wilhelm von Humboldts Lehre und Bild vom Menschen, Ratingen 1965, 96ff. Allerdings erlaubt Leibniz' Kraftbegriff keine so gute Anwendung auf das Bildungsproblem wie Aristoteles' Begriffe von Potenz und Form. Vgl. Menze, Grundzüge der Bildungstheorie, 10. Vgl. Wilhelm von Humboldt, Werke, Bd. 4, 191, 255.

Ebd.,256ff. Ebd., 257. So schon in den Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792), Kap. VI, in: Ders., Werke, Bd. 1, 103ff. Friedrich Daniel Schleiermacher, Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn, zit. nach E. Müller, Gelegentliche Gedanken, 219ff; hierzu auch Savignys lobende Rezension, in: ebd., 265.

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Bildungsanstalten

'

beim frühen Nietzsche

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Bildungskonzeptionen nicht nur empfehlenden Charakter besitzen, sondern Lebensgestaltung und geistige Entwicklung junger Menschen eingreifen, wird diese Spannung bedeutsam. Dies ist der Fall, wo eine solche Konzeption die Verantwortung für die Gestalt von Bildungsinstitutionen besitzt. Bei Nietzsche mag die mangelnde Spezifizität des Bildungsideals, gemessen an der Bedeutung, die es für die mer

da,

wo

in die

Menschheit und gar die Natur haben soll, auch ein Vorteil sein, da sie es erlaubt, anthropologische Einsichten, wie sie Humboldts Bildungskonzeption bestimmt haben, in die eigenen Überlegungen zu integrieren; aber das unklare Verhältnis zwischen Souveränität und Freiheit des Genius einerseits und der strengen, nichts dem Zufall überlassen wollenden Ausbildungsform andererseits wirkt wenig konsequent. Folgerichtiger wäre es schon damals gewesen, den Studenten dazu zu raten, ein Ideal von Selbstdisziplin zu entwickeln, dass sich aus ihren eigenen Bildungsinteressen speisen lässt. Aber Nietzsches Überhöhung der Bildung zum menschheitlichen Auftrag dürfte eine derartige Liberalität nicht zugelassen haben. Demgegenüber wirken Fichtes und Humboldts Ideen konsequenter. Beide sind von einem Optimismus getragen, den Nietzsche suchte (z.B. bei Schopenhauer als Vorbild der Erziehung), aber nicht mehr fand. Beide trauen dem Menschen oder der Zeit zu, was Nietzsche letztlich von den Erziehern erwartete. Zu seiner Zeit, die in mancher Hinsicht noch die unserige ist, war ein solcher Optimismus in der Tat nur noch schwer zu haben. Gleichwohl stellt sich bei der Betrachtung von Nietzsches Bildungsgedanken die Frage, ob mehr Vertrauen in die Kräfte des einzelnen wie in die verschlungenen Wege, in denen Bildung ihren Wert für die Menschheit entfaltet, nicht einen besseren Schlüssel zu wahrer Menschenbildung darstellt, als alle Versuche, die ,Bildungsanstalten' als Retorten für eine ,Gegengesellschaft' oder eine ,Gegenmenschheit' zu verstehen. Doch ist allen drei Autoren eine Leidenschaft und eine Gesinnungsgröße zu diesem Thema eigen, die wir uns jenseits aller sachlichen Streitfragen heute wünschen würden. Das ist etwas, das sich im Gedankenreichtum von Nietzsches Texten auf jeder Seite niederschlägt. Darin bleibt er auch und zumal heute noch ,Nietzsche der Erzieher'.

Lars-Thade Ulrichs

Braucht ein Übermensch noch Bildung? Nietzsches ästhetisches

Bildungskonzept vor dem Hintergrund von Schillers Ästhetischen Briefen

I Betrachtet

das Zeitalter der Aufklärung, jenes gleichermaßen philosophische' wie Jahrhundert näher, so wird rasch klar, dass der Bildungsbegriff sich im Laufe des 18. Jahrhunderts allmählich aus dem Aufklärungsgedanken entwickelt. Obwohl die Vernunft schon zur Zeit der Hochaufklärung in ersten tastenden Versuchen auf eine Einbeziehung ihres ,Anderen' zielte, handelte es sich jedoch zunächst um einen Gegensatz, insofern die Aufklärung' in erster Linie auf die Ausbildung des Verstandes ging, die ,Bildungsbewegung' dies hingegen als eine unerlaubte Reduktion ansah und eine ganzheitliche oder allseitige Ausbildung des Menschen zum Ziel hatte, unter Einbeziehung der Leidenschaften, Gefühle und auch des Körpers. In der Erkenntnis, dass eine bloße Unterwerfung der Affektivität unter die Leitung der Vernunft dem menschlichen Leben nicht gerecht wird, ist Bildung in den Augen vieler Aufklärer daher immer zugleich auch Geschmacks- und Herzensbildung, wobei es ihnen nicht um den Verzicht auf den Erwerb vernünftigen Wissens als vielmehr um eine vernünftige Durchdringung der Gefühle ging. Erst eine derartige ,reflexive Empfindsamkeit' konnte die Dialektik von Vernunft und Leidenschaft, jene für die Aufklärungsepoche so wichtige HerzKopf-Problematik, einer Lösung näher bringen. An der Entwicklung des Bildungsgedankens im 18. Jahrhundert haben verschiedene Strömungen einen mehr oder minder exakt bestimmbaren Anteil: Zunächst ist die pragmatisch ausgerichtete Popularphilosophie zu nennen, dann wurde auch die neu sich formierende Anthropologie von großem Einfluss auf die Konstituierung der Bildungsvorstellungen; und schließlich wirkte die von Alexander Gottlieb Baumgarten Mitte des 18. Jahrhunderts begründete Ästhetik ebenfalls in Richtung eines ganzheitlichen Menschenbildes, indem sie sich vor allem um eine Bildung des Geschmacks bemühte. Geschmack zu haben und gebildet zu sein war für viele Aufklärer ein und dasselbe; und Geschmack zeigte man vor allem in der Auseinandersetzung mit der Kunst. In diesem Zusammenhang ist es zu sehen, dass die Kunst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts enorm aufgewertet wurde und mehr und mehr zu ,dem' Ort der Bildung avancierman

»pädagogische'

,

te.

Lars-Thade Ulrichs

112

Diese Strömungen, denen eine Vielzahl anderer Einflussfaktoren an die Seite zu stellen wären, haben unterschiedlich große, stets aber bedeutende Anteile an der Entstehung des Bildungs- aus dem Aufklärungsgedanken. Sie sind Teil und Gegensatz der Aufklärung in einem: Wenn im Namen eines ganzheitlichen Erziehungsideals wider die Verkümmerung des Menschen durch bloße Vernunftaufklärung die Bedeutung der Geschmacks- und Herzensbildung betont wird, so artikuliert sich damit in der Bildungsbewegung maßgeblich genau jene Selbstkritik der Aufklärung, die die Aufklärungsbewegung im Grunde von Anfang an begleitet. Es ließe sich die These wagen, dass die Bildungskonzeption die wichtigste Äußerung der Selbstkritik der Aufklärung im 18. Jahrhundert ist. In der Bildungsbewegung manifestiert sich eine Aufklärung, die an der Überwindung ihrer eigenen Einseitigkeiten arbeitet. Anhand kaum einer anderen Philosophie lässt sich diese generelle These besser belegen als an der Friedrich Nietzsches, wodurch deutlich wird, wie stark noch Nietzsche von den Problembeständen des 18. Jahrhunderts beeinflusst ist. Als radikaler Aufklärer und zugleich vehementer Kritiker der Aufklärung wird sein Denken von Anfang an vom Problem der Bildung beherrscht; in gewisser Hinsicht lässt sich sogar behaupten, dass Nietzsches Philosophie insgesamt als Bildungsphilosophie aufzufassen ist. Doch während dieser Umstand beim jungen Nietzsche offensichtlich ist (Abschnitt II), bedarf es, um diese Behauptung zu stützen, im Falle seiner Spätphilosophie einer eingehenden Interpretation (Abschnitt III). Es kommt daher nicht von ungefähr, dass die Bildungsproblematik in der Nietzsche-Literatur als eher randständig erscheint.1 Wir werden im folgenden zu zeigen versuchen, dass sie im Gegenteil ein zentrales Thema in Nietzsches Philosophie darstellt. Wir werden wir sehen, dass gerade für den späten Nietzsche in einem spezifischen Sinn alle Bildung ästhetische Bildung ist, freilich ist dieser spezifische Sinn ein entscheidend anderer als bei Friedrich Schiller, durch den noch der junge Nietzsche so stark beeinflusst war.

Es sind vor allem ältere Arbeiten, die sich mit der Thematik beschäftigen: Hedwig Stoeckert, Nietzsche und das Problem der Erziehung, Langensalza 1926; Ulrich Grummes, Das Problem der Bildung. Eine Auseinandersetzung mit dem Denken des jungen Nietzsche, München (Diss.) 1971; Edith Düsing, Die Problematik des Ichbegriffs in der Grundlegung der Bildungstheorie, Köln (Diss.) 1977; Torsten Schmidt-Millard, Nietzsches Basler Vorträge Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten ". Die Aporie der Bildungstheorie des Genius und ihre Überwindung in den Unzeitgemäßen Betrachtungen", Köln (Diss.) 1981; Reinhard Löw, Nietzsche Sophist und Erzieher, Weinheim 1984. Dieser Einfluss wird in der Forschung angesichts der späteren Invektiven, in der Götzendämmerung zählt er ihn zu seinen „Unmöglichen", nennt ihn „Moral-Trompeter von Säckingen" (KSA GD, 6, 111), oft übersehen. Publikationen zum Verhältnis zwischen Schiller und Nietzsche: Herbert Cysarz, Von Schiller zu Nietzsche. Hauptfragen der Dichtungs- und Bildungsgeschichte des jüngsten Jahrhunderts, Halle 1928, Nicholas Martin, Nietzsche and Schiller. Untimely aesthetics, Oxford 1996, Laszlo V. Szabo, Nietzsche und Schiller. Dionysische und apollinische Elemente in Schillers Ästhetik, in: Veszpremi Egyetem, Studia Germánica Universitatis Vesprimiensis 4 (2000). -



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Braucht ein

Übermensch noch Bildung?

113

II Schon bei Schiller, dessen Zugehörigkeit zur Aufklärungstradition des 18. Jahrhunderts durch seine Zuordnung zur Weimarer Klassik oft aus dem Blick gerät, wird die Konzeption von Bildung als Selbstkritik der Aufklärung besonders virulent. Das Entscheidende, geradezu Revolutionäre seines Beitrags zur Bildungsphilosophie um 1800 ist jedoch, dass er mit seinen kulturkritischen Überlegungen der Bildungsbewegung eine geschichtsphilosophische Argumentationsbasis zu geben versucht, diese jedoch sogleich in Richtung auf grundsätzliche subjektivitätstheoretische Begründungsversuche überschreitet, um schließlich sein utopisches Konzept einer ästhetischen Bildung zu formulieren. In diesem dreifachen philosophischen Anliegen sollte ihm Nietzsche später folgen, wenn er auch im Zuge seiner Überlegungen zu gänzlich anderen Ergebnissen gelangt. Im Rahmen seiner Entfremdungstheorie stellt Schiller seinem Zeitalter die Diagnose einer allgemeinen Barbarei. So beschreibt er in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen neben der Verwilderung in den unteren Schichten vor allem die Depravation in den zivilisirten Klassen der Gesellschaft. Hier besonders lasse sich die Zerrissenheit des modernen Menschen beobachten, die durch die kulturelle Verfeinerung, vor allem durch die theoretische Kultur' der Aufklärung selbst hervorgebracht werde und sich in immer stärkerer Spezialisierung und Arbeitsteilung in den Wissenschaften und im Staat manifestiere: „Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus, ewig nur das eintönige Geräusch des Rades, das er umtreibt, im Ohre, entwickelt er nie die Harmonie seines Wesens, und anstatt die Menschheit in seiner Natur auszuprägen, wird er bloß zum Abdruck seines Geschäfts, seiner Wissenschaft."3 Durch diese einseitige Kultivierung der rationalen Kompetenz des Menschen sieht Schiller die übrigen Kräfte im einzelnen Menschen verkümmern. Freilich ist er sich dabei dessen bewusst, dass durch die zunehmende Spezialisierung der Fortschritt der menschlichen Gattung beschleunigt wird; aber einem solchen Gewinn für das Ganze steht stets ein Verlust für den Einzelnen gegenüber. So entsteht jene Ambivalenz des Zeitalters, die bald schon zu einem Gemeinplatz jeder Theorie der Moderne wurde: Einerseits ist der moderne Mensch in einem Grade aufgeklärt, der nie zuvor in der Geschichte erreicht war, andererseits sind wir „noch immer Barbaren", in einer Weise, die die Barbarei des Naturmenschen weit in den Schatten stellt5: „Wenn die Kultur ausartet, so geht sie in eine weit bösartigere Verderbniß über, als die Barbarey je erfahren kann. Der sinnliche Mensch kann nicht tiefer als zum Thier herabstürzen; fällt aber der aufgeklärte, so fällt er bis zum Teuflischen herab, und treibt ein ruchloses Spiel mit dem heiligsten der Menschheit."6 So wird die rationale Kultur der Aufklärung zu ,,eine[r] äußerliche[n] Angelegenheit für

4 5

6

Friedrich Schiller, Weimarer Nationalausgabe, Bd. 20 (Philosophische Schriften, 1. Teil, hg. von Benno von Wiese, Weimar 1962, 323 (Im folgenden: ÄE). Ebd., 327. Ebd., 331. Aus den Briefen an Augustenburg, zit. nach: Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Mit den Augustenburger Briefen hg. von Klaus L. Berghahn, Stuttgart 2000, 139.

Lars-Thade Ulrichs

114

innerliche Barbaren."7 Dieser modernen Barbarei stellt Schiller mit den alten Griechen ein musterhaftes Vor- und Gegenbild gegenüber, wo jedes Individuum als „ein vollkommener Repräsentant seiner Gattung" erscheint, während im Falle des modernen Menschen Individuum und Gattung auseinanderfallen. Eine ähnliche Diagnose stellt auch der junge Nietzsche dem modernen Zeitalter aus: In Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten sieht er den Bildungsbereich seiner Zeit durch zwei Hauptströmungen charakterisiert: zum einen sei er beherrscht vom „Trieb nach möglichster Erweiterung der Bildung" im Sinne einer Bildung des Volks oder der Masse, zum anderen vom „Trieb nach Verminderung und Abschwächung" (KSA, BA, 1, 647) der Bildung im Sinne einer Unterordnung der Bildung unter fremde Zwecke oder Lebensformen, insbesondere unter die verschiedenen Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft oder des Staates. Beides ist für Nietzsche gleichermaßen Ausdruck von Barbarei. So hält er gemäß seinem elitären Verständnis von Bildung dafür, dass die „allerallgemeinste Bildung [im Sinne von Massenbildung L.-T.U.]" „eben die Barbarei" (ebd., 668) sei. Einer solchen Entwicklung kann nur eine „Concentration der Bildung auf Wenige" begegnen, verbunden mit der Einsicht, dass „das eigentliche Bildungsgeheimnis" darin bestehe, dass ein ungeheurer Bildungsapparat notwendig sei, um einige wenige wahrhaft Gebildete hervorzubringen (vgl. ebd., 665).9 Die „Geburt des Genius" (ebd., 729) wird so zum letzten Zweck aller Bildung, eine These, die sich bereits als Vorstufe zur Forderung nach Schaffung des Übermenschen lesen lässt. Die Unterordnung der Bildung unter fremde Zwecke oder Lebensformen hingegen kann, so Nietzsche, nur durch eine Stärkung der Selbstgenügsamkeit der Bildung verhindert werden. In Schopenhauer als Erzieher sieht er die Bildung nicht nur durch die Selbstsucht des Staates, der (bloß äußerlichen) schönen Form und der Wissenschaft, sondern vor allem durch die Selbstsucht der Erwerbenden bedroht: Bildung wird dem Nützlichkeitssinn untergeordnet und nurmehr in Absicht auf rasche Beförderung und schnelle Laufbahn anerkannt, stets nach der Formel: „Möglichst viel Erkenntniß und Bildung daher möglichst viel Produktion und Bedürfhiß daher möglichst viel Glück" (ebd., 667f.). Zweierlei wird dabei gefordert: erstens eine „rasche Bildung, um schnell ein geldverdienendes Wesen werden zu können" und zweitens eine „gründliche Bildung, um ein sehr viel Geld verdienendes Wesen werden zu können" (ebd., 668). Unterschieden aber sind die modernen Barbaren von denen anderer Zeiten, wie er in Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben darlegt, durch die zum Selbstzweck gewordene historische Bildung, vor allem durch „die Forderung, dass die Historie Wissenschaft sein soll" (KSA, HL, 1, 271 f.). Dies bedeutet, dass die Auseinandersetzung mit der Geschichte nicht mehr, wie im Falle ,monumentalischer' Geschichtsschreibung, einer besseren Daseinsorientierung dient. Im Vergleich zu Schiller gewichtet Nietzsche durch seine Kritik an der historischen Bildung die Aspekte der Unbildung anders; das Ergebnis aber ist für beide durchaus dasselbe: Die ,Entartung' -

-

-

Vgl. Rüdiger Safranski, 410. 8

Schiller oder die

Erfindung des

Deutschen

Idealismus, München 2004,

i'£,321f. ,,[N]icht Bildung der Masse kann unser Ziel sein: sondern Bildung der einzelnen ausgelesenen, für große und bleibende Werke ausgerüsteten Menschen" (KSA, BA, 1, 698).

Braucht ein Übermensch noch Bildung?

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des modernen Menschen ist gekennzeichnet durch die Disharmonie von innerem Gehalt und äußerer Form. Die moderne Bildung erscheint als „keine wirkliche Bildung, sondern nur [als] eine Art Wissen um die Bildung", die das Individuum zu einer bloßen lebenden Enzyklopädie, einem „Handbuch innerlicher Bildung für äusserliche Barbaren" macht (ebd., 272ff.). Es lässt sich behaupten, dass sich barbarische Unbildung für Nietzsche in einem falschen Selbst-Bewusstsein, einer missverstandenen Reflexivität im Sinne eines gleichsam sentimentalen' Selbstverhältnisses äußert, in dem der Mensch sich selbst fremd gegenüber steht: Bloße Verstandesbildung, besonders eine ausschließlich historische Gelehrsamkeit führt zur Zerstörung der inneren Einheit, macht uns zu lebenden Enzyklopädien, denen das Wissen äußerlich bleibt, nicht zu echter Bildung wird. Auch die „Arbeitstheilung jn ¿er Wissenschaft" zeitigt in seinen Augen nur das Ergebnis einer Verminderung der Bildung, sichtbar vor allem in der Heraufkunft eines oberflächlichen, sich auf allen Gebieten informiert gebenden Journalismus als der Kulmination der ,,eigenthümliche[n] Bildungsabsicht der Gegenwart" (KSA, BA, 1, 669ff): diese Spezialisierung reißt die „bedenkliche Kluft zwischen Inhalt und Form" im Menschen weiter auf. Nietzsche geht soweit, zu behaupten, „das allseitige Gewährenlassen der sogenannten freien Persönlichkeit [sei] nichts anderes als das Kennzeichen der Barbarei" sei (ebd., 681). Schon Schillers erstes Anliegen war es zu ermitteln, wodurch solch ein barbarischer Zustand behoben werden kann, wie man die „Totalität in unsrer Natur, welche die Kunst zerstört hat, durch eine höhere Kunst wieder herzustellen" vermag.1 Dieses Anliegen verfolgt auch Nietzsche, mit dem Unterschied, dass die Totalität nicht allein durch die Kunst im engeren Sinne restituiert werden soll. Für den jungen Nietzsche besteht die moderne Barbarei, lässt sich sagen, zum einen in einer Verkehrung von Mitteln und Zwecken, d.h. in der Unterordnung der höchsten menschlichen Leistungen wie Kunst, Philosophie und (klassische) Bildung unter fremde Zwecke wie den Staat, den Erwerb oder die (historische) Wissenschaft, zum andern in einem Betreiben dieser untergeordneten Tätigkeiten als Selbstzwecke. Dagegen stellt er die Auffassung, dass derlei untergeordnete menschliche Leistungen ihrerseits der Bildung, die Bildung selbst aber dem Leben zu dienen habe. Insofern nun das Leben durch Nietzsche als unendlicher dynamischer Bildungsprozess bestimmt wird, lassen sich beide Forderungen in dem Postulat zusammenziehen, alle intellektuellen Tätigkeiten des Menschen haben dem Leben zu dienen. Was er über die Historie sagt, ließe sich folglich auch über andere intellektuelle Leistungen des Menschen sagen: „Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen: aber es giebt einen Grad, Historie zu treiben und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet" (KSA, HL, 1, 248). Allerdings ist dagegen und zugleich gegen die barbarischen Bildungstendenzen der Zeit zu ergänzen: „Sehr viel muß der Mensch lernen, um zu leben, um seinen Kampf um's Dasein zu kämpfen: aber alles, was er in dieser Absicht als Individuum lernt und thut, hat noch nichts mit der Bildung zu schaffen. Diese beginnt im Gegentheil erst in einer Luftschicht, die hoch über jener Welt der Noth, des Existenzkampfes, der Bedürftigkeit

lagert" (KSA, BA, 1,713). ÄE, 328.

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Im Gegensatz zur These von der Unbildung als falschem Selbstbewusstsein, dem das Wissen rein äußerlich bleibt, äußert sich wahre Bildung in Nietzsches kritischer Sicht als ein „stark entzündetes Gefühl für das Spezifische unserer gegenwärtigen deutschen Barbarei, für das, was uns als Barbaren des neunzehnten Jahrhunderts so merkwürdig von den Barbaren anderer Zeiten unterscheidet" (ebd., 650). Es lässt sich also behaupten, dass für den frühen Nietzsche wahre Bildung, oder zumindest ihr erster Ansatz, schon durch die Herstellung eines Selbstbewusstsetas bzw. einer Reflexivität im Sinne eines Wissens um den eigenen Barbarismus erreicht wird. Ihre Vollendung erreicht eine solche Bildung in seinen Augen jedoch erst in der Orientierung am Ideal der Antike, wonach sie klassisch ist und schwer zu erlangen; sie ist formal, denn eine materielle Bildung kann es nicht geben, und sie ist keine wissenschaftliche Bildung, denn Wissenschaft und Bildung sind für Nietzsche zwei völlig verschiedene Sphären. Danach zeichnet sie sich durch drei wesentliche Merkmale aus: durch das „Bedürfnis zur Philosophie", den „Instinkt für Kunst" und schließlich durch das Ideal der klassischen Antike (ebd., 74Iff.), wobei allerdings zu bedenken ist, dass sich schon beim jungen Nietzsche sowohl der Kunstbegriff als auch das Antikebild im Vergleich zu Schiller radikal verändert hat. Dennoch handelt es sich durchaus noch um einen idealistisch-elitären Begriff von Bildung, wonach diese in einer ,Luftschichf hoch über der ,Welt der Not, des Existenzkampfes, der Bedürftigkeit' schwebt, diese Paradoxie ist zu berücksichtigen, wenn man Nietzsches Wendung vom ,Dienst am Leben' verstehen will. Die historische Bildung ist bloß eine Verfallsform; sie ist nur dann „etwas Heilsames und Zukunft-Verheissendes", „wenn sie von einer höheren Kraft beherrscht und geführt wird" (KSA, HL, 1,257). Schillers Überzeugung war es, dass die recht verstandene ästhetische Bildung allein das zu leisten vermag, was andere Wissensformen nicht mehr zu erreichen vermögen, in den Worten Nietzsches: die „Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen" (ebd., 334). Damit vermag sie die moderne Barbarei zu überwinden, die in der vermeintlich aufgeklärten Kultur von allen Seiten droht. Auch für Nietzsche kann nur die ästhetische Bildung dies leisten; nur sie kann eine besondere Stärke und damit ein subjektives ,Zentrum', eine harmonische Bildung aller Kräfte und damit eine personale ,Peripherie' erzeugen, die sich wechselseitig ergänzen (vgl. KSA, SE, 1, 342f.). Um jedoch zu verstehen, was, insbesondere der spätere Nietzsche unter ästhetischer Bildung verstanden wissen wollte, bedarf es eines Begriffs dessen, was man Nietzsches Metaphysik nennen könnte, bedarf es einer Darlegung des darauf sich gründenden Menschenbildes. Ehe jedoch die anthropologischen, letztlich metaphysischen Hintergrundannahmen der Bildungsphilosophie Nietzsches betrachtet werden, noch einmal zu den weiteren Ausführungen Schillers, da vor ihrem Hintergrund Nietzsches Konzeption verständlicher wird. Schon für Schiller konnte die verlorene Totalität nicht durch den Staat wiederhergestellt werden, da der bisherige Staat die Entwicklung der modernen Barbarei verschuldet oder zumindest begünstigt hat, ein höherer Staat aber auf der Totalität des Menschen bereits aufbauen musste, ein unauflöslich scheinender Zirkel.11 Die modernen gesellschaftlichen Bedingungen sind für Schiller nicht geeignet, dem Menschen zu einer 11

ÄE, 328, 332f.

Schiller sieht deutlich die Zirkularität einer solchen

später zum Vorwurf machte. Er begegnet uns bei Nietzsche wieder.

Argumentation, die ihm Fichte

Braucht ein

Übermensch noch Bildung?

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Existenz in einer seinen beiden Seinsdimensionen Sinnlichkeit und Vernunft gerecht werdenden Weise zu verhelfen. Vielmehr ist es notwendig, eine autonome, reine Sphäre zu identifizieren, die „sich einer absoluten Immunität von der Willkühr der Menschen" erfreut, um wahre Bildung zu ermöglichen und dadurch die verlorene Totalität des Menschen wiederherzustellen. Als diese Sphäre bestimmt Schiller die Kunst, die dadurch zu einer autonomen Kunst wird. Wahre Bildung im Sinne höherer Kultur ist für ihn ästhetische Bildung, weil nur die Kunst, die Beschäftigung mit dem Schönen den ganzen Menschen bildet. Soll der Mensch kein bloßes Bruchstück, kein Rädchen in der (Staats-)Maschine sein, so muss Bildung selbst ganzheitlich sein, „weil der Weg zu dem Kopf durch das Herz muß geöffnet werden": „Ausbildung des Empfindungsvermögens ist also das dringendere Bedürfhiß der Zeit, nicht bloß weil sie ein Mittel wird, die verbesserte Einsicht für das Leben wirksam zu machen, sondern selbst darum, weil sie zu Verbesserung der Einsicht erweckt" (ÄE, 332). Eine solche „Ausbildung des Gefühlsvermögens" ist laut Schiller der „Ausbildung des Vernunftvermögens" an die Seite zu stellen, will die Bildung der eigentümlichen sinnlich-vernünftigen Doppelnatur des Menschen gerecht werden und „die Foderungen seiner sinnlichen Natur" mit „den höhern Foderungen seiner vernünftigen" in Harmonie 19 setzen. Die Problematik der Bildung wird mit dem kantischen Selbstbestimmungspostulat verknüpft, wodurch die freie Selbstentfaltung des Menschen nicht bloß zu einem individualistischen Vollzug der Existenz, sondern zu einer gelingenden Gestaltung eines Menschenlebens innerhalb der Gattungsbestimmtheit als sinnlich-vernünftiges Doppelwesen wird. Auf der Basis derartiger personaler Selbstgestaltungspotenz gerät Selbstbestimmung zu einem selbstschöpferischen Bildungsprozess der vernünftigen Person ohne gewaltsame Unterdrückung des sinnlich-leiblichen Triebpotentials; sie führt in einem gelingenden Leben zu einer ganzheitlichen Existenz14, in der sich das Individuum in einem „Zustand des Gemüths [befindet], wo Vernunft und Sinnlichkeit Pflicht und Neigung -zusammenstimmen." Reduzierten sich aber die Ausführungen Schillers auf die Bestimmung des Menschen als eines vernünftig-sinnlichen Doppelwesens und auf die Forderung nach ganzheitlicher Bildung, wären sie im Kontext des ausgehenden 18. Jahrhunderts philosophisch kaum von Belang. Die Pointe ist vielmehr, dass die Bildungsphilosophie Schillers in umfassendere, teils anthropologische, teils subjektivitätstheoretische Ausführungen integriert sind, die das Ziel einer dialektischen Vermittlung der beiden Seinsweisen des Menschen verfolgen. Dennoch entwickelt Schiller zunächst ein dualistisches Modell, um dieses jedoch über den Begriff der Wechselwirkung oder des Wechselverhältnisses zu einer dritten Instanz zu überschreiten. Er trifft die an der Differenz von Substanz und Akzidenz orientierte Unterscheidung zwischen ,Person' oder Selbst, mit dem er das bezeichnet, was im Menschen bleibt, auf der einen und den ,Zuständen' dieser Person bzw. den Bestimmungen des Selbst auf der anderen Seite, mit denen dasjenige gemeint -

14 15

Friedrich Schiller, Anmut und Würde, in: Weimarer Nationalausgabe, 280 (im Folgenden: AuW). Vgl. Thomas Schütze, Ästhetisch-personale Bildung. Eine rekonstruktive Interpretation von Schillers zentralen Schriften zur Ästhetik aus bildungstheoretischer Sicht, Weinheim 1993, 112. Vgl. ebd., 134.

AuW,2%2.

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ist, was sich unaufhörlich im Menschen verändert. Die Person ist danach „ihr eigener Grund"; mit ihr verbindet sich das Postulat der Selbstbestimmung oder die „Idee des absoluten, in sich selbst gegründeten Seyns, d.i. die Freyheit"; die Zustände stehen unter der „Bedingung alles abhängigen Seyns oder Werdens", unter denen von Zeit und Kausalität.16 Diese Differenz wird noch weiter ausgefaltet, in Orientierung an der Kantischen Unterscheidung zwischen Spontaneität und Rezeptivität: Entsprechend ordnet Schiller der beharrenden Person die Vernunft zu, die dem Stoff der sinnlichen Empfindung die Form gibt und dadurch die Beharrlichkeit und Einheit der Person gewährleis-

der Fichteschen Lehre, das Ich sei ein Handeln oder Tun, nennt Schiller Vermögen ,Formtrieb'; er ist Ausdruck der Selbstständigkeit und Aktivität des Subjekts. Dem gegenüber steht die Sinnlichkeit, die die menschliche Erkenntnis mit der Materie in Berührung setzt und den Realitätsbezug herstellt bzw. dem Subjekt eine veränderliche und mannigfaltige Welt schafft. Dieses Vermögen bezeichnet er als ,Stofftrieb', der Ausdruck der Abhängigkeit und Passivität des Subjekts ist. Beide Tendenzen stehen für Schiller zwar im Widerspruch, aber es handelt sich um keinen absoluten Widerspruch. Vielmehr stehen beide Triebe im Verhältnis wechselseitiger Unterordnung, sie sind „zugleich subordiniert und coordiniert", müssen in Wechselwirkung treten, um ein gelingendes Weltverhältnis zu ermöglichen. Sie sind gleichursprünglich und stets aufeinander angewiesen: „ohne Form keine Materie, ohne Materie keine Form." Auch jede Form von Bildung hat mit dieser dualistischen Struktur des Menschen zu rechnen: Wird die Entwicklung des Menschen als dialektischer Prozess von Selbst- und Weltgestaltung bestimmt, so ergibt sich als Aufgabe der Kultur, beiden Trieben „gleiche Gerechtigkeit" widerfahren zu lassen, d.h. „erstlich: die Sinnlichkeit gegen die Eingriffe der Freyheit zu verwahren: zweytens: die Persönlichkeit gegen die Macht der Empfindungen sicher zu stellen", wobei die Pflege beider Grundtriebe aufgrund ihres dialektischen Wirkungszusammenhangs notwendig einer begrenzenden Einschränkung jedes der beiden Triebe durch den anderen gleichkommt. Ihr „Wechselverhältniß" ist jedoch eine „Aufgabe der Vernunft, die der Mensch nur in der Vollendung seines Daseyns ganz zu lösen im Stand ist"; es handelt sich also um ein Ideal, um „ein unendliches, dem1 r\er sich im Laufe der Zeit immer mehr nähern kann, aber ohne es jemals zu erreichen." Eine einseitige Befriedigung von Stoff- oder Formtrieb führt hingegen zu einer Verfehlung der Bestimmung des Menschen. Um der Notwendigkeit einer Synthese oder Vermittlung Genüge zu tun, kommt Schiller zur Annahme eines dritten Triebes: die Aufgabe der Vermittlung erfüllt der ,Spieltrieb'. Die Annahme eines solchen Spieltriebs ist laut Schiller ein Postulat der Vernunft, das sie aufgrund ihres Strebens nach Einheit und Vollkommenheit formuliert.19 Das Ästhetische ist der Ort, wo das, was man mit Dieter Henrich das antinomische Grundverhältnis des Menschen nennen könnte20, zu seinem adäquaten Ausdruck kommt, indem tet. Gemäß

dieses

16

17 18 19 0

/£,341ff. ÄE,341i. ÄE,352i. ÄE, 356. Vgl. Lars-Thade Ulrichs, Sind wir noch ler, Fichte und Nietzsche (im Druck).

immer Barbaren?

Ästhetische Bildungskonzepte bei Schil-

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innerhalb der Kunst spielerisch artikuliert wird. Das Spiel bringt die Antinomie von Stoff- und Formtrieb in die Schwebe: alles erscheint hier ,klein und leicht'; im Spiel der Kunst sind Vernunft und Sinnlichkeit in Harmonie. Erst indem sich der Mensch zugleich als bestimmt und bestimmend, als abhängig von der natürlichen, sinnlich gegebenen Welt und als freies und selbstbestimmtes Subjekt begreift, indem er den beiden gleichursprünglichen Selbstauffassungsweisen des Menschen als Subjekt und Person gleichermaßen gerecht wird, handelt er als ganzer Mensch. Diese metaphysische Leistung vollbringt für Schiller allein die Kunst bzw. die ästhetische Bildung. Erst vor diesem Hintergrund wird die Aussage verständlich: ,,[D]er Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt." Den ästhetischen Zustand beschreibt Schiller näher als mittlere Stimmung, „in welcher Sinnlichkeit und Vernunft zugleich thätig sind"; als solche ist er „freye Stimmung", „erfüllte Unendlichkeit"22, „ein Ganzes in sich selbst."23 Ein ästhetisch gebildeter Mensch ist ein solcher, der dadurch, dass er sein doppeltes Selbstverhältnis als Subjekt und Person in das dialektische Wechselverhältnis des schönen Spiels setzt, zu einem selbstbestimmten und freien Menschen wird.24 Nur dadurch, dass er auf diese Weise ganzheitlich gebildet ist, kann der Mensch als ein freies, autonomes Wesen in ein wahrhaft intersubjektives Verhältnis zu anderen Menschen treten. Schiller denkt also zunächst von der Subjektivität her, überschreitet diese aber in Richtung der Intersubjektivität. Das wahre intersubjektive Wechselverhältnis von selbstbestimmten Individuen wird jedoch für Schiller erst im ästhetischen Staat' endgültig realisiert, in welcher die Gesellschaft erst ein wahrhaft ,geselliger Charakter' erhält. In ihm erst herrscht das „Ideal der Gleichheit", „ist alles auch das dienende Werkzeug ein freyer Bürger, der mit dem edelsten gleiche Rechte hat." Die autonome Kunst hat in einem solchen ästhetischen Staat mehr zu leisten als bloßes Transportmittel einer anderweitig begründeten Moral zu sein, wobei jedoch für Schiller die autonome Kunst als moralisch entlastete zutiefst moralisch ist2 : Dadurch, es

-

21 22 23

24 !5

26

ÄE, 358f. ÄE, 375. ÄE, 379. Vgl. ÄE, 373. ÄE, 122f. Schiller relativiert das utopische Element seiner Überlegungen am

Schluss der Ästhetischen Briefe: „Existiert aber auch ein solcher Staat des schönen Scheins, und wo ist er zu finden? Dem Bedürfhiß nach existiert er in jeder feingestimmten Seele, der That nach möchte man ihn wohl nur [...] in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden" (ÄE, 412). „Für die Würdigung der Kunst ist es aber vollkommen einerley, ob ihr Zweck ein moralischer sey, ober ob sie ihren Zweck nur durch moralische Mittel erreichen könne, denn in beyden Fällen hat sie es mit der Sittlichkeit zu thun und muß mit dem Sittengesetz im engsten Einverständniß handeln; aber für die Vollkommenheit der Kunst ist es nichts weniger als einerley, welches von beyden ihr Zweck und welches das Mittel ist. Ist der Zweck selbst moralisch, so verliert sie das wodurch sie allein mächtig ist, ihre Freiheit, und das, wodurch sie so allgemein wirksam ist, den Reiz des Vergnügens. Das Spiel verwandelt sich in ein ernsthaftes Geschäft, und doch ist es gerade das Spiel, wodurch sie das Geschäft am besten vollführen kann. Nur indem sie ihre höchste ästhetische Wirkung erfüllt, wird sie einen wohlthätigen Einfluß auf die Sittlichkeit haben; aber nur indem sie ihre völlige Freyheit ausübt, kann sie ihre höchste ästhetische Wirkung erfüllen" (Friedrich Schiller,

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dass sie die Aufgabe der Bildung des ganzen Menschen übernimmt und dem doppelten Selbstverhältnis des Menschen gerecht wird, klärt sie die Grundvoraussetzungen jedes praktischen Selbstverhältnisses und treibt gewissermaßen moralische Grundlagenforschung. Die Kunst selbst kann dies nur leisten, wenn sie selbst autonom ist und von

allen externen Forderungen von Nützlichkeitserwägungen, aber auch von allen moralischen Ansprüchen, frei gehalten wird. Wie bei Karl Philipp Moritz27 erscheint das Kunstwerk als ein Produkt von innerer Zweckmäßigkeit, das „um sein selbst willen hervorgebracht" wird und „etwas in sich Vollendetes" ist. Es ist als solches ein Modell von Selbstbezüglichkeit und -ursächlichkeit, dessen Scheincharakter dadurch gerechtfertigt ist, dass es ihn offen eingesteht; sich selbst als Schein gibt. Schiller geht so weit zu behaupten, der ästhetische Zustand gibt der „Freyheit erst die Entstehung" und entstehe nicht erst aus dieser. Die Kunst hat also keinen moralischen Ursprung, führt aber dadurch, dass sie autonom in ihrer ästhetischen Sphäre bleibt, zur Moralität.29 Entsprechend eröffnet „ästhetische Bildungstrieb" das „dritte fröhliche Reich des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt, und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im physischen als im moralischen entbindet."30 -

III Wenn Nietzsche auch Schillers Autonomieästhetik ablehnt, so geschieht es aus anderen Gründen, als sie im 18. Jahrhundert formuliert wurden. Beide wissen sich einig in der Abweisung moralischer Forderungen an die Kunst, wie sie im 18. Jahrhundert immer

wieder erhoben wurden. Dennoch ist für Nietzsche die J'art-pour-l'art'-Auffassung, als radikalisierte Form der Autonomieästhetik, ein Dekadenzphänomen. Der Idee des autonomen Kunstwerks innerhalb idealistischer Ästhetik, und zugleich der Schopenhauerschen Theorie der ästhetischen Kontemplation als eines interesselosen Wohlgefallens', stellt er die Bestimmung der Kunst als höchsten Ausdruck des Lebens, als „das grosse Stimulans zum Leben" (KSA, NF, 13, 521; vgl. KSA, GD, 6, 127) gegenüber: Die Kunst soll also der Steigerung des Lebens dienen. Innerhalb der Philosophie Nietzsches kommt dem Kunstprozess dabei eine weitaus größere Bedeutung zu als dem Kunstprodukt; nicht mehr das autonome Kunstwerk, sondern der Schaffensprozess bzw. die Kunstproduktion ist das Orientierungssystem nicht nur der Ästhetik, sondern auch der Bildungsphilosophie, ja der gesamten Metaphysik Nietzsches.31 Über den Grund des Vergnügens an tragischen Gegenständen, in: Weimarer Nationalausgabe, Bd. 20, 134f). Vgl., Georg Mein, Die Konzeption des Schönen. Der ästhetische Diskurs zwischen Aufklärung und Romantik. Kant Moritz Hölderlin Schiller, Bielefeld 2000, 68f. ÄE, 403. ÄE, 398. ÄE, 410. Theo Meyer, Nietzsche und die Kunst, Tübingen 1997; Wilhelm Schmid, Uns selbst gestalten. Zur Philosophie der Lebenskunst bei Nietzsche, in: Nietzsche-Studien 21 (1992). Auf die dortigen Ausfuhrungen nehme ich im folgenden Bezug. -

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Wie aber bestimmt Nietzsche das Leben, dessen höchster Ausdruck die Kunst sein soll? Bekanntlich ist für ihn das Leben, besonders menschliches, wesentlich Wille zur Macht und damit ein Phänomen, das sich permanent selbst überschreitet. Der Wille zur Macht aber ist in erster Linie diejenige Instanz, die Werte schafft (vgl. KSA, JGB, 5, 54f). Dieser dynamischen Auffassung des Lebens korrespondiert die dynamische Bestimmung der Kunst als höchsten Ausdrucks des Willens zur Macht; der Künstler ist der Inbegriff dessen, was Werte schafft. Da Kunst höchster Ausdruck des Werteschaffens und Leben gleichbedeutend mit der Schaffung von Werten ist, folgt, dass Kunst höchster Ausdruck des Lebens ist. Dabei kann es zunächst als offene Frage betrachtet werden, welcher dieser Bestimmungen, des Lebens oder der Kunst, innerhalb des philosophischen Begründungszusammenhangs das Primat zukommt: Ob also das Leben von Nietzsche nach dem Modell der Kunstproduktion bestimmt wird und entsprechend seine Anthropologie bzw. Metaphysik durch und durch Ästhetizismus ist oder ob, weil alle Lebenserscheinungen Wille zur Macht sind, Kunst in einem entscheidenden Sinne ebenfalls bloß als eine Lebenserscheinung aufzufassen ist, deswegen auch Kunst Ausdruck des Willens zur Macht ist; die Beantwortung dieser Frage nach dem theoretischen Primat kann zurückgestellt werden hinter der Feststellung, dass in jedem Fall Kunst in diesem wechselseitigen Bestimmungsverhältnis die höchste Dignität erhält: sie wird zum höchsten Ausdruck des Lebens und zur „eigentlich metaphysische[n] Täthigkeit des Menschen" (KSA, GT, 1, 17) erhoben. Diese Dignität erlangt sie nicht als fertiges Kunstwerk, sondern als Kunstprozess, als eine Tätigkeit, in der sich das Wesen der Welt: der Wille zur Macht in seiner Werte schaffenden Potenz, vollkommen artikuliert. Wie schon die Bestimmung der Kunst durch das Gegensatzpaar des Dionysischen und Apollinischen, so ist auch die wiederum an Schiller orientierte Bestimmung sowohl der Welt als auch der Kunst als eines ,zweckfreien Spiels' nur eine andere Formulierung für eine solche ästhetische Metaphysik: im Spiel der Kunst wiederholt sich das allgemeine Weltspiel, in welchem sich die Merkmale Zweckfreiheit und Dynamik treffen. Was Nietzsche über Heraklits Philosophie sagt, gilt auch für seine eigene: „Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören, ohne jede moralische Zurechnung, in ewig gleicher Unschuld, hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers [...]. Und so, wie [...] der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld und dieses Spiel spielt der Äon mit sich. [...] Nicht Frevelmuth, sondern der immer neu erwachende Spieltrieb ruft andre Welten ins Leben. [...] So schaut nur der ästhetische Mensch die Welt an, der an dem Künstler und an dem Entstehen des Kunstwerks erfahren hat, wie der Streit der Vielheit doch in sich Gesetz und Recht tragen kann, wie der Künstler beschaulich über und wirkend in dem Kunstwerk steht, wie Nothwendigkeit und Spiel, Widerstreit und harmonie sich zur Zeugung des Kunstwerks paaren müssen" (KSA, -

PHG, l,830f).

Im Kontext der Philosophie Nietzsches als einer Philosophie der Bildung sind vorrangig die auf der Basis anthropologischer oder metaphysischer Überlegungen formulierte Forderung nach einer Auffassung des Lebens als Kunst, die Behauptung der absoluten Vorbildlichkeit der Kunst für das Leben von Bedeutung. In Orientierung an frühromantischen Konzepten des Poetisierens oder Romantisierens des Lebens wird die Schaffung eines Lebenskunstwerks von Nietzsche zum Postulat erhoben. Eine ästheti-

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sehe Rechtfertigung der Welt kann demnach nur durch den Menschen erfolgen, indem wir „aus uns selber ein solches [ästhetisches L.-T.U] Phänomen machen zu können" (KSA, FW, 3, 464). Insofern wird alle Bildung für Nietzsche zur ästhetischen Bildung: indem der Mensch aus seinem Leben ein Kunstwerk macht, ist seine und damit alle wahre Bildung eine ästhetische. In einem wesentlichen Sinne ist auch seine Konzeption des Übermenschen nur ein anderer Ausdruck für das Konzept ästhetischer Bildung in diesem spezifischen Sinne. Die dynamische Bestimmung der Kunst als höchster Ausdruck des Willens zur Macht, als Stimulans zum Leben erscheint vor diesem Hintergrund nicht nur als Komplementärthese, sondern als Voraussetzung für die Bestimmung des Übermenschen als Ergebnis und Form der ästhetischen Bildung. Der Übermensch macht sein Leben zum Kunstwerk; er schafft Werte wie die Kunst. Die Kunst ist also dadurch, dass sie Werte schafft, für den (Über-)Menschen vorbildlich. Wie im Falle der Kunst als ästhetischem Prozess kann auch für den Übermenschen das beständige Übersich-hinaus-Schaffen, das permanente Sich-selbst-Überschreiten als das Hauptcharakteristikum gelten. Wie Schiller verfolgt demnach auch Nietzsche mit seiner Ästhetik grundsätzliche subjektivitätstheoretische Fragestellungen, er formuliert sie jedoch nicht mehr innerhalb eines dialektischen Modells von Form-, Stoff- und Spieltrieb, sein Konzept des Übermenschen als eines Werteschaffenden ist in erster Linie Ausdruck einer Asthetisierung des Bildungskonzepts und Menschenbildes insgesamt. Dadurch, dass in Orientierung am Modell ästhetischer Produktion das permanente Sich-selbstÜberschreiten zum Ideal wird, ist dem Übermenschen die eigene Person zugleich Subjekt und Objekt des Schaffens- oder Bildungsprozesses. Es fragt sich allerdings, in welchem Verhältnis Nietzsches Kritik an den Subjektivitätskonzepten, die in der These vom ,Tod des Subjekts' gipfeln, seine bildungsphilosophischen Überlegungen stehen, die in der ästhetischen Theorie vom Übermenschen kulminieren. Unter der Voraussetzung einer Zerstörung des Subjektbegriffs stellt sich die Frage, was oder wer eigentlich noch gebildet werden soll? Auflösbar scheint dieses Paradoxon allein durch die These, dass Bildung Selbsterschaffung sei, also keinen Subjektkern voraussetzt.32 Des weiteren entsteht bei einer derartigen Verknüpfung von Kunst und Leben ein eigentümlicher Widerspruch innerhalb der Autonomiekonzeption, insofern einerseits die absolute Autonomie des Schaffenden, andererseits die Unterordnung unter das Leben unter fremde Zwecke, d.h. eine Aufhebung der Autonomie postuliert wird. Aufgelöst werden kann der Widerspruch allein durch die Bestimmung des Lebens als eines beständigen Über-sich-hinaus-Schaffens, damit als prinzipiell zweckfrei und ,sinnlos'. Das Leben ist kein Zweck; vielmehr setzt sich in Kunst und Lebenskunst nur das zweckfreie Leben als permanentes Sich-selbst-Überschreiten fort. Bei näherer Kennzeichnung, was jenes vom Übermenschen realisierte Ideal permanenter Selbstüberschreitung bedeutet, wird wiederum der Begriff des zweckfreien Spiels virulent: vor dem Hintergrund der metaphysischen These, dass sich im Spiel der Kunst nur das Spiel der Welt wiederholt, manifestiert sich die Lebenskunst des (Über-)Menschen als Ideal einer Experimentalexistenz im Sinne einer Ausmessung des unendlichen Möglichkeits-

=

Die Auffassung von Bildung als Selbsterschaffung (statt Selbsterkenntnis) wurde jüngst von Richard Rorty vertreten (Richard Rorty, Freud und die moralische Reflexion in: Ders., Solidarität oder Objektivität? Drei philosophische Essays, Übers, v. J. Schulte, Stuttgart 1988).

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horizonts, wobei der Mensch zugleich Subjekt und Objekt des existentiellen Experiments ist (vgl. KSA JGB, 5, 142ff.).33 Schillers Spielbegriff taucht hier, wie vorher ,

sein Autonomiebegriff, in radikal veränderter Form wieder auf. Parallel zur Kunst ist auch die ästhetische Bildung qua Lebenskunst als Spiel bestimmt, in letzterer manifestiert sich das spielerische Element in der Experimentalexistenz des Übermenschen: „So leben wir denn ein vorläufiges Dasein oder ein nachläufiges Dasein, je nach Geschmack und Begabung, und thun am besten, in diesem Interregnum, so sehr, als nur möglich, unsere eigenen reges zu sein und kleine Versuchsstaaten zu gründen. Wir sind Experimente: wollen wir es auch sein!" (KSA, M, 3, 274). Hinter dieser Vorstellung vom Leben als Kunst und Experiment und von der Bildung als ästhetischer Bildung steht zunächst die anthropologische Bestimmung des Menschen als eines „noch nicht festgestellte[n] Thierfs]" (KSA, JGB, 5, 81), aus dem sich alles durch Bildung machen lässt, der sich stets von neuem selbst erschaffen kann. Auf der anderen Seite setzt eine solche Vorstellung jenen ,freien Geist' bereits voraus, der erst das Ergebnis einer solchen Bildung sein kann, insofern jene für die Lebenskunst bzw. Experimentalexistenz notwendige Erhebung über alle fixen Überzeugungen und Lebensformen für Nietzsche bereits die höchste Form der Bildung darstellt.34 Hier ist eine gewisse Zirkularität der Argumentation nicht zu übersehen. Es ist dies substantiell ein ähnlicher Zirkel, wie er schon beim jungen Nietzsche auftritt, insofern für diesen die wichtigste Bedingung für die Beförderung von Kunst und Bildung die Freiheit ist (vgl. KSA, SE, 1, 411), Freiheit aber nur Ergebnis von Kunst und Bildung sein kann. Genau dieser Zirkel ist schon bei Schiller begegnet, gegen ihn erhob Johann Gottlieb Fichte den berechtigten Einwand, dass Schillers Idee, „durch ästhetische Erziehung die Menschen zur Würdigkeit der Freiheit und mit ihr zur Freiheit selbst zu erheben, uns im Kreise herumfführt]", da die Entwicklung eines ästhetischen Sinns soziopolitische Verhältnisse voraussetzt, die durch ästhetische Erziehung erst hervorgebracht werden sollen.35 In diesen vielleicht unauflöslichen Zirkeln haben wir uns zu bewegen, wenn wir über ästhetische Bildung nachdenken, es sollte jedoch, darum gehen, dass sie fruchtbare Zirkel werden.

IV Die Bildungsproblematik führt in der Nietzsche-Literatur der letzten Jahrzehnte ein Schattendasein. Wir haben zu zeigen versucht, dass sie im Gegenteil ein zentrales Thema in seiner Philosophie ist. Man kann sogar so weit gehen zu sagen, dass eine DarstelDie Idee der Experimentalexistenz spielt später im Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil eine zentrale Rolle: sie tritt in der Gestalt des Möglichkeitssinns und im Konzept des sogenannten

Essayismus wieder auf. Die ausführlichste Beschreibung des ,freien Geistes' findet sich in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches (KSA, MA 1, 2, 15-22). Johann Gottlieb Fichte, Über Geist und Buchstab in der Philosophie, in: Ders., Werke. Gesamtausgabe der Bayrischen Akademie d. Wissenschaften, hg. von R. Lauth, H. Gliwitzky, Bd. 1, 6 (Werke ¡799-1800); dazu Georg Mein, Die Konzeption des Schönen. Der ästhetische Diskurs zwischen Aufklärung und Romantik. Kant Moritz Hölderlin Schiller, 196. -

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lung Nietzsches als ,Aufklärungskritiker' bedeutet, ihn zugleich als ,Bildungsphilosophen' darzustellen. Er knüpft dabei in vielfältiger Weise an Schillers Ästhetische Erziehung an. Nicht nur stimmen beide in der Diagnose allgemeiner moderner Barbarei überein, die durch die verfeinerte theoretische Kultur' der Aufklärung selbst hervorgebracht wird, sondern sie messen beide der Kunst eine zentrale Bedeutung für die Aufhebung dieser Barbarei und für die Beförderung wahrer Bildung bei. Doch hier enden auch die Gemeinsamkeiten, die Differenzen treten auf. Vor allem unterscheiden sie sich in ihren

subjektivitätstheoretischen Argumentationen: während Schiller ein dualistisches Modell um dieses über den Begriff des Spieltriebs dialektisch zu vermitteln, entwi-

entwirft,

ckelt Nietzsche mit seiner Theorie vom Willen zur Macht einen monistischen Voluntarismus als Grundlage sowohl der Kunst- als auch der Bildungsphilosophie. Bei der konkreten Ausführung seiner bildungsphilosophischen Überlegungen greift er aber mit den Konzepten der Autonomie und des Spiels zwei zentrale Begriffe Schillers auf, freilich nicht, ohne sie in entscheidender Weise zu verändern. Das Ergebnis ist, dass der Begriff ästhetischer Bildung bei Nietzsche eine entscheidend andere Bedeutung erhält als bei Schiller: nicht mehr Bildung durch Kunst, wie bei Schiller, sondern Bildung als Kunst im Sinne der Schaffung eines Lebenskunstwerks ist für Nietzsche das entscheidende Kennzeichen ästhetischer Bildung. Hierbei spielt das Konzept des Übermenschen bzw. der Experimentalexistenz eine zentrale Rolle. Als die Kehrseite der Konzeption ästhetischer Bildung in Gestalt des Übermenschen erscheint jedoch die Entfernung und Abweisung aller überkommenen Moral; Lebenskunst wird so zur „Aufgabe der Formung des Subjekts, das sich von der Moral befreit."36 An die Stelle christlich geprägter, als Ressentiment und Nihilismus, abgewerteter Moral tritt die in der Genealogie der Moral beschriebene Selbstaffirmation und Herrenmoral des Übermenschen als eines souveränen Individuums, dessen Hervorbringung als das letzte Ziel aller philosophischen Anstrengungen Nietzsches gelten kann. Festzuhalten bleibt aber, dass der Übermensch qua Lebenskünstler der, in Nietzsches Sinne, ästhetisch höchst Gebildete ist, also gerade nicht die ,blonde Bestie', von der in der Genealogie der Moral die Rede ist. Dadurch wird zuletzt eine Perspektive auf den Zusammenhang zwischen Moralkritik und der Idee ästhetischer Bildung eröffnet, die jedoch Gegenstand einer anderen Untersuchung werden muss.

Wilhelm Schmid, Uns selbst gestalten. Zur Philosophie der Lebenskunst bei Nietzsche, 51.

III. Friedrich Nietzsches Ecce homo 12.

Nietzsche-Werkstatt, Schulpforta 15.-17.

September 2004

Enrico Müller / Andreas Urs Sommer

Einleitung zur Werkstatt

Friedrich Nietzsches Ecce homo bleibt in vieler Hinsicht ein Rätsel. Das Rätsel dieser Spätschrift etwas genauer zu fassen, war das Ziel der 12. Nietzsche-Werkstatt 2004 in Schulpforta. Ein Teil der Referate, die Annäherungsversuche an Ecce homo dokumentieren, werden hier in revidierter Form vorgestellt; die Einleitung gibt einen Überblick über das Werkstattgeschehen insgesamt, berücksichtigt daher auch hier nicht veröffentlichte Beiträge. Die Bandbreite die einschlägiger Forschung war für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer überraschend und wurde als befruchtend für die eigene Arbeit empfunden. Einleitend stellten wir als Tagungsleiter sieben Thesen und Fragen zur Diskussion, um einen ersten Blick auf die Deutungshorizonte von Ecce homo freizugeben, unter denen die Werkstatt stehen sollte.

I 1. Nietzsches Ecce homo ist ein Text, der sich von Seiten seiner Exegeten vielfältige, wenngleich selten originelle Instrumentalisierungen hat gefallen lassen müssen. Lange Zeit galt er als beredtes Zeugnis für Nietzsches Abgleiten in den Wahnsinn1 oder wurde ohne weitere methodische Reflexion benutzt als Quelle für Nietzsches Biographie und als Zusammenstellung der finalen Selbstinterpretationen, die Nietzsche seinen Werken angedeihen ließ. Solche Instrumentalisierungen schienen viele Sekundärliteraten sowohl von eigenständiger biographischer Forschung als auch von eigenständiger Interpretation der von Nietzsche selbst interpretierten Werke zu entbinden. Wer allerdings Ecce homo als verlässliche biographische Quelle und als verlässliche Darstellung der anderen Werke Nietzsches betrachtet, muss stillschweigend die Wahnsinnshypothese fallen lassen. 2. Tatsächlich steht Ecce homo nach Ausweis seines Vorworts ursprünglich schon in einem Instrumentalisierungszusammenhang: Das Werk deklariert sich als Propädeutik

Dagegen wendet sich zurecht Werner Stegmaier, Nietzsches Kritik der Vernunft seines Lebens. Deutung von ,J)er Antichrist" und „Ecce homo", in: Nietzsche-Studien, 21 (1992).

Zur

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der „schwersten Forderung", mit der das darin sprechende Ich „über Kurzem [...] an die Menschheit herantreten muss" (KSA, EH, 6, 257). Diese Forderung realisiert sich im „zerschmetternden Blitzschlag der Umwerthung" (ebd., 363f.). Entsprechend werden die Absichten des Werkes formuliert: „man wird errathen, weshalb ich dies Buch vorher herausgebe, es soll verhüten, dass man Unfug mit mir treibt..." (ebd, 365). 3. Ecce homo scheint also darauf angelegt zu sein, eine autoritäre, apodiktische Deutung von Nietzsches Schriften und Werk zu geben. Zugleich aber scheint auch eine Festschreibung der Selbstinterpretation intendiert zu sein, um so Selbstverwechslung auszuschliessen: „Ich will nicht verwechselt werden, dazu gehört, dass ich mich selber nicht verwechsele" (ebd., 298). Dies geht freilich nicht ohne eine rücksichtslose Zurechtmachtung der biographischen Fakten und eine unzimperliche Zurichtung der Werke auf die Bedürfnisse der Umwertung aller Werte. Man hat bemerkt, dass Nietzsche in Ecce homo „Falschmünzerei im grossen Stil" betreibe. 4. Bei einer ersten Lektüre erscheint Ecce homo als eine Art ,yAutohagiographie, [...] die den Antichrist in Aussicht stellt, das heißt, den Umsturz alles bislang Gültigen", und damit verhindert, dass ein Paulus oder ein Piaton sich des Verkündigungsgeschäftes annimmt, wie sie sich Jesu oder Sokrates' angenommen haben. Die Autohagiographie Ecce homo „negiert alle heilsgeschichtlichen Konstruktionen des Christentums, bedient sich aber im Ausblick auf den Antichrist selber heilsgeschichtlicher Topik."3 5. Die Frage ist, ob dieser Eindruck einer ersten Lektüre auch einer genaueren Betrachtung standhält. Sind die Deutungen, die das Ich des Ecce homo dem Werkcorpus und dem Leben Nietzsches angedeihen lässt, wirklich so eindeutig und linear, wie es das das Wort führende Ich suggeriert? 6. Daran schließt sich die Frage an, aufweiche Weise Ecce homo Leben und Werk Nietzsches zueinander ins Verhältnis setzt. Handelt es sich um ein genealogisches Verfahren, Ecce homo als Selbstgenealogie? Oder um den Versuch, Leben und Werk im Stil des Diogenes Laertius in einigen kynischen Anekdoten zu verdichten? Ist Ecce homo, einer der elaboriertesten Texte Nietzsches, eine Art kompliziertes Rollenspiel? Spielt Nietzsche darin, Nietzsche zu sein, wie Kurt Röttgers es unlängst ausgedrückt hat? 7. Wie ist der Text Ecce homo als Text konzipiert? Und wie ist die Konzeption ausgeführt? Gibt es so etwas wie einen philosophischen Gehalt? Handelt es sich um die Darstellung oder Umsetzung philosophischer Lehren? Oder werden alle Lehren vernichtet, weil es nur auf die Inszenierung des im Titel genannten Pilatuswortes ankommt: Ecce homo (Johannes 19,5)? -

Martin Stingelin, Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs ". Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption im Spannungsfeld zwischen Sprachkritik (Rhetorik) und historischer Kritik (Genealogie), München 1996, 158. Andreas Urs Sommer, Friedrich Nietzsches „Der Antichrist". Ein philosophisch-historischer Kommentar, Basel 2000, 46. „

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II Der besondere Reichtum an Perspektiven, durch den sich die 12. Nietzsche-Werkstatt auszeichnete, wird im folgenden in großen Zügen nachgezeichnet. Zur besseren Orientierung empfiehlt es sich, die vorgetragenen Ansätze der thematischen Akzentuierung gemäß in unterschiedlichen Interpretationshorizonten anzusiedeln. Einen ersten Schwerpunkt bildeten Arbeiten, die ihre Aufmerksamkeit der sprachlichen und literarischen Verfasstheit von Ecce homo widmeten. Klaus Wellner ging der Frage nach, wie bei Nietzsches Umgang mit literarischen Formen als philosophischem Ausdrucksmittel Wahrheit noch möglich sei. Der gezielte Einsatz von Aphorismen, Erzählungen, typisierten figuralen Konstellationen ermögliche, so die Antwort, Wahrheit als perspektivische, stets vorläufige Anreicherung der Phänomene in Abgrenzung zum letztlich als moralisch empfundenen Anspruch auf ein systematisch generiertes Allgemeines. Die Vielheit der Masken des Gesamtwerks solle ihrerseits in Ecce homo von der letzten Maske des alles umgreifenden Autors her verstanden werden, die Nietzsche brauche, um sich eine Wirkung in der Geschichte zu sichern. Textnäher entfaltete Christian Benne die Rollenspiele der Spätschrift am Beispiel der Metapher des Hanswursts'. Nietzsche wird hier als Meister im Handwerk des Verweisens als auch des kalkulierten Verschweigens sichtbar gemacht. Nach Auswertung der Bezugnahmen Nietzsches auf Shakespeare alias Lord Bacon erscheint Hamlet als die entscheidende Präfiguration für das Narrenmotiv in Ecce homo. Ausgestattet mit einem ausgeprägten Methodenbewusstsein vermochte Daniela Langer zu zeigen, wie Nietzsche im Text zunächst ein Selbst im Sinne apokalyptischer Einzigartigkeit inszeniere, dieses jedoch durch bestimmte textuelle Strategien wieder unterwandere. Im auffällig häufigen Gebrauch der Personalpronomen ,er' bzw. ,man' kultiviere Nietzsche eine gegenläufige Rhetorik der Entpersönlichung des Ichs, die eine strukturelle Aporie sichtbar mache: dem Selbst einen Ort zuzuweisen, der in der Sprache vor der ,Umwerthung' noch nicht sagbar sei. Während Reiner Zschacke im Text eine Sprachmodernität realisiert sah, die sich in der Verweigerung gegenüber festen Bedeutungszuschreibungen kundgebe und ,Wirklichkeit' nur noch in der Form ihres artistischen Vollzugs anerkenne, setzte Fernando de Moraes Barros zum Teil auf dessen werkimmanente Kontextualisierung. Ecce Homo sei als lebendiger Kommentar zum Antichrist aufzufassen und weise in Verbindung mit Nietzsches Leben zugleich über ein bloß textuelles Verstehen hinaus. Einen zweiten Schwerpunkt bildeten Ansätze, die das schriftstellerische Selbstverständnis des Textes unter Bezugnahme auf jene Traditionsbestände zu erfassen oder zu präzisieren suchten, die Nietzsche sich zu eigen gemacht, variiert oder gezielt entgrenzt haben könnte. Namentlich die Selbststilisierungen im Zeichen des Kynismus, des Komischen und der melancholischen Tradition wurden hier verhandelt. So hat Heimich Niehues-Pröbsting in einer Revision und Weiterentwicklung seiner diesbezüglich einschlägigen Arbeiten das Problem des .welthistorischen Cynismus' in souveräner Weise aufgearbeitet. Jenseits von Provokationsrhetorik und Radikalaufklärung wird Nietzsches Cynismus dabei in seinen stilistischen Eigenarten, seinen programmatischen Verlautbarungen, seinem subversiven polemischen Potential und seinem ganzen Ausmaß immoralistischer Selbstdarstellung sowohl im Horizont der antiken cynischen

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Tradition angesiedelt als auch in seiner Eigenart gegenüber dieser plausibel gemacht. Oliver Kloss hat in sachlichem Anschluss daran Nietzsche von den neo-cynischen Vereinnahmungen durch Ludwig Stein und Peter Sloterdijk befreit und für eine Sichtweise plädiert, nach der Nietzsche die Umwertungsprogrammatik der antiken Kyniker als Kulturkritik aufnehme, statt antikultureller Bedürfhisreduktion aber die Veredelung' der Kultur im ganzen propagiere. Während Jürgen Müller Nietzsche mit seinem zur Kunst der Umwertung gehörenden lebensbejahenden Anspruch in die sokratische Tradition eines Fragens nach dem als Gut-Sein verstandenen Glück rückte, argumentierte Matthew H. Meyer unter Rückgriff auf Aristophanes für die komische Dimension der theatralisch-dionysischen Selbstdarstellungen Nietzsches. Die Parábase in der Alten Komödie sowie die im komischen Agon der Antike generell zelebrierte institutionalisierte Schamlosigkeit stellten sich als plausible Anknüpfungspunkte an die auktoriale Selbstinszenierung von Ecce homo heraus. Tobias Dahlkvist legte schließlich für die stets als besonders maßlos angesehenen Abschnitte von Ecce homo (Warum ich so klug bin und Warum ich so weise bin) den Melancholie-Diskurs Europas als geistesgeschichtlichen Kontext nahe. Nach skizzierter Sichtung der diesbezüglichen Tradition Aristoteles, Galen, Montaigne und Robert Burtons The Anatomy of Melancholy werden Nietzsches teils provokante, teils süffisante diätetische Verordnungen im Hinblick auf Klima, Essen und Alkoholkonsum als konsequente Selbsthygiene eines bekennenden Phlegmatikers interpretiert und damit im biographischen Sinn beim Wort -

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genommen. Zum dritten und letzten Schwerpunkt gehörten Ansätze, in denen die Frage nach dem Sinn der zwischen Selbstkonstitution und Selbstüberwindung angesiedelten Autogenealogie Nietzsches als Ganzes aufgeworfen wurde. Christian Wollek hat Ecce homo vom sokratischen Standpunkt einer als Selbsterkenntnis konzipierten Philosophie aus in den Blick genommen. Von diesem eher ,klassischen' Blickwinkel her betrachtet wird Nietzsches Philosophie als stetes Ringen um Distanz gegenüber eigenen Wunschvorstellungen gedeutet, eines Ringens, das aber in Ecce homo auf fragwürdige Weise im Verlust jeglicher Distanz münde. Janske Hermens schien den nur vordergründig maßlosen Ausführungen der Schrift gerechter zu werden, wenn sie statt psychologisierender Ausdeutungen „the ambiguous nature of Nietzsches concept of health", mithin den Gedanken der ,Grossen Gesundheit' als Ausgangsperspektive wählte. Nichts Geringeres als die Chronik eines angekündigten Todes ist Ecce homo für Miguel Skirl. Analog zum als Selbstopferung interpretierten Leben Nietzsches sei auch dessen letzte Schrift ein textuelles Martyrium, in dem die Abfolge des Werks nicht rekapitulierend referiert, sondern als Konglomerat von Leib und Lehre im Hinblick auf seine zukünftige Wirkung erzählt und somit eingeholt werde. Selbsteinholungsfiguren in diesem Sinne einer wechselseitigen Durchdringung von Leben und Text zielen nach Skirl letztlich über die Negation der bloßen Autorschaft hinaus auf die Suggestion ereignishafter körperlicher Anwesenheit. Nietzsche inszeniert damit nicht sich als autobiographisches Objekt, sondern seine Notwendigkeit im Hinblick auf die .Umwerthung aller Werte'. Im Abschlussvortrag der Veranstaltung erprobte Rüdiger Görner für Ecce homo die These von einer Humanität der Selbstüberwindung. Nietzsche wurde hierbei mit und neben Sören Kierkegaard als Denker des Dividualismus in einen Zu-

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sammenhang gebracht, von dem aus die Statik klassischer europäischer Selbstkonzepte sichtbar wird. Momente der Selbststeigerung und des Selbstversuchs, die Spannung

zwischen Selbstsucht und Selbstzucht wären dann nicht mehr Attitüden individueller Verwirklichung, sondern Vorbereitung der Überwindung des Selbst als einer den humanistischen Wertekanon Jahrhunderte lang tragenden Grundlage. Wenn Nietzsche also ,sich' und seine ,guten Bücher' zelebriere und als Gegenkanon zur humanistischen Tradition aufbaue, dann nicht im Namen inhumaner Entfesselung, als vielmehr in der Hoffnung, einen neuen Diskurs über das Menschliche initiiert zu haben.

RÜDIGER GÖRNER

Die Humanität der Selbstüberwindung Ecce homo oder die

Autobiographie eines posthum Geborenen

Wie lässt sich umgehen mit Friedrich Nietzsches Ecce homo, diesem sprachgewaltigen Zeugnis enthemmten Denkens? Was intellektuelle Enthemmung bedeuten kann, hatte Nietzsche im Rahmen von Scherz, List und Rache in der Fröhlichen Wissenschaft präludierend in zum Teil bitterernsten gereimten Scherzen gleichfalls unter dem Stichwort ,Ecce homo' angedeutet: „Ja! Ich weiss, woher ich stamme!/ Ungesättigt gleich der Flamme/ Glühe und verzehr' ich mich./ Licht wird Alles, was ich fasse,/ Kohle Alles, was ich lasse:/ Flamme bin ich sicherlich" (KSA, FW, 3, 367). Als Schüler, und man darf über diesen prekären Entwicklungszustand an diesem Ort, in Schulpforta, wohl sprechen, als Schüler mussten wir diese Strophe lernen im Anschluss an die Lektüre der Ballade Die Füße im Feuer von Conrad Ferdinand Meyer. Ich erinnere diese Verse als meine erste Begegnung mit dem Namen Nietzsche, wobei Ecce homo als nicht weiter entschlüsseltes Stichwort schon im Religionsunterricht vorgekommen war. Rezitiert haben wir diese Nietzsche-Verse übrigens im Chor, wobei zum Verfasser nichts gesagt wurde als sein Geburts- und Sterbejahr und zum Inhalt dieser flammenden Selbstverzehrung auch nichts. Vielleicht deswegen blieben einem diese Verse so unauslöschlich, so verdächtig, mythisch beinahe, ein Gedicht mit Brandgeruch. Was also hat es auf sich, mit Nietzsches flammendem Selbstbekenntnis? Wie steht es um die Deutung dieser intellektuellen Hemmungslosigkeit? Beginnen wir mit einer Analogie zu jener auch für Ecce homo grundlegenden Entgegensetzung von Ästhetik und Ethik: „Das Ästhetische in einem Menschen ist das, wodurch er unmittelbar ist, was er ist; das Ethische ist das, wodurch er wird, was er wird", heißt es im Kapitel Gleichgewicht des von Victor Eremita alias Sören Kierkegaard unter dem Titel Entweder-Oder herausgegebenen ,Lebensfragments' zweier fiktiver Intellektueller, Ästhetiker der eine, Ethiker der andere, des dänischen Philosophen beide Seiten. Was Kierkegaard in Entweder-Oder vorführte, war nichts weniger als eine intellektuelle Vivisektion, die an ihrer Radikalität und Rückhaltlosigkeit gemessen erste in der Philosophie der Moderne. Das Ästhetisch-Unmittelbare hatte bei Kierkegaard bekanntlich einen Namen: die musikalische Erotik von Wolfgang Amadeus Mozarts Don Giovanni. Das Ethische dagegen entwickelte sich laut Kierkegaard aus

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Rüdiger Görner

dem, was sich durch die Ehe stiftet, ein von Verantwortungsgefühl getragenes Gemein-

schaftsethos. Man weiß, dass Nietzsche zu Beginn seines letzten Schaffensjahres 1888 von Georg Brandes auf den damals noch nicht übersetzten Kierkegaard aufmerksam gemacht wurde. Es kam dann nicht mehr dazu, dass sich Nietzsche, wie beabsichtigt, „mit dem psychologischen Problem Kierkegaard" beschäftigen konnte (Brief an Georg Brandes vom 19. Febraur 1888, KSB 8, 259). Was er bei diesem dänischen Denker über Don Giovanni hätte finden können, wäre für Nietzsche im Maßstab eins zu eins auf sein eigenes Carmen-Erlebnis übertragbar gewesen, wenngleich Kierkegaard anders als er kein musikalisches Gegenbild gehabt hatte, von dem er sich unter Aufbietung aller intellektueller Energie und sinnlicher Hörleistung hätte absetzen müssen wie dieser von der Kunst Richard Wagners.1 Das psychologische Problem der Selbstspaltung oder mehrfachen Selbstaufteilung bei Kierkegaard wäre Nietzsche, dem Begründer des Dividualismus, nicht minder vertraut gewesen. Eine Notiz im Umkreis von Ecce homo lautet: „Die Kunst, mich zu trennen, auseinander zu halten, Eine Hälfte Jahre lang zu vergessen" (KSA, NF, 13, 596), womöglich jene im Sinne Kierkegaards ,ethische' Seite. Schließlich notiert Nietzsche wenig später: „du wirst absurd,/ du wirst tugendhaft" (ebd., 564). Bedenkt man die von ihm erwogenen Titelvarianten für Ecce homo, fällt vor allem die Version Aufzeichnungen eines Vielfachen auf; nicht minder die Ersetzung von Ecce homo durch Der Spiegel (ebd., -

632).

Die für Ecce homo wichtigste Analogie zu Kierkegaardschem Denken ist zweifellos die Frage nach dem Verhältnis von Werden und Sein, wenn auch Kierkegaard, anders als Nietzsche, in dieser Beziehung keine Revolte im Namen der Schönheit begründet gesehen hatte. Doch mit dem Verweis auf den ästhetischen Zustand, der den Menschen sein lässt, was er tatsächlich ist, und der ethischen Gegenposition, die im Sollen jene Kraft erkennt, die das Werden zum Werden befördert, sind die Pole benannt, zwischen er Nietzsche sein Protokoll eines autobiographischen Selbstversuchs, Ecce homo, angesiedelt hat. Und die Formel ,Wie man wird, was man ist' beschreibt diese Zwischenposition, indem sie weder ein unmittelbares Sein noch das Werden zum Werden fordert, sondern das Werden zum Sein als einer Art Gesundheit zum Leben. Um diese eigenwillige Ontologie zu begründen, verwies Nietzsche auf die Notwendigkeit, selbstsüchtig zu werden. Zu seinem Verständnis des ,nosce te ipsum' gehörte das ,SichVergessen', aber auch das ,Sich-Missverstehn' als Akt der radikal subjektiv gedeuteter Vernunft. Daraus leitete er nicht nur seine Formel des ,amor fati' als Liebe zum eigenen Schicksal ab, sondern die Notwendigkeit, „die ganze Casuistik der Selbstsucht" in Gestalt von „Ernährung, Ort, Klima, Erholung" als werkbestimmende Faktoren zum Gegenstand seines autobiographischen Projekts zu machen (KSA, EH, 6, 295). Man ermesse jedoch die Spannung zwischen dem emphatisch persönlichen ,ecce homo' mit seinem unzweideutigen pseudo-sakralen Selbstverweischarakter und dem ins Unpersönliche ausweichenden Untertitel: Wie man wird, was man ist. Diese Formel nun Curt Paul Janz berücksichtigt diesen Aspekt bei der Don Giovann -Carmew-Parallele nicht (Friedrich Nietzsche. Biographie in drei Bänden, Bd. 2, Die zehn Jahre des freien Philosophen, München, Wien 1978, 88f.

Die Humanität der Selbstüberwindung

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ist pindarischen Ursprungs. Bereits der junge Nietzsche hatte sie der deutschen Fassung seiner Leipziger Diogenes Laeriräs-Abhandlung von 1868 eingeschrieben: génoi oíos essi (,Werde, der du bist'). Vollständig lautet das Zitat jedoch „Werde, wie du es lernst zu sein." Es ist ebenso eigentümlich wie bezeichnend, dass der junge Nietzsche das Pindar-Zitat ausgerechnet um dieses ,du lernst' verkürzt hat, bezeichnend für sein bereits damals sprunghaft sich steigerndes Selbstbewusstsein. Noch aus einem anderen Grund ist das Zitat wichtig; Nietzsche hatte besagte deutsche Fassung der Diogenes Laertius-Studie als Teil seines neuen Projekts verstanden, das da hieß: Schreiben lernen, und das mit Gusto und unverwechselbarem Stil. Die Art des Schreibens als Modus intellektueller Emanzipation, dieser Vorgang lässt sich am Beispiel Nietzsches geradezu mustergültig verfolgen. Spätestens mit Ecce homo und der sich in dieser Selbstdarstellung ereignenden stilistisch-gedanklichen Apotheose war der Vorgang abgeschlossen, was bedeutet, dass Nietzsches Rückgriff auf sein frühes pindarisches Leitmotiv als Untertitel für seine Genealogie in eigener Sache ganz und gar konsequent war.Gleich wie man dieses Pindar-Zitat verändert oder interpretiert, die Betonung bleibt auf dem Werden, ob imperativisch verstanden oder als Feststellung. Es handelt sich dabei jedoch um ein Werden, das den Seinszustand nicht wirklich zu verändern, sondern nur zu bestätigen scheint. Wer wird, was er schon ist, betreibt im Grunde zynische Metamorphose. Konstatiert man diesen Zustand als einen allgemein gewordenen, dann ist es zum welthistorischen Cynismus' als dem kritischen Beschreibungsmodus schlechthin im Zeitalter der Décadence nicht mehr weit. Neben der Götzen-Dämmerung und dem Antichrist entwarf Nietzsche im Umfeld von Ecce homo eine ,Geschichte des Gottesbegriffs', die Szenarien für die ,Umwertung aller Werte' und den ,Willen zur Macht', desgleichen eine ,Physiologie der Kunst', die sich den Symptomen des dionysischen ,Rausches' stellen wollte. Von einer ,Kriegsschule der Seele' ist in den Notizen die Rede. Es hat freilich den Anschein, als befänden sich die Gedanken und Entwürfe ihrerseits im Kriegszustand. Nietzsche selbst gibt sich martialisch. „Ich bringe den Krieg", schreibt er (KSA, NF, 13, 637). Er erklärt diesen Krieg den absurden Zuständen in seiner Zeit, dem Antisemitismus und Nationalismus in erster Linie, deren Zusammenhang er klar durchschaut. Ihm geht es nun darum, sein Denken in einen Aggregatzustand zu versetzen; er sagt nichts weniger als die Generalmobilmachung seines Denkens und Schreibens an, gegen das vornehmlich deutsche ,Hornvieh' in der Kultur, das ihm noch im abgeschiedenen engadiger Fextal auf die Nerven geht. Um wirkungsvoll gegen die neudeutsche Reichskultur mit ihren beiden Polen, Potsdam und Bayreuth, ins Feld ziehen zu können, sind ihm jetzt sogar Engländer recht. Und bei dem Gedanken einer englischen Ausgabe seines ,antideutschen Buches' Ecce homo gerät Nietzsche noch in Turin, einen Brief an August Strindberg schreibend, ins Schwärmen. Nietzsche, der sich jetzt, im Herbst 1888, „den einzigen raffinirten deutschen Stilist" (Brief an Malwida von Meysenbug vom 4. Oktober 1888, KSB 8, 447) nannte, hatte die den

3 4

Sprachzeichen

innewohnende

.Energie' kennengelernt und vielfältig erprobt.

Friedrich Nietzsche, Schriften der Studenten-und Militärzeit. Schriften der letzten (BAW) Bd. 4, hg. von Hans Joachim Mette, Karl Schlechte, München 1994, 222. Zit. nach Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche, 191. Vgl. Brief an Hermann Mushacke vom 20. April 1867 (KSB 2, 214).

Nun

Leipziger Zeit,

Rüdiger Görner

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plant und verwirft er eine (chaotische) Distributionsstrategie für seine Werke nach der anderen. Aber sein Leipziger Verleger, Constantin Georg Naumann, hält unbeirrt vor

Druck von Ecce homo fest, diesem Dokument einer intellektuellen Selbstentder Nietzsche hoffte, dass sie zusammen mit den anderen Kampfschriften hüllung, des Jahres 1888 nebst dem Kompilat Nietzsche contra Wagner zumindest eines erreichen musste: dass er wenigstens ein Jahr lang im europäischen Gespräch bleiben würde. Nach Jahren des Rückzugs nimmt in ihm der Wille zum Wirken Überhand; Ecce homo steht dabei im Sinnzentrum; bald besser als Emile Zolas Nana solle es sich nach dem Wunsch des Autors verkaufen. Dem (ver-)käuflichen sozialen Realismus hat er etwas Unbestechliches entgegenzuhalten, eine schonungslose Selbstanalyse und psychologische Kulturdiagose. Der Gedanken- und Sprachkomponist Nietzsche hebt im unmittelbaren Rückblick auf das soeben Fertiggestellte besonders die quasi musikalischen Qualitäten des Ecce homo hervor. Heimich Köselitz schreibt er am 13. November 1888: „Die letzten Partien [WaR. G] sind übrigens bereits in einer Tonweise rum ich ein Schicksal bin des Ecce homo gesetzt, die den Meistersingern abhanden gekommen sein muß, ,die Weise der Weltregierenden'" (ebd., 467). Am selben Tage meldet er Franz Overbeck, dass „der Ton der Schrift heiter und verhängnißvoll" sei, „wie Alles, was ich schreibe" (ebd., 470). ,Heiter' doch wohl nicht, wie schon das Vorwort belegt. Worum es Nietzsche nach eigenem Bekunden zu tun war? Um das „Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein" (KSA, EH, 6, 258), um Selbstbestätigung eines Denkers, der überraschenderweise fürchtet, verwechselt werden zu können, und darum, wie ein dithyrambisch gestimmter Dichter zur Prosa seines Lebens finden und dabei seine 1886 begonnenen kritischen Betrachtungen seines eigenen Werkes fortsetzen könne. Was dann folgt, ist die Beschreibung eines Verhängnisses. Gemeint ist damit das, was Nietzsche über sich selbst verhängt sah, aber auch die Tatsache, dass er für andere zum Verhängnis werden sollte; die Nietzsche-Rezeption des folgenden Jahrhunderts sollte dies aufs beklemmendste illustrieren. Warum ich ein Schicksal bin, das ist ebenso wenig steigerungsfähig wie die hochgemuten Eingangsabschnitte über die Frage, warum er so weise und klug sei und folglich ,so gute Bücher' schreibe. Allein schon mit diesen Überschriften und ihrem Anspruch hatte Nietzsche jede Konvention autobiographischen Schreibens durchbrochen, selbst Johann Wolfgang von Goethes Ansatz in Dichtung und Wahrheit, der immerhin die astralen Konstellationen, das Sternenbild am Tage seiner Geburt bemühte, um dementsprechend sein Lebensbild zu zeichnen. Nun fallt auf, dass auch Nietzsche eingangs sein ,Glück' und die Dankbarkeit für sein ,volles Leben' in Goethescher Manier aufrief, beides aber bereits in seinem ersten Satz zweideutig als Verhängnis' relativierte und damit einer Ambiguität der Werte das Wort redete, die er selbst als Zeichen der Décadence wiederholt zu kritisieren vorgegeben hatte. Nach eigener Aussage wollte er mit Ecce homo den Boden für die .Umwertung aller Werte' vorbereiten, alle Möglichkeiten innerhalb des Zensurrahmens ausreizen und allem

am

von

-

sicherstellen, dass man ihn weder für einen „Propheten" noch für ein „Unthier und Moral-Scheusal" halten könne. Auf diese vorgebliche Selbstentlarvung, habe er seine ganze „psychologische ,Schläue'" verwandt, wie er Köselitz schreibt (Brief vom 30. Oktober 1888, KSB 8, 462). Die Götzen-Dämmerung hatte er bereits „radikal bis zum

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Verbrechen" genannt (Brief an Verbrechen an den bisherigen

Georg Brandes vom 20. Oktober 1888, ebd., 457), zum Denkgewohnheiten. Ecce homo dagegen gleicht einer bis aus zur schmerzvollen Selbsthäutung und schamloser Mischung Demaskierung Ein sich selbst Berauschter greift zum Mittel der Selbstanalyse, von Selbststilisierung. die ihm jedoch nur wieder zum Kunstakt gereichen kann. Man könnte auch sagen, paradox, wie denn sonst: Mit Ecce homo log sich Nietzsche in die eigene Tasche, um

den Schein der Wahrheit über sich selbst willen. Gewitzt, was Botho Strauß, der gebürtige Naumburger, in seiner Prosa Das Partikular über den Schreibansatz von Nietzsches Ecce homo an Meinung, nein, nicht vertritt, sondern vorführt: Nietzsche habe, und das gehört ganz nach Schulpforta, seinen Ecce homo nach dem Muster einer mehrfachen Strafarbeit angelegt. Warum ich so gute Bücher schreibe sei nichts anderes als die Umkehrung des Strafarbeitssatzes Warum ich ein Schmierfink bin'. Nur habe Nietzsche, so Strauß im Partikular, aus dieser Strafarbeit ein „ungeheures Pamphlet gegen seinen riesengroßen Lehrer" namens Wagner gemacht, aus im Sinne der Strafarbeit „verlangter Selbsterniedrigung eine Selbstüberhöhung". Die drohende Selbstverurteilung habe er in „Selbstfreisprechung" verdreht.5 Dabei ist ein Text entstanden, der in der Tat eine radikale Alternative zu Wagners Biographie Mein Leben darstellte, sowohl im Hinblick auf die Konzeption wie den Stil. So ließe sich Ecce homo durchaus deuten, aber eben auch als Nietzsches Versuch, trotz scheinbar glückender Selbststeigerung, sich eine eineindeutige Identität zu erschreiben, absolute Unverwechselbarkeit von sich selbst zu erzwingen. Zum Charakter des Selbstversuchs in Ecce homo würde freilich gehören, dass Nietzsche bei seiner Selbstanalyse tatsächlich bis an die eigene Schmerzensgrenze gegangen sei. Kann davon aber wirklich die Rede sein? Ein wenig „Licht und Schrecken" über sich selbst habe er mit Ecce homo, diesem „unglaublichen Stück Litteratur", verbreiten wollen, so äußert er sich gegenüber Meta von Salis nach der Niederschrift des Textes (Breif vom 14. November 1888, KSB 8, 471). Ganz wie nach Nietzsches Willen unter dem Hammer der Götzen-Dämmerung die Erde zittern solle, so könne auch dem Leser von Ecce homo nichts anderes übrig bleiben, als in Furcht versetzt zu werden angesichts des Ausmaßes intellektueller Selbstentblößung. Oder sollten wir nicht gerade diese Entblößung für Nietzsches raffinierteste Maske halten? Er gibt vor, als anti-sokratischer Dionysos zu schreiben, was bereits im Vorspann zu Ecce homo deutlich wird, in dem er seinen ,Sonnenblick' aufs eigene Leben mit dem Reifen einer Traube vergleicht. Auch und gerade der Vorsatz, sich sein eigenes Leben zu erzählen, kann damit für Nietzsche zu einer quasi dionysischen Erfahrung werden, deswegen, weil er die sokratisch-dialektische Herangehensweise an sein Erzählprojekt ablehnt, aber mit dieser dionysischen Gestimmtheit selbst-kritische Betrachtungen für vereinbar hält. Dennoch beschreibt er sich nicht als ,décadenf, sondern als dessen absolutes Gegenbild: mit einer nur annähernd zu erahnenden Selbstironie als wohlgeratenen Menschen'. Man kennt Nietzsches bizarre Typologien des Menschen besonders aus Also sprach Zarathustra, vom tollen bis zum höheren, vom hässlichsten Menschen bis zum freiwilligen Bettler. In Ecce homo spricht er sogar vom Menschen als einem ,

5

Botho Strauß, Das Partikular, München, Wien 2000, 70.

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Rüdiger Görner

musikalischen Instrument, auf dessen Stimmen er sich besonders verstehe oder verstanden habe, er, der ,wohlgeratene' Gegenspieler, aber auch engste Verwandte Wagners. Nietzsche spricht als Jünger des Philosophen Dionysos', als Satyr und Hanswurst in eigener Sache, nicht als Weltverbesserer, Prophet oder Säulenheiliger des Modernismus. Er präsentiert sich als selbstsüchtiger Analytiker der Kulturverhältaisse seiner Zeit, der bei sich zuschaut, wie er an der Umwertung bürgerlich-christlicher Werte arbeitet. Und doch fällt er immer wieder in den Zarathustra-Ton zurück, der vom Sprachgestus des dionysischen Dithyrambus abgeleitet ist. Nietzsche begreift sich in Ecce homo wie zuvor nur im Zarathustra als philosophischer Dithyrambiker, wie es überhaupt nötig ist, im Spätwerk den Sprachmusiker am Werke zu sehen, der seine Gedanken wirksam zu instrumentieren versteht. Ecce homo erscheint so auch als eine Sprachpartitur ersten Ranges, die einzulösen versucht, was er gegenüber Carl Fuchs unmittelbar vor seinem letzten Schaffensausbruch schrieb: Dass es darum gehe, „große Verhältnisse rhythmisch zu überspannen" (Brief vom 26. August 1888, KSB 8, 401). Überhaupt fällt auf, wie sich Nietzsche vor seinem explosiven Finale der rhythmischen Voraussetzungen in Musik und Sprache neu versichert, anhand einer brieflichen Auseinandersetzung mit Hugo Riemanns Rhythmus-und Phrasierungs-Theorien mit deren Interesse an den „kleinsten Redetheilen der Musik", eine Theorie, die er, etwas überraschend, als Symptome eines Verfalls begreift. Er spricht von der „rhythmischen Überlebendigkeit des Kleinsten" und davon, dass „unsere Genußfähigkeit sich immer mehr auf die delikaten kleinen sublimen Dinge" begrenze und fügt hinzu: „[...] folglich macht man nur auch noch solche" (ebd.), ,kleine Dinge', wogegen er zum umfassenden Hammerschlag angesetzt habe, eingedenk der „Größe" seiner eigenen Aufgabe. Zum Selbstversuch des Ecce homo gehörte augenscheinlich auch das Experiment namens Überdimensionierung des Denkansatzes. In Ecce homo erzählte sich Nietzsche vor allem die Geschichte seines Denkens; im Falle des Rückblicks auf Zarathustra spielte er sich dieses Denkens regelrecht vor, als dithyrambisches Stück und Anti-Parsifal: Wie etwas ist, weil es klingt. Auch das ist eine Formel, die sich hinter dem ästhetischen Anspruch von Ecce homo verbirgt. Den eigentlichen Kern dieser erzählten Selbstabrechnung findet man freilich in der These „Meine Humanität ist eine beständige Selbstüberwindung" (KSA, EH, 6, 276). Zu ihm gehört das Motiv des Höhe-Gewinnens, das seit Zarathustra im Werk Nietzsches präsent ist. Richtmaß dieser Höhe ist „6000 Fuß jenseits von Mensch und Zeit" (ebd., 335) und vor allem, über Bayreuth als dem Ort, an dem sich Wagners künstlerisches Wollen reichsdeutsch kompromittierte, was für Nietzsche einem Hochverrat an der musikalischen Idee des Tristan gleichkam. Mit ihm, Nietzsche, so der Ecce homoKommentar zur Götzen-Dämmerung, beginne der Weg „aufwärts" zu einer anderen, umgewerteten „Cultur", als dessen „froher Botschafter" er sich sieht (ebd., 355). Der mit der ,Ecce homo'-Geste ausgesprochene radikale Selbstverweis, dieses Bekenntnis zur Selbstsucht und Selbstzucht, dieses Projekt Selbststeigerung und Selbstversuch, alles diente dazu, einen qualitativen Umschlag vorzubereiten, die Überwindung dieses ,Selbst'. Dabei ist es nicht unwichtig, dass Nietzsche die Haltung eines Erzählers einzunehmen vorgibt, die eine gewisse Distanzierung zum Erzählgegenstand voraussetzt. Der Geist der Erzählung ist zarathustrisch-dionysisch. Das erzählende und

Die Humanität der Selbstüberwindung

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erzählte Ich dagegen übt sich in permanenter Reflexion, was den Begriff, Selbstreflexion' einschließt. Im Schlussabschnitt Warum ich ein Schicksal bin kommt der Erzähler des Ecce homo wieder auf diesen Kernbegriff zu sprechen und definiert ihn: „Die Selbstüberwindung der Moral aus Wahrhaftigkeit, die Selbstüberwindung des Moralisten in seinen Gegensatz in mich das bedeutet in meinem Munde der Name Zarathustra" (ebd., 367). Damit ist nicht mehr die Überwindung des eigenen Selbst gemeint, sondern die Überwindung der (christlichen) Schein-Moral in das, wofür Nietzsche jetzt im Jahre 1888 steht: die ,Umwertung' in perpetua, das Werden und Verwandeln als dynamische Seinsform. Diese Aussagen bleiben dabei von Nietzsches unbedingtem Kunstanspruch durchdrungen, weswegen es folgerichtig ist, dass er sich August Strindberg als Übersetzer ins Französische wünscht, da diese Aufgabe einen „Dichter ersten Ranges" erfordere (Brief vom 8. Dezember 1888, KSB 8, 508). Mit Ecce homo hielt Nietzsche offenbar sein autobiographisches Anliegen für abgeschlossen, wie aus einem späten Brief an Carl Fuchs hervorgeht: „Man soll sich fürderhin nie um mich bekümmern, sondern um die Dinge, derentwegen ich da bin", was ihn aber nicht hindert, weiter von sich und seinen Lebensumständen zu berichten (Brief vom 27. Dezember 1888, KSB 8, 553). Zur Selbstüberwindung gehörte laut Nietzsche, wie gesehen, auch die Kunst, sich von sich selbst zu trennen, von sich selbst absehen zu können, um zu sich selbst Distanz zu gewinnen. Nach erreichter, geglückter Selbstüberwindung würde man auch die Aufhebung dieser Selbstaufspaltung als Ergebnis vermuten, eine klarere Antwort Nietzsches auf seine ihn bedrängende Frage, was und wer er sei. Dieses .Ergebnis' jedoch lautete anders, und Nietzsche formuliert es in einer ostinat wiederkehrenden Frage: „Hat man mich verstanden?" Nur bleibt dieses Ich weiterhin gespalten in mythologische Hälften, wenn man so will: „Dionysos gegen den Gekreuzigten" (KSA, EH, 6, 374). Ekstase contra Leiden, Rausch gegen Schmerz, Loslösung vom Alltäglichen gegen Kunst der Erlösung. Zu Nietzsches Denkregie und Gestaltungswille gehört es durchaus, dass er sich diese Pointe bis zum Schluß aufspart: Das hier eingeforderte Verstehen bleibt seinerseits deutungsbedürftig. Autobiographische Verweise sind im Werk Nietzsches, wie allfällig bekannt, nicht selten. Doch spricht manches dafür, dass er vor Ecce homo nie unmittelbarer von sich und über sich gesprochen hat als im vierzigsten Abschnitt in Jenseits von Gut und Böse, seinem Loblied auf die Maske: „Ein solcher Verborgener", heißt es da, „der aus Instinkt das Reden zum Schweigen und Verschweigen braucht und unerschöpflich ist in der Ausflucht vor Mittheilung, will es und fördert es, dass eine Maske von ihm an seiner Statt in den Herzen und Köpfen seiner Freunde herum wandelt [...] Jeder tiefe Geist braucht eine Maske: mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine Maske, Dank der beständig falschen, nämlich flachen Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens, das er giebt" (KSA, JGB, 5, 58). Da hatte sie sich bereits ausge-

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sprochen, die Furcht vor dem Verwechselt-Werden, vor dem Nicht- oder FalschVerstanden-Werden. Zwei Jahre vor Ecce homo hatte Nietzsche ein Mittel gegen diesen Zustand benannt, die Maske oder Larve, die er auch in der ersten der DionysosDithyramben beim Karneval der Begriffe feiert: „Nur Buntes redend,/ aus Narrenlarven bunt herausredend" (KSA, DD, 6, 378). In Ecce homo, so scheint es, tragen diese

Rüdiger Görner

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Masken nicht nur den Namen ,Dionysos' oder ,der Gekreuzigte', sondern führen auch die Titel seiner bisherigen Bücher. Jedes Buch eine Maske, aus der er ,bunt', je nach intellektuellem Gusto oder Bedarf, herausredete, aber auch sich selbst aus dieser Maske des Buches heraus ins Freie, Unverstellte zu reden versuchte. Noch einmal sei eine Analogie zu Kierkegaard gewagt. Kannte dieser doch in der Krankheit zum Tode eine Verzweiflung, ,verzweifelt man selbst sein zu wollen' und eine Verzweiflung, ,verzweifelt nicht man selbst sein zu wollen'. Die erste Verzweiflung besteht darin, dass das Ich nicht umhin kann, auf seiner Seelenqual zu beharren. Die zweite Verzweiflung richtet sich darauf, mit aller Kraft von sich selbst loszukommen, sich ,selbst loszuwerden', um ein anderer werden zu können. Bekanntlich ging Kierkegaard davon aus, dass der Mensch zwischen beiden Verzweiflungen allein keine Mitte, keinen Ausgleich würde finden können. Dazu bedürfe er des christlichen Glaubens. Nietzsche dagegen kannte offenbar genau dieselben Verzweiflungen, weil man bleibt, was man ist, weil man zu dem werden will, was einen zu einem anderen macht. Aber die Brücken zum Glauben, zur Mitte im Geiste einer vermittelnden Dreieinigkeit hatte er demonstrativ abgebrochen. An ihre Stelle war als tertium comparationis die Frage nach dem Täuschenund Getäuscht-Werden-Wollen getreten, wie aus einer Notiz aus dem Sommer/ Herbst 1884 hervorgeht (KSA, NF, 11, 239), eine Frage, die laut Nietzsche sich dem Philosophen, dem Religiösen und Künstler gleichermaßen stelle. Das ,Humane' dieser Konstellation liegt bei Nietzsche in der ungeheuren Spannung zwischen diesen Verzweiflungen, die das Verlangen nach Überwindung umso dringlicher erscheinen lässt. In denseits von Gut und Böse hieß es noch: „Man muß wissen, sich zu bewahren: stärkste Probe der Unabhängigkeit" (KSA, JGB, 5, 59). Das meinte die Aufforderung, sich selbst zu erhalten, aber auch das eigene Selbst sich bewahrheiten zu lassen. Die Formel ,Wie man wird, was man ist' scheint dann in Ecce homo diesen Ansatz zunächst zu bestätigen; er wird aber durch die Forderung nach Selbstüberwindung überboten, wobei es bezeichend ist, dass das Motiv des Überwindens zu einem Motiv in der eher ironischen Nietzsche-Rezeption werden sollte.6 Nietzsche prägte das Wort, dass seine Humanität eine beständige Selbstüberwindung' sei, man kann es nicht genug betonen, im Zeichen des ,Prinzips Umwertung'. Dabei ließe sich die Selbstüberwindung' ihrerseits als Beispiel einer solchen überwindenden Umwertung verstehen, der Umwertung des Selbst; denkbar wäre jedoch auch, die Humanität als Objekt einer solchen Umwertung durch Überwindung zu sehen. Das würde bedeuten, dieser Kernsatz in Ecce homo impliziere die Überwindung der Humanität zumindest als Möglichkeit oder Denkvariante und eröffne eine Dimension, die von unmittelbarer Bedeutung für die, seit Martin Heideggers Brief Über den Humanismus bis zu Peter Sloterdijks Antwort' auf Heideggers Brief wieder virulente Frage nach diesem ein halbes Jahrtausend lang kulturstiftenden, wesentlich literarisch begründeten Wertesystem ist, das nach dem Motto funktionierte: „Richtige Lektüre" zähmt, „entwildert" den Menschen.7 Mittelbar erklärt dies ,

Vgl. Rüdiger Görner, Wie ich Nietzsche überwand". Zu einem Motiv der Nietzsche-Rezeption bei Rilke, Döblin und Hugo Ball, in: ders., Duncan Large (Hg.), Ecce opus. Nietzsche-Revisionen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2003. „

Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben den Humanismus', Frankfurt/M. 1999, 17. Peter

zu

Heideggers .Brief über

Die Humanität der Selbstüberwindung

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auch, weshalb sich Nietzsche in einer Schrift, in der er mit den traditionellen Maßgaben des humanistischen Denkens abrechnete, so viel Augenmerk der Frage schenkte, weshalb er so gute Bücher schreibe. Denn diese ,Bücher' stellen nichts weniger als einen

zur humanistischen Literatur dar. Sie sollen eine andere Qualität des Diskurses über das Menschliche begründen; man könnte sagen: einen Diskurs über eine andere Art des Menschlichen. Nietzsche meinte damit einen Gegen-Humanismus, bestehend aus amor fati, Überwindung des Gegebenen in perpetua, einschließlich der sogenannten décadence, und dem Willen zur Macht der Kunst.8 Es ist die ,Kunst des großen Rhythmus' in jeder Hinsicht, eine Verbindung von Tristan, Carmen und gelöster ,italianità', ein ästhetisches Absurdistan, jenseits von schön und hässlich. Noch sein gegen-humanistischer Lebensentwurf in Ecce homo blieb von der These bestimmt, jegliches Dasein sei nur ästhetisch gerechtfertigt. Eine Überwindung des ästhetischen Lebensgefühls oder der Kunst selbst im Sinne der Antikunst bei Marcel Duchamps kam für Nietzsche nie in Betracht. Das Gebot der Überwindung bezog er, der ,Ecce homo superans', zuletzt auf jeden Lebens- und Wertebereich, nicht aber auf die Kunst oder das Leben selbst. Die Christus-Geste des Weltenüberwinders säkularisierte Nietzsche vor dem Horizont eines Gott-ist-tot-Nihilismus radikal. Was lebte, war die Daseinsbegründung durch Kunst; auf sie war sein ,Prinzip Überwindung' ausgerichtet. Gemeint war eine umwertende Überwindung der Moral zur Kunst hin. Dabei entstehen zwei Problembereiche, die Nietzsche nicht (mehr) zu klären vermochte: zum einen das zutiefst mit dem ,Problem Wagner' verbundene Verhältnis von décadence und Kunst, zum anderen die Wertungsfrage an sich. Es war für Nietzsche offenbar leichter, sich als ,Antichrist' zu bezeichnen denn als ,Anti-Wagner'. Wagners Kunst, so Nietzsche in Ecce homo, setzte „délicatesse in allen fünf Kunstsinnen" voraus, biete in Gestalt des Tristan „gefährliche Fascination" und „das Ungeheure", aber auch maßlose Rückschritte' bis hin zum Parsifal. Solange Nietzsche jedoch mit seinem eigenen ambivalenten Verhältnis zu Wagner nicht ins reine kam, müsste sein Bekenntnis zur Kunst als Ziel jeglicher Überwindungen fragwürdig bleiben. Zum einen war er bereit, „Chopin gegen den Rest der Musik" hinzugeben, aber das hieße auf das „Siegfried-Idyll" (KSA, EH, 6, 288ff.) verzichten, was für Nietzsche denn doch undenkbar war. ,Kunst' bedeutete für ihn immer auch das ästhetisch-psychologische Problem Wagner, Georges Bizet hin, Pietro Gasti her. Wagner gegen die Wagnerianer, gegen sein Übersetztwerden ins bloß Deutsche verteidigen, das schien ihm zumindest zeitweise eine lohnende, geradezu kulturnotwendige Aufgabe, zumindest bis er erkannte, dass dieses ,allzu Deutsche' und mit ihm die Unarten der Wagnerianer auch in Wagners Kunst angelegt waren. Daraus darf man schließen: Eine geglückte ,Umwertung' hätte eine wie auch immer geartete ,Überwindung' Wagners vorausgesetzt, eine von Nietzsche bewirkte Emanzipation der Kunst vom Erbe Wagners. Doch dafür reichten weder

Gegenkanon

Dionysos-Dithyramben noch der Hymnus an das Leben; als Komponist, Nietzsche muss es gewusst haben, wenngleich er es bedenklich lange nicht wahrhaben wollte, war er tatsächlich ,Hanswurst', eine tragikomische Figur, die in der Musik nur pseudodie

Heinz Friedrich 1994.

Vgl.

(Hg.), Friedrich Nietzsche. Philosophie als Kunst.

Eine

Hommage, München

Rüdiger Görner

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spätromantisches Dilettieren zu bieten hatte. Sein Hymnus ließe sich allenfalls als Karikatur einer Überwindung Wagners hören. In einer Hinsicht jedoch belegt Ecce homo eine »erfolgreiche' Überwindung einer wagnerischen Vorlage, nämlich des Komponisten Beitrag zum Gerne Autobiographie in Gestalt von Mein Leben (1870), das dem jungen Baseler Professor Korrektur zu lesen nicht erspart blieb. Ecce homo liest sich als genauer Gegenwurf zu diesen Memoiren, indem er die zusammenhängende Narration aufsprengt, Selbstdarstellung in selbstkritischer Absicht vorträgt und vor allem dadurch, dass Nietzsche sich selbst als Skandalon darstellt, wogegen Wagner in seinen Erinnerungen den Gestas des erhabenen Abenteurers und Kämpfers in Sachen Gesamtkunstwerk einnahm. Nietzsches Ambivalenz zu Wagner hat später Thomas Mann veranlasst, des ersteren Kritik an der décadence nicht weiter ernst zu nehmen. So verständlich das ist, es wird jedoch Nietzsches erheblicher Anstrengung nicht gerecht, das dem Ästhetizismus-Verfallen-Sein als Kulturproblem zumindest zu erfassen und zu kritisieren. Bleibt das Problem des Wertens. Heidegger hat in seiner Humanismus-Schrift bemerkt: „Alles Werten ist, auch wo es positiv wertet, eine Subjektivierung. Es läßt das Seiende nicht: sein, sondern das Werten läßt das Seiende lediglich als das Objekt seines Tuns gelten."10 Damit hatte er indirekt auch Nietzsches Prinzip der »Umwertung' kritisiert, das nicht am Werten an sich Anstoß nahm, sondern, im Gegenteil, an ihm in Form einer Variante, des ,Umwertens', festhielt. Der in Ecce homo extrem sich gebärdende Subjektivismus Nietzsches sich als eine ,Umwertung' dessen dar, was man bis dahin im Bereich autobiographischer Selbstdarstellung gewohnt war. Nietzsche weigert sich einer Entwertung des Wertens das Wort zu reden. Trotz aller Ambivalenzen im Falle Wagner steuert das Werten in Ecce homo nicht auf einen Relativismus zu, sondern bemüht sich, bei einer neuen Gewichtung der Daseinsverhältnisse anzukommen, bei neuen Werten jenseits der, wie Nietzsche meint, das Leben entstellenden Moral. Wenn man geworden ist, was man sein wollte, scheint damit jedoch die Notwendigkeit zur Umwertung und Überwindung in Frage gestellt. Denn man glaubt damit, angekommen zu sein, bei sich. Geschieht es aber im Zeichen der stolzen Leidensgeste ,Ecce homo', dann begründet dies den Wunsch, über das exemplarische Leiden an der Zeit, aber auch, paradoxerweise, an diesem Bei-sich-Angekommen-Sein hinauszugehen. Andererseits ist nicht auszuschließen, dass die ,Ecce homo'-Haltung als Rolle begriffen werden will, mithin als Kunstleistung: Der Denker im Nihilismus, im Zeitalter nach dem Tode Gottes spielt dessen Sohn. Man könnte dieses bizarre Rollenspiel, mit Nietzsche, „absurd spannend" nennen. Womöglich feierte der Denker mit dieser Maske seine hart erarbeitete beispiellose Exklusivität und Welteinsamkeit in der Hoffnung, daß sie dereinst vor aller Augen wieder und wieder Ereignis werden könne. -

10 11

Dazu: Meindert Evers, Das Problem der Dekadenz. Thomas Mann & Nietzsche, in: Hans Ester, Meindert Evers (Hg.), Zur Wirkung Nietzsches, Würzburg 2001. Martin Heidegger, Über den Humanismus, Frankfurt/M. 1991, 39. Gemünzt ist dieser Ausdruck in Ecce homo auf seines Lehrers Albrecht Ritschi angebliche Behauptung, er, Nietzsche, habe philologische Abhandlungen „wie ein Pariser romancier" (sic!) geschrieben ( KSA, EH, 6, 301).

KLAUS WELLNER

Nietzsches Masken in Ecce homo

Für Nietzsche spielt die literarische Form als philosophisches Ausdrucksmittel eine bedeutende Rolle. Er hat, um seine Position zum Wahrheitsproblem darzustellen, das Bauen von Systemen verlassen und sich des aphoristischen Stils, des Sprechens durch Masken und der Dichtung bedient. Der aphoristische Stil gestattet den Wechsel der Perspektive und vermeidet damit den Eindruck, dass es nur eine Wahrheit geben könnte. Ebenso wie der aphoristische Stil und der Aufbau des Werkes sind auch die Gestalten des ,freien Geistes', des ,Wanderers und seines Schattens', der ,Prinz Vogelfrei' und ,Zarathustra' aus dieser seiner Wahrheitsauffassung heraus zu verstehen. Sie sind Metaphern für Wahrheitsperspektiven, aber auch Masken, die die Aussagen von Nietzsche distanzieren sollen. Die beiden Wagnerschriften und Ecce homo bringen eine neue Variante seines Sprechens durch Masken. Aber statt wie bislang objektive Figuren vorzuschieben, schafft sich Nietzsche hier Masken unter einem bestimmten Bilde seiner selbst. Das Vorwort zu Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem beginnt mit dem Wort ,Ich' und endet mit ,Friedrich Nietzsche'. Der Titel der zweiten Wagnerschrift Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen deutet eine Objektivierung dieses ,Ich' an. In Ziffer 3 des Kapitels Der Psycholog nimmt das Wort ist vom geistigen Ekel desjenigen die Rede, der tief gelitten hat und deshalb alle Arten von Verkleidung für nötig erachtet, um sich vor zudringlichen und mitleidigen Händen zu schützen. Die zu verifizierende These lautet nun, daß mit Ecce Homo diese Absicht fortgesetzt wird. Nietzsche konstruiert in Ecce homo einen Autor, wie er für den Leser sein soll. Aus wirkungsgeschichtlichen Gründen hält er es für an der Zeit, ihn zu erfinden. Einen Hinweis darauf, dass dies berechtigt sein kann, findet man in Nietzsche contra Wagner. Näheres hierzu bei: Klaus Wellner, Methode und Einheit im Philosophieren bei Kant und Nietzsche, in: Kant und Nietzsche Vorspiel einer künftigen Weltauslegung?, in: Schriftenreihe der Freien Akademie, Bd. 8, hg. von Jörg Albertz, Wiesbaden 1988, 28ff; Ders., Nietzsches Standpunkt jenseits von gut und böse, in: Concordia 26, Internatonale Zeitschrift für Philosophie, hg. von Raúl FornetBetancourt, Aachen 1994, 54f. Curt Paul Janz, Nietzsche. Biographie, Bd. 2, München, Wien 1978, geht noch von einer klassischen Autobiografie in Ecce homo aus (vgl. 657ff). -

2

Klaus Wellner

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Unter Nr. 1 von Der Psycholog nimmt das Wort geht es darum, dass der Psychologe bei der Betrachtung außergewöhnlicher Menschen Härte nötig hat, um nicht am Mitleiden angesichts der ,Heillosigkeif des höheren Menschen zu ersticken. Vielmehr braucht er Flucht und Vergessen: „Er kommt vor dem Urtheile Anderer leicht zum Verstummen, er hört mit einem unbewegten Gesichte zu, wie dort verehrt, bewundert, geliebt, verklärt wird, wo er gesehn hat, oder er verbirgt noch sein Verstummen, indem er irgend einer Vordergrunds-Meinung ausdrücklich zustimmt" (KSA, NW, 6, 434). Über das Verhältnis zu den höheren Menschen und deren Werk heißt es abschließend: „Und wer weiss, ob sich nicht in allen grossen Fällen eben nur Dies begab, dass man einen Gott anbetete und dass der Gott nur ein armes Opfertier war Der Erfolg war immer der größte Lügner und auch das Werk, die That ist ein Erfolg Der grosse Staatsmann, der Eroberer, der Entdecker ist in seine Schöpfungen verkleidet, versteckt bis ins Unerkennbare; das Werk, das des Künstlers, des Philosophen, erfindet erst den, welcher es geschaffen hat, geschaffen haben soll... Die ,grossen Männer', wie sie verehrt werden, sind kleine schlechte Dichtungen hinterdrein, in der Welt der historischen Werte herrscht die Falschmünzerei" (ebd.). In Nr. 3 ist der Gedanke fortgesetzt, indem ausgeführt wird, dass derart „Eingeweihte", „alle Arten von Verkleidung nöthig" finden, „um sich vor der Berührung mit zudringlichen und mitleidigen Händen und überhaupt vor Allem, was nicht seines Gleichen im Schmerz ist, zu schützen. Das tiefe Leiden macht vornehm; es trennt" (ebd., 435). Auf die Frage, ob man die geschaffenen Oberflächen durchdringen kann und soll, kommt Nietzsche in Nr. 2 des Epilogs zu sprechen, indem er den Gedanken aus der Vorrede der Fröhlichen Wissenschaft wiederholt, dass wir Eingeweihten nicht mehr wie die ägyptischen Jünglinge nachts Tempel unsicher machen und ,Wahrheit um jeden Preis' suchen. Eine Analyse der wiedergegebenen Stelle zeigt, dass hier wie in seinem übrigen Werk die Wahrheitsfrage im Mittelpunkt steht und das Hauptproblem bildet. Sie wird hier allerdings auf die Fragwürdigkeit der Biografíe angewandt, so dass sie lautet: gibt es eine ,wahre' Biografíe? Hierauf antwortet Nietzsche in drei Schritten. Die erste Antwort erweckt den Anschein, als wolle er uns sagen, dass der in den landläufigen Biografíen dargestellte ,große Mensch' nur scheinbar sei, dass hinter der Fassade sich nur ein armes Opfertier verberge. Man könnte jetzt denken, mit dieser Antwort zur ,wahren' Person vorgestoßen zu sein. Bei der Fortsetzung gelangt Nietzsche aber zu einer zweiten, vertieften Antwort. Die an ihrer Auserwähltheit Leidenden benötigen Distanz zu ihren Mitmenschen und bedienen sich daher aller Arten von Verkleidungen. Somit gelingt es uns gar nicht, diese Leidenden selber zu Gesicht zu bekommen. Aber auch diese Aussage ist Nietzsche noch ungenügend. Somit wird die dritte Antwort aus der Einsicht gegeben, dass es die Wahrheit an sich überhaupt nicht geben könne. Wahrheit bleibt nicht Wahrheit ohne den Schleier ihrer Sichtbarkeit. Wendet man diese allgemeine Einsicht in die Erkenntnisfrage auf das Problem der Biografíen an, lautet das Fazit: Es gibt keine ,wahre' Person im Hintergrund und wir wollen auch nicht mehr so zudringlich sein, sie finden zu wollen. Um über sich selbst zu sprechen, autobiografisch zu werden, bedient sich Nietzsche der lateinischen Fassung des Neuen Testaments im Johannes-Evangelium (19,5) ,Ecce homo' als Titel. Der programmatische Zusammenhang mit den eben dargestellten Fragen der Biografíe -

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Nietzsches Masken in Ecce homo

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,höherer Menschen' ist offensichtlich. Der von Pilatus dem höhnenden Volke präsentierte leidende ,höhere Mensch' Jesus wird erbarmungslos verspottet. Wir haben das von Nietzsche angeführte Muster vor uns. Das auf ihn selbst bezogene ,Ecce Homo' stellt somit klar, dass dieses Muster auf ihn angewandt werden soll. Der angefügte Untertitel Wie man wird, was man ist gerät aber schon in Nr. 1 des Vorwortes zu der dort genannten Hauptaufgabe in einen Widerspruch. Nietzsche konfrontiert sich mit der ganzen Menschheit, indem er sagt, ich muss an die Menschheit mit der bisher schwersten jemals erhobenen Forderung herantreten. Daher muss ,Ich' jetzt sagen, wer ich bin. Üblicherweise widersprechen sich die zwei angeführten Fragepronomen ,was' und ,wer'. Auf die Frage ,was' antworten wir mit einer Rolle, auf die Frage ,wer' mit der Person selbst. Im ersten Falle sprechen wir von etwas Allgemeinem, im zweiten von etwas Individuellem. Es gilt zu klären, in welcher Weise Nietzsche antwortet. Davon wird abhängen, ob es ein ,Ich', nach dem das ,Wer' fragt, überhaupt gibt, d.h., ob es eine substanzielle Person als Träger aller Handlungen Friedrich Nietzsches gibt. Indem Nietzsche die Richtung seiner Antwort andeutet, vertieft er noch einmal die Anwendung des oben genannten Musters auf sich selbst. Er betont das Mißverhältnis zwischen der Größe seiner Aufgabe und der Kleinheit seiner Zeitgenossen, woraus dann folgt, dass er sagen kann, man habe ihn weder gehört noch gesehen. „Ich lebe auf meinen eigenen Credit, es ist vielleicht bloss ein Vorurteil, dass ich lebe? ..." (KSA, EH, 6, 257). Bei den ,Gebildeten' könne man sich davon überzeugen „dass ich nicht lebe ..." (ebd.). Klar ist, dass der Sinn dieses »lebenden Ichs' weder auf die substanzielle Person oder Seele noch auf das biologische Wesen zu beziehen ist. ,Leben oder nicht leben' betrifft die Rezeption durch die als Zeitgeist sich vollziehende Form des objektiven Geistes in Europa. Aber genau hier will Nietzsche eine Veränderung herbeiführen. Er will als geistige Kraft wahrgenommen werden und ruft deshalb aus: ,JTört mich! denn ich bin der und der. Verwechselt mich vor Allem nicht!" (ebd.). In Nr. 2 des Vorwortes wird dann angedeutet, womit er nicht verwechselt werden will und somit auf das hingewiesen, was er sein will. Er sei weder Popanz noch Moral-Ungeheuer, ein Gegensatz zum Tugendhaften, kein Heiliger, sondern ein Jünger des Philosophen Dionysos. Daraus ergebe sich seine Aufgabe: Götzen umwerfen, beziehungsweise Ideale stürzen. Hiermit antwortet Nietzsche auf die Frage, wer er ist, mit dem, was er tut, und was er ist: ein Jünger des philosophierenden Dionysos. Die Frage ist nun, ob sich diese Interpretationsrichtung in Ecce homo durchhalten lässt und ob daraus abgelesen werden kann, dass es keine Antwort auf die Frage, wer ist der substanzielle Träger aller Äußerungen des Autors, geben kann, sondern dass nur ausgesagt werden kann, was getan wird und somit nur, was jemand funktional ist. In Nr. 4 des Vorwortes hebt Nietzsche die Einzigartigkeit des Zarathustra in seinen Schriften hervor. Dabei charakterisiert er Zarathustra ähnlich, wie er sich selbst zuvor beschrieben hat: durch Zarathustra rede kein Prophet, kein Religionsstifter. Indem er aus dem Zarathustra die Stelle zitiert, in der den Jüngern klar gemacht wird, dass sie nicht weiter seine Jünger sein sollen, gibt Nietzsche seinen Lesern zu verstehen, dass auch ihre Haltung auf Autonomie ausgerichtet sein soll. Zum Schluß des Vorwortes stellt er

seine Haltung unter das Motto: „Wie sollte ich nicht meinem ganzen Leben dankbar sein? Und so erzähle ich mir mein Leben" (ebd., 263). Aber selbst, wenn er den Leser

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Klaus Wellner

seiner Autobiografie ausblenden würde, bliebe es sinnvoll zu sagen, er erzähle sich sein Leben. Auch für sich wird er erst, wenn er sich in einer Formulierung gestaltet. Dieser Selbstbericht, der zugleich auch für uns ist, vollzieht sich in vier konsequenten Schritten: Warum ich so weise bin ist als Ausgangspunkt die höchste Seinsstufe. Darauf folgt in Warum ich so klug bin die lebenspraktische Anwendung. Aus der Konstellation beider ergibt sich das bestimmte Werk. Zu ihm äußert er sich in Warum ich so gute Bücher schreibe. Wie mit einem Ausrufezeichen wird das Ganze abgeschlossen und zusammengehalten mit Warum ich ein Schicksal bin. Im Kapitel Warum ich so weise bin führt er seine zentrale Disposition auf Vater und Mutter zurück: „ich bin,[...], als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch und werde alt" (ebd.,

264).

Er legt in diese jedem zukommende Konstellation eine doppelte Herkunft aus der obersten und aus der untersten Sprosse der Leiter des Lebens, weshalb er sich eine feine Witterung für Aufgang und Niedergang zuschreibt. Die vom Vater übernommene physiologische Schwäche ermögliche ihm seine Dialektiker-Klarheit. Dialektik ist ein Decadence-Symptom. Aus der ihm somit eigentümlichen Krankenoptik gelingt es, nach gesünderen Begriffen und Werten auszuschauen und umgekehrt aus der Fülle und Selbstgewissheit des reichen Lebens in die heimliche Arbeit der Z)e««fe«ce-Instinkte hinabzuschauen und die Fähigkeit zu üben, Perspektiven umzustellen. In Nr. 2 ergänzt er die Décadence-Frage um das Phänomen der Wohlgeratenheit. Sie liege dann vor, wenn man auf der Stufe der niedrigsten Vitalität aufhöre, Pessimist zu sein. Er nennt diese Disposition einen Instinkt der Wiederherstellung, weshalb er selbst das Gegenstück eines décadents sei. In Nr. 3 wird die Abhängigkeit vom Vater weiter postiv beschrieben. Mutter und Schwester beurteilt er hierzu als tiefsten Gegensatz und spricht von einer unausrechenbaren Gemeinheit der Instinkte. Als Begründung für den Gedankengang führt er an, dass die herrschenden Begriffe über Verwandtschaftsgrade physiologischer Unsinn wären. Am wenigsten sei man mit den Eltern verwandt. Höhere Naturen hätten ihren Ursprung in entferntester Vergangenheit. Der in dieser Fassung von Ecce homo vorgetragene Gedankengang erscheint zunächst absurd, da er jegliche Verwandtschaft mit Mutter und Schwester abzustreiten scheint. Geht man aber auf frühere Äußerungen zurück wie auf Aphorismus 592 in Menschliches, Allzumenschliches mit dem Titel Die Straße der Vorfahren und auf Aphorismus 264 in Jenseits von Gut und Böse so sieht man, dass ein ernstzunehmender Gesichtspunkt zugrunde liegt. In Jenseits von Gut und Böse (Aphorismus 264) heißt es: „Es ist aus der Seele eines Menschen nicht wegzuwischen, was seine Vorfahren am liebsten und beständigsten getan haben" (KSA, JGB, 5, 218). Relativiert man die Fixierung auf Vater und Mutter und bezieht die ganze Kette seiner Vorfahren ein, kommt man zu einer sinnvolleren Auffassung der Herkunft der eigenen Dispositionen. Das von Nietzsche abgelehnte Modell nimmt dagegen die gegenwärtige Person als aus den Anlagen von Vater und Mutter zusammengesetzte Substanz. Richtiger ist es dagegen, den kontinuierlichen Geschehensfluss zu sehen. Damit wird der gegenwärtige Mensch zu einem Prozess mit langer Vorgeschichte. Es lassen sich darin Momente herausheben, die gerade ihn dazu bestimmen, weise zu sein. Weil er ein décadent ist, der in der Lage ist, die Dekadenz zu überwinden, kann er

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verschiedene Perspektiven einnehmen und sich über die Dekadenz erheben. Innerhalb der Dekadenz ist er Dialektiker und tendiert zur Wissenschaft, außerhalb ihrer kann er ihre Herkunft und Folgen reflektieren und sich darüber erheben. Mit der Sicht auf die Perspektiven ermöglicht er sich die ,Gerechtigkeit' ihnen gegenüber; damit erreicht er die Position der ,Weisheit'. Ein so beschaffener Mensch ist auch verwundbarer, so dass er Distanz zu den anderen benötigt, d.h., ihm kommt ,Vornehmheit' als Anlage zu. Nietzsche hat also Eigenschaften, wie er sie im 9. Hauptstück von Jenseits von Gut und Böse mit dem Titel Was ist vornehm? dargestellt hat. In Nr. 4 und 5 von Warum ich so weise bin schildert er sich im Umgang mit den Mitmenschen in einer Weise, die an Orpheus erinnert, vor dem alles Wilde umgänglich wird. Orpheus aber ist ein Jünger des Gottes Dionysos. Indem die Frage, wer Nietzsche ist, durch das, was er ist, beantwortet wird, zeigen sich verschiedene Aspekte dieses Was-Seins: Nietzsche ist Vater und Mutter oder die Reihe seiner Vorfahren, décadent und dessen Gegenteil, Wanderer und sein Schatten, er ist weise und eine Art Orpheus oder Anhänger des Dionysos, er ist der »vornehme Mensch'. Damit ist die Grundlage zur Beantwortung der zweiten Frage gelegt: Warum ich so klug bin. Der Kern einer Antwort liegt hier in der Aussage, dass er kein Idealist ist. Deshalb weiß er mehr! Nietzsche schreibt sich das Gegenteil aller Eigenschaften zu, die ein idealistischer Denker hätte. Er tut das selbst dann, wenn die Tatsachen dem widersprechen.3 In Nr. 1 führt er aus, er habe nie über religiöse Fragen nachgedacht: über Sünde, Gewissensbiss, Gott, Unsterblichkeit der Seele, Erlösung und Jenseits. Das Heil hänge vielmehr an der Ernährung. Entsprechend seien Ort und Klima zu beurteilen (Nr. 2), auch läge es nicht in seiner Art, viel zu lesen (Nr. 3). Als Handlungsprinzip wird das Nicht-herankommen-Lassen genannt; denn Reagieren sei schon verschwendete Kraft (Nr. 8). Damit folgt er seiner Einsicht, ursprüngliches Handeln sei dem Leben angemessener als Reagieren. In Nr. 9 ist Nietzsche soweit zu sagen, die eigentliche Antwort auf die Frage ,wie man wird was man ist' sei nicht mehr zu umgehen. Sofern man nicht einmal ahne, wer man ist, haben selbst Fehlgriffe einen Sinn. Sogar die Nächstenliebe kann eine Schutzmaßnahme der Selbstsucht sein; die organisierende ,Idee' wächst in der Tiefe. Nietzsche betont das Sich-von-selbst-Entwickeln der eigentlichen Seinsweisen. Sie werden nicht heroisch erkämpft, zentrale Tugend in der Selbstwerdung ist die Selbstsucht. Nr. 10 schließt die Darstellung mit dem Hinweis ab, er wolle zu den derzeitigen höheren Menschen, die am Leben Rache nehmen, der Gegensatz sein. Ihm fehle jeder krankhafte Zug. Deshalb sei seine Art, mit großen Aufgaben zu verkehren, das ,Spiel'. Seine Haltung stellt er unter das Motto: amor fati. Man sieht, Nietzsches ,Klugheit' folgt aus seiner ,Weisheit'. Zu seiner Weisheit gehört die weite Herkunft aus der Reihe der Vorfahren. Nur, was in dieser akkumuliert worden ist, kann in der gegenwärtigen Person zur Reife gelangen. Das amor fati ist so 3

4

Jean-Luc Nancy,

Unsre Redlichkeit! (Über Wahrheit im moralischen Sinn bei Nietzsche), in: Nietzsche aus Frankreich, hg. von Werner Hamacher, Frankfurt, Berlin 1986, äußert die Ansicht, mit Ecce homo habe Nietzsche die extreme Redlichkeit als Entblößung erreicht. Dies trifft sicher nicht seinen Umgang mit Fakten, sondern nur sein Bekenntnis als Antichrist. Vgl. Zur Genealogie der Moral, Erste Abhandlung Gut und Böse ", Gut und Schlecht ". "







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Ausdruck jener Gelassenheit, die nur reifen lassen will, was von langer Hand gegeben ist. Auch die Anerkennung der erscheinenden Welt als der einzigen wirklichen gehört in diesen Zusammenhang. Deshalb ist es klug, sich nicht auf eine Hinterwelt auszurichten. Diese Anerkennung der Welt hat Nietzsche längst dazu geführt, sie ontologisch in ihrer Seinsweise als Willen-zur-Macht-Geschehen zu bestimmen. Das nicht sehen zu wollen, ist die Quelle des Ressentiments. Klug ist es, hiervon frei zu bleiben und solche Situationen zu meiden, die zu krampfhaften Reaktionen führen. Was ist er nun in seiner Klugheit: Er ist das spielende Kind des Heraklit: „Ich kenne keine andere Art, mit grossen Aufgaben zu verkehren als das Spiel" (Nr. 10, ebd., 297). Wer in diesem Sinne weise und klug ist, muss schon deshalb Gutes schreiben können. Daher ist eigentlich die Frage Warum ich so gute Bücher schreibe? implizit längst beantwortet. In Nr. 1 stellt Nietzsche aber den Autor und sein Werk wie trennbare Entitäten nebeneinander: „Das eine bin ich, das Andre sind meine Schriften" (ebd., 298) und „Wer etwas von mir verstanden zu haben glaubte, hat sich Etwas aus mir zurecht gemacht, nach seinem Bilde" (ebd., 300). Hinweise auf die Tendenz des Missverstehens stellen klar, warum ihm dieses Bild vom Autor nicht gefallt. Man nimmt ihn als Idealisten. Auf dieser Grundlage kann man nur den falschen Autor fingieren. Also ist es an der Zeit, den passenden vorzustellen: den ,Antichristen'. Es wäre ein Missverständnis, würde man aus diesem Kapitel ableiten, Nietzsche wolle den wahren Autor-an-sich beschreiben. Er will den zum richtig verstandenen Werk ,passenden Typus' von Autor, einen ,Antichristen', vorstellen. Es bleibt dabei, dass es nicht um den vom Werk abtrennbaren wahren Nietzsche in seiner personalen Substanz geht. Deshalb kann er in Nr. 5 davon sprechen, dass ein ,Psychologe ohnegleichen' hier rede, dem egoistisch-unegoistisch als Gegensatz bloß ein höherer Schwindel ist. Selbst das ego ist höherer Schwindel, denn die Moral hat alle Psychologie verfälscht. Bei der Besprechung seiner einzelnen Werke steigert er in der Stellungnahme zur Götzendämmerung in Nr. 2 die Charakterisierung: „erst von mir an giebt es wieder Hoffnungen, Aufgaben, vorzuschreibende Wege der Cultur ich bin deren froher Botschafter Eben damit bin ich auch ein Schicksal. -" (ebd., 355). In Warum ich ein Schicksal bin wird an Nietzsches Philosophie die größte geschichtliche Auswirkung geknüpft, die denkbar ist: das Ende einer langen Epoche, der moralischen und somit der christlichen. Mit dieser Auskunft wird der Grund ausschließlich in der Zukunft verankert. Bei der Frage, warum gerade Nietzsche dieser Umwerter aller Werte ist, muss man in der Zeit rückwärts gehen. Er hat bereits dargelegt, weshalb er sich unter den Philosophen auszeichnet: Weil er in der Lage ist, die Décadence zu entschlüsseln. Seine Geschlechterkette, die für ihn Individualität ist, nicht die substantielle Seele hat ihn dazu bestimmt. Somit ist er von lang her festgelegt, dieser Psychologe zu sein, der die christliche Moral entlarvt. Es ist nun denkbar, dass öfter im geschichtlichen Verlauf jemand diese Voraussetzungen erfüllt, mit denen man das Kräftespiel der dekadenten Seele durchschauen kann. Aber wenn seine Einsichten nicht in ein Werk fließen, das eine Auswirkung auf die vorhandene Gestalt des objektiven Geistesgeschehens hat, bleibt ein Einfluss aus. Erst wenn die kulturellen Prozesse eine Konstellation erreichen, die einen fruchtbaren Boden für die Aufklärung über das Christentum bilden, kann die Wirkungsgeschichte eines philosophischen Werkes derart sein, dass zutreffen kann, was ...

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Nietzsches Masken in Ecce homo

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Nietzsche schreibt: „Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheueres anknüpfen, an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision, an eine Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war" (ebd., 365). Wird in der Rezeption seines Gedankens der Umwertung aller Werte eine Breitenwirkung eintreten, die geschichtsmächtig wird, kann es einmal zutreffen, dass die Entdeckung der christlichen Moral als wirkliche Katastrophe angesehen wird und dass Nietzsche als deren Aufklärer ein Schicksal sein wird. Dann kann es zutreffen, dass er mit der Umwertung einen Punkt höchster Selbstbesinnung der Menschheit herbeigeführt hat. Er wird froher Botschafter' sein; es wird zutreffen, dass von da an erst ,große Politik' getrieben wird. Die Bezeichnung Jmmoralist' wird dann einen ,guten' Klang haben. Dass er als solcher der ,Vernichter par excellence' ist, wird positiv bewertet werden. Die Formel,Dionysos gegen den Gekreuzigten' steht dann für dieses Programm einer Herausforderung der bisherigen Werteordnung durch eine neue. Bei der Besprechung von Also sprach Zarathustra heißt es über die Figur des Zarathustra: ,¿lber das ist der Begriff des Dionysos selbst. Eben dahin führt eine andre Erwägung. Das physiologische Problem im Typus Zarathustra ist, wie der, welcher in einem unerhörten Grade Nein sagt, Nein thut, zu Allem wozu man bisher Ja sagte, trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes sein kann" (ebd., 344f.). Damit wird das Verhältnis Zarathustra-Dionysos so dargestellt, dass mit Dionysos der umfassendere Begriff gegeben ist, von dem Zarathustra als Unterbegriff ein Typus sein soll. Der Nietzsche des Ecce homo kann als Beispiel des vornehmen Menschen gedeutet werden, der nach dem Begriff des Dionysischen einen neuen Typus des höheren Menschen nach der Umwertung aller Werte in der Gestalt des Zarathustra entwirft. Bei der Besprechung seiner Werke verrät er noch eine ganz andere Art der Verkleidung; er spricht nicht nur durch fingierte Gestalten wie ,freier Geist', ,Zarathustra' oder ,Dionysos', sondern bedient sich realer Personen, um ihnen das in den Mund zu legen, was in Wahrheit ihm zugehört. Bei der Besprechung der Geburt der Tragödie gibt er zu verstehen, dass er, wenn er in Bezug auf Richard Wagner von dionysischer Musik spricht, nur das beschreibt, was er gehört hatte und instinktiv sie in den neuen, in seinen Geist transfigurierte. Als Beweis führt er Wagner in Bayreuth an: „an allen psychologisch entscheidenden Stellen ist nur von mir die Rede, man darf rücksichtslos meinen Namen oder das Wort ,Zarathustra' hinstellen, wo der Text das Wort Wagner giebt" (ebd., 314) und: „die absolute Gewißheit darüber, was ich bin, projicirte ich auf irgend eine zufällige Realität, die Wahrheit über mich redete aus einer schauervollen Tiefe" (ebd.). Bei der Besprechung von Die Unzeitgemäßen heißt es in Nr. 1 : „- Schopenhauer und Wagner oder, mit Einem Wort, Nietzsche" (ebd., 317). In Nr. 3 äußert er zu Arthur Schopenhauer und Wagner, dass das psychologische Verständnis von Einzelheiten abgesehen mit seinen Schriften nicht verbessert worden sei. Vielmehr sei es so „[...], -

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dass hier im Grunde nicht,Schopenhauer als Erzieher', sondern sein Gegensatz, ,Nietzsche als Erzieher' zu Worte kommt" (ebd., 320). In der Schrift Nietzsche contra Wagner ist dargelegt worden, aus welchen Gründen der ,höhere Mensch' es nötig hat, für sein Werk den zu erfinden, der es geschaffen haben soll. Das ,Ich', von dem ausgegan-

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Klaus Wellner

gen

wird, wird mit dem Fall Hamlets verglichen, dem die Narrheit eine Maske für ein

unseliges Wissen ist. Die Analyse von Ecce homo hat gezeigt, dass der in ihr vorgestellte Autor nicht als personales Phänomen beschrieben, sondern dass ein bestimmter Typus unter allgemeinen Aspekten vorgestellt wird. Es ist also zutreffend, dass damit zu dem Werk, das durch verschiedene Figuren zu uns spricht, ein ,Ich' als .Friedrich Nietzsche' hinzugedichtet wird. Das philosophische Werk braucht noch eine fiktive Person als einheitlichen Grund. Für die Öffentlichkeit muss noch ein vermeintliches ,Ich' errichtet werden. Dieses hinzugesetzte ,Ich' ist eine echte Maske, wie sie im Aphorismus 40 von Jenseits von Gut und Böse vorgestellt wird. Nietzsche braucht sie, um sich seine Wirkung zu

sichern. Die Schriften aus der Perspektive des Autors Friedrich Nietzsche sind also ebenso zu beurteilen, wie jene, die zugegebenermaßen aus der Perspektive fingierter Standpunkte verfasst sind. Es gibt ,Friedrich Nietzsche' auch als Maske. Daraus folgt, dass auch die späteren Vorreden zu seinen Schriften aus der Sicht eines fingierten Nietzsche stammen. Warum wählt der Autor so viele Verkleidungen und spricht nicht unmittelbar zu uns? In Nr. 4 der Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft hat er gesagt, wohin ihn seine Überlegungen in der Erkenntnisproblematik gebracht haben: Es gibt nicht ,die Wahrheit'. Wenn es weder ,Wahrheit' noch ,Ding-an-sich' gibt, gibt es auch nicht den wahren Autor oder die Person-an-sich bzw. die unsterbliche Seele dahinter. Die populäre Auffassung unterstellt den Werken immer eine abtrennbare Person, die wie eine vorhergehende Ursache das Werk als seine Wirkung hervorbringt. Die Auflösung des Ich, des Subjekts, der Seele zwingt jedoch dazu, das Verhältnis von Autor und Werk anders zu interpretieren. Ein weiteres Motiv liegt darin, sich nicht von jedem respektlosen Menschen in das Innerste schauen zu lassen. Dieses Sich-Zurückhalten vor den Menschen niedriger Gesinnung ist ein wesentlicher Gesichtspunkt. Bei Ecce homo tritt aber eine dritte Absicht hinzu. Es handelt sich um eine Kampfschrift'. Viele stilistische Mittel werden nur zu dem Zweck eingesetzt, ganz bestimmte Reaktionen hervorzurufen. Stellt man unter diesen Gesichtspunkten das Verhältnis von Autor und Werk neu dar, kann man das in folgender Form versuchen: Es gibt ein bestimmtes Werk und den dazugehörigen Verfasser Friedrich Nietzsche. Das Verhältnis bestimmter Teile des Werkes zu diesem ursprünglichen Autor zeigt sich unter wechselnden, vom Autor gewählten Perspektiven, die er als seine Masken gewählt hat. Außerdem gibt es einen fingierten Verfasser, wie ihn sich der natürliche Nietzsche insbesondere mit Ecce homo geschaffen hat: Friedrich Nietzsche als Maske ,Friedrich Nietzsche'. Etwas anderes sind wissenschaftlich erstellte Biografíen, die unter Berücksichtigung des Werkes und weiterer Lebensäußerungen phänomenologisch einen Autor konstruieren: Friedrich Nietzsche, wie ihn der Autor X rekonstruiert Friedrich Nietzsche. Es gibt diesen Friedrich Nietzsche gemäß dem hermeneutischen Prinzip in beliebig vielen Fassungen. Entsprechend den Einsichten der Hermeneutik nähert man sich damit jedoch keinesfalls =

=

asymptotisch ,der Wahrheit'.

MIGUEL SKIRL

Selbsteinholungsfiguren bei Nietzsche

,Ecce quomodo moritur justas': so also sterben die Gerechten. Mit diesen Worten, mit diesem Refrain wird in Schulpforta im 19. Jahrhundert der toten Professoren und Alumnen gedacht. Der junge Nietzsche hat den Brauch des öfteren in den Briefen an die Mutter erwähnt und in der Folge das Totenlied als ,Ecce' referenziert. Wenn das Am letzten

Sonntag vor Beginn des Advents und bei unerwartetem Ableben sangen die Schüler feierlich zum Gedenken an Schüler und Lehrer ein ,Ecce quomodo moritur Justus': „Es wurde auch in Pforta ein feierliches Ecce gehalten." (Brief an die Mutter vom 20. August 1860, KSB 1, 120); „Denselben Abend war das Ecce für Prof. Buddensieg" (Brief an die Mutter vom 25. August 186, ebd., 172); „Am vorigen Ecce wurde übrigens auch der selige Menzel als in diesem Jahr heimgegangener Pförtner [genannt]" (Brief an die Mutter vom 26. November 1861, ebd., 186). Sarah Kofman drückt sich vorsichtig aus, wenn sie davon spricht, man könne fragen, ob Nietzsche im Titel Ecce Homo ans schulpförtliche Ecce „n'avait pas songé" (Explosition I, 53f.) Andreas Urs Sommer, Jesus gegen seine Interpreten oder die Hermeneutik der Urteilsenthaltung: Pilatus und der Typus des Erlösers ', in: Nietzscheforschung, Bd. 11 (2004), interpretiert in Fortfuhrung von Hermann Josef Schmidt, Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. II. Jugend, 1. Teilband 1858-1861, Berlin, Aschaffenburg 1993, 188ff., die Filiation aus den Totengedenkfeiern mit der Vermutung, Ecce homo sei „der eigene, vorweggenommene Nachruf, mit dem Nietzsche Verunstaltern seines eigenen Denkens (wie Piaton Sokrates und Paulus Jesus verunstaltet hat) zuvorkommen wollte (zum Titel vgl. auch den Brief an Meta von Salis, 14. November 1888 KSB 8, 471)" (Andreas Urs Sommer, 76, Fn. 6). Das karsamstaglich-antiphonische Responsorium des ,Ecce quomodo moritur iustus' ist mittelalterlichen Ursprungs (es findet sich in den Analecta hymnica medii aevi, hg. von Guido Maria Dreves, Clemens Blume, Henry M. Bannister, Leipzig 1886-1922), als Madrigal in Jacob Handls Opus musicum, gedruckt 1590); es ist durch Anlehnung an Jes 57,1 im Selbstgerechtigkeitsdiskurs des protestantischen Liedgutes beheimatet und Frau Pastor Nietzsche bekannt. Sommers Hinweis auf den Brief vom 14. November 1888 ist wichtig, weil Nietzsche hier -,»Dieser homo bin ich nämlich selbst, eingerechnet das ecce" (ebd.) ,Ecce' und ,Homo' nicht (nach Joh 19,5) zitiert, sondern auseinander- und zusammennimmt. Kofman geht einen Schritt weiter: „Premier mot d'Ecce Homo, Ecce désigne en toute vie la présence de la mort et de ces morts multiples, qui font que, au cours d'une vie, chacun divorce plus d'une fois „lui-même" d'avec „lui-même", coupe plusieurs fois le cordon ombilical avant de „s'enfanter lui-même", avant d'avenir à „soi" et d'honorer le contrat qu'il a signé avec son propre ,

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nom"

(53f.).

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,Ecce' ein Totenlied ist, ist hinsichtlich des Textes Ecce homo zu fragen: Wer stirbt? Die Antwort ist denkbar einfach. Natürlich stirbt Nietzsche und Ecce homo ist die Chronik eines angekündigten Todes. Eines angekündigten Selbstmordes. Da Ecce homo sich im Fadenkreuz des Leibes und der Lehre von Nietzsche befindet, ist es zulässig, das ,Ecce' von beiden Seiten anzudenken. Getreu Ecce homo ist dabei zunächst der Leib zu begutachten. Ein hellsichtiger Biograph wie Werner Ross widmet ein ganzes Kapitel der Turiner Himmelfahrt2 und kommt zu dem Ergebnis, dass es, wie Curt Paul Janz es im IV. Teil seiner Biographie genannt hat, .Vorzeichen' gegeben habe: „Der Wahnsinn kommt sanft, nicht mit einem .Zusammenbruch'. Er kommt, so wie er's in Die Sonne sinkt beschworen hat, als Nacht, als Um-Nachtung. ,Die Luft geht fremd und rein', heißt es in der ersten Strophe dieses Liedes" (ebd.). Ecce homo ist in der Tat das Werk der Umnachtung; nicht von ungefähr nimmt der Kommentar zum Nachtlied eine Sonderstellung im Text ein. „Es ist Nachsommerzeit", sagt Ross nicht zu Umecht über die Situation in Turin und die Bilanz, die in Ecce homo gezogen wird, spricht unmissverständlich dagegen, dass Nietzsche vom Wahnsinn überrascht wurde. Ihm blieb Zeit, über den Wahnsinn, über sich nachzudenken und dem Wahn einen Sinn zu geben. Und er hat, auf der Ebene des Leibes, die Möglichkeit verschiedentlich durchgespielt, vor allem nach dem Zarathustra, zu verschwinden. „Noch am 28. Mai [1883 M. S.] hatte Nietzsche noch einmal und zum letzten Male, weil sie sich nach dem Zarathustra schweigend zurückhielt seiner Freundin Marie Baumgartner in Lörrach geschrieben, ihr seinen ,Sohn Zarathustra' angekündigt und daran angeschlossen: ,1m Zusammenhange damit steht nun ein Entschluß, der seit Jahren kommt und geht und wiederkommt und endlich jetzt mich reif findet und stark genug: der Entschluß, auf ein paar Jahre zu .verschwinden'."5 Der .Leib Nietzsche' ist deswegen für Nietzsche interessant, weil er, Nietzsche, in Konkurrenz zu den Religionsgründern steht und eine seligmachende Lehre verkündet hat, aber gleichzeitig selbst zu seinen besten Interpreten gehört. Außerdem soll diese Religion keine einfache neue Religion, sondern eine Religion nach allen Religionen, keine richtige Religion sein: das macht den Nietzsche-Leib doppelt interessant. Der Nietzsche-Leib wird also ein Fall für die Interpretation, für die Selbstinterpretation. Da kommt der Wahnsinn als große leibliche Vernunft gerade recht. Wenn Nietzsche Religionsgründer (als Jesus-Dionysos) sein will, dessen Verkünder (als erster und Lieblings-Apostel), Durchsetzer (als sein eigener Paulus, als theologi,

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1

3

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„.Alles wird mir leicht, alles gerät mir', schreibt Nietzsche an Overbeck. Er lässt sich sinken oder die Turiner Himmelfahrt" (Werner Ross, Der ängstliche Adler, Stuttgart

hochtragen, es beginnt 1980, 757). Ders., ebd., 756.

Über das ritardando der Zeit nach Beendigung von Ecce homo urteilt Curt Paul Janz zu Recht, dass Arbeitsüberlastung, wie Elisabeth es sehen wollte, nicht vorlag. Janz verweist auf den Brief vom 16. Dezember 1888 an Peter Gast: „Ich sehe jetzt mitunter nicht ein, wozu ich die tragische Katastrophe meines Lebens, die mit ,Ecce' beginnt, zu sehr beschleunigen sollte" (vgl., Nietzsche. Biographie, Bd. 2, München 1978, (Kapitel: Die Umwethung' bleibt aus)). Ebd., 63; vgl. KSA, NF, 10,427; über Nietzsches .Verschwindenwollen' bei Werner Ross, Der ängstliche Adler, 734. ,

Selbsteinholungsfiguren bei Nietzsche

153

Politiker), auf Reichsebene (als Apologet und Kirchenvater, als Augustinus), zugleich sein erster Märtyrer (in der „paradoxiensüchtigen" Spätantike/Spätmoderne), aber mit seinen „Grundwahrscheinlichkeiten"7 und seinem Verdacht eines möglichen nihilistischen Gehalts der eigenen Lehre (geäußert vor allem im Fragment Lenzer Heide) auch sein erster Martin Luther ist, sein erster Aufklärer, sein erster (hegelscher/ marxistischer) Geschichtsschreiber (,Heraufkunft des Nihilismus mit eherner Notwendigkeit' in die Geschichte projiziert, mit Umschlagsgarantie), sein erster Genealoge und Terminator, fuhrt das in der Konsequenz nicht nur zur Einarbeitung des Widerspruchsgedankens in die Lehre selbst, zur allgemeinen Relativität und zu Selbstaufhebungsfiguren8, sondern zu etwas, das jenseits der Theorie und der Lehre auf der Ebene der Person Nietzsches liegt. Wenn Nietzsche sein eigener Nietzsche werden will, hat er das lange, oben beschriebene Itinerar von Jesus zu Nietzsche, hinter sich gebracht, um bei sich selber anlangen zu können. Im Unterschied zu einer Selbstaufhebungsfigur würde ich hier eine Selbsteinholungsfigur ausmachen. Es kommt zu unendlichen Annäherungen Nietzsches an sich selbst, zu einer Art Grenzwertbeweis. Doch ist das erst die erste Reihung. Vielleicht ist der an Nietzsche unendlich angenäherte Nietzsche wieder ein Religionsgründer, der wieder ein Itinerar durchläuft, um bei sich selber zum zweiten Male anzulangen. Und so weiter und so fort. Die Reihung der Annäherung an sich selbst ist unendlich, die Anzahl der Annäherung Nietzsches an Nietzsche ist ,n\ Das ist scher

der tiefere Sinn der Worte: ,Werde, der Du bist' und ,Wie man wird, was man ist'9. Das Leibproblem eines Religionsgründers ist recht eigentlich das Märtyrerproblem. Ist die neue Lehre stark genug, dass selbst der Leib zur Disposition steht? Das muss die Frage an jeden Jünger, auch an den Epopten des Dionysos sein. Das Irritierende an Nietzsches Wahnsinn als Leibgeschehen ist, dass er mit Ecce homo, der ,Chronik eines angekündigten Wahnsinns', ein Märtyrer seiner eigenen Lehre und seiner eigenen Annäherung werden wollte. Die Frage nach der Lehre ist aber interessanter als die des Leibes. Wo steht Nietzsche in Ecce homo? Welche Lehre wird hier vertreten? Welche systematische Entwicklung ist festzustellen? Und wie steht es um das Zentrum des, nach Ecce homo, zentralsten Gedankens, der Lehre von der ewigen Wiederkunft des Gleichen? Wie schon gezeigt bedeutete in der ethischen Nachbereitung des Wiederkunftserlebnisses das Durchleben des Wiederkunftsgedankens das Ende der Wiederkunftslehre: Die Psycho,

6 7

Vgl. KSA, NF, 9, 52. „An Stelle der Grundwahrheiten stelle ich Grundwahrscheinlichkeiten vorläufig angenommene Richtschnuren" (KSA, NF, 10, 644). Vgl. Claus Zittel, Selbstaufhebungsfiguren bei Nietzsche, Würzburg 1995, als dessen Fortführung sich meine Ausführungen verstehen. „Werde fort und fort, der, der du bist" (KSA, NF, 9, 555); „Der nämlich bin ich von Grund und Anbeginn, ziehend, heranziehend, hinaufziehend, aufziehend, ein Zieher, Züchter und Zuchtmeister, der sich nicht umsonst einstmals zusprach: ,Werde, der du bist!'" (KSA, Za, 4, 297). Das ,Wie man wird, was man ist' ist eine Verschärfung und weist darauf hin, dass man schon der geworden ist, der -

9

man 10

ist.

Vgl. Miguel Skirl, Ewige Wiederkunft, gart 2000.

in:

Nietzsche-Handbuch, hg.

von

Henning Ottmann,

Stutt-

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analyse ist vorbei, Zarathustra ist untergegangen. Zudem droht die Unbeweisbarkeit der Lehre als Damoklesschwert über dem kosmischen Ethos der ,Wiederkünftigen' zu schweben, als Kritik am Offenbartsein der Wiederkunftslehre, als Wirkung des Dubitativums „Vielleicht ist er [der Gedanke M. S.] nicht wahr" (KSA, NF, 10, 521), „Der Gedanke: seine Voraussetzungen, welche wahr sein müßten, wenn er wahr ist" (KSA, NF, 11, 225), als eine Müdigkeit, in der Formel: „Alles ist gleich, Alles ist leer, Alles war" (KSA, NF, 10, 586). Nietzsche gebärdet sich in Ecce homo als Gebärer der Wiederkunft, so dass Ecce homo selbst etwas mit dem Wiederkommen zu tun haben und eingebunden sein müsste in die Lehre. Das ist Ecce homo aber nicht. Wie müsste denn eine Biographie oder eine Hagiographie nach Maßgabe der ewigen Wiederkunft lauten?: zum Beispiel, dass ich ja sage, weil ich wiederkomme, dass ich durch den Gedanken der ewigen Wiederkunft die Kindstufe erreicht habe, dass mein Leben ein aus sich rollendes Rad gewesen ist, dass amor fati sich einstellte in meinem Leben, weil die ewige Wiederkunft herrscht und gilt und webt in der Welt. Dass ich gemäß der Wiederkunftslehre wiederkomme, aus den und den Gründen. Davon steht aber in Ecce homo kein Wort. Nietzsche spricht davon, dass er uns wiederkehren werde („Nun heisse ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren" (KSA, EH, 6, 261)", aber diese Wiederkehr ist mit der Wiederkunftslehre, die keine Wiederkehrlehre ist, nicht vereinbar. Die Wiederkunft wird mehrfach genannt1 aber wer genau liest, kann, als Lehre, auch Zarathustra als Typus herauslesen dessen erste Tugend das Darüberhinwegtanzen ist: „Das psychologische Problem im Typus des Zarathustra ist, wie der, welcher in einem unerhörten Grade Nein sagt, Nein thut, zu Allem, wozu man bisher Ja sagte, trotzdem der Gegensatz eines neinsagenden Geistes sein kann; wie der das Schwerste von Schicksal, ein Verhängniss von Aufgabe tragende Geist trotzdem der leichteste und jenseitigste sein kann Zarathustra ist ein Tänzer ; wie der, welcher die härteste, die furchtbarste Einsicht in die Realität hat, welcher den ,abgründlichsten Gedanken' gedacht hat, trotzdem darin keinen Einwand gegen das Dasein, selbst nicht gegen dessen ewige Wiederkunft findet, vielmehr einen Grund noch hinzu, das ewige Ja zu allen Dingen selbst zu sein, ,das ungeheure unbegrenzte Ja- und Amen-sagen' ,In alle Abgründe trage ich noch mein segnendes Jasagen' Aber das ist der Begriff des Dionysos noch einmal" (KSA, EH, 6, 345).13 In dieser Darstellung scheint Zarathustra derjenige zu sein, der den ,abgründlichsten Gedanken' und damit die Wiederkunftslehre überwindet und überwinden muss, um zum Jasagen ja zu sagen: das Jasagen trotz Wiederkunftslehre. An die Stelle der Wiederkunftslehre wird die Lehre vom Jasagen gerückt und diese Lehre verdichtet sich im Begriff des amor fati: „Meine Formel für -

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...

...

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Vgl. Von der schenkenden Tugend (KSA, Za, 4, 101). Hinweis auf Schwester und Mutter (KSA, EH, 6, 268); „Die Lehre von der .ewigen Wiederkunft', das heisst vom unbedingten und unendlich wiederholten Kreislauf aller Dinge diese Lehre Zarathustra's könnte zuletzt auch schon von Heraklit gelehrt worden sein" (ebd., 312); „Ich erzähle nunmehr die Geschichte des Zarathustra. Die Grundconception des Werks, der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke, diese höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann" (ebd., 335). Später wird an das Tanzlied An den Mistral erinnert (ebd., 334), das ist schon das Tanzlied des über sich hinwegtanzenden Nietzsche, der sich selber wegtanzt, sich selber wegtanzend abschafft. -

13

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die Grosse am Menschen ist amor fati: dass man Nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht" ( ebd., 297). Das amor fati ist aber mehrdeutig: auch das Schicksal der WiederkunftsÜberwindung und -Verwindung könnte hiermit ausgedrückt sein: auch das wäre Liebe zum Schicksal. Ebenso könnte es eine Abweisung des kosmischen Schicksals sein: es bleibt vielleicht nur Schicksal als Schicksal übrig, also das ecce dieses homo. Das Schicksal: das ist das grosse So, das So- und nicht-Anders. Ob das ,vorwärts, rückwärts, in alle Ewigkeit' so gewünscht wird, ist systematisch belanglos. Ecce homo kreist um das Problem des Jasagens zu dieser Welt, ohne eine Theorie, nicht einmal die der ewigen Wiederkunft, nötig zu haben. Das ist ein Problem, denn die theorielose Welt könnte eine sein, in der nicht zu ihr ja gesagt würde, in der eine jasagende Theorie keinen Platz hätte. Deswegen muss Nietzsche vor der Vernichtung sämtlicher Theorie das Jasagen oktroyieren, damit die Welt in das Jasagen entlassen wird. Als Siegel und point of no return fungiert dabei das Menschenopfer Nietzsche. Für ihn ist amor fati seine „innerste Natur" : damit weist die Lehre des Jasagens zurück auf die Ebene des Leibes. Das Jasagen muss hinsichtlich des Ecce homo darauf befragt werden, ob es auf Nietzsche selber appliziert werden könne. Dies scheint für den selbstreflektierten und hypertrophen Philosophen ein Problem zu sein. Ich wage die These, dass der Schlüssel zum Verständnis von Ecce homo und die Antwort auf die Frage, ob Nietzsche zu sich ja sagt und ja sagen kann, abseits des Weges gesucht werden muss. Ich glaube eine Parallele zwischen der Abtrittsvorlesung, die der Text ist, und der Antrittsvorlesung Homer und die klassische Philologie ausmachen zu können. Darin löst Nietzsche das Problem der Homerautorschaft und der offensichtlichen Komponiertheit der homerischen Epen bei gleichzeitiger größter Verschiedenheit mündlicher und zeitlich auseinanderliegender Geschichten als Quellen von Ilias und Odyssee dadurch, dass er einen zweiten Homer erfindet.15 Meiner Meinung nach erfindet Nietzsche auch einen zweiten Nietzsche, zu dem er dann ja

sagt.16

,,[A]mor fati ist meine innerste Natur" (ebd., 363).

Christian Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, Berlin 2005, hat mich darauf aufmerksam gemacht, es sei zumindest missverständlich, von der Existenz eines zweiten Homer zu sprechen, legitim aber sei, den Namen ,Homer' dem alexandrinischen Philologen-Dichter-RedaktorKompilator als ästhetisches Urteil ex post beizumessen. Das Verfassen der homerischen Epen ist ein Geschehen von Dispersion und Komposition; aus dispersen oralen Traditionen hat der erste Homer ein Opus komponiert, das bald durch die Homeriden redaktionell überwuchert wird und erst durch den ,Planmacher' zu jener genialen Collage komponiert ist, bevor sich die jeweiligen Zeiten ihre Homere durch disperse ästhetische Urteile zurechtmachen. Auf die von Friedrich August Wolf bis zu Albrecht Ritschi durchdeklinierte Homerfrage spielt Nietzsche, der erster und zweiter Nietzsche ist, an, wenn er davon spricht, „Gesetzt, ich hätte meinen Zarathustra auf einen fremden Namen getauft, zum Beispiel auf den von Richard Wagner, der Scharfsinn von zwei Jahrtausenden hätte nicht ausgereicht, zu errathen, dass der Verfasser von ,Menschliches, Allzumenschliches' der Visionär des Zarathustra ist" (ebd., 287). Ecce Homo ist als Titel der vermeintlichen Autobiographie solch ein .fremder Name' und der Name Nietzsche auch nur eine Chimäre. Zur Geburt der Tragödie bemerkt Nietzsche: „man darf rücksichtslos meinen Namen oder das Wort ,Zarathustra' hinstellen, wo der Text das Wort Wagner giebt" (ebd., 312). Die Austauschbarkeit von Nietzsche und Zarathustra ist eine Umwertung der eige-

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Ecce homo ist meines Erachtens keine Retrospektive, nicht der Readers-Digest der sondern ein Werk, das gebaut ist für die eigenen Schriften, auch keine Autobiographie, 7 Zukunft, das in die Ferne wirken will, also von der Biographie zur politischen Schrift, besser gesagt: vom ,Bios' zur politischen Schrift, gedacht werden muss. Nietzsches Leib wird Politik, große Politik. Dadurch wird ein systematischer Zusammenhalt nötig, der Biographie und Theorie, Leib und Lehre verbindet: Nietzsche hat

gefunden.18

ihn im Cäsarenwahn Damit will ich nicht sagen, dass er seinen Wahnsinn hat und nicht vorgetäuscht eigentlich wahnsinnig wurde. Das Gegenteil ist der Fall. Wie auch immer die korrekte medizinische Diagnose aber lautet, wichtig scheint mir nur, dass Nietzsche etwas mit dem Wahnsinn anstellte, ihn selber durch Ecce homo als Cäsarenwahn interpretierte, interpretieren müsste, um sein Werk, seine Fama, seinen Namen zu retten. Darauf weisen die cäsarenwahnsinnigen Überschriften Warum ich so klug bin usw. hin. Es geht Nietzsche um die Selbstrechtfertigung, dass er sich den Cäsarenwahn leisten kann. Es wäre dann ja doch zu komisch und zu desavouierend: wenn der Lehrer des amor fati, des großen Jasagens, wahnsinnig würde. Der Wahnsinn kam dann aber doch, und Nietzsche sucht nach Strategien, seine Krankheit im Text, in der Theorie so einzugemeinden, dass seine Lehren nicht korrumpieren: darum Ecce homo. Er ist der sich der sich selbst durch Explosion Vergessende und der vom Kreuz gestiegen ist und freiwillig wieder das Kreuz vergessen-Habende, nimmt. Er ist der zweite Nietzsche, der er wird, nachdem er sich selbst durchgestrichen hat. Er ist der, der sich den Weg zurück zu den Lebenden verbaut. Das gelingt ihm gut; -

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1

18 19

Schriften mit Lizenz zur

Selbstumwertung. Nietzsche ist aber auch, wie er als Kommentar zu den Unzeitgemässen Betrachtungen schreibt, derjenige, um den es in den Schriften Schopenhauer als Erzieher, Wagner in Bayreuth, geht, „dass sie im Grunde bloss von mir reden" (ebd., 320): das ist eine Methode, von der Homer-Verdoppelung direkt in den Cäsarenwahn zu gehen. Nietzsche sagt auch, dass er zwei sei: „ich bin der und der" (ebd., 257) und „Verwechselt mich vor Allem nicht!" (ebd.). Das ist in der Tat schwierig, weil man erst einmal einen zweiten Nietzsche sehen muss. Die Todes- und Untergangsahnungen in Ecce homo machen nur Sinn, wenn Nietzsche Zeit gehabt hat, einen zweiten Nietzsche zu designen: „Nun heisse ich euch, mich verlieren und euch finden; und erst, wenn ihr mich Alle verleugnet habt, will ich euch wiederkehren" Nietzsche verliert sich, nen

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Opfernde19,

erfindet sich neu als zweiter Homer, zweiter Nietzsche, zweiter Mensch. Das Problem dabei: man hat nur ein Leben. Ein weiteres Indiz sind willkürliche Filiationen, die er vornimmt: „als meine Mutter lebe ich noch" (ebd., 264): Nietzsche ist seine eigene Mutter, der Vater als Symbol des Gesetzgebers, Religionsgründers, ist bereits gestorben: „Auch noch in einem anderen Punkte bin ich bloss mein Vater noch einmal und gleichsam sein Fortleben nach einem allzu frühen Tode" (ebd., 271). Ich bin sein Fortleben, sagt Nietzsche, oder auch, ich bin mein Fortleben in Ecce homo, könnte er genauso sagen. Kofrnan sieht zu Recht eine Verdoppelung, es gebe „deux ,Nietzsche', l'un étant le sosie de l'autre" (Sarah Kofrnan, Explosion I, 28f.), doch werden aus den zwei Nietzsches wieder nur narrative Masken für uns. Gemäss etwa des Diktums: „Wenn ich mich danach messe, [...], was hinter mir drein kommt"

(ebd., 296). „Julius Cäsar könnte mein Vater sein" (ebd., 269). So Kaiserin Sissy von Österreich: „Nietzsche hat sich als ein Opfer in den Abgrund der Zeit geworfen." Zit. nach Karl Schlechta, Nachwort, in: Friedrich Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. dems., München 1954ff.

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dazu sind die Wahnsinnszettel und Ecce homo förderlich. Durch den Titel, durch den Hinweis auf den Schmerzensmann, will er uns sagen, dass sein Leben ein Schmerz, eine Krankheit war, aber eine Krankheit, ein Schmerz mit Sinn. Er muss, getreu seiner Theorie, dass man zur rechten Zeit sterben solle, sich selber reif machen zum Tode. Das ist leichter gesagt als getan. Nietzsche erfindet sich neu, für uns, ein Opfer, das ein Selbstopfer ist und den Ausruf des Bewunderns nach sich ziehen soll ecce homo. Oder in der Übersetzung Napoleons: voilà un homme. Wie aber betreibt Nietzsche seine Selbstopferung im Text und worin besteht sie? Es ist verschiedentlich behauptet worden, dass Nietzsche sich durch den Text („Das Buch fast zum Menschen geworden", KSA, MA-1, 2, 208)) unsterblich machen wolle, -

Sarah Kofman, die meint, „l'homo Nietzsche" wolle „de se faire renaître" „l'autobiographie est d'abord un travail de deuil [...], ou Nietzsche s'enterre plusieurs fois pour pouvoir renaître à lui-même et se reappropier" oder jüngst Martin Kornberger: „In ,Ecce Homo' formt sich Nietzsche zu dem, was er ist; seine Autobiographie ist die Geschichte der Inkarnation seiner selbst und am Ende dieser Inkarnation steht die fatale Gottwerdung Nietzsches." Ich sehe in Ecce homo aber keine Gottwerdung, sondern eine Art Selbstmord, eine Art Martyrium, das vielleicht dem Selbstmordversuch des jungen Nietzsche korrespondiert. So hat Kofman zwar ganz hellsichtig bemerkt: „C'est aussi le mort du ,bios'. EH est l'autobiographie la plus ,depersonalise' qui soit. Pas de persona: le je' ne tient pas un discours en premiere personne ou il n'y a personne"24, kann sich aber nicht durchringen, einen Zusammenhang zu den ,deux Nietzsche' herzustellen. Nun erzählt sich Nietzsche, indem er das Schicksal und den vermeintlichen Inhalt seiner Schriften erzählt, selbst als Konglomerat von Leib und Lehre. Die Schriften sind Schriften, die ewiges Missverstehen, Nichthörenwollen und nach sich gezogen haben. Sie sollen aber gehört werden: das ist Teil des geheiligten Cäsarenwahns. Daher ist es nötig: alle Schriften müssen neu ediert und mit neuem Vorwort versehen werden. Alle Schriften müssen auf die intendierte Wechseldurchdringung und unzurückdrehbare Verzahnung von Leben und Text zulaufen. So wird ein Leben erzählt, das aus Schriften besteht, aus immer mehr Text, aus der zulaufenden existentiellen Wichtigkeit der Texte für die eigene Biographie. „Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften" sagt Nietzsche (KSA, EH, 6, 298), daher die Dichtung Zarathustra als extreme Form der Psychoanalyse, die durchlebt und durchlitten wird. Mit Zarathustra ist, in der Darstellung Nietzsches, alles gesagt; es bleibt danach (und nach dem Ende der Wiederkunftsbegeisterung) nur noch die Tat übrig, aber welche Tat drängt sich nach so

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21 12 :3

24

Sarah Kofman, Explosion I, 20. Ebd., 25. Martin Kornberger, Zur Genealogie des „Ecce Homo ", in: Nietzsche-Studien, 27 (1998). Dazu Hermann Josef Schmidt, Nietzsche Absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. II. Jugend, 1. Teilband 1858-1861, 434ff. (Juli 1859. Blick hinter den Vorhang: ,Hundstagsferien' oder ,in einen Strudel gerathen [...] ohne nach Hülfe zu rufen') Vom Onkel wurde Nietzsche gerettet, als er in der Saale schon dem Ertrinken nah und bereits halb bewusstlos schwellende Wahnsinn sind dem Saalestrudel allerdings ähnlich. Sarah Kofman, Explosion I, 29.

war.

Ecce homo und der

an-

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Miguel Skirl

Zarathustra noch auf? Weltrevolution? Rückzug ins Réduit? Studium der Kosmologie und Physik? Dem pferdeprügelnden Kutscher in die Parade fahren? Selbstmord? Von allem ein bisschen? Die Antwort ist einfach. Ein Opfer muss her: Und das Opfer ward Text. So wie es in den reformierten Kirchen nicht das Kreuz ist, das prangt, sondern das Buch, das offen liegt, so will Nietzsche das Buch seiner ecclesia militans sein; die Bibel heiße Zarathustra, aber auch, danach, naturalidentisch, Nietzsche selbst, Nietzsche als Textperson. So gesehen verschmilzt er mit seinem alter ego Zarathustra. Damit wäre Nietzsche sein eigener Nietzsche geworden: indem er sich ans Ende der Geschichte, ans Ende aller Texte setzte und durch seinen Mund Zarathustra spräche. Dann wäre Ecce homo eine Mischung aus Zarathustra-Oiienbarung und theologischem Kommentar zu Zarathustra, gepaart mit einem performativen Märtyrerakt, einem Autodafé. Es ist nun nicht so, dass der Autor hinter dem Text verschwindet, dass der Text redet, dass Nietzsche, die Person, Maske würde durch die Herrschaft des Textes; im Gegenteil: Text und Autor werden eins, werden gemeinsam das, was sie sind. In der Verschmelzung von Text und Nietzsche starrt uns nicht der Text an, sondern Nietzsche selber. Er ist im Text, er spricht zu uns, indem er die Textlichkeit des Textes zerstört; nur so kann er, logisch stringent, von sich behaupten, er sei Dynamit. Der Text spricht in tausend Fasern davon, dass es sich nicht um eine Metapher handele, sondern um Wahrheit. Der Text ist keine Lüge im außermoralischen Sinne, oder ein bewegliches Heer an Metaphern, Metonymien und Synekdochen, sondern Blut, Herzblut, wenn man so will: Ecce homo ist nicht gelogen, nicht geflunkert und auch keine Posse. Nietzsche durchschaut, dass es ihm vielleicht als erstem gelingt, die Mauern der Autorschaft niederzureißen und seinen Leib in den Text zu gießen, sich quasi in den Text einzubalsamieren, um als Stimme zu uns sprechen zu können. Die höchste Form von Korporalität ist jedenfalls erreicht, wenn die taktil erfahrbare Physiopräsenz, die nicht mehr gegeben ist, statt des gelesenen und nur gesehenen Textes in ein Hörerlebnis umgeformt wird und werden kann. Die Gretchenfrage: ,Hat man mich verstanden?' rekurriert auf das Hören seiner Stimme, seiner Präsenz.25 Wenn also leibliche Präsenz -

Hans-Martin Gauger, Nietzsches Stil am Beispiel von „Ecce Homo", in: Nietzsche-Studien 13 (1984), 339ff. hat festgestellt, dass der Stil Nietzsches „Parlando" sei. Ich gehe einen Schritt weiter und sage: Ecce homo ist ein Vortrag, bei dem man ins Erzählen kommt, so wie man sich sein Leben erzählt, wenn man keine Enkelkinder hat. Diesen Vortrag gilt es nicht zu sehen oder zu lesen, sondern zu hören. Vielleicht ist es ein Märchen, vielleicht ein Wunder. Wenn es eine Autohagiographie ist, wäre es doch wieder nur Text; es ist zweifelsohne mehr. Es ist eine vorgetragene Heiligenvita, gehört zur Pastoraltheologie, zur Praxis, nur bedingt zur Dogmatik, zur Exegetik oder zur Komparatistik. Nietzsche spricht davon, dass er seinen Stil verschwendet (KSA, EH, 6, 304): das ist nicht mehr die schenkende Tugend an alle, sondern an alle in Zukunft. Die Verschwendung ist eine Verschwendung des eigenen Selbst in den Text hinein, als Stil. Nietzsches Anspruch ist, stilvollendet zu sterben, in Schönheit zu ersterben, das kann er nur als Text („Alles Sein will hier Wort werden" KSA, ZA, 4, 232). Die Selbstlobhudelei über den eigenen Stil (vgl. KSA, EH, 6, 304) soll der Mitwelt und der sozialen Umwelt entfremden. Die Unvergleichbarkeit der Stile kann nur postum festgestellt werden; erst da kann sich zeigen, ob Nietzsche mit seiner Selbstdeutung Recht bekommt; so gesehen unterwirft sich der Nietzsche-Text, der Nietzsche sein will, der Nachwelt, aber er unterwirft sich der Nachwelt als Text. Er entbehrt sich seiner selbst.

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äußerer Umstände nicht mehr möglich ist, ist das Hören der Stimme der nächste Beweis seiner Präsenz: seines Leibes. „Und warum sollte ich nicht bis ans Ende gehn? Ich liebe es, reinen Tisch zu machen" (ebd., 362). Das präludiert den schrillen Schrei, die Verwünschungen, die Nietzsche nun ausstößt. Damit geht er wirklich ans Ende. Er geht an das Ende des Textes, das Ende der Unmöglichkeiten und Verfluchungen, an das Ende der Schrift, die sein Leben erzählt, an das Ende seiner Existenz als Person, die sich zuende erzählt hat. Es ist wichtig, dass Ecce homo am Schluss von Nietzsches Schriften steht, weil nur sie seinem Wahnsinn einen Sinn geben kann und die Textwerdung Nietzsches, als seinen einzigen Ausweg, plausibel macht: „Das woraufhin ich einen Menschen ,nierenprüfe', ist, ob er ein Gefühl für Distanz im Leibe hat" (ebd., 362). Diese Distanz will Nietzsche nehmen und so entfernt er sich langsam. Dabei hilft ihm das „absurde Stillschweigen" der Deutschen, denn nun kann er sich selber stillschweigen und den Deutschen aus seinen Texten reden: „Deutsche sollen sich an mir verewigen. Es ist gerade noch Zeit dazu" (ebd., 364). Es sei noch ein bisschen Zeit, das Totenglöcklein hat schon geläutet, der Schierlingsbecher ist konsumiert, bis zur Neige geleert und, „es ist gerade noch Zeit". Wie der ,Wahnsinnige' seine Objektfixierung erlebt, die mit der eigenen Psyche auf dramatische Weise verknüpft ist, und nur noch eines ganz wichtigen, leider unerreichbaren Details bedarf, so dass die Welt und das eigene Wohl gerettet sind, so erlebt er im Text eine letzte zu überwindende Schwelle, die Existenz der Deutschen, deren Überwindung gleichzeitig Erlösung verspräche. Aus dieser Wahnsinnsperspektive spielt es keine Rolle mehr, ob die Deutschen oder die Christen ausgerottet werden müssen: ich würde zu Nietzsches Ehrenrettung und zum Verständnis des Textes aber sagen wollen, dass der Wahnsinn hier Methode ist. Die Töne sind so schrill, dass sie auf den Autor zurückfallen sollen. Man kann aus performativen Gründen nicht von sich behaupten: Ich bin wahnsinnig, um seinen Wahnsinn zu bezeugen. Es soll auch ein Wahnsinn sein, der Sinn macht, der eines Philosophen würdig ist; Nietzsche wüsste, es ist höchste Zeit und so musste auch sein Wahnsinn ins Werk gesetzt werden. Ohne dass dadurch seine anderen Werke in Verruf geraten würden. Sein Werk sollte gerettet sein. Das ist eine heikle Aufgabe: Nietzsche löst sie, indem er, um sich zurück zu erhalten, in den Text geht, freiwillig, aber als Tragödie. Die Sätze gegen jede Form von Metaphysik, der Glaube, mit einem Satz alles erledigen zu können, die Apodiktik, die in die Existenz hineinstrahlt, mit einem Mal die Umwertung aller Werte erledigen zu können, das ist der Glaube an den seligmachenden Satz, an den erlösenden Text. Das ist Schwachsinn. Allerdings ein höherer Schwachsinn. Es geht Nietzsche darum, dass sein Wahnsinn einen Umschlagpunkt markieren kann, der für seine Theorien von Bedeutung ist und das ist: „Die Heraufbeschwörung eines Tags der Entscheidung" (ebd., 350); es geht um die Heiligung des 30. September 1888 als Tag der Umwertung, durch das Selbstopfer in den Wahnsinn und den Text. Nach Ecce

aufgrund

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spielt es keine Rolle mehr, ob er wirklich oder nur als ob verrückt wurde; bleibt, so oder so, und soll bleiben: der Text, der Nietzsche ist.26 homo

es

Das antideutsche Ressentiment im Text ist ebenso verhaltensauffällig, das ,Ostinato' dieser Redundanz ist gewollt. Nietzsche will darauf aufmerksam machen, dass er einen Fixpunkt gefunden hat, die christliche deutsche idealistische Kultur, die er mit einem Umschlagszeitpunkt

merkwürdig, dass Ecce homo als Schrift selbst nicht besprochen wird; ist dass Ecce homo selber Ecce homo ist und eigentlich nicht besprochen es klar, gehört, aber eine solche Unreflektiertheit, solche Selbstuneinholung ist untypisch für Nietzsche. Ecce homo ist daher vielleicht selbst der Kommentar zu Ecce homo, mit anderen Worten: Ecce homo ist Ecce homo ist Ecce homo: das ist textimmanent ein Text, der sich selber eingeholt hat. Also es müsste aus systematischen Gründen die Umwertung mehr sein als nur ein Text, wie es der Antichrist ist. Es muss mit und durch Nietzsche das Attentat, das Instantané, das große Jetzt kommen, die Umwertung aus rein systematischen Gründen mit der Person Nietzsche zu tun haben. Aus systematischen Gründen muss Ecce homo die Umwertung sein. Nietzsche will Text werden, weil er Nietzsche werden will. Das ist seine PhantasyFantasie. Natürlich sichert dies das Überleben und das Weiterleben. Sicher ist es das beste Ende eines Philologen. Aber rein menschlich betrachtet eine Tragödie. Von den beiden wichtigsten Figuren in Nietzsches Leben aus gesehen, von Dionysos und der Salomé, ist dies eine Selbstverfehlung, die tragisch ist, die diabolisch ist. Sicherlin hat die Salomé den Fall Nietzsche ähnlich gesehen, sie spricht vom rosenumkränzten Schmerzenschrei und der Vergewaltigung Nietzsches durch Zarathustra, und sie würde dem Titel Ecce homo vielleicht sogar etwas abgewinnen können, aber den Schmerzensmann Nietzsche, der sich selbst opfert und im Text weiterlebt, den hätte sie abgelehnt, den hat sie abgelehnt den hat sie nicht geheiratet. Und auch die Selbstopferung ad maiorem gloria Dionysos würde von diesem Gotte dankend abgelehnt werden das könne nur einem gefallenen Ex-Christen einfallen. Wenn sich Nietzsche der Gefolgschaft des Gottes Dionysos aufdrängt, muss man sich fragen, was geschähe, würde er unter die Augen des Gottes kommen. Zurückgestoßen würde er wohl werden und auf die Salomé verwiesen. Nietzsche beeilt sich denn auch, permanent zu versichern, dass er nicht krank, nicht schwer, nicht schwermütig, sondern leicht, locker „leutselig" (ebd., 297) sei, aber das reicht für Dionysos nicht. Der Gott will kein Pappkamerad sein, auch kein Helfershelfer oder Erfüllungsgehilfe. Er hat kein Interesse daran, dass Nietzsche der wird, der er sein möchte. Mit Möchtegerns hat Dionysos nichts im Sinn. Und lesen kann Dionysos schon gar nicht. Die Formel ,Dionysos gegen den Gekreuzigten' ist leider nur ein Text. Ja sagt einer da zum Leben und geht dann in den Text: Das ist nicht Lüge, das ist Betrug, das ist Verrat. Also sprach Dionysos. Mag sein, dass der ein Opfer bringt, damit die Nachgeborenen der dunklen Zeiten entrinnen können. Aber das ist die Figur der Selbsteinholung, die in sich verbleibt und nicht mehr aus sich kann, eine Selbstsarkophagisierung. ,Selbst' ist jedenfalls ein Wort, das immer man auf Nietzsche applizieren kann. In diesem Sinne ist es mehr als eine Ich-Verpanzerung. Das Selbst bei Nietzsche, das eigentlich sein Ich ersetzt, ist unendlich verwundbar. Seine Selbstverhältnisse sind nichttranszendental und sollen mit dem Eigentext Ecce homo verwechselbar sein. Es ist zudem

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die seinen Wahnsinn und sein Denken, sein Gehen in den Text rechtfertigt. Das ist nur zwischen den Zeilen, eben nicht deutsch zu lesen. In der Philippika gegen die Deutschen will uns der Deutsche immer nur mitteilen: das Wichtigste ist nicht der geschriebene Text, sondern steht zwischen den Zeilen. In der Suada gegen das Deutsche geht es um die Destruktion der Textlichkeit von Text. Der Sinn des Textes muss deshalb gesucht werden.

verknüpfen kann,

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spricht, dass die „Selbstüberwindung der Moral aus Wahrhafdie Selbstüberwindung des Moralisten in seinen Gegensatz in mich -" dastigkeit, selbe wie ,Zarathustra' bedeute, ist diese Implosion ein Selbstverhältnis, das den Wahnsinn heiligen soll. Ob er sich tatsächlich eingeholt hat, bleibt zu diskutieren. Wenn Nietzsche davon

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FERNANDO DE MORAES BARROS

Geist und Fleisch gewordene ,Umwerthung aller Werthe' Ecce homo als lebendiger Kommentar zum Antichrist

In einem Brief an Paul Deussen

vom

26. November 1888 schreibt Friedrich Nietzsche:

„Mein Leben kommt jetzt auf seine Höhe: noch ein paar Jahre, und die Erde zittert von einem ungeheuren Blitzschlage [...] Meine Umwerthung aller Werthe, mit dem

Haupttitel der Antichrist ist fertig. In den nächsten zwei Jahren habe ich die Schritte zu thun, um das Werk in 7 Sprachen übersetzen zu lassen" (KSB, 8, 491 f.). Nietzsche wendet sich in der Gewissheit, seinen Grundstein gelegt zu haben, voller Enthusiasmus an den Sanskrit-Kollegen. Er erwähnt nicht mehr die Tetralogie, der Der Antichrist seine Existenz als philosophische Unternehmung verdankt,1 und gibt vor allem zu verstehen, dass das aus den vier Büchern gebildete Zusammenspiel mit vollem Recht als erster Teil des ursprünglichen Plans angesehen werden darf. Allen Anzeichen nach sei es sogar notwendig, tausende von ,Heilern' für den fatalsten aller Umstürze aufzustellen: „Man wird gut thun überall Vereine zu gründen, um mir zur rechten Zeit einige Millionen Anhänger in die Hand zu geben" (KSA, NF, 13, 642). Er erwägt sogar: „Irgendwann wird man Institutionen nöthig haben, in denen man lebt und lehrt, wie ich leben und lehren verstehe" (KSA, EH, 6, 298). Nun erlebt Nietzsche, offensichtlich dem Erfolg verpflichtet, von einer besonderen Geistesstimmung angetrieben, die letzten fruchtbaren Monate seiner intellektuellen Laufbahn. Obwohl der Philosoph weiß, wie sehr er aus dem Rahmen der Zeit herausfällt, erwartet er, mit einem ungeheuren Gegenschlag aus dem kalten Schatten, in den seine Epoche ihn gestellt hatte, herauszutreten und den Erfolg einzuheimsen. Nichtsdestotrotz gibt es kein Getöse. Mehr noch: Es besteht die Gefahr, sich gemeinsam mit seinen Schriften in ein Spektrum zu verwandeln. Und das geschieht auch, wodurch er sich gezwungen sieht, sich selbst und anderen gegenüber zu erklären: „Das Missverhältniss aber zwischen der Grosse meiner Aufgabe und der Kleinheit meiner Zeitgenossen ist darin zum Ausdruck gekommen, dass man mich weder gehört, noch auch nur Vgl. KSA, NF, 13,

545: „Umwerthung aller Werthe. Erstes Buch. Der Antichrist. Versuch einer Kritik des Christenthums. Zweites Buch. Der freie Geist. Kritik der Philosophie als einer nihilistischen Bewegung. Drittes Buch. Der Immoralist. Kritik der verhängnissvollsten Art von Unwissenheit, der Moral. Viertes Buch. Dionysos. Philosophie der ewigen Wiederkunft."

164

Fernando de Moraes Barros

gesehn hat. Ich lebe auf meinen eignen Credit hin, es ist vielleicht bloss ein Vorurtheil, dass ich lebe?" (ebd., 257). Die Tage vergehen, der Monat Januar kommt: Zusammenbruch in Turin. Der deutsche Philosoph lässt endlich von der Welt ab, die nach seiner Voraussage unter seinen Füßen erzittern würde. Wir fragen uns nun: Wurde das Projekt der ,Umwerthung aller Werthe' in Hinsicht auf seine Schriften wirklich ausgeschöpft? Ist sein Inhalt im Antichrist voll entwickelt, wie der Philosoph behauptet? Oder hat die Krankheit des Philosophen die ,antichristliche' Polemik trotz ihrer Gewagtheit und all ihrer Anstrengungen, eine positive Aufgabenstellung anzugehen, behindert und grundsätzlich unterbrochen? Hat ihm schließlich die Gelegenheit gefehlt, den von ihm selbst ausgestoßenen Fluch wertmäßig zu überschreiten? Wie verhält sich die Sache eigentlich? Um solche Fragen ansatzweise zu beantworten, müssen bestimmte Aspekte der antichristlichen Kritik erklärt werden. Es geht darum, ausgehend von der engen Beziehung zwischen Erlebnis und philosophischer Reflektion den fundamental einzigartigen Charakter aufzuzeigen, den die Umwertung für denjenigen besitzt, der sie zu seiner eigenen Philosophie macht. Von daher ergibt sich die lapidare Wichtigkeit der in Ecce homo enthaltenen Fundstücke. Es geht dabei wenigstens um die Wertschätzungen des Verfassers selbst: Ausgangspunkte der Reflektion und gleichzeitig durch die eigenen Triebe herbeigeführte Perspektiven. Das ist der Punkt, warum die Frage nach Kontinuität oder Diskontinuität des letzten Nietzsche-Projekts möglicherweise viel mehr zu dem gehört, was hinter seinen Thesen steht, als zu den Thesen, die der er unterlassen hat zu schreiben. Eine höchst aufschlussreiche Stelle möge diesbezüglich wieder in Erinnerung gerufen werden: „Jede Philosophie ist eine Vordergrunds-Philosophie [...] Jede Philosophie verbirgt auch eine Philosophie" (KSA, JGB, 5, 234). Die ,Umwerthung aller Werthe' verbirgt zudem eine Philosophie der Umwertung, welche, wie alle Philosophien, nichts anderes ist als der unmittelbare Ausdruck eines bestimmten instinktiven Angleichs. Die Kritik an den höchsten Werten musste, bevor

sie durch den Antichrist Stimme und Gesicht gewann, in einer noch tieferen und fremderen Höhle ausharren. Wenigstens ist es das, was der berühmte Kritiker des Christentums in einem Brief an Reinhart von Seydlitz vom 12. Februar 1888 erklärt: „Ich bin jetzt allein, absurd allein; und in meinem unerbittlichen und unterirdischen Kampfe gegen Alles, was bisher von den Menschen verehrt und geliebt worden ist (- meine Formel dafür ist ,Umwerthung aller Werthe' -) ist unvermerkt aus mir selber etwas wie eine Höhle geworden etwas Verborgenes, das man nicht mehr findet" (KSB, 8, 248). Die ,antichristlichen' Bestrebungen, winterlich verdichtet und schweigend vergegenständlicht, hätten sozusagen ein geheimes Eigenleben in der ,Höhle', das in den deutschen Philosophen eindringt. Zweifellos einfacher und bequemer ist die Behauptung, dem Denker habe es an Scharfblick gefehlt, die für die Gesamtheit des Werkes vorgesehen Segmente der begründeten Systeme einzuteilen. Doch dies setzte einen Begriff der philosophischen Schriften voraus, den Nietzsche gewiss nicht gutheißen würde und, gleich ob man es hinreichend deutlich merkt oder nicht, genügten die im Antichrist aufgestellten Argumente ihm selbst, so dass er das Projekt der Tetralogie als für beendet erachtete. Seine Aufgabe erforderte von ihm dem Anschein nach weit mehr als das Redigieren seiner -

Geist und Fleisch gewordene, Umwerthung aller Werthe

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Projekt im Blick zu haben und sich als Vermittler von großangelegten Wertexperimenten zu sehen, müsste er vorher in die wechselhaften sensiblen und störanfälligen Alltagsbeziehungen eintauchen, in die erfinderische und anfällige MikroÖkonomie eines experimentellen Alltags. Im Laufe seines Arbeitsalltags flüchtete Nietzsche auch nicht vor der Selbstdisziplin, die Einflüsse des Verfalls in sich zu bekämpfen: „Zu einer solchen Aufgabe war mir eine Selbstdisciplin von Nöthen: Partei zu nehmen gegen alles Kranke an mir" (KSA, WA, 6, 12). Dennoch wusste er wohl, dass die natürliche Dekadenz ein unwiderlegbares physiologisches Faktum war. Gerade deshalb ließ er es sich nicht nehmen, während der langen Zeitdauer des Verfalls sein eigenes Kommen und Gehen zu bestimmen: „Eine lange, allzulange Reihe von Jahren bedeutet bei mir Genesung, sie bedeutet leider auch zugleich Rückfall, Verfall, Periodik einer Art décadence" (KSA, EH, 6, 265). Was ihn lähmte, war die ihn umgebende décadence, die instinktive Feigheit und die Wertverweichlichung einer kulturellen Konkretion, welche ihre Erhaltungsvoraussetzung in der Degenerierung hatte. So schreibt er noch: „Ich bin [...] das Kind dieser Zeit, will sagen ein décadent: nur dass ich das begriff, nur dass ich mich dagegen wehrte" (KSA, WA, 6, 11). Gegen die Dekadenz, mit der er durch die Zeitläufe verbunden war, erarbeitete er eine neue wertmässige Seinsweise und nahm sich vor, das Gegenmittel an sich selbst auszuprobieren. Er reproduzierte in sich das Schlachtfeld, das sich nach seiner Ansicht weltweit ausbreiten würde. Sicherlich eine lange und mühsame Schlacht. Hoch ist der Preis, den derjenige zu zahlen hat, der sich der décadence entgegenstellt: „Abgesehn von diesen Zehn-Tage-Werken waren die Jahre während und vor Allem nach dem Zarathustra ein Nothstand ohne Gleichen" (KSA, EH, 6, 341). Doch anders als beim typischen décadent, vermied er die ihm günstigen Salböle: „Abgerechnet nämlich, dass ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz. Mein Beweis dafür ist, unter

Positionen. Um sein

-

-

Anderem, dass ich instinktiv gegen die schlimmen Zustände immer die rechten Mittel wählte [...] Ich nahm mich selbst in die Hand, ich machte mich selbst wieder gesund"

(ebd., 266). Aber es trifft gewiss zu, dass die von der Kritik gegen die christliche Gedankenwelt durchgeführte Negation von der Größe ihrer eigenen Radikalität ist, d.h. ungeheuer. Muss man hierin lediglich eine laizistischere Form des eigenen Grolls erahnen? Schließlich sieht und begreift sich der Philosoph nicht als reiner Antipode

der christlichen Liturgie zur Form verholfen hat, d.h. als Antithese des Gekreuzigten? Zu dieser Frage möge man seinen Ausruf zur Kenntnis nehmen: „Ich bin der Antiesel par excellence und damit ein welthistorisches Unthier, ich bin, auf griechisch, und nicht nur auf griechisch, der Antichrist..." (ebd., 302). Gewiss eine eigenartige Selbsteinschätzung, welche jedoch in aller Ruhe zur Kenntnis genommen werden sollte. Das Primat der Welt der Sinne im Verhältnis zur Transzendenz zu enthüllen, ohne trotz allem den phantastischen Inhalt des Jenseits' aufzulösen, würde bedeuten, sich über dieselbe Achse zu drehen; es wäre letztlich wie ein Angriff mit starrem Blick auf ein dichotomisches Verständnis, das neben der Welt der Immanenz eine metaphysische Welt zulässt, mit der sie in ewiger Schicksalsgemeinschaft lebt. Es würde sich hierbei um zwei Punkte handeln, die auf den Extremen derselben diagonalen Linie angesiedelt wären. Und wäre das für sich allein nicht schon

dessen,

was

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Fernando de Moraes Barros

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ein

Versuch, zu beschwichtigen, was Nietzsche wirklich geschrieben hat? Gewiss. Und wenn Nietzsche, ,der Antichrist', das universelle excellence dies sich Gespenst par ist, genau deswegen so verhält, weil die Guten und Gerechten ihn sich so zurechtgezimmert haben. Nicht dass er bei seinem Angriff auf eine solche Personifizierung verzichtet hätte, er bediente sich ihrer vielmehr, aber wenn er sich nicht als reines Scheusal hinstellt, dann deswegen, weil er genausowenig danach trachtet, diesem Bild zum Opfer zu fallen. Den Titel des ersten Buches der Tetralogie, Der Antichrist, in der Form eines substantivierten Adjektivs zu verfassen, bedeutet langfristig, es zugänglicher, beweglicher und labiler zu machen. Es bedeutet zumindest, es

soll dazu bemerkt werden, dass,

den festen und kanonisch definierten Begriff, der universelle Feind der christlichen Religion, im Singular, durch einen weniger erschreckenden Begriff zu ersetzen, einen, der Pluralisierung ermöglicht und sich gegen die Christenheit als eine Gesamtheit und besonders gegen ihre laizistische Form richtet.2 Es stellt darüberhinaus einen sichtlich günstigeren Weg dar anzuzeigen, dass er dadurch, dass er seine apokalyptische Dimension einweiht, damit nicht lediglich den immanentistischen Pol der Paarbeziehung Natur/Reich Gottes stärkt und dass er genausowenig gedenkt, das Dahinfahren zur erträumten überirdischen Welt umzukehren, sondern behauptet, dass nach seiner Sicht die Welt die einzige ist, die existiert und bewohnbar ist. Es schadet nie, sich diesbezüglich an seine Haltung zu erinnern: „Die Gründe, darauf hin ,diese' Welt als scheinbar bezeichnet worden ist, begründen vielmehr deren Realität, eine andre Art Realität ist absolut unnachweisbar" (KSA, GD, 6, 78). Derjenige, der als ,Antichrist' etikettiert wird, hat durch die Verneinung, dass die Welt keinen außerhalb ihrer selbst liegenden Existenzgrund besitzt, keinen Grund mehr, aus ihren verirrendsten Aspekten Zeichen zu entnehmen, die ihn zu ihrer Verurteilung führten. Das bedeutet letztlich, dass er ohne Reue reagieren kann. Nietzsche macht so die Erfahrung, durch die erlebte Praxis ohne Groll frei zu sein: „Wer den Ernst kennt, mit dem meine Philosophie den Kampf mit den Räch- und Nachgefühlen [...] aufgenommen hat der Kampf mit dem Christenthum ist nur ein Einzelfall daraus wird weshalb ich mein persönliches Verhalten, meine Instinkt-Sicherheit in der verstehen, Praxis hier gerade an's Licht stelle" (KSA, EH, 6, 273). Genau deshalb ließ er sich während seiner ,Erlebnisse' niemals von ärgerlicher Nachtragerei auffressen; selbst dann, wenn er die Umgebung nicht mehr ertragen konnte, suchte er sich hartnäckig an sie zu halten: ,,[E]s war besser, als sie ändern, als sie veränderbar zu fühlen, als sich gegen sie aufzulehnen" (ebd., 273). Resigniert Nietzsche? Gewiss nicht: „Ich bin meiner Art nach kriegerisch. Angreifen gehört zu meinen Instinkten" (ebd., 274). Der ganze Unterschied scheint für ihn in der Art Handel zu liegen, den er mit den Angreifern ausmacht. Er sagt: „Wo man verachtet, -

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lapidare und unschätzbare Erklärung Jörg Salaquardas zur Zweideutigkeit des Wortes .Antichrist', das entweder als mythologische .Person' oder als Vielzahl von Personen verwendet

Dazu die

werden kann: „Dass die beiden verschiedenen Sachverhalte durch ein und dasselbe Wort ausgedrückt werden, ist eine Eigentümlichkeit der deutschen, bzw. genauer: der neuhochdeutschen Sprache. Alle anderen europäischen Sprachen haben, dem lateinischen ,Anti-Christus' und ,Antichristianus' folgend, zwei verschiedene Wörter" (Jörg Salaquarda, Der Antichrist, in: NietzscheStudien, Bd. 2, Berlin, New York, 1973, 96).

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nicht Krieg führen" (ebd.). Für den Philosophen ist der ein schwacher Angreifer, der sich mit der Geringschätzung und dem Kummer der anderen begnügt. Der von Rache genährte Hass des Gekränkten soll ausgeschlossen werden: ,,[I]ch greife nur Dinge an, wo jedwede Personen-Differenz ausgeschlossen ist, wo jeder Hintergrund schlimmer Erfahrung fehlt" (ebd., 275). Feind zu sein setzt nicht die Feindschaft per se voraus, sondern die Offenheit dem Gegner gegenüber. Indem Nietzsche sich als ,Retter' des Wertbereichs hinstellt, als derjenige, der ,die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke bricht, läuft er aber große Gefahr. Er könnte für etwas gehalten werden, was er nicht ist. Er beabsichtigt voller Angst, die möglichen Irrtümer hinsichtlich seiner Person ins Reine zu bringen. Und das macht er auch: „Das Letzte, was ich versprechen würde, wäre, die Menschheit zu verbessern'. Von mir werden keine neuen Götzen aufgerichtet" (ebd., 258). Dies ist jedoch eine wichtige Aufgabe, die seiner Autobiografie überlassen bleibt. Im Rahmen der ihm verbleibenden Kräfte versucht er, sein ,antichristliches' Philosophieren vor möglichen Irrtümern zu ,schützen': „Ich habe eine erschreckliche Angst davor, dass man mich eines Tags heilig spricht: man wird errathen, weshalb ich dies Buch vorher herausgebe, es soll verhüten, dass man Unfug mit mir treibt" (ebd., 365). Dadurch, dass er an sich selbst die Annahmen seiner Umwerthung erlebt und experimentiert, bleibt ihm dennoch keine andere Wahl als zuzulassen, dass die gerade entdeckten Triebe das Wort ergreifen und den Lauf seiner Schriften kontrollieren. Er kann, von den Erlebnissen gezwungen, weder den rhytmischen Wirbel beherrschen, der sich ihm aufzwängt, noch den von ihm selbst initiierten Takt der Kritik: „Unmittelbar nach Beendigung des eben genannten Werks [Götzen-Dämmerung F. M.-B.] und ohne auch nur einen Tag zu verlieren, griff ich die ungeheure Aufgabe der Umwerthung [Der Antichrist F. M.-B.] an, in einem souverainen Gefühl von Stolz, dem Nichts gleichkommt, jeden Augenblick meiner Unsterblichkeit gewiss und Zeichen für Zeichen mit der Sicherheit eines Schicksals in eherne Tafeln grabend" (ebd., 355). Starke Worte. Doch ebenso ein starkes Szenario. Wenn sich die schöpferische Tätigkeit immer kräftiger in die Richtung der eigenen Unsterblichkeit hin bewegte, so erließ ihm die umgebende Atmosphäre nichts: „Das Vorwort entstand am 3. September 1888: als ich Morgens, nach dieser Niederschrift, ins Freie trat, fand ich den schönsten Tag vor mir, den das Oberengadin mir je gezeigt hat durchsichtig, glühend in den Farben, alle Gegensätze, alle Mitten zwischen Eis und Süden in sich schliessend" (ebd., 355). Indem er alle Gegensätze zusammenhält, überraschen ihn die morgendlichen Farben. Er hält sich an die gegensätzlichsten, und der Tag öffnet sich ihm in Halbtönen. Unter dem Einfluss dieses Kammertons ließen sich auch die vor-theoretischen Gründe des Prologs für den Antichrist ,einstimmen'. Nietzsche deckt durch seine dortige Rede von einer ,neuen Musik' auf, dass er sich von einer neuen und unsichtbaren Harmonie beeinflussen ließ. Durch seine Widmung des Buches all denen, die seinen Zarathustra verstankann

man

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den haben, deutet er an, dass man sich auch dort schon keinen klaren Begriff davon machen kann, was Geist ist und was Buchstabe, da bei einem solchen Gedankenexperiment jedes Wesen Wort werden und jedes Werdende mit dem Autor sprechen lernen will.

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Fernando de Moraes Barros

Am 20. September 1888 verlässt Nietzsche Sils-Maria und begibt sich in das .trockene' Turin, dessen klimatischen locus er schon ,geprüft' hatte. Dies geschieht nicht,

ohne dass er vorher eine, wie man es ironisch nennen könnte, via crucis durchmacht: „Nach einer Reise mit Zwischenfällen, sogar mit einer Lebensgefahr im überschwemmten Como, das ich erst tief in der Nacht erreichte, kam ich am Nachmittag des 21. in Turin an, meinem bewiesenen Ort" (ebd., 355f.). Nachdem die Widerstände überwunden sind, macht er sich an die Arbeit. Nichts kann ihn mehr davon abhalten: „Ohne Zögern und ohne mich einen Augenblick abziehn zu lassen, gieng ich wieder an die Arbeit: es war nur das letzte Viertel des Werkes noch abzuthun. Am 30. September grosser Sieg; Beendigung der Umwerthung" (ebd., 356). So beendet der Philosoph das unabhängigste seiner Bücher. Doch nicht genau so. Mit der Beendigung und der Verkündigung des letzten Urteilssatzes schließt Nietzsche nicht lediglich ein Buch ab. Dabei beendet er auch das erschöpfende und nicht unterdrückbare Gefühlsdrama, das er schon monatelang aufführt. Das Hauptwerk des Philosophen kann wie jedes großartige Schauspiel nicht auf die Hauptprobe verzichten. Der Dramaturg der Umwertung will, bevor er das Stück dem Publikum vorstellt, selbst die Titelrolle spielen;3 dabei sollen die Pfade von Sils-Maria den Schauplatz abgeben und die Bühnenbeleuchtung nur das Licht der Sonne. Mit der Beendigung des Buches am 30. September 1888 gibt er lediglich bekannt, dass er für die .Première' bereit ist. Zwölf Jahre lang destilliert und häuft er etwas Entzündbares in sich an, und plötzlich soll er alles in einem Halbjahr aus sich herauslassen. Bei den erhöhten Spannungszuständen seiner Triebe könnte er sozusagen die gesamte alte Gesellschaft in die Luft jagen. Und sich selbst dazu. Aber wie das? Hat sich der Philosoph umgebracht? Sokratischer Tod? Nein: Nietzsche ist weit weg von der Haltung, den Tod als höchste und beste Tugend der Sterblichen anzusehen. Er zerstört, weil er weiß, dass genau dies die Voraussetzung dafür ist, in der Folge kontinuierlich zu schöpfen, zu erschaffen. Der in Turin zersplitterte ,antichristliche' Erlöser begreift sich dionysisch. Seine Zerstörung bezeugt im Grunde die unauflässige Weiterbildung seiner selbst. Es ist ein Zeichen des Lebens: „Es wird ewig wieder geboren und aus der Zerstörung heimkommen" (KSA,

NF, 13, 267).

tragische Held gedenkt der Philosoph sein ganzes Schicksal in der Zeit der Vollendung zu verwirklichen. Bei seiner Unternehmung gibt es kein Handeln, das nicht bis zum Ende durchgeführt würde. Nietzsche, Umwertung gewordener Körper und Blut, wandelt sich in das Hauptargument seiner letzten Unternehmung um. Er wagt als lebendiges Beispiel das Experiment, seiner Unternehmung eine körperliche Dimension hinzuzufügen. „Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften" (KSA, EH, 6, 298), sagt Nietzsche endlich. Es nimmt nicht Wunder, dass er in seiner Biografié im Gegensatz zu anderen Büchern kein gesondertes Kapitel reserviert hat, um den Antichrist zu Wie der

Dazu Daniel Conways instruktive Bemerkungen: „Although Nietzsche prefers to describe his revaluation in cognitive terms, we must be careful not to misplace its (modest) volitional component. While his insight into the truth of Christianity makes possible his statement of revaluation, it is his performative self-denotation that enacts this statement in an embodied declaration of war" (Daniel Conway, Nietzsche's dangerous game: philosophy in the twilight of the idols, New York

1997, 225).

Geist und Fleisch gewordene, Umwerthung aller Werthe

'

169

kommentieren. Er sieht ihn nicht als Buch. Er unterscheidet sich nicht von ihm. Allem Anschein nach gibt es keine Bände mehr, die der ,Umwertung aller Werte' hinzugefügt werden könnten. Ebensowenig ist das Projekt durch einen Unfall unterbrochen worden. Warum schließlich? Genie und Fleisch sind zustande gekommen. ,Ecce Nietzsche': „Umwerthung aller Werthe: das ist meine Formel für einen Akt höchster Selbstbesinnung der Menschheit, der in mir Fleisch und Genie geworden ist" (ebd., 365).

Heinrich Niehues-Pröbsting

„Welthistorischer Cynismus"?1

In Friedrich Nietzsches spätem Werk finden sich Äußerungen zum ,Cynismus', die weder an Zahl noch im Hinblick darauf besonders bemerkenswert sind, was sie unmittelbar zum Verständnis des Begriffs beitragen. Beachtung verdienen sie vielmehr dadurch, dass in ihnen der Cynismus entgegen landläufiger Auffassung positiv bewertet und sogar euphorisch bejaht wird, bis hin zur rückhaltlosen Identifikation. „Nietzsches entscheidende Selbstbezeichnung, oft übersehen, ist die eines ,Cynikers', damit wurde er, neben Marx, zum folgenreichsten Denker des Jahrhunderts", schrieb Peter Sloterdijk in seiner Kritik der zynischen Vernunft. Knapp ein Jahrhundert zuvor, noch zu Lebzeiten Nietzsches, hatte Ludwig Stein ihn als „Neo-Cyniker" bezeichnet und für seine Philosophie den Titel „Neo-Cynismus" vorgeschlagen; dabei kannte er noch nicht einmal Nietzsches späte Bekenntnisse zum Cynismus. Sind ,Cynismus' bzw. ,Neo-Cynismus' Bezeichnungen, die Nietzsches Philosophie so auf den Begriff bringen wie in vergleichbaren Fällen ,Marxismus' oder Neukantianismus'? Steins Vorschlag hat sich nicht durchgesetzt; Georg Simmel widersprach dezidiert: „Dass man in dieser Lehre einen Epikuräismus und Zynismus erblickt hat, gehört zu den wunderlichsten in der an derartigen optischen Erscheinungen nicht armen Geschichte der Moral." Auch Sloterdijk bleibt eine genauere Erklärung schuldig, worin Nietzsches so folgenreicher ,Cynismus' besteht. Der Dichotomie von Kyniker und Zyniker, die der Kritik der zynischen Vernunft zugrundeliegt, entzieht sich der Zyniker' Nietzsche schon orthographisch; aber auch der Sache nach lässt er sich weder dem einen noch dem anderen eindeutig zuordnen. Es ist nicht leicht zu sagen, was Nietzsche meint, wenn er sein Werk als ,Cynismus' ausgibt und in höchsten Tönen anpreist, selbst wenn man den Teil Provokationsrhetorik 1

2

3

4

Friedrich Nietzsche, KSA, AC, 6, 206. Peter Sloterdijk, Kritik der zynischen Vernunft, Frankfurt/M. 1983, 10. Ludwig Stein, Friedrich Nietzsche's Weltanschauung und ihre Gefahren, Berlin 1893 (zuerst in: Deutsche Rundschau, 14 und 75, Berlin 1893). Georg Simmel, Friedrich Nietzsche. Eine moralphilosophische Silhouette, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, NF, 107 (1896), 209.

172

Heinrich Niehues-Pröbsting

abrechnet, der dabei im Spiel ist. So erweist sich die Formulierung, mit der er Georg Brandes am 20. November 1888 Ecce homo ankündigt, beim genauen Lesen als keineswegs deutlich und klar. „Ich habe jetzt mit einem Cynismus, der welthistorisch werden wird, mich selbst erzählt" (KSB, 8, 482). Wem gilt hier der Cynismus? Dem Selbst der Autobiographie, so wie wenn jemand, der sich mit Humor oder Ironie darstellt, sich selbst mit Humor nimmt und die Ironie Selbstironie ist? Ist analog dazu der Cynismus von Ecce homo ,Selbstcynismus'? Gibt es das, kann es so etwas überhaupt geben? Ist das Fehlen des Wortes nicht vielmehr ein Indiz für die Unmöglichkeit des Phänomens, zumindest wenn unter .Zynismus' in landläufigem Sinne das Äußerste an spottender Verachtung, an verletzendem Spott gemeint ist? Man kann, so scheint es, nicht sich selbst moralisch so vernichten, so verachten und zugleich die komische Distanz und lachende Selbstbehauptung dabei gewinnen, die ebenfalls im Zynismus liegt. Jedenfalls gilt, wenn in Ecce homo Verachtung geäußert wird, diese nicht dem Autor, im Gegenteil. Aber vielleicht ist ,Cynismus' in jener zweiten Bedeutung gemeint, mit der sich der moderne Begriff konstituiert, der der Schamverletzung, das heißt der sexuellen Scham. Als ,cynisch' gelten im 18. Jahrhundert pornographische Darstellungen; ein ,cynischer' Blick ist ein Blick voller ,Wollust'. Eine Selbstdarstellung mit ,Cynismus' wäre demnach eine solche, in der der Autor sich in seiner Sexualität schamlos entblößt. Aber davon ist bei Nietzsche und zumal in Ecce homo nichts zu sehen, im Gegenteil: Gerade seine sexuelle Veranlagung und Praxis verschweigt der Autor. Andere physiologische Bedingungen seines Schaffens wie Ernährung und Klima stellt er betont dar, sexuelle blendet er aus, obwohl er die Sexualität für die Geistigkeit eines Menschen für außerordentlich wichtig hält. Fazit: Entweder ist der Cynismus von Ecce homo nicht der im landläufigen Sinne, oder, sollte der Begriff so gemeint sein, gilt er nicht dem Selbst. Man wird beide Möglichkeiten im Auge behalten müssen. Eine zweite Verständnisschwierigkeit liegt in folgendem: Wenn Nietzsche schreibt, er habe sich selbst mit ,Cynismus' erzählt, so deutet das, im weitesten Sinne, auf die Art und Weise der Darstellung, auf Cynismus als Stilprinzip. Das Attribut welthistorisch' dagegen verweist eher auf den Inhalt. Es ist anzunehmen, dass Nietzsche die welthistorische Auswirkung, die er von seiner Autobiographie erwartet, nicht so sehr dem Stil als gewissen Gedanken und der Programmatik beimisst. Literarische Werke mögen durch ihren Stil Literaturgeschichte machen, Weltgeschichte machen sie, wenn überhaupt, durch Ideen und Programme. Zwar ist der Gebrauch von welthistorisch' in Ecce homo wie in der späten Schaffensphase reichlich inflationär. Je näher Nietzsche dem Wahnsinn kommt, um so mehr sieht er sich und sein Schaffen in welthistorischer Dimension. Die einzige weitere Verwendung des Begriffs welthistorischer Cynismus', die sich bei ihm noch findet und die wir später zum Verständnis der auf Ecce homo gemünzten Formulierung heranziehen müssen, hat mit Stil nichts zu tun. Erneut zeigt sich der Begriff des Cynismus in einer erklärungsbedürftigen Doppeldeutigkeit. Nietzsche hat keinen definitiven Begriff des Cynismus, auch da nicht, wo er ihn für das eigene Werk reklamiert. Daher muss man, um die Frage zu beantworten, was der Cynismus für Nietzsche bedeutet, zunächst die verschiedenen Bedeutungen erfassen, in der er den Ausdruck verwendet; also Begriffsgeschichte statt -definition.



173

Welthistorischer Cynismus "?

Da ist mit dem scheinbar Äußerlichsten, der Orthographie, zu beginnen. Als im 19. Jahrhundert im Deutschen die Schreibweise ,Kyniker' aufkam, begann der zuvor einheitliche Begriff,Cynismus' sich zu differenzieren; zwei neue Worte entstanden und damit zwei neue Begriffe, der eine ausschließlich als Bezeichnung für die antike philosophische Schulrichtung, der andere, der des Zynismus, davon losgelöst, als Ausdruck für äußerst aggressiven, verachtenden Spott und Schamverletzung sowie eine entsprechende Lebenshaltung. Man konnte Kynismus und Zynismus besser unterscheiden und schließlich, wie in Sloterdijks Kritik der zynischen Vernunft, gegenüberstellen. Aber es ging auch ein Wort und damit ein Begriff, der des Cynismus, verloren, der den Zusammenhang enthält. Nietzsche hat noch die alte Schreibweise und damit den alten Begriff. Sein Cynismus ist einerseits kein bloß historisierender Neo-Kynismus; andererseits ist darin sehr viel mehr an Kynismus enthalten als in dem modernen Begriff des Zynismus. Sein Begriff des Cynismus geht aus der Rezeption kynischer Motive hervor, die er sich mit der ihm eigenen Fähigkeit der Anverwandlung zu eigen macht und aktuell übersetzt. So gelangt man auf den Spuren dieser Rezeption zu wesentlichen und zentralen Motiven seines Werkes. Nietzsches Verständnis von Cynismus hat die entscheidende Richtung früh durch die Beschäftigung mit dem antiken Kynismus erhalten. Dabei gilt das philologische Interesse primär dessen literarischer Seite, dem neuen und eigenartigen Stilprinzip, das die Kyniker in die griechische Literatur einführen. Nach dem spezifisch kynischen Stil im Unterschied zu dem der Sokratiker fragt Nietzsche in einem Entwurf für die Bewerbung um die Professur in Basel; „was unterscheidet die cynische Schriftstellerei von der des Aeschines? Ja selbst wodurch unterscheidet sich eine Schrift des Menipp von einer antisthenischen? Was ist, mit anderen Worten, jene Philosophie in der Hanstwurstjacke, welche Bion der Cyniker aufbrachte?"5 Die wichtigsten Merkmale hatte er zuvor schon genannt: Die Kyniker missachten das ältere Gesetz der einheitlichen Form und mischen die Stile; „sie übersetzten gleichsam Sokrates in ein litterarisches genus, sammt dem Satyrgehäuse und dem Gott darin. Also sind sie die Humoristen des Alterthums geworden". In der Geburt der Tragödie sieht er die kynische Stilmischung als die Radikalisierung jener Tendenz, die schon Piaton mit seinem sokratischen Dialog verfolgt; mit ihr vollendet sich die Zerstörung der Tragödie. Der ,naive Cynismus' gegenüber der Tragödie, den Nietzsche bei Sokrates konstatiert, wird literarisch reflektiert. Wie Diogenes als der Sokrates mainomenos, der „rasende Sokrates", sich zu Sokrates, so verhält sich die kynische Literatur zum platonischen Dialog. (KSA, GT, 1, 93). Noch in der späten Götzen-Dämmerung kommt er darauf zurück: „Plato wirft, wie mir scheint, alle Formen des Stils durcheinander, er ist damit ein erster décadent des Stils: er hat etwas Ähnliches auf dem Gewissen, wie die Cyniker, die die satura Menippea erfanden" (KSA, GD, 6, 155). Der kynische Stil mischt Prosa und Poesie, er mischt Scherz und Ernst. Kynischer Humor und Scherz, so Nietzsche in den -

die Geschichte der griechischen Literatur (KGW, II 5, 219f), sind allem Parodie und Spott: Dichter- und Tragödienparodie, Hohn und Spott auf die Physiker, Mathematiker und Grammatiker, Verspottung von Philosophen.

Vorlesungen über vor

'

Friedrich Nietzsche, 1913, 387f.

Philologica

3

(Werke 19), hg.

von

Otto Crusius, Wilhelm Nestle,

Leipzig

Heinrich Niehues-Pröbsting

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Niemandem, der Nietzsches Charakterisierung des kynischen Stilprinzips aufmerkliest, kann die Affinität zu seinem eigenen Stil und dessen Programmatik entgehen. Auch er mischt die Stile, Prosa und Poesie, Ernst und Scherz, nachdem er sich von der sam

Phase der Geburt der Tragödie verabschiedet hat. Der Standpunkt der Komik, der Parodie, des Narrentums wird als literarisches Prinzip nachdrücklich in der Fröhlichen Wissenschaft geltend gemacht, wo er das Tragische relativiert. In der Vorrede kündigt der Autor das Werk und sein weiteres Schaffen an: „,Incipit tragoedia' heißt es am Schlüsse dieses bedenklich-unbedenklichen Buchs: man sei auf seiner Hut! Irgend etwas ausbündig Schlimmes und Boshaftes kündigt sich an: incipit parodia, es ist kein Zweifel" (KSA, FW, 3, 346). Die Parodie auf die Schlussverse von Faust II im Anhang der Fröhlichen Wissenschaft liefert die ontologisch-anthropologische Begründung für die literarische Verknüpfung von tragischem Ernst und parodistischem Scherz: Das „herrische Weltspiel" und „das Ewig-Närrische" gehen zusammen; daraus resultiert die Menschenwelt. Das menschliche Schicksal ist tragisch und komisch zugleich. In der Fröhlichen Wissenschaft verbündet sich „das Lachen mit der Weisheit", um „die Komödie des Daseins" bewusst zu machen und die immer noch andauernde „Zeit der Tragödie, die Zeit der Moralen und Religionen" (ebd., 370) zu beenden. Das Lachen gehört so sehr zur Weisheit, dass Nietzsche, philosophischer Verachtung des Lachens zum Trotz, eine „Rangordnung der Philosophen" erwägt, ,je nach dem Range ihres Lachens bis hinauf zu denen, die des goldenen Lachens fähig sind" (KSA, JGB, 5, 236). Kein Zweifel, dass in dieser Rangordnung die Kyniker, die .Humoristen des Altertums', ganz weit oben ständen. Das ,olympische Laster' des Lachens ist Vorzug der griechischen Götter vor dem christlichen Gott, der weder als Vater noch als Mensch gewordener Sohn lacht. Dagegen ist Nietzsches Gott Dionysos vom Satyr und damit vom Lachen nicht zu trennen. Von Heimich Heine sagt Nietzsche in Ecce homo: „Er besass jene göttliche Bosheit, ohne die ich mir das Vollkommne nicht zu denken vermag, ich schätze den Werth von Menschen, von Rassen darnach ab, wie nothwendig sie den Gott nicht abgetrennt vom Satyr zu verstehen wissen." (KSA, EH, 6, 286) Vollkommenheit nicht ohne ,göttliche Bosheit': das ist ein Hinweis auf den Cynismus als Stilideal Nietzsches. Der prominenteste Gegenstand der Parodie ist bei Nietzsche das Christentum. Der Zarathustra ist ein Amalgam aus Pathos und Parodie, „seinem Sprachstil nach, eine durchgängige Parodie und konkret literarisch gesprochen eine Parodie auf das christliche Evangelium".6 Auch wenn das parodierende Verfahren hier mehr Pathos als Spott erzeugt, so fehlt dieser doch nicht, wie das Eselsfest mit seiner kaum überbietbaren Blasphemie zeigt. Zynische Blasphemie bzw. blasphemischer Zynismus ist schließlich auch die Parodie im Titel Ecce homo, was über der Gewöhnung an den Titel und das verblassende Bewusstsein vom biblischen Ursprung des Wortes leicht vergessen wird. Wie bei den Kynikern ist bei Nietzsche die Komik polemisch; das Lachen ,boshaft' und -

-

-

-

-

,spöttisch'. Als er Georg Brandes Ecce homo als welthistorischen Cynismus' ankündigt, der, es sei ihm merkwürdig, dass der polemische Zug in Nietzsche noch so

antwortet

stark sei. Im Werk selber charakterisiert Nietzsche sich als Polemiker: „Ich bin meiner 6

Beda Allemann, Nietzsche und die Steffen, Göttingen 1974, 54.

Dichtung,

in: Nietzsche. Werk und

Wirkungen, hg.

von

Hans



Welthistorischer Cynismus "?

175

Art nach kriegerisch. Angreifen gehört zu meinen Instinkten" (ebd., 274). Nicht zuletzt war das Buch für ihn ein Experiment, wieviel er sich an freizügiger Polemik herausnehmen konnte; er testete, kynisch gesprochen, seine Parrhesie. Den Ausdruck, der im Kynismus das Ideal freizügiger Rede bezeichnet, hat Jacob Burckhardt als abenteuerlich böses Maul' eingedeutscht; Nietzsche spricht vom ,losen Maul' des Kynikers. Wie stark bei Nietzsche die Affinität zu der komischen, satirischen Seite des Kynismus ist, verrät die Rolle, die er sich mmer häufiger zulegt: die des Satyrn, des Narren, Hanswurst und Possenreißers. Der Narr und der Heilige, heißt es einmal, seien die interessantesten Gestalten; in ihnen personifiziert sich der Gegensatz von Tragik, Moral und Religion einerseits sowie Komödie und Lachen andererseits. In Ecce homo weist Nietzsche wiederholt die Rolle des Heiligen ab. Er will auf keinen Fall im Ruch moralischer Tugendhaftigkeit stehen: „ich zöge vor, eher noch ein Satyr zu sein als ein Heiliger" (ebd., 258), „Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst Vielleicht bin ich ein Hanswurst" (ebd., 365). Die Vorstellung verfolgt ihn bis in den Wahnsinn. Franz Overbeck schildert, wie er ihn unmittelbar nach dem Zusammenbruch angetroffen hat: „im ganzen überwogen die Äußerungen des Berufs, den er sich selbst zuschrieb, der Possenreißer der neuen Ewigkeiten zu sein".8 ,Possenreißer ohne Scham' oder wissenschaftlicher Satyr' heißt bei ihm der ,Cyniker'; der antike Kynismus ist, wie erwähnt, ,Philosophie in der Hanswurstjacke'. Das literarische Verständnis des Cynismus hält sich von der frühen Interpretation des antiken Kynismus bis in die letzten Werke und die späten Bekenntnisse zum Cynismus durch. Das wird an einer Formulierung aus Ecce homo viel deutlicher noch als an der zitierten brieflichen über das Werk. Dort charakterisiert Nietzsche seine eigenen Schriften: „Es gibt durchaus keine raffiniertere Art von Büchern sie erreichen hier und da das Höchste, was auf Erden erreicht werden kann, den Cynismus" (ebd., 302). Diese absolute Hochschätzung des Cynismus hat noch andere Voraussetzungen als das Vorbild des antiken Kynismus; darauf muß ich kurz eingehen. Der Kynismus hatte für Nietzsche Aspekte, die die Formulierung ,das Höchste, was auf Erden erreicht werden kann' nicht zuließen. Das war zum einen die niedere Herkunft der Kyniker, die nicht selten Sklaven waren; den soziologischen Hintergrund betont Nietzsche auffällig in seinen philologischen Arbeiten. Noch die Formulierung aus Jenseits von Gut und Böse, „Cynismus ist die einzige Form, in welcher gemeine Seelen an Das streifen, was Redlichkeit ist" (KSA, JGB, 5, 44), setzt diesen Hintergrund voraus: Cynismus ist genuin eine Äußerungsform .gemeiner Seelen'. Diese Form kann aber als Maske benutzt werden von .vornehmen' Seelen, die dahinter ihre Verletzlichkeit und Verletztheit verbergen: „Es giebt freie freche Geister, welche verbergen und verleugnen möchten, dass sie zerbrochene stolze unheilbare Herzen sind; und bisweilen ist die Narrheit selbst die Maske für ein unseliges allzugewisses Wissen" ...

-

(ebd., 226).

Vor allem die

ner

8

von

Vorliebe für den

geschätzte französische Literatur ist es, die Nietzsche in seiCynismus bestärkte. Dazu zählen die Moralisten, allen voran

ihm

Brief an Peter Gast vom 30. Oktober 1888: „ich möchte gern einmal eine Probe machen, bei den deutschen Begriffen von Preßfreiheit eigentlich risquiren kann" (KSB, 8, 462). Brief an Peter Gast vom 15. 1. 1889 (ebd., 231 f.).

was

ich

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176

Eyquem de Montaigne; aber auch die neuere, psychologisch elaborierte LiteraEindruck, den er aus Presseberichten über die Zusammenkünfte der führenden Literaten und Intellektuellen gewinnt: „Exasperirter Pessimismus, Cynismus, Nihilismus, mit viel Ausgelassenheit und gutem Humor abwechselnd; ich selbst gehörte gar nicht übel hinein" (KSB, 8, 192). Diese Literaten, Saint-Beuve, Flaubert, die Brüder de Goncourt, Hippolyte Taine, Turgenjew u.a., wären der angemessene Umgang für ihn, den er im deutschen Geistesleben so sehr vermisst. Doch hat Nietzsche selbst bei dieser „geistreichsten und skeptischsten Bande Michel

tur eines Stendhal. Aufschlussreich der

der Pariser Geister" einen bezeichnenden Vorbehalt: „ich kenne diese Herren auswendig, so sehr daß ich sie eigentlich bereits satt habe. Man muß radikaler sein: im Grunde fehlt es bei allen an der Hauptsache ,1a force'" (ebd.). Im Cynismus der französischen Intellektuellen manifestiert sich auf geistreichste Weise der Nihilismus, das macht ihn schätzenswert. Aber er bleibt auch darin stecken; es ist ein Cynismus der Dekadenz. Als lähmendes Spätzeit-Bewusstsein hatte er den Cynismus schon in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung diagnostiziert: durch ein Übermaß an Historie „geräth eine Zeit in die gefährliche Stimmung der Ironie über sich selbst und aus ihr in die noch gefährlichere des Cynismus: in dieser aber reift sie immer mehr einer klugen egoistischen Praxis entgegen, durch welche die Lebenskräfte gelähmt und zuletzt zerstört werden" (KSA, HL, 1, 279). Der von Nietzsche schließlich bejahte Cynismus dagegen ist eine Haltung, die die Dekadenz überwunden hat, ein Cynismus der Stärke, wie es in einem Nachlassfragment der achtziger Jahre zum Ausdruck kommt. Nietzsche kritisiert die Fixierung zeitgenössischer Psychologen auf Phänomene der Dekadenz; man sehe „immer nur die schwächenden, verzärtelnden, verkränkelnden Wirkungen des Geistes; aber es kommen nun die Cyniker/ neue Barbaren: die Versucher: Vereinigung der geistigen Überlegenheit mit Wohlbefinden/ die Eroberer/ und Überschuss von Kräften." Damit wird der Cyniker gewissermaßen zu einer Gestalt des -

Übermenschen.

Was hat der bejahende, barbarische Cynismus noch mit dem Kynismus zu tun? Wie kommt der Wandel von diesem zu jenem zustande? Um die Frage zu beantworten, muss ich den zweiten Vorbehalt ansprechen, den Nietzsche gegenüber dem Kynismus hat; damit gehe ich zu dem über, was Cynismus bei ihm jenseits des literarischen Aspektes programmatisch und inhaltlich bedeutet. Der antike Kynismus ist, so kennt ihn die Philosophiegeschichte, eine bestimmte Ausprägung der sokratischen Moral, eine radikale Form sokratischer Tugend- und Glücksethik, eine der philosophischen Lebensformen des Hellenismus neben Stoizismus, Epikureismus und Skepsis. Als solchem begegnet ihm Nietzsche im Grunde mit derselben Ambivalenz, die er dem Sokratismus und den von ihm ausgehenden Schulen entgegenbringt: Er kritisiert prinzipiell deren Moralismus und „garstige Prätension auf Glück", was aber die gleichzeitige Schätzung und sogar Aneignung ihrer Lebensklugheit nicht ausschließt. Für beide Haltungen lediglich jeweils ein Beleg, zunächst die Kritik: „Wir finden von Anfang der griechischen Philosophie an einen Kampf gegen die Wissenschaft, mit den Mitteln einer Erkenntnistheorie, resp. Skepsis: und wozu? Immer zugunsten der Moral (Der Haß gegen die Physiker und Ärzte.) Sokrates, Aristipp, die Megariker, die Cyniker, Epikur, ...

9

Friedrich Nietzsche, Werke (GOA),

Leipzig 1905ff, Bd. 16, 307.



Welthistorischer Cynismus "?

177

Pyrrho General-Ansturm gegen die Erkenntnis zugunsten der Moral ..." Über den sokratisch-moralischen Kynismus und seinen wohlfeilen Eudämonismus spottet Nietzsche: „Nothdurft ist billig, Glück ist ohne Preis:/ drum sitz' ich statt auf Gold auf meinem Steiss." Andererseits dient ihm die kynische Autarkie qua Bedürfnislosigkeit, die kynische Selbstgenügsamkeit als Selbstbehauptung in jener Lebenskrise, die er Ende der siebziger Jahre durchmacht und aus der das erste Aphorismenbuch hervorgeht. Über die Befindlichkeit zur Zeit der Entstehung von Menschliches, Allzumenschliches schreibt er im Rückblick: „Thatsächlich ein Minimum von Leben, eine Loskettung von allen gröberen Begehrlichkeiten, eine Unabhängigkeit inmitten aller Art äusserer Ungunst, sammt dem Stolze, leben zu können unter dieser Ungunst; etwas Cynismus vielleicht, etwas ,Tonne'" (KSA, MA-1, 2, 375): Kynismus als (/¿erlebensprinzip. Um zu seiner späten Identifikation mit dem Cynismus zu kommen, müsste Nietzsche den Begriff ohne die moralische Dimension der sokratischen Tugendethik konzipieren, Cynismus weder als Moral noch als nihilistisch-dekadenter Defätismus. Ein entscheidender Schritt dahin ist der wiederholt angesprochene Aphorismus 26 aus Jenseits von Gut und Böse. Darin figuriert der Cynismus als der ,kurze Weg' zur Erkenntnis der „Regel ,Mensch'" (KSA, JGB, 5, 43). Der vornehme Mensch, so heißt nicht ohne zynische Misanthropie, erleide Ekel im Verkehr mit den gewöhnlichen Menschen und verabscheue deswegen den Umgang mit ihnen. Um der Erkenntnis des Menschen -

willen aber müsse er seine Abscheu überwinden. „Das Studium des durchschnittlichen Menschen, lang, ernsthaft, und zu diesem Zwecke viel Verkleidung, Selbstüberwindung, Vertraulichkeit, schlechter Umgang jeder Umgang ist schlechter Umgang

dem mit Seines-Gleichen -: das macht ein nothwendiges Stück der Lebensgeschichte jedes Philosophen aus, vielleicht das unangenehmste, übelriechendste, an Enttäuschungen reichste Stück. Hat er aber Glück, wie es einem Glückskinde der Erkenntniss geziemt, so begegnet er eigentlichen Abkürzern und Erleichterern seiner Aufgabe ich meine sogenannten Cynikern, also Solchen, welche das Thier, die Gemeinheit, die ,Regel' an sich einfach anerkennen und dabei noch jenen Grad von Geistigkeit und Kitzel haben, um über sich und ihres Gleichen vor Zeugen reden zu müssen: mitunter wälzen sie sich sogar in Büchern wie auf ihrem eigenen Miste" (ebd., 44). Der Cyniker demonstriert die „Regel ,Mensch'" und erspart dadurch dem philosophischen Anthropologen, diese Regel unter der Tünche moralischer Heuchelei und Entrüstung entdecken zu müssen. Die Moral ist nicht die Regel, wie die idealistische Anthropologie es will, sondern die animalische und egoistische Bedürfnisnatur: „Und wo nur Einer ohne Erbitterung, vielmehr harmlos vom Menschen redet als von einem Bauche mit zweierlei Bedürfhissen und einem Kopfe mit Einem; überall wo Jemand immer nur Hunger, Geschlechts-Begierde und Eitelkeit sieht, sucht und sehn will, als seien es die eigentlichen und einzigen Triebfedern der menschlichen Handlungen; kurz, wo man schlecht' vom Menschen redet und nicht einmal schlimm -, da soll der Liebhaber der -

ausser

-

-

,

Erkenntniss fein und fleissig hinhorchen" (ebd., 45). Cynismus ist die bewusste und demonstrative Reduktion des Menschen auf seine animalische Natur; er ist überall dort präsent, wo der Geist lediglich dazu dient, diese Natur zu demonstrieren, und nicht -

10 11

Friedrich Nietzsche, Werke III, hg. von Karl Schlechta, München 1966, 735f. „Aus der Tonne des Diogenes" (GOA, 8, 363).

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zu konzipieren. Nietzsche führt eine Reihe von Gestalten an, in denen sich der Cyniker und der Cynismus realisieren: der „lachende und selbstzufriedene Satyr", der antike Prototyp gewissermaßen; der literarische Cynismus; dann der Fall, „wo an einen solchen indiskreten Bock und Affen, durch eine Laune der Natur, das Genie gebunden ist, wie bei dem Abbé Galiani, dem tiefsten, scharfsichtigsten und vielleicht auch schmutzigsten Menschen seines Jahrhunderts"; schließlich der wissenschaftliche Cynismus, bei dem „der wissenschaftliche Kopf auf einen Affenleib, ein feiner Ausnahme-Verstand auf eine gemeine Seele gesetzt ist unter Ärzten und Moral-Physiologen namentlich kein seltenes Vorkommnis" (ebd., 43ff). Cynismus bedeutet, das ist schon ganz der moderne Begriff, die bewusste Verweigerung einer moralischen Einstellung und ihre Substitution durch ein anderes Bewusstsein, ein komisches, ästhetisches, genial-witziges, wissenschaftliches. Dieser Cynismus gewinnt nun bei Nietzsche in dem Maße an Bedeutung, in dem bei ihm der Kampf gegen das Christentum an Schärfe zunimmt und ins Zentrum seiner literarischen Aktivitäten rückt. Er bekämpft das Christentum als Moral, und zwar nicht vom Standpunkt einer anderen Moral aus, sondern von außerhalb der Moral, Jenseits von Gut und Böse'. Eine solche Position liefert ihm der Cynismus und dazu die Schärfe seiner polemischen Mittel. Dass sein welthistorischer Cynismus' gegen das Christentum gerichtet ist, sagt Nietzsche explizit in dem zitierten Brief an Brandes unmittelbar anschließend an diese Formulierung: „Das Buch heißt ,Ecce homo1 und ist ein Attentat ohne die geringste Rücksicht auf den Gekreuzigten; es endet in Donnern und Wetterschlägen gegen Alles, was christlich oder christlich-infekt ist, bei denen Einem Sehn und Hören vergeht. Ich bin zuletzt der erste Psychologe des Christenthums und kann, als alter Artillerist, der ich bin, schweres Geschütz vorfahren, von dem kein Gegner des Christenthums auch nur die Existenz vermuthet hat. Das Ganze ist das Vorspiel der Umwerthung aller Werthe, des Werks, das fertig vor mir liegt: ich schwöre Ihnen zu, daß wir in zwei Jahren die ganze Erde in Convulsionen haben werden. Ich bin ein

dazu, eine die animalische Natur verleugnende Moral

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Verhängniß" (KSB 8, 482). Nun waren der Kampf und selbst der Zynismus gegen das Christentum nichts Neues; die Aufklärer hatten sich darin betätigt. Das Christentum war seinerzeit schon erschöpft und zermürbt, wie Nietzsche 1873 in einer Reflexion zur geistigen Lage der Zeit konstatiert: „Alle Möglichkeiten des christlichen Lebens, die ernstesten und lässigsten, die harm- und gedankenlosesten und die reflectirtesten sind durchprobirt, es ist Zeit zur Erfindung von etwas Neuem oder man muss immer wieder in den alten Kreislauf gerathen: freilich ist es schwer, aus dem Wirbel herauszukommen, nachdem er uns ein paar Jahrtausende herumgedreht hat. Selbst der Spott, der Cynismus, die Feindschaft gegen das Christentum ist abgespielt; man sieht eine Eisfläche bei erwärmtem Wetter, überall ist das Eis zerrissen, schmutzig, ohne Glanz, mit Wasserpfützen, gefährlich. Da scheint mir nur eine rücksichtsvolle, ganz und gar ziemliche Enthaltung am Platze: ich ehre durch sie die Religion, ob es schon eine absterbende ist. Mildern und beruhigen ist unser Geschäft, wie bei schweren hoffnungslosen Kranken; nur gegen die schlechten, gedankenlosen Pfuscher-Ärzte (die meistens Gelehrte sind) muss protestirt werden. Das Christenthum ist sehr bald für die kritische Historie, d.h. für die Section reif."12 -

12

GOA, 10,289f.



Welthistorischer Cynismus "?

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Warum hat Nietzsche die proklamierte ,rücksichtsvolle, ganz und gar ziemliche Enthaltung' gegenüber dem Christentum aufgegeben und durch den welthistorischen Cynismus' ersetzt? Er war wohl doch persönlich stärker durch die christliche Moral, vor allem die seines Elternhauses, betroffen, als dass er jene souveräne Gelassenheit hätte walten lassen können; mir jedenfalls ist es nicht möglich, die Passage über die unterirdische Werkstatt christlicher Ideale in der Genealogie zu lesen, ohne den Ekel und Hass dessen zu spüren, der die Heuchelei eines solchen christlichen Tugendidealismus am eigenen Leibe erfahren hat. Dann fehlte die Geduld, das Christentum der kritischen Historie zu überlassen. Schließlich sah Nietzsche, je mehr er sich mit den Folgen des Christentums beschäftigte, dass noch die bisherigen Gegenpositionen in dem .Wirbel' eingeschlossen waren. Der Atheismus hatte die Konsequenzen nicht sehen wollen, die aus dem Ende des Christentums für die Menschheit resultieren; der Cynismus war defätistisch, ohne la force. So wiederholte ihn Nietzsche avec la force, um ,aus dem Wirbel herauszukommen'. Bezeichnend die Sprengmetaphorik, zu der er greift: „Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit" (KSA, EH, 6, 365). „Dies Mal führe ich, als alter Artillerist, mein großes Geschütz vor: ich fürchte, ich schieße die Geschichte der Menschheit in zwei Hälften aus einander" (KSB, 8, 453). Zwei für seine Auseinandersetzung mit dem Christentum zentrale Gedanken hat Nietzsche im Rückgriff auf genuin kynisches Bild- und Ausdrucksmaterial formuliert. Zu den bekanntesten Diogenes-Anekdoten gehört die, in der der Kyniker am hellen Tage mit angezündeter Laterne auf dem Markplatz Menschen sucht. Das Motiv erfreut sich in der frühen Neuzeit besonderer Beliebtheit; es steht für kritische Menschenprüfung, Anliegen der Moralisten, und dann für Aufklärung. Nietzsche eignet sich die Anekdote für beide Intentionen an. In Menschliches, Allzumenschliches fragt er nach dem „modernen Diogenes": „Bevor man den Menschen sucht, muss man die Laterne gefunden haben. Wird es die Laterne des Cynikers sein müssen?" (KSA, MA, 2, 553). Als Antwort auf diese Frage kann der Aphorismus 26 Jenseits von Gut und Böse mit seiner Aussage über ,die Regel Mensch' verstanden werden. Dann aber hat Nietzsche die Anekdote in einer grandiosen Übersteigerung zum Medium der Aufklärung über den Tod Gottes gemacht: „Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ,Ich suche Gott! Ich suche Gott!'" (KSA, FW, 3, 480). Der moderne Diogenes sucht vergeblich Gott statt Menschen. Noch die Bezeichnung dieser Aufklärungsgestalt als ,toller Mensch' rührt aus dem Kynismus: Diogenes ist der Sokrates mainomenos, der toll gewordene Sokrates. Es gehört zum Typ des Kynikers, dass er einerseits durch seinen Witz Gelächter erzeugt, andererseits aber aufgrund seines paradoxen, exaltierten und schamlosen Auftretens Befremden erregt und für verrückt erklärt wird, dass man über ihn lacht. So lässt es auch Nietzsche seinem ironisch-satirischen Aufklärer ergehen: Er wird verlacht. Die Umstehenden antworten mit Ironie, und als der ,tolle Mensch' ernst wird, reagiert die Menge mit Befremden. Nietzsche überbietet die Vorlage dadurch, dass seine Figur nicht wie ihr Vorbild sich revanchiert nach dem Motto: wer zuletzt lacht, lacht am besten. Der ,tolle Mensch', dem der Ernst seiner Botschaft vom Tod Gottes nicht erlaubt, in der Ironie der Ausgangsgebärde zu verharren, scheitert am Unverständnis seiner Zuhörer und wird tatsächlich verrückt; -

Heinrich Niehues-Pröbsting

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flieht vor dem Unverständnis in die Verdunkelung des Verstandes „und bisweilen ist die Narrheit selbst die Maske für ein unseliges allzugewisses Wissen" (KSA, JGB, 5, 226). Zum überkommenen Rahmen der Diogenes-Anekdote erfindet Nietzsche ein dort nicht vorhandenes Motiv hinzu: die Zertrümmerung der Laterne. „Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an: auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne zu Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch" (KSA, FW, 3,481). In der Erzählung Der tolle Mensch gehen Ironie, Satire und ein nahezu heiliger Ernst angesichts der Konsequenz, die sich aus dem Tod Gottes für die Menschen ergibt, ineinander über. Entsprechend ist der Stil Parodie und Predigt zugleich. Zum IronischSatirischen gehört neben dem leitmotivischen Zitat der Kynikerfigur die Parodie der christlichen Verkündigung und des Totenritus: „Man erzählt noch, dass der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur diess entgegnet: ,Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind'" (ebd., 482). Auf erschreckende Weise wiederholt sich die Affinität von Cynismus und Wahnsinn, die in der Erzählung vom ,tollen Menschen' zum Ausdruck kommt, in Nietzsches Biographie. In einem Brief an Reinhart von Seydlitz aus dem letzten Schaffensjahr schildert er eine merkwürdige Phantasie: „Gestern dachte ich mir ein Bild aus von einer moralité larmoyante, mit Diderot zu reden. Winterlandschaft. Ein alter Fuhrmann, der mit dem Ausdruck des brutalsten Cynismus, härter noch als der Winter ringsherum, sein Wasser an seinem eigenen Pferde abschlägt. Das Pferd, die arme geschundene Creator, blickt um sich, dankbar, sehr dankbar" (KSB, 8, 314). Kaum ein dreiviertel Jahr später, am 3. Januar 1889, erlebt Nietzsche die Fiktion als Realität: Als er sieht, wie auf dem Platz vor seinem Turiner Quartier ein alter Droschkengaul von dem Kutscher misshandelt wird, fällt er der ,geschundenen Kreatur' weinend um den Hals. Die Szene wurde von seiner Umgebung später als das erste Anzeichen für den Ausbruch des Wahnsinns erinnert. Der andere zentrale Gedanke, den Nietzsche im Rückgriff auf kynisches Bild- und Ausdrucksmaterial formuliert, ist der der ,Umwertung der Werte'; die Formulierung selber hat ihr Vorbild in dem kynischen paracharattein to nomisma, dem ,Umprägen der Münze'. Das ist die Metapher dafür, dass der Kyniker das geltende Gesetz (nomos) durch das Gesetz der Natur (physis) ersetzt. Diese Metapher ist dann zu den Erzählungen fortgesponnen worden, dass Diogenes tatsächlich ein Münzfälscher gewesen sei und deswegen seine Heimatstadt Sinope habe verlassen müssen. Davon existierten zahlreiche Varianten, die am Anfang der Diogenes-Vita bei Diogenes Laertius heillos durcheinander gehen. Zwar gibt Nietzsche nirgendwo die kynische Metapher explizit als Quelle seiner Formulierung aus, und deswegen lässt sich die Abhängigkeit nicht mit letzter Gewissheit beweisen; aber eine Reihe von Gründen verleiht der Vermutung einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit. Zunächst einmal musste er die Metapher von seiner philologischen Beschäftigung mit der Literatur der Kyniker und seinen ausgedehnten Studien zu den Quellen des Diogenes Laertius kennen. Dann ist es auffällig, dass die Formel von der ,Umwertung der Werte' bei Nietzsche mit einer Metapher er

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Welthistorischer Cynismus "?

korrespondiert, die in den späten Werken die vielleicht am häufigsten verwendete polemische Vokabel ist, die der Falschmünzerei. Falschmünzer sind allesamt die, gegen die sich seine späten Polemiken und sein Cynismus richten, allen voran die christlichen Theologen, aber auch Wagner und die idealistischen Philosophen. Die Beispiele im Zusammenhang mit dem Christentum zeigen deutlich, dass die Vorwürfe der Falschmünzerei in der Zeit kulminieren, in der Nietzsche sein Werk als Cynismus stilisiert. Ich führe nur einige prägnante Beispiele an. Paulus: „dieser Falschmünzer aus Hass" (KSA, AC, 6, 216); die Evangelien: „diese Wort- und Gebärden-Falschmünzerei als Kunst" (ebd., 219); „dieses Erbstück des Priesters; die Falschmünzerei vor sich selbst" (ebd., 178). Blindheit vor der christlichen Moral ist „Falschmünzerei in psychologicis bis zum Verbrechen" (KSA, EH, 6, 371). Hier begegnet die Münzmetaphorik im Zusammenhang mit dem Wertbegriff, also explizit in jener Bedeutung, die die antike Formel in der Mehrdeutigkeit von nomisma enthält, die im Deutschen nicht durch ein Wort wiedergegeben werden kann: ,^4lle Begriffe der Kirche sind erkannt als das, was sie sind, als die bösartigste Falschmünzerei, die es giebt, zum Zweck, die Natur, die Natur-Werthe zu entwerthen" (KSA, AC, 6, 210). Die ,Umwertung der Werte' macht eine vorgängige Falschmünzerei', die Verfälschung der Natur und der Naturwerte, rückgängig. Das war auch die Intention des Kynikers: Er prägt die durch Tradition überkommenen und verkommenen Gesetze und Sitten um. Wie dies auf Diogenes als Vorwurf der Falschmünzerei zurückschlug, so

sieht auch Nietzsche denselben Vorwurf auf sich zukommen. In einem Brief an Brandes erklärt er die Formel ,Umwertung der Werte' mit der einschlägigen Münzmetaphorik: „Diese Woche habe ich dazu benutzt, Werthe umzuwerthen Sie verstehen diesen Tropus? Im Grunde ist der Goldmacher die verdienstlichste Art Mensch, die es giebt: ich meine der, welcher aus Geringem, Verachtetem etwas Werthvolles und sogar Gold macht. Dieser allein bereichert, die andern wechseln nur um. Meine Aufgabe ist ganz kurios dies Mal: ich habe mich gefragt, was bisher von der Menschheit am besten gehaßt, gefürchtet, verachtet worden ist: und daraus gerade habe ich mein ,Gold' gemacht" (KSB, 8, 318) Unmittelbar darauf folgt ein Verdacht, mit dem sich Nietzsche in die Anekdote vom Falschmünzer Diogenes versetzt: „Daß man mir nur nicht Falschmünzerei vorwirft! Oder vielmehr; man wird es thun.-" (ebd.). Die Assoziation der Formel ,Umwertung der Werte' mit dem Begriff des ,Cynismus' verrät sich auch in jenem Brief an Brandes, in dem er Ecce homo ankündigt: der welthistorische Cynismus' des Werkes liegt in der Kriegserklärung an das Christentum und der damit begonnenen .Umwertung aller Werte'. Diese Formel ist so sehr mit dem Begriff des Cynismus assoziiert, dass Nietzsche ihn gewissermaßen formal für Umwertung der Werte' verwendet. So ist für ihn die spätere Entwicklung der christlichen Kirche die völlige Verkehrung der ursprünglichen Botschaft Jesu; sie ist ein welthistorischer Cynismus': „Dies Alles ist man vergebe mir den Ausdruck die Faust auf dem Auge oh auf was für einem Auge! des Evangeliums; ein welthistorischer in der des Cynismus Verhöhnung Symbols" (KSA, AC, 6, 206), das heißt der Gestalt Jesu, die für Nietzsche ein Idiot im Sinne Fjodor Dostojewskis ist. Die Verkehrung der ursprünglichen Botschaft des Evangeliums lastet Nietzsche vor allem dem Apostel Paulus an, dem er den „Logiker-Cynismus eines Rabbiners" (ebd., 218) attestiert. '

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Heinrich Niehues-Pröbsting

Der Kampf gegen das Christentum und die damit einhergehende ,Umwertung aller Werte' macht, so sieht es Nietzsche, seinen Cynismus welthistorisch'. Die Größe der Intention adelt den Cynismus und hebt ihn aus den Niederungen der ,gemeinen Seelen' empor, in denen ihn noch der Aphorismus aus Jenseits von Gut und Böse angesiedelt hatte. Der Cynismus ist nicht mehr nur Maske, sondern der Stil des Großen und Vornehmen: „Grosse Dinge verlangen, dass man von ihnen schweigt oder gross redet: gross, das heisst cynisch oder mit Unschuld" Diese Maxime, die die Herausgeber an den Anfang des Willens zur Macht gesetzt haben, stände ebenso gut über Ecce homo. Denn sie erklärt, wie der Cynismus der Selbstdarstellung auch auf das Selbst bezogen werden kann; dann bedeutet er dessen Darstellung ,mit Unschuld', das heißt ohne moralische Begriffejenseits von Gut und Böse. So charakterisiert sich Nietzsche selbst; er verweigert moralische Kategorien, um sich darzustellen, und das unterscheidet seine Autobiographie von der Tradition autobiographischer Bekenntnisse eines Augustinus und eines Jean-Jacques Rousseau sowie christlicher Selbsterforschung. Damit haben wir die verschiedenen Aspekte beisammen, die ich eingangs an der Formulierung welthistorischer Cynismus' im Brief an Brandes unterschieden hatte: den Stil und den programmatischen Gedanken, die Polemik und schließlich die Selbstdarstellung. -

JÜRGEN MÜLLER

Ecce homo

-

Nietzsches unmögliches Glück

Friedrich Nietzsches Ethik steht in der sokratischen Tradition. Ihr grundlegender Begriff ist der des Glücks. Seine entscheidende Frage ist, ob eine Wertungsweise die Bejahung des Lebens ermöglicht oder nicht. Anders ausgedrückt, er kümmert sich um die Frage, worin einer gut sein muss, um glücklich zu leben. Dieses Gutsein (arete) ist für Nietzsche, wie schon für Sokrates und viele andere nach ihm, eine wirkliche Lebenskunst, in der es, wenn überhaupt, nur wenige Meister gibt. Nietzsches ,Kampf mit der sokratischen Tradition dreht sich darum, worin diese Meisterschaft genauer besteht.2 Auf einen Slogan gebracht, lautet seine Antwort: kein Glück in der Moderne ohne Meisterschaft im Umwerten der Werte. Diese Kunst des Umwertens umfasst zwei zueinandergehörige Hälften: einerseits muss man sich selbst darüber aufklären, dass die bisherigen Wertschätzungen, alle Moralen, wie Nietzsche schreibt, das Leben verneinen (vgl. KSA, NF, 13, 319), andererseits muss man imstande sein, neue Wertschätzungen zu entwickeln und zu leben, welche die Bejahung des Lebens ermöglichen. Denn „nur als Schaffende können wir vernichten!" (KSA, FW, 3, 422), behauptet Nietzsche. Mich interessiert in diesem Aufsatz der konstruktive, der, wie es in Ecce Homo heißt, jasagende Teil dieses Umwertungs-Projekts (KSA, EH, 6, 350). Wenn Lebensbejahung das zentrale Kriterium für eine Ethik im Sinne Nietzsches ist, dann möchte ich wissen: was heißt hier Lebensbejahung, oder anders: was muss man tun, können oder sein, um das Leben zu bejahen? Eine Antwort, die ich genauer untersuchen möchte, steht in Ecce Homo. Dort fordert Nietzsche von seinen Lesern eine „feinere Selbstigkeit" (ebd., 372), in deren Zentrum „unsere eigene practische und theoretische Geschicklichkeit im Auslegen und Zurechtlegen der Ereignisse [steht]" (KSA, FW, 3, 522). Man kann vielleicht fragen: was haben Umwertung und Lebensbejahung mit -

Dieser

Übersetzungsvorschlag stammt von Peter Stemmer: Artikel über .Tugend': Peter Stemmer,

Tugend, in: Historisches

Wörterbuch der Philosophie, Bd. 10, Basel 1998, 1532ff. „Socrates", schreibt Nietzsche in einer berühmten Notiz, „steht mir so nahe, dass ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe" (KSA, NF, 8, 97). Die letzte explizite Runde findet sich in der Götzendämmerung, (Das Problem des Sokrates) (KSA, GD, 6, 67ff).

Jürgen Müller

184

feinerer

und einer Geschicklichkeit im erklären.

,Selbstigkeit'

versuchen, das I. Feinere

,

zu

Auslegen

zu

tun? Ich werde

Selbstigkeit'

Kapitel von Ecce Homo spitzt Nietzsche seine Kritik an den bisherigen Wertungsweisen auf folgende These zu: die „einzige Moral, die bisher gelehrt worden ist, die Entselbstungs-Moral [...] verneint im untersten Grunde das Leben" (KSA, EH, 6, 372). Der Gegenbegriff zur Entselbstung, die, wie es heißt, tiefste Notwendigkeit zum Gedeihen, sei eine strenge Selbstsucht oder feinere Selbstigkeit (vgl. ebd., 372). Sie sei die Voraussetzung für „den jasagenden, [...] den zukunftsgewissen, zukunftverbürgenden Menschen" (ebd., 374). Wenn man verstehen will, wie Nietzsches Ethik der Lebensbejahung aussieht, muss man sich klarmachen, was es mit der Rede von einer feineren Selbstigkeit' auf sich hat. Sieht man dies, wird auch klar, warum es Nietzsche, wie er gleich im ersten Satz des Vorworts schreibt, für unerlässlich hält zu sagen, wer er ist (ebd., 257). Mit der Darstellung der Entwicklung seines Lebens möchte er offenkundig ein Beispiel dafür geben, was er unter feinerer ,Selbstigkeit' versteht. Schon in Schopenhauer als Erzieher hatte er geschrieben: „Ich mache mir aus einem Philosophen gerade so viel, als er im Stande ist, ein Beispiel zu geben" (KSA, SE, 1, 350). Versuchen wir, uns an Nietzsches Ecce Homo ein Beispiel zu nehmen! Der erste Punkt, an dem man anfangen müsse umzulernen (vgl. KSA, EH, 6, 295), Im letzten

,

bezieht sich auf die vielen Details aus seinem Leben, mit denen Nietzsche seine Leser behelligt. Diese kleinen Dinge, etwa Nahrung, Wohnung, geistige Diät, Krankenbehandlung, Reinlichkeit, Wetter (vgl. ebd., 374), bezeichnet er deshalb als „Grundangelegenheiten des Lebens" (ebd., 296), weil die „Wahl von Nahrung, von Ort und Klima" (ebd., 291) für das, was er „Casuistik der Selbstsucht" (ebd., 295) nennt, von entscheidender Bedeutung ist. „Ein Fehlgriff in Ort und Klima", so behauptet Nietzsche, „[kann] Jemanden nicht nur von seiner Aufgabe entfremden, sondern ihm dieselbe überhaupt vorenthalten" (ebd., 282). Im Ecce Homo wird schnell klar, dass wir Nietzsches Rede von „der Aufgabe" (ebd., 293) verstehen müssen, wenn wir verstehen wollen, was mit strenger Selbstsucht, feinerer Selbstigkeit oder einer Kasuistik der Selbstsucht gemeint ist. Es ist auch kein Geheimnis, was Nietzsche mit ,der' Aufgabe meint: es ist keine andere als die einer Umwertung der Werte.

II.

,Die' Aufgabe

Nietzsche

spricht

von

der

,,heimliche[n] Gewalt und Nothwendigkeit der Aufgabe"

(KSA, MA, 2, 21), die befiehlt oder gebietet, von einem „verborgene[n] und herrische[n] Etwas [...] diesebn] Tyrann in uns" (ebd., 373), von der „Obhut eines gebieteri3

Allerdings hatte er hinzugefügt: „das Beispiel muss durch das sichtbare Leben und nicht bloß durch Bücher gegeben werden, also dergestalt, wie die Philosophen Griechenlands lehrten, durch Miene, Haltung, Kleidung, Speise, Sitte mehr als durch Sprechen oder gar Schreiben" (KSA, SE, 1, 350).

Nietzsches

Ecce homo -

unmögliches Glück

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sehen Instinkts" (KSA, EH, 6, 283), der „organisierenden [...] zur Herrschaft berufene^] ,Idee' in der Tiefe" (294) oder auch von ,,höhere[r] Obhut" (ebd., 294), „Bestimmung" und „Schicksal" (ebd., 293). An anderer Stelle heißt es, man gehe sich selber nach, mit oder gegen den eigenen Willen, und gleichsam ohne es zu wissen oder auch nur zu ahnen (vgl., KSA, FW, 3, 354, 294). Diese Bemerkungen sind schwer verständlich. Sie bleiben dunkel, solange nicht erklärt wird, auf welche Weise die metaphorische Rede von Befehlen und Geboten aufzufassen ist, die Nietzsche mit der Rede von der Aufgabe verknüpft. Außerdem stehen sie im Widerspruch zu der angeblichen Bedeutsamkeit der kleinen Dinge. Es kann dann nämlich gar nicht geschehen, dass einer seine Aufgabe und damit sich selbst verpasst, sondern es verhält sich damit so, wie es in Johann Wolfgang von Goethes Urworten. Orphisch heißt: „so musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen". Die feinere Selbstigkeit wäre einfach eine Selbstverständlichkeit. Hebt man diesen Widerspruch dadurch auf, dass man sagt, das Leben eines Menschen vollziehe sich gemäß der ihm innewohnenden Bestimmung, sofern nichts dazwischentritt, so setzt man voraus, was allererst zu erklären ist, nämlich: wodurch bestimmte Entwicklungen vor möglichen anderen ausgezeichnet sein sollen. Die Rede vom Dazwischentreten besagt nicht mehr, als dass ein Mensch sich unter bestimmten Umständen so entwickeln wird und unter anderen anders. Das trifft jedoch auf jede Entwicklung zu und erlaubt nicht die Rede von etwas, was sich mit Gewalt und Notwendigkeit so und nicht anders entwickeln muss. Mit den angeführten allgemeinen Bemerkungen kommt man also nicht weiter; es ist daher besser, zu untersuchen, welche Rolle die Aufgabe der Umwertung in Nietzsches Autobiographie konkret spielt. Die Sache hellt sich etwas auf, wenn man Nietzsche so versteht, dass er im Ecce Homo ein konkretes Beispiel geben möchte für das, was er zu Beginn des vierten Buchs der Fröhlichen Wissenschaft „unsere eigene practische und theoretische Geschicklichkeit im Auslegen und Zurechtlegen der Ereignisse" (KSA, FW, 3, 522) nennt.5 Wie ich ausführen werde, ist die Aufgabe der Umwertung für diese hermeneutische Geschicklichkeit unabdingbar, weil sie das Gravitationszentrum der Selbstauslegung Nietzsches ist. Was immer sich ereignet oder Nietzsche zustößt, es dreht sich um diese Aufgabe, gewinnt Bedeutung und Sinn allererst dann, wenn es in Bezug zu ihr gesetzt wird.

III. Geschicklichkeit im Auslegen Alle in Ecce Homo erwähnten Ereignisse, Erfahrungen und Tätigkeiten seines Lebens deutet Nietzsche als „Mittel, Zwischenakt und Nebenwerk" (KSA, EH, 6, 321) oder „Vorbedingung" (ebd., 294) zur Ausbildung und Ausübung der Aufgabe der Umwertung. Sogar schwere Krankheit, Schwermut, Einsamkeit, Verdüsterung, „Ungunst der Verhältnisse" (ebd., 337) und Jahre, die Nietzsche als „Nothstand ohne Gleichen" (ebd., 4

Johann Wolfgang von Goethe, Urworte, orphisch, in: Ders., Werke in zwölf Bänden, Berlin, Weimar 1988, Bd. 2, 158. Diese Geschicklichkeit soll den „Gedanken an eine persönliche Providenz" (KSA, FW, 3, 522) ersetzen.

Jürgen Müller

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34If.) bezeichnet, alles das erweist sich im Rückblick von der hohen Warte des „Immoralisten" (ebd., 366), also eines Meisters in der Kunst der Umwertung, als etwas, was nicht fehlen durfte (ebd., 294). Alle Arbeiten vor dem Zarathustra deutet Nietzsche im Nachhinein als Vorankündigungen, Vorwegnahmen und Vorbereitungen bzw. als vorausdeutende Selbstdarstellungen des „Dichters des Zarathustra" (ebd., 314), als „Bilder der härtesten Selbstsucht" (ebd., 316) auf dem Weg zur terra firma des Immoralisten. „Ich sah das Land", so Nietzsche, „ich betrog mich nicht einen Augenblick über Weg, Meer, Gefahr und Erfolg" (ebd., 320). Dies Land ist das erreichte Ziel seiner Entwicklung im Sinne des Aphorismus: „Hat man sein warum? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem wie?" (KSA, GD, 6, 60f). Der erste Immoralist zu sein, das ist der von ihm emphatisch bejahte Zweck seines Lebens. In der Ausübung der Umwertung ist er ganz bei sich selbst: „In den siebzig Tagen dieses Herbstes [... habe] ich ohne Unterbrechung lauter Sachen ersten Ranges gemacht" (ebd., 297). Diese ,Sachen ersten Ranges' sind auch der Grund dafür, Ecce Homo zu schreiben. In der Präambel heißt es dazu: „Die Umwerthung aller Werthe [das meint an dieser Stelle den Antichrist], die Dionysos-Dithyramben und [...] die Götzen-Dämmerung Alles Geschenke dieses Jahrs, sogar seines letzten Vierteljahrs. Wie sollte ich nicht meinem ganzen Leben dankbar sein? Und so erzähle ich mir mein Leben" (ebd., 263). Aufgrund des erläuterten Zusammenhangs des jasagenden Teils der Umwertung der strengen Selbstsucht mit Nietzsches Selbstdarstellung, ist die Forderung nach und die Vermittlung der Aufgabe einer Umwertung zugleich das Hauptanliegen der Autobiographie selbst. Man sieht, in Ecce Homo dreht sich buchstäblich alles um die Aufgabe der Umwertung: sie ist der Ausgangspunkt, der Bezugspunkt, der rote Faden und schließlich der letzte Zweck und Grund seiner Lebensbeschreibung. Worum geht es bei dieser Geschicklichkeit im Auslegen? Im Kern um eine Erzählung der eigenen Entwicklung unter teleologischen Vorzeichen, als stetige Höherentwicklung, Fortschrittsgeschichte und Erfolg. Das ist ein einfaches und, sieht man von Nietzsches Maßlosigkeiten ab, übliches Modell autobiographischen Erzählens. Als Antwort auf die Frage, was es mit der strengen Selbstsucht auf sich hat, ist es jedoch unbefriedigend. Nietzsches Appelle und Aufforderungen, Ernst für sich zu haben, sich zu finden, seinen Weg zu gehen und schließlich, der zu werden, der man ist, besagen dann bloß, dass man eine Tätigkeit oder Aufgabe anstreben und zu beherrschen suchen soll, die es einem erlaubt, die eigene Entwicklung zumindest im Nachhinein als eine Geschichte von Aufstieg und Erfolg zu deuten. Ist dies Erzählmodell die Substanz des jasagenden Teils der Umwertung, ist ganz unklar, warum er es als die „schwerste Forderung" bezeichnet, mit der er „an die Menschheit herantreten muss" (ebd., 257). Das Bemühen um eine Entwicklung des eigenen Lebens, das auf diese Weise erzählt werden kann, ist in den allermeisten Fällen eine Selbstverständlichkeit. Und es sieht -

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nicht so aus, als mussten die Menschen eigens dazu angehalten werden, so zu interpretieren. Im Gegenteil. Es erschreckt eher, dass oft noch über das Fragwürdigste und die Ungeheuerlichkeiten der Lebens- und Weltgeschichte so geredet wird, als seien sie, letzten Endes, doch zu etwas gut gewesen. Es stimmt auch nicht, dass jedes Menschenleben als Erfolgsgeschichte gedeutet werden kann; es gibt viele Arten, in denen das

Ecce homo -

Nietzsches unmögliches Glück

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Leben eines Menschen misslingen kann, und es kommt selten vor, dass wir uns darüber uneins sind, ob es so ist oder nicht. Ich kenne z.B. niemanden, der nicht Rolf-Peter Horstmann zustimmt, wenn er schreibt: „Nietzsche's life is surely not a success story; on the contrary, it is a rather sad story of misery and failure."6 Ich komme auf diesen Punkt noch einmal zurück. Zuvor möchte ich, da jetzt alle Elemente beisammen sind, das eingangs gegebene Versprechen einlösen: den Zusammenhang darlegen zwischen Lebensbejahung, Umwertongs-Projekt, feinerer Selbstigkeit und unserer Geschicklichkeit im Auslegen. Um dies zu sehen, muss man sich noch einmal eine Stelle vor Augen führen, an der Nietzsche an einem Beispiel formuliert, was für die Art jener Geschicklichkeit im Auslegen insgesamt charakteristisch ist. „Ich musste eine Zeit lang auch Gelehrter sein", so behauptet er, „um Eins werden zu können, um zu Einem kommen zu können" (ebd., 321). Aus dem Kontext geht klar hervor, dass die Rede von dem ,Einen' gleichbedeutend ist mit der Rede von ,der' Aufgabe der Umwertung. Im letzten Abschnitt des Kommentars zum Zarathustra zitiert er aus diesem Buch die Stelle, wo es genau um diese Geschicklichkeit geht: „Und das ist all mein Dichten und mein Trachten, dass ich in Eins dichte und zusammentrage, was Bruchstück ist und Räthsel und grauser Zufall" (ebd., 348; vgl. KSA, Za, 4, 179). Dies Dichten und Trachten bezeichnet Nietzsche als Zarathustras zentrale Aufgabe, über deren Sinn man sich nicht vergreifen könne: „er ist jasagend bis zur Rechtfertigung, bis zur Erlösung auch alles Vergangenen" (ebd., 348). Hier ist nicht von einer neuen Aufgabe neben der einer Umwertung die Rede, sondern Nietzsche setzt diese Aufgaben über den Zweck des Dichtens und Trachtens, i.e. die Lebensbejahung, einander gleich. Weil Nietzsche diese Aufgabe als seine eigene ausgibt und in Ecce Homo ein Beispiel für die Ausübung der Umwertung, d.h. die feinere Selbstigkeit, geben will, darf die Aufgabe des Dichtens und Trachtens mit der Geschicklichkeit im Auslegen und Zurechtlegen in eins gesetzt und als zentraler Punkt seines positiven Ideals verstanden werden. Ist diese Lesart richtig, dann ist das Zwischenergebnis niederschmetternd: was uns als noch nie da gewesenes, welthistorisches Umwertungs-Projekt angekündigt wird, ist von einer Neuigkeit und einer schweren Forderung weit entfernt, sondern bereits weitherum verbreitet und eher bedenklich. Das kann es also nicht sein. Im letzten Abschnitt ist ein Gedanke aufgeblitzt, der vielleicht weiterhelfen kann: es ist Nietzsches größtes Schwergewicht; der Gedanke der Ewigen Wiederkehr des Gleichen. -

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IV. Die

Ewige Wiederkehr des Gleichen

Der letzte Zweck des Dichtens und Trachtens ist offenkundig das amor fati, also „dass man nichts anders haben will, vorwärts nicht, rückwärts nicht, in alle Ewigkeit nicht" (KSA, EH, 6, 297). Der „Typus Zarathustra" (ebd., 370) zeichne sich gerade dadurch aus, „der Gegensatz eines neinsagenden Geistes" (ebd., 345) zu sein, einer, der „keinen Einwand gegen das Dasein, selbst nicht gegen dessen ewige Wiederkehr find[et], -

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Rolf-Peter Horstmann

(Hg.), Friedrich Nietzsche. Beyond Good and Evil, Cambridge 2003, IX.

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ewige Ja zu allen Dingen selbst zu sein" (ebd.; vgl. KSA, GD, 6, 160). Im Schlusskapitel bezeichnet sich Nietzsche ebenfalls als „Gegensatz eines neinsagenden Geistes" (KSA, EH, 6, 366) und amor fati als seine „innerste Natur" (ebd., 363). Was er in der Fröhlichen Wissenschaft noch als Vorhaben formuliert: „amor fati: das sei von nun an meine Liebe! [...] ich will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein" (KSA, FW, 3, 521), wird im Ecce Homo als erreicht ausgeben: „Ich will nicht im Geringsten, dass etwas anders wird als es ist; ich selber will nicht anders werden" (KSA, EH, 6, 295). Die Hoffnung ist jetzt, dass wir über den Gedanken der Ewigen Wiederkehr einen Fortschritt erreichen können im Verständnis von Nietzsches Ethik der Lebensbejahung. Die Hoffnung ist berechtigt, denn nach seinen eigenen Worten ist dieser Gedanke „die höchste Formel der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann", und sein „Ideal des [...] lebensbejahendsten Menschen" macht er gerade daran fest, dass dieser es „so wie es war und ist, wieder haben will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo rufend" (KSA, JGB, 5, 75). Meine Hauptfrage: was einer tun, können oder sein muss, um das Leben zu bejahen, verlagert sich also auf die Frage, was einer tun, können oder sein muss, um den Gedanken der Ewigen Wiederkehr zu bejahen. Die Anforderung lautet: ich solle mir bei allem und jedem die Frage vorlegen, ob ich dies noch einmal und noch unzählige Male wieder so haben will (KSA, FW, 3, 570). Nietzsche fordert also nicht, wie es manche Stelle in Ecce Homo nahelegen könnte und wie es das bekannte Lied will: ,always look on the bright side of life!' Denn das hieße, für eine selektive Wahrnehmung, Beschränkung und Einseitigkeit zu plädieren, vielmehr einen Grund noch hinzu, das

und nicht, wie Nietzsche will, für ein illusionsloses Erkennen der Realität, wie sie ist. Es geht auch nicht um ein quantitatives Gegeneinander-Aufwiegen, so dass einer erkennt, dass die Seite der guten Dinge schließlich schwerer wiegt. Vielmehr geht es, in Übereinstimmung mit dem zuvor Gezeigten, um das, was Nietzsche „die grosse Ökonomie des Ganzen" nennt (KSA, EH, 6, 368), um eine Lesart der eigenen Entwicklung im Hinblick auf einen emphatisch bejahten Zweck, der alles andere als Mittel nötig macht. Wäre einer geschickt genug, sein Leben auf diese Weise auszulegen, dann wäre er keiner, der gern etwas anders haben würde in Bezug auf das, was war. Er wäre jemand, der keinerlei Tat oder Handlung bereut, bedauert oder beklagt, und der in seinem bisherigen Verhalten nirgendwo etwas erkennen kann, was er hätte anders machen wollen. Er würde den Gang, den sein Leben genommen hat, an jedem Punkt einem kontrafaktischen vorziehen, es also, wie es Nietzsche verlangt und in Ecce Homo vormacht, nicht bloß ertragen, sich damit abfinden oder anfreunden, ein solches Leben geführt zu haben, sondern nach nichts mehr verlangen als nach der ewigen Wiederkehr dieses Lebens, wie er es jetzt lebt und gelebt hat. Tut er dies, das ist der Erklärungsvorschlag, dann bejaht er sein Leben. Diese Anforderung ist inakzeptabel. Jeder von uns kennt eine Reihe von Ereignissen oder hat selbst Erfahrungen gemacht, gegenüber denen eine bejahende Haltung gemäß Dazu heißt es im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft: der Mensch „als Welten-Richter, der zuletzt das Dasein selbst auf seine Wagschalen legt und zu leicht befindet die ungeheuerliche Abgeschmacktheit dieser Attitüde ist uns als solche zu Bewusstsein gekommen und verleidet" -

(KSA, FW, 3, 580).

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dem Wiederkunftsgedanken im doppelten Sinn unmöglich ist. Sicher wird man angesichts offenkundiger Übel nicht gleich, wie Ivan Karamasov, sein Ticket zurückgeben wollen; aber eine Bejahung im Sinne der Ewigen Wiederkehr kommt nicht in Frage. Diese Art der Lebensbejahung fördert Selbstgefälligkeiten, Selbsttäuschungen8, Schönrednerei oder die Einwilligung und Zustimmung zu etwas, was nun einmal nicht gut ist. Entscheidender ist aber, dass der ganze Ecce-Homo-Ton des ,wie sollte ich nicht meinem ganzen Leben dankbar sein?' falsch ist. Das ist nicht biographisch gemeint. Falsch ist es, weil es der Sache nach nicht stimmt.9 Einer kann sich überlegen, wünschen oder wollen, bestimmte Dinge anders gemacht zu haben oder in einer Welt zu leben, die in dieser oder jener Hinsicht anders gewesen ist als sie es war. Wenn er sich dies überlegt oder ausmalt, muss er nicht die Rede davon aufgeben, dass das ein von ihm selbst bevorzugter Verlauf des eigenen Lebens und der Welt, in der er lebt, gewesen wäre. Es ist nicht einzusehen, warum er sein Leben, wie er es tatsächlich lebt und gelebt hat, dann nicht trotzdem bejahen könnte. Dies ist etwas, was den Menschen auf positive Weise auszeichnet: er kann und will es mit manchem nicht gut sein lassen, er kann sich immer noch Besseres für sich und andere wünschen, ohne darüber unglücklich zu werden. Auf das Beispiel Nietzsches angewandt: Der Umweg über die Philologen-Existenz' ist durchaus beklagenswert; dass das so ist, sollte Nietzsche aber nicht daran hindern, sein Leben zu bejahen. Mein Verständnisproblem mit Nietzsches Auffassung von Lebensbejahung lässt sich auf die Frage zuspitzen: warum möchte er nicht zugeben, dass es im Leben und in der Weltgeschichte Dinge gibt, für die man nicht dankbar ist und mit denen es nicht gut ist? Im Ansatz kann man natürlich nachvollziehen, warum er die Bejahung der Ewigen Wiederkehr mit seiner Konzeption eines Gegen-Ideals zu den herkömmlichen Idealen in enge Verbindung bringt (ebd., 353). Auf eine Einstellung zum eigenen Leben hinzuarbeiten, die die Bejahung der Ewigen Wiederkehr ermöglicht, heißt, auf eine Einstellung gegenüber sich selbst und dem Leben insgesamt hinzuarbeiten, die man, entgegen dem Selbstverständnis, das etwa der Sokratismus und das asketische Ideal angeblich hervorruft und verstärkt, so ausdrücken kann, dass man sich selbst sein will oder „seine Zufriedenheit mit sich" erreicht (KSA, FW, 3, 531). Klar ist auch, dass die Richtung dieses Wollens darauf abzielt, die „Freiheit vom Ressentiment" (KSA, EH, 6, 272) zu erreichen, das Nietzsche zufolge darauf beruht, dass auf bestimmte Weise nach Grün-

9

Dies hält Alexander Nehamas für eine große Schwierigkeit. Sein Vorschlag, Nietzsche glaube, dass man sich in seiner einsamsten Einsamkeit vermutlich nichts vormachen werde, ist ein hilfloser Versuch, diesem Einwand zu begegnen (Alexander Nehamas, Nietzsche. Life as Literature, Cambridge Mass. 1985, 163f). Diese Überlegung stammt von Rüdiger Bittner. Zwei Thesen aus Nietzsches Arbeiten bieten sich zu seiner Verteidigung an. Die erste lautet: wenn sich eines anders zugetragen hätte, dann würde sich alles anders zugetragen haben als es sich zugetragen hat; wenn eines wiederkehre, dann müsse alles wiederkehren. Die zweite ist eine spezielle Version der ersten. Sie lautet: ein Leben, in dem auch nur eines anders wäre als es war, wäre nicht mehr mein Leben: es wäre das Leben einer anderen Person. Ich glaube zeigen zu können, dass die Thesen eine unverständliche kosmologische Theorie oder eine falsche Theorie personaler Identität voraussetzen Aber ich kann das aus Platzgründen nicht vorführen.

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den dafür gesucht wird, dass man so ist, wie man nicht sein will. Sich selbst und dem Leben gut zu sein, ist der nihilistischen oder lebensverneinenden Einstellung genau entgegengesetzt, die Nietzsche als eine notwendige Folge der bisherigen Wertschätzungen aufgedeckt zu haben glaubt. Diese holzschnitthaften Entgegensetzungen genügen jedoch nicht, um der Rede von Lebensbejahung einen Gehalt zu geben. Mein Ergebnis ist: Nietzsches Forderung nach Lebensbejahung und Umwertung ist entweder banal und bedenklich oder unverständlich. Wie das aufzulösen ist, weiß ich nicht. Aber ich habe den Verdacht, dass Nietzsche mit dem Gedanken der Ewigen Wiederkehr einer Glücksvorstellung anhängt, die Menschen, wie wir es sind, nicht gemäß ist. Es wäre ein vollkommenes, unangreifbares, ewiges Glück. Wer den Gedanken der Ewigen Wiederkehr des Gleichen einsieht und bejaht, dessen Glück wäre unumstößlich; kein Mensch, keine Realität könnte ihn aus der Bahn des Glücks herauswerfen, denn er hätte im Voraus zu allem und jedem ,Ja' gesagt. Es würde ungefähr heißen, den Standpunkt des alttestamentarischen Schöpfergottes einnehmen zu können: er sah alles, was war, und er sah, dass es gut war! Nietzsche ist hier für mein Verständnis der Erde nicht treu genug geblieben (vgl. KSA, Za, 4, 15). Das Glück, wie es im Gedanken der Ewigen Wiederkehr konzipiert wird, ist unmöglich. Das scheint mir kein beklagenswerter Zustand oder die Folge einer menschlichen Unzulänglichkeit. Wir brauchen dies Glück nicht und zuletzt könnten wir auch nichts damit anfangen. Wir brauchen es nicht, um glücklich zu sein. Wir können nichts anfangen damit, weil unser Glück brüchig und unverfügbar ist. Der Gedanke der Ewigen Wiederkehr erweist sich demnach als Sackgasse, wenn es darum geht, Nietzsches Rede von der Lebensbejahung zu erhellen. Ich mache einen letzten Versuch, bevor ich zum Ende komme.

V.

Selbstbestimmung

Wenn man die paradoxe Rede, die durch die Aufforderung nahegelegt wird, man solle der werden, der man ist, aufgibt, also zum Beispiel die Rede davon, dass Nietzsche nicht der ist, der er ist, solange er Philologe ist, dann besteht der Unterschied zwischen der Philologen-Existenz und der Immoralisten-Existenz darin, dass er so sein will, wie und was er ist, nämlich Immoralist, und nicht Philologe sein wollte und will. Und das ist allerdings ein signifikanter Unterschied. Aber was soll es heißen, dass man so sein will, wie man ist? Wir wissen es bereits: ein Mensch will Nietzsche zufolge so sein, wie er ist, wenn es ihm gelingt, ,alles: Es war' auf eine Weise zu verstehen, dass „der Wille spricht: Aber so wollte ich es! So werde ich's wollen" (KSA, Za, 4, 249). Der Ausdruck ,Aber so wollte ich es' meint, dass man ,alles: Es war' so haben will, wie es war, weil man so sein will, wie man jetzt ist. Dass das Letztere ein solcher Grund sein soll, beruht bei Nietzsche auf der These: wenn sich in einem Leben irgendetwas anders zugetragen hätte als es sich zugetragen hat, dann wäre man nicht so, wie man jetzt ist und sein will. Diese These ist in ihrer Allgemeinheit beinahe nichts sagend, d.h., um beurteilen zu können, ob sie trivial, plausibel oder falsch ist, muss man abwarten, wie der behauptete

Ecce homo

Nietzsches -

unmögliches Glück

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Zusammenhang im Einzelfall spezifiziert wird. Auch folgt aus dem Umstand, dass man nicht so wäre, wie man jetzt sein will, wenn es sich nicht so zugetragen hätte, wie es sich zutrug, nicht, dass es sich nicht auch anders zugetragen haben könnte und man trotzdem so sein wollen würde, wie man (dann) ist. Dieser zweite Einwand spricht dafür, dass die Rede davon, so sein zu wollen, wie man ist, keine inhaltliche Bestimmung ist, sondern eine Einstellung darüber zum Ausdruck bringt, wie ein Mensch sich

seiner Vergangenheit und Zukunft verhält. In der Hauptsache geht es um solche Ereignisse und Erfahrungen des eigenen bisherigen Lebens, die auch im Rückblick als solche beschrieben werden, von denen man zu der Zeit als sie sich ereigneten, nicht wollte, dass sie sich so ereignen. Auch die zitierte zentrale Lehre Zarathustras handelt von dem, „was Bruchstück ist und Räthsel und grauser Zufall" (KSA, EH, 6, 348). So sein zu wollen, wie man ist, verlangt in Nietzsches Augen, dass man, wie er es selbst in Ecce Homo vormacht, im Nachhinein gerade dasjenige, was man zu einem früheren Zeitpunkt nicht so wünschte oder wollte, so wie es war wieder haben will (KSA, JGB, 5, 75). Im Sinne dieses Bestrebens, sich alles Gewordene nachträglich anzueignen, charakterisiert er die „prachtvolle unersättliche Selbstsucht" als das Ansinnen des Einzelnen, „alles schon Begründete [...] mindestens in Gedanken noch einmal neu [zu] gründen, seine Hand darauf-, seinen Sinn hinein[zu]legen" (KSA, FW, 5, 532). Es ist zu

-

das Bemühen um ein solches Verständnis dessen, wie man wird, was man ist, auf das es Nietzsche in Ecce Homo und bei der ,feineren Selbstigkeit' offenbar ankommt. Ernst Tugendhat hat das, allerdings in Bezug auf Martin Heideggers Sein und Zeit, als Existieren im Modus der Selbstbestimmung bezeichnet.11 Nietzsches Begriff der Selbstbestimmung zeichnet sich dadurch aus, dass er sich auf eine Weise zu sein bezieht, in der ein Mensch sich auf das gut versteht, woran er, „sein Schicksal, seine Noth und auch sein bestes Glück hat" (ebd., 577). Selbstbestimmung macht er daran fest, ob ein Mensch das gut gemacht hat oder gut kann, was ihm am Herzen liegt. Nimmt man den Vorschlag auf, lässt sich Nietzsches Rede von Lebensbejahung so bestimmen: das eigene Leben zu bejahen, setzt voraus, dass ein Mensch seine Entwicklung zumindest im Nachhinein als eine zu begreifen imstande ist, die er auch selbst so wählen würde. Diese Einstellung gegenüber dem so und nicht anders Gewordenen ist nur möglich, wenn ein Mensch im Modus der Selbstbestimmung existiert. Dies Ziel, das Nietzsche mit der ,feineren' Selbstigkeit vor Augen hat, beschreibt er auch als „Reife des Mannes: das heisst den Ernst wiedergefunden haben, den man als Kind hatte, beim Spiel" (KSA, JGB, 5, 90).12 Nicht, dass Sie mich falsch verstehen. Zwar glaube ich, dass die gegebenen Erläuterungen zutreffend sind, aber ich glaube nicht, dass ich damit einen nennenswerten Fortschritt in der Sache gemacht habe. Denn die Frage, die immer noch unbeantwortet bleibt, ist: was heißt Selbstbestimmung? Erst wenn man sich davon einen klaren Begriff gemacht hat, könnte man beginnen zu untersuchen, ob ein plausibler Zusammenhang zwischen der Selbstbestimmung und einer Ethik der Lebensbejahung besteht. Ich habe Zweifel, ob das gelingen kann, weil Nietzsches weitere Erläuterungen der Selbstbe11

12

Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt/M. 1979, 23 Off. Vgl. auch: „Du musst noch Kind werden und ohne Scham" (KSA, Za, 4, 189) und: „Ich weiß keine andere Art, mit großen Aufgaben zu verkehren als das Spiel" (KSA, EH, 6, 297).

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Stimmung, etwa als Wille zur Macht, Herr über sich sein, Machtgefühl und Pathos der Distanz, auf ein diktatorisches Selbstverhältnis hinauszulaufen scheinen, das aus der sokratischen Tradition kommt, die Rüdiger Bittner unlängst brillant und überzeugend in Frage gestellt hat. VI. Schluss So werden wir also über einige explanatorische Sackgassen von einer nur mäßig verstandenen Erläuterung auf die nächste verwiesen, von der Lebensbejahung zur ,feineren Selbstigkeit', von der Geschicklichkeit im Auslegen zur Ewigen Wiederkehr und von dort zur Selbstbestimmung; und es kommt mir vor, als stehe ich noch immer mit leeren Händen da.14 Wie ich einige Nietzsche-Interpreten kenne, werden sie auch darin noch eine tiefsinnige Botschaft erkennen wollen. Ich aber komme zum Ende und zurück zum Anfang. Das, worauf es Nietzsche vor allem ankommt, ist nicht neu. Nur lässt es sich kürzer und maßvoller sagen: das Beste ist, so steht es schon in Piatons Apologie des Sokrates, tagaus tagein Gespräche über das Gutsein, die arete, zu führen, indem ich mich selbst und andere zum Gegenstand der Untersuchung mache.15 Genau das ist Nietzsches Herzensangelegenheit und seine Lebenskunst: sich unablässig zu streiten über das zur Erlangung des Glücks notwendige Gutsein, indem er sich selbst und seine Zeitgenossen einer radikal-aufklärerischen Prüfung unterzieht. In der ersten, moralkritischen Spielhälfte, die hier nicht Thema war, gelingen ihm dabei einige gute Treffer. In der zweiten, jasagenden Hälfte gehen die Bälle ins Aus.

Rüdiger Bittner, Doing Things For Reasons, Oxford, New York 2001. Das ist noch nicht das Ende der Fahnenstange. Weitere Erläuterungsvorschläge, die sich in Nietzsches Arbeiten finden, wären u.a.: Klassisches Ideal, Ästhetizismus, Cynismus, dionysisches Jasagen. Vielleicht hätten wir damit, im doppelten Sinn, mehr Glück. Ich glaube es nicht. Piaton, Apologie des Sokrates, übersetzt und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1998 (38a).

Matthew H. Meyer

Ecce Homo und die Alte Komödie

I.

Einleitung

Aufsätzen in der Nietzscheforschung habe ich skizziert, wie man die Werke Friedrich Nietzsches von Menschliches, Allzumenschliches bis Also sprach Zarathustra als die Verwirklichung des Projekts aus Die Geburt der Tragödie interpretieren könnte: Wenn man den Geist der Wissenschaft in Werken wie Menschliches, Allzumenschliches und Die fröhliche Wissenschaft auf die Spitze treibt, beißt diese sich in den Schwanz, wodurch eine Wiedergeburt der Tragödie mit Also sprach Zarathustra ermöglicht werden kann (KSA, GT, 1, 101 ).' Wenn diese Lesart richtig ist, dann stellt sich die Frage nach der Absicht und dem Zweck der Schriften Nietzsches nach Also sprach Zarathustra. In der Folge wird ein Beitrag zur Lösung dieses Problems geleistet, indem behauptet wird, dass die Spätwerke Nietzsches eine Art dionysische Komödie bilden. Vor allem soll gezeigt werden, dass es sowohl stilistische als auch psychologische Parallelen zwischen der Parábase der Alten Komödie, den Werken des Aristophanes, und Nietzsches autobiographischen Erzählungen in Ecce Homo gibt. Dazu wird die agonale Natur der Alten Komödie hevorgehoben und mit den polemischen Schriften Nietzsches von 1888 wie Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung und Der Antichrist verglichen. Wenn diese Untersuchung erfolgreich ist, ist sie ein weiterer Beweis dafür, dass man Nietzsche als den ,,letzte[n] Jünger und Eingeweihte[n] des Gottes Dionysos" auffassen kann (KSA, JGB, 5, 238). In einer Reihe

von

Matthew Meyer, The Tragic Nature of Zarathustra, in: Nietzscheforschung 9, 2002; „Menschliches, Allzumenschliches" und der musiktreibende Sokrates, in: Nietzscheforschung 10, 2003; Die drei Verwandlungen der Aufklärung von „Menschliches, Allzumenschliches" bis zur „Fröhlichen Wissenschaft", in: Nietzscheforschung, Sonderband II, 2004; Die Einheit der Gegensätze als tragisches Prinzip, in: Nietzscheforschung 11, 2004.

Matthew H.

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Meyer

II. Nachweis des komischen Charakters von Ecce Homo In diesem Abschnitt werden Textstellen aus den Werken und Briefen Nietzsches angeführt, um den Versuch, Ecce Homo und die anderen Werke aus dem Jahre 1888 als eine Art dionysische Komödie zu lesen, zu begründen. Der erste Beleg für die These befindet sich in einem Brief an Heimich Köselitz: „Die Frage der Pressefreiheit' ist, wie ich jetzt mit aller Schärfe empfinde, eine bei meinem ,Ecce Homo' gar nicht aufzuwerfende Frage. Ich habe mich dergestalt jenseits gestellt, nicht über das, was heute gilt und obenauf ist, sondern über die Menschheit, dass die Anwendung eines codex eine Komödie sein würde. Übrigens ist das Buch reich an Scherzen und Bosheiten, weil ich mit aller Gewalt mich als Gegentypus zu der Art Mensch, die bisher verehrt worden ist, präsentire das Buch ist so ,unheilig' wie möglich" (KSB 8, 488). In demselben Brief charakterisiert Nietzsche sich selbst als eine Art Possenreißer: ,,[I]ch mache so viele dumme Possen mit mir selber und habe solche Privat-Hanswurst-Einfälle, dass ich mitunter eine halbe Stunde auf offner Strasse grinse, ich weiss kein anderes Wort" (ebd., 489). Wichtig ist hier die Figur des Hanswurst, eines derben Charakters aus dem Wiener Volkstheater des 18. Jahrhunderts, weil sein Name sowohl in den Briefen Nietzsches, als auch in seinen veröffentlichten Werken immer wieder auftaucht. In einem 1889 verfassten Brief schreibt Nietzsche an Cosima Wagner: „Man erzählt mir, daß ein gewisser göttlicher Hanswurst dieser Tage mit den Dionysos-Dithyramben fertig geworden ist" (ebd., 572). Freilich ist Nietzsche der Autor der DionysosDithyramben und seine Selbstdarstellung als „ein gewisser göttlicher Hanswurst" taucht auch in Ecce Homo auf: „Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst Vielleicht bin ich ein Hanswurst..." (KSA, EH, 6, 365). Im Vorwort zu Ecce Homo beschreibt sich er in einer ähnlichen Weise: „Ich bin ein Jünger des Philosophen Dionysos, ich zöge vor, eher noch ein Satyr zu sein als ein Heiliger" (ebd., 258). Hier stellt er sich wieder als der Gegentypus des Heiligen dar, aber man findet hier anstelle des Hanswurst den Namen Dionysos. Diese Stelle weist auf den letzten Abschnitt des Kapitels Warum ich so gute Bücher schreibe hin, wo Nietzsche sich auf das Ende von Jenseits von Gut und Böse bezieht. Da spricht er von dem „Genie des Herzens, [...] der Versucher-Gott und geborne Rattenfänger der Gewissen" (ebd., 308). Obwohl er Dionysos nicht ausdrücklich erwähnt, zeigt die vollständige Passage deutlich, dass Dionysos „das Genie des Herzens" ist (KSA, JGB, 5, 237ff.). Dabei behauptet Nietzsche, dass „Dionysos ein Philosoph ist, und dass also auch Götter philosophieren" (ebd., 238). Die Aussage ist insofern wichtig, als sie eine Brücke zwischen den Aphorismen 295 und 294 schlägt. In Aphorismus 294 Das olympische Laster ist auch die Rede von Göttern, die philosophieren: „Jenem Philosophen zum Trotz, [...] würde ich mir sogar eine Rangordnung der Philosophen erlauben, je nach dem Range ihres Lachens bis hinauf zu denen, die des goldnen Gelächters fähig sind. Und gesetzt, dass auch Götter philosophieren, wozu mich mancher Schluss schon gedrängt hat -, so zweifle ich nicht, dass sie dabei auch auf eine übermenschliche und neue Weise zu lachen wissen und auf Unkosten aller ernsten Dinge! Götter sind spottlustig: es scheint, sie können selbst bei heiligen Handlungen das Lachen nicht lassen" (ebd., 236). Die strategische Anordnung der Aphorismen darf nicht übersehen -

...

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Ecce Homo und die Alte Komödie

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werden. Sie beenden nicht nur den Abschnitt Was ist vornehm, sondern auch das Buch, dessen Untertitel Vorspiel einer Philosophie der Zukunft ist. Daher wird angedeutet, dass der Philosoph der Zukunft nicht nur ein Jünger des Dionysos ist, sondern auch die Fähigkeit zu lachen besitzt. An anderer Stelle von Jenseits von Gut und Böse spricht Nietzsche von der Zukunft des Lachens und erwähnt dabei den altgriechischen Dichter

Aristophanes (vgl. ebd., 47).

„Wir sind das erste studierte Zeitalter in puncto der ,Kostüme', ich meine der Moralen, Glaubensartikel, Kunstgeschmäcker und Religionen, vorbereitet wie noch keine Zeit es war, zum Karneval grossen Stils, zum geistigsten Fasching-Gelächter und Übermuth, zur transscendentalen Höhe des höchsten Blödsinns und der aristophanischen Welt-Verspottung. Vielleicht, dass wir hier gerade das Reich unsrer Erfindung noch entdecken, jenes Reich, wo auch wir noch original sein können, etwa als Parodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes, vielleicht dass, wenn auch Nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser Lachen noch Zukunft hat" (ebd., 157). Diese -

Beschreibung der aristophanischen Prasserei und eines Lachens der Zukunft ist insofern wichtig, als sie auf den kommenden komischen Dichter hinweist. Man findet solche Anspielungen schon in Also sprach Zarathustra, wo Zarathustra den ,höheren

Menschen' als „einen, der euch wieder lachen macht, einen guten fröhlichen Hanswurst, einen Tänzer und Wind und Wildfang, irgendeinen alten Narren" schildert (KSA, ZA, 4, 347). Im folgenden wird behauptet, dass Nietzsche selbst in seinen Werken aus dem Jahr 1888 zu diesem guten fröhlichen Hanswurst wird.

III. Die Alte Komödie und Ecce Homo

Bedeutung des dionysischen Lachens für Nietzsches Spätwerke bedarf die eines Exkurses zur Alten Komödie und den Werken des Aristophanes, um die Analyse Parallelen zwischen einem Buch wie Ecce Homo und der griechischen Gattung deutlich zu machen. Zu Beginn muss betont werden, dass die Alte Komödie in den Gottesdienst des Dionysos eingebettet war. In seiner Geschichte der griechischen Litteratur, einer Quelle für Die Geburt der Tragödie, schreibt Karl Otfried Müller: ,,[J]e näher die Attische Komödie ihrem Ursprünge steht, je mehr hat sie von der eigenthümlichen geistigen Trunkenheit, die sich bei den Griechen in Allem kundthut, was sich an den Dionysos anschließt, in Tanz, Gesang, Mimik und Bildnerei."2 Das Wort .Komödie' stammt von dem griechischen Wort komos und nach Karl Kerényi war ein komos „von jeher die Form der Verehrung des Weingottes durch umherziehende Schwärme von Männern, mit Tanz und Gesang, nach keinem strengen, geschweige denn einem düsteren Ritus."3 Im Symposium bietet Piaton eine literarische Darstellung eines komos, wenn der berauschte Alkibiades das Fest Agathons unterbricht, und in den Komödien des Aristophanes, z.B. in den Wespen, findet man ebenso einige Beispiele für den komos. Im Kern des komos steht eine Befreiung von kulturellen Normen und psychoTrotz der

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3

Karl Otfried Müller, Karl Otfried Müller 's Geschichte der griechischen Litteratur bis Zeitalter Alexanders, Bd. I, Breslau 1857, 195. Karl Kerenyi, Dionysos: Urbild des unzerstörbaren Lebens, München, Wien 1976, 263.

auf das

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logischen Hemmungen des alltäglichen Lebens, wobei die ungeschriebenen Gesetze der griechischen Polis nicht mehr beachtet werden. Innerhalb dieser extremen Freiheit der dionysischen Festkultor wuchs die alte Komödie, und Stephen Halliwell interpretiert sie

als eine Art von „institutionalized shamelessness". Zwei Ausdrücke für die Schamlosigkeit der Alten Komödie sind die offene Zur-Schau-Stellung des Phallus, den die Schauspieler angeblich getragen haben, und die zügellose Obszönität des komischen Dichters. In der Alten Komödie durfte der Dichter andere Dichter, Staatsmänner und sogar Athen selbst mit derben und anstößigen Witzen verhöhnen. Solche persönlichen Beschimpfungen wurden in der Antike onomasti komodien genannt und sie ähneln Nietzsches ad hominem-Aiigáffen in Der Fall Wagner, Nietzsche contra Wagner, Götzen-Dämmerung und Der Antichrist. Interessanterweise haben die Schmähung und Verspottung in der Alten Komödie ihren Ursprung in der jambischen Poesie des Archilochus, der gemäß der Geburt der Tragödie der dionysische Künstler par excellence ist. Die Invektive war eine Besonderheit für Archilochus und in der Antike war er dafür bekannt, dass er seinen Feind Lykambes mit persönlichen Angriffen in den Selbstmord getrieben habe. Diese Art von Poesie heißt psogos, und Ralph Rosen beschreibt das Phänomen folgendermaßen: „A psogos, after all, takes the form of a direct provocation, a taunt or challenge that presumes a historical relationship with the target and implies a response from him."6 Rosen hebt hervor, dass, obwohl die Spannung zwischen dem Dichter und seinem Feind sich historisch begründen zu lassen scheint, man diese Spannung viel eher als eine literarische Konstruktion interpretieren sollte. Das gilt auch für das lyrische ,Ich'. Der Dichter will, dass sein Publikum sein historisches ,Ich' mit dem lyrischen ,Ich' gleichsetzt, aber in Wirklichkeit ist das ,Ich' des Gedichts etwas anderes als das ,Ich' des alltäglichen Lebens. Diese Aufhebung der Grenzen zwischen dem alltäglichen Leben und der Welt des Gedichts entspricht der Beschreibung Gerald Hödls von Nietzsches eigener dichterischer Tätigkeit in Ecce Homo. Hödl zeigt, „dass Ecce Homo nicht einfach eine Autobiographie darstellt, sondern eine Selbsterzählung, die eine systematische Funktion im Werk Nietzsches in Hinblick auf die ,Umwertung' hat. [...] Das ,Selbst', das Nietzsche darstellt, ist Ergebnis einer dionysischen Transfiguration der biographischen Daten, das ,Subjekt' dieser Erzählung ist nicht ,Herr Nietzsche', sondern der Typus Zarathustra/ Dionysos, insofern er von ,Herrn Nietzsche' dargestellt worden ist."7 In der Alten Komödie findet man die Selbsterzählung des Dichters in der Parábase. Nach Bernhard Zimmermann ist die Parábase das auffallendste Bauelement der Gattung. Sie ist ein reines Chorstück, das den Handlungsablauf etwa bei der Hälfte unterbricht. Hier spricht „der Chorführer im Namen des Chores oder im Auftrag des Dichters, ja sogar als Dichter selbst über die Rolle des Dichters in der Gesellschaft, über die

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Stephen Halliwell, Aristophanic Sex, in: The Sleep of Reason: Erotic Experience and Sexual Ethics in Ancient Greece and Rome, hg. von Martha Craven Nussbaum, Juha Sihvola. Chicago 2002, 124. Ralph M. Rosen, Old Comedy and the Iambographic Tradition, Atlanta 1988, 1.

Ebd. 5. Hans Gerald

Hödl, Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos: Studien zur systematischen Bedeutung von Nietzsches Selbstthematisierungen im Kontext seiner Religionskritik (Habilitationsschrift), Berlin 2001, 486.

Ecce Homo und die Alte Komödie

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Qualitäten seiner Dichtungen oder über das Verhältnis des Dichters zum Publikum". In anderen Worten: die Parábase ist autobiographisch: „In the case of Aristophanes, virtually an entire biography, purporting to be historical, has accreted to the poet over the centuries on the basis of his parabases." In seiner Selbsterzählung macht der Dichter zwei Dinge: Er verleumdet seine poetischen Gegner und lobt sich selbst. Nach Stephen Halliwell hat Aristophanes seine Parabasen benutzt, „to build up an extravagantly rhetorical image of [his] own character, standing, and ambitions, as well as the supposed shortcomings of his rivals."10 Im Bezug auf die Werke Nietzsches fallen besonders Der Fall Wagner und Nietzsche contra Wagner als Beispiele für die Tendenz des komischen Dichters, seinen Rivalen zu verspotten, auf. Als Beispiele für das Selbstlob des komischen Dichters muss man nur sein Augenmerk auf die Titel der einzelnen Bücher im Ecco Homo Warum ich so weise bin, Warum ich so klug bin, Warum ich so

gute Bücher schreibe und Warum ich ein Schicksal bin richten. Man kann die

Mischung von Selbstlob und Verspottung in der Parábase auch als Interpretationsansatz für die gesamte Komödie verwenden." Es ist typisch, dass die aristophanische Komödie mit einem Sieg des komischen Heldens endet und die Freude des Sieges oft mit dem Leiden seines Gegners verglichen wird. Solche feierlichen Abschlussszenen bilden einen scharfen Gegensatz zu dem Beginn des Stücks, wo einfache Charaktere sich über die Ungerechtigkeit ihrer aktuellen Lage beschweren. Wenn es ein Handlungsschema in der Alten Komödie gibt, besteht es aus der Verwandlung von Leiden und Ohnmacht in die Freude über die errungene Macht und den Sieg. Hier könnte man sagen, dass die Alte Komödie eine Art Umwertung aller Werte verkörpert. Das deutlichste Beispiel für einen solchen Handlungsverlauf ist in den Rittern finden. Hier wird der mächtige Politiker Kleon angegriffen und im Verlauf des Stückes wird er von einem Wursthändler, der aus der niedrigsten Schicht der Gesellschaft

stammt, gestürzt. Am Ende wird der Wursthändler als Herrscher Athens verherrlicht und Kleon übernimmt die Aufgaben des Wursthändlers. Obwohl die Stücke des Aristophanes oft als ein Aufruf zum Frieden gedeutet werden, sollte man nicht übersehen, dass im Zentrum der Alten Komödie der Agon steht, und die Taktik, die der komische Held verwendet, um seine Kämpfe zu gewinnen, von verbaler und physischer Gewalt geprägt ist. A. M. Bowie beschreibt die Welt der Komödie folgendermaßen: „[It is] a world in which violence [...] is the main characteristic, where the only way to achieve anything is to resort to [...] extreme measures private treaties, threats to kill ,children' and so on."12 Man könnte schließen, die Welt der Alten Komödie entspreche Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, wo Gerechtigkeit nichts außer ,ich herrsche' bedeutet. Obwohl der Vergleich mit Nietzsches Philosophie auf den ersten Blick übertrieben scheint, wird die Bedeutung des Machttriebs in

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Bernhard Zimmermann, Die griechische Komödie, Düsseldorf 1998, 38. Ralph Rosen, Cratinus Pythine and the Construction of the Comic Self, in: The Rivals of Aristophanes, hg. von David Harvey, John Wilkins, London 2000, 23. Stephen Halliwell, Introduction, in: Aristophanes Birds and other Plays, Oxford 1996, XXXVIII. A. M. Bowie, The Parabasis in Aristophanes: Prolegomena, Acharnions, in: The Classical Quarterly 1982, 32.

Ebd., 33.

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der Alten Komödie deutlich, wenn man sein Augenmerk auf die Vögel richtet. Hier geht es um das Streben des Atheners Peisetairos nach Weltherrschaft. Am Anfang erscheint alles harmlos und unschuldig. Peisetairos und sein Kamerad Euelpides wollen nur den Sorgen des alltäglichen Lebens in Athen entgehen. Die friedlichen Hoffnungen wandeln sich aber schnell zm Plan, die olympischen Götter von ihrem Thron zu stürzen. Stephen Halliwell schildert die Psychologie des Peisetairos so: ,fower lies at the heart of Peisetairos' scheme, a power for the birds that will involve them not only in colonizing' and controlling the whole sky, but also thereby in blockading the territory and intercepting the trade of their rivals, the gods. This is power politics and international relations on the largest scale imaginable, and it makes the social problems which irked [the main characters at the beginning of the play] look very petty indeed."13 Urn seine große Politik zu verwirklichen, überzeugt Peisetairos die Vögel mit einer fantastischen Genealogie, dass sie eigentlich die erstgeborenen Götter seien und daher sollen sie, und nicht Zeus, herrschen. Nach Peisetairos sind die Vögel fähig, die Götter zu besiegen, weil sie den Himmel kontrollieren und durch eine Blockade des Opferrauchs, d.h. der Götterspeisen, die Götter verhungern lassen könnten. Während des Stückes werden die Götter freilich böse. Zeus schickt daher seine Botin Iris, Peisetairos zu warnen. Peisetairos hat aber keine Angst vor Iris und ihrem Herrn. Er lacht über Zeus und droht Iris, sie zu vergewaltigen. Kurz darauf schickt Zeus Herakles, Poseidon und Prometheus, nicht um Peisetairos zu verprügeln, sondern um mit ihm zu verhandeln. Die Verhandlungen führen jedoch zu einem Desaster fur Zeus: Peisetairos gewinnt den Thron des Zeus und am Ende verherrlicht der Chor Peisetairos als neuen Herrscher. In den Vögeln geht es also nicht nur um die Machtbestrebung des Peisetairos, sondern auch um die Selbstvergöttlichung eines Menschen. Man könnte daher schließen, dass selbiges auch die Absicht Nietzsches gewesen sei, wenn er in einem höchst stilisierten Brief an Jacob Burkhardt schreibt: ,,[Z]uletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaffung der Welt zu unterlassen" (KSB 8, 577f.).

IV. Ecce Homo und die Alte Komödie Wenn die These richig ist, dass Ecce Homo eine Wiedergeburt der Alten Komödie sei, muss man davon ausgehen, dass die Autobiographie Nietzsches kein zufälliges Ende seines Schaffens darstellt. Obwohl er wahrscheinlich nicht vorhergesehen hat, in welcher Art und Weise dieses Projekt zustande kommen sollte, kann man doch bereits deutliche Anspielungen auf Ecce Homo in seinen früheren Werke finden. Das Werk, in dem solche Anspielungen am häufigsten vorkommen, ist Die fröhliche Wissenschaft. Anzuführen ist dabei (1) das Gedicht Ecce Homo (KSA, FW, 3, 367), (2) das ursprüngliche Ende des Aphorismus 107, wo Ecce Homo wieder erwähnt wird (ebd., 253), und (3) die acht Aphorismen am Ende des dritten Buches, wo der pindarische Spruch auftaucht, „Du sollst werden wer du bist" (ebd., 519). Da wir die Alte Komödie als eine 13

Stephen Halliwell, Aristophanes: Birds and other Plays, 6.

Ecce Homo und die Alte Komödie

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Institutional shamelessness' bezeichnet haben, ist es an dieser Stelle auch wichtig darauf hinzuweisen, dass am Ende des zweiten und dritten Buches eine Art von Schamlosigkeit gepriesen wird. Im Aphorismus 107 schreibt Nietzsche, „und so lange ihr euch noch irgendwie vor euch selbst schämt, gehört ihr noch nicht zu uns!" (ebd., 465), und im Aphorismus 275 heißt es, „was ist das Siegel der erreichten Freiheit?— Sich nicht mehr vor sich selber schämen" (ebd., 519). Noch wichtiger ist aber der erste Aphorismus des Buches, wo von der Zukunft des Lachens die Rede ist. Hier schreibt Nietzsche, „die kurze Tragödie gieng schliesslich immer in die ewige Komödie des Daseins über und zurück, und die ,Wellen unzähligen Gelächters' mit Aeschylus zu reden müssen zuletzt auch über den grössten dieser Tragöden noch hinwegschlagen" (ebd., 372). Während der letzte Aphorismus der 1882er Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft mit dem Titel Incipit tragoedia (ebd., 571) andeutet, dass Also sprach Zarathustra „die kurze Tragödie" ist, könnte man sagen, dass Ecce Homo die „ewige Komödie des Daseins" darstellt, wo Nietzsche „der grosse alte ewige Komödiendichter unsres Daseins" wird (KSA, GM, 5, 255). Akzeptiert man die These, dass die oben erwähnten Aphorismen Aussagen aus Ecce Homo bereits vorwegnehmen, bedeutet das, dass Nietzsche schon 1882 seine Tragödie in Also sprach Zarathustra als auch seine Komödie in Ecce Homo im Auge hatte. Die Frage ist dann, welche Funktion haben die Werke zwischen Also sprach Zarathustra Art

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und Ecce Homo? Zunächst kann man sagen, dass Jenseits von Gut und Böse und Zur Genealogie der Moral als dessen „Ergänzung und Verdeutlichung" (KSA, NF, 14, 377) Vorspiele zu einer Philosophie der Zukunft sind. Hier können wir die These, die im ersten Abschnitt angedeutet wurde, dass die Werke Nietzsches von 1888 die Philosophie der Zukunft darstellen, weiter entwickeln. Wie bereits behauptet, ist die Philosophie der Zukunft eine Philosophie des Lachens bzw. eine Wiedergeburt der Alten Komödie. Während Ecce Homo die Parábase der Komödie Nietzsches bildet, besteht sein persönlicher Agon gegen die Décadence aus den Werken Der Fall Wagner, Götzen-Dämmerung, Der Antichrist und Nietzsche contra Wagner. Ähnlich wie Aristophanes über die anderen komischen Dichter schimpft, verspottet er in Der Fall Wagner den Komponisten mit ,,reine[r] Bosheit" (KSA, WA, 6, 11). In der GötzenDämmerung setzt er seine ad hominem-Angriffe fort. Unter anderem verspottet er Sokrates als einen hässlichen Verbrecher und als dekadent und widmet einen ganzen Abschnitt der Polemik gegen die Deutschen. In den Briefen wird der Agon Nietzsches außerdem höchst politisch. In einem Brief (Entwurf) behauptet er, dass er „in einem heroisch-aristophanischen Übermuth eine Proklamation an die europäischen Höfe zu einer Vernichtung des Hauses Hohenzollern" verfasst habe (KSB 8, 565); vier Tage später findet seine große Politik in einem Brief an Meta von Salis ihren Höhepunkt: „Die Welt ist verklärt, denn Gott [Nietzsche/Dionysos M. M.] ist auf der Erde. Sehen Sie nicht, wie alle Himmel sich freuen? Ich habe eben Besitz ergriffen von meinem Reich, werfe den Papst ins Gefängnis und lasse Wilhelm, Bismarck und Stöcker erschießen" (ebd., 572). Wie Peisetairos in den Vögeln richtet sich der politische Ehrgeiz Nietzsches auf die Götterwelt, und sein Agon gipfelt in einem entscheidenden Kampf mit dem Christentum. Wie Martin Kornberger in seinem Artikel Zur Genealogie des „Ecce Homo" -

Matthew H.

200

Meyer

gezeigt hat, etabliert Nietzsche zunächst in Jenseits von Gut und Böse jenen Gegensatz, der sich am Ende seiner Autobiographie als derjenige zwischen „Dionysos gegen den Gekreuzigten" wiederfindet (KSA, EH, 6, 374).' Hier könnte man diesen Gegensatz in Hinblick auf das Lachen weiter ausführen. Der Gegensatz, den Nietzsche in seinen Spätwerken aufspannt, ist der zwischen dem .poetischen' Eros und dem Lachen des Dionysos einerseits und der Nächstenliebe und dem Mitleid der Christen anderseits. Es gibt vier Belege für diesen Ansatz, die ich hier vor Augen fuhren möchte. Im Druckmanuskript von Jenseits von Gut und Böse schreibt Nietzsche, dass Pascal sein „Christenthum" selbst totlachen hätte sollen (KSA, NF, 14, 346). In der Vorrede zur Geburt der Tragödie von 1886 setzt er den metaphysischen Trost, der zuletzt christlich sei, der „Kunst des diesseitigen Trostes" entgegen und bestimmt letzteren als den Trost des heiligen Lachens (KSA, GT, 1, 22). Im dritten Teil der Genealogie der Moral spricht Nietzsche von „Komödianten des christlich-moralischen Ideals" (KSA, GM, 5, 408) und in einem Brief an Malwida von Meysenbug aus dem Jahr 1883 heißt: „Wollen Sie einen neuen Namen für mich? Die Kirchensprache hat einen: ich binder Antichrist. Verlernen wir doch ja das Lachen nicht" (KSB 6, 357). V. Abschließende Bemerkungen Dieser Aufsatz kann nur eine oberflächliche Behandlung des vorgestellten Themas sein. Im Vergleich mit der Tragödie ist die Alte Komödie relativ unerforscht und es muss darauf hingewiesen werden, dass das, diesem Aufsatz zugrundegelegte Verständnis der Alten Komödie nur einem bestimmten Interpretationsansatz folgt, damit aber den verschiedenen abweichenden Interpretationen nicht gerecht werden kann. Mit den Spätwerken Nietzsches ist immer auch die Frage des Status des Nachlasses verbunden und sein Verhältnis zu den veröffentlichen Werken. Abgesehen davon würde die Behandlung der Genese und Bedeutung von Nietzsches Wahnsinn den Rahmen des Aufsatzes bei weitem sprengen. Statt auf diese Problematik einzugehen, möchte ich mich auf Charles Baudelaires De l'essence du rire et généralement du comique dans les arts plastiques berufen und damit diesen Aufsatz beenden. Nach Baudelaire schildert das Lachen einen Ausdruck für ein gewisses Überlegenheitsgefühl und Stolz. Da aber die Sünde ihren Ursprung im Stolz hat, ist das Lachen etwas gänzlich Unchristliches, sogar Satanisches, und nach Baudelaire ist es eine Vorstufe zum Wahnsinn. Meines Erachtens nach liegt hierin das Schicksal Nietzsches als der letzte Jünger und Eingeweihte des Gottes Dionysos. -

Martin Kornberger, Zur Genealogie des Ecce Homo ", in: Nietzsche-Studien 27 ( 1998). Vielen Dank an Martin Liebscher und Alfred Dunshirn für ihre Hilfe bei der Übersetzung. „

Janske Hermens

„und so [...] nenne ich Wagner den grossen Wohlthäter meines Lebens"1 On Ecce Homo and Nietzsche's Ideal of the

,Grosse Gesundheit'

As is well known, Friedrich Nietzsche had a very feeble health, which made him withdraw from his chair in philology in Basel when he was only in his early thirties. From his letters and from medical accounts we can get some idea of the fierceness of his illnesses, which took the form of stomach problems and ever returning headaches, related amongst others to his bad sight. This feeble health caused periods of sleeplessness and of deep depression, and brought Nietzsche to experiment with all kinds of selfmedication.2 When we look at Nietzsche's self-treatment, we get the impression that „nous n'avons pas exploré l'armoire à pharmacie d'un malade mais plutôt la mallette d'un médecin", as Pascal Maire puts it.3 Yet, when Nietzsche looks back on his life in Ecce Homo, the main attitude towards his bad constitution is one of gratitude (e.g. KSA, EH, 6, 272). This is peculiar at first sight. It becomes more understandable, however, when we read how his illness can be seen as a phase he had to go through, in order to reach a new, higher kind of health. Nietzsche narrates how it was only because of his experience of illness, that he could look at himself from a different angle and that he realised that, just like his contemporaries, he too suffered of the typical illnesses of modernity such as Romanticism and Idealism: „Die Krankheit brachte mich erst zur Vernunft. -" (ibid., 283). This insight triggered Nietzsche to experiment with the influence of different conditions of health on -

1

KSA, EH, 6, 290. I would like to thank Paul van Tongeren for his useful comments on an earlier version of this text. Ursula Pia Volz gives a helpful, detailed overview of Nietzsche's personal history of health and illness (Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinisch-biographische Untersuchung, Würzburg 1990). Compare also Pascal Maire, Pourquoi je me soigne si bien Nietzsche et le pharmakon ou la pharmacopée de Nietzsche, in: Didier Raymond (ed.), Nietzsche ou la Grande Santé, Paris 1999 (an overview mainly based on the Nietzsche biography by Curt Paul Janz). Two classical interpretations of Nietzsche's accounts of his bad health can be found with Karl Jaspers (mainly a philosophical interpretation) and Stefan Zweig (mainly a literary interpretation). Cf. Karl Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophirens, Berlin 1950; Stefan Zweig, Der Kampf mit dem Dämon. Hölderlin, Kleist, Nietzsche, Leipzig 1925. Pascal Maire, Pourquoi je me soigne si bien ...,61. ...

3

202

Janske Hermens

his

thinking, which in torn brought him Jene ,Psychologie des Um-die-Ecke-sehns'" (ibid., 266), and laid the basis for his project of a revaluation of values (ibid., 265f.). In as far as his illness provided him with a better, that is more rich or multifarious understanding of the world, and helped him to overcome his disease, Nietzsche's gratitude doesn't seem odd. However, when Nietzsche writes that he is not only grateful for the illnesses that he ,overcame', but also for their ,ongoing' presence, and when he claims that illness is an ,essential part' of health (e.g. KSA, FW, 3, 477), it becomes more complicated to grasp what he intends to say. The complicated and ambiguous nature of Nietzsche's concept of health, is reflected in the discord in secondary literature. Some authors assert that Nietzsche's claim of his personal convalescence and regained health, which according to Nietzsche is reflected in his writings (e.g. KSA, EH, 6, 326; KSA, MA, 2, 376), is no real health at all. This can be illustrated by some reactions on that other ,biography' of Nietzsche's: his new prefaces of 1886, especially those to Human, all too Human and the Gay Science. According to Richard Schacht Nietzsche's writings do breath a spirit of health. According to him the Gay Science „in tone and content [...] deserves its title." „[I]ts author has attained a new and spiritual health [...] and has become profoundly and joyfully affirmative of life." Julian Young, however, criticizes Schacht for this interpretation. He writes: „Schacht [...] has been duped. In spite of its title, 77ze Gay Science, it seems to me, is a work in which the only kind of gaiety its author achieves is a kind of maniac frivolity which is really no more than a symptom of desperation and despair."5 According to Young ,,[w]hat we have to decide is how correctly this pain is consigned to the

past".6

Young's contention that the pain and illness are still tangible in Nietzsche's writings is indeed quite tenable. However, in this article I want to defend that this observation is not a refutation of Nietzsche's claim that he has attained a new health. On the contrary, I would say. As we will see, health, and especially great health (grosse Gesundheit) is only possible, both in its ,nature' and in its genesis, because of its intrinsic and dynamic entanglement with illness. One of the examples in which the complexity of this ideal of great health, and its intrinsic connection to illness, becomes clear, is in Nietzsche's description and valuation of his relationship with Richard Wagner. In his early writings Nietzsche admired, even adored Wagner. He perceived of him as the artist who could bring a new health to his deeply diseased era by re-establishing a tragic culture (e.g. KSA, PHG, 1, 804; KSA, NF, 7, 372; KSA, NF, 8, 205ff.). As is well known, Nietzsche would abandon this vision of Wagner already during the mid seventies. In most of his later works he stresses that the one he saw as a possible remedy for a diseased culture, was in fact himself affected by its very illness (e.g. KSA, FW, 3, 620; WA and NW passim). Nietzsche then turns into a fierce opponent of Wagner, and in one of the last sane letters before his mental collapse, addressed to Carl Fuchs, he polemically calls himself an ,Antiwagner" (KSB, 8, 522). 4

5 6

Richard Schacht, Nietzsche's Gay Science, Or, How Nietzsche, Oxford 1988, 69. Julian Young, Nietzsche's Philosophy ofArt, Ibid., 93.

to

Naturalize

Cambridge 1992, 92.

Cheerfully,

in:

Reading



und so [...] nenne ich

Wagner den grossen Wohlthäter meines Lebens

However, until Nietzsche's very last letters and publications, such

as

"

203

Ecce Homo and

Nietzsche contra Wagner, we find passages in which Nietzsche still praises Wagner, and stresses the intimate congeniality and ,Verwandschaft' to him (e.g. KSA, EH, 6, 268). One intriguing fragment reads: „Ich denke, ich kenne besser als irgend Jemand das Ungeheure, das Wagner vermag, die fünfzig Welten fremder Entzückungen, zu denen Niemand ausser ihm Flügel hatte; und so wie ich bin, stark genug, um mir auch das Fragwürdigste und Gefährlichste noch zum Vortheil zu wenden und damit stärker zu werden, nenne ich Wagner den grossen Wohlthäter meines Lebens. Das, worin wir verwandt sind, dass wir tiefer gelitten haben, auch an einander, als Menschen dieses Jahrhunderts zu leiden vermöchten, wird unsre Namen ewig wieder zusammenbringen" (ibid., 290). How should we interpret this peculiar text? Why is Wagner the great benefactor (Wohlthäter) of Nietzsche's life? Wasn't it under his influence that Nietzsche came under the spell of Romanticism? Wasn't he more the great sickmaker than the great healer? If we read more carefully I think we must come to the conclusion that Wagner was the great benefactor, precisely because he was the great sickmaker! Nietzsche's formulation „und so wie ich bin, stark genug, um mir auch das Fragwürdigste und Gefährlichste noch zum Vortheil zu wenden und damit stärker zu werden" (ibid.) seems to be almost a definition of the his ideal of a great health! Let's first have a look at the way Nietzsche describes his ideal of great health, and the way in which this concept can be related to that of agon. Then we will see why Wagner, as a worthy opponent who could trigger the maximum of strength and profundity, can be understood as Nietzsche's ,grosser Wohltäter'. Finally, we will see how the ideal of great health is a dangerous one. A healthy that is: brave person will put himself at risk. At the same time he is also endangered by the dominant moral codes of our time, with which certain groups in society try to infect the healthy people in order to weaken their strength. We will see how Nietzsche as a ,hands-on' expert when it comes to health and the dangers that threaten health sees himself as a teacher and for others. task because of A the complexity of communication in guide which, Nietzsche's philosophy, and especially of communicating one's proper experiences, is -

-

-

not

unproblematic.

So what exactly is this great health? When one tries to describe it, it often tends to slip out of ones hands. It seems to be ,essentially' changeable in its ,nature'. In his Ecce Homo Nietzsche quotes the famous passage of Gay Science 382, where he speaks about „die grosse Gesundheit [...] welche man nicht nur hat, sondern auch beständig noch erwirbt und erwerben muss, weil man sie immer wieder preisgiebt, preisgeben muss ..." (ibid., 338). Health here takes the form of an ongoing process of overcoming and selfovercoming. The process of conquering, of striving after it, is part of its ,nature', of what health ,is'. In this line of thought illness becomes a necessary stimulant for health, „Wir brauchen das Anormale, wir geben dem Leben einen ungeheuren choc durch diese großen Krankheiten ..." (KSA, NF, 13, 341). Nietzsche wonders whether real health could ever do without sickness. Whether health without sickness isn't just a prejudice (cf. KSA, FW, 3, 477). „Sie braucht Widerstände, folglich sucht sie Widerstand" (KSA, EH, 6, 274; also KSA, NF, 12, 301 f., 308). And if health can only exist if it has a

204

Janske Hermens

counter-force (i.e. illness) that it can overcome, than we need not only seek for (erwerben) health, but also need to give it up over and again, so that we will be able to strive for it anew. In the idea of a great health, that can only grow if it has strong opponents that can be conquered, we recognise the idea of agon, of the ,Wettkampf in Nietzsche's early writings7, which evolved into the will to power in his later works. A health that is unchallenged, will quickly loose its force. Something that stands still, will dwindle, will die away: „Die Stärke des Angreifenden hat in der Gegnerschaft, die er nöthig hat, eine Art Maass; jedes Wachsthum verräth sich im Aufsuchen eines gewaltigeren Gegners oder Problems: denn ein Philosoph, der kriegerisch ist, fordert auch Probleme zum Zweikampf heraus" (KSA, EH, 6, 274). The stronger the resistance is, the more we will need to struggle, and the more we can grow, that is develop our talents and possibilities. A real strong person will therefore not only be able to cope with resistances, but will actively search for them. Yet sometimes external input may be necessary for a revitalisation of a person or a power that becomes conceited. A concept that Nietzsche often uses to stress the importance of stimuli for growth in this context is ,inoculation', a term that originates from botany, but that he converts to the social and cultural sphere (cf. KSA, NF, 8, 257, 364; KSA, MA, 2, 187). .Inoculation' is the insertion of one type of species (e.g. a loot of one type of tree) into (the stem of) another. When Nietzsche applies this idea to the cultural level, he describes for instance the invasion of new cultures into older ones. The introduction of a strange element into a culture may work as an impulse. By inflicting a shock effect, a culture that has become weary, or decadent in Nietzsche's own words, is jolted awake. It needs to defend itself and to overrule the strange invader, in order to avoid being overruled itself. In this way the inoculation re-incites growth and the will to overpower. A power that has been pushed back into action in this way, will immediately start to search for external stimuli, instead of just responding to them. A good warrior, however, always searches for worthy enemies (cf. KSA, EH, 6, 274). Just like in an Aristotelian friendship, the two should be on an equal level, in order to really .challenge' one another. This brings us back to the peculiar text on Wagner as Nietzsche's benefactor. To Nietzsche Wagner was such a worthy opponent. Nietzsche often mentions that Wagner was the only one who was equal to him in the profundity of suffering (e.g. ebd., 290 and the letter to Franz Overbeck of 12 November 1887: KSB, 8, 196), it is indeed this ability to suffer that, according to Nietzsche, determines ones -

See for instance Herman Siemens for the importance of the agon in Nietzsche's critique of culture (Herman Siemens, Nietzsche's hammer: philosophy, destruction, or the art of limited warfare, in:

Tijdschrift voor Filosofle 60-1 (1998).

Note that in Ecce Homo, just like in most of his other later works, the line between inner resistances (like Probleme, but we could also gather diseases under this category) and outer resistances (like Gegner) gets very thin. As Malcolm Pasely indicates most of the diseases Nietzsche speaks about are not diseases in the strictly literal sense. Wagner is called a disease, Romanticism and Pessimism are diseases as well (Malcolm Pasley, Nietzsche's Use of Medical Terms, in: Malcom Pasley, [ed.], Nietzsche: Imagery and Thought. A Collection ofEssays, London 1978).



und so [...]

nenne

ich

Wagner den grossen Wohlthäter meines Lebens

"

205

intensity of living, and so one's ,rank' in the human hierarchy (cf. KSA, JGB, 5, 225; KSA, NW, 6, 435; also: KSA, Za, 4, 199). So if Nietzsche calls Wagner his „Antipode" (KSA, NW, 6, 425), and characterizes himself as an „antiwagner" (KSB, 8, 522) this should be interpreted not only in a pejorative but also in meliorative sense. Nietzsche's fierce attacks on Wagner, also means that Wagner is worthy of attacking, and can therefore be seen as a compliment (cf. KSA, EH, 6, 275). However, searching for a strong sparring partner, like Wagner was, means operating on the edge of the knife. In a letter to Fuchs Nietzsche characterizes his friendship with Wagner as „ein über alle Maaßen gefährliches Experiment" and „meine stärkste Charakter-Probe" (KSB, 8, 210). Worthy opponents are dangerous opponents, and their challengers run the risk to be defeated and destroyed. Wagner was an ,illness', that fortifies you once you have overcome it, but that can also infect you and in the end lead to your destruction. In order not to be defeated by his opponents, Nietzsche has to be well aware of his own strengths and weaknesses, and those of his enemies. Often Nietzsche compares the mind of a healthy person with a well functioning stomach: he knows what to eat and when, and when to abstain from it: „Er erräth Heilmittel gegen Schädigungen, er nützt schlimme Zufalle zu seinem Vortheil aus; was ihn nicht umbringt, macht ihn stärker. Er sammelt instinktiv aus Allem, was er sieht, hört, erlebt, seine Summe: er ist ein auswählendes Princip, er lässt Viel durchfallen" (KSA, EH, 6, 267). According to Nietzsche, it is offen the most talented people, who are

most prone too

illnesses, and so in the end to destruction. This has both to do with

their own physiological and mental make-up, and with the ignoble (unvornehme) time in which they live (cf. KSA, GM, 5, 336). The healthiest people are the ones endowed with the strongest instincts and affects, and who are able too sustain the maximum of tension between these instincts (KSA, NF, 12, 423f). The intensity of their affects has two sides: strong people are prone to intense joy, but also to intense suffering. And at the same time these ,opposed' instincts are not really two sides of a medal, in the sense that intense experiences are not so much opposed to their .opposite' experiences (e.g, deep illness and great health, or intense pain and intense happiness). Rather are the mediocre or average affects, that is the affects of the majority of the population, opposed to the intense both the ,ilP and the ,healthy' ones of the minority of strong people. But as these intense affects are so closely connected, the border between opposing ones is not very sharp. We recognise it from our proper experiences: profound love is acquainted to, and so can easily turn into, profound hate. This makes the strong person quite vulnerable: ,,[A]lle Menschen, die gesündesten voran, sind gewisse Zeiten ihres Lebens krank: die großen Gemüthsbewegungen, die Leidenschaft der Macht, die Liebe, die Rache sind von tiefen Störungen begleitet" (KSA, NF, 13, 366). Again: the border is very thin. Under the influence of the contemporary physiologist Claude Bernard Nietzsche writes: „Gesundheit und Krankheit sind nichts wesentlich Verschiedenes [...] Thatsächlich giebt es zwischen diesen beiden Arten des Daseins nur Gradunterschiede: die Übertreibung, die Disproportion, die Nicht-Harmonie der normalen Phänomene constituiren den krankhaften Zustand" (ibid., 250). When affects get too strong or too intense, they turn into illnesses. A strong person will therefore search for the maximum of tension between -

-

-

206

Janske Hermens

without being defeated by them: „Je größer die HerrenKraft unseres Willens ist, so viel mehr Freiheit darf den Leidenschaften gegeben werden. Der große Mensch ist groß durch den Freiheits-Spielraum seiner Begierden: er aber ist stark genug, daß er aus diesen Unthieren seine Hausthiere macht" (ibid., 474). The external danger which the strong individual faces in modern times, is that he is lured away by the ideals of modernity, by the call for the ,Circe of humanity', Christian morality. There are quite some historical examples of strong and healthy thinkers who were infected by the seductive ideals of Christianity, like those of pity and solidarity (e.g. KSA, NF, 12, 474f; KSA, NF, 13, 192). Blaise Pascal is an example that Nietzsche often refers to (e.g. ibid., 27), and Wagner is a contemporary case. Among his contemporaries, Nietzsche tries to identify and select those few who, despite their infection with the illnesses of modernity, can contribute to the improvement of culture and the higher man: „Wie müssen Menschen beschaffen sein, die umgekehrt werthschätzen? Menschen, die alle Eigenschaften der modernen Seele haben, aber stark genug sind, sie in lauter Gesundheit umzuwandeln" (KSA, NF, 12, 109). Nietzsche believes that his own experience of illness and convalescence makes him into an expert in this field (cf. KSA, EH, 6, 264). His books function as a „Gesundheitslehre, welche den geistigeren Naturen des eben heraufkommenden Geschlechts zur disciplina voluntatis empfohlen sein mag" (KSA, MA, 2, 371; also KSA, EH, 6, 264), so that they will not be led astray. The complication, however, is that within the framework of Nietzschean philosophy, an explicit account of the advancement and counteractions of health won't do. Indeed: if language, as a product of the mind and conscious thinking, is itself the source of alienation and falsification (cf. KSA, FW, 3, 590ff.), how can an explicit communication of his message of his experiences evoke the proper effect? How can it make that people experience his experiences from within? If he first needs to translate his own, most individual experiences into language, and then the reader should retranslate, or incorporate his words into flesh and blood again, the first experience will only resemble the latter, if the reader has had experiences similar to those of Nietzsche (cf. ibid., 345). This issue of translation and communication seems to be one of the main difficulties and challenges of Nietzsche's philosophical project.9 A trap that he was well aware of. In a late Nachlass fragment he writes: ,,[I]n Wahrheit handelt es sich bei der Moral darum, die chemische Beschaffenheit des Leibes zu verändern./ Ungeheurer Umweg. In wiefern es möglich ist, direkter zu gehen?" (KSA, NF, 10, 172). Nietzsche's performative way of writing and his use of stylistic techniques are some of the ways in which Nietzsche, by means of language, tries to overcome the handicaps of this same lan-

opposed instincts, however,

guage.10

His readers will have too experience their own illness and the illness of their contemporary culture from within, and till the bottom, if they want to be able to really execute the revolution that Nietzsche experienced. They will first have to become sicker than all 9

10

I want to thank the

participants of the Nietzsche Werkstatt 2004 at Schulpforte for discussing and sharpening my understanding of this issue. Paul van Tongeren gives an interesting account of the different stylistic techniques that Nietzsche applies in order to overcome, or even use, the falsifying mechanisms of language (in: Reinterpreting Modern Culture. An Introduction to Friedrich Nietzsche's Philosophy, Indiana 2000).



und so [...] nenne ich

their

Wagner den grossen Wohlthäter meines Lebens

"

207

contemporaries and to really go through the deepest misery of illness, of nihilism:

es am schwersten habt, ihr Seltenen, Gefährdetsten, die ihr das Gewissen der modernen Seele sein müsst und als Geistigsten, Muthigsten, solche ihr Wissen haben müsst, in denen was es nur heute von Krankheit, Gift und Gefahr geben kann zusammen kommt, deren Loos es will, dass ihr kränker sein müsst als irgend ein Einzelner" (KSA, MA, 2, 376 ). They will, in other words, all need their own ,Wagner', that is, their own sparring partner, their own deepest illness, in order to overcome it and reach the highest health, the ,Grosse Gesundheit'.

„Vor allem aber Euch, die ihr

-

Tobias Dahlkvist

Why Was Nietzsche so Wise and so Clever? Ecce homo and the

Melancholy Tradition

The reader who picks up Ecce homo for the first time will almost certainly be puzzled by the chapter titles, and by the discrepancy between them and the contents of the chapters. Under the title Why I am so wise, Nietzsche mainly talks about how ill he has been. Under the title Why I am so clever he writes a great deal about his sensitive stomach. And under the title Why I write such good books, his main concern seems to be to insult the German people. His stomach and his illness are in some way connected to his philosophical genius as well as to the things that he hates about Germany. One could say that his philosophical achievement is somehow related to his having found a cure to his indigestion. My aim with this paper is to examine what Nietzsche is doing by comparing his arguments to those of some representatives of a tradition in which this is a standard topos: the melancholy tradition. A central theme in Ecce homo is overcoming, ,Überwindung', and the illness that Nietzsche talks about is an example of this theme. Nietzsche describes himself as a decadent, but as a decadent who has overcome decadence. He hints at being prone to pity, but claims to have purged himself of this last sin. He presents himself as a man with a long history of illness, but with a healthy instinct which has enabled him to cure himself. This theme is not limited to Ecce homo: one could argue that overcoming is the central theme in Nietzsche's Nietzsche suggests that modern man, especially in Germany, suffers from an illness from which he himself suffered but has managed to cure himself. It manifests itself as lethargy (,Trägheit') but by keeping it in shackles, by overcoming it, the result may be works of genius. The leading scholars seem to implicitly regard this illness as a metaphor. Giorgio Colli, for example, identifies decadence as „il suo problema centrale".2 Elisabeth Kuhn regards nihilism (with decadence and pessimism as variations) as the

philosophy.1

2

As does indeed one of the most prominent Nietzsche scholars: Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist, (1950), Princeton 1974, 16: „Self-overcoming, not ambiguity, is the key to Nietzsche." Giorgio Colli, Scritti su Nietzsche (1980), Milano 1995, 198f.

210

Tobias Dahlkvist

central theme in his philosophy. And Rüdiger Safranski seems to suggest that the illness that Nietzsche fought against in himself and in society was These notions are all reasonable: Nietzsche's philosophy is a struggle to come to terms with a loss of meaning that afflicts man in modern society, a loss that can easily be described in terms of nihilism or decadence, and that might manifest itself as pity. But although these notions are all reasonable, there remains something that they fail to explain. For how can decadence be caused by the heavy German food? How can nihilism cause English women to dance poorly? And how can pity be the reason that Germans write and think so badly? My answer is that decadence is the central problem. But as I intend to demonstrate, Nietzsche accomplishes a more graphic description by using images and metaphors associated with melancholy when discussing decadence. The instincts of an ill person leads, Nietzsche writes, to resentment, to pity, to lust for revenge, etc. But when one is ill, nothing is as dangerous as resentment, as it causes a pathological increase of dangerous secretions in the body, „zum Beispiel der Galle in den Magen" (KSA, EH, 6, 272). Buddha understood this, and Buddhism is thus a system of hygiene rather than a religion. The word ,hygiene' is a key word for understanding Ecce homo: „a system of principles or rules for preserving or promoting health" according to the Oxford English Dictionary. For this is what Nietzsche does in Ecce homo: by showing how he cured himself, he shows the reader how to come to terms with the inconveniences of modern culture. The illness clearly has metaphoric traits. The illness he talks about represents the ills of modern society. But it is not a pure metaphor. For Nietzsche also clearly means that his own illness, his migraine, his attacks of vomiting, headaches, etc., are caused by the faulty way of life that man in modern society is led to by the church, the pessimistic philosophers, and other decadents.5 The illness that Nietzsche discusses thus is a metonymy rather than a metaphor: Nietzsche's illness represents the affection of modern man, but is itself part ofthat very affection. The metonymical structure of Nietzsche's argument makes this illness remarkably similar to melancholy. For melancholy manifests itself as gloom, as a loss of interest in life, as lethargy. It is an illness that is traditionally considered to be caused by indigestion. And it is an illness that can be kept under control by writing; that if kept under control appropriately is thought to inspire works of genius.6 Melancholy is a special imbalance between the four humours, the substances that formed the basis of ancient

pity.4

4

6

Elisabeth Kuhn, Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus, Berlin, New York 1992. Rüdiger Safranski, Nietzsche. Biographie seines Denkens, Frankfurt/M., 2000, 168. I fully agree with Alexander Nehamas that we have to take Nietzsche's belief that the illness has

physiological roots seriously; Alexander Nehamas, Nietzsche. Life as Literature, Cambridge, London 1985, 120. This explains how Nietzsche can use Hamlet as an example of a Dionysian man in Die Geburt der Tragödie and as an example of insanity in Ecce homo, although the interpretation remains the same. In the Geburt der Tragödie, Hamlet's melancholy is interpreted as pessimism, a courageous attitude to suffering; in Ecce homo it is still interpreted as pessimism, but by now, pessimism is considered

an

illness.

Why Was Nietzsche so

Wise and so Clever?

211

medicine: in case of a surplus of black bile, also called black choler, melancholy is the result. It is caused by indigestion, and it manifests itself as gloominess, as a tendency to seek out dark and lonely places, especially graveyards, and meditate upon the meaninglessness and suffering of life. Melancholies' hair and skin tend to be dark. They live in a state of constant fear and sorrow. This is because they carry a darkness within them.7 Black bile spreads in the body, particularly to the head, and to the eyes. The person suffering from melancholy thus sees the world through a black veil, and this darkness causes their sorrow and fear. Just as children are frightened by the outer darkness, the melancholy persons are frightened by their inner darkness. At first, though, melancholy causes a bitter-sweet meditation upon the things and activities that one cherishes. Instead of attempting at fulfilling one's dreams, the person suffering from melancholy spends his time thinking about them. A melancholy scholar, intellectuals are particularly prone to this illness, will meditate upon the works that he will eventually write, instead of setting about writing them. It can be a very pleasant state of mind, which makes melancholy all the more dangerous. Melancholy manifests itself as a certain slowness of mind, a lethargy that borders to stupidity. At least it usually does. But there is an ambivalence to melancholy. Under the right circumstances, the illness can also manifest itself as intellectual brilliance. In a text attributed to Aristotle the question „Why is it that all men who have become outstanding in philosophy, statesmanship, poetry, or the arts, are melancholic [...]?" was raised.8 This question has never ceased to occupy the theoreticians of this illness. A beautiful attempt at an answer is provided by the Swiss psychiatrist and historian of literature Jean Starobinski: „Écrire, c'est former sur la page blanche des signes qui ne deviennent lisibles que parce qu'ils sont de l'espoir assombri, c'est monnayer l'absence d'avenir en une multiplucité de vocables distincts, c'est transformer l'impossibilité de vivre en possibilité de dire [...]." Galen (2nd century A.D.) distinguishes between two forms of melancholy: natural and non-natural melancholy, and thus provides an explanation of the great difference of its symptoms. The natural melancholy is caused by an excess of black bile and manifests itself as lethargy and stupidity. The non-natural melancholy is caused by a different mechanism. Some part of the body, usually the spleen, the stomach, or the brain, is too hot and scorches the black bile. As a result, black fumes spread in the body and cause a perpetual inner darkness.10 This kind of melancholy causes madness. Later, the other humours (blood, phlegm, and yellow bile) can also produce different types of fumes, and different types of melancholy. Under the right circumstances, melancholy might manifest itself as great intelligence, especially if it is caused by a mixture of black bile and blood. But although melancholy is traditionally 7

8

10

Starobinski, Histoire du traitement de la mélancolie des origines à 1900, Bâle 1960, 14: „Le noir est sinistre, il a partie liée avec la nuit et la mort; la bile est acre, irritante, amère." Aristotle, Problem XXX, I, in: Problems ll/Rhetorica ad Alexandrum, trans. W. S. Hett, H. Rackham, Loeb Classical Library, Cambridge, MA., London, 1983 (953a-955a). Jean Starobinski, L'encre de la mélancolie, in: La nouvelle revue française 123, March 1963, Jean

422. Hence its Latin

name:

melancolía adusta

or

combusta.

212

Tobias Dahlkvist

regarded as an illness, it is also an important artistic motif with a very long history. At every single point in its long history, melancholy retains medical as well as artistic connotations. One of the reasons of the longevity of melancholy probably is this

ambivalence. In the 18th century, belief in the actual existence of a thick black substance in the body which caused melancholy died out. But melancholy survived. It was reinterpreted as a disease of the nerves. And the notion of a melancholy temperament, a predisposition, also survived. This meant that although the traditional view of melancholy changed radically, the symptoms, the causes, and the cures remained much the same. The traditional emetics and laxatives were usually herbs and roots with an unpleasant taste and powerful effect on the body. These could still be used: instead of being given with the purpose of purging the body of black bile, they were administered to break the patient's state of lethargy, to force him or her to react.11 In the 20th century, melancholy became less important as a medical concept as depression took its place, but for the greater part of the 19th century, depression was a symptom of melancholy rather than a diagnosis in its own right.12 Traditionally, six factors are believed to affect us, and cause or prevent melancholy. These six factors are simply called ,the six non-natural things'. Identical lists can be found in texts by ancient physician and in 16th and 17th century writers such as Robert Burton or Michel de Montaigne.13 Burton's list consists of: diet, retention and evacuation, air, exercise, sleeping and waking, and perturbations of the mind.14 The section of The Anatomy of Melancholy that has attracted the greatest attention probably is a passage where Burton discusses what food and drink is appropriate for a melancholy person. This type of lists has a history that goes back, at least, to the second century A.D.16 Burton's list of things that must be avoided is very long, around

Starobinski, Histoire du traitement, 6ff. Michael Schmidt-Degenhard, Melancholie in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts, in: Udo Benzenhöfer et al., Melancholie in Literatur und Kunst, Hürtgenwald 1990, 171 ff. Starobinski shows that Montaigne's discussion of his health is outlined from these six nonnatural things. Jean Starobinski, Montaigne en mouvement, Paris 1983, 181. See also M. A. Screech, Montaigne and Melancholy. The Wisdom of the Essays, (1983), Lanham, MD 2000, where a more historical approach to Montaigne's role in the history of melancholy is applied. Robert Burton, The Anatomy ofMelancholy, (1621), ed. Holbrook Jackson, New York 2001, Pt. 1, Sec. 2, Mem. 2, Subs. 1. Although Nietzsche never read Burton, as the nearly 1500 pages that Burton's book consists of have only recently been translated, Nietzsche could not have read it, his highly eclectic book can be used to illustrate the central thoughts in the tradition. An identical list from the medieval Arabic physician Constantinus Africanus is quoted in Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der NaturJean

12

13

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philosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, trans. Christa Buschendorf, English original edition, 1964, extended German ed., Frankfurt/M. 1992, 148f. Robert Burton, The Anatomy of Melancholy, Pt. 1, Sec. 2, Mem. 2, Subs. 1 & 2.

Hellmut Flashar, Melancholie und Melancholiker in den medizinischen Theorien der Antike, Berlin 1966, 107: „Da nun die Bildung von schwarzer Galle auf allen drei Stufen stark von der Nahrungsaufnahme abhängt, führt Galen einen langen Katalog von Speisen an, die das Blut schwarzgallig machen und bei Melancholie daher zu meiden sind. Es handelt sich um verschie-

Why Was Nietzsche so

Wise and so Clever?

213

exception of young rabbits, are dangerous, espefish is all as are unsuitable, types of vegetables, especially cabbage; fruit, cially hare; and all fumes that lead to melancholy. Generally speaking, the nuts, spices produce darker and the coarser the foodstuff, the greater the risk. All types of alcoholic drinks are dangerous: the darker they are, the more detrimental is their effect; beer and red wine are particularly harmful. Lobster is fine; and it seems that honey and white bread can be eaten with no risk. Black bile is formed out of the course part of the food and therefore heavy food produces more black bile. But heavy food is also harder to digest and might cause melancholy for that reason. For when the food is incompletely digested, it starts to putrefy in the stomach, producing black fumes that spread to the brain, and thus cause melancholy. It is therefore very important that the body gets rid of waste materials. This is what the second factor, ,retention and evacuation', concerns. Different herbs can be used as laxatives and emetics. Foremost among these is hellebore, or Christmas rose, a poisonous flower with a strong laxative and emetic effect. The patient would drink a decoction of the roots of this plant. Other substances that remain in the body for too long might also go bad and cause melancholy: celibacy can be dangerous, as the seminal fluid might putrefy and spread poisonous fumes into the body. ,Air' is the third non-natural thing. It is important that the air is fresh, but not too cool. The most important aspect of this is effect of the climate. Burton comes to the conclusion that a mild climate, not too wet, and neither too hot nor too cold, is preferable. Hence, travelling can be an important part of a cure. Jean Starobinski mentions that the grand tour tradition, the long European journey that formed an important part of the education of English noblemen, was intended to cure or prevent melancholy just as much as it was intended to contribute to their education.1 ,Exercise' is number four on the list. Melancholy is an illness that scholars and students are particularly prone to, as they do not exercise their body enough. Just like Nietzsche, he regards walking to be the best form of exercise. Physical exercise is immensely important for mental health. Burton's is a fairly intellectual audience, and this aspect is therefore highlighted. But he also writes that chess is the perfect pastime for soldiers and women, who do not share the scholars' problem of thinking and brooding too much. ,Sleeping and waking' is the fifth non-natural thing. It is important to sleep well and not to spend the nights awake. Students and scholars must not use the nights to study. Sleep is important for the recovery of the body and the mind, but darkness is also a factor to take into consideration, for darkness breeds melancholy: „Of colours it is good to behold green, red, yellow, and white, and by all means to have light enough, with windows in the day, wax candles in the night, neat chambers, good fires in the 15 pages. All types of meat, with the

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dene Fleisch- und Fischsorten, dunkle und dicke Weine, Kohl und alten Käse. Generell sind es die dunklen und scharfen Nahrungsmittel, die zur Erzeugung von schwarzer Galle und damit von Melancholie beitragen." Jean Starobinski, Historie du traitement, 16. Ebd., 68.

Tobias Dahlkvist

214

winter, merry companions; for though melancholy persons love to be dark and alone, yet darkness is a great increaser of the humour."1 The final factor, perturbations of the mind', is perhaps the most important, and the

and they tend most elusive. Melancholy persons have a particularly active to use it to frighten themselves. The relationship between the physiological presuppositions of melancholy and its symptoms is not one of simple cause and effect, however. Indigestion leads to melancholy, but melancholy might also cause excessive appetite. Melancholy results in a tendency to avoid the company of other people, but loneliness also breeds melancholy. Melancholy manifests itself as a tendency to seek out dark and

imagination,

gloomy places, but these places also cause melancholy. The behaviour of the melancholy person is a symptom of the illness, but might also be the cause of it. To cure oneself one is required to avoid everything that leads to gloomy thoughts, be it improper food, bad weather, loneliness, or other gloomy thoughts. Now let us, with this outline in mind, return to Nietzsche, and to Ecce homo. Let us more precisely return to the discrepancy between the titles and the contents of the chapters. A large part of Warum ich so klug bin deals with German cooking: „Aber die deutsche Küche überhaupt was hat sie nicht Alles auf dem Gewissen! Die Suppe vor der Mahlzeit [...]; die ausgekochten Fleische, die fett und mehlig gemachten Gemüse; die Entartung der Mehlspeise zum Briefbeschwerer! Rechnet man gar noch die geradezu viehischen Nachguss-Bedürfhisse der alten, durchaus nicht bloss alten Deutschen dazu, so versteht man auch die Herkunft des deutschen Geists aus betrübten Eingeweiden Der deutsche Geist ist eine Indigestion, er wird mit Nichts fertig. [...] Die beste Küche ist die Piémont 's" (KSA, EH, 6, 279f.). All of this is remarkably similar to what Burton has to say on diet and on ,evacuation and retention'. German lethargy is caused by the heavy German food and by excessive drinking (Nietzsche himself cannot even drink a glass of wine or beer a day). German food and beer cause indigestion, and the effect that this indigestion has on the mind of its inhabitants is one of the reasons why Germany is so unbearable to Nietzsche. -

-

...

That Nietzsche was very sensitive when it came to food is well known. A list preserved in his Nachlaß indicates just how sensitive he was: „Dinge, mit denen mein Magen schlecht oder gar nicht fertig wird: Kartoffeln, Schinken, Senf, Zwiebeln, Pfeffer, alles im Fett gebackene, Blätterteig, Blumenkohl, Kohl, Salat, alle geschmälzten Gemüse, Wein, Würste, Buttersaucen am Fleisch, Schnittlauch, frische Brotkrumen, alles gesäuerte Brod/ Alles auf dem Rost Gebratene, alles Fleisch saignant, Kalb, Rostbeef, Gigot, Lamm, Eidotter, Milch auch Schlagsahne, Reis, Gries, gekochte warme Äpfel grüne Erbsen Bohnen Carotten Wurzeln Fisch, Kaffee Butter braune Weiß-Brodkruste" (KSA, NF, 11, 426). What does this list mean? For one thing, it means that indigestion caused by German food was something with which Nietzsche was very familiar. It means that „die betrübten Eingeweide" were known by first-hand experience. It means that reducing the illness that Nietzsche talks about to a metaphor blurs its importance. As a German, Nietzsche is particularly prone to the illness because of the food, the cold and gloomy climate, etc. But unlike most Germans, he felt the effects and was strong enough to overcome them. Robert Burton, The Anatomy

ofMelancholy, Pt. 2, Sec. 2, Mem. 3.

Why Was Nietzsche so

Wise and so Clever?

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Climate, a factor that traditionally belongs under the heading ,air', is something that Nietzsche discusses with an energy that borders to obsession: „Mit der Frage der Ernährung ist nächstverwandt die Frage nach Ort und Klima. Es steht niemandem frei, überall zu leben; und wer grosse Aufgaben zu lösen hat, die seine ganze Kraft herausfordern, hat hier sogar eine sehr enge Wahl. Der klimatische Einfluss auf den Stoffwechsel, seine Hemmung, seine Beschleunigung, geht so weit, dass ein Fehlgriff in Ort und Klima nicht nur seiner Aufgabe entfremden, sondern ihm dieselbe überhaupt vorenthalten kann: er bekommt sie nie zu Gesicht" (KSA, EH, 6, 281 f.). Nietzsche goes on to note that men of genius tend to come from places with a dry climate: Paris, Provence, Florence, Jerusalem, Athens. The dry air of these places allow for a rapid metabolism which is necessary for genius to blossom. In the earliest accounts of melancholy, great stress is laid on the fact that it is cold and dry. According to Hellmut Flashar, melancholy was first considered to be an illness that affected people living in dry climates when certain winds were blowing. But once the notion of a non-natural melancholy is born, this connection becomes less important. Instead, climates that favour the formation of dark fumes are considered dangerous, and in this context, a cold, moist, swampy climate is considered the worst. The intellect does not occupy a privileged role in relation to the body in Nietzsche's philosophy. On the contrary, the intellect is a bodily function, comparable to any other, and affected by outer factors just as they are. It seems to me that Nietzsche regarded this as one of his greatest ideas. „Man wird mich fragen, warum ich eigentlich alle diese kleinen und nach herkömmlichen Urtheil gleichgültigen Dinge erzählt habe; ich schade mir selbst damit, um so mehr, wenn ich grosse Aufgaben zu vertreten bestimmt sei. Antwort: diese kleinen Dinge Ernährung, Ort, Clima, Erholung, die ganze Casuistik der Selbstsucht sind über alle Begriffe hinaus wichtiger als Alles, was man bisher wichtig nahm. Hier gerade muss man anfangen, umzulernen" (ibid., 295). These things are important because the body and the mind are one. These things are important because a cold and wet climate breeds dark thoughts; because heavy food causes indigestion which in its turn causes resentment; because a life in celibacy might lead to madness. Gloomy thoughts lead to poor health, just as poor health might cause gloomy thoughts. Developing a system of hygiene adapted to one's needs is therefore of the utmost importance, and Ecce homo is such a system. And it is a system remarkably similar to those traditionally used against melancholy. To what extent is it reasonable to suppose, then, that Nietzsche was familiar with the melancholy tradition and its imagery? He did give Albrecht Dürer's engraving Melencolia I to Richard Wagner as a Christmas present in 1869.20 And in the Nachlass, he describes himself as melancholic, but hints that he has found a way to keep the illness under control: „immer melancholisch aber ein Princip der Tapferkeit von Kindheit an macht, daß ich viele kleine Siege habe und in Folge dessen heiterer bin als -

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meiner Mel[ancholie] geziemt" (KSA, NF, 9, 391). And in some bizarre notes from 1881, Nietzsche tries to translate melancholy and the other three temperaments into a slightly more modern scientific language: „Die Temperaments-Unterschiede sind vielleicht durch die verschiedene Vertheilung und es

Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche.

Biographie, 3 Bde., Frankfurt/M. 1978, Bd. 1, 345f.

216

Tobias Dahlkvist

unorganischen Salze mehr als durch alles andere bedingt. Die biliösen zu wenig schwefelsaures Natrium, den melancholischen Menschen fehlt es an schwefel- und phosphorsaurem Kali; zu wenig phosphorsaurer Kalk bei den Phlegmatikern. Die muthigen Naturen haben einen Überfluß von phosphorsaurem Eisen" (KSA, NF, 9, 533f.). Considered as science, these speculations are of poor quality and expressed in a language that was aged already then. But they do testify that Nietzsche took melancholy very seriously as an illness. Nietzsche thus was familiar with melancholy, as an illness and as an artistic theme.21 It is difficult to pinpoint his sources, though. One of the few scholars who have paid attention to melancholy as a subtext in Nietzsche's works, Hans-Gerd von Seggern, points to the second part of Johann Wolfgang von Goethe's Faust and its Euphorion personage as a possible source.22 It is a possible source, but it does not help us understand Ecce homo. Roland Lambrecht points to similarities between Problem III, I and some relatively early texts by Nietzsche, such as the second Unzeitgemäße Betrachtung and Die fröhliche Wissenschaft. Once again a reasonable assumption: it should rather surprise us if a classics scholar with a keen interest in pessimism and Masse der

Menschen haben

related themes did not read such a text. Nietzsche does in fact quote Problem III, I in his notebooks from 1867 or 1868.24 But neither this fact is of any relevance for understanding Ecce homo. It seems that Nietzsche did not read any of the canonical medical works on melancholy: neither Galen, nor Soranus of Ephesus, nor Hippocrates are represented in the standard catalogue of his library.25 Nietzsche did possess one of the most important works of this tradition, though, a work that he returned to repeatedly, and that he learned immensely from: Montaigne's Essais.26 Just like Ecce homo, Montaigne's essays represent an attempt to use the experience of the bodily functions to reach a knowledge that has been ignored or repressed by traditional philosophy. And just like Ecce homo, they are the result of a very ill man's long struggle to cure himself. In both cases, the road to health requires courageously accepting that life as they until then had led it was a failure. In fact, Ecce homo, it seems to me, is an essay, precisely in Montaigne's sense. a student at Schulpforta, Nietzsche made an attempt to write a short story, Eupohorion, based the imagery of melancholy: KGW, NF, 12, 446f. The fact that it was aborted after less than two pages is no loss to literature. Hans-Gerd von Seggern, Allen Tinten-Fischen feind. Metaphern der Melancholie in Nietzsches Also sprach Zarathustra, in: Nietzscheforschung 9 (2002), 266. Roland Lambrecht, Der Geist der Melancholie. Eine Herausforderung philosophischer Reflexion, München 1996, 169ff. KGW, NF, 14, 462f. Thanks to Thomas H. Brobjer for drawing my attention to this fragment. Nietzsches persönliche Bibliothek, hg. von Giuliano Campioni et al., Berlin, New York 2003. For a highly interesting discussion of Nietzsche's reading of Montaigne, see Vivetta Vivarelli, Nietzsche und die Masken des freien Geistes. Montaigne, Pascal und Sterne, Würzburg 1998, chapter 1. Vivarelli is mainly interested in Nietzsche's middle period, but Nietzsche returned to the Essais several times, for example in 1887 and possibly in 1885. See Thomas H. Brobjer, Nietzsche's Reading and Private Library, 1885-1889, in: Journal of the History of Ideas 58 (1997), 686, 681.

As on

Why Was Nietzsche so

Wise and so Clever?

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By giving up his cold and rainy homeland for a life in the Alps and northern Italy, by choosing a Piedmontese diet instead of heavy German food, and by choosing a life of movement and physical exercise in which books are but recreation, Nietzsche attempted to cure himself from his illnesses. And remarkably enough, it actually seemed to Nietzsche: „Mit der Ankunft in Turin vollzieht sich ein radikaler Umbruch in Nietzsches köperlichem Befinden: die fürchterlichen Anfalle von Kopfschmerz und Erbrechen, die Geißel der letzten 15 Jahre, die ihn meist mindestens wöchentlich einmal traf, bleiben von nun an völlig aus."

worked;

so, at

least, it

must have

Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche, Bd. 2, 630.

Christian Benne

Ecce Hanswurst Ecce Hamlet -

Rollenspiele in Ecce Homo

Friedrich Nietzsches Schriften bilden einen verschwörerischen Kosmos von Anspielungen auf eigene und andere Schriften. Nicht die virtuose Metaphorik macht, wie noch der Dekonstruktivismus glaubte, Nietzsches Einzigartigkeit aus, sondern seine Meisterschaft im Handwerk des Verweisens. Verschweigen gehört ins Kalkül dieser Strategie. „Der Rest ist Schweigen ..." (KSA, EH, 6, 268) so lautet ein zentraler Satz in Ecce Homo, gewiss einem der rätselhaftesten Texte Nietzsches. Zwar hält er den Leser zur Entschlüsselung seiner „Räthsel" (ebd., 303) an aber nur, um sich zugleich in desto beredteres Schweigen zu hüllen. Das Verschwiegene dieser Schrift ist, bei allem marktschreierischen Lärm an der Oberfläche, ihr Erkennungszeichen. Auf den folgenden Seiten soll der Verweisfigur des Schweigens selbst nachgegangen werden. Es zeigt sich, dass ihre Rolle erst in ihrem Gegensatz augenfällig wird, im Pathos des Hanswurst. Ob Willy Haas, der zu den profiliertesten Gegnern von Elisabeth Förster-Nietzsches Nietzschearchiv zählte, einst recht hatte, als er Ecce Homo „eines der brilliantesten kulturkritischen Werke der Weltliteratur"1 nannte, soll hier nicht entschieden werden. Mit Blick auf die bisher bekannten Mythen und Anspielungen, die in Ecce Homo eingeflochten sind2, wird auf der Suche nach trittfesten Wegen lediglich eine weitere Schneise ins Dickicht des Textes geschlagen. Die Annahme beginnender geistiger Verwirrung Nietzsches erschien als Arbeitshypothese wenig attraktiv, da sie das Ergebnis immer schon kennt.3 -

-

:

1

Willy Haas, Wir fordern eine „Lex Nietzsche", in: Literarische Welt, 29 (1929), lf. Gary Shapiro, How One Becomes What One Is Not (Ecce Homo), in: Ders., Nietzschean Narratives, Bloomington 1989. Selbst Sigmund Freud, sonst nie um einen Pathologieverdacht verlegen, bestritt in einer von der

m.W. bisher nicht beachteten Diskussion in der Mittwochs-Gesellschaft der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung am 28. Oktober 1908 pathologische Züge im gerade erschienenen Ecce Homo: „Wo die Paralyse große Geister befallen hat sind außerordentliche Leistungen bis kurz vor der Krankheit zustande gebracht worden (Maupassant). Das Kennzeichen dafür, daß diese Arbeit Nietzsches als eine vollwertige und ernste aufzufassen ist, bietet uns die Erhaltung der Meisterschaft in der Form" (Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, hg. von Herman Nunberg, Ernst Federn, Frankfurt/M. 1976-1981, Bd. II, 56).

Nietzscheforschung

Christian Benne

220

Dass in diesem Text Berechnung im Spiel ist, steht bald fest. Ein in der Weltliteratur nie dagewesenes Selbstlob (z.B. der Abschnitt über den Zarathustra, ebd., 343ff.) steht nicht nur im Gegensatz zum sonst vertretenen klassischen Stilideal sondern unverhohlen zu konkreten Äußerungen in unmittelbarer Nähe: „Man wird mir aus keinem Augenblick meines Lebens irgend eine anmaassliche oder pathetische Haltung nachweisen können. Das Pathos der Attitüde gehört nicht zur Grosse; wer Attitüde überhaupt nöthig hat, ist falsch ..." (ebd., 296). Dergleichen Widersprüche gehören zu den altbekannten Kunstgriffen traditioneller Rhetorik, die der Pfortenser Nietzsche mit der wissenschaftlichen Muttermilch aufgenommen hatte: das verunsicherte Publikum soll einen Hintersinn vermuten und so die Funktion der Rolle erkennen, die der Rhetor bewusst angenommen hat. Ausgerechnet in seinem unklassischsten Text fordert Nietzsche Leser, die jenen guten alten Philologen glichen, da sie „ihren Horaz lasen" (ebd., 305) den Verfasser der Satiren wählt er sich zum Vorbild, nicht etwa Heraklit oder, um bei seinen lateinischen Lieblingen zu bleiben, Tacitus. Die Eigentümlichkeiten im Ton von Ecce Homo könnten entsprechend durch eine bewusst angenommene Pose bedingt sein, die Pose nämlich des Hanswurst, die Nietzsche eindeutig motiviert: „Ich habe eine erschreckliche Angst davor, dass man mich eines Tags heilig spricht: man wird errathen, weshalb ich dies Buch vorher herausgebe, es soll verhüten, dass man Unfug mit mir treibt... Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst... Vielleicht bin ich ein Hanswurst Und trotzdem oder vielmehr nicht trotzdem denn es gab nichts bisher als Heilige redet aus mir die Wahrheit" (ebd., 365). Verlogeneres Bereits im Vorwort betont Nietzsche, lieber „Satyr" als „Heiliger" sein zu wollen (ebd., 258) die Verwandtschaft der Getreuen des Dionysos zum neuzeitlichen Hanswurst wird ihm aus seinen theaterhistorischen Studien im Umfeld der Tragödienschrift bekannt gewesen sein. Den Hanswurst kennzeichnet seit seiner Geburt aus der Wanderbühne der Barockzeit ein ganz ähnlicher Sensualismus, ja Grobianismus wie den Satyr. Sein prahlerischer Duktus wäre demnach Vorbild für Ecce Homo und Nietzsche spräche als komischer Kommentator der Tragödie seines Lebens, nicht als Tragiker selbst, der gleichwohl, Nietzsche hat es explizit gesagt, durch den vermeintlichen Narrenmund die Wahrheit kundtut. Die Briefe aus dem Umfeld von Ecce Homo unterstützen diese These jedenfalls und zeigen einen Autor, der bei sehr klarem Bewusstsein in die Rolle des Hanswurst schlüpft. Überhaupt tritt das Motiv des Hanswurst oder Narren, das Motiv der gespielten oder echten Verrücktheit, in Nietzsches Spätwerk seit dem berühmten „tollen Menschen" im 125. Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft (KSA, FW, 3, 480ff.) immer häufiger auf: „aus Narrenlarven bunt herausredend" wie es im ersten der Dionysos-Dithyramben ,

-

...

-

-

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4

Vgl. Hans-Martin Gauger, Nietzsches Stil. Beispiel: „Ecce homo", in: Ders., Der Autor und sein Stil. ZwölfEssays, Stuttgart 1988. Brief an Heinrich Köselitz (25. November 1888): „Übrigens ist das Buch reich an Scherzen und Bosheiten, weil ich mit aller Gewalt mich als Gegentypus zu der Art Mensch, die bisher verehrt worden ist, präsentire: das Buch ist so ,unheilig' wie möglich", im selben Brief illustriert Nietzsche ausdrücklich seine „Privat-Hanswurst-Einfalle" (KSB, 8, 488f). Noch an Cosima Wagner (3. Januar 1889) heißt es: „Man erzählt mir, daß ein gewisser göttlicher Hanswurst dieser Tage mit den Dionysos-Dithyramben fertig geworden ist" (ebd., 572). -

Ecce Hamlet

Ecce Hanswurst

221

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mit dem Titel Nur Narr! Nur Dichter! heißt (KSA, DD, 6, 377ff). Man denke ferner an das Fiasko, mit dem der Weg Zarathustras beginnt. Seine Lehre auf dem Markt fällt auf taube Ohren. Die symbolische Rede vom Übermenschen und vom letzten Menschen wird nicht nur verspottet, sondern grob-praktisch missverstanden: „Der Seiltänzer aber, welcher glaubte, dass das Wort ihm gälte, machte sich an sein Werk" (KSA, Za, 4, 16). Der Seiltänzer ist eine Parodie des Übermenschen, reduziert auf eine Zirkusnummer. Ehe Zarathustra Lehrer werden konnte, hatte er selbst zu lernen. Seine eigentlichen ,Reden' richtet er nicht mehr ans Volk. Nur noch den Erwählten gelte sein Wort, jenen, die „noch Ohren für Unerhörtes" haben: „über die Zögernden und Saumseligen werde ich hinwegspringen." (ebd., 27) Dies ist ein klarer Hinweis darauf, wem Nietzsche seine neue Pädagogik verdankt: dem ,Possenreißer', der selbst über den Seiltänzer gesprungen war und Zarathustra geheime Gemeinsamkeiten angedeutet hatte: „wahrlich, du redetest gleich einem Possenreisser" (ebd., 23). Wenn der Verkünder des Übermenschen ohnehin verlacht wird, kann er sich auch gleich als Clown gebärden: so treibt er Spaße für die Menge und hebt die ernste Botschaft für die wenigen auf, die sie zu hören

vermögen.

Schon in der Fröhlichen Wissenschaft werden „Possenreißer, Lügenerzähler, Hanswurst, Narren, Clown" (KSA, FW, 3, 608f.) in einem Atemzug genannt. Nietzsche stellt sie in den Kontext einer ambivalent bewerteten histrionischen Existenz, des Künstlertums im Allgemeinen. Ihre „Kunst des ewigen Verstecken-Spielens" (ebd.) kommt zwar nicht eben gut weg, aber gerade die Schwäche des Schauspielers und Maskenträgers liefert den Schlüssel zum Selbstverständnis Nietzsches und zur Kompositionsweise von Ecce Homo. Es handelt sich dabei, wie zu zeigen ist, um ein verschachteltes Rollenspiel, mit dessen Hilfe es Nietzsche gelingt, bedeutungsvoll zu schweigen und zugleich mehr über sich preiszugeben als in der direktesten Selbstoffenbarung die dem Ironiker ohnehin nie abgenommen wird. In der Vorrede des Zarathustra verkörpert der Possenreißer eine Art negative Kraft, die sich mit dem Überspringen und Kritisieren begnügt und in der Überwindung des Menschen, die eine Selbstüberwindung sein muss, nicht weit genug geht. Nietzsche weiß: wer den Übermenschen theoretisch konzipiert, kann selber keiner sein; er ist nur Narr, nur Dichter. Er hat dieses Eingeständnis in Ecce Homo hinter einer literarischen Figurenkonstellation versteckt, die vom dramatischen Personal William Shakespeares inspiriert und bezeichnend für sein Spätwerk ist: „Wenn ich meine höchste Formel für Shakespeare suche, so finde ich immer nur die, dass er den Typus Cäsar concipirt hat. Dergleichen erräth man nicht, man ist es oder man ist es nicht. Der grosse Dichter schöpft nur aus seiner Realität bis zu dem Grade, dass er hinterdrein sein Werk nicht mehr aushält Wenn ich einen Blick in meinen Zarathustra geworfen habe, gehe ich eine halbe Stunde im Zimmer auf und ab, unfähig, über einen unerträglichen Krampf von Schluchzen Herr zu werden. Ich kenne keine herzzerreissendere Lektüre als -

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-

...

Shakespeare:

ein Mensch

-

was muss

gelitten haben,

um

dergestalt es nöthig

zu

haben,

Hanswurst zu sein!" (KSA, EH, 6, 287). Shakespeare vermochte den Cäsar zu schaffen, weil er ihm wesensverwandt ist, aber er ist gleichzeitig als Dichter auch Narr. Im Widerspruch dieser Persönlichkeitsspaltung zwischen theoretischer Konzeption des Machtmenschen auf der einen und der ganz

222

Christian Benne

praktischen Hanswurst-Existenz auf der anderen Seite liegt die persönliche, herzzerreißende' Tragik. Nietzsche kann sich als „Dichter des Zarathustra" (z.B. ebd., 340) deshalb mit Shakespeare identifizieren, mit dem Leiden an der Erkenntnis menschlicher Größe bei gefühlter menschlicher Unzulänglichkeit. Man beachte schon hier, dass Shakespeare sich deshalb zum Hanswurst macht, weil er leidet, dass die Hanswurstpose also Ventil des Leidens ist. Eine kurze Skizze zu Nietzsches Shakespearevariationen mag den weiteren Hintergrund ausleuchten. Nietzsche war mit Shakespeare zweifellos besser bekannt als mit vielen anderen Autoren, selbst antiken oder deutschen, und zwar seit frühester Jugend; viele Stücke hat er schon in der Pforte gesehen oder sogar selbst mit Schon früh vergleicht er die Wirkung von Musik, „diese Nervenerregung, dieser Schauer", mit der Lektüre Shakespeares (KSB, 1, 293). In der Tragödienschrift und deren Umfeld ist Shakespeare denn auch das Urbild des musiktreibenden Sokrates, eine Präfiguration Richard Wagners, germanisches Genie und moderner Aischylos: „Shakespeare als höchste dionysische Potenz verbürgt die herrliche deutsche Musikentwicklung" (KSA, NF, 7, 242). Man muss dabei wissen, dass sich Wagner selbst in höchstem Maße mit Shakespeare identifiziert hatte, neben sich ließ er eigentlich nur Shakespeare und Ludwig van Beethoven gelten, mit dem kaum verhüllten Anspruch, die Synthese aus beiden

aufgeführt.6

darzustellen.7

Nach dem Bruch mit Wagner versucht Nietzsche, Shakespeare als Moralisten (KSA, MA-1, 2, 161) aus der Assoziation mit dem Komponisten des Parsifal zu retten, ja gegen diesen zu kehren. Nietzsche betont, ausgehend von Ralph Waldo Emerson, den er in diesen Jahren viel las8, dass Shakespeare v.a. als Leser Michel de Montaignes zu verstehen sei (ebd.). Indes ist auch dies nur eine Phase: spätestens seit Anfang der 80er Jahre und parallel zur Vertiefung des Gegensatzes zu Wagner entwirft er wieder ein kritisches Shakespearebild. Shakespeare sei demnach ein Dichter des Pöbels, jedenfalls nicht streng, klassisch und aristokratisch genug für seinen Geschmack.9 Seine Shakespearelektüren werden nun völlig in Allegorien des Verhältnisses zu Wagner umfunktioniert. In der Fröhlichen Wissenschaft gehören die Sympathien noch nicht Cäsar, sondern Brutus, dem Symbol der „Unabhängigkeit der Seele", dem selbst das Opfer des 6

Hier sei

nur auf den Briefwechsel, Quellen der Schulkameraden, Ausgaben in der nachgelassenen Bibliothek hingewiesen. Für Nietzsches Zeit und Bildungshintergrund ist eine tiefe Vertrautheit mit Shakespeare nicht ungewöhnlich. Die Schlegel-Tiecksche Übersetzung galt schon lange als kanonisches Stück deutscher Literatur. Als „den jeder Gegenwart neu zugebärenden Shakespeare" sieht sich Wagner gewiss selber (Richard Wagner, Mein Leben, hg. von Martin Gregor-Dellin, München, 1963, 444). Eine reiche Fundgrube sind Cosima Wagner Tagebücher. Unter einem Eintrag am 10. September 1873 interpretiert sie ihren Mann ännlich wie der frühe Nietzsche als „Rettung des germanischen Geistes", der Shakespeares

Revolte des angelsächsischen Geistes gegen die Normannen (Franzosen) entspreche (Cosima Wagner, Die Tagebücher, Bd. I 1869-1877, 1976, 725). Vgl. schon KSA, WB, 1, 444; ferner Montaigne; or, the skeptic, in: Ralph Waldo Emerson, Representative men. Seven Lectures, New York 1968 (Reprint). Nietzsche wurde darin möglicherweise von Stendhals Studie Racine et Shakespeare. Études sur le romantisme beeinflusst. Stendhal, Nietzsches Abgott zu damaliger Zeit, war Shakespeare zwar wohlgesonnen, betonte aber dessen Zeitgebundenheit.

Ecce Hanswurst Ecce Hamlet

223

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liebsten Freundes, des ,,Genie[s] ohne Gleichen" nicht zu hoch ist. In dunklen Worten deutet Nietzsche an, dass Brutus durchaus nicht durch politische Gründe zum Mord sich bewegen ließ, sondern weil er „die Freiheit als die Freiheit grosser Seelen liebt, und durch ihn dieser Freiheit Gefahr droht", diese Freiheit aber ein „Zeichen" von einem „Abenteuer aus des Dichters eigener Seele" sei (KSA, FW, 3, 452f). Nicht, wie man als erstes vermuten könnte, die Tat des Brutus beschreibt jedoch Nietzsches Unabhängigkeitserklärung an Wagner, sondern der Umstand, dass Shakespeare nicht mehr eindeutig auf Wagner oder den gegen ihn revoltierenden Nietzsche bezogen werden muss. Shakespeare ist jetzt vielmehr zum Dichter der Selbsterkenntnis geworden, der diese lediglich in literarische Charaktere umsetzt und gegen die sich seine eigene Dichterexistenz nicht immer vorteilhaft ausnimmt: „Vielleicht hatte auch er seine finstere Stunde und seinen bösen Engel, gleich Brutus! Was es aber auch derart von Aehnlichkeiten und geheimen Bezügen gegeben haben mag: vor der ganzen Gestalt und Tugend des Brutus warf Shakespeare sich auf den Boden und fühlte sich unwürdig und ferne". Shakespeare habe auf diese Selbstverachtung in seiner Tragödie angespielt. Brutus (für Nietzsche in romantischer Tradition die eigentliche Hauptfigur des Dramas) schleudere deshalb dem zudringlichen Poeten, einer Nebenfigur, seinen ungeduldigen Satz entgegen: ,„Kennt er die Zeit, so kenn ich seine Launen, fort mit dem Schellen-Hanswurst!'" Nietzsche fügt hinzu: „Man übersetze sich diess zurück in die Seele des Poeten, der es dichtete" (ebd., 452f). Verfolgt man diese Spur bis zu ihrem Ausgangspunkt, ergeben sich weitere bemerkenswerte Details. Im Original der schlegelschen Übersetzung, die Nietzsche überdies verkürzt, um die Demütigung des Poeten noch stärker zu betonen, ist nicht vom „Schellen-Hanswurst" die Rede, sondern vom „Schellennarren".10 Dass Nietzsche aus dem Gedächtnis zitierte, ist unwahrscheinlich; der Grund wird in der Prägnanz der Hanswurstfigur selber liegen, die besser den Aspekt des wissentlichen und willentlichen Narrentums trifft, auf den es Nietzsche hier ankommt. Lässt sich diese Parallelstelle deckungsgleich auf Ecce Homo übertragen? Es sei zunächst auf die erstaunliche Tatsache hingewiesen, dass der von Brutus gemaßregelte Poet kurz zuvor noch als „Cyniker"1 bezeichnet worden ist. Erstaunlich deshalb, weil die Hanswurst- und Possenreißerthematik beim späten Nietzsche ebenfalls eng mit dem Zynismus bzw. Kynismus verbunden ist. Ecce Homo wird in dem berühmten Brief an Georg Brandes vom 20. November 1888 nicht nur als „Cynismus, der welthistorisch werden wird" (KSB, 8, 482) angekündigt, Nietzsche behauptet auch, seine Bücher „erreichen hier und da das Höchste, was auf Erden erreicht werden kann, den Cynismus" (KSA, EH, 6, 302). Eine Deutung dieses Werkes greift dann zu kurz, wenn sie Nietzsche kurzsichtig allein mit der Maske des Zynikers identifiziert, ohne darauf -

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Das

Originalzitat

in der

von

Nietzsche benutzten

Übersetzung August Wilhelm Schlegels

lautet:

„Kennt er die Zeit, so kenn ich seine Laune./ Was soll der Krieg mit solchen Schellennarren?/ Geh fort, Gesell!" (Shakespeare's dramatische Werke, übersetzt von August Wilhelm Schlegel und Ludwig Tieck, Berlin 1841, Bd. 5, 77). „Ha, ha! Wie toll der Cyniker nicht reimt!" (ebd.). In Shakespeares Sprachgebrauch ist damit v.a. eine Person

gemeint, die die Regeln des Anstands verletzt.

Christian Benne

224

einzugehen, wie diese in der weiteren literarischen Konstellation aufgeht. Nietzsche bedient sich einer komplizierten Verschachtelungstechnik: der Zyniker steckt im Hanswurst, der Hanswurst, wie zu sehen sein wird, in Hamlet, dieser wiederum in Shakespeare. Und der Meister und Virtuose all dieser Rollenspiele trägt den Namen Francis Bacon. Seit der Fröhlichen Wissenschaft hat Nietzsches Shakespeare nämlich eine entscheidende Dimension hinzugewonnen. Nicht genug damit, dass seine Figuren Masken seiner selbst darstellen: er selbst ist als bloße Autorpersona zur Maske eines Philosophendichters geworden. Durch diesen Kunstgriff kann Nietzsche sich nun vollends wieder mit ihm versöhnen.14 Bacon ist die Allegorie einer Existenz, die zugleich schöpferisch und analytisch, künstlerisch und philosophisch ist. Auch das Problem Wagner lässt sich dadurch lösen: bildlich gesprochen gehört ,Wagner' nun zum Potential von Nietzsche, der sich gleichzeitig des Autors ,Nietzsche' als dichterischer Stimme bedient. Der zitierte Abschnitt aus Ecce Homo über die herzzerreißende Lektüre Shakespeares präzisiert: „Und, dass ich es bekenne: ich bin dessen instinktiv sicher und gewiss, dass Lord Bacon der Urheber, der Selbstthierquäler dieser unheimlichsten Art Litteratur ist: was geht mich das erbarmungswürdige Geschwätz amerikanischer Wirrund Flachköpfe an?15 Aber die Kraft zur mächtigsten Realität der Vision ist nicht nur verträglich mit der mächtigsten Kraft zur That, zum Ungeheuren der That, zum Verbrechen sie setzt sie selbst voraus Wh wissen lange nicht genug von Lord Bacon, dem ersten Realisten in jedem grossen Sinn des Wortes, um zu wissen, was er Alles gethan, was er gewollt, was er mit sich erlebt hat Und zum Teufel, mein[e] Herrn Kritiker! Gesetzt, ich hätte meinen Zarathustra auf einen fremden Namen getauft, zum Beispiel auf den von Richard Wagner, der Scharfsinn von zwei Jahrtausenden hätte nicht ausgereicht, zu errathen, dass der Verfasser von „Menschliches, Allzumenschliches' der Visionär des Zarathustra ist..." (ebd., 287). Jene merkwürdige Formel, mit der Ecce Homo anhebt „Und so erzähle ich mir mein Leben." (ebd., 263) findet ebenso eine natürliche Erklärung wie das Diktom: „Das Eine bin ich, das Andre sind meine Schriften" (ebd., 298). ,Nietzsche' erzählt das Leben von Nietzsche. ,Nietzsche' als Autorpersona von Nietzsche wäre damit ein unzuverlässiger Erzähler, der als solcher nur einen Aspekt Nietzsches repräsentierte ganz so wie ,Shakespeare' nur die anonyme Maske Bacons ist. Das Spiel um die auf Wagner bezogene fiktive Autorschaft ist keine Anmaßung, sondern ein Eingeständnis. -

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Damit soll nichts gegen das Standardwerk zum Thema gesagt werden, das hier Pionierarbeit leistete und gänzlich andere Ziele verfolgte: Heinrich Niehues-Pröbsting, Der Kynismus des Diogenes und der Begriff des Zynismus, München 1979. Kynismus ist schon für den frühen Nietzsche ein Phänomen der Spätzeit, verwandt mit Humor, Satire, Parodie als Gegenstücke zur Tragödie.

Die Bacon-These wird in jenen Jahren heftig diskutiert, so z.B. in Ignatius Donnellys Buch aus dem Jahr 1888: The Great Cryptogram, Francis Bacon 's Cipher in the So-Called Shakespeare Plays. Ähnliche Ergebnisse bei Duncan Large, Nietzsche's Shakespearean Figures, in: Why Nietzsche Still? Reflections on Drama, Culture, and Politics, hg. von Alan Douglas Schrift, Berkeley 2000. Die Amerikaner sind die entschiedensten Verfechter der Bacon-These gewesen. Die Stelle ist so zu verstehen, dass sich Nietzsche kraft instinktiver Divination über die haarspalterischen Argumente der Hobbyphilologen hinwegsetzen kann.

225

Ecce Hanswurst Ecce Hamlet -

Die Baconthese wird durch eine Auslegung des Hamlet eingeleitet: „Versteht man den Hamlet? Nicht der Zweifel, die Gewissheit ist das, was wahnsinnig macht ..." (ebd., 287). Nietzsches Narrenmotiv erfahrt von nun an seine entscheidende Ausprägung in der Figur des Hamlet als wichtigster Inkarnation des Hanswurst Hamlet ist der Erkennende, der sich kynisch verstellt. Nietzsche zählt ihn zu den freien Geistern, „welche verbergen und verleugnen möchte(n), dass sie im Grunde zerbrochne unheilbare Herzen sind es ist der Fall Hamlets: und dann kann die Narrheit selbst die Maske für ein unseliges allzugewisses Wissen sein" (KSA, NW, 6, 436). An der im Wortlaut fast identischen Fassung in Jenseits von Gut und Böse war in einem Zusatz des Handexemplars sogar noch ausdrücklich vom „Cynismus" Hamlets die Rede gewesen (KSA, JGB, 5, 226; KSA, NF, 14, 373).16 Hamlet, der viel vom alten stock character des Narren geerbt hat, gilt in dem Moment als verrückt, als er durch das Maskenspiel die Wahrheit sagt und sich mit groben Anzüglichkeiten à la Hanswurst nicht mehr zurückhält.17 Shakespeares Technik des play within play entlarvt nicht nur das Wesen des theatrum mundi, sondern lässt den vermeintlichen Narren seine Botschaften versteckt, aber darum umso deutlicher anbringen. So wie Bacon den Hamlet nötig hat, um sein Leiden am Überfluss von Erkenntnis literarisch auszuagieren, muss Nietzsche als der sich selbst sein Leben erzählende .Nietzsche' auftreten, der endlich Klartext reden darf. Wie hinter ,Nietzsches', so liegt auch hinter Hamlets bombastischer Rhetorik ein beziehungsreiches Schweigen. Hamlet redet in Andeutungen, die er erst am Ende seines Lebens zur Deutung freigibt.18 ,Der Rest ist Schweigen', jener Satz aus Ecce Homo, den wir ins Zentrum unserer Lektüre stellen wollten, ist ein Zitat: es sind Hamlets letzte -

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Für Nietzsches Identifikation mit Hamlet gibt es viele Zeugnisse. Er bezeichnet sich z.B. als „der hamletische Maulwurf aus Nizza" (Brief an Mutter und Schwester vom 11. November 1885, KSB, 7, 108). Die Hamletdeutung verändert sich seit der Tragödienschrift nicht wesentlich. Hier hatte der dionysische Mensch „Ähnlichkeit mit Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan, sie haben erkannt, und es ekelt sie zu handeln; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ändern, sie empfinden es als lächerlich oder schmachvoll, dass ihnen zugemuthet wird, die Welt, die aus den Fugen ist, wieder einzurichten. Die Erkenntnis tödtet das Handeln, zum Handeln gehört das Umschleiertssein durch die Illusion das ist die Hamletlehre, nicht jene wohlfeile Weisheit von Hans dem Träumer, der aus zu viel Reflexion, gleichsam aus einem Überschuss von Möglichkeiten nicht zum Handeln kommt; nicht das Reflectieren, nein! die wahre Erkenntniss, der Einblick in die grauenhafte Wahrheit überwiegt jedes zum Handeln antreibende Motiv, bei Hamlet sowohl als bei dem dionysischen Menschen" (KSA, GT, 1, 56f). Landläufige Vorstellungen hatte Nietzsche u.a. in August Schwartzkopffs, Shakespeare in seiner -

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Bedeutung für die Kirche unserer Tage, Halle 1863, kennengelernt, ein Weihnachtsgeschenk von Adalbert Oehler, wie aus der Widmung hervorgeht, das in der nachgelassenen Bibliothek erhalten

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ist. Hier kann er aber auch lesen, dass Hamlet „im Grunde nur das allerironischste Spiel mit sich selbst" (73) spielt. Bei Moriz Rapp exzerpiert er 1869, Hamlet sei „beinahe eine Parodie des antiken Dramas (Orestie)" (KSA, NF, 7, 28). Ein bekanntes Beispiel ist die Stelle, wo Ophelia Hamlet vorwirft, „spitz" zu sein, und er entgegnet: „Ihr würdet zu stöhnen haben, ehe Ihr/ meine Spitze abstumpftet" (Shakespeare's dramatische Werke, Bd. 6, 76). „[EJrkläre mich und meine Sache/ den Unbefriedigten" (ebd., 141).

Christian Benne

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Worte. Im Lichte der bisherigen Ausführungen überrascht der Kontext, nämlich das Urteil über Wagner, nicht mehr. Wagner, „durchaus der erste Name, der in E[cce] h[omo] vorkommt" (KSB, 8, 567), muss als wichtigste Bezugsgestalt Nietzsches natürlich auch in der neuesten und letzten Shakespearevariation seinen Platz finden: „Es giebt einen einzigen Fall, wo ich meines Gleichen anerkenne ich bekenne es mit tiefer Dankbarkeit. Frau Cosima Wagner ist bei Weitem die vornehmste Natur; und, damit ich kein Wort zu wenig sage, sage ich, dass Richard Wagner der mir bei Weitem verwandteste Mann war Der Rest ist Schweigen ..." (KSA, EH, 6, 268). Es ist nicht ohne Bedeutung, dass Nietzsche kurz darauf generell jede Verwandtschaft mit den biologischen Eltern leugnet: „Man ist am wenigsten mit seinen Eltern verwandt: es wäre das äusserste Zeichen von Gemeinheit, seinen Eltern verwandt zu sein" (ebd.). Jenes Rätsel vom Beginn des Bekenntnisses, „ich bin [...] als mein Vater bereits gestorben, als meine Mutter lebe ich noch und werde alt." (ebd., 264) kann sich deshalb theoretisch auch auf das geistige Elternpaar Richard und Cosima Wagner beziehen. Dann wäre Richard Claudius und Cosima Gertrud. So einfach liegen die Dinge jedoch nicht, auch wenn es in einer Vorstufe zu dieser Stelle heißt: „Frau Cosima Wagner ist bei weitem die vornehmste Natur, die es giebt und, im Verhältniß zu mir, habe ich ihre Ehe mit Wagner immer nur als Ehebruch interpretirt" (KSA, 14, 473).20 Auch Richard hat das Rollenspiel und namentlich die Rolle des Hamlet geliebt. Cosima berichtet am 11. Januar 1883, einer von vielen vergleichbaren Stellen in den Tagebüchern: „Wie wir zu zweit sind, lesen wir in ,Hamlet' [...] mit immer gesteigertem Staunen, Ergriffenheit, ja Erschütterung des ganzen Wesens, und mir ist es, als ob: Richard, Hamlet, Shakespeare zu eins würde, als ob ich den einen durch den andren begriffe, als ob ohne R.'s Stimme nie Hamlet begriffen werden könne, ohne Shakespeare's Genie R.'s Wesen nicht, endlich ohne diese Schöpfung des Hamlet beide -

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nicht."21

Nietzsche begründet seine Verwandtschaft zu Wagner gerade damit, „dass wir tiefer gelitten haben, auch an einander, als Menschen dieses Jahrhunderts zu leiden vermöchten" (KSA, EH, 6, 290) und dieses Leiden hatte er als das Problem Hamlets herausge-

arbeitet. Die erstaunliche Wende, die Nietzsche in Ecce Homo in seinem Verhältnis zu Wagner vollzieht, besteht darin, dass er ihm zum ersten Mal eine Gespaltenheit zugesteht wie sonst nur sich selbst. Nach wie vor gibt es den dekadenten, kritikwürdigen Wagner, aber es gibt nun auch wieder das Genie der Frühzeit, das einmal anderes gewollt hat.22 Die Lobeshymnen auf Wagner suchen ihresgleichen: Ecce Homo sollte -

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Ebd., 142. Nietzsche fügt an dieser Stelle hinzu: „der Fall Tristan"; in der Endfassung ist die Tristananspielung nicht ohne Grund durch die Hamletanspielung ersetzt. Literarische Mythen und Figuren, die zwischen Nietzsche und den Wagners hin- und herflogen, sind Legion, reichen von Ernst Theodor Amadeus Hoffmanns Goldenem Topf bis zum Ariadnemythos. Cosima Wagner, Die Tagebücher, Bd. 11:1878-1883, hg. von Martin Gregor-Dellin, Dietrich Mack, München, Zürich 1977, 1090. In einem Brief an Köselitz (19. Februar 1883) kurz nach Wagners Tod, schreibt Nietzsche: „Zuletzt war es der altgewordne Wagner, gegen den ich mich wehren mußte; was den eigentlichen Wagner betrifft, so will ich schon noch zu einem guten Theile sein Erbe werden" (KSB, 6, 333f). Zum

Ecce Hanswurst Ecce Hamlet

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-

angesichts der anderen späten Schriften das gerechte letzte Wort zu seinem Lebensthema sein. Wenn Wagner wirklich Claudius wäre, der unrechtmäßig an der Seite Gertruds/Cosimas lebt, dann müsste er zumindest auch der Geist von Hamlets/Nietzsches Vater sein, den dieser an jenem zu rächen sucht. Insofern Wagner sein Leiden in literarischen Figuren offenbart, ist er aber ebenfalls Hamlet. Worauf es Nietzsche in Ecce Homo am Ende ankommt, ist der Unterschied, bei gleichem Ausgangspunkt, zwischen ihm und seiner Philosophie von Wagner und dessen Kunst. Alles andere ist Vorgeplänkel. Was Nietzsche Wagner aus eigener Sicht gewiss voraus hat, ist die zusätzliche analytische Dimension, die in der Maske ,Bacon' zum Ausdruck kommt. Wagner bleibt gewissermaßen bei Shakespeare stehen, der sich im Hamlet offenbart, während für Nietzsche selbst Shakespeare noch eine Maske Bacons ist (und diese wiederum eine Maske ,Nietzsches'). Weil Nietzsche wie Shakespeare/Bacon alle Perspektiven kennt, weil er zugleich Zarathustra und Hanswurst, Anfang und Ende verkörpert, ist er Erkennender und Selbst-Erkennender, dessen Analyse der eigenen Dekadenz den ersten Schritt ihrer Überwindung darstellt: „Ich habe für die Zeichen von Aufgang und Niedergang eine feinere Witterung als je ein Mensch gehabt hat, ich bin der Lehrer par excellence hierfür, ich kenne Beides, ich bin Beides." Die „décadence" habe er „vorwärts und rückwärts buchstabirt" (ebd., 264ff). Einer seiner letzten Turiner Briefe an Cosima, gemeinhin als Beweis der Geistesverwirrung angesehen, ist völlig daraus ableitbar. Hier spricht philosophische Konsequenz, nicht Wahnlogik: „Ich bin unter Indern Buddha, in Griechenland Dionysos gewesen, Alexander und Caesar sind meine Inkarnationen, insgleichen der Dichter des Shakespeare Lord Bakon. Zuletzt war ich noch Voltaire und Napoleon, vielleicht auch Richard Wagner Dies Mal aber komme ich als der siegreiche Dionysos, der die Erde zu einem Festtag machen wird ..." (KSB, -

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...

8, 572f).

Tragödie hatte Nietzsche Griechenland zwischen Indien („ekstatiBrüten") und Rom („verzehrendes Haschen nach Weltmacht und Weltehre") gestellt (KSA, GT, 1, 133). Auch der zitierte Brief beginnt mit diesem Gegensatz des passiven, buddhistischen Nihilismus und des erobernden, aktiven Geistes Alexanders und Cäsars. Bacon als Philosoph der Aufklärung, „Dichter des Shakespeare" und weltzugewandter, machtversessener Staatsmann entspricht genau der triadischen Kombination aus Voltaire (für Nietzsche vor allem der Philosoph des Écrasez), Wagner und Napoleon, wobei im .vielleicht' das Eingeständnis steckt, es im Schöpferischen womöglich doch nicht mit Wagner aufnehmen zu können. Entscheidend ist aber der letzte Satz, entscheidend für die Überwindung seiner selbst und Wagners. Denn was Wagner bei aller Schöpferkraft nicht vermochte, den Weg des Dionysos einzuschlagen, führt Nietzsche aus. Ecce Homo kann auch als subtile Antwort auf Wagners Autobiographie Mein Leben gelesen werden, bei der Nietzsche z.T. Korrektur gelesen hat. Hier die In der Geburt der

sches

guten und schlechten Wagner in Ecce Homo, der Parallelität in Nietzsches ambivalenten Verhältnis Frankreich und Deutschland: Sarah Koftnan, Explosion I. De I '„ Ecce Homo de Nietzsche, Paris

zu

"

1992, 337ff; auch Dieter Borchmeyer, Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen, Frankfurt/M.,

mit einer Zusammenfassung seiner langen Beschäftigung mit dem Thema. Leider fehlt in dieser ausgezeichneten Studie ein Kapitel über Wagners Bezug auf Shakespeare.

Leipzig 2002,

Christian Benne

228

die in Wahrheit einen Niedergang verbirgt, dort der Leidensweg, hinter dem eine Überwindung und ein Aufgang stehen. Ecce Homo ist die letzte Etappe der Talfahrt: am Scheitelpunkt der Dekadenz kehrt Nietzsche um. Die biblische Wendung bezieht sich natürlich auf die berühmte Feststellung des Pilatus im Johannesevangelium, mit der Jesus auf die Via Dolorosa entlassen wird. Der dornengekrönte Christus, Sinnbild des leidenden Menschen an sich, hat die Wahl, wie Wagner zu Kreuze zu gehen, also dem Leiden sich zu ergeben, oder den Leidensweg des Lebens in einen dionysischen Festzug umzuwandeln (vgl. KSA, WA, 6, 11 f.). Nietzsches Autobiographie, wenn man sie überhaupt noch so nennen mag, ist der Eigenkommentar als Bekenntnis zur Reflexion des Leidens an der Erkenntnis, des Hamlet-Problems und sucht zu zeigen, warum das Ja-Sagen vor diesem Hintergrund den höchsten Wert besitzt. Nietzsche kann deshalb mit dem Indefinitpronomen ,man' von sich sprechen, weil er seine Entscheidung paradigmatisch für das Schicksal des Menschen hält. Ecce Homo: das ist nicht Nietzsche, sondern der Mensch als generisches Wesen vor der Wahl zwischen Dionysos und dem Gekreuzigten. Wie die Menschheit selbst, so schwankt auch Nietzsche bis zum Ende zwischen den Polen: Die Unterschriften der sogenannten Wahnsinnsbriefe beweisen es. Am Ende steckt auch hinter der Verweisfigur des Schweigens Nietzsches lebensbestimmende Doppelherme. Kurz nach dem Hamlet-Zitat heißt es: „Schweigen ist ein Einwand, Hinunterschlucken macht nothwendig einen schlechten Charakter, es verdirbt selbst den Magen" (KSA, EH, 6, 271). Tiefe Schweigsamkeit ist generell Abzeichen des Kynikers (KSA, JGB, 5, 44f.), desjenigen, der ansonsten den Menschen in all seiner tierischen Gemeinheit bloßzustellen vermag und auch in der Darstellung keine Scham kennt. Mit dem Schweigen gegenüber Wagner räumt Nietzsche die Dekadenz ein, die sie vereint und deutet zugleich eine Tiefendimension des Textes an, die vor allzu leichtfertigen Schlüssen warnt. Der unzuverlässige Autobiograph ,Nietzsche' macht es dem Leser leicht, sich ihm überlegen zu fühlen.2 Aber weil die Narrheit des Textes in der Anrufung Hamlets auch als Symptom für mehr Wissen und Einsicht geltend gemacht wird, appelliert Ecce Homo an die Haltung des Lesers zum Leiden: mit dem Verfasser mitzuleiden oder über ihn hinauszugehen. Der Rest ist Schweigen.

Erfolgsgeschichte,

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Zum

unzuverlässigen Erzähler s. Wayne C. Booth, 77k? Rhetoric of Fiction, Chicago

1961.

IV. Aufsätze

Ekaterina Poljakova

Die Umwertung ästhetischer Werte Zu Andrej Belyj s Nietzsche-Lektüre

Die Nietzsche-Rezeption im Russland der Jahrhundertwende wird immer noch als einflussvoller Faktor der kulturellen Entwicklung in Richtung der Bestimmung der eigenen Identität betrachtet. Es geht um den direkten Einfluss auf die so genannte religiösphilosophische Renaissance, auf mehrere russische Schriftsteller und Denker des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts, sowie um späteren indirekten untergründigen Einfluss, den Friedrich Nietzsche offensichtlich ausgeübt hat. Nach der .Entdeckung' Nietzsches Anfang der 90er Jahre des 19. Jahrhunderts (die mit der Veröffentlichung einer Abhandlung von W. Preobrazhenskij im Jahr 1892 beginnt, in der Nietzsches Deutung der Moral ausführlich dargelegt wird),1 ist es sehr schnell unvorstellbar geworden, die Auseinandersetzung mit Nietzsches Philosophie (im Sinne der direkten Apologie oder Missbilligung) in eigenen philosophischen Studien zu vermeiden. Die zeitgenössische moderne Forscherin Julija Sineokaja (Herausgeberin des Sammelbandes Friedrich Nietzsche und die Philosophie in Russland) schlägt folgende Einteilung der Geschichte der Nietzsche-Rezeption in Russland vor: die erste Etappe die 90er Jahre des 19. Jahrhunderts (das erste Bekanntmachen des russischen Publikums mit Nietzsche, mehrere Auslegungen seiner Philosophie in kritischen Aufsätzen); die zweite Etappe das erste Viertel des 20. Jahrhunderts (die Veröffentlichung seiner Werke, u.a. das unvollendete Projekt der gesammelten Werke, im Rahmen dessen Der Wille zur Macht herausgegeben wurde, der Gipfel von Nietzsches Popularität in Russland, der mit der meist freien Auslegung seiner Ideen verbunden war); die dritte Etappe 1920-1970 (Nietzsches Werke und ihre Auslegungen sind praktisch verboten, aber es gibt indirekte Einflüsse); die vierte Etappe ab den 1980er Jahren (.Rückkehr' Nietzsches, kritische Ausgaben seiner Werke und neue Forschungen u.a. über Nietzsche-Rezeption in Russland).2 -

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1

W. Preobrazhenskij, Friedrich Nietzsche: Kritika morali al 'truismo (Friedrich Nietzsche: Die Kritik der Altruismusmoral, in: Woprosyfilososii ipsichologü, Bd. 15, 1892. Julija Sineokaja, Wosprijatije idej Neitzsche w Rossii: osnownyje etapy, tendenzü, znatschenije (Die Rezeption Nietzsches Ideen in Rußland: wichtige Etappe, Tendenzen, Bedeutung), in: Dies., N. Motroschilowa (Hg.), Friedrich Nietzsche und die Philosophie in Rußland, Sankt-Petersburg 1999.

Ekaterina Poljakova

232

Die Zeitperiode, in der Nietzsches Popularität in Russland ihren Höhepunkt erreichte, fällt mit der Blütezeit der russischen Philosophie zusammen, die ihren Aufschwung nicht zuletzt Nietzsches Einfluss, sowie den Versuchen, den eigenen philosophischen

Weg von seinen Ideen abzugrenzen, zu verdanken hat. Zu den wichtigsten Marksteinen

in dieser Richtung zählt Wladimir Solowjows bekanntestes Werk Die Rechtfertigung des Guten (1897), wo der Idee des Übermenschen ein Ideal des Gottmenschen entgegengesetzt wird.3 Man darf nicht unerwähnt lassen, dass Nietzsches Ideen immer wieder in Kontext mit dem intellektuellen und geistigen Erbe Fjodor Dostojewskijs und Leo Tolstojs gestellt wurden. Es war Nietzsches Auseinandersetzung mit zwei der größten russischen Denker und ,Geistesfürsten', die die wichtigste Rolle bei der Suche nach einer russischen geistigen Identität gespielt hat. Vielleicht wegen des großen Interesses an Nietzsches Ideen als mächtigen Faktor für die Suche nach Selbstidentität im Russland der Jahrhundertwende und auch später, war die Untersuchung seiner eigener Aufgaben im Kontext der westeuropäischen Philosophie behindert. Für die russischen Philosophen war Nietzsche als Figur zu betrachten, zu der eine geistige Selbstbestimmung erforderlich war, als Autor einer religiösen Lehre, als Anzeiger für die eigene Wahrheitssuche, die im Kontext der russischen Moralund Sozialprobleme immer neue Aktualität gewonnen haben. Die Widersprüche, auf die diese Auslegung von Nietzsches Werken unvermeidlich stößt, wurden dabei als geistige Sackgasse interpretiert, in die Nietzsches Philosophie führt. So heißt es bei W. Chwostow: „Und die letzte Philosophie Nietzsches die Philosophie Zarathustras war keine Wahrheit. Nietzsche spürte es selbst und suchte es mit der ihm eigenen Wahrhaftigkeit nicht zu vehüllen. Es gibt Seiten in Zarathustra, die mit der wahren Tragik dieses Zweifels an der Wahrheit der verkündeten Lehre erfüllt sind".5 Nietzsche wurde also vor allem als Autor eines in sich widersprüchlichen philosophischen Systems und als Kritiker der abendländischen Zivilisation, als Prediger einer antichristlichen Lehre konzipiert. Es gab dennoch eine andere Richtung in der Nietzsche-Rezeption in Russland um die Jahrhundertwende, die von der Suche nach einer neuen künstlerischen Methode geprägt war. Das Interesse an Nietzsche zeigt sich auf den Seiten symbolistischer Zeitschriften wie Sewernyj westnik, Mir iskusstwa, Wesy. Für Dmitrij Merezhkowskyj, Zinaida Gippius, Nikolaj Minskij, Akim Wolynskij, Wjatscheslaw Iwanow, Andrej Belyj, Walerij Brjusow war Nietzsche derjenige, der als klassischer Philologe und Verfasser der Ge-

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Wladimir Solowjow, Ideja swerchtscheloweka (Die Idee des Übermenschen), in: Ders., Gesammelte Werke in 2 Bänden, Bd. 2, Moskau 1988. Vgl.: N. Grot, Nrawstwennyje idealy naschego wremeni (Friedrich Nietzsche i Lew Tolstof) (Sittliche Ideale unserer Zeit (Friedrich Nietzsche und Lew Tolstoj), in: Woprosy filosofa i psichologü, Bd. 16, 1893; W. Schestow, Dobro w utschenii grafa Tolstogo i Friedricha Nietzsche: fllosofija i propoved (Das Gute in den Lehren des Fürsten Tolstoj und Friedrich Nietzsches: Philosophie und

Predigt), Sankt-Petersburg 1899; Ders., Dostojewski) i Nietzsche. Filosoflja tragedii (Dostojewskij und Nietzsche. Philosophie der Tragödie), in: Mir iskusstwa, 1902ff, Bd. 2, Bd. 4, Bd. 5/6, Bd. 7, Bd. 8, Bd. 9/10. W. Chwosow, Etika Nietzsche

contra.

(Die Ethik Nietzsches) (1905), in: D. Burlak (Hg.), Nietzsche: pro et

Sankt-Petersburg 2001, 876.

Die

233

Umwertung ästhetischer Werte

burt der Tragödie die ästhetischen Werte der Jahrtausende umzuwerten und die Wege der europäischen Kunst umzuorientieren suchte. Damit wird jedoch nicht ausgeschlossen, dass Nietzsche auch als Prediger und religiöser Lehrer zu verstehen war. Nur war es eine Lehre über die ästhetischen Werte und eine Predigt zur Ehre eines unbekannten und gesetzlosen ,Gottes der Künstler', bzw. zweier Gottheiten Apollo und Dionysos. Es wurde oftmals der zu Paradoxien führende Versuch unternommen, die Ideen der Geburt der Tragödie mit dem Christentum zu verknüpfen und zu versöhnen, indem eine Synthese des Dionysischen und des Christlichen (beispielsweise in den Werken von Iwanow)6 unternommen wurde. Die Symbolisten waren von den religiös-philosophischen Auslegungen der Philosophie Nietzsches nicht weit entfernt. Sie haben sich trotzdem nicht für Nietzsches vermeintliche Ideologie, sondern für seine besondere Art der Schriftstellerei interessiert, d.h. wie Belyj es ausdrückt, für Nietzsche, der „sich vom Theoretiker in einen Praktiker verwandelt",7 der seine Philosophie der Kunst in seinen Kunstwerken verwirklicht. Der Gegensatz von Apollo und Dionysos wird als Kampf zweier künstlerischer Methoden ausgelegt, deren Synthese als praktische Aufgabe konzipiert wird. Das Leben ,unter der Optik' der Kunst zu sehen, war, so die russischen Symbolisten, Nietzsches größte Aufgabe. Für die Theoretiker des russischen Symbolismus ist die Suche nach neuen Wegen in der Kunst mit der Umdeutung der ganzen vorangehenden literarischen Tradition als der im Grunde symbolistischen eng verbunden. Ob der Symbolismus etwas prinzipiell Neues darstellt oder die wahre Kunst immer durch ihn gekennzeichnet wurde, bleibt ein Dilemma, das nicht aufzulösen ist. Und die Suche nach neuen Prinzipien der Kunst oszilliert immer zwischen diesen zwei Möglichkeiten. Die Aufhebung der Ambivalenz wurde von den neuen Dichtern durch Umdeutung der Aufgaben der Kunst in der Kultur angestrebt. Einer der wichtigsten Theoretiker, der diese Umdeutung in seinen Werken, die als Manifesten des russischen Symbolismus galten, aufgezeigt hat, war Andrej Belyj. Im folgenden wird seine Auslegung der Rolle Nietzsches für diesen Prozess dargestellt. 1904 ist in der Zeitschrift Mir iskusstva (Die Welt der Kunst) eine Abhandlung von Andrej Belyj unter dem Titel Symbolismus als Weltanschauung erschienen. Es wird am Anfang die allgemeine geistige Krise in der europäischen Kultur dargestellt, die durch den Glauben der Jahrhunderte „an die Möglichkeit der wissenschaftlich-philosophischen Auflösung der Daseinsfragen" vorausbestimmt wurde.8 Nietzsches Verdienst, so Belyj, besteht darin, dass er das Ende der Epoche ,des sokratischen Menschen' und ihre Ablösung durch eine neue Epoche, die der Kunst, verkündete. Die formal-logische Deutung der Welt muss jetzt durch den Symbolismus überwunden werden: „Die Wende vom Symbolismus zum Kritizismus ist immer mit der Wiedergeburt des Geistes der -

6

1

Wjatscheslaw Iwanow, Nietzsche i Dionis (Nietzsche und Dionysos), in: Wesy, Bd. 5, 1904, Bd. 5; Ders., Ellinskaja religija stradajuschjego boga (Die hellenische Religion des leidendes Gottes), in: Nowyjpuf, 1904ff, Bd. 1, Bd. 2, Bd. 3, Bd. 5, Bd. 8, Bd. 9. Andrej Belyj, Friedrich Nietzsche, in: D. Burlak (Hg.), Nietzsche: pro et contra, 1908, 883. Andrej Belyj, Simwolizm kak miroponimanije (Symbolismus als Weltanschauung), in: Ders., Simwolizm kak miroponimanije (Symbolismus als Weltanschauung). Gesammelte Abhandlungen, Moskau 1994, 244.

234

Ekaterina Poljakova

Musik begleitet. Der Geist der Musik ist der Indikator fur die Wende im Bewußtsein. Nicht an das Drama, sondern an die ganze Kultur wendet sich Nietzsche mit seinem Ruf'.9 Nietzsche wird zum Verkünder der symbolistischen Wende des Bewusstseins, der selber diesen Weg „vom Kritizismus zum Symbolismus", von der formal-logischen Erkenntnis zur künstlerischen Kreativität gegangen ist. In dieser Kreativität steht Nietzsche der Kunst der vergangenen Jahrhunderte entgegen, wo „die Harmonie Schlaglichter in ihrem Ausdruck mit der Zurückhaltung versiegelt", er schafft die „neue Kunst", wo die Schlaglichter „die Gestalten und Deutlichkeit des Denkens" durchbrechen.10 Der Verfasser des Zarathustra setzt sich, so Belyj, der ganzen sowohl philosophischen wie künstlerischen Tradition entgegen, indem er Philosophie und Kunst synthetisiert, dadurch dass „die Metaphern zur Methode der Erkenntnis werden". Das ist Symbolismus: „Im Symbolismus als Methode, wo das Ewige und das Zeitliche sich zusammentreffen, treffen wir uns mit der Erkenntnis der platonischen Ideen."11 Nietzsches Philosophie ist aus „einer Reihe von unstetigen Symbolen" zusammengestellt, die „in ein System nicht eingeordnet wurden". Das ist ihr Unterschied zur Religion, die immer „das System der konsequent entfalteten Symbole" darstellt.12 Die Kunst bei Nietzsche, die sowohl der philosophischen als auch der religiösen Erkenntnis der Welt entspricht, wie die ,neue Kunst' überhaupt, ist dabei „weniger Kunst", „sie ist Zeichen und Vorläufer".13 In dieser Deutung von Belyj ist immer noch der Einfluss von russischen religiösen Denkern (Solowjow, Lew Schestow) zu spüren, obwohl das Unsystematische in Nietzsches Philosophie nicht als Mangel, sondern als Kraft der Erneuerung in der Kultur verstanden wird. Die Aufgaben der Kunst lassen sich dennoch in Termini der Erkenntnis formulieren, Nietzsches Symbole dienen zur Erkenntnis der platonischen Ideen. 1908 erscheint in der Zeitschrift Wesy (Die Waage) Belyjs Abhandlung Friedrich Nietzsche, in der man seine weitere Auseinandersetzung mit Nietzsche nachvollziehen kann. Es ist in gleichem Maße sinnlos, schreibt Belyj, Nietzsches „Ideologie auszulegen", wie „die Gemeinplätze über seinen Individualismus und Immoralismus" zu wiederholen.14 Was bleibt dann übrig? Belyj wiederholt unermüdlich, es bleibt die Persönlichkeit Nietzsches, die „eine neue Art des Genies wiederhergestellt", dadurch eine neue Ära eröffnet hat.15 Der von ihm entdeckte „neue Seelenstil" ist eine „praktische" Errungenschaft Nietzsches: „Nietzsche sucht, so gut wie alle philosophischen, ästhetischen und künstlerischen Schulen unserer Zeit zu assimilieren" und gerade deswegen „ist er Symbolist", „ist er Prediger neuer Werte".16 Diese Predigt basiert auf der Überwindung der Gegensätze der Werte, indem Nietzsche „die Freude mit dem Leiden, die Liebe mit

9 10

11 12 13 14 15 16

Ebd.,245f. Ebd., 249.

Ebd., 246. Ebd., 247. Ebd., 248.

Andrej Belyj, Friedrich Nietzsche, in: Ders., Simwolizm kak miroponimanije, 893. Ebd., 879. Ebd., 888.

Die

Umwertung ästhetischer Werte

235

der Grausamkeit vereinigt". Hier verzichtet Belyj, wenn auch nur teilweise, auf seine Deutung der Kunst als Erkenntnismethode, indem er das Schaffen der Werte als Aufgabe der Kunst akzentuiert: „Die Wahrheit liegt nicht an der Genauigkeit: sondern an einem Wert. Wir leben weil wir das Leben als ganzes begreifen können, nicht weil wir einen methodologischen Schrank mit Hunderten Scheidewänden besitzen."18 Die Kunst wird nicht mehr als Mittel der Erkenntnis betrachtet, die ein stimmiges System erforderlich macht: „Auf der Kreativität, nicht auf einer Erkenntnistheorie basiert Nietzsche sein System." Belyj unterscheidet zwei Perioden bei Nietzsche: vor und nach Zarathustra. Die erste bezeichnet er als dekadent, die zweite als kreativ. Die größte Entdeckung Nietzsches in der ersten Periode war der ,Geist der Musik' als Quelle und Kraft des Werdens in der Kultur: „Ein künstlerisches Bild nimmt den Rhythmus in sich auf, nährt sich von ihm [...], schmarotzet auf ihm; die Erkenntnis auf dem Bild; die Moral auf der Erkenntnis."20 Nietzsche, der in der Wiedergeburt der Tragödie selbst enttäuscht hat, schafft Zarathustra, wo seine „Theorie zur Praktik wird".21 Also sprach Zarathustra sollte, so Belyj, als die wahre Verwirklichung der Wiedergeburt der Tragödie gelten. Es geht in erster Linie um ein ganz neues Herangehen an das künstlerische Wort und Bild. Es geht um die symbolische Tiefe des Wortes, wo das Wort sich selbst aufhebt: „Nietzsche spricht ohne Worte, er lächelt."23 Wenn er ,einen neuen Namen' gibt, ,nennt er ihn ganz formal'. Dieser neue Name ist der Übermensch. Zum Unterschied zu Solowjow, der in dieser Idee Nietzsches den antireligiösen Rufund die Bedrohung für die europäische Kultur sieht, betrachtet Belyj sie als etwas UnbeZiel vor Augen hat: „Der Übermensch ist eine stimmtes, als Mittel, das kein aggressives 4 im wodurch sich das ganze Vokabular verändern symbolischen Sinne", Nennung muss: „Wie kann man nun die bekannten Gefühle bezeichnen, wie Schmerz, wenn der Schmerz nicht nur Schmerz ist, auch die Freude nicht durchaus Freude, das Gute nicht das Gute, aber auch das Böse nicht das Basel Ist nicht eine Explosion in einem wohl bekannten Gefäß geschehen, das wir Seele nennen?"25 Solowjow hat Nietzsche geringschätzig als ,Überphilologe' bezeichnet,26 Belyj dagegen sieht gerade die .überphilologische' Einstellung Nietzsches als seine höchste Errungenschaft. Nietzsches Bruch mit 17 18 19 20 21 2

Ebd., 886. Ebd., 891. Ebd., 883. Ebd., 899. Ebd., 900. Über den Einfluß des rhythmischen Aufbaus von Also sprach Zarathustra auf Belyj als Dichter siehe: L. Silard, Andrej Belyj, in: Russkaja literatura rubezha wekow (1890-e nachalo 1920-ch godow), Bd. 2, Moskau 2001, 153f. Der Verfasser weist auf Belyjs Behauptung hin: „ich habe den Rhythmus von Nietzsche gelernt" (Andrej Belyj, Maski [Die Masken], Moskau 1989, 764). Ebd., 895, 900. Ebd., 883. Ebd., 881. „Nietzsche selber, der sich dünkte, ein Übermensch zu sein, war bloß ein Überphilologe". (Wladimir Solowjow, Slowesnost' i istina (Die Wortkunst und die Wahrheit) (1914), in: D. Burlak (Hg.), -

23 24 25 26

Nietzsche: pro

et

contra, 290.

236

Ekaterina Poljakova

der alten Kultur betrachtet er als Problematisierung des Wortes, des Namens, der Möglichkeit, die Begriffe abzugrenzen, um ein naives und oberflächliches System der Ideen zu bilden, als Synthese von allem, was durch eine Kluft jahrhundertelang getrennt wurde. Das ist die neue Ära, die Nietzsches Werk eröffnet und die auch die Umdeutung der

Rolle der Kunst erfordert hat. Ein Jahr später entfaltet Belyj seine eigene Konzeption des Symbols in seiner Abhandlung Magie der Worte (1910), die programmatisch für den Symbolismus geworden ist. Am Anfang definiert er die Sprache als „mächtiges Werkzeug für das Schaffen", welches „der Erkenntnis voraus[geht]" im gnoseologischen, wie im genetischen Sinne. Die Sprache konstituiert die Welt, die Nennung ist das einzige Mittel, um sich der Welt bewusst zu sein: „Wenn es keine Wörter gäbe, gäbe es auch keine Welt. Mein Ich, abgetrennt von der Umwelt, existiert gar nicht; auch nicht die Welt, abgetrennt von mir; Ich und die Welt kommen nur im Prozess ihrer Verknüpfung in einem Laut auf. Außerindividuelles Bewusstsein, sowie außerindividuelle Natur treffen einander, vereinigen sich nur im Prozess der Nennung; deswegen kommen das Bewusstsein, die Natur, die Welt für den Erkennenden nur dann auf, wenn er die Nennungen schaffen kann. Im Wort haben wir originäres Schaffen, das Wort verknüpft eine wortlose, unsichtbare Welt, die schwirrt in der Tiefe meines persönlichen Unterbewusstseins, mit einer wortlosen, sinnlosen Welt, die außer mir schwirrt. Das Wort schafft eine neue dritte Welt die Welt der Symbole in Lauten, dadurch die Geheimnisse der außer mir liegenden Welt erleuchtet werden, sowie die Geheimnisse meiner eigenen Welt." 7 In dieser Deutung des symbolischen und kreativen Wesens des Wortes, das die äußere und die innere Welt schafft, gibt es zahlreiche Hinweise auf Nietzsches Auslegung des Prozesses der Metapher- und Begriffbildung in Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. Der Unterschied ist allerdings auch nicht zu übersehen. Nietzsche beschreibt den Metaphorisierungsprozess als Arbeit an einem Bauwerk, wodurch der drohende Abgrund des Unbekannten verhüllt und seine vernichtende Macht entkräftet wird: „Was ist ein Wort? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten [...] Das ,Ding an sich' (das würde eben die reine folgenlose Wahrheit sein) ist auch dem Sprachbildner ganz unfasslich und ganz und gar nicht erstrebenswerth. Er bezeichnet nur die Relationen der Dinge zu den Menschen und nimmt zu deren Ausdrucke die kühnsten Metaphern zu Hülfe. Ein Nervenreiz zuerst übertragen in ein Bild! erste Metapher. Das Bild wieder nachgeformt in einem Laut! Zweite Metapher" (KSA, WL 1, 878f.). Man weiß nichts von der Natur der Dinge, auch nichts von sich selbst: „Verschweigt die Natur ihm nicht das Allermeiste, selbst über seinen Körper, um ihn [...] in ein stolzes gauklerisches Bewusstsein zu bannen und einzuschliessen! Sie warf den Schlüssel weg: und wehe der verhängnissvollen Neubegier, die durch eine Spalte einmal aus dem Bewusstseinszimmer heraus und hinab zu sehen vermöchte und die jetzt ahnte, dass auf dem Erbarmungslosen, dem Gierigen, dem Unersättlichen, dem Mörderischen der Mensch ruht, in der Gleichgültigkeit seines Nichtwissens, und gleichsam auf dem Rücken eines Tigers in Träumen hängend" (ebd., 877). Auch für Belyj wird durch Wörter und Bilder die Welt des Bewusstseins über wortlose und sinnlose Abgründe aufgebaut. Das ,außerindividuelle Bewußtsein' und die ,außerindividuelle Natur' gehen -

Andrej Belyj, Magija slow (Die Magie der Worte), in: Ders., Simwolizm kak miroponimanije,

131.

Die

Umwertung ästhetischer Werte

237

so Belyj, dem Erkennenden voraus. Sie existieren zwar für ihn nicht eher als er das Wort schafft, sind aber da, um ihm ihre Geheimnisse zu verraten. Belyj ist sich nicht sicher, ob solche Erkenntnis des ,Außerindividuellen' der Welt und dem Bewusstsein adäquat sei. „Es ist ein Ausdruck meiner heimlichen Natur; und da meine Natur auch die allgemeine Natur ist, ist das Wort ein Ausdruck der tiefen Geheimnisse der Natur.' Hier ist sein grundlegender Unterschied zu Nietzsche am klarsten zu sehen. Das Wort, nach Belyj, ist nicht ein zufälliger und illusionärer Ausdruck eines Nervenreizes, der mit dem ,Ding an sich', bzw. mit der Wahrheit nichts zu tun hat, sondern stellt ein Mittel dar, das Innere der Welt zu begreifen: „Der mit Wörtern ausgerüstete Mensch schafft alles um, was er sieht, und fällt, wie ein Krieger, in den Bereich des Unbekannten ein."29 Nietzsche zeigt dagegen, dass der letztere ebenso unzugänglich bleibt, wie auch höchst gefährlich und deswegen unerwünscht ist. Die Sprache und später die Wissenschaft arbeiten zusammen „an den Thurmbau", der den Menschen einen Schutz gegen die „furchtbaren Mächte" gewährleistet (ebd., 886). Wir können nie behaupten, so Nietzsche, dass unser Begriff dem Wesen der Dinge entspricht, „wenn wir auch nicht zu sagen wagen, dass er ihm nicht entspricht: es wäre nämlich eine dogmatische Behauptung und als solche ebenso unerweislich wie ihr Gegentheil" (ebd., 880). Es geht also Nietzsche keinesfalls um das Einfallen in den Bereich des Unbekannten, der nach Belyj für das künstlerische, kreative Wort zugänglich sein darf. Der Titel des Aufsatzes Magie der Worte wird schon am Anfang durch den Hinweis auf die altertümliche Deutung der Magie als lebendige Rede erklärt, die die Macht über die Natur gibt: „Der Hexenmeister ist der, der mehr Wörter kennt; mehr spricht; deswegen besprechen kann [...], durch ein treffend geschaffenes Wort kann ich tiefer in die Natur der Dinge eindringen, als durch das analytische Denken [...] Das Schaffen der lebendigen Rede bleibt immer ein Kampf des Menschen mit den feindlichen Kräften."30 Diese Deutung der alten Magie stimmt fast wörtlich mit der eines anderen Theoretikers des Symbolismus, mit der Iwanows überein. „Der Symbolismus in der jüngsten Poesie scheint die erste und vage Erinnerung an die heilige Sprache der Priester und Hexenmeister zu sein, die den Wörtern der Volkssprache einmal die besondere, geheimnisvolle Bedeutung gegeben haben [...] Sie kannten andere Namen von Göttern und Dämonen, Menschen und Dingen, als die, mit denen sie das Volk genannt hat, und sie haben ihre Macht über die Natur durch diese Kenntnis erobert [...] So haben die ersten ,Hirten der Völker' die Rede beherrscht, die sie ,die Sprache der Götter' genannt haben [...] Das neue Verständnis der Poesie durch die alten Dichter selbst als ,Symbolismus' war die Erinnerung an die altertümliche Sprache der Götter'." Es ist bemerkenswert, dass diese Funktion, Wörter, bzw. Metapher und Begriffe zu schaffen, auch nach Nietzsche, den Priestern des Altertums zuzuschreiben ist, die das Zufallige und Individuelle als allgemeines Gesetz um der Wahrheit wil-

aber,

28

29 30 31

Ebd., 131. Ebd., 135f. Ebd., 132.

Wjatscheslaw Iwanow, Zawety simwolisma. (Die Nachlasse Rodnoje i wselenskoje, Moskau 1994, 183f.

des

Symbolismus) (1910),

in: Ders.,

Ekaterina Poljakova

238

len

geheiligt haben. Darum geht es größtenteils in der Genealogie der Moral (KSA, GM, 5, 257-289). Was für Nietzsche jedoch ein durch Vergesslichkeit und Machtspiele zu Gesetz und Wahrheit gemachtes illusionäres Wesen des Wortes war, ist für die russischen Symbolisten das Ergründen der tiefen Geheimnisse der Welt. Nietzsches Deutung der Sprache ist am klarsten in Menschliches, Allzumenschliches ausgedrückt: „Die Bedeutung der Sprache für die Entwickelung der Cultur liegt darin, dass in ihr der Mensch eine eigene Welt neben die andere stellte, einen Ort, welchen er für so fest hielt, um von ihm aus die übrige Welt aus den Angeln zu heben und sich zum Herrn derselben zu machen. Insofern der Mensch an die Begriffe und Namen der Dinge als an aeternae veritates durch lange Zeitstrecken hindurch geglaubt hat, hat er sich jenen Stolz angeeignet, mit dem er sich über das Thier erhob: er meinte wirklich in der Sprache die Erkenntniss der Welt zu haben. Der Sprachbildner war nicht so bescheiden, zu glauben, dass er den Dingen eben nur Bezeichnungen gebe, er drückte vielmehr, wie er wähnte, das höchste Wissen über die Dinge mit den Worten aus; in der That ist die Sprache die erste Stufe der Bemühung um die Wissenschaft. Der Glaube an die gefundene Wahrheit ist es auch hier, aus dem die mächtigsten Kraftquellen geflossen sind" (KSA, MA-1, 2, 30f.). Zwischen der metaphorischen Zufälligkeit des Wortes und seiner Macht, die illusionäre Welt der Erkenntnis aufzubauen, gibt es eine Beziehung, die sofort auffallt, wenn man die Genealogie der Kunst, Wissenschaft und Religion untersucht. Diese müssen die Zufälligkeit der Metapher vergessen, um die Werte und deren Gegensätze (Wahrheit und Lüge, Gut und Böse) zu schaffen, worauf sie sich selbst gründen und begründen können. Nur der Kunst stehen, so Nietzsche, immer noch freie Spielräume zur Verfügung, um „die vorhandene Welt so bunt unregelmässig folgenlos unzusammenhängend, reizvoll und ewig neu zu gestalten" (KSA, WL, 1, 887). In der Kunst ist der Intellekt „seinem Sklavendienst enthoben" und kann täuschen „ohne zu schaden" (ebd., 888). Durch dieses Zerrütten und Zerstören der Grenzen zwischen Begriffen und Bedeutungen, durch die gesetzlose Umgestaltung der Bilder und Metapher enthüllt die Kunst das vorübergehende, begrenzte und relative Wesen des Sinnes, des Wortes, der Werte. Auch Belyj spricht von der Überwindung des toten Wort-Terminus, vom ,Tod der alten Worte' und sieht Nietzsches höchste Errungenschaft darin, dass er das Wort als solches problematisiert hat. Für ihn aber ist das neue Wort der Kunst immer zugleich die Rückkehr zum originären Wort der Beschwörung, zum Wort, das in sich das mythologische Weltbild widerspiegelt. Das Wort wird als Synthese der intelligiblen Welt verstanden, das assoziativ, mythologisch und auch philosophisch höchst belastet und überlastet ist, und eben deswegen geeignet, die Welt zu erschließen. Es ist aber gerade das Gegenteil davon, was der Autor des Zarathustra unter den Aufgaben der Kunst versteht: den festen symbolischen Sinn, sowie dessen Form zu zerstören, die mythologischen, religiösen und ethischen Reihen der Assoziationen durcheinanderzuwerfen, um ihre Relativität zu zeigen.

Dass das Wort keine Erkenntnis der Welt gewährleisten kann, behauptet auch Belyj. Es betrifft aber nur das Wort der Wissenschaft, den Begriff, der kein lebendiges, schaffendes Wort ist: „Das Wort-Terminus ist ein schöner und toter Kristall, der aus dem Verwesen eines lebendigen Wortes herauskommt."32 Belyj zweifelt sogar an der Mög-

Andrej Belyj, Magija slow (Die Magie der Worte),

135.

Die

Umwertung ästhetischer Werte

239

„Sagen wir ohne Umschweife: es gibt keine ErkenntWort [...] Die Erklärungen sind alle wörtliche Analogien [...] eine Analogie aber ist noch keine Erkenntnis."33; „Nur wörtliches Feuerwerk, das auf der Grenze zweier nicht überbrückbarer Abgründe lichkeit der Erkenntnis überhaupt:

nis, im Sinne einer Erklärung der Erscheinungen mit dem

aufkommt, schafft eine Illusion der Erkenntnis; das ist aber keine Erkenntnis, sondern das Schaffen der neuen Welt im Laute", „eine Hülle der Illusion, die wir Erkenntnis nennen."34 Dann ist das Wort kein Mittel, platonische Ideen und das innere Wesen der Welt zu erkennen, das Schaffen hat nichts mehr mit der Erkenntnis zu tun: „Die Welt der Abstraktionen, sowie die Wesenwelten, wie auch wir die nennen können (die Materie, der Geist, die Natur) sind nicht real; sie existieren ohne Worte gar nicht [...] Wir wissen nicht, was Materie, Boden, Himmel, Luft sind; wir wissen nicht, was Gott, Dämon, Seele ist; wir nennen etwas ,ich', ,du', ,er'; und indem wir die unbekannten Dinge nennen, schaffen wir die Welt für uns

selbst."35

er über die Illusion der intelligiblen Welt spricht, kommt Belyj in seinen Ausführungen Nietzsche sehr nahe. Obwohl das letzte Zitat deutlich zeigt, dass es zur vollen Übereinstimmung nicht kommt. Die Dinge ,existieren ohne Worte gar nicht', behauptet Belyj. Das wäre für Nietzsche eine dogmatische Behauptung, da man kein Instrument dafür besitzt, um dieses Korrelieren oder Nicht-Korrelieren feststellen zu können. Die Aufgabe des russischen Dichters ist es, die schaffende Rolle des Wortes zu betonen und eine von der Wissenschaft und ihren Wahrheitsansprüchen unabhängige Position zu erwerben. Deswegen ist Nietzsches zentrale Frage über das Verhältnis zwischen Sprache und Erkenntnisvermögen, ihm nicht so grundlegend und darf sogar im Rahmen einer kurzen, wenn auch programmatischen, Abhandlung unentschieden bleiben. Das wichtigste bei Nietzsche war für ihn die Idee der originären Metapherizität der Sprache (wofür ihm auch die Theorie des Sprachwissenschaftlers Andrej Potebnja wichtig ist), woraus das Symbol als mächtiges Mittel, die Kultur im Wesentlichen umzugestalten, herauswächst.36 „Das Wort hat das bildliche Symbol geboren die Metapher; die Metapher wurde als etwas Wirkliches vorgestellt; das Wort hat den Mythos die Religion; die Religion die Philosophie; die Philosophie geboren; der Mythos den Terminus." 7 Die Fortentwicklung der Kultur macht den Übergang vom „wörtlichen Feuerwerk der Laute und Bilder" zum „toten Kristall" der Terminologie unvermeidlich. Da, wo Nietzsche die Spielräume für den Kampf mächtiger Kräfte sieht, ist für Belyj der Prozess des ,Oberflächlich-Werdens' und der allmähliche Verlust der symbolischen Tiefe des Wortes zu beobachten. Dieser Unterschied führt zu einer weiteren Diskrepanz mit Nietzsche. Immer noch oszillierend zwischen der Idee der Erkenntnis des inneren Wesens der Welt und der Idee der durch die Sprache geschaffenen Illusion, bezweifelt Belyj nicht (und sieht dieses Zweifel auch bei Nietzsche nicht), dass man über die Existenz dieses Wesens, ob negativ oder positiv, sprechen darf, bzw. dass

Indem

-

-

-

,

Ebd., 136f. Ebd., 136. Ebd., 137. Vgl., ebd., 137-141. Ebd., 137. Ebd., 136.

-

240

Ekaterina Poljakova

sie letztendlich erreicht werden konnte. Es geht ihm bei Nietzsche, wie auch bei den russischen Philosophen seiner Zeit, nicht um Machtspiele, die sich durch die Sprache manifestieren wollen, sondern um die Möglichkeit, das Leben zu ergründen und zu korrigieren. Gerade das ist gegen Nietzsche, der von „einer tiefsinnigen Wahnvorstellung" in der Geburt der Tragödie spricht, „welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam, jener unerschütterliche Glaube, [...] dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei" (KSA, GT, 1, 15). „Dieser erhabene metaphysische Wahn", wie Nietzsche eine solche Einstellung nennt, führt die Wissenschaft „immer und immer wieder zu ihren Grenzen, an denen sie in Kunst umschlagen muss." Kunst bedeutet dann eine Befreiung des Intellekts von diesem „Sklavendienste" und das Feiern „seiner Saturnalien" (KSA, WL, 1, 888). Belyjs Pathos der Wiedergeburt des schöpferischen Wortes, (dass „die Wurzel der Bejahung des Lebens lebendig bleibt"39), kommt zwar von Nietzsches Tragödienschrift her, bleibt jedoch Nietzsches Kunstdeutong fremd. Der Symbolismus, so Belyj, ist der Wegweiser aus der Sackgasse, wohin die Menschheit von den toten Wörter-Termini geführt wurde: „Das Wort reißt seine begriffliche Hülle ab: es glänzt und schimmert mit seiner originären barbarischen Einfachheit." „Solche Epochen sind von dem Einfall der Poesie in den Bereich der Terminologie, dem Einfall des Geistes der Musik in die Poesie, begleitet: die musikalische Kraft des Lautes erwacht im Wort wieder; wir sind wieder nicht von dem Sinn, sondern von dem Klingen des Wortes hingerissen [...] Das schöpferische Wort schöpft die Welt."40 „Des Einfalls des Geistes der Musik in die Poesie" ist nur das Wort-Symbol fähig. Belyj sagt zum Schluss in Magie der Worte: „Unsere Kinder werden ein neues Glaubensbekenntnis aus den glänzenden Worten schmieden; Krise der Erkenntnis wird ihnen nun zum Tod der alten Worte."41 Man wird also zu einer neuen Erkenntnis gelangen können, die durch die symbolistische Kunst zu erobern ist. Das von Nietzsche thematisierte Problem ,des Todes der alten Worte' als das Ende der Werte, die sich als einzige und endgültige Wertung und Erkenntnis der Welt präsentieren, wie es vom Autor Zarathustras ausgelegt wurde, wandelt sich beim russischen Dichter in das optimistische Pathos der Erkenntnis. Nietzsche ist für Belyj eine wichtige Autorität für die Deutung der europäischen Krise. 1910 wird Nietzsche in seiner Abhandlung Das Problem der Kultur als erster in der Reihe der Stammväter des Symbolismus genannt, die „das künstlerische credo" verfasst haben.42 Unter dem Symbol wird dabei ein Bild verstanden, das „aus der Natur genommen und durch die schöpferische Aktivität umgestaltet" wurde. Die Welt durch „geheime Zeichen der Natur"43 zu ergründen, ist die Aufgabe des Symbolismus. Der Hinweis auf Nietzsche ist besonders deutlich in der Formulierung dieser Aufgabe als „Umwertung der ästhetischen Werte", die „ein Teil von der allgemeinen Aufgabe der 39

40 41 42

43

Ebd., 142. Ebd., 133f. Ebd., 142.

Andrej Belyj, Problema kul'tury (Das Problem der Kultur), nije, 22. Ebd., 23. An dieser Stelle zitiert Belyj auch Goethe.

in: Ders., Simwolizm kak miroponima-

Umwertung ästhetischer

Die

241

Werte

Umwertung der philosophischen, ethischen, religiösen Werte der europäischen Kultur ist

.

Fassen wir zusammen: Die Bedeutung Nietzsches für Belyj bei seiner Deutung der Krise der europäischen Kultur und der Aufgaben der neuen Kunst kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es ist die ,Umwertung der ästhetischen Werte', die die neue Kunst zum Höhepunkt Gipfel der kulturellen Entwicklung Europas macht. Die theoretische Krise, die Krise des .theoretischen Menschen' kann nur durch die neue Praxis überwunden werden, das heißt ,das lebendige Symbol' zum Mittel der Erkenntnis zu machen, die theoretischen Probleme der Philosophie praktisch durch das Schaffen der neuen Worte aufzulösen und zwar als erstes das Problem der Wahrheit, die nur als künstlerische Wahrheit, als Wahrheit des Schaffenden zugänglich ist. Dennoch widerspricht Belyj Nietzsche indem er das Symbol zum Erkenntnismittel erklärt: „Nietzsche ist Symbolist, vor allem in seinem Schaffen [...] sogar die Allegorien teilt er in philosophische Ideen ein: ,der Übermensch', ,die ewige Wiederkehr', ,die glückseligen Inseln', ,Zarathustras Höhle' sind bloß religiös-künstlerische Symbole [...] Wie leicht all diese Allegorien zu einer philosophischen Verallgemeinerung angepaßt werden können." Dass es so leicht ist, könnte gerade als Gegenargument dienen: diese ,Allegorien' können eben nicht als religiöse Symbole dargestellt werden, die zu einer einzigen unbestreitbaren ,wahren' philosophischen Fassung der Welt führen. Dieser Widerspruch bringt vielleicht Belyj später in Die Zukunft der Kunst dazu, „die Laute der Dionysos-Dithyramben" von Nietzsche als „tote Laute" zu bezeichnen und auf die Hoffnung auf Wiedergeburt des Mysteriums und Synthese der Kunst zu verzichten. In seiner Suche nach der Begründung des Symbols als Mittel der Welterkenntnis stützt sich Belyj auf Johann Wolfgang von Goethes Worte ,Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis', die durch den Symbolismus, so Belyj, erst gerechtfertigt werden.47 Nietzsche aber dreht den Spruch Goethes in sein Gegenteil um: „Alles Unvergängliche das ist nur ein Gleichniss! Und die Dichter lügen zu viel" (KSA, Za 110). Nietzsches Deutung der Kunst und der Sprache der Kunst nicht als Mittel der Erkenntnis, sondern als einer mächtigen Kraft, die Grenzen und Horizonte der Wissenschaft, sowie die Werte in ihren höchsten Ansprüchen (v.a. in ihrem Anspruch auf absolute Kenntnis) zu überwinden, bleibt dem russischen Dichter und Theoretiker der neuen Kunst fremd. Nichtsdestoweniger wird ihm Nietzsches Projekt der ,Umwertung aller Werte' in der begrenzenden Variante der ,Umwertung der ästhetischen Werte' zu einer praktischen Aufgabe, die die neue Kunst als solche gestalten und die neue Horizonte für sie öffnen soll. -

Ebd., 22.

Andrej Belyj, Smysl iskusstva (Der Sinn der Kunst), in: Ders., Simwolizm kak miroponimanije, 124. Andrej Belyj, Buduschjeje iskusstva (Die Zukunft der Kunst), in: Ders., Simwolizm kak miroponimanije, 143 f.

Andrej Belyj, Problema kul'tury (Das Problem der Kultur), 22.

CHRISTIAN WOLLEK

A realibus ad realiora Vjaceslav Ivanov, Nietzsche und der russische Symbolismus (Mit der deutschen Übersetzung von Ivanovs Nietzsche und Dionysos)

Du tief in meine Seele greifender/ mein Dasein wie ein Sturm durchschweifender/ Du Unfaßbarer, mir Verwandter!/ Ich will dich kennen, ganz dir dienen. Friedrich Nietzsche, Dem unbekannten Gotte)

1. Der russische

Symbolismus und Ivanov

Wie vieles in Russland ist auch der russische Symbolismus ein Phänomen eigenen Maßstabs: schon nach einer kurzen Rezeptionsphase nahm er eine ganz eigene Ausprägung an, indem er sich von einer artistisch-individualistischen Kunstauffassung in eine komplexe religiös-theosophische Weltanschauung verwandelte, wie sie die europäische' Bewegung dieses Namens so nicht kannte. Dabei lag, wie eigentlich für alle literarischen Epochen und Bewegungen Russlands, auch für den Symbolismus der Ausgangspunkt in Europa, in Frankreich; und entsprechend dem französischen, dekadenten' Symbolismus und seinem Konzept der l'art pour l'art verstand sich auch seine russische Spielart der ersten Generation, repräsentiert durch Valerij Brjusov1, zunächst vor allem als Theorie künstlerischen Schaffens, als ästhetische Weltanschauung von Künstlern und für Künstler. Es gehört zur Eigentümlichkeit der russischen Kultur, dass sie dem von außen Empfangenen bald eine eigene, unverwechselbare Form aufprägt; und wenn in Frankreich, Deutschland und zunächst auch in Russland der Symbolismus eine ,Kunst für verfeinerte Geister' (Ivanov) war, so wurde er in bald mit einigen kulturellen Vorgaben konfrontiert, die ihm sein spezifisch russisches Aussehen verliehen: hier wären,

Valerij Jakovleviö Brjusov (1873-1924), einer der Begründer und nach 1900 anerkannter Führer des (älteren) russischen Symbolismus. Starker französischer Einfluss. Nach der Oktoberrevolution trat B. in den Dienst der bolschewistischen Kulturpolitik. Werke: Russische Symbolisten (Russkie simvolisty) 1894f., Me eum esse (1897), Tertia vigilia (1900), Urbi et orbi (1903), Stephanos (1906).

Christian Wollek

244

bei aller angebrachten Vorsicht, Traditionen und Kontinuitäten zu nennen wie die Präferenz des Allgemeinen vor dem Individuellen (,sobornosf) die Ablehnung strikt rationalistischen Denkens und ein Streben nach einer ,ganzheitlichen', Erkennen, Handeln und Religion zusammenfassenden, Weltanschauung. Diese Parameter bestimmten auch die sich entwickelnden Konzepte und Programme des russischen Symbolismus: der Individualismus der älteren Generation wurde von den jüngeren Symbolisten, vor allem von Vjaceslav Ivanov, Andrej Belyj und Aleksandr A. Blök4, folgerichtig in einen weniger am artistischen Subjekt, sondern an der ,objektiven' Wirklichkeit orientierten realistischen Symbolismus' (Ivanov) transferiert. Der Weg der symbolistischen Welterfahrung verlief dabei von den realia der erfahrbaren Wirklichkeit zu den realiora einer transzendent-jenseitigen Wirklichkeit, wodurch das Symbol von der im Subjektiven verhafteten Metapher zum ontologischen Prinzip der Wirklichkeit selbst, der Literat aber zum Hierophanten und Mitwisser ihres mystischgöttlichen Grundes wurde. Seine Aufgabe als Symbolist, d.h. als Dichter, Mythenforscher und Gelehrter, war nunmehr nicht mehr die Erzeugung von Kunst im herkömmlichen Sinne, sondern Erkenntnis, Aufnahme, Weitergabe und vor allem, im Sinne der genannten praktischen Implikation des russischen Denkens, gestaltendes Mitwirken an einem neuen, lebendigen Mythos. Der Symbolismus wurde so, mit gewissen Parallelen zu Richard Wagners Gesamtkunstwerk' zu einer religiösen Weltanschauung, in der das Erkennen der wahren Wirklichkeit mit religiösem, theurgischem Handeln in und durch diese Wirklichkeit zusammengedacht wurde: realistischer Symbolismus bedeutete „Offenbarung dessen, was der Künstler als Wahrheit sieht",6 Mythopoesie ,

,

:

4

6

,

Der schwer zu übersetzende Begriff meint „die kirchliche Gemeinschaft der Menschen in gegenseitiger Liebe" (Ulrich Schmid, Russische Religionsphilosophen des 20. Jahrhunderts, Freiburg, Basel, Wien 2003). „Der Schwerpunkt der russischen Philosophie liegt in der Ethik, in der religiösen Metaphysik und Anthropologie und in der Geschichtsphilosophie. [...] Will man sich eines Schlagworts bedienen, so kann der immer deutlicher hervortretende Grundzug der russischen Philosophie als antirationalistischer Ontologismus bezeichnet werden" (Nicolai von Bubnoff, Russische Religionsphilosophen. Dokumente, Heidelberg 1956, 10). Andrej Belyj (eig. Boris Nikolaevic Bugaev), 1880-1934. Mathematiker, Philologe, Dichter, Anthroposoph. Bedeutende dichtungstheoretische Aufsätze: Die Emblematik des Sinns (1910); lebte 1921 bis 1923 in Berlin. Außerdem Gedichtbände Gold in Azur (Zoloto v lazuri) 1904, Asche (Pepe!) 1908, Die Urne (Urna) 1909 sowie die Romane Die silberne Taube (Serebrjannyi golub) 1909, Petersburg (Peterburg) 1916. Aleksandr Aleksandrovic Blök (1880-1921). Bedeutendster russischer symbolistischer Dichter; starke Einflüsse Wagners und (bes. des frühen) Nietzsche. Werke: Gedichte von der schönen Dame (Stichi o Prekrasnoj Dame) 1901f, (ersch. 1905), Die Stadt (Gorod) 1904-1908, Die Schneemaske (Sneznaja maska) 1907, Schreckliche Welt (Strasnyj mir) 19091916, Harfen und Geigen (Arfy i skripki) 1908-1916, Fajna 1906ff, Auf dem Schnepfenfeld (Na pole Kulikovom) 1908, Die Zwölf (Dvenadzatj 1918. Ivanov befasste sich theoretisch mit Wagners Werk Ders., Wagner und die dionysische Handlung [Wagner i dionisovo Dejstvo], 1905). „Mifotvorcestvo tvorCestvo very. [...] I realisticeskij simvolizm otkrovenie togo, cto chudoznik vidit, kak realnost', v kristalle nizsej realnosti" (Ders., Dve stichii v sovremennom simvo-

lizme, 507).

-

A realibus ad realiora

245

(mifotvorcestvo), ,Schaffen von Glauben'. Dieses Programm entsprach weitgehend schon der Forderung Vladimir Solov'evs,7 dass „die Dichter wieder Priester und Propheten werden sollen", und dass dabei „nicht nur die religiöse Idee über sie Herr werden, sondern dass sie selbst diese beherrschen und bewusst lenken [sollten]". Ivanov drückt dies in seiner wichtigen theoretischen Abhandlung Zwei Elemente im zeitgenössischen Symbolismus so aus: „durch das Augustinische ,transcende ad se ipsum' zur Losung: a realibus ad realiora. Ihr alchemistisches Rätsel, ihr theurgischer Versuch eines religiösen Schaffens, um in der Wirklichkeit eine andere, wirklichere Wirklichkeit zu behaupten, zu verstehen, zu erweisen. Dies ist das Pathos des mystischen Strebens zum ens realissimum, der Eros des Göttlichen".9 Ivanov war wie kaum ein anderer berufen, diese den Eingeweihten zukommende priesterlich-kündende Mission publizistisch wirksam zu erfüllen, wobei die Vielseitigkeit seiner Persönlichkeit und seines Schaffens ihn selbst zu etwas wie einem Symbol des russischen Symbolismus macht, in dem sich kreative Interdisziplinarität und bewusster Eklektizismus, hohes ästhetisches Bewusstsein und tiefer religiöser Ernst verbinden:1 Als studierter Althistoriker und Philologe, Literat, Schöngeist, polyglotter Weltbürger, Christ, und Philosoph wurde er nach längeren Studienaufenthalten im Ausland (Griechenland, Frankreich, Italien Ägypten und Palästina) ab 1905 zum Mittelpunkt der Petersburger Literatur- und Künstlerszene, für die er in seiner ,Turm' genannten Wohnung seine berühmten Mittwochabendgesellschaften11 man musste heute -

7

8

9

Vladimir Sergeevic Solov'ev (1853-1900): Philosoph, religiöser Denker, Lyriker, beeinflusste mit seiner platonisierenden Theosophie maßgeblich den russ. Symbolismus, gilt als herausragender Vertreter der russischen Philosophie (Platon-Übersetzungen ins Russische). „Chudoznik i poety opjat'dolzny staf zrecami i prorokami, no uze v drugom, no esce bolee vaznom smysle: ne tol'ko religioznaja ideja budet vladet' imi, no oni sami budut vladet' eju i soznatel'no upravljat' ee zemnymi voploscenijami." Ivanov bezieht sich auf Solo'ev mit den Worten: „V. Solovév stellt als höchste Aufgabe der Kunst die threurgische Aufgabe. Unter teurgischer Aufgabe des Künstlers versteht er ein die Welt verwandelndes Aufzeigen übernatürlicher Wirklichkeit und die Befreiung der wahren Schönheit aus den groben Überdeckungen der Dingheit" (ebd. 557f). „[...] crez Avgustinovo .transcende ad se ipsum' k lozungu: a realibus ad realiora. Ego alchi-

miceskaja zagadka, ego teourgiceskaja popytka religioznogo tvorcestva utverdit', poznat', vyjavit' v dejstvitel'nosti inuju, bolee dejstvitel'nuju dejstvitel'nost'. Eto pafos misticeskogo ustremlenija k ens realissimum, Eros bozestvennogo." „Ivanov war Ausdruck eines gewissen Wesenszuges seiner Zeit. Sobald man aber versucht, die mythische Einheit des historischen Bildes Ivanovs auseinanderzunehmen, beginnt er auf einzelnen Gebieten seines Talents gegen einige seiner Zeitgenossen deutlich zu verlieren: Als Lyriker hält Ivanov kaum einen Vergleich mit Aleksandr Blök aus, als Stilist ist er blass gegen Rozanov, philosophisch eklektizistisch, da er über keine Ideenbesessenheit verfügt, wie sie beispielsweise Berdjaev zueigen ist, noch eine theolgische Begabung im Sinne Florenskijs. Hierin liegt die Stärke und -

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die Schwäche Ivanovs. Er ist schwer zu greifen in Teilaspekten, da er ganz im Übergang ¡st überall und nirgends wie ein Salamander im Feuer. Und dennoch hat diese Undeutlichkeit in vielem Ivanov zum Mittelpunkt der Bewegung des russischen Symbolismus gemacht" (V. M. Tolmacev, Salamander im Feuer. Über das Schaffen Vj. Ivanovs [Salamandra v ogne. O tvorcestve Vj. Ivanova], in: Rodnoe i vselenskoe, Moskva 1994, 3ff.). „Anfang Herbst des Jahres 1905 kehrten die Ivanovs nach Russland zurück. Ihre Petersburger Wohnung (der ,Turm'), die sich in einem Seitenerker der obersten, siebten Etage in der Taurischen -

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11

Christian Wollek

246

wohl eher von ,Events' oder ,Happenings' sprechen zelebrierte, auf die er durch seine Persönlichkeit, seine Gedichte und theoretischen Abhandlungen sowie durch seine Mitarbeit an verschiedenen symbolistischen Zeitschriften einen starken Einfluss ausübte.13 Nach der Oktoberrevolution war Ivanov für kurze Zeit als Professor für klassische Philologie in Baku tätig, bevor er 1924 nach Rom emigrierte, wo er zwei Jahre später zum Katholizismus übertrat und bis zu seinem Tode 1949 als Professor für Russische Literatur lebte eine Proteusnatur oder ein .Salamander im Feuer' wie ihn sein Biograph Tolmacev genannt hat, gerade hierdurch prädestiniert für den theurgischen Dienst an einem Gott, den er als sich ständig wandelnden, als ,kommenden', als Gott der Masken und der Tragödie, als Berliner Student für sich entdeckt hatte: den griechischen Gott Dionysos, ebenso wie für die eingehende Beschäftigung mit dessen ,Verkünder' Nietzsche. -

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2. Von Nietzsche zu

Dionysos

Von -

Dionysos zu Nietzsche

Die durch Nietzsche vermittelte Entdeckung des Dionysischen hat für Ivanov einen nicht zu überschätzenden Einfluss gehabt, so dass man Ivanovs Denken geradezu als .Auferstehung des Heidentums' (Fedjuschin) glaubte bezeichnen zu müssen. Dieser Entdeckung stand Nietzsches Tragödienschrift Pate, welche mit ihren ästhetischpsychologischen Begriffen des Apollinischen und des Dionysischen auch auf die junge russische Intelligenz eine gewaltige Wirkung ausübte und die in den Kreisen der Symbolisten eine starke, sich bald auf das ganze Werk erstreckende Nietzscherezeption hervorrief. Nun ist aber vor dem Hintergrund des bereits Ausgeführten die Begeisterung der Symbolisten für Nietzsche eigentlich nicht recht verständlich: das in einem christlich-neuplatonistischen Sinn tief religiöse Denken der russischen Symbolisten, ihr mystischer Blick hinter die Vordergründe der Wirklichkeit, das Nietzsche so grell widersprechende Postulat einer metaphysischen .Hinterwelt' sowie das platonisierende Vokabular der theoretischen Schriften scheint auf den ersten Blick von Nietzsches dezidiertem Antiplatonismus und radikalem Immanentismus denkbar weit entfernt, diesem direkt entgegengesetzt zu sein. Es ist aber gerade die Eigentümlichkeit der russischen, insbesondere der symbolistischen, Lesart Nietzsches, ihn im Kontext eigener kulturreformatorischer Ambitionen mit einem genuin metaphysischen Denken wieder in VerStraße Nr. 25 befand, wurde bald zum bekannten Treffpunkt der Petersburger Bohème. Wer erschien nicht zu den gutbesuchten Ivanovschen Mittwochabendgesellschaften jenem Pendant zu den platonischen Symposien des Geistes -, welche sich ab der ersten Sptemberhälfte des Jahres 1905 zu versammeln begannen! V. Rozanov und S. Gippius, F. Sologubov und A. Blök, K. Samov und Ms. Dobuzinskij, Vs. Mejerhold und V. Komisarzevskij, Grezebin und Poljakov [...]", vgl. Rodnoe i vselenskoe, 5. Vgl. Ulrich Steltner, Mir isskustva, Vesy, Zolotoe runo. Rußlands Zeitschriften am Beginn der Moderne, in: Der russische Symbolismus. Zur sinnlichen Seite seiner Wortkunst, München 2000. Berühmt in den ,Turmkreisen' war Ivanovs Gedicht Die Mänade (1905), das einen guten Eindruck von Gegenstand und Sprache in Ivanovs Lyrik und der Gedankenwelt der .Turmgesellschaft' gibt. Vgl: Russische Lyrik. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 240f. -

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A realibus ad realiora

247

bringen. Ivanov tut dies, indem er Nietzsche auf dem Hintergrund einer ,romantischen' Synthese von Dionysos und Christus als homo religiosus und Evangelisten des Dionysos wider Willen deutet,15 ohne dabei aber auf fundierte philosophischsystematische Argumente oder das Mittel psychologischer Analyse zu verzichten.16 Auf diese Weise betrachtet Ivanov Nietzsche einerseits als Exempel eines misslungenen dionysischen Gottsuchertums, folgt aber Nietzsche ,methodisch' indem er eine religionsgeschichtliche und mythopoetische Perspektive mit Psychologie, theologischer Spekulation und Philosophie (das ,freie theologische Denken' Sestovs) verbindet, ohne sich auf eine enge Fachwissenschaftlichkeit zu beschränken, eine Eigenschaft, die er, bei allen vordergründigen Unterschieden, mit Nietzsche auf bemerkenswerte Weise ge-

bindung

zu

,

meinsam hat. Dreh- und Angelpunkt von Ivanovs Nietzscherezeption ist aber die mit Nietzsche geteilte kulturell-praktische Ambition, das Erkennen nicht um des Erkennens, sondern um des Eingreifens und Gestaltens willen. Diese im russischen Denken allgegenwärtige Verbindung von Programm und Handeln (,cto delat'? ,Was tun?'), von Erkenntnis und Umsetzung der Erkenntnis, von Umwandlung von Leben in Kunst und von Kunst in Leben manifestiert sich in Ivanovs Text weniger in einem zu erwartenden proklamativen Gestas als vielmehr bereits auf der Ebene des Stils und der verwendeten Sprache. Diese überschreitet die Konventionen wissenschaftlicher Texte nicht nur, wie es scheint, zu einem künstlerisch-lyrischen, sondern zu einem manifest mythopoetischen Sprechen hin, zu jener ,Harmonie, in der das vielstimmige dionysische Element sein dunkles Fest feiert', in der notwendig der inhaltlichen Vielseitigkeit eine stilistische Vielstimmigkeit korrespondiert. So kann der partiell pathetisch-hochgestimmte Ton des Ivanovschen Schreibens im Sinne Murasovs (,Wie über Dionysos sprechen?'),18 als Versuch verstanden werden, ein ,Wie' des Sprechens über Dionysos zu erproben, in dem das Gesagte im Akt der Versprachlichung selbst sichtbar wird. Die ,Mythopoesie' des Dionysosmythos bleibt so nicht deskriptiv, sondern wird real im Wechsel lyrischen, bilderreich-rhythmischen und diskursiv-argumentierenden Sprechens.19 Eigentliches Ziel für Ivanov ist dabei nicht Nietzsche, sondern der Mythos Dionysos, der in und an Nietzsche exemplarisch begriffen wird: Nietzsches ,Spuren folgend' wird die ,Heiligen-

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15 1

17 18

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Manfred Frank, der die romantische Dionysos- und Christusdeutung eingehend darstellt (Ders., Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie, Frankfurt/M. 1982). Ivanov erwähnt im vorliegenden Text Jona und Jakob, zwei alttestamentliche ,Gotteskämpfer'. So in seiner Deutung des Willens zur Macht als ,missionaristische' Fehldeutung des Dionysischen und in seiner Darstellung von Nietzsches seelischer, musikalisch-theoretischer .Zweiheit' als Be-

Vgl.

dingung seines Philosophierens.

,Methodisch' im weiteren Sinne verstanden als allgemeine schöpferische Verfahrensweise.

Vgl. Jurij Murasov,

Im Zeichen des

Dionysos.

Zur

Beispiel von Vjaceslav Ivanov, München 1999, 20ff. Beide Bereiche sind nicht klar

Mythopoetik

in der russischen Moderne

am

zu trennen: So bricht das lyrische Element oft unvermittelt durch, gibt es plötzliche Übergänge vom ,heißen' dionysischen Sprechen zum kalten Ton einer Abhandlung. Auffällig ist, dass Ivanov, wenn er über Nietzsche als Philosoph schreibt, den Tonfall einer theoretischen Abhandlung wählt, sobald er jedoch über das Dionysische spricht, in eine lyrischdithyrambische Tonlage wechselt und so der in Nietzsche selbst zum Ausdruck kommenden apollinisch-dionysischen Dichotomie beredten Ausdruck verleiht.

Christian Wollek

248

legende' Nietzsche, die Teil des (neuen) Dionysosmythos ist, von Ivanov erzählt, um jenen Mythos zu schaffen, um den es eigentlich zu tun ist, den neuen Mythos vom Weltenherrscher und Pantokrator Dionysos. Somit verhält

es

sich bei Ivanov ähnlich wie bei

Nietzsche, dessen entscheidende

Schläge, wie man gesagt hat, „mit der linken Hand' geführt werden: es ist nicht nur der

beachtliche diskursiv-theoretische Gehalt, der den Text lesenswert macht, sondern auch die Art und Weise seines Vortrags, seine Performanz. Ivanov bewegt sich ähnlich wie Nietzsche auf der Grenzscheide zwischen einem erlebten, unmittelbar gefühlten und kaum mitteilbaren ,Wie' und seiner Umsetzung in ein theoretisch-diskursives ,Was', wobei die immer wieder eintretende Aufhebung der Differenz von Text und Autor, von Sprechen und Sprecher einerseits, andererseits die immer wieder eingenommene Distanz zu Text, Gegenstand und Autor-Ich ein Spezifikum bildet, das Ivanov auch bei Nietzsche finden konnte und das er nunmehr als bewusste Methode übernimmt. Dieser gleichsam mit Nietzsche über Nietzsche hinausgehende metaperspektivische Blick in die Prozesse tragischen Schreibens'22 ist, bei aller der damaligen Zeit geschuldeten Überladenheit der Metaphorik und allem gottsucherischen Pathos zum Trotz, eine wichtige Einsicht Ivanovs in Werkcharakter und Persönlichkeit Nietzsches und rechtfertigt jenseits der diskursiv-inhaltlichen auch auf der stilistisch-performativen Ebene die von ihm vorgenommene ,Re-Metaphysierung' des Antimetaphysikers Nietzsche, des ,,letzte[n] Jüngerfs] und Eingeweihte[n] des Gottes Dionysos" (KSA, JGB, 5, 238) und des widerwilligen „medium[s] übermächtiger Gewalten" (KSA, EH, 6, 339).23

3. Zur Übersetzung Der Text wird hier erstmalig in einer deutschen Übersetzung vorgelegt. Das von Ulrich Schmid im Hinblick auf eine philosophische und (theologische) Rezeption russischer hat einen (religions)philosophischer Texte ausgesprochene „slavica non wesentlichen Grund in der dürftigen editorischen Situation: Der größte Teil von Ivanovs Texten ist bisher nicht übersetzt. Seine Werke liegen in einer vierbändigen russischen Werkausgabe vor, die als Textgrundlage sowohl für Nietzsche und Dionysos als auch für die oben häufiger zitierte Abhandlung Zwei Elemente im zeitgenössischen Symbo-

leguntur"24

„Fast scheint

es, als habe auch Nietzsche einen Beweis für den Satz liefern wollen, daß die entscheidenden Schläge mit der linken Hand geführt werden oder besser: daß die wirklichen Dramen am Rande der Bühne spielen" (Peter Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus, Frankfurt/M. 1986, 105). Dies ist eine These, die bei der Lektüre des Textes plausibel ist, fur deren Nachweis aber eine -

umfangreichere Untersuchung nötig wäre. Dionysische und apollinische Aspekte des Schreibvorgangs, wie sie Ivanov exemplarisch darstellt. „Mit dem geringsten Rest von Aberglauben in sich würde man in der That die Vorstellung, bloß Incarnation, bloss Mundstück, bloß medium übermächtiger Gewalten zu sein, kaum abzuweisen wissen" (KSA, EH, 6, 339). Ulrich Schmid, Russische Religionsphilosophen des 20. Jahrhunderts, Freiburg, Basel, Wien 2003, 7.

249

Nietzsche und Dionysos

lismus verwendet wurde: Vjaceslav Ivanov, Sobrante socinenij, torn I-IV, Brüssel 1974 (Niese i Dionis in tom I, 715-726), (Dve stichii v sovremennom simvolizme in torn II, 536-562). Beide Texte sind auch in Vjaceslav Ivanov, Rodnoe i vselenskoe, Moskva 1994 enthalten.

Vjaceslav Ivanov

Nietzsche und Dionysos

I

gibt einen alten Mythos. Als die griechischen Helden die Beute und die Gefangenen Trojas aufteilten, zog Euripiles, der Anführer der thessalischen Truppen, ein dunkles Los. Die zürnende Kassandra warf von der Schwelle der brennenden königlichen Es

Schatzkammern aus den Eroberern einen berühmten, seit alters verschlossenen Schrein die Füße, eine Arbeit des Hephaistos. Zeus selbst hatte ihn einst dem alten Dardanos, dem Erbauer Trojas, als Unterpfand der göttlichen Vaterschaft zum Geschenk gemacht, und nach dem Willen des geheimnisvollen Gottes ging der uralte Schrein als Kriegstribut an den Thessalier. Vergebens versuchten die Kameraden Euripiles zu überzeugen, sich vor den Ränken der rasenden Seherin zu hüten: besser sei es für ihn, sein Geschenk auf dem Grund des Skamander zu versenken. Euripiles aber brennt darauf, das dunkle Los kennenzulernen, er trägt den Schrein fort und sieht, nachdem er ihn geöffnet hat, beim Schein des Brandes einen bartlosen Mann in einem Sarg, gekränzt mit Zweigen, ein aus dem Holz des Feigenbaums angefertigtes Idol des Herrschers Dionysos in einem altertümlichen Gewand. Kaum erblickt der Held das Bildnis des Gottes, als sich die Sinne ihm verwirren. Auf diese Weise ersteht vor unseren Augen eine heilige Erzählung, kurz wiedergegeben bei Pausanias. Unsere Einbildungskraft drängt es, Euripiles auf den Spuren seines heiligen Wahnsinns zu folgen. Aber der Mythos, von den alten Dichtern unbeachtet, schweigt. Wir hören nur, dass der König zeitweilig zu sich kommt und in diesen Zwischenzeiten gesunden Verstandes vom Ufer des eingeäscherten Ilion wegfahrt und Kurs nicht auf das heimatliche Thessalien hält, sondern auf Kirra, den delphischen Hafen, um Behandlung zu suchen beim Dreifuss des Apoll. Die Pythia verspricht ihm Heilung und eine neue Heimat an einer Küste, wo er ein fremdartiges Opfer sehen und den Schrein aufstellen wird. Der Wind treibt den Seefahrer an die Küste Achaias. In der vor

-

-

Vgl. Pausanias, Beschreibung Griechenlands, 7. Buch, 19, 9.

250 Nähe

Vjaceslav Ivanov

Patras geht Euripiles an Land und sieht einen Jüngling und ein junges Mädchen, die als Opfer zum Altar der Artemis Triklaris geführt werden. So erkennt er den ihm verheißenen Ort. Und die Einwohner jenes Landes erkennen in ihm ihrerseits den ihnen verheißenen Erlöser von der Pflicht der Menschenopfer, den sie, nach den Worten des Orakels, in Gestalt eines fremden Königs erwarten, der ihnen in einem Schrein einen ihnen unbekannten Gott bringt. Euripiles schafft die blutigen Opfer für die wilde Göttin ab, wird von seinem heiligen Leid geheilt und ersetzt im Namen des von ihm verkündeten Gottes die grausamen Opfer durch wohltätige; er stirbt, nachdem er den Dionysos-Kult eingeführt hat, als Held und Schutzpatron eines befreiten Volkes. Diese alte Tempellegende scheint uns die mythische Widerspiegelung von Nietzsches Schicksal zu sein. Auch er eroberte, alte Festungen verbrennend, mit anderen Mächtigen des Geistes den Geist der Schönheit, die Helena der Griechen und erwarb das verhängnisvolle Heiligtum. Auch er verlor den Verstand ob dieser geheimnisvollen Erwerbung und Klarsicht. Auch er verkündete Dionysos und suchte Schutz vor Dionysos in der Kraft des Apollinischen. Auch er schaffte die Menschenopfer für die alten Götzen durch eine neue Gotteserkenntnis ab. Wie jener Held, war er zu Lebzeiten wahnsinnig und erweist Wohltaten einer von ihm befreiten Menschheit als wahrer Heros der neuen Welt aus den Tiefen der Erde. Nietzsche gab der Welt Dionysos zurück: hierin bestand seine Mission und sein seherischer Wahnsinn. Wie der Sturz der ,vielen Wasser' tönte von seinem Mund der Name des Dionysos. Der dionysische Zauber machte ihn zum Herrscher über unsere Seelen und zum Hüter des Künftigen. Es erzitterten die tauben Zauber des lastenden Geschicks, der zauberische Bann verdüsterter Seelen. Es ergrünten die Wiesen unter dem frühlingshaften Hauch des Gottes, die Herzen entzündeten sich, die Muskeln eines hohen Willens spannten sich an. Der vorüberfliegende Moment wurde bedeutsam und ahnungsvoll, jeder Atemzug leicht und voll, beschleunigt jeder Schlag des Herzens. Heller, tiefer, übervoller, durchdringender blickte das Leben in die Seele. Das Weltall hallte wider von Schall wie die röhrengleichen Bündel gotischer Säulen und ihre zielstrebigen, spitzbögigen Geflechte vom Seufzen einer unsichtbaren Orgel. Wir fühlten uns und unsere Erde und unsere Sonne als begeisterten Wirbel des Weltentanzes (,the Earth dancing about the Sun', wie Shelley sang). Wir nippten am göttlichen Weltenwein und wurden hellsichtig. Die in uns schlafenden Möglichkeiten menschlicher Göttlichkeit zwangen uns aufzuseufzen ob des tragischen Schicksals des Übermenschen ob der in uns sich vollziehenden Inkorporierung des auferstandenen Dionysos. In den Seelen tagte die Erfüllung des Gebotes: Wer durch dich atmet, Gott,/ Dem sind nicht schwer die Massive der Berge,/ nicht der Feuchte, der schlummernden/ im feierlichen Mittag,/ blaues Glas!/ Wer durch dich atmet, Gott, -/ Auf dem vielflügeligen Altar der Schöpfung/ Ist selbst Flügel!/ Im Sturm brüderlicher Kräfte,/ Nahe der Sonnen/ eilt er vorbei/ am von

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-

-

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brennenden Opfer/ Der leidtragenden Erde 1

Kto

..?

dyset toboj, bog,/ Ne tjazkii tomu gornye/ Gromady, ni vlagi, pocivsej/ V torzestvennom pold-

ne,/ Steklo goluboe!/ Kto dyset toboj, bog, -/ V altare mnogokrylom tvorenoja/ On krylo!/ V bure bratskich sil,/ Okrest solnc,/ Möit on zertvu gorjasöuju/ Zemli stradal'noj (Kormcie Zvezdy. Leitsterne), in: Vjaceslav Ivanov, Sobranie socinenij, torn 1, Brüssel 1971, 687. -

...

251

Nietzsche und Dionysos

Es gibt Genies des Pathos wie es Genies des Guten gibt. Obwohl sie eigentlich nichts Neues entdecken, zwingen sie, die Welt auf neue Art zu fühlen. Zu diesen gehört Nietzsche. Er löste die Begräbnistrauer des Pessimismus in der Flamme einer heroischen Totenfeier auf, im Sphinxenfeuer der Weltentragödie. Er gab dem Leben seinen tragischen Gott zurück ,incipit tragoedia! '

...

II Um Nietzsche für eine solche Heldentat des Lebens auszustatten, beschenkten ihn bei seiner Geburt zwei verschiedene Moiren mit zweierlei Gaben. Diese verhängnisvolle

Zweiheit könnte man durch den Gegensatz eines geistigen Sehsinns und eines geistigen Gehörs bezeichnen. Nietzsche musste scharfe Augen haben, welche imstande waren, die blassen Umrisse ursprünglicher Schriften auf einem von späterer Hand überdeckten Palimpsest zu entziffern. Seine kleinen, feinen Ohren Gegenstand seines Stolzes mussten weissagende Ohren sein, erfüllt von ,Klang und Laut' wie das Gehör von Puschkins Poeten, empfänglich für die verwandte Musik der Weltseele.3 Nietzsche, wie Vladimir Solov'ev ihn auffasst, war Philologe. Um Dionysos zu erwerben, musste er durch das Elysium der heidnischen Schatten wandern und dort mit den Hellenen hellenisch sprechen, wie es jener konnte, dessen viele Druckseiten eine direkte Übersetzung aus Piaton zu sein scheinen, welcher ja, wie die Alten sagten, die Sprache der Götter beherrschte.4 Er musste den steinigen Pfaden der Wissenschaft folgen und sich zu der Höhe aufschwingen, auf der wir heute die Erforschung der griechischen Welt sehen. Es war nötig, dass Hermann ihm die Sprache, Ottfried Müller den Geist, August Beck das Leben und Belcker5 ihm die Seele des dionysischen Volks eröffnete. Es war nötig, dass der künftige Autor der Geburt der Tragödie als wissenschaftlichen Leiter Ritschi hatte und den Diogenes Laertios oder das Poem über den Wettkampf Homers und Hesiods kritisch sezierte. Nietzsche war Orgiast musikalischer Trunkenheit: dies war seine zweite Natur. Kurz vor seinem Tode träumte Sokrates, dass eine göttliche Stimme ihm befehle, Musik zu machen: Nietzsche, der Philosoph, erfüllte dieses alte Gebot. Er musste Teilnehmer des Wagnerkultes werden, der dem Dienst an Dionysos und den Musen gewidmet war, und das von Wagner aufgenommene musikalische Erbe Beethovens aufnehmen, sein heroisches und tragisches Pathos. Es war nötig, dass Dionysos früher als im Wort, früher als in der Begeisterung und in den Auftritten des großen Mystagogen, des zukünftigen Zarathustra Dostojewski),6 in der Musik entdeckt wurde, in der stummen Kunst des tauben Beethoven, des großen Verkünders der orgiastischen Geheimnisse der Seele. -

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Aleksandr Puschkins Gedicht Der Prophet (Prorok) schildert in alttestamentlicher Sprache eine Berufung zum Dichter-Propheten, in: Russische Lyrik. Von den Anfangen bis zur Gegenwart, Stuttgart 1983, 121f. Zu Vladimir Solov'ev siehe Anm. 7. Hermann, Beck, Ottfried Belcker, Klassische Philologen und Altertumswissenschaftler des 19.

6

Jahrhunderts,

Vgl. Vjaceslav Ivanov, Dostoevski) i roman-tragedija, in: Rodnoe i vselenskoe, 282-306.

Vjaceslav Ivanov

252

es war nötig, dass die Zusammensetzung der Geister der Epoche, als Nietzsche in Erscheinung trat, dieser Beschaffenheit seiner Natur entsprach: dass seine kritische Sehkraft, sein sehendes Streben nach klassischer und plastischer Klarheit gehärtet wurde in der Kühle des wissenschaftlichen Geistes der Zeit; dass sich dieses orgiastische Aus-sich-Hinausgehen mit der von Schopenhauers Pessimismus den Geistern eingeimpften altindischen Philosophie traf, mit ihrem Glauben an den Scheincharakter des principium individuationis und mit ihrem vom Schleier der Erscheinungen erzeugten Schmerz der Trennung mit einer Philosophie, welche dem Erforscher des Geistes der Tragödie das Wesen des Dionysos als ein Prinzip entdeckte, das die Zauber der Indivi-

Und

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duation zerbricht. Die apollinischen, d.h. formgebenden, härtenden und zielstrebigen Elemente persönlicher Veranlagung und Einflüsse von außen waren für das Genie Nietzsche notwendig, um die Grenzenlosigkeit der musikalischen, niederreißenden Gewalt des Dionysischen einzudämmen. Diese Zweiheit seiner Veranlagungen oder wie er selbst sagen würde seiner ,Tugenden', müsste zu einem Widerstreit führen und seinen verhängnisvollen inneren Verfall verursachen. Nur unter der Voraussetzung einer bestimmten inneren Antinomie ist dieses Spiel der Selbstspaltung möglich, dieses Vor-sich-auf-der-LauerLiegen, dieses Sich-selbst-Entgleiten, dieses lebendige Empfinden der eigenen inneren Verirrungen und der inneren Treffen mit sich selbst, diese schon fast hellseherische Wahrnehmung auswegloser Wege und unerforschlicher Geheimnisse des seelischen -

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Labyrinths. III

Dionysos ist die göttliche All-Einheit des Seienden in seiner durch das Opfer hervorgerufenen Trennung und erlittenen Transubstantation ins Mannigfaltige, geisterhaft schwankend zwischen Entstehen und Vergehen, das Nicht-Seiende (\ir\ öv) der Welt. Das ewige Opfer des leidenden Gottes und die ewige Auferstehung dies ist die religiöse Idee des dionysischen Orgiasmus. ,Sohn Gottes', Nachfolger auf dem väterlichen Thron, von den Titanen zerissen in der Wiege der Zeiten, in Gestalt des ,Helden' Gottmensch, in der Zeit geboren von einer irdischen Mutter ,der neue Dionysos', dessen geheimnisvolle Erscheinung die einzig mögliche Hoffnung auf einen Hinabstieg Gottes auf die Erde für den keine Hoffnung kennenden Hellenen war, so verwandt ist unserem religiösen Weltverständnis der Gott antiker Philosopheme und Theologeme. Im allgemeinen, naturalistisch gefärbten Glauben ist er der Gott des Märtyrertodes, des in den Eingeweiden der Erde verborgenen Lebens und der jubelnden Wiederkehr aus dem Schatten des Todes, der Wiedergeburt', der ,Palingenesie'. Unmittelbar zugänglich und menschlich nah ist uns die Mystik der dionysischen Gottesverehrung in ihren esoterischen und in ihren volkstümlichen Formen. Sie mischt Dionysos, das Opfer, und den auferstandenen Dionysos als Dionysos den Tröster in den Kreis einer einzigen Erfahrung, und jeder Moment wahrer Ekstase spiegelt das ganze Geheimnis der Ewigkeit im lebendigen Spiegel des inneren, überpersönlichen Ereignis-

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Nietzsche und Dionysos

253

der aus-sich-heraus-getretenen Seele. Dann ist Dionysos das ewige Wunder des Weltherzens im Herzen des Menschen, unauslöschlich in seinem flammenden Schlagen, in seinen Krämpfen durchdringenden Schmerzes und unerwarteter Freude, im Absterben der sterblichen Sehnsucht und in den sich wiedergebärenden Begeisterungen letzter ses

Erfüllung. Das dionysische Prinzip, antinomisch seiner Natur nach, kann auf verschiedene Weise beschrieben und formal bestimmt werden, vollständig erschließt es sich nur im Erleben, und es wäre vergebens, seine Errungenschaften zu suchen, indem man erforschte, ,Was' seine lebendige Zusammensetzung darstellt. Dionysos nimmt und verwirft gleichzeitig jedes Prädikat. In seinem Kult ist A gleich Nicht-A, verschmelzen Priester und Opfer in eins. Das eine Dionysische, wie es sein Wesen in der inneren Erfahrung zeigt, ist ebensowenig zurückführbar auf eine wörtliche Ausdeutung wie das Wesen der Schönheit oder der Poesie. In diesem Pathos lösen sich die göttlichen Vermischungen, die Polaritäten lebendiger Kräfte in befreiende Donnerschläge auf. Hier tritt das Sein über den Rand der Erscheinungen; hier zertrümmert der Gott, aufspielend in der Geburtshöhle eines abgetrennten Nichtseins, durch seinen Wuchs dessen Grenzen. Das Leben des Weltalls im Ganzen und das Leben der Natur sind unzweifelhaft dio-

nysisch.

„Der orgiastische Wahnsinn im Wein/ Versetzt, alles vermischend/ die ganze Welt in

Schwingungen;/ Aber in der Nüchternheit und in der Weltenstille/ Atmet ab und zu derselbe Wahnsinn./ Er schweigt in den niederhängenden Zweigen/ und lauert in der gierigen Höhle" (F. Sologub).7 Das Gleiche sind die dionysischen Tänze der WaldSatyrn und das unbewegte Schweigen der in innere Schau und Fühlung des Gottes versunkenen Mänade.8 Der Zustand der menschlichen Seele kann solcherart aber nur unter der Voraussetzung des Aus-sich-Herausgehens aus den Grenzen des empirischen Ich sein, unter der Voraussetzung der Teilhabe an der Einheit des kosmischen Ich in seinem Fedor Sologúb (1863-1927), symbolistischer Dichter, Prosaschriftsteller und Übersetzer, Das Gedicht lautet im Original: „Orginoe bezumie v vine,/ Ono ves' mir, smejas' kolyset;/ No v trezvosti i mirnoj tisine/ Poroju to z bezum'e dyäit./ Ono molcit v navisnuvsJch vetvjach/ I storozit v pescere zadnoj." Vgl. Ivanovs Gedicht Die Mänade: „Gram und Unruhe hatte die Mänade befallen;/ das Herz in ihr war erkaltet vor weher Sehnsucht./ Unbeweglich war an der gierigen Höhle/ die wortlose Mänade stehengeblieben./ Mit düsteren Augen schaut sie und sieht nicht;/ den heißen Mund hat sie geöffnet und atmet nicht./ Und die schwärmenden Nymphen flehten/ aus den Tiefen der Höhle für die Mänade:/ ,Gib Nässe, Nässe, nasser Gott!/ Ich bin zum scharfbrüstigen Fels erstarrt,/ schwarze Nebel zerteilend,/ einen Strahl aus blauen Schlünden schlagend .../ Ritze du,/ Schneide/ mit dem Zahn des Blitzes meinen Stein, Dionysos!/ Mit klingendem Hammer lasse ausströmen/ aus meiner Brust die Quellen jubelnder Tränen 7 Stürmisch raste die Mänade davon,/ gleich einer Hirschkuh,/ mit aus der Brust aufgescheuchtem Herzen,/ gleich einer Hirschkuh,/ gleich einer Hirschkuh,/ mit einem Herzen, das schlug wie ein Falke/ in Gefangenschaft,/ in Gefangenschaft,/ mit einem Herzen, unbändig, wie die Sonne/ am Morgen,/ am Morgen,/ mit einem Herzen, zum Opfer bestimmt, wie die Sonne/ am Abend,/ am Abend .../ So stehe auch du, wenn du den Gott triffst,/ still, Herz .../ stehe still, Herz .../An der letzten Schwelle/ stehe still, Herz .../ stehe still, Herz .../ Opfer, trinke du aus dem Friedenskelch/ Stille,/ Stille!/ Das Gemisch aus Wein und wilder Myrrhe -/ Stille .../ Stille ..." (zit. nach: Russische Lyrik. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, 240ff). -

...

Vjaceslav Ivanov

254

Willen und Leiden, seiner Fülle und seiner Zerrissenheit, seinem Ein- und Ausatmen. In diesem heiligen Rausch und orgiastischen Selbstvergessen erkennen wir den Zustand einer bis zur Qual gesegneten Überfülle, die Empfindung einer wundervollen Mächtigkeit und eines Übermaßes von Kraft, das Bewusstsein der gesichts- und willenlosen Elementarheit, den Schrecken und die Begeisterung des Selbstverlustes im Chaos und der Neuwerdung in Gott, mit all dem nicht die zahllosen Regenbögen erschöpfend, mit denen der Durchbruch des dionysischen Lichtstrahls unsere Seele umgürtet und entbrennt. Die Psychologie der dionysischen Ekstase ist so reich an Inhalt, dass schon von einem Tropfen dieses ,die Welt umgreifenden Wassers' jeglicher Durst vergeht. Nietzund wünschte keinerlei süßen sche lebte auf diesem Meer lebendigen Wassers Schiffbruch'. Er wollte am sicheren Ufer stehend trinken und vom Ufer aus die Aufregungen des purpurfarbenen Meeres betrachten. Er machte Bekanntschaft mit der göttlichen Trunkenheit und mit dem Verlust des Ich in dieser Trunkenheit und gab sich mit dieser bloßen Bekanntschaft zufrieden. Er stieg nicht in die Tiefe der Höhle hinab, um seinen Gott im Dämmerlicht zu treffen. Er wandte sich vom religiösen Geheimnis seiner nur ästhetischen Trunkenheiten ab. Bedeutsam, dass Nietzsche, Helden-Gott der Tragödie, so gut wie nie den Gott sah, welcher Leiden litt (Aiovúaou náQr\). Er kannte die Begeisterung des Orgiasmus, aber er kannte nicht das Heulen und Stöhnen des leidenschaftlichen Dienstes, mit welchem die über die Berge ziehenden Frauen aus den Eingeweiden der Erde den leidenden und gestorbenen Sohn der Dieva hervorriefen. Die Hellenen, Nietzsche zufolge, waren Pessimisten gerade aus Überfülle ihrer Lebenskraft; ihre Liebe zum ,amor fati' war ihre, die Grenzen überschreitende Stärke; die Selbstaufgabe war ein Ausgang aus der gesegneten Qual der Überfülle. Dionysos ist das Symbol dieses Überflusses und Übermaßes, dieses Aus-sich-Hinausgehens aus dem Anfluten lebendiger Energien. Dies ist das Konzept Nietzsches. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Dionysos der Gott des überfließenden Reichtums ist, dass er seinen Reichtum durch die Trunkenheit des Untergangs schafft. Ob aber der Überfluss des Lebens oder aber das Sterben historisch und philosophisch das prius in seiner religiösen Idee darstellt, ist ungeklärt. Die Tragödie entstand aus den Orgien zu Ehren des im Aus-sich-Hinaustreten zerrissenen Gottes. Woher dieses Aus-sich-Hinaustreten? Es ist eng verbunden mit dem Seelenkult und den urTotenkulten. feierliche Totenkult ein Opferdienst für die Toten Der sprünglichen wurde von geschlechtlichen Leidenschaften begleitet. Überwog aber der Tod oder das Leben auf den von beidem überladenen, schwankenden Waagschalen? Dionysos war in den Augen jener archaischen Menschen nicht der Gott der wilden Hochzeiten und Ausschweifungen, sondern Gott der Toten und des Totenreichs und brachte, indem er sich selbst der Zerreißung unterwarf und unzählige Opfer mit sich in den Untergang nahm, den Tod in den Jubel der Lebenden. Und im Tode lächelte er das Lächeln der ewigen Wiederkehr, der göttliche Zeuge der unermüdlich sich wiedergebärenden Kraft. Er war der Verkünder des fröhlichen Todes und verbarg in sich das Versprechen eines anderen Lebens dort unten und neuer Trunkenheiten hier auf der Erde. Der leidende -

,

-

-

-

-

-

-

Vgl. Giacomo Leopardi: Das Unendliche,

übers,

v.

Ludwig Wolde, Frankfurt/M.

1979.

Nietzsche und Dionysos

255

Gott, der jubelnde Gott diese beiden Gesichter waren in ihm von Anfang an untrenn-

bar und dennoch nicht in eins verschmolzen sichtbar. Es ist schrecklich anzusehen, dass Nietzsche erst zu dem Zeitpunkt des sich schon nahenden Wahnsinns in Dionysos den leidenden Gott erkennt, gleichsam unbewusst und prophetisch, in jedem Falle aber außerhalb und gegen den Zusammenhang mit seiner gesetzmäßigen und verkündeten Lehre. In einem Brief nennt er sich selbst den ,gekreuzigten Dionysos'. Diese verspätete und unerwartete Anerkennung der Verwandtschaft zwischen dem Dionysischen und dem auf so grausame Weise niedergeschmetterten Christentum erschüttert die Seele ähnlich wie die klangvolle Stimme von Tjucevs Lerche, der unerwarteten und schrecklichen, so wie das Lachen des Wahnsinns in einer regnerischen, dunklen und späten Stunde. -

-

IV

dionysischen

Rausch trunkene Nietzsche begriff, dass für eine geistige Erdes irdischen Antlitzes (denn nichts geringeres wollte er) sich unser Herz verändern, sich in unserem Inneren irgendein tiefer Wechsel vollziehen müsse, eine Umgestaltung der gesamten seelischen Struktur, eine Umformung des ganzen Einklanges unserer Gefühle, eine Wiedergeburt ähnlich dem Zustand, der im Urtext der Evangelien mit dem Wort metanoia bezeichnet ist, da sie Bedingung ist für die Errichtung (Prosvetlenie) des ,himmlischen Königreichs' auf Erden. In diesem Sinne verkündet Nietzsche zwei Thesen, die in ihrem Wesen mystisch, antireligiös in ihrer willkürlichen Anwendung und Ausdeutung sind, welche er selbst oder sein antidionysischer Zwilling ihnen verlieh. Auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie verkündete er, dass das, was als objektiv verbindliche Wahrheit gilt, verworfen werden kann kraft der Autonomie der subjektiven Wahrheit, der Wahrheit des inneren Willengeschehens. Mittel der Selbstbestätigung jenseits der Grenzen unseres Ichs aber ist der Glaube; und Nietzsches These, unter einem religiösen Gesichtspunkt betrachtet, ist das Prinzip des Glaubens. Auf dem Gebiet der Ethik trat er mit der Verkündung auf, dass man außerhalb oder jenseits von ,Gut und Böse' leben müsse, was in religiöser Hinsicht mit dem Prinzip von Heiligkeit und mystischer Freiheit zusammenfallt, wie die christliche Ethik es mittels der Übertragung des ethischen Kriteriums aus der empirischen Welt ins Gebiet intelligibler Freiheit ausgedrückt hat, die altindische Weisheit aber mittels einer esoterischen Hinauslösung des ,Erweckten' aus allen Bewertungen und Normen der alltäglichen Moral. Nietzsche blieb hierbei nicht stehen: indem er folgerichtig an die Stelle der Formel jenseits von objektiver Wahrheit' und jenseits von Gut und Böse' die Formel ,in Übereinstimmung mit dem, was das Leben der Gattung stärkt' (= ,was lebensfördernd ist') stellt, entsagt er dem dionysischen ,Wie' zugunsten eines bestimmten und nicht-dionysischen ,Was' und verrät so den Gotteskämpfer, der sich gegen seinen eigenen Gott auflehnt. Nietzsche, der Diener des ,lösenden Gottes'10, unterwirft den Willen, den er gerade von äuDer

vom

leuchtung

Dionysos ist der lösende Gott (Auaîoç).

Vjaceslav Ivanov

256 ßeren Zielen befreit

hatte, erneut der Oberhoheit einer allgemeinen Norm, einem biologistischen Imperativ. Der Amoralist verkündet sich als ,Immoralist', d.h. im Prinzip wieder als Moralist. Und der Diener des Lebens, der im gegenwärtigen Menschen den

theoretischen Menschen' verurteilt, hört nicht auf, von ,Erkenntnis' zu reden und nennt die, die ihm folgen, ,Erkennende'. Das Prinzip des Glaubens wandelt sich in einen Auf-

ruf an die Wahrheit aus Unglauben. Und diese Skepsis allerdings in der Tat nicht zu Ende durchgeführt in ihrer Anwendung und in ihren Folgerungen würden wir für eine Krise des äußersten Positivismus halten, wäre sie nicht vor allem erzieherische Klugheit und weitblickende Berechnung eines Gesetzgebers. Nietzsche entzweit uns mit dem Augenschein nicht, um diesen durch einen anderen, für den geistigen Blick klareren zu ersetzen, sondern um in uns Herde mutigen Widerstands gegen die uns knechtenden Kräfte zu erzeugen, ein Widerstand, den er als günstige Bedingung für die Entwicklung der menschlichen Gattung auffasst, wobei Rationalität und Berechnung in der Wurzel die ursprüngliche Durchdringung und den begeisterten Elan sprengen. Nun wäre es aber übereilt, Nietzsche aufgrund dieser Täuschungen einen falschen Propheten zu nennen: denn vor unseren Augen steht das lehrreiche Beispiel des Propheten Jona. Nietzsche, der Gelehrte, Nietzsche, der Philologe bleibt ein Sucher nach Erkenntnis, und er hört nicht auf, sich in die Werke griechischer Denker und französischer Moralisten zu vertiefen. Er hätte bei der Tragödie und bei der Musik bleiben sollen. Aber aus dem wilden Paradies seines Gottes ruft ihn seine zweite Seele in eine fremde, undionysische Welt nicht die Seele des Orgiasten und Allmenschen (Vsecelovek) sondern die Seele, die verliebt ist in die gesetzmäßige Klarheit schöner Konturen, in die stolze Vollkommenheit der Verkörperung einer in sich beschlossenen einzelnen Idee. Ihn fesselte -„Die delphische Gottheit: das junge Antlitz/ War zornig, voll von schrecklichem Stolz,/ Und atmete ganz mit nichtirdischer Kraft".11 Ähnlich wie in der Musik drängte Nietzsches ganze Entwicklung fort von der Harmonie, wo das vielstimmige dionysische Element sein dunkles Fest feiert, zur apollinisch umrissenen und klaren Melodie, die ihm in der letzten Zeit als wohlgeartetstes, aristokratischstes' Prinzip dieser Kunst erschienen war. Ähnlich wie auch seine Ästhetik immer mehr zu einer Ästhetik des Geschmacks, des Stils, des Maßes, der Genauigkeit und der Kristallisation wird, so zieht ihn im Bereich der Ethik unwiderstehlich das Pathos der Überwindung und der klaren Herrschaft über die elementar-schöpferischen Bewegungen der Seele an, die Schönheit eines ,vom Chaos geborenen Sterns, der sich in rhythmischem Tanze bewegt', die herrschaftlich-hochfahrende Gestalt des weisen antiken Tyrannen, die großartige Härte der ,mittelmeerischen Kultur', die Idee des ,Willens zur Macht'. In welche Weiten trockener Sonnenwüsten Nietzsche gerät, indem er sich von den feucht-verschatteten Wegen seines Gottes entfernt, zeigt sich in den psychologischen Motiven seiner Feindschaft gegen das Christentum, welches, in der ursprünglichen Gestalt seiner Beziehung zum Leben eine Durchdringung des Orgiasmus der Seele durch Liebe ist, die sich selbst verliert, um sich außerhalb ihrer selbst neu zu gewinnen, hinüberfließend in den väterlichen Schoß des All-Einen in das weiße Paradies von -

-

-

-

-

1'

„Delfiiskii idol: lik mladoj/ Byl gneven, polon gordosti uzasnoj,/1 ves' dysal on siloj nezemnoj."

257

Nietzsche und Dionysos

Nysa voll Feldlilien, zum purpurnen Weinberg voll Opfertrauben, in die Ekstase jünglingshaft-gesegneter Klarsicht in die Wahrheit des Vaters im Himmel und in die Wirklichkeit des Himmels auf der erneut vor dem Blick erstandenen Erde. Es ist bekannt, dass die Dionysos-Religion in der griechischen Welt eine vornehmlich demokratische Religion war: gerade aber gegen das demokratische Element des Christentums richtet Nietzsche die ganze Kraft seines Angriffs. Hier täuscht ihn sogar die Klarsicht des Historikers: die dionysische Idee war ebenso sehr innere befreiende Kraft und auf seine Art ebenso ,Sklavenmoral' wie das Christentum und ebenso wenig wie das Christentum Gärstoff gesellschaftlicher Empörung und ,Aufstand der Sklaven'. -

V

Übermenschen, verkündet aus dem Mund des dionysischen Zarathust(,des dionysischen Unholds'), reift die verhängnisvolle Doppeldeutigkeit im Verhältnis Nietzsches zu Dionysos zur Krisis heran und entscheidet sich durch eine bestimmte Wende zum anti-dionysischen Pol, die sich letztendlich in der Konzeption der Lehre In der Lehre

vom

ra

Willen zur Macht' vollendet. Indem wir der Entstehung der Idee vom Übermenschen im Gedankengang des Philosophen folgen, werden wir Zeuge des allmählichen Austausches eines dionysischen ,Wie' gegen ein apollinisches ,Was'. Anfänglich verweilt Nietzsche in einem Vorstellungskreis, der den Tod des alten Gottes und die Nachfolge Gottes durch das menschliche Ich (,der alte Gott ist tot') betrifft. Das was Stirner, indem er von identischen Voraussetzungen ausging, mit leichtfüßiger Selbstzufriedenheit gesagt hatte, zögert Nietzsche auszusprechen. Manchmal trifft man in seinen Texten Pünktchen genau an den Stellen, wo der Gedankengang unterstellt: ich bin Gott.13 Somit war für ihn diese Position unaussprechbar und mystisch. Noch herrscht über ihn Dionysos. Die Religion des Dionysos ist so eine mystische Religion; die Seele der Mystik aber ist die Vergöttlichung des Menschen, sei es durch das segenspendende Sich-Nähern des Gottes, sei es durch einen inneren Reifeprozess hin zu einem wahren und unvergänglichen Wesen des Ich, zum Selbst im Ich (der Atman der brahmanischen Religion). Ein dionysisches Aussich-Heraustreten ist bereits eine Vergöttlichung des Menschen, und der vom Gott Besessene ist bereits ein Übermensch (freilich nicht in dem Sinne, wie dieses Wort sein Schöpfer Goethe gebrauchte). Nietzsche aber hypostasiert das übermenschliche vom

,

-

-

Nysa ist bei

Homer der Ort, an dem Dionysos aufgezogen wird. Lykurgos war ein thrakischer König, der den Dionysos-Dienst nicht in seinem Lande einfuhren lassen wollte und daher die Wärterinnen des Dionysos verjagte, so dass dieser sich selbst ins Meer flüchtete. Lykurg wurde zur

13

Strafe geblendet und starb bald darauf (vgl. Homer, Ilias, VI, Vers 130f.). Ivanov meint wohl Stellen aus dem Spätwerk: Nietzsche schreibt in Ecce homo über den Zustand der Inspiration: „ein Instinkt rhythmischer Verhältnisse, der weite Räume von Formen überspannt die Länge, das Bedürfnis nach einem weitgespannten Rhythmus ist beinahe das Maass für die Gewalt der Inspiration, eine Art Ausgleich gegen deren Druck und Spannung ...Alles geschieht in höchstem Grade unfreiwillig, aber wie in einem Sturm von Freiheits-Gefühl, von Unbedingtsein, von Macht, von Göttlichkeit" (KSA, EH, 6, 339f).

-

258

Vjaceslav Ivanov

,Wie' in ein bestimmtes ,Was', verleiht seiner Fiktion willkürlich bestimmte Züge und verkündet, indem er in Stil und Ton des Messianismus verfallt, die Ankunft des Übermenschen. Wie jeder inspirierte Zustand, so ist auch der dionysische Zustand ohne Gewinn und Ziel, mit Nietzsches Worten: ,das Göttliche nähert sich mit leichtem Schritt'. Aber nicht auf diese Weise lehrt Nietzsche den Übermenschen: der Philosoph-Gesetzgeber wird nicht müde, die Menschheit zur Anstrengung zu mahnen, ihren höchsten Typus hervorzubringen, ihr endgültiges Bildnis zu erarbeiten. Das Leben der Menschheit soll ein unaufhörliches Streben zu einem Ziel hin sein, eine einzige gespannte Sehne eines gigantischen Bogens. Der dionysische Zustand dagegen ist ohne Intention: der menschliche Wille aber soll, nach Nietzsche zufolge, eine unablässige Abfolge von Selbstüberwindungen werden. Der dionysische Zustand befreit die Seele und kennt gerade, indem er asketische Begeisterung annimmt, keine Askese. Nietzsche als Zerstörer alter Tafeln aber fordert, dass der Mensch unaufhörlich sich selbst überschreite und errichtet somit ein neues, asketisches Ideal. Nichts könnte dem dionysischen Geist entgegengesetzter sein, wie die Ausführung des Schwunges hin zum Übermenschen aus dem Grunde des Willens zur Macht: die dionysische Kraft ist wunderbar und unpersönlich, Kraft aber für Nietzsche ist mechanisch-substanziell und egoistisch-gewalttätig. Der dionysische Zustand kennt einzig seinen einen, grenzenlosen Augenblick, welcher sein ewiges Wunder in sich trägt: für Nietzsche aber ist jeder Moment eine hinaufkommende und vermittelnde Stufe, ein Schritt hin zur Annäherung an eine große, künftige Zeit. Der dionysische Zustand ist ein Hinter-sich-Lassen der Zeit und ein Sich-Vertiefen ins Zeitlose. Nietzsches Geist ist aber ganz dem Zukünftigen zugekehrt: er befindet sich ganz im Gefängnis der Zeit. Er verkündet mit tragischer Kraft, wie sich ihm das Geheimnis vom Kreislauf des Lebens und der ewigen Wiederkehr aller Dinge aufgetan hat, dieses Dogma der alten Philosophie:„Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete?" (Fröhliche Wissen-

schaft, § 341).

Seine starke Seele jedoch, obwohl fast erdrückt vom Gewicht der Erkenntnis, dass nichts Neues wird in den zahllosen Wiederholungen derselben Welt und desselben Individuums, nichts Neues bis hin ,zu diesem Spinnengewebe und diesem Mondlicht in den Bäumen', bäumt sich auf mit übermenschlicher Kraft des Willens, nimmt ihre Kraft zusammen zur letzten Selbstbehauptung und endet mit einem Hymnus und mit Dank an das unabwendbare Geschick. Dieses ist offensichtlich eine Ekstase des Glücks, eine Krisis des Geistes, dies ist offensichtlich eine Erkenntnis, eine logische Schlussfolgerung; dies ist ein Begreifen der Welt, natürlich ein mechanistisches Begreifen: die ethische Anwendung des Dogmas vom ewigen Kreislauf ist ein Imperativ der höchsten Anstrengung und höchste Errungenschaft: all dies ist aber ein der Gewalt der Dinge und dem verhängnisvollen Geschick der rächenden Wiederholung abgenötigter letzter -

Selbstschutz. Die Begeisterung über die ewige Wiedergeburt in ihrer Natur tief dionysisch ist durch eine erste Verzweiflung verdunkelt und tot ob des Nichtglaubens an das dionysische Wunder, welches alles Alte und Neue beseitigt und alles in jedem Moment zugleich ewig und ursprünglich macht. Es scheint, dass die tragische Idee der ewigen Wiederkehr in Nietzsches Seele das letzte und schmerzhafte Aufblitzen des -

-

259

Nietzsche und Dionysos

war. Dieses Aufblitzen blendete mit einem schrecklichen Licht seine Seele und warf diese, nachdem sie niedergebrannt war, in eine lichtlose, wortlose Nacht.

dionysischen Aus-sich-Herausgehens

VI ,So etwas geschieht' sagt der vom Sonnenaufgang geblendete Faust, ,wenn sehnende Hoffnung, nachdem sie das Ziel ihrer höchsten Anstrengung erreicht hat, die Tore der Erfüllung sperrangelweit geöffnet sieht: ein flammendes Übermaß reißt sich aus den ewigen Höhlen, und wir stehen verwundet wir wollten die Lebensfackel entzünden und uns verbrennt ein Meer von Feuer. Ist es Liebe, ist es Hass, was uns mit Glut umgibt, gleich dem Wundersamen im Wechsel von Freude und Schmerz? so dass wir von neuem den Blick zur Erde senken und uns unter dem knabenhaften Flügel zu ver-

-

-

-

-

bergen suchen!'14 Nietzsche sah Dionysos

und trat vor Dionysos zur Seite wie Goethe sich vom aufstrahlenden Gestirn abwandte, um sich an seinem Widerschein im Regenbogen und im Wasserfall zu ergötzen. Die tragische Schuld Nietzsches besteht darin, dass er nicht an den Gott glaubte, den er selbst der Welt eröffnet hatte. Er verstand das dionysische Prinzip als ästhetisches und das Leben als ästhetisches Phänomen. Aber dieses Prinzip ist vor allem religiös, und die Regenbogen über den Wasserfallen des Lebens, welchen Nietzsches Gesicht zugewandt ist, sind Durchbrüche der göttlichen Sonne. Wenn die dionysische Trunkenheit des Lebens nur ein ästhetisches Phänomen ist, dann ist die Menschheit eine Schar von Handwerkern des Dionysos' (sonm remeslenikov Dionisa), wie das Altertum die Schauspieler nannte. Das psychologische Rätsel der Theateraufführung hat den dionysischen Philosophen tief beschäftigt. Denn natürlich, das Leben ist göttlich beschwingt und durchsichtig, der Geist vertraut seinem nichtvergehendem Ich, wenn in uns das Bewusstsein lebendig ist, dass wir nur spielerisch zeitliche Masken tragen, gekleidet in die zufälligen Formen unserer Individualität (upadchi nach der Lehrer der Inder). Dennoch, ursprünglich waren die ,Handwerker des Dionysos' seine Kultdiener und Priester, mehr noch seine und und eine wahrhaft Hypostasen Bakchen; dionysische Weltauffassung fordert, dass in unserem Bewusstsein unsere Maske das Anlitz des vielgesichtigen Gottes selbst ist, dass unsere Darstellungskunst an seinem kosmischen Altar heilige Handlung ist und -

-

Opferdienst

Wie den Thessalier Euripiles, verlangte es Nietzsche, den Gott mit eigenen Augen zu sehen und stürzt, nachdem er ihn als sichtbaren Ausdruck der Schönheit empfangen hat, in die Netze, ausgespannt von hellseherischen Mächten. Euripiles hätte den Schrein 14

Johann Wolfgang von Goethe, Faust, der Tragödie zweiter Teil, erster Akt: „So ist es also, ein sehnend Hoffen/ Dem höchsten Wunsch sich traulich zugerungen;/ Nun aber bricht aus jenen ewigen Gründen/ ein Flammenübermaß, wir stehn betroffen;/ Des Lebens Fackel wollten wir entzünden,/ ein Feuermeer umschließt uns, welch ein Feuer!/ Ist's Lieb'? Ist's Hass? Die glühend uns umwinden,/ Mit Schmerz und Freuden wechselnd ungeheuer,/ So dass wir wieder nach der Erde blicken/ Zu bergen uns in jugendlichtem Schleier" (V 4704-4714).

Vgl.

wenn

Vjaceslav Ivanov

260

annehmen sollen wie ein Heiligtum und seinen Gottesdienst als Mission eines Goter hätte mit einem Gebet am weissagenden Dreifuß beginnen, das ihm Verkündete erfüllen und nicht den geheimnisvollen Gott versuchen sollen und wäre so nicht dem verhängnisvollen Wahnsinn verfallen. Er aber sah freiwillig den geheimnisvollen Götzen an und wurde zum Evangelisten kraft göttlicher Nötigung. Sein Verhältnis zu Dionysos war das des Widerstands des Unglaubens, eines Sich-nichtErgebens in den Glauben. Dieselben Merkmale des Eindringens ins Göttliche und der Widerstand gegen es bestimmen das Schicksal Nietzsches. Wie der mythische Lykurg „gegen die Götter, die himmelbewohnenden, die Hände erhebend" (Ilias, VI, 131) wahnsinnig und mit einem qualvollen Tod für die Verfolgung des gasenden Dionysos' bestraft wurde, war Nietzsche Gotteskämpfer und Opfer des

testrägertums;

-

Gotteskämpfertums zugleich. Die Eigentümlichkeit der dionysischen Religion aber stellt eine Identifikation des Opfers mit Gott und des Priesters mit Gott dar. Die Typen des Gottkämpfers im Kreise der dionysischen Mythen nehmen selbst das Antlitz des Dionysos an. Indem sie leiden, erzeugen sie auf mystische Art erneut die Leiden desjenigen, der von ihnen gelitten hat. Und wie Jakob, der Gotteskämpfer, den Segen empfing so empfing auch Nietzsche das Siegel des leidenden Gottes, des von ihm verkündeten und verworfenen. Prophet und Gegner des Dionysos in seiner Begeisterung und seiner Qual, seiner Schuld und seinem Untergang, zeigt er die tragischen Merkmale der Gottheit, welche im Glauben der Hellenen das kosmische Märtyrertum unter den Heldenmasken sterblicher Men-

-

schen selbst immer wieder durchlebte.

Ins Deutsche übersetzt von Christian Wollek

Henning Hahn

Wozu Wahrheit? Nietzsches Frage nach dem Wert der Wahrheit und ihre pragmatistische Rezeption bei Ferdinand Canning Scott Schiller

I Friedrich Nietzsches epistemologische Überlegungen verfolgen im Grande nur eine Fragestellung: Wie hat sich die Idee, dass es etwas wie Wahrheit' gibt, durchsetzen können? Zusammengefasst lautet seine Antwort, dass unser ,Wille zur Wahrheit' ein Atavismus, ein entwicklungsgeschichtlich überholter Instinkt, ist. Die Herkunft unseres Willens zu Wahrheit und Wahrhaftigkeit war arbiträr, seine Fortentwicklung diente zunächst schlicht überlebenstechnischen Funktionen, dann wurde der Wille zur Wahrheit zum Werkzeug eines alles durchdringenden ,Willens zur Macht', jetzt aber ist er überflüssig, schädlich geworden und hat sich gegen seinen ursprünglichen Zweck, das Leben, gewendet. Nietzsches charakteristische Akzentverlagerang beruht darauf, Wahrheit konsequent ad hominem, das heisst in ihrer Funktion für das menschliche Leben, zu begründen. Allerdings hat die Art und Weise, wie er dieses Begründungskriterium wiederum bestimmt hat, nämlich als eine unersättlich über das menschliche Leben hinaus drängende Macht, mehr Probleme hinterlassen, als sie lösen konnte. Der klassische Pragmatismus geht zunächst von denselben Voraussetzungen wie Nietzsche aus. Wahrheit wird als eine normative, die menschliche Praxis regulierende Weltdeutong begriffen. Als ,wahr' zeichnet der Pragmatist letztendlich die Interpretation aus, die dem menschlichen Leben im Ganzen zuträglich ist. Im Gegensatz zu Nietzsche verfügt der Pragmatismus jedoch über eine ausgearbeitete Anthropologie und Handlungstheorie, oder präziser, seine Anthropologie geht in einer Handlungstheorie auf. Der Mensch wird als homo faber begriffen, als Wesen, dass durch Kooperation und Kommunikation mit allen anderen Menschen verbunden ist. Bei Nietzsche verkörpern sich hingegen Leben und Wille zur Macht in der genialischen Einzelexistenz, dem homo poeta aus der Fröhlichen Wissenschaft, dessen einsiedlerisches Gewerbe es ist, Wahrheiten aus sich selbst heraus zu generieren. Diese Nähe und zugleich Differenz wird Gegenstand der folgenden Untersuchungen sein. Zunächst hat der Pragmatismus eine bis in die Begriffssetzung zu Nietzsche analoge Wahrheitstheorie herausgebildet, eine Übereinstimmung, die immer wieder beobachtet worden ist, woraufhin oftmals eine direkte Einwirkung Nietzsches auf den ,

Henning Hahn

262

Pragmatismus vermutet wurde. Allerdings hat nur ein Vertreter des klassischen Pragmatismus ihn nachweislich und ausführlich rezipiert: der deutschstämmige Ferdinand Canning Scott Schiller. Schiller, der seine Version des Pragmatismus als ,Humanismus' bezeichnet, wird zu den drei Gründerfiguren des Pragmatismus gerechnet.1 Da Schiller einerseits ein Nietzschekenner ist, andererseits als Oxforder Philosoph nachhaltige Impulse zur philosophischen Fundierung und Wahrnehmung des klassischen Pragmatismus gesetzt hat, ist etwas vorschnell behauptet worden, Nietzsches Denken habe über Schiller Eingang in das Gedankengebäude des Pragmatismus gefunden. Da die derzeitige Pragmatismus-Rezeption in Deutschland weitgehend am Werk Schillers vorbeigeht, sollen zunächst die rezeptionsgeschichtlichen Wechselwirkungen zwischen Nietzsche, Schiller und der pragmatistischen Philosophie ausführlicher nachgezeichnet werden. Ein weiterer Abschnitt wird dann mit Schillers vielschichtiger Nietzsche-Rezeption vertraut machen. Die hier erstmals kritisch und vollständig untersuchten Beziehungen zwischen Nietzsche und Schiller schließen endgültig die kursierende These aus, dass der Pragmatismus Nietzsches Wahrheitstheorie schlicht inkorporiert hat. Im Gegenteil: Indem der Pragmatismus das Bild des kooperativen Arbeiters bewusst Nietzsches heroisch-künstlerischem Menschenbild gegenüberstellt, markiert er gezielt eine Differenz zu sich und Nietzsche: die anthropologische Differenz zwischen homo faber und homo poeta. II Bereits in den ersten Kenntnisnahmen der pragmatistischen Bewegung in Europa wurde ihre Nähe zur Philosophie Nietzsches aufgearbeitet. Wichtigster Vertreter des Pragmatismus in Europa war Schiller. Dementsprechend liegen aus dieser ersten Rezeptionsphase eine Reihe von Aufsätzen und Monographien vor, die ihn und Nietzsche als Köpfe derselben philosophischen Bewegung behandeln. Schillers Bedeutung für den frühen Pragmatismus lässt sich u.a. daran ablesen, dass William James in den zentralen Kapiteln seiner wirkmächtigen Einführungsvorlesung in den Pragmatismus vornehmlich die Theorie seines Oxforder Freundes erläutert. In Deutschland gibt Rudolf Eisler 1911 eine umfangreiche Essaysammlung Schillers heraus4, kann aber eine oberflächliche Ablehnung des Pragmatismus nicht verhindern.5 Im nationalen

„The three founders of pragmatism differ greatly inter se;

we may distinguish James, Schiller and its scientific and respectively religious, literary, Dewey protagonists" (Bertrand Rüssel, Sceptical Essays, New York 1928, 6).

as

!

Diese These vertritt

George J.

Stack in Nietzsche's

Influence on Pragmatic Humanism,

of the History of Philosophy, 20 (1982).

4

5

in: Tournai

William James, Der Pragmatismus. Ein neuer Name für alte Denkformen, Hamburg 1994. Ferdinand Canning Scott Schiller, Humanismus. Beiträge zu einer pragmatischen Philosophie, übersetzt und eingeleitet von Rudolf Eisler, Leipzig 1911. Dazu Werner Bloch, Der Pragmatismus bei James und Schiller nebst einem Diskurs über die Hypothese, Leipzig 1913. -

Wozu Wahrheit?

263

Zeitgeist des deutschen Kaiserreiches wird der angloamerikanische Pragmatismus als Philosophie eines kulturlosen Demokratismus und Kapitalismus verworfen. Entsprechend gerät es unter Nietzscheinterpreten zum Glaubensstreit, ob Nietzsches Philosophie als eine Variation der neuen pragmatistischen Bewegung zu lesen

sei. Dafür spricht sich u.a. René Bertholet in seinem 1908/09 erschienenen Aufsatzzyklus Sur le pragmatisme de Nietzsche aus.6 Unabhängig davon bemerkt John M. Warbeke in seinem 1909 erschienenen Aufsatz Friedrich Nietzsche, Antichrist, Su„Doubtless it will be an interesting surprise to many American perman, and English pragmatists to learn that Nietzsche has anticipated all their principle doctrines." 1913 erscheint Richard Müller-Freienfels' Aufsatz Nietzsche und der Pragmatismus eine differenzierte Studie, die Nietzsches Verhältnis zum Pragmatismus systematisch untersucht. Angelehnt an die Terminologie Schillers wird Nietzsches Wahrheitsbegriff darin als ,„pragmatistisch' und ,humanistisch"' bezeichnet. Weiter notiert er, dass Nietzsche Wahrheit als ein Produkt menschlicher Instinkte auffasst, dass sie für ihn ein „aktives Zurechtmachen"10 ist und resümiert diesbezüglich: „Alles das sind Sätze, die der Humanist F. C. S. Schiller unterschreiben wird und die Kernsätze für seine Philosophie ausmachen." Den wesentlichen Unterschied zwischen Nietzsche und Schillers Humanismus erkennt Müller-Freienfels dort, wo Nietzsches Spätphilosophie in der Lehre vom Willen zur Macht kulminiert. Denn indem die Erkenntnis, gedeutet als Wille zur Macht, „nicht bloß auf Erhaltung des Lebens [...], sondern auf Steigerung und geht, verlässt Nietzsche den Boden des pragmatistischen Menschenbildes. Ein Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg spricht Ludwig Marcuse in der Zeitschrift für philosophische Forschung wieder von Nietzsches Affinitäten zum Pragmatismus. Marcuse würdigt in seinem Amerikanischer und deutscher überschriebenen Aufsatz vor allem Wilhelm Jerusalem, der, angeregt durch Schiller, den Pragmatismus für sich entdeckt und intensiv studiert hat. Aber auch der „dionysische Pragmatismus" Nietzsches wird erörtert. Demnach liege Nietzsche auf der Linie des Pragmatismus, wenn er die Wahrheit als erstrebenswert für das Leben betrachtet, unterscheide sich jedoch, wie Marcuse treffend bemerkt, gerade in seinem Wortgebrauch von .Leben'. Während der amerikanische Pragmatismus nämlich eine konentwerkrete, demokratische Lebensform im Auge habe („ein Volk von

Pragmatist1: ,

Ausbreitung"11

Pragmatismus12

Jeffersons"13),

Berthelot, Sur le pragmatisme de Nietzsche, (1908) u. 17(1909). René

7

8 9

10

11

13

in: Revue de

Métaphysique

et de

Morale 16

John M. Warbeke, Friedrich Nietzsche, Antichrist, Superman and Pragmatist, in: Harvard Theological Revue 2 (1909). Ebd., 378. Richard Müller-Freienfels, Nietzsche und der Pragmatismus, in: Archiv für Geschichte der Philo-

sophie 26 (1912). Ebd. 354.

Ebd.,356f.

Ludwig Marcuse, Amerikanischer und deutscher Pragmatismus, Forschung, 9 (1955). Ebd., 264.

in:

Zeitschrift für philosophische

Henning Hahn

264

fe Nietzsche mit dem Übermenschen eine

aus

Lebensutopie.

griechischen

Heroenbildern

gespeiste

Auch der einsetzenden amerikanischen Nietzsche-Forschung stechen dessen vorderAffinitäten zum klassischen Pragmatismus ins Auge. In seinem Schule machenden Werk Nietzsche Philosoph, Psychologe, Antichrist schreibt Walter Kaufmann 1950: „Nietzsches Perspektivismus erinnert an den Pragmatismus; und tatsächlich gibt es in seinen Aufzeichnungen, in denen er erkenntnistheoretische Probleme behandelt, Passagen, die sich wie frühe Fassungen pragmatistischer Thesen anhören." Der zweite bedeutende amerikanische Nietzsche-Forscher dieser Epoche, Arthur C. Danto, bemerkt in seiner wichtigen Monographie Nietzsche as Philosopher 1965: „Nietzsche [...] advanced a pragmatic criterion of truth."15 Und bereits 1964 schreibt er Nietzsche das Verdienst zu, „einer der Entdecker dessen zu sein, was wir als die pragmatistische Theorie der Wahrheit kennen". Schließlich hat sich Richard Rorty in Nietzsche, Socrates 17 and Pragmatism dafür ausgesprochen, Nietzsche dadurch lesbar zu machen, dass man seinen überzogenen Individualismus durch das pragmatistisch geprägte Menschenbild liberaler Demokratien korrigiert: „Nietzsche's view of truth and knowledge are often thought to be incompatible with political liberalism. But these views are pretty much as those of William James and John Dewey, who were right to see no such incompatibility. The pragmatists, like Nietzsche, wanted to drop the cognitivism which has dominated western intellectual life since Plato, but, unlike Nietzsche, they wished to do so in the interests of an egalitarian society rather than in the interests of a defiant and lonely

gründige

-

individualism."18

Über die andauernde Renaissance des Pragmatismus in Deutschland ist seine Affini-

zu Nietzsche heute erneut zum Forschungsgegenstand geworden. Kai-Michael Hingst hat mit Perspektivismus und Pragmatismus eine gründlich recherchierte Studie zu William James und Nietzsche vorgelegt.19 Darin kommt er zu dem Ergebnis, dass „Nietzsches Philosophie zwar bemerkenswert viel pragmatistisches Gedankengut, der Pragmatismus [in der Version von William James H. H.] aber gleichwohl nicht in der Konsequenz von Nietzsches Denken liegt." Die Beziehung zwischen Nietzsche und Schiller ist dagegen kaum erforscht. Es liegt lediglich die 1982 erschienene Studie George E. Stacks vor, die Nietzsches Influence on Pragmatic Humanism untersucht.21 Stacks Ausgangspunkt ist die immer wieder festgestellte Parallele zwischen zentralen

tät

-

-

15

16

18

20

Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosoph, Psychologe, Antichrist, Darmstadt 1988, 102. Arthur C. Danto, Nietzsche as Philosopher, New York 1980, 72. Ders., Friedrich Nietzsche, in: Norbert Hoerster (Hg.), Klassiker des philosophischen Denkens 2, München 1988, 232. Richard Rorty, Nietzsche, Socrates and Pragmatism, in: South African Journal of Philosophy, 10

(1993). Ebd., 61. Kai-Michael, Hingst, Perspektivismus und Pragmatismus. Ein Vergleich auf der Grundlage der

Wahrheitsbegriffe und der Religionsphilosophien von Nietzsche und dames, Würzburg 1998. Trotzdem fordert Hingst, ähnliche „Vergleiche mit anderen Pragmatisten, vor allem mit Peirce, Schiller und Dewey" anzustellen (ebd., 475.) Vgl. George J. Stack, Nietzsches Influence on Pragmatic Humanism, 369—406.

Wozu Wahrheit?

265

Thesen Nietzsches und der pragmatistischen Bewegung.22 Im Verlauf seiner Argumentation stellt er die Behauptung auf, dass sich diese erstaunliche Ähnlichkeit über Schillers Nietzsche-Rezeption erklären lässt und verkündet programmatisch: „I will try to demonstrate that a substantial number of themes, motifs, and, in some instances quite specific arguments and analyses put forward by Schiller are taken from the works of Nietzsche and only slightly modified and adapted to Schiller's specification."2 Mit diesem Programm hätte der Essay zur wichtigsten Vorarbeit einer komparativen Abhandlung zu Schiller und Nietzsche werden können. Er argumentiert stellenweise jedoch zu hastig und verwechselt oft Schillers Adaption der Thesen James', die in vielen Fällen parallel zu Nietzsche formuliert sind, mit dem Einfluss Nietzsches. Stack ist zwar allgemein zuzustimmen, „that there is a considerable evidence that many basic themes, insights, and conceptions in Nietzsche's reflections were incorporated into humanist pragmatism by way of the sometimes subtle, sometimes blatant, appropriation of key elements in his thought by a philosopher who was the spokesman for pragmatic humanism in England until he rapidly fell into eclipse: F. C. S. Schiller".24 Seine Leitperspektive jedoch, dass Schiller die Kerngedanken Nietzsches systematisch zur Darstellung bringt, dabei aber dessen Ambiguität und Ironie einebne 5, bleibt unzureichend belegt. In Schillers einschlägigsten Aufsätzen zur Wahrheitstheorie kommt weder ein spezifisch nietzscheanisches Vokabular vor, noch verweist er an irgend einer Stelle auf dessen Schriften. Zwar finden sich Spuren Nietzsches in frühen Arbeiten Schillers, in denen sich sein Denken auszuprägen beginnt, aber Stacks Vorschlag, ihn lediglich als .„translator' of Nietzsche into English"2 zu begreifen, zielt insgesamt an dem dringenden Erfordernis vorbei, zu klären, wie der Pragmatismus unabhängig von Nietzsche zu einer ähnlichen Wahrheits- und Erkenntnistheorie gelangt ist und worin die spezifische Differenz zwischen Nietzsche und dem Pragmatismus besteht.

23

„The relationship between central aspects of Nietzsche's thought and the pragmatic philosophy has often been a source of curiosity or controversy" (ebd., 369).

Ebd., 369.

24

Ebd.

25

Ebd., 374. Ebd., 376.

26

movement in

Henning Hahn

266

III. Hegel, Schelling To their night; Nietzsche is more telling Out of sight. (Ferdinand Canning Scott, Schiller, Mind!) Leave Kant,

Schillers Nietzsche-Rezeption ist schon deswegen bedeutend, weil sie für eine sehr frühe philosophische Kenntnisnahme Nietzsches im anglo-amerikanischen Raum steht. Dabei hebt sich seine Rezeption wohltuend von ähnlich frühen Rezeptionen ab, da sie den ,kritischen Stilisten' als den lesenswerten Nietzsche entdeckt. Chronologisch beginnt die Auseinandersetzung mit Nietzsche in der von ihm fingierten Weihnachtsausgabe der Zeitschrift Mind.27 In diesem Potpourri humoristischer, aber trotzdem aussagekräftiger Essays veröffentlicht Schiller unter seinem Herausgeberpseudonym ,A. Troglodyte' 29 Persiflagen, Rezensionen nie erschienener Bücher und philologische Fundstücke, die keine sind. Zu letzteren zählt eine bitterböse Satire auf Nietzsches evangeliarisches Pathos im Zarathustra. Im flüssigen Deutsch imitiert er den Stil Nietzsches, um ihn inhaltlich ins Absurde zu treiben und dadurch Nietzsches Verkündigung des Übermenschen einer suggestiven Kritik auszusetzen. Der Abschnitt Vom Zahnschmerz und vom Übermenschen zeigt einen Zarathustra, der seine Lehre vom Übermenschen verkündet, während das Volk an Zahnweh leidet und sich um einen Quacksalber drängt, der Zahnheilmittel feilbietet: „Was glaubt ihr an Zahnschmerz und Zahnarzneimittel! Glauben und Aberglauben ist euer Leben. Was liegt aber an Zahn und Zahnweh? Der Übermensch wird kein Zahnweh bekommen: er soll dazu keine Zeit haben. Mit Zahnquacksalberei aber ist die Brücke zum Übermenschen nicht zu bauen: an Zahnschmerz könnt ihr nicht einmal untergehen! Das Volk aber murrte und sagte: O Zarathustra, wir sind keine Übermenschen, sondern Alltagsmenschen, und Zahnweh ist einmal da. Wenn du uns nicht als Zahnarzt helfen willst, so ziehe deines Weges!" (52) Schiller lässt Zarathustras Lehre an einer sie konterkarierenden Banalität scheitern. Bereits diese Spitze britischen Humors gegen Nietzsches romantische Tonlage verweist auf die entscheidende Differenz zwischen dem Selbstverständnis Schillers und der Philosophie Nietzsches. Wenn er wie Nietzsche ad hominem und für das Leben argumentiert, hat er einen ganz anderen Lebensbegriff und eine völlig anders gelagerte Anthropologie im Auge. Gegen Nietzsches Vision vom Übermenschen setzt Schiller den Alltagsmenschen. Gegen dessen emphatischen Lebensbegriff, nämlich ein Leben, das seine Macht über den Menschen hinaus entfalten will, setzt er das einzelne Leben, dass seine alltäglichen Sorgen und Nöte zu bewerkstelligen hat. Wo Zarathustra nicht als Zahnarzt helfen kann, mit anderen Worten, wo Nietzsches visionärer Habitus keine

Ferdinand 1983.

Canning

Scott

Schiller, Mind!, eingeleitet von

Warren E. Steinkraus.

Lanham, London

267

Wozu Wahrheit?

Lösungen für die lebensweltlichen Probleme des Menschen anbietet, dort klingt er, so die Einschätzung Schillers, selbstherrlich und gebärdet sich geradezu lebensfeindlich.

In der Wahlverwandtschaft zu Nietzsches Wahrheitskritik einerseits und in der Abgrenzung zu Nietzsches Lebensbegriff und Anthropologie andererseits sind bereits die beiden entscheidenden Vektoren in Schillers Nietzsche-Rezeption benannt. Als nächstes äußert er sich 1906 in einem aufschlussreichen Leserbrief in der amerikanischen Zeitung The Nation zu dem deutschen Philosophen, genauer, zur Situation der Darin macht er sich zum Advokaten eines in englischen

Nietzscheübersetzungen.28

der anglo-amerikanischen Öffentlichkeit missverstandenen und schlecht übersetzten Autors. Die Kritik „prosaically judges Nietzsche to be nonsense, and does not see how suggestive and funny he is" (843). Dagegen hebt Schiller hervor: „He [Nietzsche H. H.] was a great stylist, who worked wonders with the stiffest German idioms"

(ebd.).

-

1919 rezensiert Schiller die breitangelegte Interpretation Nietzsche, the Thinker: A Study von Wiliam Mackintire Salter.29 In seiner Rezension gratuliert er Salter, eine gut dokumentierte Studie über Nietzsche in englischer Sprache vorgelegt zu haben, die dazu geeignet ist, ihn im anglo-amerikanischen Raum zu rehabilitieren, nachdem er mit „poison gas" beworfen und als „typical German philosopher" mit dem „Euro Nietzschian War" identifiziert worden sei. Allerdings kritisiert er, dass Salter Nietzsches Philoin ein kohärentes sophie System einzuzwängen versucht und darin Nietzsches literarische Qualität und denkerische Originalität zu glätten versucht. Entscheidend ist jedoch, dass er Salter ausdrücklich rügt, er habe den Zusammenhang von Nietzsches Wahrheitstheorie und dem Pragmatismus nicht deutlich genug herausgestellt: „He [Salter H. H.] quotes extensively for Nietzsche's theory of truth, and admits its connexion with pragmatism, but excuses himself from determining how far a view of this sort resembles Pragmatism, I leave to those better acquainted with the latter to say."31 In dieser Frage weist Schiller darauf hin, dass die Verbindung zwischen Nietzsches Wahrheitstheorie und dem Pragmatismus über Mutmaßungen hinaus hätte erklärt werden können, hätte man sich mit Schillers Essay zu dieser Beziehung vertraut gemacht. Dieser Essay ist 1913 unter dem Titel The Philosophy of Friedrich Nietzsche erschienen.32 Was zunächst als Sammelrezeption der vollständigen Werke Nietzsches in The Gospel of Superman A und englischer Sprache sowie von Henri Lichtenbergers 5 Elisabeth Förster-Nietzsches The Young Nietzsche angekündigt war, ist der instruktivste Text zu Schillers Nietzsche-Rezeption und zum Verhältnis des klassischen Prag-

,

8

9 0 1

2

Ders., On Nietzsche Translations, in: The Nation 82 (26. April 1906), 843. Ders., Rezension von Salter, Wiliam M., Nietzsche, the Thinker. A Study, in: Mind2% (1919), 107f. Ebd., 107. Ebd,496. Ders., The Philosophy ofFriedrich Nietzsche, in: Quarterly Review 434 (1913), 148-167.

Levy (Hg.), The Complete Works of Friedrich Nietzsche. First Complete and Authorised English Translation, Edinburgh, London 1909-1911. Henri Lichtenberger, The Gospel of Superman. The Philosophy of Friedrich Nietzsche, Edinburgh, Oscar

s

London 1910. Elisabeth Förster-Nietzsche, The

Young Nietzsche, Translated by A. M. Ludovici, London

1912.

Henning Hahn

268

insgesamt. Schiller berichtet zunächst, dass sich Nietzsches „fame prophet" (148) auf dem Kontinent ein viertel Jahrhundert nach seinem Zusammenbruch fest verankert hat. Die vervollständigte Übersetzung seiner Werke markiere nun auch Nietzsches „invasion of England" (148). Diesbezüglich plädiert er dafür, ihn „seriously as a thinker" (151) zu betrachten und nicht nur als „a brilliant littérateur and a stylist" (151) einzuordnen. Vor allem macht er sich dafür stark, Nietzsches „theories of conduct and of knowledge" (151) herauszuarbeiten, aufgrund derer ihm „a permanent place in the typical development of modern thought" ( 152) gebühre. Die philosophiegeschichtliche Bedeutung Nietzsches sieht Schiller zunächst in dessen Projekt der Umwertung aller Werte (,„transvaluation' of values", 153): „The discovery of the problems of values", so Schiller, „is probably the greatest achievement of philosophic thought during the 19th century" (153). Weiter schreibt er Nietzsche das Verdienst zu, Wertsetzungen als einen schöpferischen Prozess zu verstehen, von dem sich das Faktenverständnis nachträglich ableitet. Besonders in der Kunst, Moral und Religion verstehe Nietzsche die sogenannten Fakten als Wertsetzungen des Menmatismus

zu

Nietzsche

as a

In diesem Abschnitt stimmt Schiller mit Nietzsche darin überein, dass die ein konsumtives Moment unseres Realitätsverständnis markiert. Sein Humanismus' versteht sich als Konkretisierung dieses Gedankens: „Thus a human valuation is latent in every judgment, and the argument ends in a thorough-going humanism" (154). Gleichzeitig bemängelt er aber, dass sich Nietzsches Analysen zu sehr auf den ästhetischen Bereich beschränken. So habe Nietzsche fälschlich geglaubt, die Umwertung eingespielter Wahrheiten könne von einem großen Individuum kontrolliert werden,

schen.

Wertfrage

anstatt zu sehen, dass Umwertungsprozesse immer einem „social struggle" (155) verhaftet blieben. Dieser gesellschaftliche Kampf um neue Wertsetzungen verlaufe sehr viel komplizierter, als Nietzsches Zweiteilung in christliche Moral und Herrenmoral annehme, da es so viele Weltvorstellungen gäbe, wie „different types of men" (155). Mit Aristoteles und gegen Nietzsche argumentiert Schiller dafür, dass „social cooperation" und „combined action" (158) weit überlegene Überlebenstechniken sind: „A mob of Superman", so Schiller lakonisch, „could not form even a horde of robbers" (158). Er schließt daraus: „Under social conditions Christian humility is more conducive to survival than overweening pride; the valuation of the ,slave' therefore subjugates the world" (158). Diese Einschätzung unterstreicht abermals den signifikanten Unterschied zwischen dem Pragmatismus insgesamt und der Philosophie Nietzsches. Während beide Positionen darin übereinstimmen, dass sich letztlich die für das ,Leben' geeignetsten Werte durchsetzen, liegt die entscheidende Differenz darin, dass der Pragmatismus sein demokratisches Menschenbild dem Übermenschen Nietzsches entgegenstellt. Wesentlich für die konzeptuelle Nähe zwischen Nietzsche und dem Pragmatismus ist dagegen eine Passage, in der Schiller die Bedeutsamkeit von Nietzsches Erkenntnistheo-

„Thus ,valuing is creating', as Nietzsche clearly saw (Thus Spoke Zarathustra, p. 67). In the realms

of art, morals and religion, moreover, the really important facts are such facts of human valuation. [...] The facts our sciences recognise are permeated through and through by the value-judgements which were thought to be a peculiar human addition to them. Yet it is clear that every judgment of ,fact' must have been preferred above alternative claiments to the dignity of fact, because it was judged to be more valuable than its rivals by the experts who enunciated it" (ebd., 154).

Wozu Wahrheit?

269

rie herausstellt. Er begreift sie als Fortentwicklung des Humeschen Diktoms, „that reason both is, and ought to be, the slave of the passions" (161). In der Einsicht, dass intellektuelle Fähigkeiten dem Lebensinstinkt verhaftet bleiben, sieht er „the most momentous developments of modern philosophy, among which Nietzsche's theory of knowledge holds a definite and important place" (161). Wie der Pragmatismus stehe Nietzsche in der Reihe einer philosophischen Entwicklung, die über David Hume und Immanuel Kant schrittweise die Erkenntnis von den Dingen abzieht und auf die Strukturierangsleistang des Erkenntnisapparats verlegt, bis bei Nietzsche, als weiteren Schritt in dieser Entwicklung, Wahrheit selbst zum Problem wird: „So far, therefore, from allaying the sceptical scruples Hume's discovery had provoked, Kant had in fact enormously extended their scope. As Nietzsche rightly remarked, ,trath' itself had become a problem to be doubted for those who really set out from Kant" (162). Nach Schiller besteht kein Zweifel, „that Nietzsche himself had come face to face with the problem of truth, and seen the necessity for refining further on the .critical' position as left by Kant" (162). Nietzsches große Leistung sei es, die Wahrheitskritik, die sich von Kant herleitet, auf Fragen der Moral und der Werte auszudehnen, und damit auf einen fundamentaleren Bereich, auf das menschliche Leben, anzuwenden. In der Kompilation Der Wille zur Macht findet Schiller dann auch Ansätze einer „definite theory of knowledge" (161), die die beiden Sätze verknüpft, „that ,trath' is more akin to ,fiction' than to reflection', and that it must have some connexion with life" (163). Allerdings räumt er ein, dass Nietzsches Theorie unvollendet geblieben ist, sowie, dass Nietzsches Epistemologie in zwei Phasen zerfallt. In der ersten Phase kappe Nietzsche den Unterschied zwischen ,wahr' und falsch' und verkünde eine rein negative Wahrheitskritik: „Truth itself is false; facts are ,fakes'. All the objects that the intellect respects are illusions. For example there is no truth; ,trath' is merely that kind of error without which a certain species of living being cannot exist" (163). Wahrheit sei ein Ausdruck für die Lüge, die sich durch ein externes Kriterium, d.i. die biologische Nützlichkeit („biological utility", ebd.), auszeichnet. „The value of life is ultimately decisive" (ebd.), entscheidet darüber, ob ein Satz als wahr ausgezeichnet wird. An die Stelle der Fakten träten diejenigen Interpretationen, die unseren Bedürfhissen entsprechen ,

(„.interpretations', prompted by our needs", ebd.). Nietzsches Vereinnahmung durch den Pragmatismus wird weiter veranschaulicht, wenn Schiller eine zweite Phase in dessen Epistemologie ausmacht, die vollständig auf der pragmatistischen Linie liegt. Zwar erkennt er in seiner „alternative interpretation" (165) der Texte Nietzsches lediglich „suggestive hints" (165), dies hindert ihn aber nicht daran, ihn als pragmatistischen Vordenker zu sehen. Dazu schlägt er vor: „Let us experiment with the question that human activity may be a source of truth, and not of falsity" (165). Eine positive Bestimmung von Wahrheit, so Schillers Pointe, könne nur gelingen, wenn Wahrheit als Aktivität, nicht als Passivität, aufgefasst wird. Der Mensch

erkenne nicht die Wahrheit oder die Welt, wie sie ist, sondern er mache die Wahrheit, eine Interpretation, die der Welt, die auch nichts anderes als Interpretation sei, entspricht. Dieser Wahrheitsbegriff wird nicht länger in Relation zu einer objektiven Wahrheit als Defizit verstanden, sondern sie ,ist' die Wahrheit, wie sie dem Menschen zur Verfügung steht und als solche zu begrüßen: „It is only necessary to say truth is human, of

270

Henning Hahn

knowledge is active, and a condition of life and power, and not a passive recepof tivity impressions' and the reflecting of an alien reality" (166). Diese Umwertung ließe sich bereits bei Nietzsche dokumentieren, den Schiller mit den Worten zitiert: „Nicht mehr die demütige Wendung: ,es ist alles nur subjektiv', sondern ,es ist auch unser Werk!' seien wir stolz darauf!" (166).37 Trotzdem bliebe Nietzsche, so die Beobachtung Schillers, oftmals bei der negativen Bestimmung der Wahrheit als Lüge stehen, weswegen er ihm zwar „tendencies to humanism" (167) zubilligt, seinen Humanismus' aber als Weiterentwicklung und vorerst als Abschluss einer Entwicklung versteht, die von Hume über Kant und Nietzsche zum Pragmatismus führt. Die Wahrheitstheorie des ,Humanismus' lautet auf den Punkt gebracht: „If our truth is human, why not admit that our reality is so too, and that therefore our truth is adaequate to it?" (166). Schiller vertritt eine Korrespondenztheorie, in der zwei Interpretationen miteinander korrespondieren, nicht eine Interpretation und eine Wirklichkeit. Darin unterscheidet er sich von Nietzsche weniger, als er zunächst annimmt. Mitunter steht Nietzsche seinen Positionen noch näher, als er selbst einräumt, wenn er seinen Essay schließt: „Nietzsche's theory of knowledge, then, has all the instructiveness of a transition-form; he is still obsessed with the idea that it is wrong in our knowledge that it should not try to copy its data. But he expresses this prejudice so frankly and traces out the resulting paradoxes so boldly, that he is easily seen to have argued himself into a position which is arbitrary and untenable" (167). course,

IV. Bis hier wurde Nietzsches allgemeine Stellung zum Pragmatismus rezeptionsgeschichtlich untersucht. Dabei hat sich ergeben, dass eine Reihe von Autoren in dessen Schriften und im Pragmatismus analoge Gedankenfiguren gefunden haben. Entsprechend hat sich meine Untersuchung darauf konzentriert, diese Analogie zu erklären. Schiller ist in dieser Hinsicht der entscheidende Repräsentant des Pragmatismus; einerseits hat er zur philosophischen Fundierung und zur europäischen Wahrnehmung des Pragmatismus einen bedeutenden Beitrag geliefert, andererseits hat er Nietzsche ausgiebig rezipiert. Trotzdem muss diese rezeptionsgeschichtliche Linie zurückhaltend beurteilt werden. Schiller selbst hat darauf hingewiesen, dass sein Denken unabhängig von Nietzsche eine pragmatistische Gestalt angenommen hat. Zwar lassen sich Spuren seiner Nietzsche-Lektüre an einigen Texten nachweisen, aber die zentrale Figur in der Ausbildung seines Denkens ist, neben James, Kant. Die erkenntnistheoretische Wende und das Primat der praktischen Vernunft bei Kant, erweitert durch psychologistische, voluntaristische und darwinistische Elemente, bilden das Fundament, auf dass sowohl Nietzsches als auch Schillers Philosophie aufruhen. Ein nicht rezeptionsgeschichtlich, sondern komparativ motivierter Blick auf die Erkenntnis- und Wahrheitstheorie bei Nietzsche und Schiller stößt zuallererst auf die gemeinsame Annahme einer psychologischen Herkunft unserer Wahrheiten. Aber inwieFriedrich Nietzsche, KSA, NF, 11, 225.

Wozu Wahrheit?

211

weit kann eine subjektive Bewertung eines subjektiven Gefühls eine objektive Gültigkeit beanspruchen, auf die eine gelingende Verständigung innerhalb interagierender Gemeinschaften angewiesen ist? Wie werden subjektive ,Wahrheiten' zu allgemein anerkannten Tatsachen? Zur Beantwortung greift Schillers programmatischster Essay Truth auf die Konhärenztheorie zurück:38 „Whatever is harmonious (.consistent') with the fundamental assumptions of our interpretation of reality is in one sense ,true"'(57). Allerdings gehe es nicht allein um eine (idealistische) Harmonisierung unserer internen Denkweise, sondern um die Harmonisierung unserer gesamten Erfahrung und damit um die Harmonisierung unseres Denkens mit dem externen Umfeld. Eine weitere Objektivierung unserer subjektiven Einschätzung vollziehe sich am Gebrauchskriterium („usecriterion", 59). Die objektive Wahrheit sei demnach ein Konstrukt unserer subjektiven Wahrheitseinschätzungen. Aufgrund des „great Pragmatists principle of selection" (58) würden nur diejenigen Urteile als Wahrheit eingestuft, die einen Gebrauchswert für uns hätten. Der Gebrauch wiederum müsse sich in einem öffentlichen Umfeld bewähren. So sei jedes individuelle Interesse bereits in ein „social environment" (58) eingebettet. Eine exklusive Wahrheit („exclusive view of truth", ebd.) führe in die Isolation und sei entsprechend nutzlos. Auch wenn jede Wahrheit als Minoritätssicht begänne, werbe sie doch um soziale Anerkennung („social recognition", ebd.), und darum, in ein Allgemeingut („common property", ebd.)] umgewandelt zu werden. Über das Kriterium einer sozialen Brauchbarkeit („social usefulness", 59) werde ein subjektiver Wahrheitsansprach als unnütz aussortiert, ein anderer als verallgemeinerangsfähig weiter verfolgt. Die gesellschaftliche Anerkennung markiert die Wende von subjektiver zu objektiver Wahrheit. In dieser Argumentation tritt der wesentliche Unterschied Schillers zu Nietzsche vor Augen. In Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne hat Nietzsche, ähnlich wie Schiller, die Objektivierung von Wahrheiten in einem politischen Vokabular beschrieben. Der „Trieb zur Wahrheit" wurde von ihm als „Friedensschluss" in einem „bellum omnium contra omnes" bezeichnet. Eine „gleichmässig gültige und verbindliche Bezeichnung der Dinge" bzw. die „Gesetzgebung der Sprache" wurde eingerichtet, um einen allgemeinverbindlichen Orientierungsrahmen zu schaffen. Auf diesen Konventionen, so Nietzsche, beruhen „die ersten Gesetze der Wahrheit" (KSA, WL, 1, 877). Der Mensch will die Wahrheit wegen ihrer „angenehmen, Leben erhaltenden Folgen" (ebd., 878). Schiller und Nietzsche sind sich einig, dass nur objektivierte Wahrheiten ein Zusammenleben gelingen lassen. Aber Nietzsche sieht darin kein ausreichendes Kriterium für die Geltung von Wahrheiten. Die Wahrheiten, die in einer Art Friedensschluss kanonisiert werden, sind eigentlich Unwahrheiten. In Geltung befindliche Wahrheiten sind, so die Diktion, Lügen zum Vorteile derer, die diese ,Wahrheiten' durchgesetzt haben. Schiller dagegen findet darin, dass Wahrheiten ein angenehmes und reibungslos funktionierendes Zusammenleben garantieren, ihr einzig mögliches Kriteri-

um.

Je näher Schiller in seiner Argumentation dem Vokabular Nietzsches kommt, desto er sich letztendlich von ihm ab. Dass unsere Erkenntnis auf historischen Voraussetzungen beruht, die niemals ,wahr an sich' sind, dass die Erkenntnis ein Mittel

klarer hebt

Ferdinand Canning Scott Schiller, Truth, in: Ders., Humanism.

York 1903.

Philosophical Essays, London, New

272

Henning Hahn

zur

Einverleibung und Beherrschung der Wirklichkeit ist, dass wir in unseren WahrheiFormgebungsprozess betreiben, schließt sich unmittelbar

ten einen allzumenschlichen

Nietzsche an. Wenn er zuletzt im nietzscheanischen Duktus von der „Umwertung überwundener Wahrheiten' zu ,Irrtümern'"39 spricht, bedient er sich seiner Nietzsche-Lektüre. Die Schlussfolgerungen jedoch, abgeleitet aus einer identischen Analyse, gestalten sich zunächst viel konstruktiver als bei Nietzsche. Während Nietzsche noch aus einem absoluten Wahrheitsanspruch heraus alle Wahrheiten als eingefleischte Irrtümer bezeichnet, entstehen nach Schiller fortschreitend neue Wahrheiten, deren Anspruch einzig auf ihrer Praktikabilität gründet. Dies sind hinreichend ausgewiesene Wahrheiten, wenn wir auf ihrer Grundlage erfolgreich handeln können. Dementsprechend gibt es für ihn keine Veranlassung, gewachsene Erkenntnissysteme zu radikal zu hinterfragen. Zunächst ist es schlicht heuristisch sinnvoll, wenn wir unsere historisch erzeugten Wahrheiten soweit zurückdatieren, „als wären sie allezeit wahr' gewesen".40 Auch Schillers Praktikabilitätskriterium lässt sich auf das seinem Denken zugrundeliegende Menschenbild des homo faber und entsprechend auf die signifikante Differenz zwischen Nietzsche und dem Pragmatismus zurückführen. Fassen wir diese Differenz zusammen. Die unterschiedlichen Wahrheitskonzeptionen münden in die Frage, ,für wen' die jeweilige Wahrheitstheorie aufgestellt wird. Welches Leben haben Nietzsche und Schiller vor Augen, wenn sie Wahrheit am Leben bestimmen? Diese Frage führt direkt in einen Streit der Anthropologien. Der homo faber steht gegen den homo poeta, der arbeitende Mensch gegen den künstlerischen Menschen. In Nietzsches, von frühen ästhetischen Überlegungen geprägtem Menschenbild, überliefert sich die Vorstellung vom Menschen als Genie, welches als Poet eine eigene Weltinterpretation kreiert, als Nomothet sein eigener Gesetzgeber ist oder als Heros seinen Willen zur Macht durchsetzt. Wahrheit wird als Kunstwerk eines genialischen Ichs aufgefasst; der Andere, das ist eine konkurrierende Manifestation des Willens zur Macht, gegen die es sich durch kunstfertigere Interpretation durchzusetzen gilt. Entsprechend hat Nietzsche in seiner aussagekräftigen Bestimmung des homo poeta in der Fröhlichen Wissenschaft die Emphase auf ein Ich gelegt, das mit allen Attribute eines Schöpfergottes ausgestattet ist: an

,

,

„Homo poeta. ,Ich selber, der ich höchst eigenhändig diese Tragödie der Tragödien gemacht habe, soweit sie fertig ist; ich, der ich den Knoten der Moral erst in's Dasein hineinknüpfte -

fest zog, dass nur ein Gott ihn lösen kann, so verlangt es ja Horaz! ich selbst habe im vierten Akt alle Götter umgebracht, aus Moralität! Was soll nun aus dem fünften werden! Woher noch die tragische Lösung nehmen! Muss ich anfangen, über eine komische Lösung nachzudenken?'" (KSA, FW, 3, 496). und

so

jetzt

-

-

-

-

Wenn bei Schiller der Mensch als handelndes Wesen vorgestellt wird, dann nicht als eigenständiger Schöpfer, sondern als kooperierender Arbeiter: Menschen koordinieren ihre Interessen mit den Anforderungen der anderen und stimmen ihre Tätigkeiten daraufhin ab, ob man sie braucht. Die Erfahrungen, die der homo faber an seinen Gegenständen sammelt, beurteilt er im Rahmen gemeinsam anerkannter Interpretationen. Erst Ders., Die Erzeugung der Wahrheit, in: Ders.: Humanismus. Beiträge Philosophie, hg. von Rudolf Eisler, Leipzig 1911, 250.

zu

einer

pragmatischen

Wozu Wahrheit?

273

sich seine Erfahrungen nicht in den Interpretationsrahmen einfügen, programmiert er den bestehenden Interpretationsrahmen soweit um, dass seine Erfahrungen und die Erfahrungen der anderen anhand eines weiterentwickelten Interpretationsrahmens in Einklang gebracht werden. Selbst dieses schöpferische Moment nimmt den anderen in die Neuinterpretation hinein und ist auf dessen Anerkennung angewiesen. Führt man sich vor Augen, ,für wen' der jeweilige Wahrheitsbegriff konzipiert ist, legt diese Zuspitzung der Anthropologien den Zugang nahe, den Richard Rorty vorgeschlagen hat: Nietzsches Wahrheitstheorie kann über den Pragmatismus für eine liberale Gesellschaft lesbar gemacht werden. Nietzsche hat daran mitgearbeitet, die Vorstellung einer absoluten Wahrheit zu verabschieden. An deren Stelle hat er die künstlerische Interpretation zu etablieren versucht. Aber Nietzsches Interpret ist ein eigenbrötlerisches Selbst, das kein überzeugendes Kriterium findet, seine Interpretation gegenüber anderen als wahr auszuweisen. Im Pragmatismus ist es dagegen ein politisches Selbst, dass in Zusammenarbeit mit anderen bestehende Interpretationen je nach Bedarf weiterdeutet. Solange diese offenen Interpretationssysteme eine für jeden funktionierende Werteordnung bereitstellen, werden sie als wahr anerkannt. Nur muss der Bund mit dieser Wahrheit permanent neu ausgehandelt werden. Nietzsches Wahrheitskritik in die pragmatistische Wahrheitstheorie zu übersetzen, ist sicherlich ein gut begründbares Unterfangen. Diese Vorgehensweise gelingt allerdings nur, wenn wesentliche Aspekte in Nietzsches Philosophie nicht berücksichtigt werden. Ich schlage deshalb noch einen anderen Weg vor. Sowohl Nietzsches als auch Schillers Wahrheitstheorie ruhen auf Beobachtungen, ,wie Wahrheit zustande kommt'. Schiller fragt, was geschieht, wenn wir ein Urteil als wahr auszeichnen, und hat dafür eine Vielzahl von Antworten. Wir fühlen uns befriedigt, unser Urteil stößt auf allgemeine Anerkennung, das Urteil führt zu brauchbaren Konsequenzen, es steht mit anderen Urteilen in einem kohärenten Zusammenhang, es bewertet, ob uns ein Gegenstand interessiert, usw.; Nietzsches Blickrichtung ist hingegen eine ganz andere. Seine Frage könnte lauten: Warum liegt uns etwas daran, dass sich ,unsere' Wahrheit gegen eine andere Wahrheit durchsetzt, auch wenn wir sie nicht letztgültig begründen können? Seine Erklärung läuft darauf hinaus, dass wir uns selbst in ,unseren' Wahrheiten verlautbaren. Wir selbst stehen mit Leib und Willen hinter .unseren' Wahrheiten. Den Willen zur Wahrheit, dort, wo keine .allgemeine' Wahrheit begründet werden kann, nennt Nietzsche den Willen zur Macht. So gesehen setzt er an der Stelle an, wo Schiller endet. Dessen Wahrheitstheorie konnte resümieren, dass es einen gesellschaftlichen Grandkonsens an Wahrheiten gibt, außerhalb dessen jedoch viele Wahrheiten strittig bleiben. Für ihn ist das eine akzeptable Lösung; er will vor allem begreiflich machen, wie unsere etablierten Wahrheiten zustande kommen. Für Nietzsche gilt das nicht. Seine philosophischen Probleme sind dadurch gekennzeichnet, dass kein allgemeiner Konsens besteht und auch nicht über ein Gebrauchskriterium hergeleitet werden kann. Nietzsches Analysen machen erst dann einen Sinn, wenn sie als Beschreibungen gelesen werden, wie wir uns angesichts strittiger Wahrheitsprobleme verhalten. Im Streit, so Nietzsche, ist das Selbst auf sich allein gestellt. Es entwickelt eine selbständige Interpretation und dringt darauf, sie dem Anderen aufzuoktroyieren. Während Schiller als Vorbote der Diskursethik vorgeschlagen wenn

274

Henning Hahn

hat, Probleme öffentlich nach der Logik des besseren Arguments und im Interesse des

Allgemeinwohls auszutragen, äußert Nietzsche tiefes Misstrauen gegen den ,guten Willen' der Diskursteilnehmer und dagegen, dass wir für das ,bessere' Argument zugänglich sind. Sein Machtbegriff beinhaltet einen kritischen Blick auf Schillers konsenstheoretischen Wahrheitsbegriff, ein Misstrauen, aus dem der demokratische Diskurs nicht entlassen werden kann.

THOMAS MITTMANN

Religion nach dem ,Tod Gottes' Friedrich Nietzsche als bei Ernst Horneffer

Wegbereiter des Neuheidentums

Innerhalb der kontrastreichen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Friedrich Nietzsches in Deutschland an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, gilt der religiös motivierte Zugriff auf Vorstellungen des Philosophen als ein besonderes Phänomen. Hier wuchs der radikale Atheist und selbst ernannte ,Antichrist', der wesentlich mit zu der fundamentalen Krise des Christentums um die Jahrhundertwende beigetragen hat, selbst zur Quelle religiöser Impulse heran. Dabei war Nietzsches Einfluss keineswegs peripher. Während er von den Repräsentanten der Großkirchen hauptsächlich als „gefährlicher Philosoph"1 verhandelt wurde, entwickelte sein gedankliches Ensemble im Bereich ,vagierender' Religiosität enorme Anziehungskraft. Nietzsches Philosophie kam eine bedeutende Rolle bei der Konstruktion von alternativen Ersatzreligionen unter den zahlreichen neu entstehenden religiösen weltanschaulichen Bewegungen, Gruppierungen, Events und Programmatiken zu, die die allgemeine Erosion des traditionellen christlichen Glaubens, den Bedeutungsverlust der Großkirchen und den Wunsch nach religiöser Neubelebung im Deutschland des Fin de siècle verdeutlichen.2 Wenn im Folgenden das Neuheidentum Ernst Horneffers als eine Variante Nietzscheanischer Religion nachgezeichnet wird, so ist die Auswahl nicht beliebig. Horneffers intellektuelles Sinnstiftungskonzept stellt hinsichtlich seiner Radikalität, der öffentlichen Wirksamkeit und des Mobilisierungspotenzials, eine der markantesten Ersatzreligionen Nietzschescher Provenienz um die Jahrhundertwende dar. Obwohl Nietzsches Vorstellungen dabei als Ausgangspunkt für Horneffers Konzept einer religiösen Erneuerung dienten, ließ dieser nicht übersehen, was weltanschaulich den prinzipiellen Abstand zwischen dem Philosophen und seiner eigenen Gedankenwelt ausmachte. Letztlich gelangte Horneffer zu einem Religionsentwurf, der, auf den Schultern Nietz-

Ungeachtet der vielfachen positiven Anlehnungen an Nietzsche im innerkirchlichen Diskurs, entwickelte sich der ,gefährliche Philosoph' nicht nur auf katholischer Seite zum Standardtopos. Insgesamt stand weniger Nietzsche selbst, als dessen kultische Rezeption im Zentrum der Aufmerksamkeit. Steven E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, 219-250.

Vgl.

Stuttgart, Weimar,

Thomas Mittmann

276

sches stehend, seine eigenständige geistige Entwicklung und kritische Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Umbruchsitoation von Religion widerspiegelte. Der Rekurs auf Nietzsche diente ihm einerseits zur Illustrierung religiös-kultureller Dekadenzerscheinungen. Andererseits versprach die Auseinandersetzung mit dem unzeitgemäßen' gewinnbringende und ertragreiche Lösungen im Hinblick auf eine religiöse Wiederbelebung und Neuorientierung. Horneffers zentrales und durchgängiges Ziel war die Verschmelzung eines an der Antike orientierten und von Nietzsche radikal modernisierten Individualismus mit den sozialen Erfordernissen der menschlichen Gesellschaft. Auf religiösem Terrain stellte sich die Aufgabe der Vergemeinschaftung eines freien, persönlichen, auf Selbsterlösung fußenden Glaubens. Dieser Mission sah Horneffer das zeitgenössische Christentum nicht gewachsen. Beide große Kirchen versagten ihm vor der Aufgabe, den Menschen religiöse Befriedigung zu geben. Die ,religiöse Krise', diagnostischer Ausgangspunkt für seine Erneuerangsbestrebungen, bestand in einer weit verbreiteten religiösen Orientierangslosigkeit und Fragmentierung sowie in einem drohenden Verlust von Religion überhaupt. Horneffer entwickelte eine religiöse Programmatik, die ihm in der Fremdwahrnehmung seiner Zeit das Profil eines einflussreichen religiösen Führers und charismatischen Religionsstifters verlieh. Das führte früh dazu, dass die Aktivitäten des ,Nietzsche-Apostels' von kirchlicher Seite mit sensibler Aufmerksamkeit verfolgt und mit Vehemenz kritisiert wurden. Schließlich erreichte Horneffer eine signifikante Vorbild- und Vorreiterfunktion bei der Entstehung neuer alternativreligiöser Gemeinschaften. Seine geistige Entwicklung kann, wie bei vielen Nietzsche-Adepten um die Jahrhundertwende in Deutschland, als allmählicher Ablösungsversuch von den Einflüssen seines Vorbildes gesehen werden. Eine radikale, völlige Abkehr vom ,Antichristen' ist ihm dabei nicht gelungen. Bis zum Ende seiner Tätigkeiten blieb er dem Philosophen geistig verbunden. Auch den ihn ständig begleitenden Ruf als ,Nietzsche-Jünger' konnte Horneffer zu seinem eigenen Missfallen letztlich nie abschütteln.3

Horneffers Weg ins Zentrum des Nietzsche-Kultes Horneffer wurde am 7. September 1871 als Sprössling einer Beamtenfamilie im pommerischen Stettin geboren. Nach seiner Reifeprüfung am humanistischen Gymnasium in Bugenhagen zu Treptow studierte er zunächst klassische Philologie in Berlin, danach wechselte er nach Göttingen und widmete sich unter der Obhut von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff von neuem dem griechischen Schrifttum und der Philosophie. Schon im konservativ-religiösen Dunstkreis des Bugenhagen-Gymnasiums habe sich eine „leidenschaftliche Religiosität" entwickelt, erinnerte sich Horneffer später; um „so erschütternder war der Umschwung", als ihm zum Ende seiner Schulzeit „ohne erkennbaren äußeren Anstoss das religiös-dogmatische Vorstellungsbild zusammenbrach".4 Sein früh

Vgl. Ernst Horneffer, Die große 4

und Arbeit, München

u.a.

Wunde.

1922, 34f.

Psychologische Betrachtungen zum

Verhältnis

von

Kapital

Ders., Lebenslauf, Universitätsarchiv Gießen, Nachlass Horneffer, Pra Phil 13. Weitere biografische Angaben beziehen sich auf diesen, von Horneffer mit dem Habilitationsantrag eingereichten

Religion nach dem Tod Gottes

277

'

,

erwachtes Interesse an religiös-weltanschaulichen Fragen verstärkte sich während des Studiums, als bedeutend sah er den Einfluss von Paul de Lagardes Deutschen Schriften. Nietzsche, dessen Werk er am Ende seiner Universitätszeit kennenlernte, rückte unmittelbar in den Mittelpunkt seiner geistigen Arbeit. Die „Schätzung der Antike" und der leidenschaftliche „Reformeifer für die Gegenwart"5, das war die Verbindung, der sich der junge Philologe verwandt fühlte. Im April 1896 promovierte Horneffer mit einer gekrönten Preisschrift der Göttinger Akademie der Wissenschaft über Piaton.6 Da sich sein durch Lagarde und Nietzsche bekräftigter Wunsch nach „lebendiger Reformtätigkeit" nur als unabhängiger Schriftsteller und Redner realisieren ließ, trat er kurze Zeit später mit „interpretatorischen Vorträgen" über Nietzsche in verschiedenen deutschen Städten in Erscheinung, die der weit verbreiteten „irrigen Auffassung" über den Philosophen entgegenwirken sollten. Erste größere Aufmerksamkeit wurde ihm durch seine Nietzsche-Reden in Gießen zu Teil, die er im Februar 1898 hielt.8 Auch am NietzscheArchiv, das im August 1896 von Naumburg nach Weimar umgezogen war, wurde das Werben des jungen Philologen für den umnachteten Philosophen bekannt und die ,Archivherrin' Elisabeth Förster-Nietzsche, die einem seiner Vorträge beigewohnt hatte, rief Horneffer an ihre Seite. Der junge Philologe siedelte nach Weimar über und trat seinen Dienst als Herausgeber von Nietzsches Nachlass am 1. August 1899 zunächst auf Probe an; sein vier Jahre jüngerer Bruder August Horneffer folgte ihm drei Monate später. Bereits Anfang Dezember 1899 sorgte Ernst Horneffer mit der Veröffentlichung einer kleinen Broschüre unter dem Titel Nietzsches Lehre von der Ewigen Wiederkunft und deren bisherige Veröffentlichung für Furore. Die darin enthaltene vernichtende Kritik der herausgeberischen Tätigkeit seines Vorgängers Fritz Koegel, den er als „wissenschaftlichen Charlatan"9 der Verunstaltung Nietzsches beschuldigte, löste eine erbitterte literarische Auseinandersetzung mit Rudolf Steiner aus, der zunächst als Herausgeber der Schriften Nietzsches vorgesehen war. Steiner wies die Behauptungen Horneffers zwischen Februar und Juli 1900 in zahlreichen Zeitschriftenaufsätzen zurück und stellte seinerseits die Kompetenz des neuen Herausgebers in Frage. Bei aller berechtigten Kritik an der bis dahin geleisteten Nachlassverwaltung blieben auch die Horneffer-Brüder trotz ihrer Weitsicht letztlich editorisch inkonsequent und waren maßgeblich und federführend Lebenslauf; auch Klaus Horneffer, Ernst Horneffer, in: Eleusis, September/Oktober 1968 und JörgPeter Jatho, Gern beugen sich die Männer des Geistes vor den Männern der Macht. Ernst Horneffer. Zur politischen Biographie des Gießener Philosophieprofessors. Dokumente und Commentar zu den Briefen Nietzsches an Overbeck", Giessen 1998. Ernst Horneffer, Lebenslauf. Ders., De Hippia maiore quifertur Piatonis, Göttingen. Phil. Fak. Inaug. Diss. vom 1. April 1896. Ders, Lebenslauf. Zu Vorträgen in Wiesbaden und Darmstadt im Jahre 1897: Anonym, Ein Wort über Friedrich Nietzsche, in: Wiesbadener Tagblatt, 45, Nr. 14. April 1897. Zu frühen Auftritten: Kölnische Volkszeitung, 27. Dezember 1910 und E.(rnst) H.(orneffer), Im Spiegel der Gegner, in: Die Tat, Heft 11, Februar 1911, 661. "





Dem Eröffhungsvortrag Wer war Nietzsche und was wollte er? am 15. 2. folgten am 16.und21.2. im Hotel Einhorn zwei Vorträge zu Der Uebermensch und Die Umwerthung aller Werthe. Vgl. Gießener Anzeiger, 16., 17., 18., 23. Februar 1898. Ernst Horneffer, Nietzsches Lehre von der Ewigen Wiederkunft und deren bisherige Veröffentlichung, Leipzig 1900, 60.

278

Thomas Mittmann

der willkürlichen Kompilation von Der Wille zur Macht beteiligt. Kurz vor Horneffers Abrechnung mit Koegel waren bereits seine Vorträge über Nietzsche erschienen. Sie stellen das literarische Dokument seiner frühen Vortragstätigkeit dar und waren nach seinen Angaben schon Mitte der neunziger Jahre auf Wunsch vieler Hörer formuliert worden. Die Begegnung mit dem kranken Philosophen zählte Horneffer später zu den „tiefsten Erlebnissen seines Lebens". Zwei Tage nach Nietzsches Tod, am 27. August 1900, hielt er die Gedächtnisrede am offenen Grab des Philosophen.12 Die herausragende Stellung der Horneffers im Zentrum des Nietzsche-Kultes verhinderte die wachsenden Unstimmigkeiten mit der Schwester des Philosophen nicht. So sahen sich die Herausgeber immer wieder empfindlich in ihrer Arbeit behindert und bevormundet. Am 1. November 1901 schließlich erklärte Ernst Horneffer seine „Beziehungen zum Archiv für gelöst".13 Lange nach seinem Brach mit Weimar beurteilte er seine Herausgebertätigkeit kritisch. Die heftigen Angriffe auf Koegel, so teilte er mit, seien in nicht geringem Maße durch den übermächtigen Einfluss Förster-Nietzsches mitmotiviert gewesen.14 Die Schwester des Philosophen dagegen legte Horneffer in ihrer Abrechnung nicht nur unprofessionelle Arbeitsweise und schlampigen Umgang mit dem Manuskriptmaterial ihres Bruders zur Last, sondern auch „seine unglaublich geschmacklose und konfuse Religionsbegründerei, die dem Geist meines Bruders so vollständig entgegengesetzt ist". 1907 war der „Fall Horneffer" für sie „erledigt"16. an

Mit dem Antichristen' auf Reisen: Horneffers Vorträge über Nietzsche ,

Was das eigentliche Interesse Horneffers an den Schriften ihres Bruders betraf, sah Förster-Nietzsche mit ihrer Vorhaltung durchaus klar. Nach dem Ausscheiden aus dem Nietzsche-Archiv war der Weg für seine eigentliche Mission wieder frei, Horneffer beschloss nach Leipzig überzusiedeln und seine „freie religiöse Lehrtätigkeit in der Öffentlichkeit wieder aufzunehmen".17 Dass seine Auseinandersetzung mit der Philosophie Nietzsches von Beginn an vor dem Hintergrund einer grundlegenden

Ders., Vorträge über Nietzsche. Versuch einer Wiedergabe seiner Gedanken, Göttingen 1900. Die Schrift, 1908 in Nietzsche-Vorträge umbenannt, erreichte mit leichten Änderungen und Zusätzen

11 12

13

14 15

bis 1920 eine Auflage von 17tausend Exemplaren. Herbert Titze, Gespräch mit einem Philosophen, in: Gleiwitzer Stadtpost, 1. November 1937. Die Rede, gehalten am Sarge Nietzsches und der Vortrag Nach Nietzsches Tod sind abgedruckt in: Ernst Horneffer, Zu Nietzsches Gedächtnis, Göttingen 1901. Telegramm Ernst Horneffers an Frau Dr. Förster-Nietzsche Weimar, Handschriftlich, Goethe- und Schiller-Archiv Weimar, GSA 72/Horneffer, E.; zit. nach: Jörg-Peter Jatho, „Gerne beugen sich die Männer des Geistes vor den Männern der Macht", 104. Vgl. Ders., Nietzsches letztes Schaffen. Eine kritische Studie, Jena 1907, 48-53. Elisabeth Förster-Nietzsche, Das Nietzsche-Archiv, seine Freunde und seine Feinde, Berlin 1907, 31.

16 17

Dies., Erinnerungen, in: Die Zukunft, (61), 1907, 67. Ernst Horneffer, Lebenslauf.

Religion nach dem

,

Tod Gottes

279

'

Kritik des christlichen Glaubens und dem Wunsch nach religiöser Erneuerung gesehen werden kann, dokumentieren bereits die Vorträge über Nietzsche. Obwohl es dem Verfasser zunächst weniger um ein persönliches Bekenntnis zum umstrittenen Denker als um eine volkstümliche' Darstellung der Gedankenwelt Nietzsches ging, unterstrich er hier bereits die markante und einzigartige Rolle des Antichristen' im Ringen mit zentralen Positionen des Christentums. Erst Nietzsche, so postulierte Horneffer, habe den Kampf gegen den Kern der christlichen Welt- und Lebensanschauung in Gestalt der christlichen Sittenlehre aufgenommen. Mit seiner Kritik an den unantastbaren christlichen Moral- und Wertvorstellungen, der Forderung nach einer Umwertung der Werte', dem Wunsch nach einem neuen, großen Menschentum, das in die Fußstapfen des toten christlichen Gottes treten sollte, läute der Philosoph eine „neue Epoche in der Philosophie", mehr noch, „in der gesamten Kultur"18 ein. Horneffer sprach Nietzsche in seinen Vorträgen zwar die Rolle des Religionsstifters ab, unterstrich aber, dass auf den von ihm geschaffenen Grundlagen eine umfassende religiöse Reformierung möglich werde.1 Mit seinen öffentlichen Nietzsche-Interpretationen verschaffte sich der junge Philologe nicht nur auf Anhieb allgemeine Anerkennung als Nietzsche-Kenner, er geriet gleichzeitig früh in das Visier kirchlicher Kritik und sein Ruf als ,Nietzsche-Apostel' und ,Nietzsche-Jünger' festigte sich.20 Ohne Zweifel war er ein begabtes Rednertalent, seine Fähigkeit, Massen zu begeistern, wurde auch von seinen schärfsten Kritikern eingeräumt.21 Vielerorts kam es im Anschluss an seine gut frequentieren Vorträge zu turbulenten Diskussionen vor allem mit kirchlichen Repräsentanten. Als Horneffer, der im Jahre 1901 folgerichtig die lutherische Kirche verlassen hatte, seine Vorträge über Nietzsche am 5., 7. und 10. März 1902 im großen Saal des Hotels Stadt Dresden in Görlitz hielt, reagierten der hiesige Peterskirch-Bezirksverein und der Dreifaltigkeits-Bezirksverein mit einem Zyklus von drei Vorträgen zum Thema „Friedrich Nietzsche und das Christentum". Damit sollte der enormen Anziehungskraft des Philosophen in Kreisen evangelischer Gebildeter entgegengewirkt werden. Die inhaltliche Ausarbeitung der Veranstaltungen übernahm der neu nach Görlitz berufene evangelische Diakonus Martin Schian. Am 25., 28. und 30. April präsentierte er im großen Saal des Evangelischen Vereinshauses zu Görlitz drei Abend-Vorträge, die Nietzsches Stellung zum Christentum vor dem Hintergrund der Hornefferschen Positionen beleuchten sollten. Schian verteidigte das zeitgenössische Christentum gegen Horneffers Vorwürfe, widersprach der Auffassung, Nietzsches Lehre biete einen geeigneten Religionsersatz und gelangte zu der Überzeugung, der Philosoph sei „der bewussteste, energischste, konsequenteste Feind, den das Christentum seit langen Zeiten erlebt hat". 2 Horneffer war bei den kirchlichen Ge,

19 20

21

Ders., Vorträge über Nietzsche, 6. Vgl. auch 15, 24, 32, 33. Vgl. ebd., 22. Vgl. etwa M.(ichael) G.(eorg) C.(onrad), Nietzscheana, in: Die Gesellschaft, 16, (1900), Bd. 4, Heft 3, 195-196; Josef Hofmiller, Nietzsche und kein Ende!, in: ebd., 18, (1902), Bd. 2, Heft 7, 59-67. Vgl. Bergsträßer, Die neue Kulturpartei des Herrn Horneffer, in: Akademische Blätter, 23, Nr. 6, 16. Juni 1908; Max Heimbucher, Dr. Ernst Horneffer und seine künftige „Religion", Hamm 1911,

2. 2

Martin Schian, Friedrich Nietzsche und das Christentum. Drei Vorträge, Görlitz 1902, 7.

Thomas Mittmann

280

genveranstaltungen anwesend und nahm an den nachfolgenden hitzigen Debatten über teil.23 Er setzte seine Reisetätigkeit als Nietzsche-Interpret auch in den nachfolgenden Jahren in großen Städten Deutschlands unermüdlich fort. Dabei kam es im Winter 1903/04 zu einer Auseinandersetzung mit dem liberalen Theologen Friedrich Rittelmeyer. Als dieser in Nürnberg Vorträge über Nietzsche anbot, verlautete Horneffer, er werde „zur Ergänzung und Beendigung der von Pfarrer Dr. Rittelmeyer gehaltenen Vorträge"24 mit seinen eigenen Nietzsche-Vorträgen aufwarten, eine Formulierung, die Rittelmeyer scharf verurteilte. Horneffer wies die Kritik als „abgeschmackte Anekdote des Herrn Pfarrer Rittelmeyer aus Nürnberg"25 zurück, die von seinen Gegnern nur zu seinem Schaden verbreitet

Nietzsche

-

werde.

Die künftige Religion und die Gründung des Bundes für persönliche Religion 1905 trat Horneffer mit einem neuen Vortragszyklus unter dem Titel Die künftige Religion an die Öffentlichkeit. Darin konkretisierte er seine religiös-weltanschaulichen Vorstellungen und Forderungen und formulierte mit der ,Religion des neuen Heidentums' ein zukunftsorientiertes religiöses Bekenntnis, das den starken Impuls Nietzsches verriet. Horneffer unterstrich einmal mehr, dass er den christlichen Glauben für ein niedergehendes, absterbendes Phänomen hielt. Mehr noch, er machte den christlichen Offenbarangslauben als orientalischen „Fremdkörper" und „fürchterlichste Vergewaltigung des europäischen Geistes" für eine fehl gelaufene Entwicklung europäischer Geschichte verantwortlich. Während sich das Christentum wie alle orientalischen Religionen notwendig durch Autoritätsglauben und geistigen Zwang auszeichne, so Horneffer, habe Nietzsche die antike Grandüberzeugung der sittlichen Freiheit des Menschen wiederbelebt. Er forderte, das für die europäische Selbstentfremdung verantwortliche dogmatische Christentum durch eine lebendige Philosophie nach dem Vorbild Nietzsches zu ersetzen; dieser habe mit seiner Forderung nach einer Werte schaffenden Philosophie, die nach dem ,Tode Gottes' eine an die Menschen gerichtete konkrete Forderung nach autonomen Denken und Handeln impliziere, den Boden für eine grundlegende religiöse Reformierung bereitet. Aus dem von Nietzsche diagnostizier-

Vorträgen Schians in Görlitz: Neuer Görlitzer Anzeiger, Nr. 86, 13. April 1902, Nr. 90, 18. Nr. 93, 22. April 1902, Nr. 94, 23. April 1902, Nr. 96, 25. April 1902, Nr. 98, 27. April 1902, April 1902, Nr. 100, 30. April 1902, Nr. 101, 1. Mai 1902, Nr. 102, 2. Mai 1902 und Nr. 104, 4. Mai 1902 (Martin Schian, Kirchliche Erinnerungen eines Schlesiers, Görlitz 1940, 89f). Zit. nach Friedrich Rittelmeyer, Die künftige Religion?, in: Die Christliche Welt, Nr. 21 und 22 vom 24. und 31. Mai 1906, 508f. Ernst Horneffer, Katholizismus in der protestantischen Kirche. Worte zur Abwehr, Leipzig 1906, 62f. Der dreiteilige Vortrag ist abgedruckt in: „Das klassische Ideal". Reden und Aufsätze von Ernst und August Horneffer, Leipzig 1906, 198-328. Ernst Horneffer, Die künftige Religion, 202f. Vgl. ebd., 21 lf. Zu den

Religion nach dem ten

,

Tod Gottes

'

281

,Tod Gottes' resultierte für ihn die Notwendigkeit eines neuen grundlegenden Welt-

gedankens.29 Nietzsches ziellosen

Willen zur Macht' hielt er zwar nicht für das Grunddoch er diente als Ausgangspunkt für seinen ,Willen zur Form', der als umfassende und harmonisierende Grundtendenz des Lebens alles Mannigfaltige und Zersprengte innerhalb einer chaotischen, ungeordneten Welt verband. Ergänzend konstruierte Horneffer darüber hinaus eine dem Dasein innewohnende antithetische Gegenkraft, den „Willen zur Unform", in Gestalt der „Zeit", als Verkörperung von Veränderung, Auflösung und Zerstörung.31 Auch in der Entwicklung des Menschen konstatierte er die Dualität von ,Wille zur Form' und ,Wille zur Unform', doch nur beim Menschen dränge der ,Wille zur Form' zu einer schöpferischen Entfaltung. In dieser ethisch-ästhetisierenden Selbsterlösung erblickte Horneffer die sittliche Aufgabe des Menschen, mit dem Ziel eines höheren persönlichen Lebens; hier wähnte er die Antwort auf die wichtigste Frage aller Religionen, die Frage nach dem menschlichen Glück.32 Der Mensch, forderte er, müsse sich Form geben, oder „wie Nietzsche es nennt, werden, was er ist, dann erringt er ein reichliches, ein überfließendes Maß von Glück".33 Um eine praktische Realisierung seiner religiösen Ideale zu ermöglichen, zielte Horneffer auch formal auf einen radikalen Bruch mit der christlichen Tradition. Die künftige Religion implizierte nicht weniger als die Abschaffung kirchlichinstitutioneller Organisationsstrukturen zugunsten freier Lehrer und Erzieher, die in zwangloser, außerkirchlicher Atmosphäre die Entwicklung einer selbst bestimmten, individuellen persönlichen Religion fördern sollten. Am Ende dieser Entwicklung, so seine Vision, sei Jeder sein eigener Religionsstifter, der eigene Schöpfer seiner Religion".34 Horneffer stellte auch seine Vorstellungen über die künftige Religion in ausgewählten Städten einer breiten Zuhörerschaft vor. Seine Vortragsreisen führten ihn im Winter 1905 zunächst nach Düsseldorf35, danach folgten Auftritte in seiner Heimatstadt und Osnabrück.37 Angesichts der beachtlichen Resonanz in seiner Heimatstadt im Laufe des Jahres 1906 sprachen Beobachter von einem „Nietzsche-Kultus in ,

legende des Daseins,

Leipzig36 2V

30 31 32

33 34 5

36

7

Vgl. ebd., 293ff. Vgl. ebd., 301. Vgl. ebd., 31 Iff. Vgl. ebd., 313ff.

Ebd., 316. Ebd., 248. Über Horneffers Vorträge im Düsseldorfer Hotel Heck vgl. Johannes M. Verweyen, Heimkehr, eine religiöse Entwicklung, Breslau, 1941, 65f, 83. Über Horneffers Vorträge im Saal des Kaufmännischen Vereins in Leipzig am 9., 11. und 14. Januar 1906 vgl. Anonym, Die künftige Religion, in: Leipziger Volkszeitung, 13, Nr. 7, 9 und 12 vom 10., 12. und 16. Januar 1906. Über einen Vortrag am 2. März 1906 vgl. Anonym, Die religiöse Diskussion im Krystallpalast, in: ebd., Nr. 53, 5. März 1906. Über seine Vorträge in München und Berlin: Anonym, Nietzsche und die Staatsphilosophen als Erzieher, in: Casseler Tageblatt und Anzeiger, 53, Nr. 149, 29. März 1906. In Osnabrück soll vor allem Pfarrer August Pfannkuche den Ausführungen Horneffers Widerstand entgegengebracht haben. Vgl. Friedrich Rittelmeyer, Horneffer in Cassel, in: Die Christliche Welt, Nr. 31,(1906), 740.

282

Thomas Mittmann

Leipzig".38 Dabei erlangte der religiöse Erneuerer Einfluss auf die Kirchenaustrittbewe-

gung, in unmittelbarer Folge seiner Vorträge riefen Leipziger Studenten zum kollektiKirchen-Austritt auf.39 Seine Auftritte in Kassel im Frühjahr 1906 waren von besonders stürmischen Kontroversen begleitet; Kommentatoren werteten sie als Auswüchse eines „kleinen Religionskriegs" °. Horneffer erschien als „Aufpeitscher", „Blender" und „Irrlicht", das es zu bekämpfen galt.41 Manche Beobachter meldeten, er plane „atheistische Konventikel" in Kassel. Kirchliche Repräsentanten begannen vermehrt, alternative Vorträge zu organisieren und Horneffer-kritische Abhandlungen zu publizieren.43 Nicht minder heftig und polemisch war das Echo der lokalen Presse.44 In wenigen Wochen entwickelten sich die Meinungsverschiedenheiten in den Tageszeitungen zu einem regelrechten „Waffengang"45, an dem sich Horneffer selbst mit regelmäßigen Zuschriften beteiligte. Bald war geringschätzig von den „Hornefferianern" und von der „Hornefferaffäre"47 die Rede. Der Erfolg des Wanderpredigers wurde einem insgesamt unverständigen, ungebildeten Publikum zugeschrieben, das sich aus „Nähmädchen", „Primanern", „Pensionärinnen" und „halbwüchsigen jungen Leuten" 48 zusammensetze und dem es an Urteilsfähigkeit und Sachkenntnis mangele, Hörern, „deren Beschäftigung weit ab liegt von philosophischen Grübeleien".49 Selbst August Horneffer geriet irrtümlich mit den Ereignissen in Verbindung, so dass beide Horneffers als „Führer einer religiösen, antikirchlichen Bewegung in Cassel"50 im Gefolge Nietzsches Berühmtheit erlangten. Ohne Zweifel haben nicht zuletzt die kirchlichen Erwideven

Anonym (Eduard Engel), Der neueste Nietzsche-Kultus in Leipzig, in: Der Hausvater, 15, Nr. 8, 10 und 11, Mai, Juli und August 1906, 173-176,220-226,243-247. Vgl. E.(rnst) H.(orneffer), Paul Göhre, Die neueste Kirchen-Austrittsbewegung, in: Die Tat, Heft 7, Oktober 1909, 423f. Friedrich Rittelmeyer, Horneffer in Cassel. Vgl.: E. Sunkel, Herr Dr. Horneffer und der Austritt aus der Landeskirche. Eine kritische Betrachtung und ein praktischer Vorschlag, Cassel 1906, 3.

Louis Wolff, Jenseits von Nietzsche und Horneffer (Warum bleiben wir in der Landeskirche?), Cassel 1906, 5. E. Sunkel, Herr Dr. Horneffer und der Austritt aus der Landeskirche, Von Bergh, Das neue Heidentum des Dr. Horneffer!, Cassel 1906, Louis Wolff, Jenseits von Nietzsche und Horneffer. Vgl. das enorme Echo im Casseler Tageblatt und Anzeiger, 53, (1906), Nr. 149, 152, 154, 202, 204, 205, 208, 212, 219, 221, 234, 238, 243, 270, 302. Dazu: H. Werlitz, Kassel im Bannkreis Horneffers? Neuerschlossene Maßstäbe zur Nachprüfung und Nachachtung. Dazu zwei offene Briefe aus Stadt und Land an Dr. Ernst Horneffer nebst anderem Quellenmaterial, Kassel 1906 und die im Juni 1906 erschienene, „2. wesentlich ergänzte und verbesserte Auflage" mit dem Untertitel Ein lokalgeschichtliches Zeitbild. H. Werlitz, Kassel im Bannkreis Horneffers? Ein lokalgeschichtliches Zeitbild, 48ff. W. von Tiling, Einige kritische Bemerkungen zum neuesten Auftreten des Herrn Dr. Horneffer in Cassel, in: Hessische Post und Casseler Stadt-Anzeiger, Nr. 165, 17. Juni 1906, 2. Blatt. H. Werlitz, Kassel im Bannkreis Horneffers. Ein lokalgeschichtliches Zeitbild, 9. Vgl. Ernst Horneffer, Katholizismus in der protestantischen Kirche, 40. Anonym, Horneffer-Vorträge, in: Casseler Allgemeine Zeitung, Nr. 121, 3. Mai 1906, 6. Friedrich Aly, Ernst und August Horneffer. Das klassische Ideal, in: Das humanistische Gymnasium, (1908), 193f; auch: J. J. David, Neue Ideale, in: Die Nation, 23, Nr. 38 und 39, 23. und 30. Juni 1906, 602f. und 620ff.

Religion nach dem

,

Tod Gottes

'

283

rangen Horneffers Vorträge popularisiert; vor diesem Hintergrund ging er dazu über, seine Auftritte mit dem Hinweis anzukündigen, die Anwesenheit von Geistlichen sei ein Garant für spektakuläre Streitgespräche im Anschluss an seine Vorträge. Als Replik auf die heftigen kirchlichen Anfeindungen inszenierte er am 11. Juni 1906 im Kasseler Stadtparksaal einen Abwehrvortrag unter dem Titel Katholizismus in der protestantischen Kirche.51 Er wiederholte darin seine Überzeugung, die kirchliche Religion stelle „ein fremdes Gebilde auf europäischem Boden"52 dar und müsse durch ein persönlicheres und freieres Glaubensbekenntnis ersetzt werden. Seine in Kassel geäußerte Anregung, eine neue religiöse Organisation ins Leben zu rufen, die freie, persönliche Formen religiöser Betätigung unterstützen sollte, fiel auf fruchtbaren Boden und nahm Ende 1906 sichtbare Formen an. In einem im September in Kassel erschienenen Aufruf kündigten Anhänger Horneffers die Gründung einer alternativreligiösen Gemeinschaft für die Entkirchlichten und der Kirche Entfremdeten an.53 Nach der konstituierenden Versammlung am 10. Oktober formierte sich die neue Organisation mit 300 Mitgliedern als Bund für persönliche Religion. Der Zusammenschluss war auf keine religiöse Lehre verpflichtet, das Gemeinsame bestand nur in der Suche nach einem Leben auf religiössittlicher Grundlage. Für die Vorträge innerhalb der Vereinigung, die mindestens bis 1911 existierte, war zunächst Horneffer vorgesehen, das Auftreten weiterer Redner wurde in Aussicht 1907 trat Horneffer in Danzig und Königsberg mit seinen Vorträgen über Die künftige Religion in Erscheinung.55 Inzwischen hatte er seine religiöse Programmatik mit Vorträgen unter dem Titel Wege zum Leben erweitert, die ebenfalls in ihrem Ziel, die Stagnation des religiösen Lebens zu überwinden, vom Gegensatz gegen das Christentum geprägt waren.56 Der „Anhänger Nietzsches"57, wie er sich hier

gestellt.54

-

Horneffer, Katholizismus in der protestantischen Kirche. Zu Vortragsverlauf und großem Andrang vgl. Anonym, Horneffer-Vortrag im Stadtpark, in: Casseler Tageblatt und Anzeiger, 53, Nr. 270, 12. Juni 1906, 3. Ebd., 16. Horneffers Abwehrschrift provozierte wieder Gegenschriften. Vgl. H. Werlitz, VerallgeErnst

meinerungstheorie Ernst Horneffers und Tina Pfeiffers Anwendungspraxis. Pftngstnachklänge zur Einläutung des Horneffer-Vortrages „Katholizismus in der Protestantischen Kirche" Montag, den 11. Juni 1906. Ein Nachtrag zur Broschüre, Kassel 1906. Vgl. ebd., 70f. Ein Aufruf zur Gründung des Bundes mit Unterschriften und handschriftlichen Notizen befindet sich in Karton 11 des privaten Familiennachlasses. Für die Möglichkeit der Ein-

sichtnahme und für die Gastfreundschaft danke ich Herrn Prof. Dr. Klaus Horneffer und seiner Frau. Von Bergh berichtet darüber hinaus von der Gründung einer Philosophischen Gesellschaft in Kassel im Jahre 1906, die eng mit Horneffer in Verbindung gestanden haben soll. Vgl. von Bergh, Das neue Heidentum des Dr. Horneffer!, 42 und Casseler Tageblatt und Anzeiger, Nr. 278 vom 17. Juni 1906. Von einem weiteren kleinen Gesprächskreis ist die Rede bei Tina Pfeiffer-Raimund, Dr. Horneffer und seine Gegner, Kassel 1906, 11. Vgl. Ernst Horneffer: Katholizismus in der protestantischen Kirche, 70f. Vgl. ders., Aus dem Münchner Kartell, in: Die Tat, Heft 10, Januar 1911, 597ff. Vgl. Adolf Schettler, Dr. Horneffer in Danzig, in: Die Christliche Welt, (1907), Nr. 17, 400-406. Vgl. Ernst Horneffer, Lebenslauf. Ders., Wege zum Leben. Vorträge, Leipzig 1908, 64. Die Titel der vier Vorträge sind: Der höchste Wert, Gott und Mensch, Die Ehe, Der Tod. Die zweite Auflage erschien 1912 unter dem Titel Vom starken Leben. Ein Evangelium der Tat, Leipzig 1912. Die ersten beiden Vorträge hießen nun Alte

Thomas Mittmann

284

selbst unverblümt nannte, stellte darin der lebensverneinenden christlichen Nächstenliebe einmal mehr die menschliche Schöpferkraft als höchste Tugend gegenüber, dem christlichen Gottesglauben bot er, auch hier an Nietzsche anknüpfend, als überlegenden Ersatz den diesseitigen Glauben an einen unvollendeten Schöpferwillen an, der durch den Menschen zur Gestaltung kommen sollte.

Das

politische Experiment: Die Gründung der Deutschen Kulturpartei

Kampf gegen die

etablierten Kirchen rief Horneffer am 20. Januar 1908 im Aneine öffentliche Versammlung in Leipzig zur Gründung einer politischen Vereinigung auf. Das Projekt wurde am 14. Februar unter dem Namen Deutsche Kulturpartei, Ortsgruppe Leipzig realisiert.58 Horneffers Programm war, abgesehen von einigen sozialpolitischen Forderungen, im Kern religiös-weltanschaulich ausgerichtet und wähnte den deutschen Staat unter dem Einfluss „überlebter mittelalterlicher Kulturideale" der durch eine grundlegende religiöse und kulturelle Erneuerung eingedämmt und überwunden werden sollte. Dieser Aufgabe sollte sich die neu gegründete Partei widmen. Dabei stellte Horneffer den Kampf gegen die Großkirchen in das Zentrum der politischen Anstrengungen. Ein weiteres Angriffsziel waren die zeitgenössischen Parteien, denen er vorhielt, religiös-kulturelle Fragen aus ihrer politischen Programmatik ausgeklammert zu haben. Die Rolle als Gegengewicht der Großkirchen und als religiöskultureller Erneuerer konnte aus der Sicht Horneffers vor diesem Hintergrund nur der Deutschen Kulturpartei zukommen. Diese Zielsetzung spiegelt sich auch im Parteiprogramm wider. Die dominierende Stellung der Kirche sollte durch die konsequente Trennung von Staat und Kirche, die Schaffung einer nationalen Volksakademie auf der Grundlage von Lehrfreiheit und durch die Einrichtung eines konfessionslosen Sittenunterrichts gebrochen werden. In weiteren Programmpunkten wurde die Befreiung des Individuums von allen Beschränkungen, die auf einer kirchlichen Bevormundung beruhten, postuliert. Abgeschafft werden sollten die kirchliche Schulaufsicht und der Religionszwang für Staatsbeamte und Offiziere. Zum Forderangskatalog gehörten ferner die bekenntnislose Eidesformel vor Gericht und beim Militär, eine Erleichterung des Kirchenaustritts und die Zulassung der Feuerbestattung. Das Ziel, so Horneffer unverhohlen, bestehe in der „Ausscheidung der Kirche aus dem deutschen Leben".60 Hauptträger der mit 80 bis 100 Mitgliedern eher kleinen Gruppierung waren bürgerliche IntelIm

schluss

an

,

und neue Moral und Religion ohne Gott. Vgl. die Rezension von Ricarda Huch, Das Christentum und Nietzsche, in: Die Neue Rundschau, (1916), Bd. 2, 1690-1698. Vgl. Ernst Horneffer, Die Kirche und die politischen Parteien. Aufruf zur Gründung einer Deutschen Kulturpartei. Anhang: Programm der Deutschen Kulturpartei, Leipzig 1908. Zur Gründungsversammlung in Leipzig vgl. Widemann, Ein Wort über Horneffer, in: Neues Sächsisches Kirchenblatt, Nr. 13, (1908), 197ff. In Karton 11 des Familiennachlasses findet sich ein Dankesbrief des Nationalliberalen Vereins Leipzig an Horneffer vom 11. Januar 1908 für Eintrittskarten zur

Versammlung.

Ebd., 51. Ebd., 56.

Religion nach dem

,

Tod Gottes

285

'

eher unbedeutend waren versprengte Anhänger in München, Nürnberg, Nordhausen und Frankfurt/Oder. Entgegen vielfacher Befürchtungen war die Deutsche Kulturpartei, die von ihren Gegnern als Nietzscheanische Splitterpartei wahrgenommen wurde, kurzlebig. Im Mai 1909 wohnten nur noch etwa 400 Personen, vorwiegend Studenten und Lehrer, einer Rede Horneffers zum Thema Der Kampf um den Religionsunterricht und die sächsischen Landtagswahlen bei, in der er jedoch mit keinem Wort die Wahlen ansprach. Politisch zur Bedeutungslosigkeit verdammt, beschränkte sich die Partei mehr und mehr auf die öffentliche Auseinandersetzung mit Kirchenvertretern über religiöse Fragen, bis sie 1911 durch Anschluss an den Antiultramontanen Reichsverband von der politischen Bühne verschwand.62 lektuelle

aus

Leipzig,

,

Der Ruf aus München: Horneffers Tätigkeit als Dozent des Kartells der freiheitlichen Vereine „Eine entscheidende Wendung" nahm Horneffers Leben Anfang 1909, als er vom Kartell der freiheitlichen Vereine als Dozent nach München berufen wurde. Der Umworbene folgte dem Wunsch der Kartellleitung, allerdings unter der Vorbedingung „vollkommeHorneffer verstand sich auch in seiner neuen Position ner persönlicher Lehrfreiheit" weiterhin als „streitbarer Kämpfer gegen die Kirche beider Konfessionen".64 Hatte er bis dato „rein persönlich als unabhängiger religionsphilosophischer Redner gewirkt", bot sich ihm im Zentrum der freigeistigen Bewegung nun die „Gelegenheit zu planmässiger religiös-ethischer Erziehungstätigkeit".65 Seine Zielgrappe waren Menschen, die sich von der Kirche entfremdet hatten, deren religiöses Interesse jedoch weiterhin wach blieb. An sie vor allem richteten sich die mit seinem Amtsantritt im Januar 1909 eingerichteten Sonntagsfeiern für freie Menschen. Die zunächst vierzehntägigen Veranstaltungen fanden von 1909 bis 1912 in den Monaten Januar bis Juni und Oktober bis Dezember nachmittags unter der Leitung von Horneffer statt. Einem kurzen einleitenden Musikstück des Münchener Tonhallen-Orchesters folgte eine halbstündige religionsphilosophische Ansprache, die wiederum musikalisch abgeschlossen wurde.66 Die Sonntagsfeiern entwickelten eine beachtliche Resonanz. Nachdem der kleine Saal der Tonhalle in München wegen des starken Andrangs zu klein geworden war, müsste man in den großen .

Vgl. (L.) Bergsträßer, Die neue Kulturpartei des Herrn Horneffer (siehe Anmerkung 21). Vgl. ebd., 28f.; Helga Fiechtner, Deutsche Kulturpartei (DtKPJ, 1908-1911, in: Dieter Fricke (Hg.), Die bürgerlichen Parteien in Deutschland. Handbuch der Geschichte der bürgerlichen Parteien und anderer bürgerlicher Interessensorganisationen vom Vormärz bis zum dahre 1945. 2 Bde, Bd. 1, Berlin 1968, 408f. Vgl. auch die Mitgliederwerbung in: Die Tat, Heft 2, Mai 1909, 118; Anonym, Dr. Horneffer und die Zwickauer Thesen, in: Leipziger Lehrerzeitung, 16, Nr. 20, (1909), 439ff.; Anmerkungen zu Horneffers Programmschrift der Deutschen Kulturpartei von E. Vogtherr,

in: Die Neue Zeit, 27, Bd. I, Nr. 25, 19. März 1909, 917f. Ernst Horneffer, Lebenslauf. Ders., Brief, Giessen, 17. April 1934, Universitätsarchiv Gießen, Nachlass Horneffer, Pra Phil 13. Ernst Horneffer, Lebenslauf, Zahlreiche Sonntags-Ansprachen Horneffers sind in der Zeitschrift Die Tat abgedruckt.

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286

Saal umziehen, wo Horneffer schon Anfang 1910 vor über tausend Hörern sprach, wobei auch diese Räumlichkeit bald nicht mehr ausreichte und zeitweise mehrere hundert Besucher abgewiesen werden mussten. Er sah sich vor diesem Hintergrund gezwungen, auch an den vortragsfreien Sonntagen im Münchener Arbeiterviertel Giesing Sonntagsfeiern durchzuführen.67 Nietzsche blieb für Horneffer im Zentrum seiner Aufmerksamkeit, der freireligiöse Dozent hielt es bei seinem Amtsantritt in München allerdings für nötig, sein Verhältnis zu dem umstrittenen Denker näher zu erläutern. In seiner Antrittsrede unterstrich er die grundlegende Bedeutung des Philosophen für seine geistige Entwicklung, betonte jedoch die Notwendigkeit seiner religiös-weltanschaulichen Weiterentwicklung.68 Auch hier galt Horneffers Ziel, das er im ersten Heft der von ihm zwischen 1909 und 1913 herausgegebenen Monatsschrift Die Tat formuliert hatte, bei der religiösen und kulturellen Erneuerung „an die religiösen und sittlichen Momente in Nietzsches Philosophie" anzuknüpfen, dessen „einseitigen und schroffen Individualismus" aber zu überwinden.69 In seinen Sonntagsansprachen kam er immer wieder in deutlicher Weise auf die herausragende Stellung Nietzsches zu sprechen. Stets wandte er sich in Anlehnung an sein Vorbild beharrlich gegen die christliche Demutslehre, zugunsten eines schöpferischen, tatkräftigen und heroischen religiösen Bekenntnisses.70 Von seiner unveränderten Nähe zu Nietzsche zeugen auch die öffentlichen Einzelvorträge zur religionsphilosophischen Belehrung, denen sich der Dozent in gesonderten Vereinen widmete. Auf Veranlassung des Jungdeutschen Kulturbundes arrangierte Horneffer zum Beispiel einen Vortragszyklus über den Philosophen.71 Auch im Deutschen Monistenbund, dessen Vorsitz er innehatte, hielt Horneffer Nietzsche als „großen Lehrmeister der Zukunft"72 lebendig. Herausragende Bedeutung erlangte er in München mit seinen Anstrengungen für den konfessionslosen Religionsunterricht. Dieser Unterricht für schulpflichtige Kinder, der als Ersatz für den Religionsunterricht in der Schule gedacht war und in dem sich Schüler versammelten, deren Eltern außerhalb der Gemeinde standen, war bis zu seinem Amtsantritt stillschweigend von der bayerischen Regierung geduldet worden. Horneffer suchte diesen Unterricht über einen regehechten Propagandafeldzug auf eine legitime Grundlage zu stellen. Dabei kam ihm die enorme Resonanz zugute. Besuchten am Ende des Schuljahres 1909 etwa 120 Kinder den konfessionslosen Unterricht, waren es Ende -

Vgl.: E.(rnst) H.(orneffer), Das Münchner Kartell,

in: Die Tat, Heft 10, Januar 1910, 609ff.; AnoKartell, in: ebd., Heft 1, April 1910, 62ff.; Ernst Horneffer, Aus dem Münchner Kartell, in: ebd., Heft 1, April 1911, 47. Vgl. ferner die Ankündigungen der „Sonntagsnym, Aus dem Münchener

feiern" im

General-Anzeiger der Münchener Neuesten Nachrichten

am

5. und 19.

April, 24.

Mai

1909, 14, 19 und 1 mit den Ankündigungen im General-Anzeiger vom 14. März 1910, 1. Vgl. Ders., Erziehung zur Tat, in: Die Tat, Heft 1, April 1909, 40f. Ders., Unsere Ziele, in: Die Tat, Heft 1, April 1909, 2. Vgl, ders., Nietzsche von Klinger, in: Die Tat, Heft 1, April 1909, 41 f. Vgl. Ders., Die Religion des Stolzes, in: Die Tat, Heft 6, September 1909, 299-311, Ders., Der vollkommene Mensch, in: ebd., Heft 12, 573 und Ders., Die Religion des Maßes, in: ebd., Band III, Heft 1, April 1911,7. Vgl. Ders., Das Münchener Kartell, 370. Ders., Monismus und Freiheit. Schlußrede auf dem ersten Monistenkongreß in Hamburg, in: Die Tat, Band III, Heft 8, November 1911, 366.

Religion nach dem Tod Gottes ,

'

287

Der Andrang war bald so groß, dass zusätzlich in zwei Vororten Unterricht Münchens gegeben wurde.74 Vor diesem Hintergrund erwartete Horneffer bereits im Juli 1910, die ganze Stadt mit einem Netz von freien ethischen Schulen umspannen zu können und die organisatorische Arbeit über München hinaus auszudehnen. Von ersten Gesprächen über eine Fusion mit Vertretern und Führern der freien Kulturbewegung aus Nord- und Süddeutschland, Österreich und der Schweiz wusste Horneffer im Juli 1910 zu berichten. Er war der Überzeugung, in absehbarer Zeit von München aus eine Mission zu entfalten, die im ganzen Land Einfluss gewinnen könnte und einer „Reformation des gesamten religiösen Lebens"75 gleichkommen sollte. Noch 1910 erklärte sich die bayerische Regierung zu einer Prüfung der Eingabe nach einer Unterrichtsgenehmigung für die Freireligiöse Gemeinde bereit. Der geforderte Lehrplan wurde von Horneffer ausgearbeitet und an die Regierung übergeben, die ihn am 24. Juli 1911 nach heftigen Auseinandersetzungen in der Kammer versuchsweise und widerruflich genehmigte.7 Der Magistrat stellte öffentliche Schulgebäude zur Verfügung und unterstützte den freireligiösen Unterricht mit finanziellen Zuwendungen. Wie aus dem Lehrplan hervorgeht, wurden die Kinder der verschiedenen Schulgattungen (Volks-, Fortbildungsund Mittelschulen) in drei Klassen unterrichtet. In der ersten Klasse der sechs- bis zehnjährigen Kinder stand die religiöse Belehrung im Hintergrund. Es ging hier um eine sittliche Unterweisung, die durch die Vermittlung und Auslegung einfacher Dichtungen, gewährleistet werden sollte. Die Schüler der zweiten Klasse konzentrierten sich bereits auf komplexeres moralisches Lehrmaterial. Textpassagen aus der Bibel und aus klassischer Literatur dienten der Illustration ethisch-moralischer Pflichten. Im Lehrplan der obersten Klasse der über Dreizehnjährigen trat das religiöse Moment in den Vordergrund. Ziel war die unbefangene Selbstentscheidung in religiösen Fragen durch die Bekanntschaft mit markanten Philosophen und Religionsstiftern.77 Dass das freireligiöse Leben in München unter der Leitung Horneffers boomte, dokumentiert nicht nur der wachsende Zulauf zu den Sonntagsfeiern, die seit Anfang 1913 jeden Sonntag stattfanden. Horneffer leitete sie nun im Wechsel mit dem freireligiösen Prediger Max Maurenbrecher, wobei weitere Pfarrer wie Emil Felden aus Bremen eingebunden wurden.78 Von 1910 bereits 206.

Vgl. Münchener Neueste Nachrichten, 64, Nr. 40, 25. Januar 1911,5. Vgl. E.(rnst) H.(omeffer), Aus dem Münchener Kartell, in: Die Tat, Heft 9, Dezember 1910, 537f; Anonym, Staatlich genehmigter .konfessionsloser Moralunterricht' in München, in: Der Dissident,

5, Nr. 8, November 1911,58. Nachwort zu: Ders., Stehen wir vor einem neuen Kulturkampf? Rede, gehalten in einer VolksVersammlung im Münchener Kindl-Keller am 14. März 1910, Leipzig 1910. Zu den Finanzproblemen vgl. ebd., 241ff. und Ders., Aus dem Münchener Kartell, in: Die Tat, Heft 9, Dezember 1910, 537ff. sowie Ders., ebd., Heft 1, April 1911, 44—48; 48., ferner Ders., Konfessionsloser Moralunterricht in München. Lehrplan nebst Begründung, in: ebd., Heft 5 und 6, August und September

1911,209-221,270-288.

Vgl. Ders., Aus dem Münchener Kartell, in: Die Tat, Heft 4, Juli 1910, 239. Vgl. Ders., Konfessionsloser Moralunterricht in München, 214ff. sowie Ders., Aus dem Münchener

Kartell, in: Die Tat, Heft 4, Juli 1910, 238-243. Vgl. Ders., Das religiöse Leben in München, in: Die Tat, Heft 12, März 1913, 701-704; 702 und die Ankündigung im General-Anzeiger der Münchner-Neuesten Nachrichten, Nr. 9, 5. Januar 1913,3.

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einem reichen religiösen Leben zeugen auch Aktivitäten Horneffers, wie die Organisierung von Sonnwendfeiern oder Jugendweihen am Ende jedes Schuljahres. Trotz des positiven Urteils der bayrischen Regierung geriet die Wetterführung des konfessionslosen Unterrichts immer wieder in Gefahr. Besonders der jährliche finanzielle Zuschuss durch den Magistrat war politisch umstritten und gefährdet, wie regelmäßige Protestversammlungen des Kartells und Horneffers Aufklärungsarbeit dokumentieren. Die Anziehungskraft des freireligiösen Dozenten wurde von kirchlichen Stellen mit großem Misstrauen beobachtet und das Wirken des ,,Nietzsche-Apostel[s]" scharf verurteilt. Eine Woche nach der ersten Sonntagsfeier ließ der Erzbischof von München einen Hirtenbrief von allen Kanzeln verlesen, in dem vor den Bestrebungen Horneffers gewarnt wurde.82 Im Laufe der Jahre kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen dem Kartell der freiheitlichen Vereine und der klerikalen Seite, die mehr und mehr Gegenveranstaltungen in München organisierte.83 Wie verbreitet die Befürchtungen über die freireligiösen Bestrebungen in München auf kirchlicher Seite waren, zeigt, dass sich der oberste Leiter der protestantischen Kirche in Bayern, der Oberkonsistorialpräsident, selbst zu einem Vortrag veranlasst sah.84 Nicht selten endeten Veranstaltungen des Münchener Kartells neben verbalen Streitigkeiten in wüsten Handgreiflichkeiten.85 Unabhängig von seiner Tätigkeit für das Kartell der freiheitlichen Vereine widmete sich Horneffer weiterhin auswärtiger Arbeit. Zu Beginn des Jahres 1911 ist er in Bonn. Hier hatte sich im Winter 1910 unter der Leitung des freireligiösen Dozenten Paul Flaskämper eine Freie Vereinigung gebildet, in der religiöse und kulturelle Fragen diskutiert und religionsphilosophische Vorträge und Sonntagsfeiern nach dem Münchener Vorbild organisiert wurden. Den ersten öffentlichen Beitrag steuerte Horneffer zum Thema Der Kampf um die Religion bei. Es folgten Vorträge unter dem Titel Der Kirchenaustritt und Die Zukunft der Religion, in denen er darauf hinwies, welche religiösen Werte bei Nietzsche zu finden sind. In Dresden hielt er Anfang 1911 auf Einladung der Ortsgruppe des -

Vgl. Ders., Die Jugendweihe, in: Die Tat, Heft 6, September 1912, 255-265. Vgl. die Ankündigung einer Protestveranstaltung des Kartells der freiheitlichen Vereine für den 10. Januar 1912 zum Thema Centrum, Sozialdemokratie und konfessionsloser Jugendunterricht, in der auch Horneffer eine Rede hielt, in: Münchener Neueste Nachrichten, 65, Nr. 11, 9. Januar 1912, 4. Horneffer hielt etwa am 1. September 1911 im Giesinger Restaurant Kriegerheim und am 2. September 1911 in der Bennobrauerei in Neuhausen Vorträge zum konfessionslosen Unterricht. Vgl. General-Anzeiger der Münchener Neuesten Nachrichten, Nr. 408, 1. September 1911, 3, Nr. 410, 2. September 1911, 1 und Nr. 414, 5. September 1911, 1. Ders., Beginnende Einsicht der liberalen Christen, in: Die Tat, Heft 10, Januar 1911, 597. Vgl. den Hinweis in der zweiten Ansprache Horneffers bei den Sonntagsfeiern unter dem Titel Pflicht und Freiheit, in: Die Tat, Heft 2, Mai 1909, 110. Vgl. den Aufruf zahlreicher Pfarrer der evangelischen Gesamtgemeinde München: Eine Ansprache an

die Gemeinde, in: Münchener Neueste Nachrichten, 63, Nr. 519, 6. November 1910, 4, die Er-

widerung in Nr. 523, 9. November 1910, 4 sowie im General-Anzeiger vom 10. Dezember 1910. Über kirchliche Gegenveranstaltungen berichtet: E.(rnst) H.(orneffer), Das Münchner Kartell, in:

Tat, Heft 10, Januar 1910, 609ff. und Heft 9, Dezember 1910, 537f. Vgl. Ders., Aus dem Münchner Kartell, in: Die Tat, Heft 10, Januar 1911, 598. Vgl. Anonym, Aus dem Münchener Kartell, in: Die Tat, Heft 1, April 1910, 62ff. Vgl. Paul Flaskämper, Freie Vereinigung Bonn, in: Die Tat, Heft 1, April 1911, 96ff.

Die

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Tod Gottes

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Deutschen Monistenbundes einen Doppelvortrag über seine religiösen Bestrebungen. Anlass war ein Vortragszyklus des protestantischen Pfarrers Gerhart Hubert, der Horneffer dort vor tausenden Zuhörern unter dem Titel Moderne Willensziele hinsichtlich seines Konzeptes vom ,Willen zur Form' neben Schopenhauers ,Willen zum Nichts', Nietzsches Willen zur Macht' und dem Willen zum Glauben' endlich Anerkennung als eigenständiger Philosoph brachte.88 1914 entzog die bayerische Schulbehörde der Freireligiösen Gemeinde die Unterrichtsgenehmigung und schloss das Institut. Horneffer wurde durch ein Gerichtsurteil zur Beendigung des zunächst heimlich weiter geführten Unterrichts gezwungen. Über die kurz darauf erschienenen Religiöse Reden unter dem Titel Am Webstuhl der Zeit, die der Verfasser als „Fracht"89 seiner Tätigkeit in München sah, versuchte er seine Reformanliegen weiter zu verbreiten. Obwohl er die guten Rahmenbedingungen in München hervorhob, hatte sich seine Vorstellung, einen angemessenen Organisationsrahmen für seine religiösen Ideale zu finden, nicht erfüllt. Lange vor dem Ersten Weltkrieg wandte er sich anderen Formen religiöser Vergemeinschaftung zu. ,

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Öffentlichkeitsarbeit im Geheimbund: Horneffer als Freimaurer Auf der Suche nach einer zukunftsträchtigen, überkonfessionellen weltanschaulichen Gemeinschaft schloss sich Horneffer im Jahre 1911 den Freimaurern an. Glaubt man seinem Bruder August, so war der unmittelbare Anlass ein kurzer Artikel über die Freimaurerei, den der Oberstabsarzt Otto Philipp Neumann der Zeitschrift Die Tat im Jahre 1910 zur Veröffentlichung zukommen ließ. Die anfängliche Ablehnung des Logenwesens wich bald regem Interesse. Ernst Horneffer wurde noch vor dem Eintritt seines Bruders August am 19. März 1911 Mitglied der Münchener Loge Zum aufgehenden Licht an der Isar. Grand für den Sinneswandel war zunächst bloßes wissenschaftliches Interesse an den symbolischen Formen und rituellen Handlungen der Freimaurer. So zog Horneffer in Erwägung, aus diesen für die eigenen religiösen Reformpläne praktischen Nutzen zu ziehen. Bald konnte Diedrich Bischoff, seit 1907 Vorsitzender des Vereins deutscher Freimaurer, die Brüder Horneffer zu aktiver Mitwirkung an kulturellen Aufgaben seiner Organisation gewinnen. Sie konzentrierten sich auf die wirkungsvolle Vertretung des maurerischen Gedankens in der Öffentlichkeit. Bald wurden sie zu Vorstandssitzungen geladen und auf Vortragsreisen geschickt, in deren Rahmen sie in einer Vielzahl von Logen aller Lehrarten vorstellig wurden. Ihr Vorschlag öffentlicher freimaurerischer Kultfeiern erregte allgemeine Aufmerksamkeit, wurde aber wie ihr Gerhard Hubert, Moderne Willensziele. Der Wille zum Nichts: Arthur Schopenhauer; Der Wille zur Macht: Friedrich Nietzsche; Der Wille zur Form: Ernst Horneffer; Der Wille zum Glauben: Hamlet, Leipzig 1911. In der zweiten Auflage von 1919 ist der Abschnitt über Horneffer weggefallen. Vgl. E.(rnst) H.(orneffer), Aus dem Münchner Kartell, in: Die Tat, Heft 1, April 1911, 47f. Ders., Am Webstuhl der Zeit. Religiöse Reden, Leipzig 1914, III. Offenbar irrte August Horneffer hier. Der Artikel erschien bereits im November 1909. Vgl. Otto Philipp Neumann, Die Freimaurerei der Gegenwart, in: Die Tat, Heft 8, November 1909, 464-468. Vgl. August Horneffer, Aus meinem Freimaurerleben. Erfahrungen und Winke, Hamburg 1957, 14ff, 220f

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Plan für den Bau eines öffentlichen Freimaurertempels, nicht verwirklicht. Horneffer erblickte in der freimaurerischen Organisationsform ein geeignetes Mittel, dem modernen Individualismus sein Anrecht auf persönliche und autonome Religiosität zuzuerkennen, gleichzeitig aber diese Religiosität in einem höheren, übergeordneten und alles verbindenden Lebensbund zu verankern. Auf der Grundlage einer festen, unverrückbaren Symbolik und dem Logenritual könnten sich freie, innerlich autonome und selbstverantwortliche Menschen verbinden. Die Freimaurerei verstand Horneffer dabei nicht als eine Religion. Vielmehr entdeckte er darin ein organisatorisches Gerüst, das jedes seiner Glieder in seiner persönlichen Religiosität unterstützt, fördert und aneinander bindet. „Freimaurerei", so präzisierte er, „macht religiös, aber ist nicht selbst religiös".93 Beide Horneffers hielten in der Frühphase ihres freimaurerischen Engagements eine Klärung ihres Verhältnisses zu Nietzsche für dringend erforderlich, da ihre Anlehnung an den Philosophen Unstimmigkeiten über ihre Rolle innerhalb der Logen ausgelöst hatten.94 Ernst Horneffer grenzte sich zu diesem Zeitpunkt deutlicher als zuvor von Nietzsche ab, indem er seine Nähe zu dem Denker nun auf eine Art, Jugendliche Entwicklungsstufe" zurückzuführen suchte. Bei aller formalen Distanz wies er jedoch auf die wichtige Bedeutung seiner Begegnung mit dem Philosophen hin. Mehr noch, forderte Horneffer die Freimaurer auf, sich nicht modernen geistigen Errungenschaften misstrauisch zu verschließen, sondern diese „zu einer neuen Stütze ihrer unvergänglichen Wahrheit"95 zu verwerten. So ist es kaum verwunderlich, dass Horneffer auch in den Logenversammlungen Vorträge über Nietzsche gehalten hat.96 Ab 1916 gab Ernst Horneffer zusammen mit seinem Bruder die Monatsschrift Der unsichtbare Tempel herDas mit dem Verein deutscher Freimaurer abgestimmte öffentliche Zeitschrifaus. tenprojekt richtete sich auch an Nichtmaurer und war so ein Novum unter den freimaurerischen Blättern. Vor dem Hintergrund des gesteckten Zieles, die Freimaurerei durch das Zeitschriftenprojekt philosophisch und religiös-sittlich zu verankern, blieb es Ernst Horneffers Anliegen, Nietzsches Bedeutung zu betonen.98 Obwohl die Zeitschrift nach fünf Jahren zunächst als Deutscher Pfeiler fortgesetzt wurde, scheiterte der Versuch einer öffentlich-freimaurerischen Zeitschrift an der zu geringen Resonanz.99

Vgl. ebd., 83ff, 179, 222. Auch Ernst Horneffer, Die Schicksalsstunde der deutschen FreimaureManuskript für Brr. Freimaurer verfaßt. Mit Anhang: Plan einer maurerischen Zeitschrift für die Öffentlichkeit, München o.J. (um 1915), 28. Ders., Die Freimaurerei und die religiöse Krisis der Gegenwart, in: Die Tat, 4. Jg., Heft 7 und 8, Oktober und November 1912, 307-334 und 383^101, 400. Vgl. Ders., Die Freimaurerei und die Volksseele, Lennep 1912. Vgl. Ders., Die Schicksalsstunde der deutschen Freimaurerei, 22, 37f. Auch August Horneffer, Aus rei. Als

meinem

Freimaurerleben, 83 f. Ernst Horneffer, Die Schicksalsstunde der deutschen Freimaurerei, 38. Vgl. August Horneffer, Aus meinem Freimaurerleben, 47. Der unsichtbare Tempel. Monatsschrift zur Sammlung der Geister, hg. von Ernst und August Horneffer, München, Jg. 1, 1916-Jg. 5, 1920. Vgl. Ernst Horneffers Beitrag Held und Volk, in: Der unsichtbare Tempel, 1. Jg. 1916, 14ff. Vgl. August Horneffer, Aus meinem Freimaurerleben, 120f.

Religion nach dem Tod Gottes

291

'

,

Horneffers Rückzug in die Theorie Horneffers Absicht, sich „von der praktischen Tätigkeit zurückzuziehen" und sich „der rein wissenschaftlichen Arbeit, besonders nach der Seite der erkenntnistheoretischen Grundlage der religiösen Ideen und Probleme zu widmen" wurde durch den Ausbrach des Ersten Weltkrieges und durch seine Einberufung zum bayerischen Landsturm verzögert. Nach seiner Ausbildung leistete er als Vertrauensmann und Redner für den vaterländischen Unterricht' Aufklärungsarbeit an der Heimatfront und widmete sich der Soldatenerziehung. 1918 habilitierte er sich in Gießen und wirkte dort an der Hessischen Ludwigs-Universität als Professor der Philosophie. In seinen Nachkriegsschriften bemühte er sich um eine „Deutung des deutschen Schicksals"101. Dabei forderte er dazu auf, Nietzsches Vorstellungen auch für die Politik nutzbar zu machen. Seine im Frühjahr 1932 gegründete Partei Neue Mitte scheiterte schon nach wenigen Wochen. In seiner Eigenschaft als Professor der Philosophie hielt er noch im Sommersemester 1934 eine Vorlesung über Nietzsche, der unverändert im Zentrum seines Interesses blieb. 101 Im selben Jahr erschien seine Schrift Friedrich Nietzsche als Vorbote der Gegenwart, in der er den Philosophen ganz im Sinne des Nationalsozialismus zu deuten suchte. Er kam zu der Erkenntnis, die „Stunde für die geschichtliche Wirkung Nietzsches" sei „angebrochen"104. Dabei trieb er frühere Ansätze und Überlegungen zu einer ,Deutschen Religion' voran.105 Die religiösen und sittlichen Grundlagen Nietzsches ließen sich aus seiner Perspektive nur im ,Volkstum' realisieren. Erst im ,Volk', so argumentierte Horneffer, sei die Vergemeinschaftung der freien, persönlichen religiösen Selbsterlösung erreicht. An seiner Vision einer „christlichen Freikirche", in der „ausser der Bibel auch die grossen Wahrheiten und Weisheiten eines Sokrates, Piaton und Aristoteles, Spinoza, Goethe, Kant und Nietzsche von der Kanzel herab erklingen dürften"106, hielt er beharrlich fest. 1936 versuchte Horneffer in Das Buch vom wahren Leben aus der Philosophiegeschichte eine für ein heroisches Leben notwendigen Ertrag zu erzielen. Er wiederholte darin, in Anknüpfung an Nietzsches ,Werde, der du bist', seine Forderung an den Menschen, all seine Kräfte und Möglichkeiten selbstschöpferisch zu einer tatkräftigen und diesseitigen „Religion des Lebens" zu entfalten.107 Trotz der unbestreitbaren Affinitäten zum Nationalsozialismus entzog ihm das Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung zum Ende des Sommersemesters 1937 den Lehrauftrag an der Universität.108 Im Mai 1942 wurde ihm wegen seiner freimaure,

Ernst Horneffer, Lebenslauf. Ders., Erkenntnis. Die Tragödie des deutschen Volkes, Kassel

Vgl. ebd., 13,114. Vgl. Martha Zapata Galindo, Triumph

des Willens

zur

1919, VI.

Macht. Zur

Nietzsche-Rezeption

im NS-

Staat, Hamburg 1995, Tabelle 7, 212. Ernst Horneffer, Nietzsche als Vorbote der Gegenwart, Düsseldorf 1934, 46. Vgl. Ders., Religion und Deutschtum, in: Deutscher Frühling, Heft 1/2, Leipzig 1908; Ders., Der Deutsche und die Religion. Eine Ergänzung und Entgegnung, in: Die 7b?, Bd. 2, Nr. 7, 1910, 379-394. Ders., Brief, Giessen, den 1. Mai 1934, Universitätsarchiv Gießen Nachlass Horneffer, Pra Phil 13. Vgl. Ders., Das Buch vom wahren Leben, Düsseldorf 1936, 74, 76, 411. Vgl. Personal-Akte Horneffer, Universitätsarchiv Gießen, Nachlass Horneffer, Pra Phil 13.

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rischen Vergangenheit jede schriftliche Betätigung untersagt. Erst nach dem Krieg nahm Horneffer seine Verbindung zur Freimaurerei wieder auf und gehörte bis zu seinem Tod der Iserlohner Ortsloge Zur deutschen Redlichkeit an. In einer seiner letzten Schriften versuchte er sich 1951 an der Entwicklung einer praktischen Ethik, die stark an Nietzsche angelehnt war.109 Darin konstatierte er, Nietzsche sei von den Nationalsozialisten zu Umecht instrumentalisiert worden, klammerte dabei aber seine eigene Rolle bei der Faschisierung Nietzsches völlig aus.110 Horneffer starb am 5. September 1954 in Iserlohn, bevor er sein geplantes Hauptwerk, die Philosophie an der Zeitenwende vollenden konnte.

Resümee ,Gott ist tot,

es lebe die Religion', dieser Grundsatz war der Ausgangspunkt für die der Programme Reformierer, die in Folge der religiös-weltanschaulichen Aufbrachdie um Jahrhundertwende in Deutschland den Impuls Nietzsches aufnahmen stimmung und weiter trieben Der ,Antichrist', der seine Botschaften nicht selten wie Versatzstücke eines neuen Evangeliums zu formulieren wüsste, hatte angedeutet, dass aus dem Tod des christlichen Gottes nicht der völlige Verlust religiöser Substanz folgen müsse. So wurde Nietzsches Diktum von der Kulturfeindschaft des Christentums mit seiner Forderung nach der Schaffung neuer zeitgemäßer Werte verknüpft. Die christliche ,Götterdämmerung' öffnete den Horizont zu einer grundlegenden religiösen Neuorientierung. Da man die Kulturunfähigkeit oder wie Horneffer schrieb, „Kulturarmut" ' des Christentums im Sinne Nietzsches vor allem in den unzeitgemäßen lebensfeindlichen Moral- und Wertvorstellungen erblickte, stand die Forderung nach einer Umwertung' im Sinne einer Orientierung an den schöpferischen Idealen der Nietzscheschen Lebensphilosophie im Mittelpunkt der Reformvorhaben. Für Horneffer und andere religiöse Reformierer galt es, das überkommene Sündenbewusstsein und die weltflüchtige Lebensverneinung des geschichtlichen Christentums durch eine grundsätzlich heroische, jenseits der tradierten Werte angesiedelte, schöpferische und lebensbejahende Einstellung zum Dasein zu ersetzen. Obwohl Nietzsche vereinzelt auch den Weg auf die Kirchenkanzeln fand und sich dort mit christlichen Glaubensinhalten vermischte oder diese verdrängte112, war sein Impuls innerhalb außerkirchlicher ,vagierender' Religiosität wirksamer. Hier stießen seine Formel vom ,Tod Gottes' und seine Forderung nach einer ,Umwertung' der christlichen Werte auf fruchtbaren Boden. Horneffers religiöser Aufbrach in die Moderne, seine Vision einer Individualisierung des Glaubens, die er mit vielen religiösen Reformierern teilte, resultierte aus der

1

Ernst Horneffer, Angewandte Ethik. Eine Pflichtenlehre der Gegenwart, Bielefeld 1951. Zur Rolle Horneffers im Nationalsozialismus vgl. Jörg-Peter Jatho: Gerne beugen sich die Männer des Geistes vor den Männern der Macht". Ernst Horneffer: Brief, Giessen, 1. Mai 1934, Universitätsarchiv Gießen Nachlass Horneffer, Pra Phil 13. Dafür steht vor allem der Bremer Pastor Albert Kalthoff (1850-1906), der Nietzsche über seine ,Zarathustrapredigten' in der Kirche verbreitete. „

111

112

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Auseinandersetzung mit Nietzsches Forderung nach radikaler persönlicher Selbstentfaltung. Nietzsches Übermensch, der als irdischer Nachfolger des toten christlichen Gottes konzipiert war, öffnete die Perspektive auf eine Diesseitsreligion, in der die autonome Vervollkommnung des Individuums zur Aufgabe einer innerweltlichen Heilsgeschichte heran wuchs.

Anikó Juhász / Dezsö Csejtei

Überlegungen zu Nietzsches Todesverständnis

folgenden wird versucht zu analysieren, wie Nietzsches Todesauffassung im Raheiner philosophischen Thanatologie betrachtet werden kann. Nietzsches Todesauffassung bildet den organischen Bestandteil eines, im ganzen unausführbaren, Programms, dessen Realisierung er sein ganzes Leben gewidmet hat. Dieses Programm war die ,Umwertung aller Werte'. Nietzsche gilt als ein Denker der Moderne, der bewusst erlebt hat, dass die Wertordnung, die die europäische Kultur wesentlich geprägt hat, unwiderruflich ihre Gültigkeit verloren hat. Seine Sentenz, die diese Erfahrung am tiefsten ausdrückt, der Denkspruch ,Gott ist tot', verfügt auch über einen ,panthanatologischen' Sinn. Indem einerseits der traditionelle Gottesbegriff als eine die europäische Weltordnung umspannende Grundlage betrachtet werden kann und andererseits eben dieser Gott getötet worden ist, folgt daraus, dass eigentlich ,alles tot ist', in dessen Zeichen der europäische Mensch bis zu dieser Zeit sein Leben angebahnt hat. Dadurch, Im

men

dass Gott tot ist, ist auch der Sinn, der bisher die verschiedenen, auf zahlreiche Weisen artikulierten Lebensäußerungen zusammengehalten hat, entflohen. Wenn aber nach Gottes Tod alles tot ist, was das Leben des europäischen Menschen umschließt, dann bedeutet das unter anderem, dass Ansehen und Monumentalität der tradierten Wertordnung im Grunde genommen nur ,Anscheine' sind, die nunmehr ausschließlich das Gewicht und das Selbstbewegen der Tradition in der Form der .Angewöhnung' im Leben halten. Die Lebendigkeit der Bestandteile verschleiert nur, dass das Ganze im traditionellen Sinne in den Zustand des totalen Sinnverlusts geraten ist. Demzufolge mündet der Prozess der Entwertung der herkömmlichen Wertordnung in einen alles umfassenden, konsequenten Nihilismus, der die Möglichkeit des Fortbestands des menschlichen Lebens überflüssig macht. Es wäre aber eine vulgäre Deutung, die Umwertung so aufzufassen wie das Umwen-

den eines Handschuhs, als ob Gut und Böse einfach ein umgekehrtes Vorzeichen besitwürden. Die Umwertung bedeutet nicht nur die Umkehrang der bestimmten Wert-

zen

Volker Gerhardt stellt das Problem an die Spitze von Nietzsches Lebenswerk: „Als erste Vision ist die ,Umwertung der Werte' zu nennen, denn sie bestimmt als große Hoffnung Nietzsches ganzes Werk" (Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche, München 1992, 153).

Anika Juhász IDezsö Csejtei

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gehalte in ihren Gegensatz, sondern zugleich das Aufheben der ,Rahmen und Formen', in denen sich alle vorherigen Bewertungen vollzogen haben. Daher postuliert Nietzsche mit Recht eine Wertordnung, die jenseits des Guten und Bösen ist. Er hält sich selbst allerdings ebensoviel für den, der den Anbrach der Epoche des Nihilismus ,ankündigt' und dessen Entfaltung mit allen Mitteln gefordert', wie auch für den, der den Nihilismus bekämpft. Diese Doppelheit bestimmt auch seine Todesauffassung. Einerseits kann man in seinem Lebenswerk beobachten, wie schonungslos er einen Kampf gegen die sogenannten, mit Walter Schulz gesagt: ,metaphysischen Todesauffassungen'2 führte, andererseits will er, ein dieser Tradition scharf gegenüberstehendes Todesverständnis herausarbeiten. Man kann aber nicht behaupten, dass es sich um ein ganz neues Verständnis handelt, da es auf Vorarbeiten und früheren Voraussetzungen basiert, letzten Endes auf eine bestimmte Metaphysik hinausläuft. In der Geschichte europäischer Kultur wurzelt die metaphysische Auffassung des Todes zum einen in griechischer Philosophie, zum anderen in christlicher Religion. Im Mittelpunkt zeigt sich je ein vorbildlicher Tod: der von Sokrates und der von Jesus.3 Nietzsche wollte vor allem diese paradigmatischen Todesarten bekämpfen und diskreditieren. Die Problematik des Todes von Sokrates tritt schon in Nietzsches erstem bedeutungsvollen Werk, der Geburt der Tragödie, hervor. Er selbst hält das Buch in der Göt-

mit Recht für das erste des Programms der Umwertung.4 An dieser Stelle weisen wir darauf hin, dass sich nach Nietzsche ein Alter ego hinter beiden Todesarten versteckt. Diese Alter ego haben viel dafür getan, den Todesarten ihren ursprünglichen Sinn zu entziehen. So wurden beide Alter ego zu Begründern der metaphysischen Tradition: im Falle von Sokrates war es Plato, in dem von Jesus war es Paulus. Nietzsche thematisiert diesen Vorgang bei Sokrates folgendermaßen: ,jDer sterbende Sokrates wurde das neue, noch nie sonst geschaute Ideal der edlen griechischen Jugend: vor allen hat sich der typische hellenische Jüngling, Plato, mit aller inbrünstigen Hingebung seiner Schwärmerseele vor diesem Bilde niedergeworfen" (KGW, GT, III 1, 87; Hervorheb. D.C./A.J.) Wenn wir Nietzsches Sokrates-Bild im Hinblick auf den Tod interpretieren wollen, muss auch Plato als ein stummer, aber sich bedrohend erhöhender Hintergrund in die Interpretation einbezogen werden. Obwohl Nietzsches Verhältnis zu Sokrates ablehnend erscheint, könnte eine eingehende Analyse die ,feine' Dialektik, die die Sokrates-Gestalt umgibt, erschließen. Den Ausgangspunkt bildet folgende Behauptung. Sokrates trag mit seinem Auftritt in höherem Maße als alle anderen zur Vernichtung der griechischen Tragödie bei. Nietzsches scharfe Abneigung gegen Sokrates wird von hier aus deutlich, obwohl auch die Tragödie selbst als ein Mittel, das den Tod neutralisiert und zum Ertragen der Schrecken des Daseins dient, aufgefasst werden könnte. Die tiefste griechische Lebenserfahrung liegt nach Nietzsche in den Worten des weisen Silens, Begleiter von Dionysos, der dem ster-

zendämmerung

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3

4

Walter Schulz, Zum Problem des Todes, in: Der Tod in der Moderne, hg. von Hans Ebeling, Meisenheim 1979, 169. Werner Jaeger, sich auf Erasmus beziehend, zieht eine enge Paralelle zwischen Sokrates und Jesus (Werner Jaeger, Paideia II, Oxford 1947, 13). die ,Geburt der Tragödie' war meine erste Umwerthung aller Werthe" (KGW, GD, VI 3, 154). „...

Überlegungen zu Nietzsches Todesverständnis

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König Midas mitteilt: „Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nicht zu sein, nichts zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich bald zu sterben" (ebd., 31). Diesen ,Pessimismus' vermag nur eine Kraft zu neutralisieren: die Kunst. Die Tragödie nun versucht das Individuum durch die gemeinsame Kraft des Traumes und Rausches von der erlahmenden Auswirkung jener grauenhaften Erkenntnis, dass das Dasein letztendlich sinnlos ist, zu befreien. Und sie erreicht dies durch das Übertreten des principium individuationis, das zugleich das metaphysische Prinzip des Todes und der Vergänglichkeit ist. Die Tragödie lässt es zu der Wiedervereinigung mit

benden

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dem Ursein, dem Ur-Einen führen. Ausschließlich die Kunst vermag dem Dasein Sinn zu geben, „denn nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt" (ebd., 43). Die Kunst ist das einzige und alleinige Mittel zur Erlösung von der Macht des Todes. Nur durch die Kunst ist der Mensch fähig, sich selbst zu überschreiten, um seine mit der Zeit verbundene Existenz zu bewältigen. Die Kunst ist das einzige Heilmittel der individuellen Todeserfahrang gegenüber. Sokrates schlägt in diese metaphysische Schutzhülle der Kunst eine Bresche, dadurch, dass er ein neues Prinzip in die Welt einführt, das des rationalen wissenschaftlichen Erkennens. Es versteht sich, dass diese radikale Umwandlung auch im Verhältnis zum Tod tiefe Veränderungen impliziert. Vom thanatologischen Standpunkt aus lässt sich feststellen, dass Nietzsche die Trennungslinie, die das .mythische' und das .rationale' Todesverständnis scheidet, in Sokrates erblickt. Von diesem Moment an zieht eine neue Geistigkeit in die Welt ein und eine Form europäischer ,metaphysischer Todesauffassung' wird geboren. Im Zusammenhang mit Sokrates stellt Nietzsche fest: „so erscheint er uns als der Erste, der an der Hand jenes Instinctes der Wissenschaft nicht nur leben, sondern auch sterben konnte: und deshalb ist das Bild des sterbenden was bei weitem mehr ist Sokrates als des durch Wissen und Gründe der Todesfurcht enthobenen Menschen das Wappenschild, das über dem Eingangsthor der Wissenschaft einen Jeden an deren Bestimmung erinnert, nämlich das Dasein als begreiflich und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen" (ebd., 95). Nietzsches Standpunkt ist Sokrates gegenüber ablehnend, doch nicht durch und durch. Zuerst muss die kritische Seite des Verhältnisses untersucht werden. Warum hält er die Befreiung von der Todesfurcht durch das Wissen und die Logik, die durch den Sokratismus zum Vorschein kamen, für unannehmbar? Wahrscheinlich, weil Plato an diesem Punkt unbemerkt hinter Sokrates tritt. Betrachten wir .das Wissen und die Logik' so, dann stellt sich die Frage, um was für ein Wissen es sich handelt und was dieses Wissen enthält. Die Antwort ist bekannt: es handelt sich um das Wissen über die .Idee', das tatsächlich Seiende, das ontos on. Dieses Wissen ist während des irdischen Lebens unerreichbar, und als das höchste Hindernis gelten das Dasein und der menschliche Körper. Um zum letzten Wissen zu gelangen, müssen wir die sensitive Welt wie auch unseren Körper verlassen und überschreiten. Wenn Sokrates sagt: „Alle, die sich in rechter Weise mit Philosophie befassen, haben es im Grunde auf nichts anderes abgesehen als darauf, zu sterben und tot zu sein"5, kann man darin nicht nur das subjektive Pathos, das sich dem Tod unerschrocken widersetzt, bemerken, sondern auch, dass der Philosoph, der sich dem sicheren und endgültigen Wissen verpflichtet hat, den Tod gern

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5

Piatons Phaidon,

(64a).

In:

Piaton, Sämtliche Dialoge, Bd. 2, Leipzig 1922, 38.

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annimmt, weil er nur auf diese Weise die vorher erwähnte Art des Wissens besitzen kann. Tod und Wissen setzen also einander gegenseitig voraus. Der irdische Tod erscheint dem Philosophen als Erlösung. Die nicht zu unterschätzende ontologische De-

ckung von Wissen und Tod gründet die Annahme einer anderen, realen Welt, die einer massiven Metaphysik.6 Aus Sokrates' Auftritt folgt, dass die europäische Todesproblematik vom Gebiet des Mythos in das rationaler Metaphysik geraten ist. Auf die Frage, aus welchen Gründen Sokrates zu dieser Form metaphysischer Bejahung des Todes gelangte, gab Nietzsche die Antwort erst später, im Aphorismus 340 der Fröhlichen Wissenschaft, dessen Titel lautet: Der sterbende Sokrates. Wh zitieren einen Auszug: „Ich bewundere die Tapferkeit und Weisheit des Sokrates in Allem, was und nicht sagte. Dieser spöttische und verliebte Unhold und Rattenfäner that, sagte ger Athens [...] war nicht nur der weiseste Schwätzer, den es gegeben hat: er war ebenso groß im Schweigen. Ich wollte, er wäre auch im letzten Augenblick des Lebens schweigsam gewesen, vielleicht gehörte er dann in eine noch höhere Ordnung der Geister. War es nun der Tod oder das Gift oder die Frömmigkeit oder die Bosheit irgend Etwas löste ihm in jenem Augenblick die Zunge und er sagte: ,Oh Kriton, ich bin dem Asklepios einen Hahn schuldig'. Dieses lächerliche und furchtbare ,letzte -

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Wort' heißt für Den, der Ohren hat: ,0h Kriton, das Leben ist eine KrankheitV Ist es möglich! Ein Mann, wie er, der heiter und vor Aller Augen wie ein Soldat gelebt hat, war Pessimist! Er hatte eben nur eine gute Miene zum Leben gemacht und zeitlebens sein letztes Urtheil, sein innerstes Gefühl versteckt! Sokrates, Sokrates hat am Leben gelittenl" (KGW, FW, V 2, 249f). Nietzsches ironischer Lobsprach hilft, die Ahnung, die schon in der Geburt der Tragödie erschien, zu beweisen: Sokrates, der so unerschrocken sich selbst die Todesfurcht austrieb, vermochte nicht nur als Besitzer des wahren Wissens leicht das Leben hinter sich zu lassen, sondern auch, weil er ein geborener Pessimist war. Nietzsche ahnt im letzten Satz des Sokrates dessen Geheimnis: ,die Lebensfeindlichkeit'. Hier spricht nicht der Weise, der den Tod souverän beherrschen konnte, sondern der resignierte, ,dekadente' Mensch, der auch durch seine Todesauffassung nicht nur die damaligen Athener Jünglinge, sondern auch die ganze europäische Kultur verderben ließ. Darum bedarf diese Kultur einer Umwertung: Die neue Kultur muss durch den Tod des sokratischen Menschen (KGW, III 3, 239) zustande kommen, weil diese neue Kultur auch dem Tod gegenüber ein radikal ,antisokratisches' Verhältnis ausbilden soll. Das Bild wäre nicht vollständig ohne den Hinweis, dass, wie Nietzsche meint, auch der Sokratismus selbst dazu beitrug, die sokratische (also die metaphysische) Todesauffassung zu zerstören. Dies ist jener Bruchteil der Wahrheit, den Nietzsche aus dem rationalen Sokratismus anzunehmen bereit ist. Es handelt sich darum, dass die wissenschaftliche Rationalität in die Auflösung ihres Selbst mündet, indem sie auf konsequente Weise bis an die Grenze des Prinzips des reinen Erkennens gelangt dort verwandelt sie sich und wird Kunst: „Dieser erhabene metaphysische Wahn ist als Instinct der Wissenschaft beigegeben und führt sie immer und immer wieder zu ihren Grenzen, an de-

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6

Vgl. Hans Michael Baumgartner, Die Unzerstörbarkeit der Seele. Piatos Argumente wider endgültigen Tod des Menschen im Dialog „Phaidon ", in: Tod Ende oder Vollendung?, hg. Norbert A. Luvten, Freiburg, München 1980, 87. -

den von

Überlegungen zu Nietzsches Todesverständnis

299

sie in Kunst umschlagen muß" (KGW, GT, III 1, 95). So würde der konsequente Sokratismus dorthin zurückkehren, von wo er ausging: zum ,poetischen' Ergreifen der Welt. Dies würde es aber auch ermöglichen, jenes spekulativ-metaphysische Verhältnis zum Tod zu vernichten. Den anderen Pfeiler europäischer metaphysischer Todesauffassung bildet die christliche Ideenwelt. Es lohnt sich, Nietzsches Kritik am Christentum Schritt für Schritt nachzuvollziehen. Das christliche Lehrgebäude, wie auch das Todesverständnis der Griechen, kann auf den Tod eines konkreten Menschen, nämlich auf den von Jesus zurückgeführt werden. In der Deutung von Jesus' Tod strebt Nietzsche danach, jede theologische Theorie und jede Transzendenz, die diesen Tod umgibt, zu entfernen, den Tod rein immanent zu betrachten als Konsequenz des Lebens selbst. Der Kreuztod ist in sich selbst nicht paradox, sondern die Vollendung einer Lehre. Diese Lehre besteht darin, wie man authentisch leben kann. Nietzsche schreibt in einer späteren Aufzeichnung: „wieder hat ja der Tod Christi keinen Sinn als das stärkste Vorbild und die stärkste Erprobung seiner Lehre zu sein" und „daß eben ein solcher Tod selber der höchste Sieg über die ,Welt' war (über die Gefühle von Feindschaft, Rache usw.)" (KGW, NF, VIII 2, 418f.). Der Kreuztod überhöht nicht das Leben, er ist das natürliche Korollar und der organische Schlussstein der Einheit von Leben und Lehre. Diese Lebenspraxis ist durchsichtig und transparent. Sie steht im Dienst des Augenblicks in dem Maße, wie sie den Tod als eine Schlußperspektive aus dem Leben zu vertreiben vermag. Das ist eine Lebenspraxis, die die Unmittelbarkeit auf das höchste Maß erweitert. Es ist sicher, dass man dem Tod begegnet, aber daraus folgt nicht, dass der Tod einen finsteren Schatten auf das Leben wirft, im Gegenteil, er heiligt jeden Augenblick des Lebens: „Der ganze Begriff des natürlichen Todes fehlt im Evangelium: der Tod ist keine Brücke, kein Übergang, er fehlt, weil einer ganz andern bloß scheinbaren, bloß zu Zeichen nützlichen Welt zugehörig. Die .Todesstunde' ist kein christlicher Begriff- die .Stande', die Zeit, das physische Leben und seine Krisen sind gar nicht vorhanden für den Lehrer der ,frohen Botschaft' [...] Das ,Reich Gottes' ist nichts, das man erwartet; es hat kein Gestern und kein Übermorgen, es kommt nicht in ,tausend Jahren' es ist eine Erfahrung an einem Herzen; es ist überall da, es ist nirgends da" (KGW, AC, VI 3, 205). Hier handelt es sich nicht mehr um die idealisierte Grenzsitoation, in der der Tod in eine vollendete Lebenspraxis absorbiert wird, sondern darum, dass sich das Ende in ein ,gewolltes Ziel' verwandelt, in dem eine Art von ,Lebenspessimismus' vorhanden ist. In dieser Hinsicht stellt Nietzsche Jesus mit Sokrates in eine Parallele. Beide bejahen den Tod, und das sei das unverkennbare Merkmal der Dekadenz. Nach Nietzsches Interpretation beinhaltet Jesus' Leben als ein vorbildliches auch den vorbildlichen Tod, der die höchste ,Zeugenschaft' dafür ist, wie man vorbildlich leben kann. Dieser Tod war auch für die Jünger, die Jesus am nächsten standen, eine Belastung, ein brutaler Kreuztod, der als eine unerklärbare Absurdität auf Golgatha dem Himmel immer näher stieg. Nietzsche bemerkt mit Verständnis, dass diese Art des Todes schon von dem Moment des .consummatum est' an das weitere Schicksal des Evangeliums entscheidend beeinflusst: „Das Verhängnis des Evangeliums entschied sich nen

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Im Fall von Sokrates siehe Götzendämmerung (KGW, seits von Gut und Böse (KGW, JGB, VI 2, 235).

GD, VI 3, 67), im Fall von Jesus siehe Jen-

300

Anika Juhász / Dezsö Csejtei

mit dem Tode, es hing am ,Kreuz' [...]. Erst der Tod, dieser unerwartete schmähliche Tod, erst das Kreuz, das im allgemeinen bloß für die canaille aufgespart blieb erst diese schauerlichste Paradoxie brachte die Jünger vor das eigentliche Räthsel: ,wer war das? was war das?'" (ebd., 211). Vom thanatologischen Standpunkt aus ist es beachtenswert, dass Nietzsches Interpretation es zu keinem Zeitpunkt zulässt, dass die Mythen über die Auferstehung in dieser Geschichte die Hauptrolle übernehmen. Er beharrt durchgehend auf der ,Faktizität des Todes'. Nietzsche versucht sich mit beinahe psychologischer Genialität in den Seelenzustand der nächsten Jünglinge einzuleben, er weist darauf hin, was für eine große Bedeutung die Interpretation der Faktizität des Todes besitzt: „Hier müsste Alles nothwendig sein, Sinn, Vernunft, höchste Vernunft haben; die Liebe eines Jüngers kennt keinen Zufall" (ebd., 211). In dieser Zeit wird die Entscheidung getroffen, welche Todesauffassung sich die spätere europäische Zivilisation für die kommenden Jahrtausende wählt. Aus dieser spannungsvollen Situation entspringen unterschiedliche Erklärangsansätze. Erstens, dass Jesus ein ,Rebell' war, der sich dem bestehenden gesellschaftlichen und staatlichen System widersetzte. Sein Tod war darum eine Ehrenstrafe, die ungerächt gelassen werden darf: „Offenbar hat die kleine Gemeinde gerade die Hauptsache nicht verstanden, das Vorbildliche in dieser Art zu sterben, die Freiheit, die Überlegenheit über jedes Gefühl von ressentiment: ein Zeichen dafür, wie wenig überhaupt sie von ihm verstand!" (ebd., 211). Zweitens wird die Erklärung konzipiert, dass Gott dieses Ungeheure nur als ,Versöhnungsopfer' gestatten konnte. All dies widerspricht nach Nietzsches Meinung der Geistigkeit des Evangeliums, weil Jesus den Begriff der ,Sünde' selbst aufhob. Das konstitutive Missverständnis des christlichen Todes wird durch die Tätigkeit von ,Paulus' vollendet. Wie bekannt, ist Paulus bei Nietzsche nicht nur ein Missdeuter, sondern auch die Verkörperung der Verdorbenheit, der verborgenen Rachgier, die vollkommene Verkörperung von ,ressentiment'. In dieser Optik wird die ursprüngliche Lehre extrem und unwiderruflich beschädigt: dadurch, dass Paulus „aus dem Gegensatz des wahren und des falschen Lebens den Gegensatz dieses irdischen und jenes himmlischen jenseitigen" machte (KGW, NF, VIII 2, 351), entstellte er nicht nur den paradigmatischen Wert des ursprünglichen christlichen Lebens, sondern auch dessen Korollar, den vorbildlichen' Tod. Seit dem ist nicht die innerweltliche Seite des Todes vor allem wichtig, sondern die Tatsache, dass er einen ,Übergang' darstellt, eine Brücke, ein Tor zum Jenseits. Das ist nicht ein immanentes Ende, sondern eine Station auf dem Weg zur Transzendenz, der Auferstehung und der Unsterblichkeit. Paulus wird eine Hauptrolle in dieser Umwertung zugemessen: „Von nun an tritt schrittweise in den Typus des Erlösers hinein die Lehre vom Gericht und von der Wiederkunft, die Lehre vom Tod als einem Opfertode, die Lehre von der Auferstehung, mit der der ganze Begriff ,Seligkeit', die ganze und einzige Realität des Evangeliums, eskamotirt ist zu Gunsten eines Zustandes nach dem Tode!" (KGW, AC, VI 3, 213). Hier erfolgte eine ,erste totale Umwertung der Werte', in der eine andere, von griechischer Anschauungsweise abweichende Transzendenz die Lebensimmanenz überragte. Hier beginnt die zweite Stufe europäischer metaphysischer Todesauffassung sich auszubilden. Im Hinblick auf Nietzsches Wertauffassung könnte man feststellen: Bei Paulus triumphierte die Auffassung der ,Schwachen', -

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Überlegungen zu Nietzsches Todesverständnis

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die der Dekadenten. Das Erhöhen des Todes zum Mysterium setzt auf der anderen Seite die konsequente Lebensverneinung voraus. Die weitere Geschichte der christlichen Todesauffassung besteht nach Nietzsches .Drehbuch' darin, dass das Missverständnis von Paulus institutionell und total ausgebaut wurde. Walther Rehm summiert die grundlegende Umwandlung so: „Im Christentum tritt der Tod in neue metaphysische Beleuchtung: er whd [...] Eingang und Vermittler zu dem durch Christi Opfertod gesicherten ewigen Leben, zur Seligkeit; zugleich aber darin ruht das Neue, unheimlich Erschütternde und ganz Unantike ist

der Tod in gleicher Stärke Eingang zum Entgegengesetzten, zur ewigen Verdammnis, zur Hölle. Die Zweiheit, das Doppelgesicht des Todes wird zum ersten Mal deutlich."8 Und dies führt unabwendbar dazu, dass der Tod des Menschen, das Sterbebett, aufhört ein in sich selbst trauriger und tragischer Ort der Vergänglichkeit zu sein, er verwandelt sich, wird Ort des metaphysischen Kampfes der Seligkeit und Verdammnis. Eine bestimmende Rolle dabei spielte die Tatsache, dass der Tod ,zum Sünde Sold' gemacht wurde. Demzufolge wurde ein physisch-biologisches Faktum in eine ,Strafe', in ein .moralisches' Geschehnis, umgestaltet. Rehm stellt in Einklang mit Nietzsche fest: „Im Alten Testament kann man kaum etwas anführen, das diese richterliche Bedeutung des Todes erhärten würde; den Tod als Folge der Sünde erfaßt zu haben, ist das Werk des Paulus: er bestimmt für ein Jahrtausend grundlegend den Todesgedanken der Menschheit in seiner ganzen Grausamkeit."9 Nietzsche weist implizit auch darauf hin, dass die Abtrennung der Sünde vom Tod in seinem Umwertongsprogramm sehr wichtig wird. Was ihn in bezug auf die Vollendung christlicher Todesauffassung interessierte, war nicht deren theologisch-dogmatischer Aspekt, sondern psychologische und ethische Bezüge. Oft begegnet man der Beschuldigung gegen das Christentum, es übertreibe die Todesfurcht maßlos. In der Morgenröthe heißt es: „Vergessen wir nie, wie erst das Christenthum es war, das aus dem Sterbebett ein Marterbett gemacht hat [...]!" (KGW, M, V 1, 72). In der religiösen Auffassung, betont Nietzsche, hat die Sterbestunde als entscheidende Stunde' psychologisch eine außerordentliche und eigenartige Bedeutung. Im Umwertungsprogramm des Todes, wie wir später sehen werden, verwandelt sich auch dieses Moment in sein Gegenteil. Selbst dem Eintreten des Todes als einem Schlussakt misst Nietzsche keine große Bedeutung bei. Er betrachtet es wie eine Episode, die das eigentliche Leben schon überragt. Die Frage des Todessinnes wird schon ,vor' dem Eintritt des Todes entschieden. Als Teilzusammenfassung kann festgestellt werden, dass die genannten Richtungen europäischer Todesauffassung, die sokratisch-platonische und die christlich-paulinische, nach Nietzsche nicht nur deswegen verurteilt werden können, weil sie den Tod aus dem Kreis der Lebensimmanenz hinauszogen und ihn von einer bestimmten Transzendenz abhängig machten, sondern vor allem darum, weil sie dadurch auch den Träger des Todes, das Leben verkümmern ließen. Der Prozess des Abfalls und der Dekadenz, der eine permanente Eigenart europäischer Kultur ist, verschonte auch das Phänomen des Todes nicht. Er bestimmt in großen Zügen bis heute unser Todesbild. Die Rehabili-

Walter 9

Rehm,

Der

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Todesgedanke

in der deutschen

Halle/Saale 1928, 20. Walter Rehm, Der Todesgedanke, 21.

Dichtung

vom

Mittelalter bis

zur

Romantik,

302

Anika duhász / Dezsö Csejtei

tation des Menschentodes kann daher nicht auf das Gebiet philosophischer Thanatologie beschränkt, sondern nur im Rahmen einer radikal neuen Grundlegung ausgeführt werden. Wie bekannt ist, versuchte Nietzsche das im Programm der ,Umwertang aller Werte' durchzuführen. Es versteht sich von selbst, dass auch das Todesphänomen in

dieses Umwertungsprogramm organisch hineingehört. Eine der ersten metaphysischen Voraussetzungen zur Rehabilitation des Todes ist der ,Tod Gottes'. Diese metaphysische Todesauffassung, die auf einer Zwei-WeltenOntologie basiert, fügt das Todesphänomen in eine umfassende, transzendente Choreographie ein. Der Tod ist der Punkt, an dem sich die zwei Welten berühren. Als Nietzsche durch seine ,Gott ist tot'-Vision traditioneller Auffassung den Krieg erklärt und, mit Jaspers Worten, den Standpunkt konsequenter Transzendenzlosigkeit geltend zu machen sucht,10 hebt er nicht nur die reine Immanenz des Lebens auf den Stand von ontologice prius, sondern führt tiefgehende Veränderungen auch im Stellenwert des Todes herbei. Einerseits verwandelt sich der Tod in ein Randphänomen, aus ihm whd ein Faktum, das das Leben begrenzt, andererseits vermindert das Herauskommen des Todes aus dem Zentrum, zumindest nach Nietzsche, auch dessen ontologisches Gewicht in großem Maße. Die Befreiung von der Herrschaft des Jenseits und das Zurückkehren zur Natur ziehen radikale Veränderungen in der Todesauffassung nach sich. Was ist also das, was im Mittelpunkt der Umwertung angesichts des Todes steht? Um die Frage zu beantworten, fügen wir an dieser Stelle ein Zitat ein, das auf den ersten Blick unschuldig scheint: ,JDas sterbende Kind. Man giebt einem Kinde, das sterben muß, alles, was es will, Zuckerbrot was thut es wenn es sich den Magen verdirbt? Und sind wir nicht alle in der Lage eines solchen Kindes? -" (KGW, IV 2, 565). Nietzsche behauptet hier nichts weniger, als dass einem die europäische metaphysische Tradition so vorkommt, als ob sie dem Phänomen der Unmittelbarkeit des Todes gegenüber ein Zuckerbrot wäre. Diese Tradition gab dem europäischen Menschen jahrtausendelang den süßlichen Sirup des Jenseits, bis die nüchterne Urteilsfähigkeit ganz und gar verdorben war. Dies infantilisierte den europäischen Menschen hinsichtlich des Todes, er verlor die Fähigkeit, sich zum Tod nüchtern zu verhalten. Das Programm der Umwertung besteht demzufolge darin, dass Nietzsche dem Menschen die Möglichkeit anbietet, den Tod auf eine würdige Art zu ertragen. Dieses kann aber nur aus eigener Kraft gelingen. Das Umwertangsprogramm ist hinsichtlich des Todes in sich ein ,feinaderiges Phänomen', in dem moralische und physiologische Argumente gleichermaßen vorhanden sind. Analysiert man Nietzsches einschlägige Aufzeichnungen, so sieht man zwei Richtungen: eine .abgrenzend-kritische' und eine ,erbauend-vollziehende'. Betrachten wir zunächst die negative -

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Richtung.

Die traditionelle metaphysische Auffassung stellte den Tod in das Zentrum menschlicher Wertordnung. Nietzsche verwendet nun alle argumentativen und rhetorischen Mittel, dem Tod seine Bedeutung zu entziehen und ihn gewissermaßen zu neutralisieren'. Er bezweifelt das pathetische, traditionell kristallisierte Dasein der .letzten Stunde' Karl Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin, Leipzig 1936, 285ff. Jaspers hat diesbezüglich aber nicht in vollem Maße recht. Die Transzendenz erscheint auch bei Nietzsche, nur im Rahmen einer neuen Metaphysik.

Überlegungen zu Nietzsches Todesverständnis

303

und betont, dass die Kardinalfragen des sterbenden Menschen, ob er ein wertvolles Leben hatte oder das Leben versäumte, schon vorher entschieden wurden. Eine andere Textstelle, mit dem Titel Wie man stirbt, ist gleichgültig, drückt Gedanken noch eindeutiger aus: „Die ganze Art, wie ein Mensch während seines vollen Lebens, seiner blühenden Kraft an den Tod denkt, ist freilich sehr sprechend und zeugnissgebend für Das, was man seinen Character nennt; aber die Stunde des Sterbens selber, seine Haltung auf dem Todtenbette ist fast gleichgültig dafür. Die Erschöpfung des ablaufenden Daseins, namentlich wenn alte Leute sterben, die unregelmässige oder unzureichende Ernährung des Gehirns während dieser letzten Zeit, das gelegentlich sehr Gewaltsame des Schmerzes, das Unerprobte und Neue des ganzen Zustandes und gar zu häufig der An- und Rückfall von abergläubischen Eindrücken und Beängstigungen, als ob am Sterben viel gelegen sei und hier Brücken scheuerlichster Art überschritten würden, diess Alles erlaubt es nicht, das Sterben als Zeugniss über den Lebenden zu benützen" (KGW, VM, IV 3, 47). Bevor wir dieses Zitat fortsetzen, sei betont, dass Nietzsche den Gedanken, aus dem Schlusspunkt anordnend zurückblicken' und dadurch das Leben .übersehen' zu können, ablehnt, weil dies physiologisch nicht funktioniert. Er betrachtet das Ertragen des Todes als eine Sache des Lebens, in dem man noch alle seine Kräfte besitzt. In Nietzsches Ansicht, die die konsequente Immanenz betont, erscheint der Tod immer in der Projektion jeweils möglicher konkreter Lebensgestaltung; dies bedeutet, dass der Mensch, als einer, der Entscheidungen trifft, nicht nur permanent über sein Leben entscheidet, sondern zugleich auch über seinen eigenen Tod. Demzufolge trifft man in jedem Akt seines Lebens eine Entscheidung nicht nur über sein Leben, sondern auch über die Stelle und den Sinn seines Todes, und der Schlussakt, der in der Zukunft erfolgt, ist im Verhältnis dazu etwas ,Äußeres'. In der zweiten Hälfte dieser Textstelle erscheinen die Motive, durch die Nietzsche jenes Seelengewebe zu zerreißen sucht, das in der Gewohnheitskultur von Jahrtausenden um den Tod gewebt wurde: „Auch ist es nicht wahr, daß der Sterbende im Allgemeinen ehrlicher wäre als der Lebende: vielmehr wird fast Jeder durch die feierliche Haltung der Umgebenden, die zurückgehaltenen oder fließenden Thränen- und Gefühlsbäche zu einer bald bewußten bald unbewussten Komödie der Eitelkeit verführt. Der Ernst, mit dem jeder Sterbende behandelt wird, ist gewiss gar manchem armen verachteten Teufel der feinste Genuss seines ganzen Lebens und eine Art Schadenersatz und Abschlagszahlung für viele Entbehrungen gewesen" (ebd., 47f). In diesem frühen Werk Nietzsches kann man vielleicht zum ersten Mal den kaltsinnigen Ton hören, der hinsichtlich der gewöhnlichen Moralität fast als Blasphemie erscheint. Es handelt sich aber nur darum, dass Nietzsche die unwahre Zeremonialität um den Tod bekämpft. Seine Bemerkung wirkt wie ein Peitschenschlag: „Trostgründe. Bei einem Todesfall braucht man zumeist Trostgründe, nicht sowohl um die Gewalt des Schmerzes zu lindern, als um zu entschuldigen, daß man sich so leicht getröstet fühlt" (KGW, MA, IV 2, 334). Er bewertet aber auch das ,Mitleid' nicht positiver. Dessen Bestimmung lautet: ,JvIideid. In der vergoldeten Scheide des Mitleides steckt mitunter der Dolch des Neides" (KGW, VM, IV 3, 162). Nietzsche enthüllt jenes lügnerische Verhalten, in dem ein raffinierter Egoismus hinter dem respektierten Affekt des Mitleids vorhanden ist. Wh beneiden die Verwandten des Verstorbenen, die im Zentrum der Liebe, der Sorge sind, und wenn wir an ihrem Kum-

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Anika duhász / Dezsö Csejtei

304 mer

teilnehmen, möchten wir eigentlich wie sie in das Zentrum geraten, möchten

nur

eigenen Egoismus listig in den Vordergrund stellen. Legen wir jetzt die Aufmerksamkeit auf die ,erbauend-vollziehende' Seite der Umwertung: Nietzsches Gedanken, die in diese Richtung zeigen, können in eine sich erhöhende Abfolge eingegliedert werden. Die Unterstufe bildet der Gedanke der Zusammenkopplung von Leben und Tod. Es handelt sich nicht darum, dass das Leben eine Gottesgnade ist und der Tod die Folge einer anderen Wertordnung, sondern darum, dass sie auf dem Grunde physiologischer Moralität zusammenhängen. An dieser Stelle lohnt es sich zu betonen, dass Nietzsche niemals bis zu dem Punkt gelangt, dass der Tod ausschließlich zu einem physikalisch-physiologischen Faktum wird. Es handelt sich immer darum, wie der Tod in eine neue Lebensphilosophie, eine Lebensmetaphysik, die zugleich moralische Gehalte aufweist, eingegliedert werden kann. Er betont die enge Verbundenheit des Lebens mit dem Tode permanent. Mit Johann Wolfgang von Goethes Worten sagt er über die Natur: „Leben ist ihre schönste Erfindung, und der Tod ist ihr Kunstgriff, viel Leben zu haben" (KGW, III 4, 160). Der Tod ist also nicht nur ein Mittel, das Leben zu vernichten, sondern er ist die Grundvoraussetzung des Lebens. Wenn der Tod kein Gegenspieler des Lebens ist, ergibt sich die Möglichkeit, auch den Tod zu beeinflussen und sogar zu beherrschen, damit er nicht wie eine das Leben abbrechende, brutale Macht auftritt, sondern als eine Erfüllung. Es handelt sich nur darum, dass man den Tod von der ihn begleitenden Furcht und Angst erlösen kann, damit er zur Quelle der Freude wird und das Leben sein eigenes Ende zu bewältigen vermag. Über die profane Rechtfertigung des Lebens spricht Nietzsche ganz lyrisch in Menschliches, Allzumenschliches: „Kommt das Alter, so merkst du erst recht, wie du der Stimme der Natur Gehör gegeben, jener Natur, welche die ganze Welt durch Lust beherrscht: das selbe Leben, welches seine Spitze im Alter hat, hat auch seine Spitze in der Weisheit, in jenem milden Sonnenglanz einer beständigen geistigen Freudigkeit; beiden, dem Alter und der Weisheit, begegnest du auf Einem Bergrücken des Lebens, so wollte es die Natur. Dann ist es Zeit und kein Anlaß zum Zürnen, daß der Nebel des Todes naht. Dem Lichte zu deine letzte Bewegung; ein Jauchzen der Erkenntniss dein letzter Laut" (KGW, MA, IV 2, 241). Wenn das Leben fähig ist, sich auf diese Höhe der Erfüllung zu erheben, dann vermag es sich in eine ,Feier' zu verwandeln. Die erbauend-vollziehende Seite des Umwertungsprogramms wird hier deutlich. Der Tod, der als der Sünde Sold' sich in christlicher Wertordnung in ein furchtbares Mysterium verwandelte, wird hier in gewissem Sinne geheiligt, er erhebt sich zur Feier des ,richtig gelebten Lebens'. Es ist zu beachten, dass sich im Kern der Umwertung die gemeinsame Umwertung des Stellenwertes von Eros und Thanatos findet. Nietzsche versucht, beide von den pejorativen Vorurteilen zu befreien, die es jahrtausendelang unmöglich machten, den richtigen Wert beider Lebensfakten zu bestimmen. Es soll vermerkt werden, dass Nietzsche, wenn er den Tod zu einer Feier erhöht, ihn nicht mit dem romantischen Todesmotiv identifiziert. Die Verherrlichung des Todes kann man bei ihm nicht so verdeutlichen, als ob sie einen pessimistischen Weltschmerz ausdrücken würde; die Lobpreisung ist vielmehr das Korollar einer rigoros immanenten Lebensphilosophie, die auch den unseren

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Überlegungen zu Nietzsches Todesverständnis

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ontologischen Leugner des Lebens, den Tod in den ,Text des Lebens' einzugliedern sucht und ihm Sinn geben will. Die Schlussbilanz der Umwertung formuliert Nietzsche in der Götzendämmerung: „Der Tod, aus freien Stücken gewählt, der Tod zur rechten Zeit, mit Helle und Freudigkeit, inmitten von Kindern und Zeugen vollzogen: so daß ein wirkliches Abschiednehmen noch möglich ist, wo Der noch da ist, der sich verabschiedet, insgleichen ein wirkliches Abschätzen des Erreichten und Gewollten, eine Summierung des Lebens Alles im Gegensatz zu der erbärmlichen und schauderhaften Komödie, die das Christentum mit der Sterbestunde getrieben hat. Man soll es dem Christenthume nie vergessen, daß höchsten

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die Schwäche des Sterbenden zu Gewissens-Nothzucht, daß es die Art des Todes selbst zu Werth-Urtheilen über Mensch und Vergangenheit gemissbraucht hat!" (KGW, VI 3, 128f). In dieser Passage gelangen wir zum entscheidenden Punkt seiner Umwertung. Der ,passive' Tod soll durch die Möglichkeit des ,autonomen' und ,freien' Todes abgelöst werden, anders gesagt dem ohnmächtigen Entgegennehmen' soll das Moment des akzeptierenden Mitwirkens' folgen. Die Verhaltensfähigkeit des Menschen zeigt sich im Verhalten ,zum eigenen Tod'. Unabhängig davon, aufweiche Weise wir sterben, ist die Art des sich vollziehenden Sterbens die Folge einer Wahl. Sterben wir so, dass wir dem Tod als dem Letzten ganz und gar ausgesetzt sind, ist es in einem eigenartigen Sinne auch unser Werk, indem wir das passive Ausgeliefertsein selbst gewählt haben. Sterben wir aber wie freie Lebewesen, dann ist es in gleicher Weise die Folge persönlicher Stellungnahme, existentialer Entscheidung. In Nietzsches Konzeption sind modale und normative Eigenarten untrennbar verbunden. Vermag sich der Mensch frei zu seinem Tod zu verhalten, beinhaltet dies zugleich die implizite Aufforderung, dass er sich frei verhalten soll. Daraus folgt, dass der uralte Satz, den das Christentum auf besondere Weise förderte und der durch den spätmittelalterlichen ,Totentanz' vermittelt wurde, demnach wir ,im Tode alle gleich sind', seine Gültigkeit verliert. Nietzsche versucht diese metaphysische Gleichheit des Todes aufzuheben, indem er den Tod zum wichtigsten Prädikat des transzendenzlosen, immanenten Lebens macht. Trifft die Entscheidung über das dem Tod vorhergehende Leben und über die Stelle und den Wert des Todes zu, dann teilt sich das Phänomen des Todes in zwei Teile. Diese zwei Teile sind der Tod des ein ,wertvolles' und der Tod des ein ,unwertvolles' Leben führenden Menschen. Eine Aufteilung in diesem Sinne teilt das ehemals homogene Universum des Todes, auf der einen Seite ist nun der Tod der Wenigen', auf der anderen Seite der der ,Vielen'. Die Tatsache, dass der Mensch das einzige Lebewesen ist, das sich zu seinem Tod zu verhalten vermag, erscheint bei Nietzsche in einer Werthierarchie. Die Umwertung zeigt sich darin, dass der Demokratismus früherer Gleichheit des Todes durch den Aristokratismus ursprünglicher Ungleichheit des Todes abgelöst wird. Die Differenzierung fasst aber kein exklusives Absperren in sich, im Gegenteil, Nietzsches Lehre hat zum Zweck, dass immer mehr Menschen zum Reich der Wenigen und immer weniger zum Reich der Vielen gehören. Die Quintessenz des aristokratischen, qualitativen Todes liest man in einem Kapitel des Zarathustra, betitelt Vom freien Tode: „Viele sterben zu spät, und Einige sterben zu früh. Noch klingt fremd die Lehre: ,stirb zur rechten Zeit!' Stirb zur rechten Zeit: also lehrt es Zarathustra" (KGW, Za, VI 1, 89). Der Tod der Wenigen und der der Vielen es

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306

beinhaltet auch eine zeitliche Projektionsebene. Die Vielen sind diejenigen, die entweder zu spät oder zu früh sterben; rechtzeitig zu sterben bleibt das Privileg der Wenigen. Was bedeutet es, rechtzeitig zu sterben? Es gibt Kommentare, die behaupten, dass in diesem Passus des Zarathustra eine Aufforderung zum Selbstmord enthalten ist. Wir sind dagegen der Ansicht, dass diese Kommentare nicht recht haben, man kann nämlich noch einige Zeilen weiter lesen: „Meinen Tod lobe ich euch, den freien Tod, der mir kommt, weil ich will" (ebd., 90), sondern aber, weil der Selbstmord eine Art der Flucht vor den Prüfungen des Lebens ist, ein Fall radikaler ,Feigheit', und dies gehört in Nietzsches Tugendlehre zu den negativsten Verhaltensweisen. Man muss anderswo suchen, um das Rätsel aufzudecken. In den nachfolgenden Zeilen steht: „aber noch ist der Tod kein Fest. Noch erlernten die Menschen nicht, wie man die schönsten Feste weiht. Den vollbringenden Tod zeige ich euch, der den Lebenden ein Stachel und ein Gelöbniss wird" (ebd., 89; Hervorheb. D.C./A.J.). Hinsichtlich dieser Zeilen ist zu betonen, dass Nietzsche im genannten Kapitel auch über die Vorbereitung auf den freien Tod, über das ,Erlernen' dieser Vorbereitung spricht, so dass das Verhältnis zum eigenen Tod ein bewußtes und gewolltes Verhalten voraussetzt. Dadurch verfügt man über die Möglichkeit, sich seinem Tod auf erwachsene' Weise anpassen zu können, um als Spieler von gleichem Rang ihm gegenüberzustehen. Die Tatsache, dass „die Menschen es noch nicht erlernten", verweist darauf, dass die Mehrheit der Menschen auf den Tod psychologisch und moralisch unvorbereitet ist. Der Unterschied zwischen dem Tod der Vielen und dem der Wenigen, die Risslinie zeigt sich in folgender Weise: Ist das Leben in letztem Sinn damit gleich, dass wir uns selbst, wie die Griechen meinten, eine Form geben, uns aus dem chaotischen Strom des Kaum-Daseins herausheben, dann lässt das Versäumnis des Erlernens des ,freiwilligen Lebens', das Nicht-Entsprechen dem Imperativ der Selbstgestaltang gegenüber, den Menschen auf ein formloses, massenartiges Dasein herabsinken. Hier spielen die traditionelle metaphysische Todesauffassung wie auch die moderne Massengesellschaft eine bestimmende Rolle. So entsteht der „grinsende Tod, der heranschleicht wie ein Dieb und doch als Herr kommt" (ebd., 89). Das Erheben des Todes zur Feier, zur Erfüllung, steht in vollem Gegensatz zur christlichen Lehre, für die der Tod der ,Sünde Sold' ist. Aus dem Tod wurde eine Feier für die Wenigen, die gelernt haben, sich zu ihrem Tod souverän zu verhalten, die dem Tod als Erwachsene von gleichem Rang gegenüberstehen. Dies erscheint unmittelbar im Wagnis, den Tod anzusprechen, hervorzurufen': „Meinen Tod lobe ich euch den freien Tod, der mir kommt, weil ich will. Und wann werde ich wollen? Wer ein Ziel hat und einen Erben, der will den Tod zur rechten Zeit für Ziel und Erben. Und aus Ehrfurcht vor Ziel und Erben wird er keine dürren Kränze mehr im Heiligthum des Lebens aufhängen" (ebd., 90). Vermag ich den Tod von meinem Willen abhängig zu machen, bedeutet das nicht, dass ich der bin, der die Zeit des des Todes vorschreibt, -

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sondern, dass ich es wage, den Tod zu bejahen, wenn er, unabhängig von meinem Willen, erscheint. Aber „wann werde ich wollen?", fragt Nietzsche, und wir beginnen, uns

dem Problem rechtzeitigen Sterbens zu nähern. Er meint keinen bestimmten Zeitpunkt des Menschenlebens, sondern eine grundlegende Prädisposition des Lebens. Er spricht 11

Gustav Naumann, Zarathustra-Kommentar. Erster

Teil, Leipzig 1899, 202.

Überlegungen zu Nietzsches Todesverständnis

307

darüber, dass ,wer Ziel und Erben hat', fähig ist, rechtzeitig den Tod zu bewilligen. Wer ein Ziel hat, der ist ein sich verhaltendes Lebewesen in eminentem Sinne. Der Mensch vermag nicht, sich zu sich selbst nicht zu verhalten, wer aber ein Ziel hat, der besitzt die Fähigkeit, dieses Ewig-Verhalten zu einem bewussten Verhalten zu machen. Dadurch wird impliziert, dass er mit Hilfe seiner Ziele seinem Leben Form und Sinn geben kann. Das Leben gewährleistet die Möglichkeit, auch dem Tod einen Raum zu schaffen. Auf die Frage „wann werde ich wollen?" lautet die richtige Antwort: ,jiur dann, wenn du fähig bist, dein Leben in ein bewußt geprägtes Leben umzugestalten" (ebd.). Höchstes

Symbol der Lebensformung aber ist der Übermensch, der sinnvolle Tod berührt sich mit ihm an diesem Punkt. Aus dem Programm der Umwertung folgt weiter, dass das Leben seine Quelle in sich selbst hat, und es bedarf innerer Sinngebung. Deren höchstes Symbol und Grenzwert verkörpert der Übermensch. Durch die innere Sinngebung kann auch der Tod in diese neue Sinnganzheit eingegliedert werden. So hat der Tod nicht mehr die Form äußerer, brutaler Sinnlosigkeit, sondern er kann im Zusammenhang mit der Sinnbildung der jeweiligen Lebensformung betrachtet werden. Das Sterben zur rechten Zeit ist die Folge des jeweiligen Lebenssinnes. Nietzsche erörtert diese Sentenz, die im bezug auf das vorher Gesagte auch als letzte lebensphilosophische Bilanz des Lebens und des Todes betrachtet werden kann: „Freilich, wer nie zur rechten Zeit lebt, wie sollte der je zur rechten Zeit sterben?" (ebd., 89). Vom Standpunkt reiner Lebensimmanenz aus betrachtet, handelt es sich nicht nur darum, dass der Tod im Leben über keine absolute Bedeutung verfügt; so aufgefasst würden wir Nietzsches Gedanken mit der epikureischen Konzeption gleichsetzen, mit der er aber wegen des dynamischen Lebensbegriffs nicht viel zu tun hat, auch wenn er mit dieser Konzeption sympathisiert. Es handelt sich vielmehr darum, dass die Qualität des gelebten Lebens den Tod von sich aus erklärt und dadurch ihm Sinn gibt. Ist aber der Mensch dazu nicht fähig, wird er nicht nur in seinem Leben, sondern auch in seinem Sterben den Seildrehern ähnlich sein: „sie ziehen ihren Faden in die Länge und gehen dabei selber immer rückwärts", (ebd., 90) Die Metapher ist ein grotesk-modernes Gegenteil zur antiken Vorstellung von den Parzen. Doch ist der Begriff des rechtzeitigen Sterbens noch nicht in vollem Maße bestimmt. Wir haben gesehen, dass sich das entscheidende Moment rechtzeitigen Sterbens im rechtzeitigen Leben versteckt. Wir können aber fragen, wie es möglich ist, zur rechten Zeit zu leben. Das ist der Punkt, an dem die Lebensmetaphysik das Phänomen des Todes berührt. Die Frage kann in erster Annäherung so beantwortet werden: dass wir lernen, unter dem Druck des Augenblicks zu existieren. Der Augenblick aber kann nicht mit dem zeitlichen Jetzt als winzigem Punkt physischer Zeit gleichgesetzt werden. Er bedeutet viel mehr: theologisch ausgedrückt, kann er nicht durch chronos, sondern durch kairos bezeichnet werden. Der Augenblick spielt im Menschenleben nicht nur wegen seiner zeitlichen Nähe und Unmittelbarkeit eine zentrale Rolle, sondern deswegen, weil er das hauchdünne Medium ist, in dem man die Wahl, die Freiheit der Wahl, ausüben kann; dadurch erfahrt man sowohl das erhabene Gefühl als auch die quälende Last der Selbstprägung, des Verhaltens. Rechzeitig zu leben bedeutet demnach das Leben im Augenblick.Können wir den Augenblick beherrschen, so können wir unser Selbst beherrschen. Das wird durch den Rechtzeitig-zu-leben-Gedanken ausgedrückt,

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308

der ein Vorraum und Voraussetzung des rechzeitigen, also des erfüllenden Sterbens ist. Der Tod kann in meinen eigenen Tod, in mein persönliches Vergehen verwandelt werden. Kann dies getan werden, dann kann man den eigenen Tod würdevoll ertragen und frei bewilligen: „Frei zum Tode und frei im Tode, ein heiliger Nein-Sager, wenn es nicht Zeit mehr ist zum Ja: also versteht er sich auf Tod und Leben" (ebd., 91; Hervorheb. D.C./A.J.). Die Bedeutung des Augenblicks ist noch nicht in vollem Maße analysiert. Man muss mit einer, die Transzendenz enthaltenden lebensmetaphysischen Mehrbedeutang rechnen. Bevor wir diese darstellen, soll in großen Linien gezeigt werden, wie sich Nietzsche zur Frage des persönlichen Fortbestehens, der ,Unsterblichkeif verhalten hat. Das ist notwendig, weil die genannte Mehrbedeutang des Augenblickes mit dieser Frage in engem Zusammenhang steht. Nietzsche stand lebenslang auf dem Boden konsequenter, diesseitiger Lebensimmanenz. Daraus kann man die Folgerung ziehen, er schaffe für die persönliche Unsterblichkeit kaum Raum. Das ist in der Tat so. Nietzsche hält persönliche Unsterblichkeit für das Missgeschöpf metaphysischer Todesauffassung, in dem er im moralischen Sinne einen maßlosen .Egoismus' erblickt. Im Aphorismus 211 der Morgenröte lehnt er den Gedanken persönlicher Unsterblichkeit schonungslos ab: „Diesem schönen Bewußtsein eurer selbst wünscht ihr also ewige Dauer? Ist das nicht schamlos? Denkt ihr denn nicht an alle anderen Dinge, die euch dann in alle Ewigkeit zu ertragen hätten, wie sie euch bisher ertragen haben mit einer mehr als christlichen Geduld? Oder meint ihr, ihnen ein ewiges Wohlgefühl an euch geben zu können? Ein einziger unsterblicher Mensch auf der Erde wäre ja schon genug, um alles Andere, das noch da wäre, durch Überdruß an ihm in eine allgemeine Sterbe- und Aufhängewuth zu versetzen! Und ihr Erdenbewohner mit euren Begriffelchen von ein paar Tausend Zeitminütchen wollt dem ewigen allgemeinen Dasein ewig lästig fallen! Giebt es etwas Zudringlicheres!" (KGW, M, V 1, 192). Nietzsche versucht hier Übermut und Hochmut durch die Skizzierang der Absurdität irdischer Unsterblichkeit zu diskreditieren. Es könnte scheinen, Nietzsche lasse keiner der Erscheinungsformen persönlicher Unsterblichkeit viel Raum. Aber das ist nicht die volle Wahrheit. In der Form des Angriffs gegen die Unsterblichkeit zielt er vor allem auf die metaphysische Vorstellung von der .unsterblichen Seele' und lehnt sie ab. Ist er so eng mit dem Gedanken diesseitiger Lebensimmanenz verbunden, gehen die Wellen der diesseitigen Ziel- und Sinngebung doch über das begrenzt-endliche Leben hinaus: ,fJas Buch fast zum Menschen geworden. Jeden Schriftsteller überrascht es von Neuem, wie das Buch, sobald es sich von ihm gelöst hat, ein eigenes Leben für sich weiterlebt; es ist ihm zu Muthe, als wäre der eine Theil eines Insectes losgetrennt und gienge nun seinen eigenen Weg weiter. Vielleicht vergißt er es fast ganz, vielleicht erhebt er sich über die darin niedergelegten Ansichten, vielleicht selbst versteht er es nicht mehr und hat jene Schwingen verloren, auf -

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denen er damals flog, als er jenes Buch aussann: währenddem sucht es sich seine Leser, entzündet Leben, beglückt, erschreckt, erzeugt neue Werke, wird die Seele von Vorsätkurz: es lebt wie ein mit Geist und Seele ausgestattetes Wesen zen und Handlungen und ist doch kein Mensch. Das glücklichste Loos hat der Autor gezogen, welcher, als alter Mann, sagen kann, dass Alles, was von lebenzeugenden, kräftigenden, erhebenden, -

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Überlegungen zu Nietzsches Todesverständnis

309

aufklärenden Gedanken und Gefühlen in ihm war, in seinen Schriften noch fortlebe und dass er selber nur noch die graue Asche bedeute, während das Feuer überall hin gerettet und weiter getragen sei. Erwägt man nun gar, dass jede Handlung eines Menschen, nicht nur ein Buch, auf irgend eine Art Anlass zu anderen Handlungen, Entschlüssen, Gedanken wird, dass Alles, was geschieht, unlösbar fest sich mit Allem, was geschehen wird, verknotet, so erkennt man die wirkliche Unsterblichkeit, die es giebt, die der Bewegung: was einmal bewegt hat, ist in dem Gesammtverbande alles Seienden, wie in einem Bernstein ein Insect, eingeschlossen und verewigt" (KGW, MA, IV 2, 173). Das Zitat ist ein Schlüsselpassus. Im Hinblick auf das Verhältnis des Verfassers zu seinem Werk weisen wir erstens auf das dialektische Verhältnis hin, dass sich das Werk, im Moment, wo es abgeschlossen wurde, von seinem Verfasser löst und ein selbständiges Leben lebt. Der Verfasser verfügt nun über keine Macht mehr über sein Werk. Andererseits ist dieses Werk der konzentrierteste Ausdruck der Selbstheit des Verfassers (das ist hinsichtlich der Unsterblichkeit besonders wichtig). Ist das Werk zwar nicht mehr sein Eigentum, bleibt es dennoch die Selbstheit des Verfassers. Dies führt uns zu dem Problem, das als Invers des Denksprachs ,das Wort ist Fleisch geworden' bezeichnet werden kann: ,das Fleisch ist Wort geworden'. Es handelt sich darum, aufweiche Weise der Verfasser in seinem Werk sich in ein ewig brennendes Feuer verwandeln kann. Nietzsche betont, der Verfasser stelle nicht nur den Text her, sondern, dass eine wirkliche ,Vorstellung', eine ununterbrochene Vorstellung unserer ,Selbstheit' im Text waltet. Nicht vom in erster Linie engen hermeneutischen Standpunkt aus erschließt sich die Bedeutung dieses Prozesses, sondern vom Standpunkt persönlichen Fortlebens. Hier erweitert Nietzsche den Kreis dessen, was er zu sagen hat: an die Stelle des Buches tritt das Moment der Tat, die menschliche Lebensäußerang als solche. Die unerlässliche, aber nicht genügende Basis von Nietzsches Todesauffassung bildet das volle Veräußerlichen menschlicher Interiorität, von primitiven Gesten, Taten und Ausdrücken bis zum Schaffen von Werten. Das führt zum nächsten Element. Das Fortleben setzt eine ,dynamische' Verhältnis-Ganzheit voraus, die zur statisch-metaphysischen Auffassung in scharfem Gegensatz steht. Die Unsterblichkeit im traditionellen Sinne ist nur eines der, die Menschen kennzeichnenden statischen, Attribute, wie das Gemeinschaftswesen des Menschen oder der Rationalismus. Die Frage, warum wir berechtigt sind, über die Unsterblichkeit eigentlich zu sprechen, taucht in diesem Kontext nicht auf. Nietzsche setzt dieser starren, toten Form der Unsterblichkeit die lebendige Unsterblichkeit' entgegen, in der inbegriffen ist, dass Unsterblichkeit vor allem Unsterblichkeit ,für Etwas' ist. Dies wird durch den Gedanken der qualitativen Eigenart, den Aristokratismus der Unsterblichkeit gekrönt. Unsterblichkeit in traditionellem Sinne ist demokratisch, sie kommt jedem zu. Nietzsches diesseitiges Unsterblichkeitskonzeption versieht aber dies mit Fragezeichen. Aus welchem Grand ist ein Alltagsmensch berechtigt, unsterblich zu sein?, fragt er sich selbst. Was will er damit anfangen? Persönliche Unsterblichkeit, die durch Taten geschaffen wird, ist nicht demokratisch, es ist eine wohlverdiente aristokratische Unsterblichkeit. Nietzsche schmiedet ein noch stärkeres, metaphysisches Argument, das mit der Lehre von ,der ewigen Wiederkunft' im Zusammenhang steht, gleichermaßen eine thanatologische Relevanz besitzt. Wir haben davon gesprochen, dass das höchste Mittel zum -

,

Anika Juhász /Dezsö Csejtei

310

Erreichen des rechtzeitigen, freien Sterbens das rechtzeitige Leben ist, das aber ,im Leben im Augenblick' verwirklicht wird. Die Bedeutung des Augenblicks besteht nicht nur darin, dass er ununterbrochen zur Verfügung steht, sondern auch darin, dass wir im Zeichen des Augenblickes unsere Selbstheit wählen, unabhängig davon, ob diese Wahl gelingt oder fehlschlägt, dass wir uns im Augenblick zu unserem jeweiligen Leben oder Tod verhalten. Darüber hinaus belastet Nietzsche den Augenblick mit einem schweren metaphysischen Gewicht. Dies geschieht durch die Lehre der Wiederkehr des Gleichen. Unabhängig davon, wie ich in diesem Augenblick handle, wähle ich dadurch nicht nur meine Selbstheit, mein Leben und meinen Tod, sondern der Gehalt meiner Tat wird ewig wiederkehren12, Segen und Fluch sind durch das Gewicht des Ewigen belastet, daher ist es „das grösste Schwergewicht". Das bedeutet in bezug auf den Tod, dass der im Dasein mit dem Augenblick verbundene und den Menschen belästigende Ballast leichter zu werden scheint. Die Qual der Wahl im Augenblick erleichtert die Versprechung der Unsterblichkeit'. Sie unterscheidet sich von der, die das Christentom meint. Sie ist kein Blankoscheck, der am Ende der Zeiten, bei der Auferstehung erfüllt wird, sondern sie ist ein Scheck, der in allen Einzelheiten erfüllt ist und durch jeden Augenblick des Lebens gedeckt wird. Dadurch wird die Verantwortung für das jeweilige Leben gesteigert, weil alles, was geschieht, in der Zeit als ein Ebenbild zurückkehrt. Um die Ewigkeit zu erhalten, bedarf es nichts, als dass das Individuum durch einen Anderen, sei es Jesus, der Gottessohn, erlöst wird, hier waltet der Prozess ununterbrochener Selbsterlösung, in der jeder durch seine Taten sein eigener Herr und Richter ist. Wir haben gesehen, dass der authentische Tod für Nietzsche in Form rechtzeitigen Sterbens erscheint. Dessen ontologischer Hintergrund liegt im rechtzeitigen' Leben. Dieses Leben, als reines Dasein in sich, setzt das Existieren in dem durch den inneren ,Lebenssinn' geprägten Augenblick voraus. Die Lehre der ewigen Wiederkunft des Gleichen ist von diesem Standpunkt aus die lebensmetaphysische Betonung dieses Gedankens. Dies ist aber nicht der Schlussstein Nietzschescher Todesauffassung. Jetzt erst taucht die Frage auf: Was wird mit jenen, die die Sinngebung ihres Lebens versäumten, oder mit jenen, die keine Möglichkeit hatten, dies zu vollbringen? Was whd mit der Sinngebung des Lebens bei denen, die sinnlos und gewalttätig vernichtet, die schuldlos getötet wurden? Ist es möglich, dem Leben jener, deren Leben und Tod im Zeichen konsumtiver Sinnlosigkeit verging, nachträglich einen Sinn zu geben? Wir sind der Ansicht, dass die Antwort in folgendem steckt: „Ihr guten Tänzer, nun ist alle Lust vorbei. Wein ward Hefe, jeder Becher ward mürbe, die Gräber stammeln. Ihr flogt nicht hoch genug: nun stammeln die Gräber .erlöst doch die Todtenl Warum ist so lange Nacht? Macht uns nicht der Mond tranken?' Ihr höheren Menschen, erlöst doch die Gräber, weckt die Leichname auf." (KGW, Za, VI 1, 395; Hervorheb. D.C./A.J.). Das Wichtigste besteht unserer Ansicht nach nicht darin, dass sich der Aufruf Zarathustras an die höheren Menschen richtet. Die tiefere Botschaft dieser planetaren Vision -

„Denn ihm macht die Lehre der ewigen Wiederkunft bewußt, wie sehr es auf die Erfüllung dieses

Augenblicks ankommt. Sie läßt ihn alle künftigen Ziele und Zwecke als trügerisch durchschauen und gibt ihm stattdessen eine Gewißheit: daß dieser Augenblick ewig wiederkehrt" (Volker Gerhardt, Nietzsche, 198).

Überlegungen zu Nietzsches Todesverständnis

311

ist, dass die nachträgliche Sinngebung existiert. Das Sein der „stammelnden Gräber" weist daraufhin, dass nicht die Toten, sondern die toten Leben post festa1 einer Sinngebung' bedürfen. Ihre Erlösung ist aber ein Prozess, der auch in der Zeit Nietzsches fortdauert und keinen Schlusspunkt erreicht. Das immanente Maß dieser Sinngebung besteht darin, in welchem Maße der Mensch aus eigener Kraft fähig ist, aufzuwachsen und sein Selbst zu überwachsen, zum Übermenschen zu werden, zum Sinn der Erde. Der Tod des Menschen ist zum letzten nicht eine biologische, sondern eine hermeneutische Frage. Worin besteht also die letzte thanatologische Botschaft in Nietzsches Philosophie? Vielleicht darin, dass die Todeskultur des westlichen Menschen bis zum Äußersten verdorben ist; sie steht noch immer unter der Macht metaphysischer Todesauffassung und ist ihr ausgeliefert. Um den Tod für das zu halten, was er ist, und nicht als ,bleiches Kulturphantom', ist es notwendig, unsere Begriffe radikal zu verändern. Nach Nietzsches Ansicht bedürfen wir einer radikalen Umwertung. Von seiner Auffassung her ist es klar, dass die Gestaltung dieses neuen Verhältnisses nur den Wenigen gelingt, und ,

Nietzsche findet es in einem bestimmten Sinne auch gut. Dieses Verhältnis kann nämlich auf keiner äußeren Notwendigkeit basieren. Aber auch das veränderte Verhältnis der Wenigen zum Tod kann man sich nur für den Fall vorstellen, dass das veränderte und erneuerte Leben als Hintergrund steht.

Robert Pippin

Nietzsche's Moral Psychology and the French Moralist Tradition

I Bernard Williams once made the interesting point that both Ludwig Wittgenstein and Friedrich Nietzsche were trying to say something about what it might mean for philosophy to come to an end, for a culture to be cured of philosophy. He meant the end of philosophical theory, the idea that unaided human reason could contribute to knowledge about substance, being, our conceptual scheme, the highest values, the meaning of history or the way language works. For both Wittgenstein and Nietzsche there is no good or modest version of these attempts, any more than there are good and bad versions of astrology or alchemy. There is no such thing as philosophical theory and there ' never was. Of course it has always been obvious that the status of the account that somehow ,makes' this observation is immediately problematic, but Williams also noted that the case of Nietzsche was even more difficult than that of Wittgenstein. „With Nietzsche, by contrast, the resistance to the continuation of philosophy by ordinary means is built into the text, which is booby-trapped, not only against recovering theory from it, but, in many cases, against any systematic exegesis that assimilates it to

theory."2

How the rhetoric of textual ,booby-traps' works is an interesting topic and I want to discuss a possible example in a minute. But, the important point is not Nietzsche's resistance to incoporation into traditional philosophical theory. That point is obvious, even if the steady stream of books about Nietzsche's metaphysics, or value theory, or even epistemology shows no sign of abating. The interesting question is rather what one takes such resistance to mean, what the practical point is, we might say, of the act of so resisting, what Nietzsche is trying to ,do' with his books, as much as what his books

Although there could, paradoxically, still be philosophers. In Giorgio Colli's apt formulation, „Die Philosophie existiert nicht mehr, aber die Philosophen müssen weiter existieren [...]" (KSA, 3, 661). Bernard Williams, Nietzsche 's Minimalist Moral Psychology, in: Richard Schacht, ed., Nietzsche, Genealogy, Morality: Essays on Nietzsche's On the Genealogy of Morals, Berkeley 1994, 238.

314

Robert Pippin

mean, if we

not to understand them in the

traditional philosophical sense. (It would have been helpful if, in Ecce Homo, Nietzsche had not just written the chapter Why I Write Such Good Books, but Why I Write Books At All). The fact that Nietzsche might be doing something different from offering philosophical theories need not of course at all imply that he is not doing anything of any relevance to philosophy, or that he is enacting the impossibility of making any sort of point against others. This is a tricky issue, though, for the presuppositions for such a claim involve two of Nietzsche's most interesting and vastly ambitious ideas. One is that a certain form of life, a commitment to values stemming from Greek rationalism and Christianity (,Platonism for the people') is coming to an end, or ,dying' (Greek rationalism and Christian humanism have not been simply .refuted'). By and large he means that such values have ceased to be useful for ,life' (although they used to be), but the question of how and why a form of life might be said to die out is worth several books in itself.3 His second grand claim is interwoven with the first and has to do with what he called the .value of truth'. There has been much paradox mongering around this issue in Nietzsche but he seems most interested in the discovery not that truth in the Platonic sense is simply impossible, but that we have come to see that it does not, cannot, do for us what our hopes had held out. But for the moment we must begin much more simply by letting Nietzsche help us understand what he thinks he is up to. We can then see immediately why even his own category is so rhetorically complicated and elusive. are

II In section § 23 of Beyond Good and Evil, Nietzsche encourages us to .clench our teeth', ,open our eyes', and ,keep our hand firm on the helm'. We are to make a voyage that will entitle us to demand that: „[...] psychology be recognized again as the queen of the sciences, for whose service and preparation the other sciences exist. For psychology is now again the path to the fundamental problems" (see KSA, JGB, 5, 39). This seems to

clearly that Nietzsche, by mentioning the .queen of the sciences' and .fundamental problems', is claiming that psychology' as he understands it will replace

state very

philosophy, especially metaphysics, the former and presumably dead or deposed queen. But what could that mean? What could .psychology' in that claim refer to, and why would it not just be one of the sciences but their ,queen'? If this is not an empirical psychology, is it a .philosophical psychology'? What would its object be? The soul? What does Nietzsche mean by .again'? When was psychology like first philosophy? 3

This is

especially

so

because Nietzsche's claim about the irrelevance of modern science and

phi-

losophy for life (for guiding a life) was so extraordinarily influential (Max Weber's Wisssenschaft als Beruf essay is only one of many examples; the implications of the fact for Carl Schmitt would be another) and because of the way the situation provoked so many .Lebensphilosophien' as correctives of a sort to this .crisis', Martin Heidegger's being the most well known. I defend this reading in Truth and Lies in the Early Nietzsche, in: Robert Pippin, Idealism as Modernism: Hegelian Variations, Cambridge 1997.

Nietzsche 's Moral Psychology and the French Moralist Tradition

315

How does all this square with Nietzsche's resistance to theory? I want to claim that, however resistant he may be to philosophical theory, Nietzsche's claim here is a serious claim and has a determinate content (his ,booby traps' are not self-immolating; something is left standing) and that we have not yet understood either that content or in what sense Nietzschean psychology might replace, even serve as the explicans for, metaphysics or first philosophy in any sense. There are some general characteristics of a Nietzschean psychology with which most Nietzsche commentators would agree. First, he is primarily interested in what we need to say about the psyche to understand what happens when we act on the basis of some value claim, or express in some way a commitment to a value. So, one way of interpreting Nietzsche on the priority of psychology is already visible: he clearly believes that any activity, whether theoretical or practical, already involves such a commitment and so the place of value and its psychological conditions in the economy of the soul must be ,fundamental' for any other activity. More on this below.6 Second, it is often said that Nietzschean psychology must be ,naturalist' and third, that it is therefore largely deflationary. The former, ,naturalism' requirement amounts to an insistence that, when trying to account for the human capacities required when persons direct their actions on the basis of norms, we should only appeal to capacities also discoverable in non-moral or non-ethical contexts, and those capacities must be consistent with our being organic material bodies located in space and time.7 No supernaturalism or immaterialism is to be countenanced, although, as we shall see, this does not settle the issue of the form of an adequate explanation. This enterprise turns out to be critical and deflationary, especially with regard to the set of values and practices that Nietzsche designates as ,morality' the Christian and values of universal absolute individual post-Christian equality, responsibility and guilt. The way the psyche works' in commitment to and pursuit of moral values is in far different than the self-descriptions of moral agents (That psychology is a kind of -

reality8

,

philosophical fantasy). However, it is important to stress that, if the Nietzschean enterprise is deflationary, it is not reductionist. One of the things natural organic beings can do, must do, is to create all sorts of different institutions under varying circumstances, train themselves to observe certain constraints and not others, and there is no reason to believe that exclusive attenBoth of the questions noted above what it means for a form of life to die out, and what Nietzsche means by the declining ,value' of truth, are already examples of how accepting the priority of psychology changes the way we ask questions of Nietzsche. Echoing Johann Wolfgang von Goethe, Nietzsche insists in On the Genealogy of Morals and Ecce Homo, Trans. W. A. Kaufmann, R. J. Hollingdale, New York 1989 (OGM I § 13) that „The deed is -

6

everything" (KSA, GM, 5, 279).

This is how Williams encourages

us to understand what he calls Nietzsche's „minimalist psychology" (Bernard Williams, op.cit.). I mean in .historical' reality. The ,real' roles of ressentiment, hatred and revenge are not instances of any general law about the psyche, but aspects of a ,slavish' institution at a time. To deny that this restriction to historical time could be a possible explanation (because linked to something historically unique) is like saying we cannot discuss why Emma Bovary had an affair with Leon unless we see it as an instance of a general law about bored provincial housewives.

Robert Pippin

316 tion to the

biological or physical properties of these organisms best explains (or could explain at all) why they create one sort rather than another, sustain the institutions or abandon them, and no way a purely natural science account could explain what these institutions actually mean to the participants, what they take themselves to be doing. This qualification, that Nietzsche's naturalism is not a reductionism, is especially apparent when he notes the difficulties of understanding what, for example, ,punishment' meant at various times to various communities, something that would have to be settled before we could investigate what might have ,caused' the commitment to such a practice. Ill

But why should psychology, understood in this way (in terms of these three features), be so important that it becomes .the queen of the sciences' and so functions like metaphysics used to function, as the path to all the ,fundamental problems'? This is the question that will occupy me for the rest of this paper, so let me present a preview of that treatment. There are three parts to what follows. I want first to consider the most prominent, conventional reading of what Nietzsche means by the priority of psychology (that he means to refer to his ,doctrine' of the will to power). I don't agree with this reading and want to suggest, secondly, by contrast, how indebted to early modern French moralists, or moral psychologists, Nietzsche understood himself to be. Understanding that indebtedness will help us understand what Nietzsche means by his .priority' claim, especially as it involves the priority of the issue of commitments to values in assertings and doings, finally erotic commitments to, identification with, values (something possible only within a community, as a result of acculturation). This will then, thirdly, put us in a position to understand the enterprise that Nietzsche proposed as this successor, post-metaphysical, post-philosophical even, sense-making practice: psychology as a gay science, a ,fröhliche Wissenschaft'.

IV Here then is a conventional view, one with which we are all familiar. Nietzsche seems to be referring to a new sort of fundamental doctrine or teaching that takes in ,everything', as much cosmology as ontology, as much metaphysics as natural science. The ,will to power' seems to be the name of this new doctrine, and such a doctrine clearly has many psychological implications. All of nature, especially organic nature, most especially human psychological nature, is to be understood as the expression of a basic drive to dominate and exert power over as much as possible, not to be subject to any other will or

drive. This almost seems to amount to a psychologizing of being itself, attributing to everything what seems in itself a psychological drive.9 After all, that Paragraph 23 in A standard statement of this

position:

AntiChrist, New York 1968, 206f.

Walter

Kaufmann, Nietzsche: Philosopher, Psychologist,

Nietzsche 's Moral Psychology and the French Moralist Tradition

317

Beyond Good and Evil had begun with: „All of psychology so far has been stuck in moral prejudices and fears: it has not ventured into the depths. To grasp psychology as morphology and the doctrine of the development of the will to power, which is what I have done nobody has ever come close to this, nor even imagined it" (ibid., 38). Nietzsche is famous for having said such things as „Life itself is will to power" (§ 13; KSA, JGB, 5, 27)10 and a bit later in his Genealogie, he had written that: „All events in the organic world are a subduing, a becoming-master, and all subduing and becoming master involves a fresh interpretation, an adaptation [...]" (OGM, 5, 314). And, in a much quoted passage in the same section: „But purposes and anything deemed useful are only signs that a will to power has become master of something less powerful and has imposed upon it the character of a function; and the entire history of a thing, an organ, a custom can in this way be a continuous sign-chain of ever new interpretations and adaptations [...]" (ibid.). These are standard quotations, although there are indications immediately that it will not be easy to find the right category for these claims. For one thing, even though Nietzsche seems to be talking about the organic world here, this ,becoming-master' is, rather oddly, discussed in terms of ,new interpretations' and ,an adaptation'. This sounds like the gigantomachia of philologists, not the sort of bloody test of brute, cruel, merciless strength with which Nietzsche has been associated. The same is true of phrases like the ,sign chain of ever new interpretations and adaptations'. Nietzsche clearly does not want ,power' to function as a purpose or basic drive, since he is admitting freely that what counts as power changes frequently and radically, and so itself is a subject of contestation and dispute. (Unless power were a very unNietzschean end in itself, it is also unclear how the appeal to power would figure in any psychological explanation, since it is unlikely that persons would simply seek to gain power unless they already desired some end which such power could serve). Moreover, unless we are willing to think that Nietzsche actually believed that the cosmos was some sort of living brute with its own psychology, this sort of approach leaves us right back again with metaphysical foundations and psychological implications, exactly the model Nietzsche says he is replacing.13 -

Perhaps

the most famous passage is in

Beyond Good and Evil: Prelude

to a

Philosophy of the

Future, Trans. W. A. Kaufmann, New York 1989 (BGE, § 36). As Maudmarie Clark has pointed out, this famous claim that the world „seen from inside", with respect to its .intelligible character' would be „will to power and nothing else" is stated as a conditional, and relies on premises (like the

11

2

13

causality of will itself) that Nietzsche elsewhere explicitly rejects. (I would add that the idea of the .intelligible character' of the world is in scare quotes because it also invokes a premise that Nietzsche clearly denies. Clark is also right to note the nearby passage on exoteric and esoteric meanings. See Clark's essay: Maudemarie Clark, Nietzsche's Doctrines of the Will to Power, in: Nietzsche-Studien, Bd. 12, 1983, 464f. Friedrich Nietzsche, On the Genealogy of Morals and Ecce Homo, Trans. W. A. Kaufmann, R. J. Hollingdale, New York 1989 (OGM).

And there is no indication that Nietzsche either thinks that we can will to have desires that can be satisfied effectively, or that he thinks all desires are in fact desires for power (in which case the will to power could be distinguished from nothing else and would explain nothing, as Clark points out). The attack on any putative autonomy or priority for philosophy in the name of psychology can get quickly complicated in the passages where Nietzsche discusses it, since the nature of any appeal to

Robert Pippin

318

For another thing, it is easy here to explode one of the ,booby-traps' planted by Nietzsche. Here is one from the Assorted Opinions and Maxims section of Human All Too Human: „An original sin of philosophers Philosophers have at all times appropriated the propositions of the examiners of men (Menschenprüfer), the moralists, and rained them, inasmuch as they have taken them as unqualified propositions and sought to prove as necessary claims what these moralists intended merely as approximate signposts or even as no more than truths lasting a decade or so and through doing so these philosophers sought to elevate themselves above the moralists" (KSA, MA-2, 2, 382). The example Nietzsche gives of this original sin is a telling one Arthur Schopenhauer on the will. Nietzsche claims that Schopenhauer was in reality, without appreciating the fact himself, a .moralist', who rightly used the term .will' loosely, and „remoulded the notion as a common designation for many different human states and inserted into a gap in the language", and so earned the right „to speak about .the will' as Pascal had spoken of it" (ibid.). Unfortunately though „the philosopher's rage for generalization" turned such a moralist façon de parler into a metaphysical claim about the omnipresence of the will in all of nature (a claim Nietzsche calls a piece of „mystical mischief (mystische Unfuge) and so ended up turning everything „into a false reification" (ibid., 283).14 I would venture the guess that if the .Nietzsche community' were to agree that no new book on Nietzsche could be written until it were made consistent with this admonition, publication would ground virtually to a halt. What Nietzsche is warning against here the substantialization and reification of what is really a kind of place-holder used to very different purposes by .moralists' is an interpretive tendency shared both by the anglophone academic philosophy literature and the European literature so influenced by Martin Heidegger's lectures on Nietzsche in the 1930's, which famously claimed Nietzsche as a metaphysical thinker and the will to power as his metaphysical doctrine.15 Even more valuable is the reference to .Menschenprüfer', or to ,the moralists'. To whom is he referring? Explicity and quite favorably in this passage to Blaise Pascal. Now it is always acknowledged that the great .French moralists', especially but not -

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-

14

15

psychological factors is itself characterized as his own strategy of sorts, already a contestation over kinds of lives and evaluations of such kinds. This can make for very compressed passages and confusing implications. In JGB, the „conscious thinking" of a philosopher is said to be „guided and forced into certain channels by his instincts", but the psychological reductionism suggested is then undercut by the fact that these instincts are identified not with impulses or passions but with „valuations", „Wertschätzungen", a qualification itself complicated when these valuations themselves are then re-described as „physiological", although, to complete the circle again, not physiological forces, but demands (Forderungen) for the „maintenance of a certain type of life" (KSA, JGB, 5, 17). (There are few passages as representative of the denseness and complexity of Nietzsche's style). Nietzsche makes the same charge against Schopenhauer in The Gay Science, New York 1974, Trans. W. A. Kaufmann (§ 127). In his first 1936 lectures on Nietzsche, Martin Heidegger says that Nietzsche's basic thought is „the will to power", that it is an „answer to the question, ,what is it to be an entity'", and so is a „metaphysical" doctrine, a name for the basic character (Grundcharakter) of any entity (Seiende). (Martin Heidegger, Nietzsche, Pfullingen 1961, Bd. I, 12). The passage is entitled Nietzsche als metaphy-

sischer Denker.

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319

exclusively of the sixteenth and seventeenth century, were heroes to Nietzsche, that he

praise.16

mentions them often and often with exorbitant It is also clear that he treats them as »psychologists' in a very broad sense but with that specific focus noted above how we should understand what happens when people appeal to normative considerations, or try to live well, how those norms have come to matter to people, how even they could or could not come to matter. The names in question are also clear: Above all and by a wide margin Michel Eyquem de Montaigne (about whom he had almost nothing critical to say)17, and also François de La Rochefoucauld, and Pascal round out the top and pretty distinct group.18 These three especially all join a Nietzschean pantheon of heroes with very few members: the pre-Socratics, Greek poets, Thucydides, some Romans, a few from the Italian Rennaissance, Barach Spinoza, Napoleon Bonaparte, Johann Wolfgang von Goethe, William Shakespeare. He even once dedicated a whole book to Voltaire (although he eventually lost faith in Voltaire's optimism and reliance on reason)19, and Stendhal (Henri Beyle) is also frequently lionized, again as a ,moralist'. It is sometimes said that this French influence is only relevant to Nietzsche's own ,moraliste' period, or the three books Human, All Too Human, Daybreak and The Gay Science. But as we have already seen, the formulations of his task as psychology' extend well beyond this period. We will see their influence in BGE, GM, and his autobiography of sorts, Ecce Homo. There are others (Nicolas Chamfort, Paul Bourget, Luc de Clapiers Vauvenargues, even some interesting remarks about Bernard Le Bovier de Fontenelle)21, but what is

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typical summary from Ecce Homo: „It is a small number of old Frenchman to whom I return again and again: I believe only in French culture and consider everything else in Europe today that calls itself .culture' a misunderstanding not to speak of German culture" (KSA, EH, 6, 243; KSA, Za, 4, 284). It is interesting that Nietzsche relied heavily on Friedrich Albert Lange's Geschichte A

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des Materialismus, read most of the French in German translation, but often cited them in French. See: David Molner, The influence ofMontaigne on Nietzsche, Nietzsche-Studien, Bd. 22, 1993 and W. D. Williams, Nietzsche and the French, Oxford 1952. Perhaps the clearest and most enthusiastic about Montaigne: „I know of only one writer whom I would compare with Schopenhauer, indeed set above him, in respect of honesty: Montainge. That such a man wrote has truly augmented the joy of living on this earth. Since getting to know this freest and mightiest of souls, I at least have come to feel what he felt about Plutarch: ,as soon as I glance at him I grow a leg or a wing'. If I were set the task, I could endeavour to make myself at home in the world with him." (Untimely Meditations, Trans. R. J. Hollingdale, Cambridge 1997 (Schopenhauer as Educator, KSA, SE, 1, 348). As we shall see soon, the Platonic, Phaedrus-like sexual imagery at the end of this passage is no accident. For some mild criticism of Montaigne (on skepticism), see KSA, JGB, 5, 137ff. There are in the KSA a total of 48 references to Montaigne, 98 for Pascal and 27 for La Rochefoucauld. Given what Nietzsche felt about Spinoza, it is extraordinary praise for Nietzsche to say that Pascal „is deeper than Spinoza" (KSA, NF, 11, 563). The Gay Science, New York 1974, Trans. W. A. Kaufmann. [GS], § 37. Brendan Donnellan, Nietzsche and the French Moralists, Bonn 1982. Cf. also Nietzsche's summary account of French superiority, their „voluptate psychologica" (KSA, JGB, 5, 199). For Nietzsche's lists of the worthy French, see Menschliches, Allzumenschliches (KSA, MA-2, 2, 646), Nachlass from 1883, (KSA, NF, 10, 243); for the famous Hadesfahrt passage, pairing Epicu-

Robert Pippin

320

important, I want to argue, is the direction suggested by the passage just quoted from Human All Too Human. I can state the thesis that I want to argue very simply in the terms ofthat passage: Nietzsche is much better understood not as a great German metaphysician, or as the last metaphysician of the West, or as the destroyer or culminator of metaphysics or as very interested in metaphysics or a new theory of nature at all, or as a scientist manqué, but as one of the great ,French moralists'. The point is not only that that is how he sees himself, but that what he is trying ,to do', as I put it before, is much more interesting, provokes more interesting questions and counters than he does ,qua The questions then are clear: what sort of a psychologist is a „moralimetaphysician'. ste"? 2 But more problematically: In what way does such a psychologist avoid the ,original sin' of philosophy, the ,falsche Verdinglichung' of his terms of explanation so typical of philosophers? And, yet again, in what sense is such an enterprise the queen of the sciences? V What interests Nietzsche in

,essays'

or ,maxims' or ,pensees', I want to suggest, is that and with no hidden reliance on, a ,deeper' philosophical presented without, they of human of nature of anything else, and it is clearly an assumption or reason or theory in all three (and by Nietzsche) that this is not a limitation but unavoidable if one is to write ,honestly', and so is a virtue. Pascal's l'homme honnête is the clear model for the Nietzschean .freie Geist' from the 1876 Nachlass written in preparation for Human All Too Human, and thereafter.23 It is also no accident that the three moralists Nietzsche admired the most wrote in such unusual, original forms, as we shall see.24 Here is what I think Nietzsche got from this reading of ,les moralists', especially in the late 1870's: while, according to Nietzsche, La Rochefoucauld's tendency to see petty egoism everywhere finally belittles man unfairly, and while Pascal's noble soul was eventually crashed by Christianity or the Christian understanding of the weakness and depravity of man, the Nietzschean question is at its clearest with Montaigne. How,

are

with Montaigne, Goethe with Spinoza, Plato with Rousseau, and Pascal with Schopenhauer, see ibid., 533. „A normative psychologist everywhere informed by genealogy" I have suggested in a preliminary way, although that could mean any number of things at this point. Vivetta Vivarelli, Montaigne und der freie Geist, in: Nietzsche-Studien, Bd. 23, 1994; Vivarelli has established this convincingly. Cf. also Menschliches, Allzumenschliches (KSA, MA-1, 2, 70f.) for Nietzsche and La Rochefoucauld on pity. For criticisms of La Rochefoucauld as still bound to essentially Christian categories of evaluation, see in the Nachlass from 1880-1881, (KSA, NF, 9, 295) and from 1881-1882, (ibid., 441). One might say of Nietzsche what Floyd Gray said of Montaigne: „On peut dire que c'est le mot même qui fait sortir de la plume de l'écrivain tout un nouveau monde, toute une association d'idées qui n'existerait pas avant...les mots ne sont-ils pas appelés par le movement automatique de l'espirit de Montaigne plutôt que par le sense?" (Floyd Gray, Le Style de Montaigne, Paris 1958, 9). See also David Molner, The influence ofMontaigne on Nietzsche, Nietzsche-Studien, Bd. 22, 1993, rus

87.

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321

he wants to know above all, did Montaigne manage to exhibit such a thorough-going skepticism and clarity about human frailty and failings without Pascal's despair and eventual surrender25, or La Rochefoucauld's icy contempt for the ,human all too human'?26 Instead Montaigne ended up a thoughtful, ferociously honest, cheerful free spirit, someone who had succeeded at the task, „[...] making oneself at home on the

1,348).27

earth" (KSA, SE, When the question is formulated this way it is clear that what Nietzsche is looking for is not, cannot be, an ,argument' in Montaigne that could demonstrate' or justify his overall stance towards the human world, his basic mode of being-in-the-world one might say with Heidegger. (As with Heidegger, so for Nietzsche, being-in-the-world must be actively sustained in some way, as in the sustaining of commitments and projects. Heidegger's term for such a possibility is ,Sorge', care, a term with connections to many of themes in Nietzsche introduced below. Nietzsche is especially interested in questions similar to those posed by the early Heidegger, such as: under what conditions is such concern or care or eros, our orienting commitments, let us say, sustainable and how could it (that is, such a way of ,mattering') come to fail? What is such mattering that it could fail?) In Montaigne's case, Nietzsche realizes that there is no theory underlying the way the world matters to him, as if there were an implied theory about how things could matter and the world fulfills enough of the requirements. All such approaches to Montaigne would be wrong, would simply miss the whole point of Montaigne. What Montaigne understood, how he understood it, what we would be misunderstanding if, with our ,reifying' tendencies, we asked for his ,theory of what matters, of significance, of human nature' and so forth, where and why we would be going wrong in asking such questions, is what Nietzsche is after, what he is pointing to with that distinction between how a moraliste or ,Menschenprüfer' thinks and writes, and the way a philosopher or metaphysician does. This is all most clearly on view in the book that Nietzsche proclaimed as a new era in his thought in 1882, The Gay Science. This science, rather than a new social science or new metaphysics again recalls a French psychological' influence, this time more archaic: the recollection of la gaya scienza, and so of twelfth century Provençal lyric poetry, the earliest poetry extant in a modern European language, and of the troubadours' art of the fourteenth century (Leys d'amors). Given this reference, what then more passages on ,the Pascal Problem', see: Daybreak: Thoughts on the Prejudices of Morality. Trans. R. J. Hollingdale, Cambridge, 1997 (§§ 46, 64). JGB (§ 62) enlists Pascal in Nietzsche's

For

own view of Christian degeneracy; and there are Pensées that could have been written by Nietzsche. See § 597 (the famous ,Le moi est haïssable' paragraph) and Pascal's remarks about the two qualities of the self. Blaise Pascal, Œuvres completes. Présentation et notes de Louis Fuma, Paris 1963,584. Human, All Too Human: A Bookfor Free Spirits. Trans. R. J. Hollingdale, Cambridge 1986, § 36.

Untimely Meditations. Trans. R. J. Hollingdale, Cambridge 1997 (Schopenhauer as Educator, KSA, SE, 1, 348). See also on Le Rochefoucauld and the danger that Montaigne avoided (KSA, MA-1, 2, 59). Also, Morgenröte: ,„Doubt about doubt. What a good pillow doubt is for a wellconstructed head!' this saying of Montaigne's always provoked Pascal, for no one longed for a good pillow as much as he did. Whatever was wrong?" (KSA, M, 3, 53). -

-

322

Robert Pippin

does such

free

spirit know

in

mastering la gaya scienza? Perhaps, as Nietzsche exwould have to know to write such lyrics: or „love as plains, something which is our European specialty [...]" (echoes here very clearly from Stendpassion hal), an „invention" that „must be credited to the Provençal knight-poets, those magnificent and inventive human beings of the ,gai saber' to whom Europe owes so many things and almost owes itself [...]"(§ 260, KSA, JGB, 5, 212). The gay science is then a knowledge of erotics; not so much a knowledge of what love is, as how to love and so live well, and this not technically or strategically, but in some way that ,does justice' to the requirements of love and life. In many of these erotic images, the same theme is announced, and especially the same .tension' manifested. As Nietzsche would recognize from his reading of Plato The there remains tension between all forms of eros and a (especially Republic), deep its satisfactions often private, incommensurable with others', always only one's own and justice, the older word for what Nietzsche calls an intellectual conscience, wanting what is fit or mete or fair to want, not what one simply happens to desire passionately. How to measure and assess this counter-claim of intellectual conscience', in the right way, and how to effect its realization, is what Nietzsche meant by, when describing Montaigne's accomplishments, he had written about ,knowing how to keep one's heart as well as one's suffering in bounds' and poses again the larger question of how to address' possible commitments that cannot be addressed. He once described this difficult problem as leaning how to ,dream' without first having to sleep. The ,tension' formulations certainly indicate that Nietzsche believes that the growth of our intellectual conscience in modernity means that our deepest commitments are not immune to the claims of reflection and justification, as if one could be simply strong enough to ,legislate' in defiance of the claims of reflection. (Again, satisfying these claims of conscience is not treated as transcendentally necessary or anything like that. They have simply taken root; a

like what

one

-

-

-

would now be ashamed to go on without them.)28 Indeed, without that tension, there finally be no dissatisfaction, and therefore no .self-overcoming'; only the easily satisfied ,last men' ,who have invented happiness' and ,who blink'.29 Said in a summary way, Nietzsche is neither merely exhorting us with the rhetoric of shame and aspiration, nor is he merely laying out the results of a discovery about human motivation; in some extremely elusive sense, he is doing both. we

can

This set of issues is similar to what Bernard Williams (Bernard Williams, Ethics and the Limits of Philosophy, Cambridge 1985.) discussed in his book as the relation between reflection (intellectual conscience here) and ethical knowledge (robust commitments here, .knowing' what is most important), and as the danger that reflection can ,destroy' such knowledge. He argues, like Nietzsche that this is based on several false premises, especially that ethical knowledge is of the propositional sort that could be destroyed by reflection. The contrasting picture he paints of a kind of ethical .confidence' is quite in the spirit of Nietzsche on the health proposed by a gay science (as the mention of Nietzsche on p. 171 indicates). See 148, 168ff. Again the interpretive direction is suggested by an image, this time a Homeric one, a bow which must have as much tension as possible in order to shoot well, achieve the .target'. (We can be said to have ,lost' this tension in the late modern age. See my discussion in: Robert Pippin, Deceit, Desire, and Democracy: Nietzsche on Modern Eros in: International Studies in Philosophy, Vol. 32, no.

3, 2000, 63-70.

Nietzsche 's Moral Psychology and the French Moralist Tradition

323

this from other such formulations. In The Birth of Tragedy, the nature of Aeschylus' Prometheus is „at the same time Apollonian and Dionysean", (i.e. conscience and passion driven) and that „can be expressed in a conceptual formula" that recalls the theme just introduced: ,¿411 that exists is just and unjust and equally justified in both" (KSA, GT, 1, 71). The promise, in the history essay of the Untimely Meditations, to be able to employ history ,for life', is also stated explicitly and carefully in the language of justice, as it must be lest this appeal to „history [only R.P.] for the sake of life" turn out to be a call merely for the ideological use of history, even for wishful We

can see

-

thinking. In particular, in an earlier passage from Daybreak, he had noted that „our passion", „the drive to knowledge", „[...] has become too strong for us to be able to want happiness without knowledge or [to be able to want the happiness] of a strong, firmly rooted delusion; even to imagine such a state of things is painful to us! Restless discovering and divining has such an attraction for us, and has grown as indispensable to us as is to the lover his unrequited love, which he would at no price relinquish for a state of indifference perhaps, indeed, we too are unrequited lovers" (D, 429). There is no better image of philosophical eros than such an unrequited love', since it more or less explicitly dominates philosophy's self-image from Socrates on, rendering it useless and even comical in the eyes of non-philosophers. Its greatest modern proponent was Immanuel Kant, who claimed not only that human beings are fated to ask questions that they cannot answer, but that even the finality of the results of The Critique of Pure Reason in setting the limits of knowledge would not put an end to such longing (where the status of this longing was hardly irrelevant to the philosophical enterprise). Indeed even the resolutely prosaic Kant was inspired to use a variation of the image: „We shall always return to metaphysics as to a beloved one with whom we have had a quarrel" (A850/B878). This in effect defines Nietzsche's answer to the question of the philosophical type: it is someone who can sustain an entire lifetime of unrequited love, something that, Nietzsche knew better than anyone, makes the philosophical life a natural subject for comedy. Now, a brief qualification is necessary here. This desideratum represents a ,Montaigne-inspired ideal' for Nietzsche. He clearly never succeeded in reaching it. The fact that his prose sometimes lapsed into a shrieking intensity, the occasional hysteria, the -

Nietzsche's reminder in

Twilight of the Idols and The Anti-Christ, Harmondsworth 1968, Trans. R. Hollingdale, 85, „The desire for a strong faith is not the proof of a strong faith, rather the opposite" (KSA, GD, 6, 119). In The Gay Science, Trans. W. A. Kaufmann, New York 1974, Nietzsche mentions the most sweeping category in all his accounts of this ,tension' problem, and announces that what is distinct about his position is that ,life' will now serve for him as a ,means of knowlJ.

31

edge', and this is what will make possible a ,gay' life (KSA, FW, 3, 553). This must be coupled with FW § 123, where knowledge itself will no longer be a „mere means", not a means to salvation or power or virtue, but itself a great „passion" (Leidenschaft). See: Marco Brusotti, Erkenntnis als Passion. Nietzsches Denkweg zwischen „Morgenröte" und der „Fröhlichen Wissenschaft", in: Nietzsche-Studien, Bd 26, 1997. Friedrich Nietzsche, Daybreak: Thoughts of the Prejudices of Morality, Trans. R. J. Hollingdale, Cambridge 1997.

Robert Pippin

324

drift into the maudlin and sentimental, the hatred venting through some passages, do not at all evince a Montaigne-like peace of mind. Zarathustra may have been cured of his .illness', his despair about mankind, but it is not at all clear that Nietzsche ever was, and it would be an interesting but independent question to pursue the implications of that failure, especially since I believe Nietzsche was well aware of it. But with these two issues, we are back to our original questions, but now with more signposts. Nietzsche's psychological account will not be philosophical theory, in the same way that Montaigne's essays can be said to make determinate claims without being philosophy, and it will not be second-rate or merely .popular philosophy', not quite up to the standards of rigor in real philosophy. And the key to why such a psychology will be a sort of replacement for first philosophy will be because of the primacy of the psychological' question of some basic, always presupposed .stance toward life', an orientation such that things in a life matter or they don't. (The question of Montaigne's equanimity, his .Heiterkeit', is not in the usual sense just a psychological or autobiographical matter because it is implicated in the ,fate of value' question. In fact, being able to will, in the general sense of affirm, direct a life in a way that evinces a sustainable, .living' commitment, amounts to the realization of the will to power in the sense in which Nietzsche most uses it. And, as Zarathustra seems to realize, one cannot achieve such a state alone).32 This is a stance or orientation that cannot be addressed by argument or systematic philosophy or revelation, or at least not by any of them alone, because that would already assume the pre-eminent importance of argument or system or revelation.

VI Now Nietzsche did not have available

(and anyway would have certainly not used) contemporary language pragmatics of intentionality to make this point about but that language is useful in stating the claims especially since the .primordiality', primoridaility point is so important.331 suggest that we think of his primordial problem about the

this way. To know what we ought to believe or are entitled to assert or ought to do, we need to understand the nature of .practical commitments' to some governing standard that we have accepted, one governing what ought to be believed or asserted or done. To assert that something is the case, I unavoidably undertake a set of many related commitments to those to whom I make the assertion, commitments about what else I must affirm to be true and what I must refrain from asserting, given what I claim. Some philosophers who hold that ,meaning is use' see the meaning of the expression as simply consisting in Cf. the interpretation of this fact in: Robert Pippin, Irony and Affirmation in Nietzsche's Thus Spoke Zarathustra ", in: Nietzsche's New Seas: Explorations in Philosophy, Aesthetics, and Politics, Ed. Michael Allen Gillespie, Tracy Strong, Chicago 1988. I am aware that the introduction of the terminology of academic philosophy is a kind of distortion of Nietzsche, but we need some sort of less figurative language; pious repetitions of his claims will „

get us nowhere.

Nietzsche 's Moral Psychology and the French Moralist Tradition

325

these related implied commitments and inferred responsibilities. Some see this network of commitments as demonstrating that even the most basic form of intentionality requires the play of rational commitments. (To be conscious of X is to claim or judge that X, and so to undertake these commitments and be prepared to justify them if challenged.)34 Nietzsche would not agree with these implications, but the point here is to note that the primordiality issue in Nietzsche has to do with value, and in this case this means something like the basic authority of the constraints and requirements I undertake to accept, impose on myself and hold to. To assert, or to pledge to do, or to claim to know, are thus au fond kinds of promises, and such promises are not explicable as merely natural events. The constraints we undertake are not physical impossibilities. They require my futural commitments and my holding to them, sustaining them (under some understanding of, and commitment to, why I ought to), in order to be the promises the assertions and expressions of intention that they are. These sorts of commitments are thus basic or constitutive for the very possibility of thought, belief, action, all intentionality. And like many, Nietzsche would like to understand the source of this normative authority, why and in what sense we are bound as we are. As we have seen, even though he accepts the distinctness of such normative matters, he wants his account to involve and be consistent with what we know about nature. Thus, the famous passage from JGB: „The task of breeding an animal with the right to make promises" involves „the tremendous labor ofthat which I have called ,morality of mores (Sittlichkeit der Sitte)' [...] the labor performed by man upon himself during the greater part of the existence of the human race" (KSA, GM, 5,293). A great deal of this labor involves brute physical violence and coercion, but commentators (especially Nietzschean .naturalists') often overlook the fact that such violence is always in the service of some ideal and that for Nietzsche such a fact must play a role in our explanations. Masters have ideals and a master ,morality' is still in some sense a normative matter, a commitment, not the mere natural expression of a biological type (although it is certainly also that).35 And to be sure, slavish ideals are ,really' strategies of revenge and resistance, but that just means the slaves did not accept being slaves, they ,revolted', even if only .ideologically' and out of fear and -

-

resentment.

Something ,mattered' to them.36

Kant should get the lion's share of the credit for insisting that intentional awareness is not being in a certain sort of state, but actively, even .spontaneously' judging that something is the case. See: Gerold Prauss, Erscheinung bei Kant, Berlin 1971, Robert Pippin, Kant's Theory of Form, New Haven 1981, Robert Brandom, Making it Explicit: Reasoning, Representing, and Discursive Commitment, Harvard 1994. None of this should be taken to imply that such master-types have ,free will' and can simply resolve whether to engage in master conduct or not. That is as false an alternative as the biological destiny view. The locus classicus for that claim is JGB, § 21, where Nietzsche proposes not free or unfree wills, but strong or weak wills. Thus all the famous back-handed compliments to Christianity, as in the Genealogy:„For with the

priests everything

becomes more dangerous, not only cures and remedies but also arrogance, revenge, acuteness, profligacy, love, lust to rule, virtue, disease but it is only fair to add that it was on the soil of this essentially dangerous form of human existence, the priestly form, that man first became an interesting animal, that only here did the human soul in a higher sense acquire depth and -

Robert Pippin

326

We can see more of what interests Nietzsche by noting that the commitments he is interested in are dual. The first we might call a thin or surface commitment of the sort involved when one agrees to play a game or participate in a social practice like voting, and it consists in what obligations one is in fact undertaking, from the point of view of any other player or participant.37 If you undertake to vote, you obligate yourself to vote in the proper precinct, not to vote twice, and so forth, whether you consciously acknowledge that or not; to play chess, not to move the rook diagonally, and so forth. Playing that game is just constituted by those implications and proprieties. You simply wouldn't be playing if you did not observe them. But there is another feature of your commitment that is rather a .depth' commitment and, in this analogy, can be said to concern your commitment to the game itself, to its significance. This concerns the difference between voting in a bored and mechanical way just because everyone else is doing it, with little stake in the outcome (but observ-

ing the rales, observing the implications of, your thin commitments), and voting ,as if your life depended on it', with a full or deep (or one might even say ,existential') commitment to the practice. (Getting married involve undertaking a set of commitments, but knowing what that set is tells us nothing about how one will act out that commitment. Professions of love on the other hand cannot be such professions if they only involve a legal pledge to fulfill the future commitments required of love.)38 With these distinctions in place, we can reformulate Nietzsche's problem and move back to The Gay Science. Certain events occur, certain practices are instituted and sustained, because human beings come to be committed to certain norms. These constraints and directives do not merely happen to people; the commitments must be undertaken as such, and they can be and often are abandoned.39 (This is hard; it does not come for free by virtue of your .type'). Such an undertaking can be somewhat legalistic and thin, but in all distinctly human forms of life we can also detect some basic, full-blooded or deep, ,orienting' commitments.40 It is usually by means of these latter that collective practices can be sustained over time, resist attack on them, and be resilient to some natural degeneration of intensity. Moreover these depth commitments can be called basic, because in undertaking them we are not fulfilling some .other' commitment, as if there could be become evil and these are two basic respects in which man has hitherto been superior to other beasts" (On the Genealogy of Morals and Ecce Homo, Trans. W. A. Kaufmann, R. J. Hollingdale, New York 1989,1, §6). You are also not ,playing' the game if you have only learned how to mimic the actions of others in ways that go undetected; you have not thereby undertaken' to play the game. I am relying heavily in this section on the compelling analysis offered by John Haugeland's essay Truth and Rule-Following in his Having Thought: Essays in the Metaphysics of Mind, Cambridge 2000. They can be abandoned either because one comes to believe they ought to be, or, much more likely, because few people have any stake any longer in the sustaining of the practice or enterprise. The commitment ,dies out'. As I note below, there may not be such deep or what Harry Frankfurt calls „wholehearted", secondorder evaluative attitudes towards first order-desires. See his essay Identification and Wholeheartedness, in: Harry G. Frankfurt, The Importance of What We Care About, Cambridge 1988, 164, 175f. -

Nietzsche 's Moral Psychology and the French Moralist Tradition

327

universal obligation to undertake some depth commitments. That would obviously start an infinite regress. There does though appear to be some hierarchical relation between thin and depth commitments. In speaking or acting we commit ourselves to a variety of obligations that cannot all be fulfilled and we need some orienting concern, a

general sense of what is more or less important to us if we are to resolve such (As we shall see, it is however possible to get by with, let us say, a fairly ,thin' depth commitment). There is though no universal or neutral account of what justifies or warrants or even generally explains such depth commitments, although it already appears that such an orientation with regard to what matters or is of significance must be in some way prevolitional and pre-reflective (unless the basic commitment is already to volitional strength or to surviving reflective adequacy). The most we can say is that the commitment is a kind of erotic attachment, as mysterious in its way as the appearance and disappearance of an inspiring eros. (,Depth' would then be another word for a passionate identification' with a commitment). Nietzsche's invocation of eros is, like the Platonic Socrates', very broad and not limited at all to sexual desire. It is however important to him that such an aspiration be corporeal. Something grips us, it is something we cannot help caring about; it would not be love if it were in the service of some instrumental strategy, and it involves far more than a felt desire. It involves a wholehearted, passionate commitment and identification with a desired end. Finally the commitment question and its psychological conditions are basic because any account of what it is to claim knowledge or recommend action presumes some such always already prior commitments. (So that even ,being generally indifferent' to the priority or importance of desire satisfaction can count as basic in this way, although that picture can be quite odd, as odd as Bartelby's profound indifference in Herman Melvilles' story.) It would thus be correct to say that Nietzsche believes that the normative authority of any goal or object or practice is a result of a certain projection' of value or selfimposition of authority. He is no realist about value. But this would also be a misleading characterization. No one faces a world of neutral objects and possibilities and decides' with what sort of importance to invest some, anymore than one faces an array of persons and ,decides' which to ,invest' with love. The question of the possibility and the nature of this investment of value that is not really an active projection is what I think Nietzsche means by his primordial psychology.43 We can also now say that Nietzsche believes, and is attempting to present evidence for, the claim that the depth of the most important shared commitments in the Christianhumanist form of life is ,thinning out rapidly' and the urgent question of ,what is possisome

conflicts.

ble now' must take some account of historical constraints that cannot be willed away but must somehow be acknowledged, of the absence of any hope for a universal account Cf. the way Frankfurt, in another essay, On Caring, discusses why caring should be understood as a „foundational activity", and as a „fundamentally constitutive feature of our lives." See Harry G Frankfurt, Necessity, Volition, and Love, Cambridge 1999, 162f. See Harry G. Frankfurt, The Importance of What We Care About, 1988, 174ff. This would be a point of difference with Frankfurt, who makes a good deal out of the ,making' up one's mind and the

,deciding' language of identification.

Robert Pippin

328

of .what ought to be valued', and of what now threatens any such ground commitment or erotic attachment.

or

enhances the

possibility of

VII These reformulated Nietzschean claims raise many questions of course. Why should we believe there are such commitments? Why can't we treat them as always subject to reflective, rational deliberation? Why are they so primordial that they cannot be directly addressed? That is, why can't we treat such attitudes as beliefs about what ought to be done, held for reasons that I or anyone can challenge? Is Nietzsche saying that no possibly action-guiding commitment could be a deliberative result of the exercise of reason, or is he just saying that, in the cases he is interested in, the empirical evidence is such that that is very unlikely? This would presumably mean that while it might be possible to explain an individual's commitment to, say, moral equality by saying he became convinced that it was true, in the historical case at issue, given the conditions of slavish life and the ultimate content of the belief, such a rational explanation would be

implausible.

Nietzsche addresses these issues in a number of different and sometimes very unusual ways. For one thing he clearly admits that it is quite possible to lead a life without much of depth commitment to anything, perhaps because the skeptical climate of late modernity has made them seem impossible to sustain. One of the greatest difficulties in Nietzsche's account of such types whom he calls the .last men', or .pale atheists' is that their constant irony, reflexive sophistication, skepticism and atheism would seem to qualify them as ,Nietzschean heroes'. They certainly are not, but it is not at all easy to say just what they might have ,gotten wrong' from Nietzsche's point of view. And Nietzsche is certainly not merely encouraging them to be more passionate in their skepticism or atheism. But in general, Nietzsche's response is much like what we have already seen. For example, believing that I should refrain from acting on some possibility that I find in some experiential way compelling until I can assure myself that such an action would be in principle equally available to all, or until I can be assured that it produces the greatest good for the greatest number to submit myself to this sort of regulation by considerations of others cannot be shown to be an unavoidable or some always already presupposed commitment. In fact, just as minimally described, such a self-constraint is, prima facie, bizarre. As we have also seen, the conditions under which any such depth commitment could happen are quite complex. A revolutionary alteration in such shared commitments cannot be arbitrary or mere wishful thinking, an appeal merely to imagination; justice' -

-

-

-

mean something like Kant's ,fact of reason' argument, that the claims of reason, the insistent call of the demand for normative justification among subjects, is in some practical sense unavoidable in order to be free actors at all. If he knew of Jonathan Swift's famous remark, he would cite it: .You do not reason a man out of something he was not reasoned into.'

I

Nietzsche 's Moral Psychology and the French Moralist Tradition

329

must be done to what has developed as our .intellectual conscience'. And that means that the sort of contempt that Nietzsche wants to inspire in us about our present state must account for that state properly, must presume an adequate genealogy, rest on a credible account of psychological meaning. However, as we have also seen, there is no particular reason to think that such an account of real psychological meaning is of any use simply of itself ,from the perspective of life'. Such a truth (say about the slavish origins of Christian and later liberal-democratic value) cannot without further ado be incorporated', made .instinctual', amount to a new sort of depth commitment. Sometimes Nietzsche seems to think we will be able to take a kind of pride, retrieve a kind of dignity, from what amounts to our courage, our willingness to face the groundlessness of these commitments in ways no other age has. Again the early Heidegger is relevant here, since for him too death serves as this new god, its utter nothingness at least the occasion of resoluteness and authenticity, and so a kind of nobility.46 And again there is a similar difficulty. It is hard to see that any course of action or new project is suggested by such a pride. Such a satisfaction in our honesty on its own inspires no course of action or resistance or civilizational project. As Nietzsche puts it in 77ze Gay Science (§ 7), the question remains „[...] whether science can furnish goals of action after it has proved that it can take such goals away and annihilate them" (KSA, FW, 3, 379).47 If that truth is all that we now stand by, it reduces us to the perspective of that ,animal' Nietzsche often mentions when he wants to remind us of how low minded and practically dangerous such a view and even his own genealogies, can be: frogs. What we need of course is la gaya scienza and so far we seem condemned to perpetual introductory circles, careful about what it is not, wary of hastily defining it. But we have come far enough to know what it might mean; that it is a kind of poetry, a love poetry meant to call to mind an extremely idealized love, and engaged in not for purely aesthetic reasons, but for the sake of some conversion, or seduction, and the attachments and commitments it inspires are a condition of life'. In more traditional philosophical terms, Nietzsche often suggests that we start going wrong in all this when we think of ourselves as having exposed such true groundlessness .underneath' the deceptive appearances, that this is what the claim of intellectual conscience has fated for us. And Nietzsche clearly wants to discard as misleading that simple distinction between appearance and reality. He is well known for claiming, in his own mini-version of the self-education of the human spirit in The Twilight of the Idols, that: „We have abolished the real world: what world is left? He apparent world perhaps? [...] But no! with the real world we have also abolished the apparent world" (KSA, GD, 6, 81 ). Such a theme introduces far too many issues to allow an adequate treatment here. But since this issue comes up so frequently in The Gay Science, and is so essential in everything discussed so far, a brief final discussion of it might at least indicate the direction Nietzsche is suggesting, if not a detailed road map showing how to get there.

See the valuable discussion by Heinrich Meier, Der Tod als Gott: Eine Anmerkung zu Martin Heidegger, in his Das theologisch-politische Problem. Zum Thema von Leo Strauss, Stuttgart 2003. This of course the question which Max Weber answer so firmly in the negative in his Wissenschaft als Beruf.

Robert Pippin

330

The image that sums all this up is mentioned at the end of the second edition Preface of The Gay Science: „And as for our future, one will hardly find us again on the paths of those Egyptian youths who endanger temples by night, embrace statues, and want by all means to unveil, uncover, and put into a bright light whatever is kept concealed for good reasons. No, this bad taste, this will to truth, to ,truth at any price', this youthful madness in the love of truth, have lost their charm for us; for that we are too experienced, too serious, too merry, too burned, too profound. We no longer believe that truth remains truth when the veils are withdrawn: we have lived too much to believe this. Today we consider it a matter of decency not to wish to see everything naked, or to be present at everything, or to understand and ,know' everything" (KSA, FW, 3, 351f). He then anticipates the beginning image of JGB, but now more graphically: „Perhaps truth is a woman who has reasons for not letting us see her reasons. Perhaps she is to speak Greek Baubo" (ibid.). Baubo is a renowned, clowning, ribald goddess of female sexuality, famous for having made Demeter laugh when that goddess was withholding fertility from the world.49 She is often portrayed simply as the lower half of the female body, a face on a pregnant belly, a large hat covering the top, and as the bearer of the suggestion that the wellbeing of the world depends on the satisfaction of female sexuality, something itself light-hearted and joyous. (She is occasionally presented as the personification of female genitalia,50 and this also jokingly. In fact a good pictorial summary of her image might be René Magritte's Le Viol).iX That is, she is another avatar of,Heiterkeit' and a ,fröhliche Wissenschaft' and suggests a faith in the .eternal return' of life, an affirmation even in the face of the tragic loss of Persephone. It is also another suggestion that the self-image philosophers have of themselves as courageously trying to see what lies hidden is better understood as an obscene attempt to look up a woman's dress, as if that is where her sexuality exists, hidden. It is more inappropriate and grotesque than impossible (in Kant's sense of impossible, say), as misguided and crude as trying to find what lies ,behind' our basic commitments. This suggests one last echo from the original meaning of la gaya scienza. In § 59, Nietzsche recalls the simple fact that the poetic language of love cannot survive (without loss of meaning) any radical literalization. It is impossible and quite wrong-headed -

-

Again the echoes from Pascal;

with „das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehn „Le coeur a ses raisons, que la raison ne connait point".

zu

lassen"

recalling

Nietzsche concludes the Epilog to Nietzsche Contra Wagner with the same sort of reference to Baubo, and uses virtually the same words as the FW passage (KSA, NW, 6, 439.) This is particularly stressed in Devereux's valuable book: Georges Devereux, Baubo, la vulve mythique, Paris 1983, which, besides being an exhaustive account of the details of Baubo in mythology, and a summary of many different interpretations, also contains a good catalogue of illustrations. (I am grateful to Klaus Reichert for steering me to Devereux's book.) It may sometimes seem that Nietzsche's many erotic images are fairly abstract, or divorced from genital sexuality, but the Baubo references indicate that he was well aware of the corporeal dimensions of the metaphors and similes. See Barbara G. Walker, The Woman's Dictionary of Symbols and Sacred Objects, San Francisco 1988, 235f. See the discussion in: Sarah Kofman, Nietzsche et la scène philosophique, Paris 1986, 254ff.

understand such figurative or poetical expressions as appearances or distortions plastered onto some sober secular truth. Here especially ,the truth' does not remain truth when the veils are pulled aside, as if the idealizations and appeals to imagination would to

,honestly' expressed as some adaptation in an evolutionary if in expressed Oedipal, psychoanalytic terms, or if translated into some natugame, ralistic interest in power or satisfaction.5 It is possible to say that there is some sort of biological drive behind our efforts at reproduction, for example, and even behind the creation of social rules for that process, but it is not possible to imagine such a language of need and drive ,employed in an address to another', as a practical proposal to another, within what Nietzsche has called the context of ,life'. And yet all of this does not mean that we require some sort of idealized distortion' of such a nature in order to be able to bear each other's claims on one another. Here the language of appearance and reality breaks down in a way that Nietzsche clearly signals as a model for what he means by, hopes for, in a ,gaya scienza', where that breakdown is taken to heart. And this way of putting the point makes it clear that Nietzsche also imagines that the experiment in so addressing each other might easily and contingently fail and fail catastrophically ; it may just be the case that a sustainable attachment to life and to each other requires the kind of more standard, prosaic illusion' (a lie) that we have now also rendered impossible. But like all desire, Nietzsche's is, as he says, ,unjusf and does not measure itself by the rationally probable. Hence Nietzsche's unusual rhetoric: at once an attempt to shame and to inspire, all by merely manifesting his own aspiration, by offering an image of a life in which what are now taken to be all the possible reflective means of sustaining desire have been lost, but which rejects any idea of a merely apparent life having been revealed. If so, then the most sweeping expression for what is now needed will turn out to be as difficult as it sounds: to sustain the intellectual conscience constitutive of a philosophical life, but now without what had been traditionally understood as philosophy, the exposure of the reality behind, hidden beneath, the appearances. ,Can' there still be philosophers, in other words, without philosophy? ,mean the same' when or

,

It is

a

ironic that

ones, do

a large number of interpretations of Nietzsche, especially the so-called ,naturalist' precisely what he is here forbidding.

V. Rezensionen

Christian Niemeyer, Nietzsches andere Vernunft. Psychologische Aspekte in Biographie und Werk, Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1998; Ders., Nietzsche, die Jugend und die Pädagogik. Eine Einführung, Weinheim, München, Juventa 2002.

Ende der 1980er und Anfang der 1990er Jahre ist in der deutschsprachigen Nietzscheinterpretation mit den Arbeiten von Hermann Josef Schmidt, Jörgen Kjaer, Joachim Köhler, Klaus Goch, Jochen Zwick u.a. nicht nur ein verstärktes Interesse an Nietzsches Biographie, sondern auch an biographisch orientierten Gesamtinterpretationen von Nietzsches Werk festzustellen gewesen. Christian Niemeyers Buch aus dem Jahr 1998 Nietzsches andere Vernunft reiht sich auf den ersten Blick in diese Serie von Lesarten ein, in denen Werk und Leben mehr oder minder als eine Einheit betrachtet werden. Die grundlegende Frage, mit der sich solche Interpretationen beschäftigen, geht darauf, wie sehr man das Werk Nietzsches als Reaktion auf und als gelungenen Versuch der Befreiung aus den sozialen Codierungen, die ihm durch seine Erziehung (im weitesten Sinn) eingeprägt worden sind, lesen kann. Nietzsches sprachkritisch fundierte Erkenntnis, dass wir grundlegend in Zeichenprozesse verstrickt sind und durch diese geprägt werden, wirkt sich noch in seinem Versuch, dem Zeichen des Kreuzes das dionysische Zeichen entgegenzusetzen, aus (vgl. KSA, EH, 6, 374: Schlusspassagen in Ecce Homo). Das geht im Spätwerk mit massiven Selbstthematisierungen von Seiten Nietzsches einher. Es ist also nicht verwunderlich, dass Interpreten in seinem Werk nicht nur einen Aufstand der und gegen die Zeichen konstatieren, sondern darin auch den Prozess der Selbstwerdung Nietzsches im Konflikt mit den ihm im Laufe seiner Sozialisation eingeprägten öffentlich verbindlichen Zeichensystemen erblicken. Nun kehrt auf der Ebene der biographischen Erklärangsmodelle ein typisches Problem der Nietzsche-Forschung wieder, dem mit Modellen hermeneutischer Raffinesse zu begegnen ist, die nicht unbedingt zu den Tugenden der zu Reduktionismen neigenden biographischen Interpreten zählt: Die Unzahl der einander ausschließenden autoritativen Metatexte, die als Überbau zu Nietzsches oeuvre angeboten werden. Anders als in der marxistischen Axiomatik angenommen, spiegelt hier der jeweils konstruierte Unterbau den jeweils unterstellten Überbau. Wie sollte man sonst auch den Weg vom Werk zum Leben und von diesem zurück zum Werk gehen können? In diesem Feld bezieht N. relativ eindeutig Position, die er schon im Titel seines ersten NietzscheBuches deutlich anspricht. Er sucht, das ,Andere' von Nietzsches Vernunft ausfindig zu machen. Unter diesem oft (vgl. I: 31, 69, 126, 269, 275, 280, 309, 324, 338) angesprochenen ,Anderen der Vernunft' versteht er die ,von der Aufklärung abgedunkelte Seite'. Dabei gesteht er Nietzsche, anders als manche der angesprochenen Autoren, eine durchaus aktive Rolle zu: weniger finden wir in seinen Werken eine Symbolisierung, die sich der .Wiederkehr des Verdrängten' verdankt, sondern vielmehr ein Ringen Nietzsches, dieses in seine Persönlichkeit zu integrieren und einen letztlich (zumindest auf der theoretischen Ebene) geglückten Versuch, dies zu tun. Nietzsches schriftstellerische Leistung wird hier, ohne dass dieser Zusammenhang explizit ge-

336

Rezensionen

macht wird, in die Nähe von Julia Kristevas Konzept der Revolution der poetischen Sprache' gerückt. Somit thematisiert N. auch relativ deutlich das oben angesprochene Dilemma des Verhältnisses von ,Ober'- und ,Unterbau'. Über das, was eine reine Widerspiegelungstheorie unterstellen müsste, hinaus, liest er Nietzsches Denkweg wenn er ihm auch autotherapeutische Funktionen zuweist (vgl. I, 205, 295, 299) nicht als Reflex' von dessen negativen Erfahrungen in Kindheit und Jugend, sondern als Gegenentwurf zur herrschenden Moralität, der freilich auf Nietzsches persönlichen Erfahrungen aufraht. Damit entgeht er der prekären Frage, warum nicht jede Person mit ähnlichen Erfahrungen Werke wie diejenigen Nietzsches verfasst hätte. Anders gesagt, er nimmt Nietzsche als Philosophen ernst und kämpft gegen alle diejenigen Interpretationen an, die die destruktiven Seiten an Nietzsches Werk herausstreichen, indem sie den Unterschied zwischen der deskriptiven Moralanalyse Nietzsches und deren von oberflächlichen Interpreten unterstellten präskriptiv-normativen Sinn unter den Tisch fallen lassen (zu diesem Unterschied vgl. I, 279, 402). Letztere Interpreten sind sich zuletzt darin einig, dass Nietzsche ein ,Protofaschist', ein unfreiwilliger Vordenker des Nationalsozialismus oder zumindest jemand, der zu Rücksichtslosigkeit und Machtstreben aufgerufen habe, gewesen sei. Die biographische Analyse dient dann letztendlich dazu, die Last der damit aufgehäuften ,Schuld' von Nietzsches Schultern zu nehmen und gleichmäßig auf Elternhaus, Kirche, Schule usw. zu verteilen. Das, was Nietzsche sozialpädagogisch angestrebt hat, der von vielen Interpreten angeklagte ,elitäre Individualismus' Nietzsches wird so von N. zwar auf Nietzsches Suche nach Bindungen zurückgeführt (33), jedoch positiv als die Gemeinschaft „freier Einzelner" (I, 322; vgl. auch I, 387-99; 2002, 252f.) dargestellt. Hier kann freilich nicht auf die Detailanalysen N's, der dies an Nietzsches Vater- und Mutterbindung, und ausführlich auch anhand des Verhältnisses zu Richard Wagner, entwickelt, eingegangen werden. Zwei Fragezeichen will ich dennoch anbringen: In I, 362f. scheint N. Nietzsche im Antichrist einen Rückfall ins Ressentiment vorzurechnen und begibt sich damit in die Nähe des Standpunktes, den Timo Hoyer in seiner Studie Nietzsche und die Pädagogik, Werk, Biografié und Rezeption, Würzburg 2002 vertreten hat, nämlich Nietzsches Projekt der Überwindung des Ressentiments als letztendlich gescheitert zu betrachten und ihn damit wieder zum Vorläufer der rassisch argumentierenden Totalitarismen des 20. Jahrhunderts zu machen. Solche Lesarten attackiert N. in Nietzsche, die Jugend und die Pädagogik (vgl. II, 77, 111) deutlich. Mein zweites Fragezeichen stelle ich hinter N's Interpretation der ,Ewigen Wiederkehr', die er als ,selektiv' in dem Sinne ansieht, dass nicht alles wiederkehrt, sondern nur die in der Transfiguration angeeigneten Momente der je eigenen Selbstwerdung. Nun liegt das einesteils darin begründet, dass sich N's Analyse im letzten von der Orientierung an den ,großen metaphysischen Themen' der Nietzscheforschung (Übermensch, Wiederkehr, Wille zur Macht) und deren Auffassung als präskriptiv-normativer Konzepte (so sehr N. im Einzelnen diesem Verständnis widerspricht), die den experimentellen Charakter ausblendet, den diese Entwürfe im veröffentlichten Werk haben, nicht losmachen kann. Doch selbst, wenn man eine solche Lesart zugesteht, geht aus den einschlägigen Abschnitten im Zarathustra (insbesondere Vom Gesicht und Räthsel, KSA, Za, 4, 197ff.) eindeutig hervor, dass die ,Lehre' von der Wiederkehr nicht selektiv gemeint sein kann (auch

-

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,

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Rezensionen

diese Interpretation so prominente Vertreter wie Gilles Deleuze hat). Jedenfalls baut N. seine Präsentation der Nietzsche-Rezeption in seinem zweiten Nietzsche-Buch auf dieser seiner Interpretation des Gesamtwerkes auf, die er dort (II, 13-58) noch einmal gerafft vorträgt. In der Folge stellt er, auf das Konstrukt des Übermenschen konzentriert, Nietzsches pädagogisches Konzept (II, 59-78) vor Augen, das er auf die genannte Idee der Gemeinschaft freier Einzelner' hin akzentuiert. Die von ihm erarbeitete Gesamtinterpretation dient ihm in der Folge als Richtschnur der Bewertung der behandelten Stellungnahmen zu Nietzsche als Erzieher. Er gibt einen detaillierten Überblick der Geschichte der deutschsprachigen pädagogischen NietzscheInterpretation, der nicht nur für Pädagogen, sondern auch für alle an der Wirkungsgeschichte von Nietzsches Werk Interessierten von hohem Wert ist. Er zeigt in überzeugender Weise den zuweilen mythologischen (im Sinne von Roland Barthes) Charakter dieser Rezeption auf, die oft mehr auf atmosphärisch-emotionalen Präsenzen (den sekundären Konnotationen) von Nietzsches ,Gestalt' denn auf Kenntnis von dessen Werk aufgebaut hat. Von der frühen Rezeption Nietzsches im späten Kaiserreich, über die Auseinandersetzung um die Brauchbarkeit Nietzsches als Förderer nationaler Ideen in der Weimarer Republik bis zur Diskussion von Nietzsches Werk in der Pädagogik nach 1945 gibt N. eine an den Quellen gearbeitete umfangreiche und genaue Einführung in das Gebiet, so dass man beinahe den Eindruck erhält, hier werde anhand der Stellung zu Nietzsches Werk eine Geschichte der deutschen Pädagogik im 20. Jahrhundert geboten. Dabei wirft N. so manches kritische Licht auf tradierte Gemeinplätze in der Geschichte der Nietzscherezeption. Er zerstört den Mythos des Philosophen, dessen Schriften in den Tornistern der Feldsoldaten ihren Fixplatz gehabt und insofern zur Kriegsbegeisterang der deutschen Jugend im ersten Weltkrieg beigetragen hätten und stellt in der Folge die angeblich überragende Bedeutung, die Nietzsche für die Jugendbewegung gehabt hätte, in Frage. Eine gegründete Auseinandersetzung mit dieser Thematik, ob sie nun N. Analysen zustimmt oder sich anders positioniert, wird an dem hier Vorgelegten hinkünftig nicht vorbeigehen können. wenn

Hans Gerald Hödl

Ecce Opus. Nietzsche-Revisionen im 20. Duncan Large, Göttingen, Vandenhoeck &

Jahrhundert, hg. Ruprecht 2003

von

Rüdiger Görner,

The collection of papers found in Ecce Opus. Nietzsche-Revisionen im 20. Jahrhundert reveals the profound influence Friedrich Nietzsche exerted on twentieth-century political, cultural, and intellectual movements. While no one article offers a groundbreaking approach to Nietzsche's work and its reception, the relatively high level of scholarship and the wide array of topics covered in this volume from literature, politics, psycho-

Rezensionen

338

logy, and feminism to theatre, poetry, rhetoric, and philosophy make Ecce Opus a welcome addition to the field of Nietzsche studies. In the introductory piece, Nietzsche, Goethe und die Humanität, Volker Gerhardt endeavors to undermine the belief that Nietzsche's writings constitute a „Wirbel und Wendepunkt der Geschichte" (16). For Gerhardt, Nietzsche is best understood when we situate him within the context of the past and read him according to the concerns of the present. To link Nietzsche with his predecessors, Gerhardt devotes the first part of his essay to portraying Johann Wolfgang von Goethe as one of Nietzsche's sovereign individuals. Gerhardt then posits a „Wirbel und Wendepunkt" in his own essay by abruptly declaring, „aber ich will gar nicht über Goethe und Nietzsche sprechen" (16). In so doing, he shifts his attention to the importance of Nietzsche for today, making a series of points, three of which I will highlight here. First, Gerhardt argues that we should value Nietzsche's philosophy because his writings encourage us to reflect on the problem of humanity how man as man can continue to live. Second, Nietzsche provides us with an example of how a thinker can and should move between the Geistesand Naturwissenschaften in the quest for self-knowledge. Finally, Gerhardt emphasizes that the quest for knowledge should not be distinct from „die Humanität", but rather that our desire to know more about our own existence is the first condition of humanity itself. With Nicholas Martin's essay Extremes of Nietzsche: Wo sind die Barbaren des 20. Jahrhunderts?, we move from Goethe and „die Humanität" to barbarism, violence, and war. At issue, of course, is Nietzsche's potential relationship to the emergence of fascism and the horrors of twentieth-century politics. While Martin clearly seeks to distance Nietzsche from such atrocities, he also wants to avoid the (Walter) Kaufmannesque tendency to tame Nietzsche in order to guarantee him a home within mainstream culture. To achieve this balancing act, Martin successfully argues that Nietzsche's comments about war and violence should be interpreted in light of his call for an aesthetic justification of existence. Thus, Nietzsche's Utopian barbarians were not the bootin-your-face types of George Orwell's 1984, but rather forceful and energetic „artist individuals who would turn themselves and the world around them into a gigantic and ever-changing work of art" (26). In Die unheimliche Ähnlichkeit. Nietzsches Hermeneutik der Macht und analytische Interpretation bei Carl Gustav Jung, Martin Liebscher shifts the focus from the controversy concerning Nietzsche's relationship with fascism to Nietzsche's equally controversial doctrine, the will to power. Here, Liebscher concentrates on the role the will to power played in twentieth-century psychology by comparing and contrasting Nietzsche's teaching with Carl Gustav Jung's Libido-Konzeption. In his penetrating analysis, he shows that Jung's Libido-Konzeption actually resembles Arthur Schopenhauer's ,Willen zum Leben' more than Nietzsche's ,Wille zur Macht'. Based on his findings, Liebscher concludes that those who see in Nietzsche and Jung an ,unheimliche Ähnlichkeit' should rethink their position. Although Nietzsche's influence is certainly present in Jung's work, Immanuel Kant, Schopenhauer, Carl Gustav Caras, and Eduard von Hartmann played more significant roles in Jung's intellectual development. -

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Rezensionen

As the title of her essay

might suggest, Nietzsche Emasculated:

Postmodern Read-

ings, Carol Diethe is unhappy with the postmodern attempt to emasculate Nietzsche by reading his anti-feminist statements metaphorically. According to Diethe, these metaphorical readings have effectively „made Nietzsche what he should never be in the critic's hands: boring" (56). In contrast to this approach, Diethe claims that, „there is an argument for taking Nietzsche literally in many of his comments on women" (62). For Diethe, taking Nietzsche literally means reflecting on the possibility that his sexist jokes were driven by his own male insecurities. While Diethe's critique of postmodernism is quite refreshing, her desire to read Nietzsche literally on such matters is, I think, misguided. It seems that one can, and should, read Nietzsche's comments on women metaphorically without, at the same time, transforming him into a postmodern version of

John Stuart Mill. In contrast to Diethe's polemic against postmodernism, Duncan Large offers a wellbalanced and sober look at Nietzsche's influence on the Austrian novelist Hermann Broch in his essay Zerfall der Werte: Broch, Nietzsche, Nihilism. While Broch is known for his last completed novel, the 1945 Der Tod des Vergil, Large focuses on an earlier trilogy of novels entitled Die Schlafwandler, published in 1931/1932. Of particular interest for Large is a section in the third part of the trilogy entitled Zerfall der Werte. Here, Nietzsche's influence on Broch can be felt most clearly, and Large explores the ways in which Broch tried to cope with the nihilistic implications of the death of God. In the end, Large concludes that the solutions Broch presents to these existential anxieties are not solutions at all, but rather forms of Romanticism. While Large offers a clear, coherent, and well-organized treatment of his subject matter, Frank Krause's essay Kaiser's „Der Gerettete Alkibiades": An Expressionist Revision of Nietzsche's „Die Geburt der Tragödie", lacks each of these traits. Quite simply, the essay suffers from trying to operate on too many levels. First, Krause wants to contribute to the on-going debate about different strands of literary Expressionism. Second, he reads Kaiser's play Der gerettete Alkibiades as an illustration of his hypothesis that „some authors of the critical expressionist strand interpret their critical awareness of the unredeemable subject's alienation from metaphysical meaning as the manifestation of transcendent power, the aims of which can be grasped neither through reflection nor by intuition" (84). Third, he argues that the play manifests this notion in relation to Nietzsche's Die Geburt der Tragödie. Fourth, he enters the debate concerning Nietzsche's influence on Kaiser by reading Der gerettete Alkibiades as a revision of Die Geburt der Tragödie. While each point is interesting on its own and the author demonstrates his knowledge of his subject, the attempt to weave each of these claims into one coherent essay does make for tortuous reading. In some respects, David Midgley's essay Experiments of a Free Spirit: Musil's Explorations of Creative Morality in „Der Mann ohne Eigenschaften" is debilitated by the same shortcoming as Krause's article: He tries to make too many points in too little space. Fortunately, Midgley structures his essay in such a way that one can easily grasp each of the claims that he puts forth. Specifically, Midgley broaches three topics in his essay. First, he sketches Nietzsche's conception of morality, as seen primarily, although not exclusively, through the work of Raymond Geuss. Second, he traces the potential

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relationship

between Nietzsche's moral

theory

and the conversations between two

characters, Ulrich and Agathe, in Musil's masterpiece Der Mann ohne Eigenschaften.

Finally, he relates his reflections on Nietzsche and Musil to the work of Alasdair MacIntyre and other contemporary moral philosophers. While Midgley's analysis of Musil and Nietzsche is both substantive and engaging, his three-page attempt to delve into modern ethical theory is both superficial and superfluous. Raymond Furness' paper Nietzsche in the Work of Christian Morgenstern is delightfully straightforward and informative. His goal is to demonstrate Morgenstern's indebtedness to Nietzsche, and he successfully fulfills his task. After presenting evidence in support of his thesis, he nicely concludes the essay by arguing that despite Morgen-

stern's turn toward Rudolf Steiner near the end of his life, Morgenstern nevertheless remained deeply shaped by Nietzsche's writings. What can be said of Furness' essay is also true of Hans Gerald Hödl's article Die Nietzsche-Rezeption in Österreich im frühen 20. Jahrhundert. After criticizing Steven Aschheim's book The Nietzsche Legacy, Hödl divides his analysis of Nietzsche's Austrian reception into five sections. First, he details Karl Hillebrand and Siegfried Lipiner's interest in Nietzsche's work, exploring the potential parallels between Lipiner's Prometheus and Also sprach Zarathustra. In the next section, Hödl turns to the work of Otto Weininger and compares the young author's reflections on gender issues with Nietzsche's own. The final three sections are shorter in length. Here, Hödl discusses the Brenner-Kreis, primarily the work of Carl Dallago and Ferdinand Ebner, the influence of Nietzsche on psychoanalysis, and finally the various responses of the Wiener-Kreis to Nietzsche's philosophy. In the next article Was Europa den Juden verdankt: A Revaluation of Nietzsche by the Hungarian Novelist László Németh Péter Dávidházi explores the importance of Nietzsche for László Németh. To begin, Dávidházi offers an interpretation of Németh's controversial claim: „The congenital disease of the Jewish people (a disease thanks to which we have Jesus) is their anti-state attitude, raised to the status of divinity" (166). Because he finds Nietzschean resonances in this statement, Dávidházi then discusses Németh's knowledge of Nietzsche's philosophy and unpacks Németh's response to it. He concludes the essay by arguing that Németh „consciously and polemically revalued (anti-Christian) Nietzschean values" (173), so that he came to respect what Nietzsche had scorned, namely mercy. Peter Sedgwick's article The Nietzsche Legend: A Genealogy of Myth and Enlightenment is a quality piece on a substantive topic. At issue is Nietzsche's position vis-àvis the philosophical establishment, especially within the Anglo-Saxon world. As Sedgwick notes, because Nietzsche does not have a clearly defined philosophical system, such that we could talk about Nietzschean epistemology as we can with Immanuel Kant, reading him as a traditional philosopher is not entirely unproblematic. While he discusses various reactions to Nietzsche's work, Sedgwick primarily structures his approach to the issue through the competing interpretations of Kaufmann and Gilles Deleuze. Whereas Kaufmann, in his quest to dispel the „Nietzsche legend", interprets Nietzsche so that he fits comfortably within the traditional framework of academic philosophy, Deleuze argues that Nietzsche is one of the great anti-institutional thinkers.

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After

reading Sedgwick's insightful analysis of the situation, I must admit that I was hoping for a grand synthesis of these competing viewpoints. Unfortunately, Sedgwick disappoints a bit on this score. He concludes the essay with the modest claim that while Kaufmann was right to rescue Nietzsche from the Nietzsche legend, thereby incorporating his thought into traditional philosophical discourse, the fact that Nietzsche needed to be rescued highlights the necessity of continually thinking and rethinking the definition of philosophy. In Wie ich Nietzsche überwand. Zu einem Motiv der Nietzsche-Rezeption bei Rilke, Döblin und Hugo Ball, Rudiger Görner successfully reveals the influence Nietzsche had on various authors of the twentieth century through the lens of a central theme, namely Selbstüberwindung. In fact, the title is a bit deceiving, as Görner not only discusses the work of Rainer Maria Rilke, Alfred Döblin, and Hugo Ball, but also Johannes Schlaf, Wilhelm Bölsche, and, in conclusion, Thomas Mann. While he cursorily treats many of the aforementioned authors, he does offer a substantive analysis of Nietzsche's Selbstüberwindung thematic, which he insightfully contrasts with Richard Wagner's Erlösungsmystik, and he skillfully examines Rilke's honic appropriation of the theme in his 1896 work Der Apostel. However, with so many authors and so few pages, Görner cannot do much more than show that each

of these writers took an interest in Nietzsche's work and that this interest can be related, in some fashion, to Selbstüberwindung. In her essay Die Rhetorik ist das Wesen der Philosophie Nietzsches (Hans Blumenberg): Klassische Tradition moderner Wirkung, Katrin Kohl returns to a point with which Ecce Opus began: Nietzsche's writings do not constitute a radical break with the past, but rather his thought can and should be interpreted as a response to and a product of the Western intellectual tradition. Like Blumenberg, Kohl argues that the essence of Nietzsche's philosophy is rhetoric, and Nietzsche's emphasis on and use of rhetoric is best understood in terms of what Kohl designates as the ancient quarrel between philosophy and rhetoric. While Kohl defends her claims well, I think she overestimates the importance of rhetoric in Nietzsche's writings. Quite simply, the essence of Nietzsche's philosophy is not rhetoric, but Heraclitus' doctrine of becoming, and the real quarrel for Nietzsche is not between philosophy and poetry. This tension implicitly dominates the argument of Die Geburt der Tragödie and it is a tension that Nietzsche makes explicit in Zur Genealogie der Moral, ,Plato gegen Homer: das ist der ganze, der echte Antagonismus'. At the same time, this is not to say that Nietzsche had little concern for rhetoric, both in theory and in practice, but it is to say that whatever interest his works exhibit in its powers is subordinate to his more comprehensive attempt to revive the art world of ancient Greece. Although I disagree with Kohl's general approach to Nietzsche's work, it must be said that her contribution, as one of the more substantive pieces in Ecce Opus, constitutes a fine conclusion to the book. While it is certain that other readers will respond differently to both Kohl's article and the other essays contained in this collection, it is also certain that readers will find in Ecce Opus something worth responding to. Matthew H.

Meyer

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Aldo Venturelli, Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche. Quellenkritische Untersuchungen, Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung 47, begründet von Mazzino Montinari, Wolfgang Müller-Lauter, Heinz Wenzel, hg. von Günter Abel, Josef Simon, Werner Stegmaier, Berlin, New York, Walter de Gruyter 2003

Die kategoriale Wucht des Titels, der acht bereits in den achtziger und neunziger Jahren separat veröffentlichte mit vier Originalbeiträgen vereinigt, erhält durch den Untertitel wohlüberlegte Konkretheit, präzisen Analysegrund und methodischen Zusammenhang, transparente inhaltliche Spannung und einen differenzierenden Blick für die latente Aktualität Nietzschescher Fragestellungen: Der grundlegende Eindruck ist der ihrer genauen Besichtigung, Rekonstruktion und kritischen Hinterfragung. Quellenkritik, Rezeption und historische Sicht geben den vier Themenkomplexen (Erster Teil: Der musiktreibende Sokrates. Kunst und Wissenschaft bei Nietzsche; Zweiter Teil: Die Spannung des Bogens. Bausteine für ein neues geschichtliches Bewusstsein; Dritter Teil: Nietzsches Denken in der Konstellation der Moderne; Vierter Teil: Das Engagement des Denkens. Nietzsche und die Konstruktion des europäischen Intellektuellen) den inneren roten Faden und dem Leser die ausdrückliche Gewissheit kenntniserweiternder Lektüre. Philologie und Philosophie in einem produktiven Zusammenschluss, Mazzino Montinari und Martin Heidegger in weitergeführter eigenständiger und eigen-

williger Symbiose.

Die drei Themen im ersten Teil (Ästhetik und Erkenntnistragödie. Zur Entstehungsgeschichte der Geburt der Tragödie; Das Labyrinth der Wahrheit. Sprachkritik und Naturwissenschaft nach der Vollendung der Geburt der Tragödie; Zarathustra und der Geist des Aphorismus) thematisieren, unter Anspielung auf den Traum des Sokrates, der diesem laut Piaton, den Mangel an künstlerischer Aktivität bewusst gemacht habe und Nietzsche zu der Frage veranlasst hat, ob ein musiktreibender Sokrates tatsächlich in sich widerspruchsvoll sein müsse (KSA, GT, 1, 96), grundsätzliche ästhetische Positionen im Problemfeld tatsächlicher und unterschwelliger wechselseitiger Beziehungen zwischen Kunst, Philosophie, Sprache und Wissenschaft aus mehrschichtiger Perspektive: Ausgehend von Nietzsches später Rückkehr zu Dionysos, die den Gott als Philosophen reklamiert, in ihm nicht mehr den des Rausches sieht, ihm vielmehr göttliche Verletzlichkeit, Weisheit, Redlichkeit, Entdeckermut als Kennzeichen zuschreibt, geht es wesentlich um die ästhetische Tragödie und die tragische Philosophie, um die dialektische Kohärenz zwischen Philosophie und Wissenschaft, um die Tiefendimension jener ,Tragödie der Erkenntnis', die seit euripideischer Tragödie und sokratischem Denken die Strukturen dieses Verhältnisses und der Diskurse darüber bestimmt. Venturelli folgt dem durchgehenden und exzessiven Interesse Nietzsches, die Möglichkeiten einer Balance auszuloten, sie als authentische Momente antiker und zukünftig-moderner Kultur zu begreifen und manifest zu machen. Das Ergebnis zeigt, wie sehr schon die innere Konfliktkonzentration antiker und mehr noch die kulturellen Verwerfungen der Moderne solche Vorstellungen bereits für das griechische Vorbild obsolet erscheinen lassen und sich die gegenwärtigen Erkenntnisgewohnheiten ihnen widersetzen. Zwi-

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sehen der Geburt der Tragödie und Also sprach Zarathustra bewegt sich der Philosoph in einer unaufhaltsamen Entfernungsbewegung von Schopenhauerscher Willensmetaphysik, zunächst, um selbst eine neue ästhetische Metaphysik zu begründen, später, um sprachkritisch und antinihilistisch gegen alle metaphysischen Erkenntnisbegründungen seine dionysische Weltsicht als Alternative zu formulieren. In Auseinandersetzung mit und in für ihn typischer Übernahme von ,Fingerzeigen' durch African Spir, Friedrich Albert Lange und Eduard von Hartmann, mit kritischem Bezug auf klassische Denkangebote von Immanuel Kant bis zur Romantik, perspektiviert Nietzsche sie um seine Sicht auf das Wagnis des Erkennenden und des Erkennens, auf den ,freien Geist', der leicht und dionysisch, weltamgreifend ironisch und tragisch, dithyrambisch und metaphorisch in einem ist oder sein will. Die Spur seiner apostrophierten Ursprünge reicht in antike Tiefe, seine Modernität liegt im Ansprach auf eine fortgesetzte ambivalente Attraktivität selbstrefentieller Infragestellung und Souveränitätsbehauptang. V. verweist folgerichtig auf deren fundamentale Reflexion im Spiegelbild des Wandels von Nietzsches Tragödien-, Sprach- und Antikevorstellungen ebenso wie auf den, seiner Auffassung nach, originellsten Aspekt im Denken des jungen Nietzsche, dem der Wiedergeburt der Tragödie in der Moderne: Durch sie soll die verlorengegangene Einheit der antiken Leitideen, verkörpert in Dionysos, Apollon und Sokrates, wieder hergestellt und in ein neues Gleichgewicht und in eine lebendige Totalität gebracht werden (48). Dass die Hoffnung darauf vom Philosophen selbst bald unterlaufen wird, haben seine Interpreten schnell vermerkt. Ihre Gründe sind je nach eigener Position différent und oft unter dem Diskursschwerpunkt ,Artistenmetaphysik' und des Pro und Contra von Metaphysikverabschiedung gewertet worden. V. sieht dagegen seine wesentlichen Argumente im Terrain des Ästhetischen, in der ästhetischen Dimension von Erkenntniskritik und Sprachphilosophie. Unter dem Stichwort der ,Wahrheit', wie es seit Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne bei Nietzsche in ein Netzwerk von kulturellen Bedingungen, sprachlichen Polyvalenzen und Lektüren eingebunden ist, macht V. transparent, wie sehr Nietzsche, um den ästhetischen Charakter von Philosophie zu untermauern, ungeniert, scharfsinnig und erfolgreich Anleihen aus scheinbar peripheren Themengebieten (z.B. Goethes Farbenlehre und Würdigung Isaak Newtons) macht, um sie gebrochen im Kaleidoskop seiner eigenen Prämissen zu Denkfiguren ironischer Existenz in der Moderne werden zu lassen. In fundamentaler und genealogischer Korrespondenz zu vorsokratischem Denken ist die Genesis von Philosophie ursächlich und ursprünglich mit der der Sprache verbunden. Nietzsches und mit ihm V.s Aufmerksamkeit gelten dementsprechend den ästhetisch gelesenen (Re)Konstraktionen von Wahrnehmung, Phantasie, Gedächtnis, Bild, Physio- und Psychologie, um mit und an ihnen jene spezifische ,Aufklärang' über die Wahrheit zu betreiben, die nach ihren emphatischen und pathetischen Systematisierungen durch die klassische Aufklärangsphilosophie einzig noch möglich ist, nämlich die bestürzende, notorisch zu machende Erkenntnis nicht nur ihrer permanenten In-Frage-Stellung, sondern der von Erkenntnis überhaupt (91f.). Eine tragische Erkenntnis, die allein ästhetisch zu haben und zu ertragen ist, wofür Also sprach Zarathustra als Probe aufs Exempel, als Resultat einer .Philosophie der Gleichgültigkeit' und eines poetischen Experiments zu sehen ist, das der Liaison von Sprache, Tanz und Bewegung eine inhärente Dynamik gibt, die auf das -

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Dionysische der Geburt der Tragödie ebenso rückverweist wie vordenkt auf den Dionysos, der für die ,große Vernunft des Leibes' steht. Dass den modernen Philosophen neben der Kenntnis von Physiologie und einem ,Ziel gegen die Zukunft hin' auch historischer Sinn fehlt (KSA, NF, 11,176), dem hat Nietzsche mit extensiver Aufmerksamkeit gegenüber geschichtlichen Themen entgegengearbeitet, als Kritik am Historismus der Zeit und um die Grandstruktur eines anderen historischen Bewusstseins zu umreißen. Dem ist der zweite Teil (Nietzsches Renaissance-Bild zwischen Erasmus und Cesare Borgia; Aufgeklärte Geister und libres penseurs. Nietzsches Auffassung der Aufklärung zwischen Geschichte und Hermeneutik; Das Klassische als Vollendung des Modernen. Nietzsche als Leser des Briefwechsels zwischen Schiller und Goethe) gewidmet. An der Renaissance, der Aufklärung und der Weimarer Klassik untersucht V. Nietzsches Versuch, Kultur- und Geistesgeschichte als Prozess und Resultat der ausgebliebenen ,Reform des Griechentums' (7) denunzierend zu würdigen und die vergebene Möglichkeit ,höheren philosophischen Lebens' zu realisieren. So sehr Renaissance und Aufklärung Formen entwickelt haben, jene Verbindung von Leben, Mythos, Kunst und Wissenschaft wieder herzustellen, die in antiker Kultur Wirklichkeit war, zu mehr oder weniger akzeptablen Klassizismen haben es ihre Konstellationen kaum gebracht. Für V. zeigt sich Nietzsches Standort im philosophischen Diskurs der Moderne durch dieses Bewusstsein nicht am „Übergang von einer demaskierenden Vernunftkritik zu einer Dimension des Mythos oder zum Anderen der Vernunft. Eher wird gerade die Vernunft so weit auf die Spitze getrieben, dass sie schließlich sich selbst und ihre Erkenntnismodalitäten zu problematisieren vermag" (8). Dass ,das Denken selbst auf dem Spiel' stehe durch den Verlust der oder den Verzicht auf diese Einheit und Nietzsche darin das Hauptmanko der Moderne mit ihrer technisierten Massenkultur gesehen habe, das ist m.E. eine der wesentlichsten Interpretationsangebote, die V. mit seiner rekonstruierenden Lesart anbietet. Des Philosophen unverhohlene Sympathie für die kulturelle Stärke der Renaissance und ihrer kraftstrotzenden Protagonisten à la Cesare Borgia oder den Päpsten Alexander VI. und Leo X. ist kein Aufweis einer Apotheose von Stärke und Gewalt, vielmehr erhält darin eine komplexe Geschichtsauffassung Kontur, die durch Jakob Burckhardt vorgezeichnet war. Und in der Nietzsche den Anlass sah, in der Renaissance-Kultur die vorbereitenden Bedingungen und Kennzeichen der Moderne (die Missachtung der Autoritäten, die Entfesselung des Individuums, Befreiung des Gedankens und die Wissenschaftsbegeisterung) anzunehmen. Ein Bild, das die Wertung der nachfolgenden Aufklärung und ihrer Denker nicht unbeeinflusst lässt. Das Denken der Philosophie nach ihrem ,Ende' ist Thema im dritten Teil (Das Erhabene und das Komische. Nietzsche und die nachhegelsche Ästhetik; Asketismus und Wille zur Macht. Nietzsches Auseinandersetzung mit Eugen Dühring; Genealogie und Evolution. Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Darwinismus), der nicht zufällig mit Ästhetik beginnt und mit Physiologie schließt. Wenn nach Heidegger im Spannungsfeld ,Hegel und die Griechen' der Anfang und die Vollendung von Philosophie sich treffen, dann ist es folgerichtig, wenn auch oder gerade auf ,Nebenwegen' zu zeigen ist, dass Nietzsches Lektüren ihn Denkwege beschreiten lassen, die sichtbar machen, wie sich aus dem Abstand, aus der bewussten und gewollten Distanz die -

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nicht eine gesetzte Absicht, sondern ein progressierendes Resultat ist -, seine eigene Position als eine solche herauskristallisiert, die in der Tiefendimension ihres Gegenstandes dessen inhärente Anachronismen, selbstbetrügerische Ideologien und unterschwellige Metaphysik(en) zu entdecken weiß, ohne selbst dem Gestas von Absolutheit, Selbstherrlichkeit und Ausschließlichkeit zu verfallen. Was als .Umwertung' firmiert und die Differenz notorisch macht, ist nicht mehr und nicht weniger als ein „Umschreibungsprozess der traditionellen Begriffe" (10). Dies wiegt folgenreich. Im Falle der Auseinandersetzung mit Dühring und Charles Darwin z.B. gelingt mit dieser Praxis des ,Zu-Ende-Denkens' die Grundlegung des .Willens zur Macht' in Überwindung Düringscher Naivität, das Leben in Schemata und Grandelemente auflösen zu können (21 Off.) und den Asketismus und die Leidenschaft in eine solche Korrelation zu bringen, die über jegliche Subjektivismen erhaben, zum ,Gesamtbewusstein der Menschheit' gehören. Des Philosophen Position zu Darwin als eine genuin kritische zu bezeichnen, hat die Nietzsche-Rezeption unter popularisierenden Vereinfachungen oft fast kassiert. V. insistiert zu Recht auf die Unterschiede, stellt sie in den Kontext seiner Dispute mit David Friedrich Strauss und Lange und seiner Lektüren Gustav Teichmüllers und Karl von Baers. Diese Optik schält aus den Schichtungen der differenten Informationen Nietzsches physiologischen Ansatz im Verstehen des Lebens als einsichtig heraus, der alles andere als einem kolportierten Kult des Stärkeren oder der Dualität von Physis und Moral philosophisch das Wort reden will. Da wirken andere differenzierender und tiefenstrakturierender, z.B. Paul Rée, Charles Bell, Wilhelm Roux. Dies zu demonstrieren, gelingt der erfolgreichen Rekonstruktion der von V. als ,Mikrogeschichte' (9) seiner Lektüren bezeichneten Methode. Dem Selbstverständnis kultureller Eliten seit der Jahrhundertschwelle zum 20. Jahrhundert bis in seine ersten Jahrzehnte geht der letzte Teil nach (Nietzsche in der Berggasse 19. Über die erste Nietzsche-Rezeption in Wien; Die Enttäuschung der Macht. Zu Kesslers Nietzsche-Bild; Nietzsche in der rue d'Ulm). Es waren begrenzte Eliten, die die frühe Nietzsche-Rezeption dominierten und ausgeschrieben haben. Intellektuelle Konstellationen in unglücklicher Nähe zu politischen und kulturellen Konflikten (Psychoanalyse, Wagnerianismus, Dreyfus-Affare) bewirkten eine Atmosphäre und ein geistiges Klima, in dem falsche Erwartungen, utopische Hoffnungen und Missverständnisse ebenso gediehen wie europäische Nationalismen und Kosmopolitismen, die sich an Nietzsche profilierten und sich seiner radikalen Kritik und Wertumbrüche, oft genug mit violenter Inanspruchnahme, bedienten. Wien, Weimar und Paris sind die geographischen Orte und die geistig-symbolischen Landschaften, Siegfried Lipiner, Victor Adler, Sigmund Freud, Harry Graf Kessler, Gabriel Monod, Daniel Halévy, Romain Rolland, Léon Blum u.a. sind die Hauptakteure. Im Umkreis des Wiener Universitätslebens entstand bereits Mitte der 70er Jahre ein Interesse an Nietzsche, das dem Bestreben entsprang, der ambivalenten Begeisterung für eine .kulturelle Wiedergeburt des deutschen Volkes' (261) ein philosophisches Fundament zu geben, das Anlass zu politischer Radikalisierung und behördlichen Verboten war. V. rekonstruiert detailliert und subtil die sich verzweigende Aufnahme Nietzschescher Gedanken und deren Metamorphosen in politik- und vordergründig ideologietaugliche Kernsätze, intellektuelle Identifikationsmodelle und Kunst-Programmatiken (Pernerstorfer Kreis, Nietzsche-Kult im Um-

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kreis des Weimarer Archivs, Atmosphäre an der École Normale). Sein Interesse an den Peripherien und Peripetien der Rezeptionszentren fordert aufschlussreiche Zusammentreffen von auf den ersten Blick unzuvereinbarenden Geistesströmungen zutage, sieht Nietzsche in ihnen als amalgamierenden Bezugspunkt und erkennt in ihrer widersprüchlichen Komplexität ihre perennierende, nicht selten ins Kulthafte kippende Wirkmächtigkeit.1 Nietzsche war an allen drei gewählten Orten präsent; nicht nur mit seinen Ideen, sondern im wörtlichen Sinne. Er kannte die Akteure teilweise und sie ihn, durch direkten Briefwechsel oder Treffen oder durch Informationen über gemeinsame Freunde und Bekannte (u.a. Joseph Paneth, Lipiner, Monod, Jean Bourdeau). Über vielfältige Primär- und Sekundär-Vermittlungen (z.B. Malwida von Meysenbug, das Ehepaar Overbeck, Elisabeth Förster-Nietzsche, Erwin Rohde, Resa von Schirnhofer, Lou Salomé, Ellen Key) entstand ein geistiges Netzwerk, das die Rezeptionsgeschichte nachhaltlich beeinflusst hat und bislang von ihrer kritischen Aufarbeitung entweder weitgehend marginalisiert oder ganz unbeachtet geblieben ist. V. öffnet mit seinen Recherchen und Darstellungen dazu neue Möglichkeiten und Wege, macht sporadische Aufdeckungen zum methodischen Zugang. Nietzsches Ideen vom ,freien Geist', von der Macht des gefährlichen Lebens, von der Größe des Einzelnen, vom neuen Menschentypus trafen den Nerv der Zeit, die intellektuellen Befindlichkeiten und waren „Katalysatoren] schlummernder geistiger Energien" (293). Die subtile Infiltration Nietzscheschen Denkens, die Utopie vom Geistesadel, der sich durch vorrangig schöngeistig-ästhetischen Welt- und Wertbezug definiert (in Deutschland steht Kessler exemplarisch dafür), in die Selbstkonstraktion der europäischen Intellektuellen nicht nur ihrer Avantgarden -, der Anteil des Philosophen an diesem Prozess, lässt sich auf nahezu allen kulturellen, künstlerischen und politischen Ebenen verfolgen, sei es im Bereich der Nationalökonomien, der Naturwissenschaften (Medizin, Physiologie, Physik), der Musik und Literatur, aber auch bei der Konzipierang politischer Programme und ihrer Erstarrung in Opportunismus, Obskurantismus, Antisemitismus, der ideellen und praktizierten Entwürfe von Revolutionen, Restaurationen und Reformbewegungen. Der latente Einfluss, direkt oder ex negativo und polarisierend, auf die sozialistischen und marxistischen Programmbildungen erweist sich dabei möglicherweise größer als es allen Seiten lieb war und ist. Dass Lenin Nietzsche über die Vermittlung durch die Lektüre Keys kannte, gehört zu den sicheren Wahrscheinlichkeiten. V. hat diese Möglichkeit bereits 1993 in einem gesonderten Aufsatz thematisiert (Eine historische Peripetie von Nietzsches Denken: Lenin als Nietzsche-Leser?, In: Nietzschestudien 22). Konnte Dietz Behring noch die intellektuellen Eliten in Frankreich (einschließlich der Dreyfuss-Affäre) ohne Nietzsche beschreiben und brauchte er für die deutschen Intellektuellen nur auf dessen ,nebulösen Stil' zu verweisen (Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes, Stuttgart 1978), so ist die enorme geistige Ferment-Wirkung Nietzsches heute selbstverständliche Erkenntnis und kaum hoch genug anzusetzen. In allen Facetten ihrer inhärenten Widersprüchlichkeit. Sie ist es, die V. zu dem Fazit führt, eine nicht hinweg zu diskutierende Kluft zwischen Denken und Geschichte zu konstatieren und eine nicht -

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Eine weitere Publikation zum Thema wird in einer Rezension im Band 13 der Nietzscheforschung vorgestellt: Friedrich Nietzsche. Rezeption und Kultus, hg. von Sandro Barbera, Paolo D'Iorio, Justus H.

Ulbricht, Pisa 2004.

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aufgelöste oder aufzulösende Spannung zwischen den Umformungen Nietzscheschen Denkens und den realen historischen Erfahrungen im 20. Jahrhundert. An ihrer Überwindung zu arbeiten, darin stehen die Intellektuellen nach V. in fortgesetzter Verantwortung.

Renate Reschke

Nietzsches persönliche Bibliothek, hg. von Giuliano Campioni, Paolo DTorio, Maria Christa Fornari, Francesco Fronterotta und Andrea Orsucci unter Mitarbeit von Renate Müller-Buck, Supplementa Nietzscheana, hg. von Thomas Böning, Wolfgang Müller-Lauter und Karl Pestalozzi, Bd. 6, Berlin/New York, Walter de Gruyter 2003; Hauke Reich, Nietzsche-Zeitgenossenlexikon. Verwandte und Vorfahren, Freunde und Feinde, Verehrer und Kritiker von Friedrich Nietzsche, Beiträge zu Friedrich Nietzsche. Quellen, Studien und Texte zu Leben, Werk und Wirkung Friedrich Nietzsches, hg. von David Marc Hoffmann, Bd. 7, Basel, Schwabe 2004; Alfons Reckermann, Lesarten der Philosophie Nietzsches. Ihre Rezeption und Diskussion in Frankreich, Italien und der angelsächsischen Welt 1960-2000, Berlin/New York, Walter de Gruyter 2004. Der Nietzscheforschung liegen drei neue Hilfsmittel vor: Zunächst das Verzeichnis der Bücher aus Nietzsches .Bibliothek', sodann ein Lexikon der Personen um Friedrich Nietzsche und eine Übersicht über die Rezeptionsgeschichte Nietzsches seit den

1960er Jahren.

Über erstes zu schreiben, erweist sich als nicht ganz unproblematisch: Durch den Streit um die mittlerweile durchaus ein Politikum zu nennende Herausgabe der 9. Abteilung der Werke Nietzsches innerhalb der Kritischen Werkausgabe ist die Fachöffentlichkeit sensibilisiert für alles, was ,Nietzsche' unnötig zu vervielfältigen droht. Durchgängig von einem negativen Unterton getragen, fielen daher mitunter auch die Bewertungen eines der jüngsten Bände der Supplementa Nietzscheana im Verlag de Gruyter aus, in denen vor allem eine stereotype Kritik bemüht wurde, die stets dann zum Einsatz kommt, wenn philologische Detailarbeit nicht neues, sondern ,nur' korrigiertes auf den Markt bringt: „Wer braucht das?" Zumal es bereits mehrere Verzeichnisse mit unterschiedlichen Anliegen gibt, von denen dasjenige Max Oehlers von 1942 mit seiner thematischen Gruppierung der Bücher durchaus noch für eine erste Orientierung hinreicht, wenn man vor Ort arbeitet. Tatsächlich ist auch diese Arbeitsgrundlage nicht als Schmöker oder im eigentlichen Sinne zum Stadium gedacht, sondern ein Hilfsmittel zum Auffinden von Spuren in und Wege zu Nietzsches Werk. Was hat er gelesen? Was hätte er lesen können? Und: Was dachte er (sich) beim Lesen eines Buches von seinem Autor? D.h. woher kamen -

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seine Inspirationen. Der Band Nietzsches persönliche Bibliothek ist vor allem dann sinnvoll einsetzbar, wenn man die betreffenden Bücher Nietzsches ebenfalls gleich zur Hand hat (sich also in Weimar befindet), um nachzusehen, was er in den Randglossen vermerkte oder welche Aussagen er unterstrich. Doch genau hierin besteht, fernab von formalen Flüchtigkeitsfehlern, ein wirkliches Manko dieser Ausgabe: Solange man nur den Buchtitel kennt und eine ungefähre Vorstellung von der Quantität der Lesespuren besitzt, weiß man noch lange nichts darüber, was Nietzsche aus dem betreffenden Buch gezogen hat. Man weiß noch nicht einmal, ob es überhaupt Nietzsche war, der diese Anmerkungen hinterlassen hat. Denn Nietzsches Bücher waren nach der Auflösung des Nietzsche-Archivs ins Goethe- und Schiller-Archiv und schließlich in die Herzogin Anna Amalia Bibliothek überführt worden und damit Teil des Bestandes. Nietzsches Bücher, eigene wie fremde, konnten außer Haus ausgeliehen werden! Giuliano Campioni und seine Mitarbeiter, die auch in dem zukunftsweisenden Online-Projekt HyperNietzsche eingebunden sind, haben sich nicht wirklich vom Vorgehen des Weimarer Nietzsche-Archivs und seinen historisch-medialen Bedingungen loslösen können, sondern schlicht das Oehler-Verzeichnis aufwendig überarbeitet, ergänzt und entthematisiert. Statt das zu tun, was von Seiten der HyperNietzsche-Mbeitsgrappe gerne dem hier nun zuständigen Verlag vorgeworfen wird nämlich: Kapital zu schlagen aus der von Stiftungen finanzierten Arbeit anderer, anstatt das Material frei und sozusagen ,basisdemokratisch' zugänglich ins Netz zu stellen-, hätte der eigene Ansprach selbst befolgt werden können. Warum nicht, wie es die NietzscheBibliographie der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen vormacht, die Datenbanken samt Suchmaske ,freischalten' und den Interessenten mehrdimensional damit arbeiten lassen? Statt dessen werden Bibliotheken nun diesen Band für nicht wenig Geld routinemäßig anschaffen oder ihn sich nicht leisten. Der Gang nach Weimar oder eine Bestellung im Goethe- und Schiller-Archiv wird in jedem Fall unerlässlich bleiben. Bislang muss man dort zudem noch auf die qualitativ schlechte Verfilmung der Bücher zurückgreifen. Hätte man also nicht gleich, wie bei der Arthur-SchopenhauerAusgabe von Martin Hübscher, die Randschriften mittranskribieren können? Zugegeben, die Sache wäre vielleicht umfangreicher geworden, aber in den meisten Fällen handelt es sich bei den betreffenden Stellen um Unterstreichungen. Ein NietzscheForscher hätte nun nur noch das betreffende Buch in seiner Stammbibliothek bestellen und die Stellen nachschlagen müssen, um den Kontext vor Augen zu haben. Dass dies nicht geschehen ist, ist mitunter Zeichen einer Reaktion auf die Dämmerung des Analogen und der unausbleiblichen Öffnung der Archive: Die Hoheitsrechte sollen gewahrt bleiben, der Gang in die lokalen Archive (oder zumindest die Bestellung von Kopien daraus) soll die Unentbehrlichkeit der Institution simulieren. So bleibt demjenigen, der nicht über ein entsprechendes Budget oder ein Forschungsstipendium verfügt, nur, noch einige Jahre, vielleicht Jahrzehnte zu warten, bis die freiwilligen und amtlichen Helfer -

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HyperNietzsche diesen Block abgearbeitet haben werden. vor allem Rückschlüsse auf die jahrelange, akribische Arbeit der Gruppe um Campioni zu und mehrt damit das Bedauern, von deren Wissen ausgeschlossen zu sein: Durchaus zeitgemäß sind hier die Bücher vor allem als Medien mit von

Der Band lässt

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eigener Geschichte Thema, nicht aber als Quellen für Nietzsches Denken. Philologisch

korrekt hat man sich erst gar nicht in das Abenteuer gestürzt, Nietzsches ideale Bibliothek' zu rekonstruieren, sondern nur diejenigen Bücher aufgenommen, die Nietzsche nachweislich besessen hat, gleich ob er sie gelesen hat oder nicht. Der Supplement-Band ist also auch in dieser Hinsicht ein Werk des Übergangs und macht letztlich, was die Aufgabe von Supplementen ist: das Eigentliche ergänzen und ,

vertreten.

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Ein Nebenprodukt der großen Weimarer Ausstellung zum 100. Todestag Nietzsches, Wann ist der Gotthardtunnel fertig? Friedrich Nietzsche. Leben und Werk, ist das '

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Nietzsche-Zeitgenossenlexikon von Hauke Reich. Als Mitarbeiter der von Stephan Oettermann konzipierten Ausstellung, welcher im vorliegenden Nachschlagewerk wiederum als Mitarbeiter fungierte, recherchierte Reich all diejenigen Personen, die zu Lebzeiten Nietzsches zum näheren und weiteren Bekanntenkreis gehörten, lebende und tote Verwandte sowie Menschen, die sich auf ihn (positiv oder negativ) beziehen. Mit anderen Worten: Es sind, abgesehen von den Zentralfiguren aus Nietzsches persönlicher Genealogie (die dem Lexikon in Form eines schönen Stammbaumposters, das Hauke Reich für die Ausstellung zusammengestellt hat, beiliegt) diejenigen, welche in den Registern der Nietzsche-Ausgaben (KSA, KSB, KGB) gelistet sind. Diese Grenzziehung ist pragmatisch und dem Umfang des Buches zuträglich. Anders als im Falle von Nietzsches Bibliothek vermisst man nicht diejenigen Einträge, die eine intensive Beziehung (resp. Lektüre) Nietzsches enthalten müssten, aber dem Ausschlusskriterium der Edition zum Opfer fielen. Reich hat lange und gut recherchiert, ein Maximum an Lebensdaten zusammengetragen und sämtliche bekannten Anknüpfungspunkte in Form von Schriften, Porträts und Sekundärliteratur gelistet eine echte und brauchbare Suchbzw. Findmaschine in Papier, deren Benutzung auch von zu Hause aus Sinn macht. Der verantwortliche Verlag Schwabe, der in den vergangenen Jahren vielfach positiv durch seine Nietzscheana auffiel, hat mit der Veröffentlichung als Paperback und Hardcover zudem an Leser und Bibliotheken gedacht, auch wenn noch der Preis des ersten durch-

stolz ist. Das letzte hier vorzustellende Hilfsmittel fällt etwas aus der Reihe, insofern es nicht allein ein Nachschlagewerk ist, sondern durchaus ,gelesen' werden kann. Der Band des in München Philosophie lehrenden Alfons Reckermann hat den Anspruch, Interpretationsstränge außerhalb Deutschlands seit 1960 zusammenzustellen. Dies ist ihm auf bemerkenswerte Weise gelungen, zumal er die chronologische Reihung durch eine sprachgeographische durchbricht: Frankreich, Italien, und der angelsächsische Raum liegen in seinem Fokus. Im Wesentlichen hat Reckermann damit die maßgeblichen Felder und Differenzen der fachphilosophischen Betrachtung Nietzsches abgesteckt. Rein religiöse, literarische oder philologische Lesarten und ihre bevorzugten Standorte wie Lateinamerika und Skandinavien bleiben unberücksichtigt. Sie würden die Darstellung auch verwässern: „Es wird vor allem die Literatur berücksichtigt", so Reckermann, „die sich bewusst an die Grenze zwischen einer eher historisch orientierten NietzscheForschung im engeren Sinne und einer eher philosophisch-systematischen NietzscheDiskussion begibt." (IX) aus

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Wie schon im Falle Reichs harmonieren die Kriterien mit der durch sie bedingten Auswahl: Das Jahr 1960 ist das Datum der einsetzenden Edition Nietzsches durch Giorgio Colli und Mazzino Montinari, die Länder sind diejenigen, welche deren Ausgabe heute in der Landessprache besitzen. Vorausgesetzt ist bei Reckermann eine Kenntnis der deutschen Nietzscheinterpretation, vor allem derjenigen Martin Heideggers, die in allen Rezeptionsbereichen entscheidend gewirkt haben. 1960 markiert damit auch die Zeit ,nach' Heidegger, sprich: die Ära der Colli/Montinari-Ausgabe, und damit der Beginn eines philologisch geschulten, systematischen Blicks auf Nietzsche, dem emblematisch in Frankreich Gilles Deleuze, in Italien Gianni Vattimo und in Nordamerika Arthur Danto entsprachen. Erfolgreich vermeidet Reckermann den Eindruck der nationalen Homogenität des Nietzschebildes, trotz regionaler Affinitäten. Dabei hat er ein unglaubliches Lesepensum erfüllt. Über die Referate der einzelnen Titel hinaus ist eine jeweils abschließende Würdigung sowie eine vorgängige Sortierung der Rezeptionslinien ein Genuss mit teils augenöffnender Wirkung. Besondere Berücksichtigung erfahrt Nietzsches philosophische Rezeption in der angelsächsischen Welt. Eine gerade hierzulande oft ausgeblendete Linie, die zurecht den größten Teil der Darstellung Reckermanns füllt: Nicht nur herrscht hier eine kaum gekannte Vielfalt an Schwerpunkten vor, sondern wird auch deutlich, dass anders als in Frankreich, Deutschland und Italien (über Heidegger hinaus) eine intensive und produktive Weiterführang der Impulse der jeweils anderen stattfand: Erwähnt sei hier die Amerikanische Variante der dekonstraktionistischen Lesart Nietzsches durch John Sallis, aber auch die breitgefächerte Rezeption des Willens zur Macht als Element einer Praktischen Philosophie, die das Problem des politischen Nietzsche angeht, der er zwischen den Weltkriegen in Deutschland vor allem war und als welcher er hier erst wieder von Volker Gerhardt neu in den Blick genommen wurde. Der grundsätzliche Ausschluss von Literatur, die Nietzsche diskutiert, aber philologisch uninteressiert ist, erweist sich gerade für das Verständnis der akademischen Rezeption in Frankreich als nicht unerheblich: Durch das Auslassen von Autoren, welche Nietzsche keine eigenständige Monographie gewidmet haben bzw. nicht zum Umfeld der organisierten Nietzscheforschung gehören, fallen Personen wie André Glucksmann und Jean Baudrillard, die entweder Nietzsches Philosophie oder deren Rezeption kritisch sehen, weg. Während Glucksmann Nietzsche (und damit die Neonietzscheaner) schlichtweg als Meisterdenker stempelte, brandmarkte Baudrillard das protokapitalistische Produktionsparadigma von Deleuze, Michel Foucault und Jean-François Lyotard (der ebenfalls fehlt). Noch deutlicher als Jacques Derrida hat Baudrillard im Gegenzug mit Nietzsche das Moment der Verführung durch ,Wahrheit' herausgearbeitet. In diesem institutionell einschränkenden Blick liegt der einzige Nachteil dieses Hilfsmittels und zugleich aber auch dessen tiefgründigere Aussage: 2000 kommt auch das ,Lesen' Nietzsches an ein Ende. Nun heißt es vielleicht wieder: mit ihm zu denken. -

Stephan Günzel

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Nietzsche and the German Tradition, ed. Nicholas Martin, Bern, Peter Lang 2003

Deriving from the 75th Annual Conference of the Friedrich Nietzsche Society at the University of St Andrews in September 1997, this volume presents a dozen essays penned by an international group of scholars from the United Kingdom, Sweden, Germany, and the United States. In his preface Nicholas Martin locates the focus of the essays in the „tension between Nietzsche's desire for a new beginning, a clean slate for (hu)mankind and his keen awareness that nineteenth-century humans are not a tabula rasa" (XV). Friedrich Nietzsche's intellectual quest is seen as sorting through the „accumulated weight of psychological, cultural, political, religious and academic baggage" of his legacies. Reflecting various methodological and disciplinary approaches, the essays comprise three general categories: 1) Nietzsche's responses to classical German aesthetics in the vein of Johann Wolfgang Goethe and Friedrich Schiller, 2) his engagement with contemporaneous events, and 3) Nietzsche's legacies and their recep-

tions since the 1890s. Daniel Conway's contribution addresses Nietzsche's Germano-mania, his goal of rescuing Germany from its cultural decline by situating it within a „pan-European cosmopolitanism" and restoring Europe's displaced gravitational center (5). Arguing that despite his „tirades" against Germany, Nietzsche nevertheless claims it as „the European people of world-historical destiny"(7), C. zeroes in on Nietzsche's „quantum theory" of racial development played out within the cosmic „fight of forces". The „mingling of races" is to provide the new ruling elite with an „adaptable, pliable mass, onto which it may stamp the imprint" of its new order with Germany as its center (1 If). Citing Laurence Lampert's analysis of Nietzsche's desire for the resuscitation of balance destroyed by the Franco-Prussian war, C. questions how the renewed FrenchGerman intellectual marriage and its task of racial matchmaking would actually fare, concluding that Nietzsche prefers „sanitized, disembodies unions" to actual physical ones (16ff). While Nietzsche envisions renewed strength in a melding of national and racial characteristics, C, citing Charles Mills' „antecendent racial contract" excluding those deemed not white, questions Nietzsche's „noble lie", his „myth of a deracinated, post-nationalistic Europe" in which only the French and Germans would be privileged as „genuine European nations" (26).Thus the Jews, who like the Russians are supposedly untouched by decadence, are to contribute their „strength and spirit" to resuscitate the declining nationals of Europe, while remaining excluded from the ruling class. C. notes Nietzsche's ambivalence towards the Jews, his „backhanded compliment" of admiring their strength and resiliency, while lamenting their blockage of European cultural advancement. Another fly in the ointment for Nietzsche's European salvation is the eventual dilution of the very racial traits he seeks to inject into his vision of a new revived Europe (28). Thus, while his plan would supply a home for Jews as the „spiritual center of a new European union", it would devour them and not them to permit remain „undigested" (33f). C. envisions Nietzsche's Europe as a kind of ménage à trois, the Germans as virile husbands, the French the psychologically refined wives, and the Jews offering an „extra-marital arrangement" as seductive, mendacious mistresses doomed to lose their identity „for the sake of a larger goal of dubious value" (35). Here

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sees

thoughts

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the

same

kind of fear and

admiration, the oscillation typical of Nietzsche's

on women.

Gerd Schank's essay Race and Breeding in Nietzsche's Philosophy provides a different slant on Nietzsche's use of the terms ,Rasse' (race) and .Züchtung' (breeding). Arguing that Nietzsche's race concept refers to „peoples living for a longer time in a specific environment and developing a specific character" (237), such „physiological based values" already evident in the writings of Friedrich Albert Lange and Rudolf Virchow (238). With Nietzsche ,race' also refers to social classes, but is often defined as ,Volk', the term used in his polemics against the anti-Semitic writings of Eugen Dühring, Theodor Fritsch, and Heinrich von Treitschke. While the term ,race' can be found in Immanuel Kant, Johann Gottfried Herder, Johann Wolfgang Goethe, and Georg Büchner, it is Nietzsche who establishes a physiological link between environment and character, Sch. argues, environment influencing the „physiological constitution of people", which then finds cultural expression in religion and morals (239). But Nietzsche's concept of race does not derive from a biological genealogical inheritance, nor does he favor „biological purity", the German future envisioned rather as a „mixture of people and cultures", the „source of great culture" (240). Outlining Nietzsche's various historical stages of physical weakening, Schank sees the decline commencing not with the self-affirmative Jews free of ressentiment, but with the Greeks. The second stage, personified by the ascetic priest whose guilt and ressentiment towards life paralyzes the will, can overcome „apathy and depression" to produce a „new elevation of humankind" (242). Goethe and Ludwig van Beethoven teach the concept of the ,higher man' for Nietzsche, not through biological breeding, but through the careful selection of books, friends, and climate ,breeding' signifying education rather than eugenics, and food, clothing, and physiological processes in humankind replacing nationalistic and imperialist,Great Politics' of the Hohenzollerns. In a similar vein, Paul van Tongeren's essay Nietzsche's Naturalism takes Nietzsche's term ,race' as referring to .people' or ,human being' in a social or cultural rather than racist sense (205). He sees this language, derived from Nietzsche's readings in the various fields of science (medicine, linguistics, philology, psychology), not in terms of physical self-preservation, but in the „theory of the will to power" developed in Nietzsche's genealogical analysis of Beyond Good and Evil that envisions „morality as part of nature" (209). Here, Nietzsche transforms the „opposition between nature and morality" into the tension between different wills to power, with morality opposing and tyrannizing the plurality of nature (21 Of). As the „yet undetermined animal", the human being is driven by instincts, but „the naturalness of this being is not complete and encompassing" for Nietzsche, and it is this „indeterminacy" that defines the human being as a special form of animal distinguishing it from other species of the same genus (212). Thus the human task is to realize this humanity characterized by such differentiation, a -

paradox arising from the double roles of determination and being „undetermined and transcending every determination" (213f). Thus nature is seen as will to power, as a plurality of „possibilities which fight and repress one another", avoiding rigidity, but constituting what Nietzsche in The Genealogy of Morals calls „the real problem of humankind" (214). Both of the foregoing essays shed new light on the use of the term

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,race' in Nietzsche's writings, and while their brevity does not permit extensive corroborating evidence from his texts, they offer a new slant on what is certainly a controversial aspect of his thinking. Based on Nietzsche's library holdings, Thomas Brobjer investigates Nietzsche's reading of a range of classical German philosophers (Gottried Wilhelm Leibniz, Herder, Kant, Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Johann Friedrich Herbart, Arthur Schopenhauer, Friedrich Daniel Schleiermacher, Karl Marx and Ludwig Feuerbach), finding strong influences of Schopenhauer, Kant, and Friedrich Albert Lange, but little evidence of more than passing acquaintance with most, except perhaps for Herder, whose Der Cid is cited for its spiritual greatness' in a long poem of 1864. Tracing Nietzsche's „extreme enthusiasm" for Schopenhauer of 1865-1869, when he shared his view of life as „necessary suffering" (47), B. notes a distancing in Nietzsche's commentary to Dühring's Der Werth des Lebens as well as his extensive annotations in the Schopenhauer edition he purchased in the summer of 1875. Finding no work by Kant in Nietzsche's library, B. deduces that his „first-hand knowledge of Kant appears to have been slight", some Basier lecture notes indicating a positive view (61). Yet after Plato and Schopenhauer, Nietzsche refers to Kant most often, his attitude shifting from high esteem in 1876 to a later period of philosophical enmity, leading B. to conclude that as with many other philosophical ideas, Nietzsche read and annotated various other books on Kant, such as L. Dumont's Vergnügen und Schmerz of

1876, works by his friends Heinrich Romundt and Paul Deussen, and around 1884, Schopenhauer's Preisschrift über die Grundlage der Moral (64-66). Little evidence of first-hand knowledge of Fichte, Schelling, Hegel, and Herbart is found among Nietzsche's papers, and while he listed a book by Feuerbach in a Christmas list of 1861, there is no evidence of his having read Das Wesen des Christentums in 1861-1862, when he „lost his Christian faith"(79). While Nietzsche never mentions Marx or Friedrich Engels, B. surmises that he familiarized himself with these authors through at least 13 other books in which they are mentioned or quoted extensively, which leads him to speculate that „their kind of socialism is likely to be included in Nietzsche's harsh critique of socialism" (81). What B. has shown here is just how limited Nietzsche's reading of German philosophers was and that he derived most of his opinions about them from secondhand sources, most of his reading relating to contemporary philosophers less well known to us today (81). While others have suspected this, B.'s culling of the library has provided some definitiveness to conjecture. Christopher Janaway's discussion Schopenhauer as Nietzsche's Educator carefully analyzes how Schopenhauer functions for Nietzsche's reflections as a case-study or subtext, an authority or exemplar, as a philosophical opponent, or as consolation. Among the .flaws' Nietzsche finds in his precursor is the relationship between will and intellect, the ,will' a seemingly arbitrary label for an unknowable. Nietzsche's symbols of Apollo and Dionysos exploits „Schopenhauer's opposition betweeen individual and the world-whole, while the Schopenhauerian system hovers eerily in the background, unasserted but indispensable" (166). Aheady in the Birth of Tragedy Nietzsche takes exception to Schopenhauer's concept of music, agreeing that while lyric poetry's images represent „phenomena of willing", this „does not necessitate a metaphysics of the -

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will as thing in itself, but only the poet's sense of empirical reality as nature, within which he himself is ,eternally willing, desiring, yearning' (168). Another point of distinction is Schopenhauer's valuing of the major world religions Christianity, Buddhism, and Brahmanism because of their abolition of the individual's will to life, which for Nietzsche is Europe's greatest danger, a seduction to nothingness for the sake of salvation that drives Christian morality. Nietzsche clearly prefers art as a stimulus to life and resists Schopenhauerian pity as a demeaning value (171). But the most salient divergence lies perhaps in the perspectivistic stance that Nietzsche insists is the only approach to ,knowing', where Schopenhauer's single ,Weltauge' peering out from every cognizant person is as much an impossibility as his aesthetic objectivity. Whereas Schopenhauer tries to „free the intellect entirely from the will", Nietzsche „replaces it with the idea of the intellect that is essentially will-driven, rather than obstructed by, or at the mercy of, a will that is alien to it" (183). Nietzsche's human being is „constituted by a plurality of drives and affective states", for J., a perspectivism that can put Schopenhauer's notion of „selfless objectivity" to positive use by reversing our usual valuations. Thus, J. argues, even rejection of an „antipodean philosophical system" can nevertheless „be a source of cognitive strength and an occasion for gratitude" (185). In a similar vein, Duncan Large sees Nietzsche's Lutheranism as both identification and rejection'. Whereas Martin Luther appears in The Birth of Tragedy as the .erhabene Vorkämpfer' who paved the way for Richard Wagner, Germany's anticipated savior, from cultural decay, by the mid-1870s Nietzsche had changed his stance towards both. Lamenting in Menschliches, Allzumenschliches the loss of the magnificent cultural possibilities foreclosed by the Reformation's relapse into the medieval world, Nietzsche mocks Luther for having failed to recognize that with Cesare Borgia on the papal throne, the church was about to „luxuriate its way into decadence, secularism, and corruption", to abolish itself of its own accord (122f). Nietzsche declares „open season on Luther's character", many passages „bristling with personal invective" against his irrationalism, nihilism, ressentiment (129), his vulgarity, pessimism, and self-hatred. Yet he pays due homage to Luther for his artistry, praising his Bible as the masterpiece of German prose, L. contending that he represented a challenge, a virtuosity Nietzsche sought to exceed in Zarathustra. Even if Luther's Reformation was a wrong turn in history, it was nevertheless a world-historical event. L. sees an irony here similar to J's analysis of Nietzsche's relationship to Schopenhauer, in that Nietzsche's negative theology can be viewed as a „translation of Lutheran values into secularised form" (136). After all, he says, Nietzsche's amor fati is perhaps not a far cry from Luther's famous : ,Hier steh ich, ich kann nicht anders. Gott helfe mir! Amen!' Another example of Nietzsche's allegiance and antagonism with German thought is seen in his interaction with Homeric tradition for Christa Davis Acampora, wherein Nietzsche plays the role of the agonist. Concerned with „taste and the goal of cultivation or Bildung", Nietzsche sought „renewable tension and conflict" (85). Claiming that -

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sought to reanimate Homer's ,sensous force' and make it accessible, A. emphasizes his „productive point of view", not in terms of text transmission, but in shaping values (89). Homer has shown how Greeks were as „real human beings" reflected in their straggles, decadence, and excellence, and marked by their „competitive

Nietzsche

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drive to excel" (86). Nietzsche credits Homer with having reversed the wisdom of Silenus' pessimism by seeing life as a series of contests producing agonistic institutions that promote Bildung to produce honor and excellence (9If). Such agonistic behavior reflects the dual nature of human beings and cultures nobility and cruelty in an „arena in which the standards of excellence could be negotiated and transmitted" by Homeric heroes in an „agony of fights to the death" in the games (94f). A. deftly outlines some major characteristics of classical-romantic concepts of Bildung, a process of „striving for perfection" to transcend the discordant chaos of life found among thinkers such as Fichte, Hegel, Friedrich Schlegel, Novalis, and Schiller (96). Bildung is achieved in a reciprocal interaction of sensual and formal impulses for Schiller, their unity producing „self-dependence and freedom" (98). Nietzsche's Dionysian and Apollinian tragic art, „disposed toward eradicating each other", is transformed as an agonistic Bildung to effect a „similar union in the psyches of its audience", reconciling them to life (99). Adopting this agonistic stance, Nietzsche's strategy is to make Homer problematic by contesting previous interpretations and introducing new perspectives. Thus Nietzsche „views his own writing as playing a role in creating a contentious arena for the pursuit of new standards of literary and philosophical excellence", seeking to rival Homer to „cultivate a taste for new values" and heighten critical faculties (102). Finally, A. analyzes Zarathustra and his disciples as Nietzsche's „new legislators of values", for whom self-overcoming that tests the strength of values and passionately affirms both present and past is the goal (105). Zarathustra's new contests subject standards to constant revaluation to avoid simply accepting those of others, just as Nietzsche practices ,agonistic philosophy' by enacting such straggles in his writings. Rejecting the kind of division between philosopher and life attributed to Walter Kaufmann's post-war rehabilitation of Nietzsche and Jacques Derrida's „ghostly world of deferral and displacement" (139f), Ben Morgan argues that one should indeed delve into the emotional life of Nietzsche. He favors an „archaeological approach" to „reconnect philosophy with the context from which it springs" (141). Focussing on The Antichrist, he hypothesizes that while this text „angrily debunks the German Protestant tradition" of Nietzsche's upbringing, his portrait of Christ „reveals in miniature the emotional habits behind Nietzsche's texts", his ensnarement in this tradition as he attempted to transcend it (143f). Faulting Nietzsche's interpretation of Christ's behavior as an „instinctual hatred of reality" (147), M. sees this misinterpretation' as deriving from the Pietistic circles of Nietzsche's youth. Nietzsche's critique of Christ as lacking virility, pride, and heroism and remaining .childishly in the age of puberty' has only one answer in M's opinion: Nietzsche's own repressed childhood, the .communicative pathology' of 19 century Prussian education that forbade conflict or resistance and resulted in violent self-regulation. Even after his disillusionment with Prussian militarism, Nietzsche supposedly identified with violence as exemplified by „Zarathustra's celebration of a self-imposed yoke" or „Ecce homo's declaration that progress in philosophy is inseparable from a certain hardness against oneself ( 152). It is this „simple structure" that „underpins Nietzsche's entire philosophy", Morgan claims, and marks the „moment when his identity as Friedrich Nietzsche collapsed" in his suppressed pity for the tortured horse in Turin. Threatened by such identification with pity, Nietzsche -

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„could bear it only by pushing his inflated identification with violence

to its limit, by and all the real and vulnerable Friedrich for God giving up responsibility becoming Nietzsche" (153). The trouble with such a psychological unraveling of text and author is at least twofold: first, the text is assumed to contain one evident meaning, to defy per-

spectivistic interpretation or layered significations, not to speak of irony. Second, biographical information, the other pole of identification, is never an open book, nor is historical placement a sure means of locating psychological reality. One example of such faulty thinking is M's collapsing of the concept of outwardly directed militaristic violence with inner self-control, regardless of how harsh the latter might be. This kind of reading fails to do justice to the complexity and value of Nietzsche's texts, and I would add, to his life. Hans-Gerd von Seggern shows through Nietzsches (anti-)naturalistische Ästhetik in der Geburt der Tragödie how his concept of style is not as incompatible with the classical aesthetics of Goethe and Schiller as has generally been assumed, particularly among scholars in Germany. The chorus and other aspects of The Birth of Tragedy relate to

Weimar classicism's ,Kunsttheorie' in its distinction from both imitation and mannerism, and Nietzsche's advocacy of the simple and natural as the goal of culture is seen as a reformulation of Schiller's „Sentimentalische" (189). Schiller's concept of the „sentimental" appears to be a precursor to Nietzsche's Dionysian, but whereas Schiller envisions a coalescence of spirit and nature on a higher level of artistic idealization in the medium of appearance represented by the masks of Greek actors, von Seggern argues that Nietzsche sees the artistic figures as being more real than reality. He emphasizes in The Birth of Tragedy that the sphere of poetry is not extraneous to the world, but represents the naked truth that must do away with the deceptive make-up of culture. Nietzsche's critique of Emile Zola's experimental novel, of realism and naturalism, shows his scepticism towards servile imitation of reality, the early Nietzsche claiming art not as imitation of natural reality, but as its metaphysical supplement. Thus Nietzsche's adaptation of central aesthetic concepts of Weimar Classicism is seen as defining his own position against contemporaneous literary aesthetics and formulating his own „literary politics" (203). In rhetorically dense fashion, Jim Urpeth argues against Heidegger's claim that Nietzsche's criticism of Kant's notion of aesthetic disinterestedness derives from misunderstanding (215). Nietzsche's „conception of art is not, contrary to appearances, necessarily incompatible with the notion of distinterestedness, per se", he notes (218), arguing that a form of distinterestedness is inherently contained in Nietzsche's claim that „for any sort of aesthetic activity or perception to exist, a certain psychological precondition is indispensable: rapture (der Rausch)" (221). Archilochus, Nietzsche's „quintessential" Dionysian artist, is indeed an „endorsement of the notion of distinterestedness" for U., since Nietzsche emphasizes the non-egoic nature of lyric poetry, the first person pronoun marking a „site wherein anonymous processes occur" rather than designating an ,ego' or self-identity (22If). The artist is a medium released from his individuality, ancient Greek lyric poetry representing an „alignment, rather than an opposition between distinterestedness and the .dionysian'" that allows Nietzsche to overcome the Platonic-Christian metaphysical interpretation of ,desire' and the „status it accords to the ,ascetic ideal' in

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its .moral' guise" (224). Later texts, however, point to Nietzsche's more negative evaluation of disinterestedness, its „identification with the .emasculation of art today'" in the Genealogy of Morals. He rejects Kantian-Schopenhauerian distinterestedness because of its life-denying properties stemming from the „psycho-physiological economy of the .slave'" and „instantiations of the .ascetic ideal'" (225). Nietzsche's critique of disinterestedness exposes the „psycho-physiological economy that masquerades behind it" (227), the .ascetic ideal' emerging in self-contradictory fashion not as denial of life, but as a .key pragmatic strategy" of the self-preservative drives and interests of particular types, such as the artist, the philosopher, the ascetic priest, and the scientist. Taking this analysis a step further, U. sees an „acute affective paradox" in those who derive intense pleasure „from an unrestrained indulgence in self-denial" (229), unmasking the libidinal nature that exposes such „seemingly intrinsically idealist notions, such as disinterestedness" as fraudulent (230). Thus, while Nietzsche valorizes art as the cultural phenomenon most primordially rooted in the „instinctual processes of life", this disinterestedness differs from the Kantian-Schopenhauerian moral appropriation of it as a „purification from material contamination in support of a theologico-humanist system of value" (232). Urpeth concludes that Nietzsche rejects any appropriation of art and aesthetic experience for the sake of a „teleological interpretation of nature as a domain ultimately orientated to theologico-moral ends" (233). The noble affective economy, the ,joy in destruction' characterizing „an affirmative response to the ,tragic'", is .not founded upon utility but upon a primary superabundance and excess", a self-preserving aesthetic sensibility (234). Finally, Nietzsche is seen not only as opposing the moralizing of art, its teleological purpose, but also claiming art's „role as the site of the affirmation of primary material forces", whereby it „attains to an absolute form of disinterestedness that contests the physical and spiritual interests of the integrated ,human' organism". In other words, U. seems to say that Nietzsche's „distinterestedness" of art affirms its freedom from utilitarian and Utopian purposes; it remains .distinterested' by virtue of its sovereignty and inattention to specific goals designated by mortal human beings in search of teleological certainty and affirms life in its totality without justification. The last two essays in this volume move away from speculative thought to investigate specific Nietzsche receptions, Malcolm Humble raising the question Heinrich Mann and Arnold Zweig: Left-Wing Nietzscheans? and Nicholas Martin following the traces of Nietzsche in the GDR: History of a Taboo. H. sees Heimich Mann's pre-exile fascination with Nietzsche in his novel Die Göttinnen oder die drei Romane der Herzogin Assy with its ideas about the superman and the metaphysics of art, where the goddesses celebrate „amoral aestheticism" in their recognition of „Nietzsche's Dionysian aesthetic of superfluity in their lives as opposed to the decadence of the pseudoartists" (251). His essay on Gustave Flaubert and George Sand mirrors Nietzsche's critique of decadence in Nietzsche contra Wagner, the „positive contrast" to Flaubert seen in the „humanitarian realism of George Sand" (251). Finally, H. notes that while Mann rejected Nietzsche's antidemocratic stance, his prostitution of,Geist' to ,Macht', in his essay Geist und Tat of 1910, he never „associated Nietzsche himself with the forces of militarism and reaction". He rather saw through the „distortions and falsifications" by his sister and the Nietzsche Archive team who appropriated his legacy (252f).

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A similar pattern of acceptance and critique of Nietzsche's philosophical ideas is traced in Arnold Zweig's works. Zweig's Grabrede auf Spartakus for victims of the counterrevolutionary purge following the failed Spartacus uprising in 1919 ends with a quotation from Nietzsche's poem Ecce homo depicting man as a self-consuming flame. Zweig distinguishes Nietzsche from racist and rightwing appropriation in the years following his death, but also faults him for this ironic distortion. This „most solitary spirit", who was „reduced to being the patron of those to whom he devoted dozens of pages of the most savage invection" was accorded the „worst fate Zarathustra could conceive: his teachings ,fell victim to the swine'" (256). H. draws the conclusion that while Nietzsche's subversive forces have been slighted by these ,soft' images, Mann and Zweig nevertheless „contributed to the rehabilitation on which the post-1945 development of Nietzsche studies has partly built" (261). Nicholas Martin's Nietzsche in the GDR: History of a Taboo provides a critical depiction of the Nietzsche rehabilitation debate begun in 1986 in Sinn und Form that reflected a „softening of attitudes towards Nietzsche". Inflamed by Heinz Pepperle's „seemingly innocuous essay" claiming a „unity and coherence of content" marking Nietzsche as a „Philosoph von Rang" (264), the „ideological hardliner" Wolfgang Harich, invoking Georg Lukács, had blasted Nietzsche as the precursor of the Nazis, with what M. terms „vitriolic hyperbole" and „mud-slinging" (265). Stephan Hermlin had noted Nietzsche's non-existence in the GDR in 1988, warning that they could hardly afford to ignore him, and Wolfgang Müller-Lauter evaluated such neglect of Nietzsche as a „circumvention to avoid his bad company" (264). M. sees the debate as reflecting the „sclerotic condition of state-sanctioned cultural attitudes in the GDR", the „sudden flurry" marking the „deliberate, officially sanctioned neglect" of Nietzsche for 40 years (270). The GDR's „doublethink" permitted scholars to work on Nietzsche materials, but not publish their results, Nietzsche's published works remaining unavailable in the GDR except for an expensive volume of Ecco homo edited by Karl-Heinz Hahn, director of the Goethe-Schiller Archive, and Mazzino Montinari. M. interprets this „official hostility" as stemming from the „founding ideas and self-understanding of that state" based on a Marxist-Leninist interpretation of historical development favoring the GDR as the culmination of progressive German history following the anti-fascist straggle of 1933-1945 (272). He traces other ambiguous attitudes of the GDR, however: the safekeeping of Nietzsche materials at the Goethe-Schiller Archives, „unconditional" access to them by Western scholars, and discussions of Nietzsche behind closed doors in the seminars of Ernst Bloch and Hans Mayer (280). M. notes Renate Reschke's dissertation at the Humboldt University in 1983 as „one of the more remarkable Nietzsche publications' in the GDR", but it was published only in 2000 by the Akademie Verlag, eventually the leading Nietzsche publisher in eastern Germany. M. cites resistance to reopening the former Nietzsche Archive building in Weimar by the infamous Harich, who would have preferred to see Nietzsche's manuscripts sold to the West for hard currency, but he also recognizes Karl-Heinz Hahn's more „hopeful note" in the 1989 volume of Nietzsche-Studien that there might indeed „be Nietzsche research in the GDR and other socialist countries one day" (285). Today, M. finds growing „strong and diverse" interest in Nietzsche since the ,Wende' in eastern Germany evi-

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denced by the reopening of the renovated Nietzsche Archive on the Humboldtstrasse in Weimar, the thriving Nietzsche-Gesellschaft, and the Kolleg Friedrich Nietzsche promoting scholarly research through seminars, conferences, and publications, the Sinn und

belonging almost „to another world" (286). this is a valuable, nicely edited collection of diverse essays, most coAltogether, and convincing. It helps us to understand how Nietzsche utilized his gently argued German philosophical inheritance as a foil for his own thinking, individual precursors and later critics serving as unsuspecting sparring partners in the agonistic play of ideas that continue to defy conventional wisdom, intrigue and engage generations of readers.

Form debate of 20 years ago

Diana Behler

Paul

Bishop, Roger H. Stephenson, Rochester, Woodbridge 2005

Friedrich Nietzsche and Weimar Classicism,

Friedrich Nietzsches Verhältnis zur Weimarer Klassik ist ein Sujet, das in der Nietzscheforschung bislang überraschend wenig diskutiert wurde. Einschlägige Arbeiten Zu beziehen sich in der Regel auf den frühen Nietzsche und seine Nietzsche und Johann Wolfgang von Goethe existiert, neben einer Handvoll von Aufsätzen, eine einzige, wenig beachtete Monographie, die mittlerweile ein halbes Jahrhundert alt ist.3 Große Aufmerksamkeit verdient daher der Versuch, Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Weimarer Klassik in einem umfassenderen Sinne anzugehen. Und das umso mehr, wenn nicht erneut die Geburt der Tragödie oder die Unzeitgemäßen Betrachtungen, sondern ausgerechnet Also sprach Zarathustra ins Zentrum der Untersuchung gerückt wird. Mit diesem ambitionierten Vorhaben treten jetzt die Glasgower Germanisten Paul Bishop und Roger H. Stephenson mit ihrem gemeinsamen Werk Friedrich Nietzsche and Weimar Classicism an, das mit einer aufsehenerregenden These aufwartet: Sind die ästhetischen Vorstellungen der Weimarer Klassik nach dem von Heimich Heine konstatierten Ende der .Kunstperiode' einer rein musealen Vergötterung anheim gefallen? Nein! In Nietzsches Schriften feiern sie ihre Auferstehung, so erfahrt es der Leser gleich im Vorwort (2). Nietzsches Ästhetik bedeute eine revitalisierende Neuauflage der ästhetischen Doktrin der Weimarer Klassiker: „On the evidence of Die Geburt der

Schiller-Rezeption.2

Vgl. Giuliano Baioni, La filología e il sublime dionisiaco.

3

Nietzsche e le „Considerazioni inattuaFriedrich Torino in: Considerazioni inattuali, li", Nietzsche, 1981; Carsten Zelle, Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart 1995, Wolfgang Riedel, Homo Natura. Literarische Anthropologie um 1900, Berlin, New York 1996; Nicholas Martin, Nietzsche and Schiller. Untimely Aesthetics, Oxford 1996. Hans Erhard Gerber, Nietzsche und Goethe. Studien zu einem Vergleich, Bern 1953.

360

Rezensionen

Tragödie, [the] ,art of the future' is a further projection of that perennial aesthetic Nietzsche discerned in Weimar Classicism and to which he gave a new and revitalizing formulation" (50). Mit dem Begriff „Artisten-Evangelium" (KSA, NF, 13, 522) hatte Nietzsche selbst seine Geburt der Tragödie im Rückblick charakterisiert. Im Zentrum des Zarathustra, dem er zentrale Bedeutung innerhalb seines Gesamtwerkes zumaß, stehe nun ein „Evangelium des Schönen" (HA, 9, 314)4, das sich zu wesentlichen Teilen aus Denkstücken der Weimarer Klassik speise. Dargelegt wird diese These anhand von vier Einzelstudien mit den Titeln „Die Geburt der Tragödie" and Weimar Classicism, The Formative Influence of Weimar Classicism in the Genesis of „Zarathustra", The Aesthetic Gospel of Nietzsche's Zarathustra und From Leucippus to Cassirer: Toward a Genealogy of Sincere Semblance '. Im Kern sind es Friedrich Schillers Ästhetische Briefe und Goethes Faust, vor deren Hintergrund Nietzsches Werk einer Re-Lektüre unterzogen wird. Eine Lektüre, die eine bislang nicht gewürdigte Einheit in Nietzsches Denken zum Vorschein bringen soll: „Nietzsche's use of themes, ideas, and even formulations borrowed from Schiller's aesthetic writings in general and Goethe's Faust in particular are shown to provide a link between Die Geburt der Tragödie and Also sprach Zarathustra [...]. A hitherto unappreciated unity of plot, style, and argument is thereby revealed in Nietzsche's Zarathustra and, indeed, his philosophical oeuvre as a whole" (3). Da ist zum einen Schillers Apologie des ästhetischen Scheins, des selbständigen', aufrichtigen' Scheins, wie sie insbesondere der sechsundzwanzigste Ästhetische Brief exponiert, und die zweifellos Eingang findet in Nietzsches Apotheose des Scheins, auch wenn Schiller von deren radikaler Konsequenz eines „umgedrehten Piatonismus" (KSA, NF, 7, 199) noch weit entfernt ist. Zum anderen spielt Goethes Vorstellung polar aufeinander bezogener Oppositionen, die nicht als These und Antithese, sondern als sich gegenseitig bestärkende Positionen zu verstehen sind, eine Schlüsselrolle in der vorliegenden Studie, die vor diesem Hintergrund Nietzsches affirmative Terminologie von Verwandlung, Veredlung, Verklärung deutet. Goethes „Stirb und werde!" (HA, 2, 19f.) aus Selige Sehnsucht wird hierzu angeführt wie auch der Faust-Vers „Gestaltung, Umgestaltung,/ Des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung" (HA, 3, 193). Den „Begriff der Schönheit" erklärt Goethe als Paarung von Ruhe und Kraft, Untätigkeit und Vermögen, ikonographisch vereint im Bild des Löwen: „Ist bei einem Körper oder bei einem Gliede desselben der Gedanke von Kraftäußerung zu nahe mit dem Dasein verknüpft; so scheint der Genius des Schönen uns sogleich zu entfliehen, daher bildeten die Alten selbst ihre Löwen in dem höchsten Grade von Ruhe und Gleichgültigkeit, um unser Gefühl, mit dem wir Schönheit umfassen, auch hier anzulocken" (HA, 6, 512). Ähnlich wie in Goethes Novelle, in der sich das Tableau des vom Kind gezähmten Löwen findet (HA, 13, 22), enthält auch der Zarathustra die Paarung von Ruhe und Kraft als Bedingung des Schö"



,

nen im Bild des lachenden Löwen (KSA, Za, 4, 406), den die Autoren als Transfiguration der Sünde (105) verstehen. So stehen am Ende wie am Beginn des Zarathustra Metaphern der Verwandlung, deren Ikonographie sich an die der Weimarer Klassik

Johann Wolfgang von Goethe, Werke. Hamburger Ausgabe in vierzehn Bänden, Trunz (zuerst Hamburg, 1948-1960), München 1986) (HA).

hg.

von

Erich

361

Rezensionen

anlehnt. Eine Chiffre des Ästhetischen findet sich auch in der Kind-Metapher (Von den drei Verwandlungen), die auf Schillers Spieltheorie verweist, und in der des Schattens (Auf den glückseligen Inseln), wie sie etwa in Schillers Reich der Schatten vorgeprägt ist: „Over and over again, at significant points in the development of his mature thought Nietzsche has recourse to the cardinal doctrines of Weimar Classicism. Clearly they exert a gentle, if sometimes unwitting, pressure on his conceptualization, even his formulations. In the finished product ofAlso sprach Zarathustra, this literally formative influence is demonstrably at work" (88). Gleichwohl wird deutlich, dass den Lesern schon zu Beginn der Lektüre die Zustimmung zu einer Reihe streitbarer Vorentscheidungen abverlangt wird, vor deren Hintergrund sich die Beweisführung der vier Einzelstadien der Arbeit entfaltet. Ob man Reden einer literarischen Figur (seil. Zarathustra) unumwunden zum philosophischen Bekenntnis oder gar dem .ästhetischen Evangelium' seines Autors (seil. Nietzsche) erklären kann, ist methodologisch problematisch und von der Forschung bereits mit guten Gründen angefochten worden. Von Brüchen innerhalb von Nietzsches Werk ist nichts zu lesen. Für das Phänomen der Weimarer Klassik stehen in traditioneller Weise Goethe und Schiller, während sich der vielfach unterschätzte Johann Gottfried Herder auch in der vorliegenden Studie mit einer unbedeutenden Nebemolle begnügen muß. Gegen die Zweifel am von der Forschung gelegentlich zum inhaltleeren Konstrukt erklärten Begriff der ,Weimarer Klassik', und den damit einhergehenden Destruktionen des tradierten Kanons, wappnen sich die Autoren mit einer Reihe inhaltlicher Bestimmungen wie der bei Goethe wie Schiller anzutreffenden Vorstellung der Totalität, die zum Resultat der im Feld des Ästhetischen zu erlangenden Versöhnung erklärt wird: Versöhnung von Partikularem und Allgemeinem, Sinn und Verstand, Erfahrung und Idee, der Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung, der Kluft zwischen ,Naivem' und ,Sentimentalischem', zwischen Sollen und Wollen. Mithin wird von den Autoren die Nähe der Weimarer Klassiker zum sich entfaltenden deutschen Idealismus hervorgehoben, was zweifellos viel für sich hat, was die Studie aber im Hinblick auf Nietzsche unter erheblichen Legitimierangsdruck geraten lässt: Wie passt da Nietzsches Dezentrierung imaginärer Entitäten und Konzepte wie .Subjekt' oder .Identität' hinein? Wie seine Angriffe gegen die .Hegelei' und den gesamten deutschen Idealismus, den er kurzerhand zum „Hirngespinst" (KSA, WA, 6, 50) erklärt? Zarathustras Polemik gegen die Prediger der ,unbefleckten Erkenntnis', die einen untergründigen Zusammenhang zwischen christlicher Tradition und idealistischer Kunstphilosophie insinuiert, richtet sich nicht nur gegen Immanuel Kant, sondern nicht minder gegen den Kant-Leser Schiller, dessen masochistisches Plädoyer, sich moralisch zu entleiben, wenig mit der von Zarathustra propagierten Erdentreue zu tun hat. Aus exakt dieser Misere hätte den Autoren der vernachlässigte Herder helfen können, der zum einen mit seiner sensualistisch begründeten Aufwertung des Tastsinnes einen Claus Zittel, Das ästhetische Kalkül von Nietzsches „Also sprach Zarathustra", Würzburg 2000. Nietzsches Herder, in: Gerhard Sauder Vgl. Wolfert von Rahden, „Nie wirklich satt undfroh (Hg.), Der frühe und der späte Herder: Kontinuität und/oder Korrektur? Beiträge zur internationalen Herder-Konferenz, 25.-29. August 2004 in Saarbrücken (im Druck).

Vgl. 6

"

...

-

Kontrapunkt zum ,ätherischen' Idealismus bildet und der andererseits mit seinem Werk Gott. Einige Gespräche (1787) ein dringend benötigtes Bindeglied herstellt zu einem weiteren Autor, der mit unterschiedlichen Begründungen für die Weimarer Klassik, den deutschen Idealismus und Nietzsche ein bedeutender Gewährsmann ist: Baruch Spinoza. Dieser wird von Nietzsche immer wieder im Zusammenhang mit Goethe genannt. Er wird von ihm als philosophischer „Vorgänger" (KSB, 6, 111) und „Vorfahre" (KSA, NF, 134) bezeichnet und liefert überdies Stichworte für die rein immanente „göttliche Goethische Gottnatur" (KSB, 4, 224), die von ihm gepriesen und verehrt wird. Es ist zu bedauern, dass die Autoren die Bedeutung des Skandalphilosophen herunterspielen, begeben sie sich doch damit ihrer besten Pointen: Das Konzept der Heiterkeit, dessen zentrale Bedeutung für die Weimarer Klassiker und für Nietzsche zurecht auch von ihnen betont wird, ist nicht denkbar ohne den Hintergrund der dezidiert nichtchristlichen Ethik. Lässt man sich auf die These eines ,Evangeliums des Schönen' im Zarathustra ein, kann Nietzsches Werk in ethischer Hinsicht mit gleichem Recht als .Evangelium der Heiterkeit' bezeichnet werden, das in Spinozas Ethik ideell fundiert ist. In diesen Kontext gehört etwa der in den Faust-Dramen anzutreffende anthropologische Subtext des Konzepts der Steigerung, der sich aus der Ethik ableiten lässt und der sich vermutlich auch in Nietzsches .Willen zur Macht' manifestiert. Schließlich bildet Spinozas Skepsis gegen die neuzeitliche Idolatrie der „Willensfreiheit" einen wichtigen Bezugspunkt für Goethe und dessen Kritik der „Willkür", etwa in den Wahlverwandtschaften, wie auch für Nietzsche, so steht es zumindest in einem Brief an Franz Overbeck vom 30. Juli 1881 zu lesen. Bei allen kritischen Einwänden bleibt festzuhalten, dass Bishop und Stephenson in ihrer Studie mit einer Vielzahl in gleichem Maße wichtiger wie innovativer Beobachtungen zu ihrem Thema aufwarten. Eine faszinierende Arbeit, die eine Reihe kontroverser Forschungsbeiträge und Erwiderungen provozieren dürfte. Hans-Gerd von Seggern

7

Vgl. KSA, MA-2, 2, 534; KSA, M, 3, 285, 292f; M, KSA 3, 292f.; KSA, NF, 11,

134.

Personenverzeichnis Kursiv gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf den Fußnotentext

Acampora, C. D.

354-355 A. 30 Achmatowa, Adler, V. 345 Adorno, T.W. 57 Aeschines 173

Aischylos 15,222,323 Albertz, J. 743 Alexander d. Große 227 Alexander VI. 344 Allemann, B. 774 Aly,F. 282 Andreas-Salomé, L. 160,346 Anrieh, E. 97 Archilochus 196, 356 Aristipp 176 Aristophanes 130, 193, 197, 199 Aristoteles 17, 64,108, 130,211,268, 291 Aschheim, S. E. 275,340 Augustinus 153, 182 Autenrieth, G. 80 Axt,H. 78

Bachmaier, H. 98 Bachofen, J. J. 32 Bacon, F. 224-225,227

Baer,K. 345 Baioni, G 359 Ball, H. 341 Ballauf, T. 69 Bannister, H. M. 151 v.

Barbera, S. 346 Barthes, R. 337 Baudelaire, C. 25,30 Baudrillard, J. 350 Baumgarten, A. G. 111 Baumgartner, H. M. 298 Baumgartner, M. 152 Beck, H. 251 Beer, A. 87 Beethoven, L. van 41,42, 222, 352

Behring, D.

346

Belcker, O. 251

Bell,C.

345

Bellmann, J. 55 Belyj, A. 232-241,244 Benders, R. J. 90

Benjamin, W.

28

Benn, G. 26 Benne, C. 129,755 Bergh, v. 282,283

Berghahn, K. L. 773 Bergmann, E. 705 Bergsträßer, L. 279,285 Bernard, C. 205 Bernoulli, C. A. 36 Bertholet, R. 263 Bion 173

Bischoff, D. 289

Bishop, P.

359-362

Bismarck, O. Fürst v. 19,44

Personenverzeichnis

364

Bittner, R. 189, 192 Bizet, G. 141 Blankertz, H. 58 Blickmann, T. 83 Bloch, E. 358 Bloch, W. 262 Blök, A. A. 244,245,246 Blum,L. 345 Blume, C. 75/

Cicero 88

Clark, M. 317 Colli, G. 30, 209, 313, 350 Conrad, M. G. 279 Conway.D. 76^,351-352 Creuzer, F. 32 Crusius, O. 173 Curtmann, W. J. G. 78

Cysarz, H.

7/2

Blumenberg, H. 341 Bollinger.A. 88

Czihak, E. v. 74

Bölsche,W. 341 Bonitz, H. 82 Boockmann, H. 97 Booth, W. C. 228

D'Iorio, P. 346 Dahlkvist, T. 130

Borchmeyer, D. 227 Borgia, C. 344,354 Bourdeau, J. 346

Bourget, P. 319 Bowie, A. M. 197 Brandes, G. 134, 137, 172, 174, 181, 182,

340

Demosthenes 88

223

Brandom,

Dallago, C.

Danto, A.C. 264,350 Darwin, C. 20-21,345 David, J. J. 282 Dávidházi, P. 340 Deinhardt, J. H. 79 Delbrück, C. v. 75 Deleuze, G. 28, 337, 340, 350

R. 325

Brjusow,W. 232,243 Brobjer, T. H. 276,353 Broch, H. 339

Bröckling, U.

57

Brusotti, M. 323 BubnoffN. v. 244 Büchner, G. 352 Buck, G. 69 Burckhardt, J. 32,198,344 Burckhardt-Brenner, F. 88 Burlak,D. 235 Burton, R. 130,212,213,274 Buschendorf, C. 272 Byron, G. G. 30

Campioni, G. 2/6,348 Carus, C. G. 338 Cäsar, G.I. 227 Catull 88

Chamfort,N. 319 Chwostow, W. 232

Derrida, J. 355 Dettweiler, P. 81 Deussen, P. 37, 163, 353 Devereux, G. 330

Diderot, D. 180 Diethe, C. 339 Dillmann, C. H. 86 Diogenes Laertius 128,

180 180-181

Diogenes v. Sinope 173, Döblin, A.

341 Dobuzinskij, M. 246 Donnellan, B. 319 Donnelly, I. 224 Dorfmüller, P. 92 Dostojewski, F. 181,232 Drerup, H. 55 Dreves, G. M. 151 Droysen, J. G. 83, 89 Duchamps, M. 141 Dühring, E. 345,352,353 Dunker,K. T. 75 Dunshirn, A. 200

Personenverzeichnis

365

Fritzsch, E. W. 36 Fuchs, C. 138,139,202 Fuhrer, T. 74 Fuhrmann, M. 64, 192 Furness, R. 340

Dürer, A. 215

Düsing, E.

772

Ebner, F. 340

Eigler, G

58

Eisenlohr, T. 94 Eisler, R. 262,272

Galen 20,130,211,216 Galiani,F. 178 Gams, J. 74 Gast, P. 141,152,175

Elisabeth I. (Sissy) 756 Emerson, R.W. 222 Empedokles 28 Engel, E. 282 Engels, F. 353 Epikur 176 Erasmus v. Rotterdam 296, 344 Erhard,! B. 97 Ester, H. 742 Evers, M. 742 Federn, E. 279 Fedjuschin, V. B. 246 Felden,E. 287 Feuerbach, L. 353

Gauger,H.-M. 158,220 Gedike, L.

Fichte, J. G. 17, 92, 97, 99, 104-107, 109, 776,775,123,353,355 Fiechtner, H. 285 Fink, G 77 Fischer, CG. 77 Fischer, E. P. 98 Flashar,H. 272

Flaskämper, P.

288

Flaubert, G. 174,357 Flitner, A. 58

Florenskij, P. A:

245 B. Le Bovier de 319 Fontenelle, Fornet-Betancourt, R. 743 Förster-Nietzsche, E. 56, 152, 154, 267, 278, 346 Foucault, M. 350 Francke, A. H. 76 Frankfurt, H. G. 326,327 Freud, S. 27,279,345 Fricke, D. 285 Friedrich, H. 747

Fritsch, T.

352

77 81 Gerber, H. E. 359 Gerhardt, V. 295, 310, 338, 350 Gersdorff, C. v. 42 Geuss, R. 339 Giel.K. 58 Gillespie, M. A. 324 Gippius, Z. 232, 246 Gliwitzky,H. 723 Glucksmann, A. 350 Goch,K. 335 Goethe, J. W. v. 24, 43, 63, 136, 185, 216,

Georg II

219, 225,

240,241,259, 291, 304, 375, 319, 320, 338, 343,351,352,356,359,360, 361, 362 Goncourt, E. de 176 Goncourt, J. de 176 Görner, R. 130,740,341 Gray, F. 320 Gregor-Dellin, M. 222, 225 Grezebin 246 Grot,N. 232 Grammes, U. 772 Grünbein, D. 13-21 Grünbein, V. 18-19 Gründer, K. 39 Günther,! 76-78

Haas, W. 219 Habermas, J. 69

Hager, K.

27

Hahn, K.-H. 358

Halévy,D.

345

366

Personenverzeichnis

Halliwell, S. 196-198 Hamacher, W. 147 HandLJ. 75/ Harich, W. 27,358

Hartmann, E. v. 87,89, 94, 338, 343

Harvey, D. 197 Haugeland, J. 326 Hecker,J. J. 77 Hegel, G. W. F. 17, 27, 353, 355

Heidegger,

19, 67, 140, 142, 191, 314, 318, 321, 329, 342, 344, 350, 356 Heimbucher, M. 279 Heine, H. 23,174 Held,K. 70 Henrich, D. 118 Heraklit 28, 121,148,220 Herbart,J. F. 353 Herbst, W. 79 Herder, J. G. 352, 353, 361 Hermens, J. 130 Hermlin, S. 358 M.

Herodot 88 Hesiod 15,27-28 He«, W. S. 2/7 Heyne, C. G. 75 Hubert, G. 289 Hillebrand, K. 340 Hingst, K.-M. 264

Hippokrates 20,216 Hirzel, C. 80,85 Hitler, A. 27,31,43 HödLH.G. 196,340 Hoffmann, D. 47,53 Hoffmann, E. T. A. 225 Hofmann, F. 82,90 Hoffniller,J. 279 Hölderlin, F. 24 Hollingdale, R. J. 315, 317, 321, 323, 326 Homer 15, 27-28, 88, 155, 756, 257, 355 Horaz 86, 88, 220, 272 Horneffer, A. 277, 289, 290 Horneffer, E. 275-292 Horneffer, K 277,283 Horstmann, R.-P. 187

Hoyer, T. 35, 53, 336 Hübscher, M. 348 Huch,R. 284 Hufeland, C. W. 97 Humble, M. 357-358 Humboldt, A. v. 76 Humboldt, W. v. 58, 97-99,107-109 Hume,D. 268-269 Iwanow, W. (Ivanov, V.) 232, 233, 237, 244249, 250

Jaeger, W. 2P6 James, W. 262,265,270

Janaway,

C. 353-354

Janz, C. P. 134,135,143, 152,201, 215, 217 Jaspers, K. 207,302 Jatho,J.-P. 277,278,292 Jung, CG. 338 Kafka, F. 27 Kaiser, G. 339 KalthoffA. 292 Kant, I. 17, 26, 66, 69, 97, 269, 270, 291, 323, 325, 328, 330, 338, 340, 343, 352, 353,361

Kapp, A.

79 Kaufmann, W. 209, 264, 316, 338, 340, 355 Kaufmann, W. A. 315, 317, 318, 323, 326 Kerényi, K. 195 Kerschensteiner, G. 73 Kessler, H. Graf 345, 346 Key,E. 346 Kierkegaard, S. 130, 133-134, 140 Kissling, E. 92 Kjaer, J. 335 Klass, T. 55 Kleist, H. v. 22,26,27 Klibansky, R. 272 Klopstock, F. G. 92 Kloß, O. 130 Knabe, K. 78 Köchly, H. 89

Koegel, F. 277,278

Personenverzeichnis

Koffnan, S. 757, 756, 157, 227, 330 Kohl,K. 341 Köhler,! 46,335 Kokemohr, R. 55, 58, 69, 70

Komisarzevskij, V. 246 Kopernikus, N. 15 Kornberger, M. 157,199,200

367

Mager, C. 76, 78, 79, 81 Magritte, R. 330 Maire, P. 207 Mann,H. 357-358 Mann,T. 19,341 Marcuse, L. 266 Martin, N. 772,338,357-359 Marx,K. 14,31, 171,353 Masschelein, ! 77 Maurenbrecher, M. 287

Köselitz, H. 136,194,220, 225 Krause, F. 339 Kristeva, ! 336 Kuhn, E. 209

Mayer, H.

La Rochefoucauld, F. E. de 319, 320-321 Lagarde, P. de 35, 48, 52, 277

Medicus, F. 705 Meier, H. 329 Mein, G 720,723

358

Lambrecht, R. 216 Lampert, L. 351 Lange, F. A. 379, 343, 345, 352, 353

Mejerhold,V.

Langer, D. 129 Large, D. 740, 224, 339, 354

Menze, C. 97,107,108

Lattmann,! 82,89 Lauth, R. 723 Leibniz, G.W. 705,353 Lenin, W. I. 346

Mette, H.J. 735

LeoX. 344

Leopardi, G 30,254 Levy, O. 267 Lexis, W. 83,84

Lichenberger, H.

Lipiner, S. 340,345,346 Livius 88

Löw, R. 703, 772 44

Lukács, G. 27,358 Lukrez 88 Lüth,C 58

Luther, M. 153,354 Lütkehaus, L. 98 Luvten, NA. 298

Lykambes 196 Lyotard, J.-F. 350 Maclntyre, A.

Merezhkowskyj, D.

232

Meyer, CF. 133 Meyer, ! F. E. 94 Meyer, L. 94 Meyer, M. H. 130, 193 Meyer, T. 720 Meyerbeer, G. 41

Meysenbug, M. v. 135,200,346 267

Liebscher, M. 200,338 Liesner, A. 57

Ludwig II

246 H. 327 Melville, Menipp 173

340

Michel, P. 74

Midgley, D. 339-340 Mill, ! S. 339 Mills, C. 351

Minskij.N.

232

Mittelstraß,! 98 Möbius,A. F. 92 Molner, D. 319,320 Monod,G. 345,346 Montaigne, M. de 130, 176, 212, 216, 222, 319,320-321,324 Montinari, M. 31,342,350,358 Moraes Barros, F. de 129 Morgan, B. 355-356

Morgenstern, C. 340 Moritz v. Sachsen 92 Moritz, CP. 120

Personenverzeichnis

368

Mozart, W. A. 133 Müller, E. 97,107,108 Müller, J. 130 Müller, K. O. 195 Müller, O. 251 Müller-Freienfels, R. 263 Müller-Lauter, W. 358 Münchhausen, G. A. v. 97 Murasov, J. 247 Mushacke,H. 135 Musil, R. 723,340 Mützell, W. J. C. 93

Nagel, C. H. 78 Nägelsbach, C. F. 80 Nancy, J.-L. 147 Napoleon Bonaparte 98,157,227,319 Naumann, C. G. 136 Naumann, G. 306 Nehamas, A. 189,210 Németh, L. 340 Nestle, W. 173 Neumann, O.P. 289 Newton, I. 343

Niehues-Pröbsting, 129,224 Niemeyer, C. 35, 37, 41, 47, 49, 50, 53, 55, H.

70, 335-337 Niethammer, F. I. 58 Nietzsche, F. 75/, 154, 225 Novalis 30,355 Nunberg, H. 219 Nussbaum, M. C. 196 Oehler, A. 225 Oehler, M. 347,348 Oelkers, J. 55, 74, 78 Oettermann, S. 90, 349 01ert,A. L.J. 78 Orwell, G. 338 Ottmann, H. 153 Overbeck, F. 31, 36, 47, 136, 152, 175, 204, 346, 362 Paneth, J. 346

Panofsky, E.

212 Parmenides 28 Pascal, B. 200, 206, 318, 319, 320-321, 330 Pasley, M. 204 Pausanias 249 Pepperle, H. 358 Perikles 15 Pestalozzi, J. H. 97 Peter, CL. 93 Peter, N. 47 Petrarca, F. 32 Pfannekuche, A. 281 Pfeiffer-Raimund, T. 283 Pfrogner, L. C. 79 Pindar 135 Pippin, R. 314, 322, 324, 325 Platon 15, 17, 28, 58, 88, 128, 757, 173, 192,

195, 245, 264, 277-278, 291, 296, 297, 320, 322, 353 Poe, E. A. 30

Pogrell.L.v. 55 Poljakov 246 Potebnja, A. 239 Pott,H.-G. 58 Prauss, G. 325

Preobrazhenskij, W.

231

Preyer, W. 84 Properz 88 Puschkin, A: 251 Pütz, P. 43

Pyrrho

177

Rackham, H. 211 Rahden.W.v. 361 Ranke, L. v. 92 Rapp,M. 225

Raymond, D.

201

Reckermann, A. 349-350 Rée,P. 345 Rehm, W. 301 Reich, H. 349 Reichert, M. 330 Rein, W. 78 Reschke, R. 358

Personenverzeichnis

Ricken, N. 57 Riedel, W. 359

Rieger-Ladich, M.

57 138 H. Riemann, Rilke, R. M. 341 Ritschi, A. 742,755 Ritschi, F. W. 37, 50 Rittelmeyer, F. 280,281,282 Rohde, E. 32,42,346 Rolland, R. 345 Romundt, H. 353 Rorty, R. 722,264,273 Rose,P. L. 44 Rosen, R. M. 196 Rosenow, E. 58 Ross,W. 152 Roth,K. L. 80

Rousseau,!-! 43, 182,320 Roux,W. 345 Rozanov,V V. 245,246

Rüegg, W. 97,98 Ruhloff,! 57 Safranski, R. 774,210 Saint-Beuve, C-A. 176

Salaquarda, !

766

Salis, M. 137,757,199 Sallwürck, E. v. 94 Salter, W. M. 267 Samov, K. 246 Sand, G. 357 Sauder, G. 367 v.

Savigny, F. C. v. Saxl.F. 272

70S

Schacht, R. 202,373 Schäfer, A. 68, 71 Schank, G. 352 Schelling, F. W. 17, 28, 353 Schelsky,H. 98 Schemann, L. 48 Schestow, W. 232,234 Schettler, A. 283 Schian, M. 219,280 Schiller, F. C. S. 262-274

369

Schiller, F. v. 40, 42, 58, 70, 100, 112, 113121, 123-124, 351, 355, 356, 360-361 Schiller, H. 80 Schirnhofer, R. v. 346 Schlaf,! 341 Schlechta,K. 135,156,177 Schlegel, A. W. 222, 223

Schlegel, F. 355 Schleiermacher, F. D.

E.

97, 107, 108, 353

Schmeding, F.

81-82 C 86

Schmelzer, Schmid, U. 244,248 Schmid, W. 720, 724 Schmidt, H. J. 757, 757, 335

Schmidt-Degenhard, M. 272 Schmidt-Millard, T. 55, 63, 66,112 Schmitt, C. 374 Schmitt-Blank, I.

Schopenhauer,

94 A. 24, 36, 38, 49,

55, 64, 66, 98, 100, 101, 109, 120, 252, 318, 320, 338, 343, 353, 354 Schrift, A. D. 224

Schulte,! 722 Schulz, W. 296 Schütz, E. 66 Schütz, K. 90 Schütze, T. 777 Schwab, G 80

Schwartzkopff, A. Screech, M. A.

225 272

Sedgwick, P. 340-341 Seebeck, M. 81

Seggern, H.-G. v. 216,356 Semler, C.

77

Seneca 16

Sestov, L. 247 Seydlitz, R. v. 164, 180 Shakespeare, W. 129, 221-225, 227, 319

Shapiro, G 279 Shelley, P. B. 250 Siegmann, G. 70 Siemens, H. 204 Sihvola, J. 796 Silard, L. 235

Personenverzeichnis

370 Silenius 355 Simmel, G. 171 Sineokaja, J. 231 Skirl, M. 130,755

Sloterdijk, P. 130,140, 171, 173, 248 15, 128, 757, 173, 176, 183, 222, 291,296-299,323 Sologubov, F. 246, 153 Solowjow, W. (Solov'ev, V.) 232, 234, 235, 245,251 Solzbacher, C 35,47 Sommer, A. U. 47,128 Sophokles 15,88

Sokrates

v. Ephesos 216 Spinoza, B. de 17,291,319,320,362 Spir, A. 343

Soranus

Stack, G. J. 262,264-265 Stalin,! W. 31 Starobinski, J. 211,272,213 Steffen, H. 107,174 Steffens, H. 97

Tibull 88

Tieck,L. 222,223

Tiling, W.v.

282

Titze, H. 278 Tolmacev, V. M. 245, 246 Tolstoi, L. 232 Tongeren, P. van 206, 352 Treitschke, H. v. 352 Trenkle,F. 88

Trimborn, C 73 Trumball Ladd, G.

74 E. 360 Trunz, Tugendhat, E. 191 Turgenjew, I. S. 176

Uhlig,G. 85,88 Ulbricht, J. H. 346 Ulrichs, L.-T. 118

Urpeth,J.

356

Stein, L. 130, Steiner, R. 277,340 Steinkrauss, W. E. 266 Stemmer, P. 183

Vattimo, G. 350 Vauvenargues, Luc de Ciapiers 319 Venturelli, A. 342-347 Verweyen, J. M. 2S7 Vico,G. 28 Virchow, R. 352

Stendhal

(Beyle, M. H.) 176,222, 319, 322 Stephenson, R. H. 359-362 Stingelin, M. 128

Virgil

Stirner, M. 257 Stoeckert, H. 112 Stotz,P. 74 Strauß, B. 137 Strauss, D. F. 50-51,345 Strindberg, A. 135, 139 Sunkel, E. 282 Swift, J. 328 Szabo,L. V 112

Voltaire 43,227,319

Stegmaier, W.

727 171

Tacitus 86, 88, 220 Taine, H. 176 Teichmüller, G. 345 Thiersch, F. W. 75,80 Thukydides 15,319

88

Vivarelli,V. 216

Vogtherr, E.

285

Volz, U. P. 201 VömeLJ. T. 76

Wagner, C. 42, 46, 47^18, 194, 220, 222, 226-227

Wagner, R. 14,26, 36, 37, 38-39, 40-48, 5052, 703, 134, 137-138, 141-142, 143, 149, 155, 202-206, 215, 222-223, 226-228, 244, 354 Walker, B. G. 330 Warbeke, J. M. 263 Weber, M. 314,329

Weininger, O.

340

Weischedel, W. 97

371

Personenverzeichnis Weiss, C. 81 Wellner, K. 129,743 Werlitz, H. 282,283

Wollek,C 130

Wolynskij,A. 232 Wolzogen, H. v. 48

Widemann 284 Wiese, B.v. 773 Wiese, L. 93

Xenophon

88

Wilamowitz-Moellendorf, U. v. 75, 276

Young,!

202

Wilhelm! 44 Wilkins,! 797 Williams, B. 313,375,322 Williams, W. D. 379 Wimmer, M. 71 Winckelmann, ! ! 70 Wittgenstein,!. 313 Wolde, L. 254 Wolf, F. A. 755 Wolff, C. A. 97 Wolff, L. 282

Zapata Galindo, M. 300 Zelle, C. 359 Zimmermann, B. 196-197 Zittel, C. 753,367 Zola,É. 136,356 Zschacke, R. 129

Zweig, A. 358 Zweig, S. 207 Zwetajewa, M. Zwick,! 335

30

Autorenverzeichnis

Fernando de Moreas Barros, Rua Paulo, SP Brasil

Iquiririm

125

Apt. 44-B, Vila Indiana,

CEP: 05586-000 Sao

Behler, University of Washington, Department of Germanics, Box 35 31 30, Seattle, WA 98195-3130, USA

Diana

Christian Benne, Center for Tyske Studier, 5230 Odense M, Dänemark

Syddansk Universitet Odense, Campusvej 55,

-

Deszö Csejtei, Universität für Wissenschaften Petöfi S. sgt. 30-34, Ungarn

Tobias

DK

Szeged, Philosophisches Institut,

6722

Szeged,

Dahlkvist, Uppsala Universitet, Inst, för Die-Och-Lärdonghistoria, Box 629, 75126 Upp-

sala, Schweden Volker Gerhardt, Humboldt-Universität D-10099 Berlin

zu

Berlin, Institut für Philosophie, Unter den Linden 6,

Rüdiger Görner, University of London, Institute of German Studies, 29, Russell Square, London WC1B5DP, Great Britain Durs

Grünbein, c/o Suhrkamp Verlag, Lindenstraße 29-35, D 60325 Frankfurt/Main -

Stephan Günzel, Schröderstraße 1, D

10115 Berlin -

Holger Gutschmidt, Ruhstrathöhe 11, D

37085

Göttingen

-

Henning Hahn, Griebenowstraße 14, D- 10435 Berlin Janske Hermens, Katholieke Universiteit Nijmegen, Fac. Rechtsgeleerdheid/Rechtsfilosofi, Thomas van Aquinostraat 6.02.02, NL 6500 KK Nijmegen, Niederlande -

Gerald Hödl, Hoffeldstraße 1, A

2640

Gloggnitz, Österreich

-

Anika Juhász, Universität für Wissenschaften Szeged, Institut für Verhaltenswissenschaften und Psychologie, 6722 Szeged, Szentháromság u. 5, Ungarn

373

Autorenverzeichnis Matthew Meyer,

Österreich

1130 Wien,

Fleschgasse 15/1/3, A -

Thomas Mittmann, Rüttenscheider Straße

77/79, D 45130 Essen -

Enrico Müller, Bleichstraße 17, D

17489 Greifswald -

Jürgen Müller, Kreutzigerstraße 6, D 10247 Berlin -

Heinrich Niehues-Pröbsting, Haßlebener Straße 2, D

99634 Vehra -

Christian Niemeyer, Technische Universität Dresden, Fakultät für Erziehungswissenschaft, Institut für Sozialpädagogik und Sozialarbeit, D 01062 Dresden -

Jürgen Oelkers, Universität Zürich, Pädagogisches Institut, Gloriastraße 18, CH 8006 Zürich Robert B. Pippin, The University of Chicago, 1130 East 59th Street, Chicago, Illinois 60637, -

USA Ekaterina Poljakova, Institute for Philology and History, Russian State Universities for the Humanities, Miusskaya 6, R 12267 Moskau, Russland -

Renate Reschke, Schmollerstraße

9, D 12435 Berlin -

Hans

Ansbacher Straße 72, D

Seggern, Miguel Skirl, Marschalke Straße 83, CH von

10777 Berlin -

4054

Basel, Schweiz

-

Andreas Urs Sommer, Domstraße 42, D

17489 Greifswald -

Christiane

Thompson,

Martin-Luther-Universität

Halle-Wittenberg, Fachbereich Erziehungswis-

senschaften, Institut für Pädagogik, D 06099 Halle (Saale) -

Ulrichs, Reinhäuser Landstraße 41, D

37083

Göttingen Weiß, Universität Potsdam, Institut für Erziehungswissenschaft, Postfach 60

Lars-Thade

-

Gabriele 14415 Potsdam Klaus Wellner,

15 53, D -

Ölbergweg 23, D

79283 Bollschweil -

Christian Wollek, Wallaustraße 24, D

55118 Mainz -