Nietzscheforschung: BAND 13 Friedrich Nietzsche - Zwischen Musik, Philosophie und Ressentiment 9783050047843

Musik hat Nietzsche lebenslang fasziniert. Er wollte nicht nur die Tragödie, sondern die Welt aus dem ‚Geiste der Musik‘

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German Pages [312] Year 2009

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Nietzscheforschung: BAND 13 Friedrich Nietzsche - Zwischen Musik, Philosophie und Ressentiment
 9783050047843

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Friedrich Nietzsche – Zwischen Musik, Philosophie und Ressentiment

Nietzscheforschung Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft

Herausgegeben von Volker Gerhardt und Renate Reschke in Zusammenarbeit mit Jørgen Kjaer Jacques Le Rider Annemarie Pieper Robert B. Pippin und Vivetta Vivarelli

Band 13

Friedrich Nietzsche – Zwischen Musik, Philosophie und Ressentiment

Herausgegeben von Volker Gerhardt und Renate Reschke

Akademie Verlag

Die Drucklegung erfolgte mit Unterstützung der Landesregierung Sachsen-Anhalt (Regierungspräsidium Halle) Einbandgestaltung unter Verwendung eines Ausschnitts aus einem Exlibris für Torsten Unger von Olaf Gropp (Magdeburg). Mit Genehmigung des Künstlers.

Redaktion: Sebastian Döring, Veit Friemert und Jan Prause

ISBN-10: 3-05-004220-6 ISBN-13: 978-3-05-004220-6

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2006 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form – durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren – reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Satz: Veit Friemert, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer“, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

Siglenverzeichnis

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I. Philosophie und Musik Horizonte der Weltauslegung Nietzsches 15. Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft, 14.–16.10. 2005 in Naumburg Rüdiger Görner „Ohne Musik wäre mir das Leben ein Irrthum“ Nietzsches musikalisiertes Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Aldo Venturelli Der musiktreibende Sokrates Musik und Philosophie in der Entstehungsgeschichte der Geburt der Tragödie . . . . . . . . . . . 25 Georges Liébert Nietzsche – musique ou verbe Ton oder Wort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Christoph Landerer Form und Gefühl in Nietzsches Musikästhetik . . . . . . . . . . . . . . 51 Stefan Lorenz Sorgner Musik und Ethik in Nietzsches Geburt der Tragödie . . . . . . . . . . . . 59 Dieter Schellong „Die Musik erlangt ihre grosse Macht nur unter Menschen, die nicht discutiren können oder dürfen“ (Der Wanderer und sein Schatten, Aphorismus 167) Musik ist nicht gleich Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Peter André Bloch Nietzsche als Gesellschaftsmusiker zwischen Parodie und Pathos . . . . . . . 93

Inhaltsverzeichnis

6

II. Nietzsche und das Ressentiment 13. Nietzsche-Werkstatt 14.–17. 9. 2005 in Schulpforta Ivan Broisson Ressentiment und ‚Wille zur Macht‘ Nietzsche und Hume über Moral- und Religionskritik

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117

Tobias Dahlkvist Pessimismus als Ressentiment Eine zeitgemäße Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

129

Tobias Grave Siegreiches Verschwinden Wie uns der Sklavenaufstand aus den Augen gerückt ist

. . . . . . . . .

137

Daniel Heblik Der Mensch des Ressentiments ‚im Lichte‘ seiner ‚Werkstätte‘ . . . . . . .

147

Oliver Immel Vom Ja des Neins Überlegungen zur sinn- und identitätsstiftenden Rolle des Ressentiments im Anschluss an Friedrich Nietzsche und Jean-Paul Sartre . . . . . . . .

155

Andreas Hütig Wer spricht, wenn Hass spricht? Zum Sprachsubjekt des Ressentiments . . . . . . . . . . . . . . . .

165

Volker Caysa Ressentiment und Körpertechnologisierung Über die negativen und positiven Wirkungen des Sklavenaufstandes in der Körperethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

175

Nicole Thiemer Philosophie erzählt?! Ein Blick auf Carson McCullers Ballade vom traurigen Café im Kontext von Nietzsches Analyse des Ressentiments . . . . . . . . . .

183

Vanessa Vidal Mayor Die Idee der Philosophie als Kritik bei Nietzsche und Adorno

193

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Christine Waldschmidt Die Bedeutung des Ressentiments für Zarathustras Lehre vom Übermenschen Stefanie Winkelnkemper Der Hass des ‚Nazareners‘ Heinrich Heine antizipiert die Psychologie des Ressentiments

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201

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211

Inhaltsverzeichnis

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III. Aufsätze Babette E. Babich Nietzsches Ursprung der Tragödie als Musik Lyrik – Rhetorik – Skulptur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Anatoly Livry Vladimir Nabokov, der Nietzsche-Anhänger . . . . . . . . . . . . . .

239

Diana Behler Nietzsche in America Elective Affinities . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

247

Martine Prange Valuation and Revaluation of the Idyll Schillerian Traces in Nietzsche’s Early Musical Aesthetics

. . . . . . . .

269

George J. Stack, Nietzsche’s anthropic circle. Man, Science, and Myth; Von Wille und Macht, hg. von Stephan Günzel (Hans-Gerd von Seggern) . . .

281

Friedrich Nietzsche. Rezeption und Kultus, hg. von Sandro Barbera, Paolo D’Iorio, Justus H. Ulbricht (Mattia Riccardi) . . . . . . . . . . .

284

Thomas Mann, Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung. Vortrag am XIV. Kongress des PEN-Clubs in Zürich am 3. Juni 1947; Nietzsche-Wörterbuch, Band 1, hg. von der Nietzsche Research Group (Nijmegen) unter Ltg. von Paul van Tongeren, Gerd Schank und Herman Siemens Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Neunte Abteilung. Der handschriftliche Nachlass ab Frühjahr 1885 hg. von Marie-Luise Haase und Martin Stingelin (Renate Reschke) . . . . . . . . . . . . . . . .

287

Georges Bataille, Nietzsche und der Wille zur Chance (Atheologische Summe III), hg. von Gerd Bergfleth (Knut Ebeling)

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303

Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

311

VI. Rezensionen

Personenverzeichnis

Siglenverzeichnis

Werkausgaben Werkausgaben nach den Kritischen Werk-/Briefausgaben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Berlin/New York 1967ff. und 1980. KGW KGB KSA KSB

Kritische Gesamtausgabe, Werke Kritische Gesamtausgabe, Briefe Kritische Studienausgabe, Werke Kritische Studienausgabe, Briefe

sowie nach der Historisch-Kritischen Gesamtausgabe Werke bzw. Briefe, München 1933ff. HKGW HKGB

Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Werke Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Briefe

Siglen einzelner Werke AC BA CV DD DS DW EH FW GD GG GM GMD

Der Antichrist Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern Dionysos-Dithyramben David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller (Unzeitgemäße Betrachtungen 1) Die dionysische Weltanschauung Ecce homo Die fröhliche Wissenschaft Götzen-Dämmerung Die Geburt des tragischen Gedankens Zur Genealogie der Moral Das griechische Musikdrama

Siglenverzeichnis

10 GT HL IM JGB M MA MD NF NH NW PHG SE SGT ST VM WA WB WL WS WzM ZA

Die Geburt der Tragödie Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (Unzeitgemäße Betrachtungen 2) Idyllen aus Messina Jenseits von Gut und Böse Morgenröthe Menschliches, Allzumenschliches (I und II) Mahnruf an die Deutschen Nachgelassene Fragmente Ein Neujahrswort an den Herausgeber der Wochenschrift Im neuen Reiche Nietzsche contra Wagner Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen Schopenhauer als Erzieher (Unzeitgemäße Betrachtungen 3) Sokrates und die griechische Tragödie Sokrates und die Tragödie Vermischte Meinungen und Sprüche Der Fall Wagner Richard Wagner in Bayreuth (Unzeitgemäße Betrachtungen 4) Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne Der Wanderer und sein Schatten Wille zur Macht Also sprach Zarathustra

Abkürzungen für Nietzsche-Periodika Nietzsche-Studien – Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzscheforschung, begründet von Mazzino Montinari, Wolfgang Müller-Lauter, Heinz Wenzel, hg. von Günter Abel, Josef Simon, Berlin/New York: Walter de Gruyter Verlag Nietzscheforschung – Nietzscheforschung. Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, hg. von Volker Gerhardt und Renate Reschke, Berlin: Akademie Verlag

I. Philosophie und Musik Horizonte der Weltauslegung Nietzsches 15. Jahrestagung der Nietzsche-Gesellschaft 14.–16. 10. 2005 in Naumburg

RÜDIGER GÖRNER

„Ohne Musik wäre mir das Leben ein Irrthum“1 Nietzsches musikalisiertes Denken

für Wolfgang Rihm, den Komponisten der Sechs Gedichte von Friedrich Nietzsche für Bariton und Klavier (2001) in herzlicher Verbundenheit „eine Musikerregung wählt sich jenen Liedertext als einen gleichnißartigen Ausdruck ihrer selbst. Von einem nothwendigen Verhältniß zwischen Lied und Musik kann also nicht die Rede sein“ (Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1871)

I Mit dem Gehör träumen können, die tiefste Einsamkeit „von selber“ ertönen lassen (KSA, M, 3, 208), als Philosoph den Klang denken und als Musiker das Denken zum Erklingen bringen, damit sind einige Sinnkoordinaten von Nietzsches musikalischem Philosophieren benannt. Und es mag sein, dass es für das Wahrnehmen der Energie, die Musik und Wort bedingt, sogar eines ‚dritten Ohres‘ bedarf.2 Schon Friedrich Nietzsches im Umkreis der Geburt der Tragödie entwickelten Musikreflexionen orientieren sich an der ‚Natur‘ der Musik und ihrer sinnlich-symbolischen Funktion. Gerade diese Reflexionen gehörten zu seiner Auseinandersetzung mit Arthur Schopenhauer. Wenn nämlich Musik im Sinne Schopenhauers unmittelbares Abbild des Willens sei, dann wäre es zumindest denkbar, den Ursprung des Willens mit dem Ursprung der Musik in Beziehung zu setzen. Aber genau das lehnte Nietzsche ab: „[…] der ‚Wille‘ ist Gegenstand der Musik, aber nicht Ursprung derselben […]“ (KSA, NF, 7, 364). An diesen „aesthetischen Grundsatz“ schließt sich die apodiktische These an, nach welcher „der Ursprung der Musik jenseits aller Individuation“ und damit jenseits des von ihm durchgängig mit Anführungszeichen bedachten Willens liege (ebd., 365). An dieser frühen Position sollte Nietzsche im wesentlichen bis zuletzt festhalten. 1 2

Brief an Georg Bandes vom 27. 3. 1888 (KSB, 8, 280). Erik Wallrup, „Nietzsches drittes Ohr“, in: Neue Rundschau 116 (2005), 184–189.

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Rüdiger Görner

Noch dezidierter, anti-schopenhauerischer heißt es in seinen Notizen Ende 1876– Sommer 1877, zu einem Zeitpunkt, als sich in ihm längst Ernüchterung über das ‚Projekt Bayreuth‘ eingestellt hatte: „Musik ist nicht unmittelbarer Ausdruck des Willens, sondern erst in der Fülle der Kunst kann sie so erscheinen“ (KSA, NF, 8, 422). Musik kann demnach erst dann zum Ausdruck scheinbarer Unmittelbarkeit werden, wenn man sie in Beziehung zur Pluralität der Künste wertet, ein Argument, das, wie bereits betont, 1876/77 skizziert, bereits Zweifel an der von Richard Wagner bewirkten oder erzwungenen Synthese der Künste anmeldete. Aber auch hier galt durchaus das, worauf Nietzsches Denken insgesamt abzielte, auf einen „Tanz der Gedanken“, wie er dies im Sommer 1877 formulierte (ebd., 472).3 Im Tänzerischen eröffnete sich ihm eine Ausdrucksmöglichkeit, die er auf sein eigenes Denken und Schreiben zu übertragen versuchte. Das ‚Tanzlied‘ war ihm ihre poetische Entsprechung: „Trägt nicht der Tänzer sein Ohr in den Zehen?“ fragt er in einer Notiz vom Herbst 1883 (KSA, NF, 10, 496). Den Tanz begriff er aber nicht nur als eine Kunst, die eine andere Art der Wahrnehmung erfordere und der Umsetzung sinnlicher Eindrücke verlange; im Tanz vereinigte sich in seinen Augen Vitalismus und Kunst, Bacchantisches und Raffinement, Ekstatisches und Artifizielles. Vor Nietzsche hat kein Denker es gewagt, die Welt so entschieden unter musikalischen Vorzeichen zu reflektieren. Was aber bedeutet das? Zunächst und vor allem eine sprachliche Kalamität. Denn Schlüsselworte im Bereich der Wahrnehmung entstammen zumeist der visuellen Welt. In der Akustik gibt es zum Beispiel keine Entsprechung zu Worten wie ‚Blickwinkel‘ oder ‚betrachten‘. Wenn Nietzsche Instinkt-Urtheile „kurzsichtig“ nennt (KSA, NF, 12, 554), kann er in der Musiklehre dafür kein Äquivalent benennen. In Notizen zu gewissen „Aesthetica“ spricht er von einer sogenannten „Vordergrunds-Optik“ (ebd.), zu der diese Art Urteile seiner Ansicht nach gehörten. Wie sähe dies auf die Musik übertragen aus? Könnte man von einer Hintergrunds-Akustik seiner Gedanken sprechen? Der junge Rainer Maria Rilke hatte sich in seiner Auseinandersetzung mit Nietzsche bezeichnenderweise gerade diese Frage vorgelegt und den Dingen eine sie ordnende Musik als „großen Rhythmus des Hintergrunds“ zugeschrieben.4 Musik verstehen, Wagners Musik durchschauen oder sollten wir sagen: durchhören, das bezeichnete das eine klangbezogene Anliegen Nietzsches; die Welt gedanken- und sprachmusikalisch zu erfassen, das andere, kompliziertere. Sich tänzelnd den Dingen und Problemen nähern, das gewann dann vor allem in seinem Austausch mit dem neooder pseudomozartischen Komponisten Heinrich Koeselitz eine zentrale Bedeutung. Als Nietzsche im Nizzaer Herbst und Winter des Jahres 1887/88 sein Verhältnis zur Musik noch einmal prinzipiell zu überdenken versuchte, geschah dies anhand einer schlichten, aber letztlich unbeantwortbaren Frage: Hat, wer das scheinbar Leichteste, anmutig Oberflächliche komponiert, am tiefsten geschaffen oder empfunden? Noch immer war diese Frage maßgeblich gegen Wagner gerichtet. Nietzsche bedurfte offenbar auch weiterhin einer Art Langzeiterholung von seinem nachgerade traumatischen Bayreuther Festspiel-Erfahrungen des Jahres 1876, von Wagner selbst und seiner mythisch3 4

Wenige Monate später formuliert er: „Spiel der Gedanken“ (KSA, NF, 8, 485). Rainer Maria Rilke, Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Bd. 4: Schriften, hg. von Horst Nalewski, Frankfurt/M., Leipzig 1996, 161.

„Ohne Musik wäre mir das Leben ein Irrthum“

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theatralischen Musik, weil er wusste, dass er, Nietzsche, für diese Musik mit ihren chromatischen Verführungen anfälliger war als für jede andere Klangwelt. Die Abstinenz von Wagners Musikwelt und Bayreuth als dem Tempel des Willens zur Musikmacht gehörte somit zu seinem geistig-sinnlichen Diätprogramm, das er sich verordnet hatte. Statt Wagner nahm er Georges Bizet zu sich, bewusst im Übermaß, in Nizza angeblich viermal in einer Woche, und als Steigerung des souverän Amüsanten eines Jacques Offenbach, Léo Delibes und Ambroise Thomas. Was er an deren Musik wirklich schätzte oder zu schätzen vorgab war ihre, wenn man so will, heitere Oberflächenspannung. Bizets Perlenfischer dagegen erwiesen sich als unzuträglich; nach dem ersten Akt verließ Nietzsche die Nizzaer Oper, weil selbst diese Musik ihn noch zu sehr an Wagner erinnerte. Ein Jahr zuvor hatte er in Monte Carlo das Vorspiel zum Parsifal zum ersten Mal angehört. Sein kritischer Abstand zu Wagner schien dahinzuschmelzen. Köselitz teilt er mit, dass diese Musik „jede Nuance des Gefühls bis aufs Epigrammatische gebracht“ habe; und, zuletzt, „ein sublimes und ausserordentliches Gefühl, Erlebniss, Ereigniss der Seele im Grunde der Musik, das Wagnern die höchste Ehre macht, eine Synthesis von Zustaenden, die vielen Menschen […] als unvereinbar gelten werden […], von einem Mitwissen und Durchschauen, das eine Seele wie mit Messern durchschneidet – und von Mitleiden mit dem, was da geschaut und gerichtet wird“. Nur Alighieri Dante, so Nietzsche, habe Ähnliches zu leisten vermocht. Und er fügte hinzu: „Ob je ein Maler einen so schwermütigen Blick der Liebe gemalt hat, als W.[agner] mit den letzten Akzenten seines Vorspiels?“ (Brief vom 21. 1. 1887, KSB, 8, 12). – Bei allem Überschwang dieses überraschenden Urteils bleiben gewisse kritische Untertöne unüberhörbar: Diese Musik sei ‚gemacht‘, laut Nietzsche kann das nichts bleibend Gutes verheissen; auch dass er das Parsifal-Vorspiel als blosse ‚Synthesis‘ von Zuständen bezeichnet, klingt nach latenter Kritik. Noch mehr erstaunt, dass Nietzsche hier jenen Begriff ins Spiel bringt, den er seit der Zarathustra-Zeit als Ursünde gebrandmarkt hat: das ‚Mitleiden‘. Der Parsifal als eine Musik des Mitleids dürfte ungefähr das zweideutigste Lob sein, er zu vergeben hatte. Am selben Ort, in Monte Carlo, besuchte er im Januar 1888 ein „concert classique“ und notiert: „Lauter modernste französische Musik: oder vielmehr, deutlicher zu reden, lauter schlechter Wagner. Ich halte diese pittoreske Musik ohne Ideen, ohne Form, ohne jedwede Naivität und Wahrheit nicht mehr aus. Nervös, brutal, unausstehlich zudringlich und großthuerisch – und so geschminkt!!“ (Brief vom 6. Januar 1888, KSB, 8, 227). Damit dürfte Camille Saint-Saens und womöglich früher Claude Debussy gemeint gewesen sein. Wenn es freilich ‚lauter schlechten Wagner‘ gab, dann war für Nietzsche jedoch noch ‚guter Wagner‘ vorstellbar gewesen. Deutlicher denn je sprach er jedoch in jener Zeit aus, nach welcher Musik ihm zumute war: Nach einem ‚Claude Lorrain‘ in der Musik, nach Pietro Gastos, alias Heinrich Köselitz’ Kompositionen, nach ‚Licht‘ in den Klängen, nach einer Musik, wie sie „unmöglich scheint“, nach Wagner eben, „tief, sonnig, liebevoll, in vollkommener Freiheit unter dem Gesetz“, so schrieb er wenige Monate später in seiner Turiner Bleibe (Brief vom 14. 4. 1888, KSB, 8, 294), wo ihn schon bald eine Art präraffaelitischer Engel in Gestalt der Irene Fino, die achtzehnjährige Tochter des Hauses, mit südlicher Musik umspielte. In dieser heiter-gelösten Atmosphäre, die er zunächst auch als eine solche wahrnahm, entwarf er seine vernichtende

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Rüdiger Görner

Polemik gegen Wagner. Nietzsches briefliche Aussagen über sein Verhältnis zur Musik aus dem Nizzaer Winter 1887/88 gehören zum aufschlußreichsten, was in dieser Hinsicht von ihm bekannt ist: „Ohne Musik wäre mir das Leben ein Irrthum“, gesteht er Georg Brandes am Ende dieses Winters (Brief vom 27. 3. 1888, KSB, 8, 280). Es lohnt, das Ausmaß dieser Aussage gründlicher zu bedenken; führt sie doch unmittelbar ins Zentrum seines artistischen Denkens, das wesentlich musikalischer Art gewesen war. Nietzsche, der gegen Wagner die ‚Mediterranisierung‘, gewissermaßen die Versüdlichung der Musik forderte, betrieb selbst die Musikalisierung des Philosophierens, die er bereits in seiner Studentenzeit anzustreben begann, wie besonders aus seinen frühen Notizen zu Democrit hervorgeht. Sogar dieser Vorsokratiker hatte ihn schon als Denker und als orphischer ‚Musiker‘ beschäftigt.5 Bedenken wir zunächst, was Nietzsches Wort bedeutet: Wenn das Leben ohne Musik irrig wäre, gewinnt es erst durch die Musik seine Richtigkeit. In Nietzsches Brief ist diese Bemerkung die Folge einer Vermutung über sich selbst: „Ich fürchte, ich bin zu sehr Musiker, um nicht Romantiker zu sein“ (ebd., 279f.). Für den prinzipiellen Kritiker romantischen Bewusstseins oder Sentiments Nietzsche bedeutete dieses Eingeständnis viel. Die Romantik sei in und nur in der Musik zu ihrem ‚Ziel‘ gelangt, das offenbar darin bestand, die musikalische Note im Leben in ihr Recht zu setzen. Nietzsches Anspruch richtete sich nun darauf, Gleiches in der Philosophie zu erreichen: die Musik als Mittel und Gegenstand des Erkenntnisprozesses zu etablieren und den Denkrhythmus als quasi musikalisches Ereignis vorzuführen.

II Als Nietzsche im Oktober 1887 zu seinem fünften und letzten Aufenthalt, von Venedig kommend, in Nizza eintraf, hatte er die Korrekturen der Genealogie der Moral beendet und erhält Nachricht von der Veröffentlichung seines Hymnus an das Leben, seine einzige, zu Lebzeiten erschienene musikalische Lied-Komposition; die Orchestrierung hatte Köselitz besorgt und einige schroffe Harmonien beseitigt. Ironisch genug, dass sich beide Veröffentlichungen zeitgleich ereigneten, denn in keiner anderen Schrift hatte sich Nietzsche so weit von der Musik entfernt wie in der Genealogie der Moral. In dieser ‚Streitschrift‘ erörterte er in Form von drei Abhandlungen moralische Grundprobleme, die beinahe auf jeder Seite auf sein Hauptprojekt verwiesen, den Willen zur Macht. Es wäre folgerichtig gewesen und von Nietzsche ursprünglich auch geplant, dass auf die Genealogie das so lange umkreiste, mühsam vorbereitete ‚Hauptwerk‘ hätte ausgearbeitet werden sollen. Es kam anders. Nietzsches nächste Veröffentlichung sollte Der Fall Wagner werden, eine Schrift, in der ihm noch einmal eine weitere polemische Selbstüberbietung seiner bisherigen stilistischen Möglichkeiten gelang. Überhaupt müssen wir den Kontext bedenken, in dem Nietzsche über Musik schrieb.6 Wie 5 6

Vgl. BAW, 3, 271ff. Vgl. bes. Wen-Tsien Hong, „Friedrich Nietzsche und die Musik im Spiegel der Kompositions- und Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts: Komposition, Philosophie, Rezeption“, Europäische Hochschulschriften XXXVI. Frankfurt/M., New York u.a. 2004.

„Ohne Musik wäre mir das Leben ein Irrthum“

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hat man in Nietzsches Zeit wortsprachlich über Musik gehandelt? Die romantische Tradition des Literarisierens von Musik war nach Robert Schumann und nach Franz Grillparzers Novelle Der arme Spielmann zu Ende. Wagner schrieb schopenhauernd, aber syntaktisch verquast über Musik (Uneingestandener hatte der junge Nietzsche unter der Prosa des Wagnerschen Beethoven-Essays gelitten!). Die Musikkritik lebte von überschwänglichen oder verteufelnden Adjektiva. Und die Musikwissenschaft, die sich zu etablieren begann, verfiel ins andere Extrem; in sprachlicher Hinsicht verknöcherte sie, kaum dass sie aus der Taufe gehoben wurde. Der Positivismus machte dem Versuch, der Musik als sinnlichem Erlebnis auch sprachlich nahezukommen, den Garaus. George Bernard Shaws Bemerkung, bei der Lektüre Hugo Riemanns helfe einzig starker Kaffee, um wach zu bleiben, fasst das Wesentliche zusammen. Die Musik wurde wieder zum Oberton in Nietzsches Denken, wurde es 1887/88 in Nizza. Das lag, wie Curt Paul Janz belegen konnte, vordergründig vor allem an seiner Beschäftigung mit Carl Spittelers an Franz Schubert und Johannes Brahms orientierten musikästhetischen Auffassungen; letzterem hatte Nietzsche auch ein Exemplar seines Hymnus und der Genealogie übersandt. Brahms war der einzige, der sich die Mühe gemacht hatte, Nietzsche auf die Zusendung zu schreiben, freilich nicht um die Komposition zu würdigen, sondern um diesem unkonventionellen Denker für ‚bedeutsame Anregungen‘ zu danken. Der tiefer liegende Grund für die Notwendigkeit, die Nietzsche sah, sich noch einmal in aller Entschiedenheit mit Wagner auseinanderzusetzen, findet sich durchaus in der Genealogie, und zwar an der einzigen Stelle der Schrift, die sich explizit mit der Musik beschäftigt. Im fünften Abschnitt der dritten Abhandlung mit dem Thema Was bedeuten asketische Ideale kommt Nietzsche auf Wagner zu sprechen. Was er in geraffter Art zu dem „Musikanten-Problem“ Wagner sagt, wirkt wie ein Probelauf zum Turiner Brief, dem Fall Wagner. In der Gesamtkomposition der Genealogie hat dieser in seiner Argumentation scheinbar aus dem Rahmen fallende Abschnitt geradezu den Charakter eines Dornes im Fleisch, eines Fremdkörpers, der eigenster Weiterbehandlung bedurfte. Nietzsche argumentiert wie folgt: Wagner habe Schopenhauers These, die Musik rede wie die Sprache des Willens unmittelbar, für seine Zwecke zu missbrauchen gelernt. Er habe Schopenhauers philosophische „Werthsteigerung der Musik“ ursupiert und aus ihrer „Souverainetät“ (sic!) das moderne Priestertum des schauspielenden Musikers abgeleitet. Nietzsche weiter, und das ist dann schon die Tonlage, in der sein Turiner Brief über den Fall Wagner geschrieben werden wird: „[Wagner] wurde nunmehr ein Orakel, ein Priester, ja mehr als ein Priester, eine Art Mundstück des ‚An-sich‘ der Dinge, ein Telephon des Jenseits, – er redete fürderhin nicht nur Musik, dieser Bauchredner Gottes, – er redete Metaphysik […]“ (KSA, GM, 5, 346). Bevor er aber zu dem, wie er glaubte, alles entscheidenden Schlag gegen Wagner und den Wagnerianismus ausholte, musste er sich ein letztes Mal darüber klar werden, wo er selbst im Verhältnis zur Musik stand, wie er über Musik dachte, und wie er ‚musikalisch‘ dachte. Das in diesem Zusammenhang wichtigste Dokument ist Nietzsches Brief an Köselitz vom 15. 1. 1888. Darin geht er zunächst, wie so oft, von seinem seelischen Zustand aus, befindet, dass er sich „mit keiner Art Realität mehr zu arrangieren“ verstehe und sich selbst nicht mehr aushalte. Dann die für uns entscheidende Passage: „Musik giebt mir jetzt

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Rüdiger Görner

Sensationen, wie eigentlich noch niemals. Sie macht mich von mir los, sie ernüchtert mich von mir, wie als ob ich mich ganz von Ferne her überblickte, überfühlte; sie verstärkt mich dabei, und jedes Mal kommt hinter einem Abend Musik (– ich habe 4 Mal Carmen gehört) ein Morgen voll resoluter Einsichten und Einfälle. Das ist sehr wunderlich. Es ist als ob ich in einem natürlicheren Elemente gebadet hätte. Das Leben ohne Musik [Nietzsche hat diesen Gedanken dann Georg Brandes gegenüber wenige Monate später wiederholt – R. G.] ist einfach ein Irrthum, eine Strapaze, ein Exil“ (KSB, 8, 231f). Dieses Zitat veranschaulicht zweierlei: Nietzsches sehr eigentümliche Spielart des Existentiellen in der Musik und das, was ich andernorts die Musikalisierung von Nietzsches Denkprozess genannt habe. Musik, ‚südliche‘ Musik wohlgemerkt, wie sie etwa Freund Köselitz in Venedig im Stile von Paesiello schreibt, Musik versteht Nietzsche als Mittel zu seiner Emanzipation von sich selbst. Im Musikgenuss löst sich das Ich vom Ich ab; aber es löst sich nicht in dionysischer Ekstase auf. Er soll nicht zu bloßer Selbstvergessenheit führen, sondern zu einer eher apollinisch-lichten Selbstbetrachtung. – Wichtig ist darüber hinaus, dass Nietzsche diese Wirkung der Musik auf seine psychische Verfassung auch auf sein Denken überträgt: Die Musik des Vorabends setzt sich in anderer Form, in „resoluten Einsichten und Einfällen“ eben, im Denken fort. Das ist genau das Gegenteil zu jener Erfahrung, die beispielsweise Heinrich von Kleist um 1800 in einem Brief beklagte: ‚Sobald ein Gedanke sich regte‘, war für ihn, wie er schrieb, die musikalische Empfindung wie weggezaubert. Der Zusammenhang von musikalischer Stimmung und Denken beschäftigte Nietzsche in besagtem Brief an Köselitz offenbar so eingehend, dass er einen Ausdruck prägte, von dem er glaubte, er stamme von seinem komponierenden Freund: ‚Reaktive Musik‘ nannte Nietzsche einen Kunst-Zustand, in dem ein wechselseitiges Ineinanderübergehen von musikalischem Rhythmus und Gedankenabfolge möglich werde.7 Geradezu aufgeschreckt erwiderte Köselitz, er habe den Ausdruck ‚reactive Musik‘ nicht gebraucht. Für Nietzsche dagegen hatte sich nicht dieser Ausdruck, wohl aber die Sache, die er bezeichnete, als lebensnotwendig erwiesen: Eine Musik zu finden, die auf sein Denken und Empfinden reagieren würde, eine Musik, von der er zeitweise geglaubt hatte, er müsse sie selbst komponieren, weil sie sonst nicht zu haben sei. In Wahrheit aber ‚dachte‘ er diese Musik, schuf seinen spezifischen Sprachrhythmus als leitmotivisch erkennbare Denkmelodie. Unverwechselbar wollte er, wie man weiß, werden, unmittelbar als die seinen erkennbare Sequenzen schreiben, am besten so unverwechselbar wie das zirkular angelegte Motiv der Walküre. Es bedarf keiner großen Hörbegabung, um einen zumindest indirekten Zusammenhang herzustellen zwischen diesem musikalischen Zirkular und dem Gedanken von der ewigen Wiederkunft des Gleichen. Gleichfalls nicht zu übersehen ist eine inhaltlich-strukturelle Komponente. Abgesehen davon, dass Nietzsche in Wagners Musik ohnehin künstliche Höhepunkte 7

Bemerkenswert ist, dass Nietzsche hier eine Stimmungs- und Bewusstseinskonstellation aus seiner Frühzeit aufgreift, und zwar sein Fragment Ueber Stimmungen aus dem Jahr 1864, das jedoch als Katalysator zum eigenen Schaffen noch die Wirkung eines Naturereignisses, eines Gewitters, braucht. Daraus ergibt sich der Imperativ: „Werde neu!” (BAW, 2, 416f.); Dazu auch Erik Wallrup, „Nietzsches drittes Ohr“, 184f.

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wahrnahm, wenn dieser in seinen Kompositionen Motive wiederholte, erschien ihm das Zirkulare in diesem Schaffen als ein sinnfälliges Symbol für die Nicht-Linearität der Zeit. Diese behauptete er bereits in Entwürfen zur Zeit-Problematik im Frühjahr 1873, wobei er von „dynamischen Zeitpunkten“ sprach, die für ihn identisch mit „Empfindungspunkten“ oder Reizmomenten war (KSA, NF, 7, 579). Eine solche in (potentiell immer rhythmisch-musikalische!) ‚Zeitproportionen‘ übersetzbare Dynamik kann auch zu Kreisbewegungen mit den ihnen eigenen Drehmomenten werden. Dies hörte und sah Nietzsche nicht nur in der Walküre am Werke, sondern besonders auch in der Tanzbewegung, die im Tänzer während des Tanzens zu einem Kraftzuwachs durch das aktivierte Drehmoment führe. Um 1874 konnte Nietzsche noch Wagners eigentliche Leistung in der Entwicklung des Musikdramas würdigen, wenn er sagt, dass Wagner die grundverschiedenen Zeitwerte und Erfordernisse in der Zeitbehandlung miteinander versöhnt habe (ebd., 772), wenngleich er schon hier von den „Gefahren des musikalischen Drama’s [sic!] fuer den dramatischen Dichter“ sprach (ebd., 773). Später sollte er dieses Amalgam aus Sprachmelodie, Musikzitat, Klanggebärde bei Wagner mit seiner Tendenz zur Selbsteinkreisung im Werk heftig kritisieren. Wagner, notiert er im Frühjahr 1888, habe aus diesem Amalgam eine Art Farbe gewonnen, mit der er ‚male‘. Die Musik sei ihm zum bloßen Mittel geworden ( vgl. KSA, NF, 13, 491). Noch deutlicher: „Wagner macht alles Mögliche mit Hilfe der Musik, was nicht Musik ist“ (ebd). Wagner und die wagnerisierenden Epigonen bezeichnet er nun als Schauspieler und „Cultur-Anpinseler“ (ebd.), Fanatiker der Sinnlichkeit allesamt mit Farbtönen aus Harmonie und Disharmonie hantierend. Was Nietzsche von Anbeginn umtreibt, ist die Frage „was ist Wagner“? (KSA, NF, 8, 268), was symbolisiert dieses Künstlerphänomen, dieses einzigartige Faszinosum und Ärgernis. Als er sich vornimmt, seine „musikalischen Erfahrungen in Betreff Wagner’s“ zu beschreiben, lautet sein nächster Gedanke, nach der „Frage in der Musik“ zu fragen (ebd., 11). Beides ist für ihn ein und dieselbe Problematik: Nach der existentiellen Bedeutung Wagners zu fragen und eine Art Selbstbefragung der Musik nach ihrem Wesen anhand von Wagners Werk zu veranlassen. Als sich Nietzsche sicher wähnte, Wagner durchschaut zu haben, versäumte er nicht, neben dessen Musik und malender Farbtönerei das Dekadenz-Phänomen Wagner auch an dessen Stil nachzuweisen: „Stil des Verfalls bei Wagner: die einzelne Wendung wird souverän, die Unterordnung und Einordnung [der Satzteile – R. G.] wird zufällig“ (KSA, NF, 10, 646). Musik und Sprache Wagners entlarven sich jetzt in seinen Augen und Ohren gegenseitig. Schlimmer noch die Wirkung dieser Sprache. Nietzsche, der Stilkünstler, der als philologischer Ästhet eine auf Epikur sich berufende Art Philosophie des Stils entworfen hatte, höhnte im Sommer 1888: „Wagner’s Stil hat auch seine Jünger angesteckt: das Deutsch der Wagnerianer ist der verblümteste Unsinn, der seit dem Schellingschen geschrieben worden ist“ (KSA, NF, 13, 507). Dennoch konnte er selbst zu diesem Zeitpunkt Wagners Kompositonen als „Litteratur“ bezeichnen (ebd., 494), was aus seiner Sicht wiederum bedeutete: Verdichtung, ‚Zauber des Exotismus‘, sinnliche Reflexion im Sinne der Romantik, aber auch veruntreute ‚absolute‘ Musik. – Wiederholt betonte er, Wagner sei ein europäisches Phänomen, ein „Phantom“ deutscher Prägung (KSA 11, 497).

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Dennoch blieb er für ihn Dreh- und Angelpunkt in seiner Beurteilung vor allem jener Künstler, die von „Litteratur abhängig“ seien, vom Typus her „nervös-krankhaftgequält, ohne Sonne“ (ebd., 476). Wagner bezeichne eine Kunst, die alles Wahrhaftige, also Moralische (vgl., ebd., 510), bewusst verspiele. Wagner, das ist der deutschtönende Europäer als Antimoralist, der auch in seinen Essays mehr blende als verständlich machen wolle. Damit ist das Problem von Nietzsches Denken über Musik und in gewissem Sinne auch seines Denkens in musikalischen Kategorien bezeichnet: Es ist so stark an Wagner oder seinem parodistischen Gegenüber, Bizet, ausgerichtet, dass es ex negativo Musik mit dessen Schaffen gleichsetzt. Der ‚Fall Wagner‘ ist damit auch der Fall der Musik als kultureller Kraft, die dazu gebracht wurde, über ihre Verhältnisse zu klingen.

III In musikalisiertem Zustand verwandelt sich das Denken in Dichten. Entsprechend hatte Nietzsche nicht nur Denkbilder im Sinne Walter Benjamins geschaffen, sondern regelrechte Denk-Rhythmen, am offensichtlichsten im Zarathustra, aber auch im Spätwerk, um zu strukturieren, was sich dann 1887/88 geradezu entlud. Denn er wollte mehr sein als ‚nur‘ ein Denker: Als philosophischer Musiker und musizierender Philosoph ging es ihm darum, im Medium des Deutschen erster Stilist zu werden. Das bedeutete, dass er nicht nur die Notwendigkeit sah, seine Denkprozesse im schriftlichen Nachvollzug rhythmisiert erscheinen zu lassen, sondern auch das Deutsche zu melodisieren. Und dies versuchte er bewust als Lyriker, etwa in Gedichten wie diesem: „Der Tag klingt ab/ Der Tag klingt ab, es gilbt sich Glück und Licht,/ Mittag ist ferne./ Wie lange noch? Dann kommen Mond und Sterne/ Und Wind und Reif: nun säum ich länger nicht,/ Der Frucht gleich, die ein Hauch vom Baume bricht“ (KSA, NF, 11, 710). – Man könnte dieses sprachlich-melodische Register als ‚nüchtern romantisch‘ bezeichnen, bescheiden geradezu, was den poetischen Anspruch angeht; kein Wort, das aus dem Rahmen fiele, auch wenn zwei Ausdrücke auffallen: Nietzsche sieht den Tag ‚abklingen‘, so wie ein hohes Fieber, eine Krankheit abklingen, und sieht ‚Glück und Licht‘ ,gilben‘, verwelken. Die Reime wirken scheinbar konventionell und doch in diesen zarten Tönen eines poetischen Decrescendo eindringlich, was verstärkt wird durch den Umstand, dass ein bloßer Hauch den Zustand der Reife besiegelt. Aus dem Gewordenen wird unweigerlich ein Vergehendes. Johann Wolfgang Goethes Über allen Gipfeln/ Ist Ruh scheint greifbar nah; aber anders als bei Goethe endet das Gedicht mit einer harten Fügung, ‚bricht‘; das hat etwas deutlich vernehmbar Harsches, Unversöhnliches, kein ausschwingendes ‚Ruhest du auch‘. Nietzsche hätte schreiben können: Der Frucht gleich, die im Hauch vom Baume fällt, was gefälliger geklungen hätte; aber dieses ‚bricht‘ macht die Aussicht auf einen harmonischen Ausklang zunichte; zumindest relativiert es ihn. Die Interpretation reduziert sich, wie so oft bei Nietzsche, auf die Deutung eines Stilproblems oder stilistischen Phänomens. Nietzsche ‚wollte‘ Stil, wollte auch das gegen Wagner, gegen dessen ‚Nicht-Stil‘, wie er Köselitz in seinem letzten Nizzaer Winter schrieb. Nur ein Lyriker in Europa

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habe Wagner und dessen décadencehafte „Sensibilität“ wirklich in sich und seine Poesie aufgenommen, „jener bizarre Dreiviertels-Narr Baudelaire, der Dichter der Fleurs du Mal“, wie Nietzsche sich im selben Brief ausdrückt. Weiter befand er: „Baudelaire ist libertin, mystisch, ‚satanisch‘, aber vor allem Wagnerisch“ (Brief vom 26. 2. 1888, KSB, 8, 263). Was hier überrascht, ist Nietzsche moralisierender Unterton Charles Baudelaire gegenüber. In den Fleurs du Mal, hätte er sie finden können, die Kunst jenseits der Moral. Er mokiert sich vorgeblich über einen Künstler, der in der letzten Phase seines Lebens bei der bloßen Nennung des Namens Wagner freudig gelächelt habe (‚il a souri d’allégresse‘). In Wirklichkeit identifiziert sich Nietzsche insgeheim mit Baudelaires Wagnerianismus, wenn er am Ende des Briefes dessen Eingeständnis kommentarlos zitiert, Wagners Musik sei „eine der ganz großen Freuden“ (ebd.) seines, Baudelaires, Daseins gewesen. Immer ist auch von Wagner, dem vermeintlichen ‚Schauspieler‘, die Rede, wenn Nietzsche von Moral und Immoralismus redet und sogar, wenn es ihm um Selbstbestimmung zu tun ist. Selbst die sprichwörtlich bekannte Formel aus Ecce homo, der Untertitel: Wie man wird, was man ist, hat er in seiner ersten umfassenden Auseinandersetzung mit Wagner entwickelt. Im ersten Teil der vierten Unzeitgemäßen Betrachtung erklärte er, worauf es ihm bei seiner Untersuchung Richard Wagner in Bayreuth eigentlich angekommen sei, nämlich herauszufinden, „wie er [Wagner – R. G.] wurde, was er ist“. Nietzsche fügte damals hinzu: „und was er sein wird“ (KSA, WB, 1, 434). Das bedeutet, dass er die Intention hinter Ecce homo von diesem mit Wagner verbundenen Grundanliegen abgeleitet hatte, wobei er von ‚Wagner‘ zu einem nur scheinbar unpersönlichen ‚man‘ überging; mit ‚man‘ war unzweifelhaft er selbst gemeint, damit erklärte er sich anstelle von Wagner zum Gegenstand seiner eigenen Untersuchung und des allgemeinen Interesses.

IV Als Nietzsche sich von Wagner zu lösen begann, unmittelbar nach jenen für ihn so unheilvollen ersten Bayreuther Festspielen, wandte er sich an Louise Ott in Paris, seine „neue Freundschaft“ erprobend, und mutete ihr folgende Gedanken zu: „wenn ich denke an was für einen Freigeist Sie da gerathen sind! An einen Menschen, der nichts mehr wünscht als täglich irgend einen beruhigenden Glauben zu verlieren, der in dieser täglich größeren Befreiung des Geistes sein Glück sucht und findet. Vielleicht daß ich sogar noch mehr Freigeist sein will als ich es sein kann!“ (Brief vom 22. 9. 1876, KSB, 5, 185f.). Das ist im Prinzip bereits das Programm von Menschliches, Allzumenschliches, wie er es in seiner Vorrede exponieren wird: „Wille zum freien Willen“, „die große Loslösung“ und frei werden für die Freiheit lauten die Formeln (KSA, MA-1, 2, 15). Aus dem Motto ‚Los von Rom‘, Nietzsche aus bester protestantischer Tradition vertraut, die im sogenannten Kulturkampf 1878 zur Bismarckschen Reichssache wurde, propagierte der Autor von Menschliches, Allzumenschliches im, wie es sich fügte, Jahr des Kulturkampfes, des Erscheinens des Parsifal-Librettos und des Voltaire-Gedenkens ein ‚Los von Wagner‘, zunächst für sich selbst, aber schon bald für die ganze europäi-

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sche Kultur. Im Brief an Louise Ott vom September 1876 folgte auf die FreigeistEmphase noch eine ebenso bange Frage wie kokette Antwort: „Was sollen wir nun machen? Eine ‚Entführung aus dem Serail‘ des Glaubens, ohne Mozartische Musik?“ (KSB, 5, 185f.). Wen wundert, dass es Fräulein Ott auf diesen Brief hin erst einmal die Sprache verschlug. – Die Pointe ist nun, dass sich Nietzsche aus diesem ‚Serail‘ entführen lassen wollte und sogar willens war, diese seine ‚Entführung‘ selbst zu inszenieren. Für ‚Mozarts Musik‘ fand sich auch schon bald Ersatz: Nietzsches eigene Sprachmelodie, seine aphoristische Denkrhythmik, seine artistische Art des Reflektierens; diese lässt in Menschliches, Allzumenschliches zwar drei Kapitel lang auf sich warten, um dann mit wahren Paukenschlägen der Kunstkritik einzusetzen. Aus der einstigen ästhetischen Rechtfertigung des Daseins wird nun ein Angriff auf die Scheinhaftigkeit der Kunst und ihren ‚Flor unreinen Denkens‘. Das hinderte Nietzsche aber nicht daran, den Kerngedanken seiner Erkenntniskritik im dritten Hauptstück mit einem Gedichtzitat auszudrücken. Verse aus Lord Byrons Manfred, Nietzsche nennt sie ‚unsterblich‘, sprechen aus, worum es ihm geht: „Sorrow is knowledge: they who know the most/ must mourn the deepst o’er the fatal truth,/ the tree of knowledge is not that of life“ (KSA, MA-1, 2, 108). – Auch in musikalischem Sinne evoziert er mit dem Hinweis auf Byrons Epos eine Gegenwelt zu Wagners musikdramatischer Sphäre: Schumanns poetisierende Musik. Doch auch hier blieb Nietzsche in Menschliches, Allzumenschliches nicht stehen. Der Abschnitt Musik im vierten Hauptstück mit dem Titel Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller will in erster Linie eines erreichen: Ernüchterung über die Musik. Er argumentiert, die rhythmische Bewegung, die Verbindung mit der Poesie sowie die Symbolik musikalischer Formen habe den Anschein erweckt, die Musik käme „zum Inneren und aus dem Inneren“ käme (ebd., 175). Es sei jedoch der Intellekt gewesen, der den Klang in dieser Weise mit Bedeutung aufgeladen habe. Aber diesen die Musik entzaubernden Ansatz sollte Nietzsche später, im besagten Nizzaer Winter des Jahres 1887/88, widerrufen. Wie gehört verlangte ihn nicht länger nach Ernüchterung über das Wesen der Musik, sondern nach einer ihn ernüchternden Musik, die er bei Wagner in erster Linie als „Rauschmittel“ kennengelernt hatte (KSA, NF, 11, 14).

V Bekannt ist, dass Nietzsche an einem Ideal unwidersprochen festgehalten hat, das auf die Zeit der Geburt der Tragödie zurückgeht: an dem des im Angesicht des Todes ‚Musik treibenden Sokrates‘. So mehrdeutig sein Verhältnis zum Sokratischen im Denken gewesen ist, mit dieser Vorstellung von Sokrates hat er eine Vermittlung zwischen Dionysischen und Apollinischen in der Kultur zu symbolisieren versucht. Dieser Sokrates wurde ihm Inbegriff sinnlicher Erkenntnis und Versuch einer Selbstbeschreibung. Damit klärt sich erst die ganze Dimension der Musikalisierung von Nietzsches Denken und seinem eigenen Insistieren auf Musik-Reflexion: Er hatte mit beidem nicht nur sein künstlerisches Unvermögen, selbst bedeutende Musik zu schreiben, zu kompensieren versucht, sondern er wollte den Denkprozess an sich und die Qualität der Kulturkritik als einen Vorgang eigenständiger ästhetischer Qualität etablieren.

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Von bizarrer Ironie ist, dass sich Nietzsche ab 1887 die einst geplante Selbst‚Entführung aus dem Serail des Glaubens‘ zu einer Kitsch-Musik des Heinrich Köselitz vorstellen konnte. Doch ging es ihm weniger um die unsäglichen Pastoralen dieses mittelmäßigen Komponisten, die auch eine Bearbeitung des homerischen NausikaaStoffes einschloss, sondern um das ‚Unzeitgemäße‘ dieser Musik und der eigenen Vorliebe dafür. Nietzsche, gedanklich unterwegs zum Unmäßigen, suchte in der Musik als Gegengewicht zur eigenen intellektuellen Ungeheuerlichkeit maßvolle Heiterkeit und empfahl seinem getreuen Korrektor Köselitz als Vorbild nicht einmal Mozart, sondern Johann Adolf Hasse nebst Niccolò Jomelli. Den Opernstreit im 19. Jahrhundert zwischen Wagner und der französischen Oper verglich er folgerichtig mit der GluckPiccini-Kontroverse des 18. Jahrhunderts, wobei er, so unzeitgemäß wie irgend möglich, für Piccini Partei ergriff. Wagner, das stand für ihn schon 1877 fest, repräsentierte eine Musik, in der eine ganze Kultur ‚austönte‘ (vgl. KSA, NF, 8, 477), eine Musik, die sich selbst zum Symbol für den Mythos des Verfalls geworden war. Auf dem Höhepunkt seiner Wagner-Begeisterung hatte er seinem kontrapunktierenden Freund Gustav Krug geschrieben, die „moderne Art“ bestehe darin, „die unerhörtesten Kunststücke nur noch scherzoso vorzuführen“, wofür ihm Wagners Meistersinger, namentlich die Prügelszene, als Beispiel vor Ohren stand (Brief vom 31. 12. an 1877, KSB, 3, 267). Hinter Nietzsches permanenter Vergegenwärtigung des Musikalischen im Denken stand gleichsam die Maxime: Wie man zu dem wird, was verklungen ist. Es hängt von der gleichsam inneren Stimmgabel, dem intellektuellen Gehör eines jeden einzelnen ab, ob die Resonanz dieses Prinzips in uns weiterwirken kann.

ALDO VENTURELLI

Der musiktreibende Sokrates Musik und Philosophie in der Entstehungsgeschichte der Geburt der Tragödie

Bevor wir uns einem so anspruchsvollen Thema zuwenden wie der Frage nach der Beziehung zwischen Musik und Philosophie in bestimmten Momenten von Friedrich Nietzsches Denken, halte ich es für meine Pflicht klarzustellen, aus welcher Perspektive ich dieses Thema behandeln kann. Ich bin weder Musikwissenschaftler noch im eigentlichen Sinne Philosoph, vielmehr ein Germanist, der die Möglichkeit und Ehre hatte, mit Mazzino Montinari zusammengearbeitet zu haben. Eine knappe Vorstellung meiner Herangehensweise an Nietzsches Texte sowie der Hauptaspekte meiner ‚Methodologie‘ kann daher von Nutzen sein, um den Rahmen meines Beitrags genauer abzustecken. Die von Giorgio Colli und Mazzino Montinari besorgte Kritische Gesamtausgabe hat den vielschichtigen, polyvalenten Charakter von Nietzsches Denken durch die Rekonstruktion jener ‚Kette‘, die Werke, vorbereitende Fragmente und Vorlesungen untereinander verbindet, zu Tage gefördert. Sie hat neue Interpretationsperspektiven eröffnet, indem sie die unzähligen Facetten seines Denkens sichtbar gemacht und den allgemeinen Kontext erhellt hat, in dem die einzelnen Werke sich als vorläufige Ergebnisse eines unablässigen Reflexionsprozesses ansiedeln. Die vielfältigen Schichten sich wechselseitig überlappender Motive und Themenkomplexe werden zugänglich gemacht. Neben den vollendeten Werken mit ihren eigentümlichen, eindeutig festgelegten Merkmalen tritt ein dichtes Geflecht von Querverbindungen und Verweisen zwischen Texten und Fragmenten hervor. Dieser ‚Extratext‘ ist bisweilen kaum merklich als Feld latenter Spannungen, als dynamisches Spiel gegensätzlicher Kräfte, als fließende Bedeutungsordnung gegeben. Die Geburt der Tragödie ist in dieser Hinsicht beispielhaft: Der Echoeffekt, der zwischen Fragmenten, Vorlesungen, Vorträgen oder vorbereitenden Schriften und dem endgültigen Text entsteht, bringt das Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Themensträngen des Buches in Bewegung und lässt sein fein gestricktes Gewebe hervortreten. Bereits die äußere Entstehungsgeschichte des Werkes macht deutlich, welchen Schwierigkeiten der Autor bei seinem Versuch begegnen musste, drei unterschiedliche Themenblöcke, die Entstehung der griechischen Tragödie aus dem Chor, das Problem des Sokrates und die Anregungen durch Richard Wagners Musik, in einem einzigen Werk zu verschmelzen. Sucht man diesen Weg nachzuvollziehen, treten häufig Probleme in den Vordergrund, die bei einer ersten Lektüre zweitrangig erscheinen, etwa die Bestimmung der lyrischen Dichtkunst, die Charakterisierung des dionysischen Dithyrambus oder das Verhältnis zwischen Dissonanz und ästhetischer Rechtfertigung der

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Welt. Schließlich ist der Versuch, dank der belebenden Wirkung von Wagners Musik, die Idee einer Umwandlung der Wissenschaft in Kunst mit der Perspektive der Wiedergeburt einer neuen Mythologie zu verknüpfen, ausgesprochen gewagt und komplex. Schenkt man diesen Kontrasten gebührende Aufmerksamkeit, wird verständlich, wie die verschiedenen Motive der Geburt der Tragödie sich wieder voneinander lösen und durch die Überlagerungen und das Aufeinandertreffen mit Gedanken, die anderen Quellen oder Erfahrungen entspringen, neue thematische Verbindungen eingehen. Der lange Weg der Rückkehr zu Dionysos, der schließlich in Ecce homo gipfelt, verliert dergestalt den willkürlichen oder paradoxen Charakter eines Schwankens zwischen entgegengesetzten Polen und verweist stattdessen auf eine tiefere Einheit und einen wesentlicheren Zusammenhang des Problemhorizonts von Nietzsches Denken sowie seiner vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten. Die unerbittliche Strenge und leidenschaftliche Suche, denen die Geburt der Tragödie entspringt, werden sichtbar. Durch die Annäherung weit auseinander liegender Fachgebiete, eine außergewöhnliche Fähigkeit, Erkenntnisinteressen und innere Erfahrungen zu verbinden, und eine große geistige Offenheit und Empfänglichkeit für die Intensität neuer künstlerischer Botschaften gelingt es Nietzsche, die ästhetischen und begrifflichen Kategorien, bei denen seine Reflexion ihren Ausgang genommen hatte, von Grund auf zu erneuern. Die philologische Rekonstruktion möglicher Ursprünge der griechischen Tragödie verbindet sich aufs Engste sowohl mit Anregungen, die Nietzsche durch Wagners Unterscheidung von Oper und Drama empfing, als auch mit der Vertiefung einer „auf Schopenhauers Bahnen wandelnden Philosophie“ (KSA, DW, 1, 572). Eine unauflösbare Verbindung von Kunst, Philosophie und Wissenschaft kennzeichnet Nietzsches Denken von Anfang an. Die Erforschung der griechischen Tragödie wird ihm zum Anlass, um ein mögliches ‚tragisches Denken‘ zu umreißen, das sich parallel zur großen hellenischen Kunst entwickelt habe und das es nun als fruchtbarer Vergleichsmaßstab für die zeitgenössische philosophische Debatte wiederzuentdecken gelte. Den langen Prozess der Rezeption und Entstellung der ursprünglichen Tragödie nachzuvollziehen, bedeutete notwendig, die hauptsächlichen ästhetischen Kategorien und die ihnen zugrunde liegenden allgemeinen philosophischen Auffassungen neu zu durchdenken. Das Problem der Tragödie ist daher von Anfang an engstens mit der erkenntnistheoretischen Wende verknüpft, die zur Durchsetzung der sokratischen Philosophie führte. Einerseits werden durch die Auseinandersetzung mit der griechischen Tragödie „die Wurzeln einer unbewußten, aus dem Volksleben herauswachsenden Kunst“ (KSA, GMD, 1, 516) wiederentdeckt, die durch das Vorherrschen der gelehrten literarischen Gattungen abgeschnitten waren; andererseits führt das Ende der Tragödie, das durch den bei Euripides überwiegenden sokratischen Rationalismus bedingt war, zur Wiederentdeckung einer ursprünglichen „Weisheit“ (vgl. KSA, ST, 1, 542), in der der Instinkt seine schöpferische Kraft nicht im Überhandnehmen einer abstrakten logischen Erkenntnis verliert. In diesem Zusammenhang erlangt die Figur des musiktreibenden Sokrates, wie Nietzsche sie am Ende des 14. Kapitels der Geburt der Tragödie beschrieb, besonderes Gewicht. Nach Ansicht des Philosophen hatte Sokrates stets eine innere Hemmschwelle gegenüber der Kunst verspürt. Vor allem während der letzten Tage im Gefängnis wider-

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fuhr es ihm indes wiederholt, von einer Gestalt zu träumen, die ihn immer wieder aufforderte: „Sokrates, treibe Musik!“ (KSA, GT, 1, 96) Dieses Detail aus Sokrates’ Biographie wird von Nietzsche so sehr ausgeweitet, bis es sich in ein Symbol für das „Umschlagen“ (ebd., 102) wissenschaftlicher Erkenntnis und abendländischer Metaphysik in ein Wiedererblühen der Kunst und der Tragödie verwandelt. Das Verhältnis von Drama und tragischem Denken, Kunst und Wissenschaft war in Nietzsches Reflexion während der Entstehungszeit der Geburt der Tragödie von entscheidender Bedeutung und sollte sein Denken bis zur Wende von Menschliches, Allzumenschliches nachhaltig prägen. Auf den ersten Blick scheint es, als spiele die utopische Figur des ‚musiktreibenden Sokrates‘ in der Geburt der Tragödie im Vergleich zu der eindrücklichen Evokation des dionysischen Übermaßes und seines unausschöpflichen Ausdruckspotentials eine untergeordnete Rolle. Dagegen ist diese Konzeption in Wahrheit die tragende Struktur oder der geheime Zusammenhang zwischen den verschiedenen Themen seines ersten Werkes. Die Geburt der Tragödie stellt sich durch die Hervorhebung der Figur des musiktreibenden Sokrates als vorläufiges Ergebnis innerhalb eines weiteren Experimentierfeldes dar, mit dem Nietzsche sich rastlos auf stets neue Weise auseinandersetzte. So tauchte die Frage der Beziehung zwischen Kunst und Wissenschaft in seinem Denken immer wieder auf. Besonders intensiv war die Beschäftigung mit dem Thema bis 1873 und wurde während der Arbeit an den Unzeitgemäßen Betrachtungen zum Teil unterbrochen. In anderer Form wurde es in mehreren wichtigen Aphorismen von Menschliches, Allzumenschliches behandelt, um dann während der Entstehung des Zarathustra, der in vielerlei Hinsicht als buchstäbliche Umsetzung der ‚Tragödie der Erkenntnis‘ gelten kann1, machtvoll wieder hervorzutreten. Man kann behaupten, dass sich in Nietzsche eine ‚Musikalisierung‘ des Denkens vollzog, doch blieb es in erster Linie ein Denken. Das Verhältnis zur Musik präsentiert sich nicht als Bereicherung bestimmter gedanklicher Ausarbeitungen durch musikalische Anregungen und ist auch keine bloße Frage subjektiven Musikgeschmacks des Philosophen, der ihm intuitiv bestimmte Überlegungen nahelegen würde. Vielmehr liefert die zuvor bezeichnete Verknüpfung von ‚ästhetischer Tragödie‘ und ‚tragischem Denken‘, die im übrigen von entscheidender Bedeutung für die von Nietzsche während der vorbereitenden Arbeit an der Geburt der Tragödie entwickelte Musikauffassung überhaupt war, wertvolle Hinweise für ein genaueres Verständnis der Beziehung zwischen Musik und Philosophie. In meiner Analyse werde ich mich besonders auf einige Fragmente vom Herbst 1869–Frühjahr 1870 beziehen, aus denen hervorgeht, dass die Lektüre der Philosophie des Unbewussten von Eduard von Hartmann, gegen die Nietzsche später, in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, polemisch zu Felde zog, von erheblichem Einfluss auf sein Denken war.2

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Zu dieser Interpretation von Also sprach Zarathustra als Tragödie der Erkenntnis verweise ich auf das Kapitel „Zarathustra und der Geist des Aphorismus“ in meinem Buch Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche. Quellenkritische Untersuchungen, Berlin, New York 2003. In einigen Aspekten werden Betrachtungen und Untersuchungen dieses Bandes im vorliegenden Beitrag aufgegriffen und erweitert. Vgl. Aldo Venturelli, Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche, 18ff.

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Einer der ersten Entwürfe der Geburt der Tragödie war bezeichnenderweise Sokrates und der Instinct betitelt (KSA, NF, 7, 79f.). Nietzsche hatte damals vor, das so überschriebene Werk in vier Abteilungen zu untergliedern, die implizit ein ganzes philosophisches System enthielten. Sie sollten der Ethik, der Ästhetik, der Religion und Mythologie, der Staatstheorie und den Gesetzen und der Volksbildung gewidmet sein. In der Endfassung der Geburt der Tragödie ist ein solches philosophisches System lediglich in kondensierter Form zu finden, aber genau dies zeigt, dass eine gründliche gedankliche Ausarbeitung die Voraussetzung für die Formulierung einer eigenen Musikauffassung bildete. Die zitierte Fragment-Überschrift beinhaltete keine klare Trennung zwischen Vernunft und Instinkt, angedeutet war vielmehr eine „Neuschaffung der Welt durch Stärkung des Unbewussten“ (ebd., 75). Ein solches Ziel ließ sich allein durch Musik erreichen, denn nur in der Musik konnte der Erkenntnisprozess Nietzsches Meinung nach „wieder unbewusst“ werden (ebd., 66). Der Instinkt erscheint demnach nicht als etwas Ursprüngliches, sondern wird gleichsam künstlich geschaffen, ist das Ergebnis eines komplexen geistigen Prozesses. Von Anfang an war die Kunstauffassung, die der junge Nietzsche vertrat, durch diese eigentümliche Rückkehr zum Instinkt geprägt, wie Fragment 1 (47) eindrücklich unterstreicht: „Was ist Kunst? Die Fähigkeit die Welt des Willens zu erzeugen ohne Willen? Nein. Die Welt des Willens wieder zu erzeugen, ohne daß das Produkt wieder will. Also es gilt Erzeugung des Willenlosen durch Willen und instinktiv. Mit Bewußtsein nennt man dies Handwerk. Dagegen leuchtet die Verwandtschaft mit der Zeugung ein, nur daß hier das Willensvolle wieder entsteht“ (ebd., 23). Nietzsche übernimmt von Hartmann die Unterscheidung von Handwerk und Kunst. Die Kunst entsteht demnach instinktiv, ohne Beteiligung des Bewusstseins; zugleich erreicht sie aber ihren höchsten Ausdruck, wenn es einem instinktiven Willen gelingt, ein Produkt hervorzubringen, das die Reproduktion des Willens ausschließt. Das zitierte Fragment über die Kunst enthält zudem Anklänge an die Schellingsche Unterscheidung von Produktion und Produkt. Jedenfalls weist es auf eine wichtige Forschungsrichtung des jungen Nietzsche im Bereich der Ästhetik, die in der Ablehnung einer naiven Auffassung der epischen Dichtung Homers gipfelte. Die Ausdruckskraft der griechischen Tragödie führt seines Erachtens nicht zu einer archetypischen Welt ursprünglicher Reinheit zurück, sondern ist das Resultat einer komplexen Brechung widerstreitender Triebe, die den Eindruck einer höheren, den krampfartigen Impulsen des Willens entzogenen Perfektion hervorrufen. Diese Denkrichtung prägt auch die Musikauffassung des jungen Nietzsche, die in dem langen Fragment 1 (49) besonders deutlich zur Sprache kommt. In dem Fragment gehen Betrachtungen theoretischer Art, namentlich zur Musik als universaler, allgemeiner Sprache, und Betrachtungen historiographischer Art zusammen, die die Musikentwicklung gemessen am idealen Maßstab des hellenischen Musikdramas skizzieren. Um theoretische Überlegungen geht es im ersten Teil des Fragments. Zunächst ist die Musik die reine Sprache des Willens: „Sie löst eine Anschauung in Willen auf“ (ebd., 23). Diese Sprache des Willens „enthält die allgemeinen Formen aller Begehrungszustände“ (ebd.), ist demnach in höchstem Maße eine Symbolsprache, in der Instinkt und Triebe sich frei äußern können, ohne ihre Authentizität durch Beschränkungen einzubüßen,

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wie die Notwendigkeiten der rationalen Erkenntnis sie auferlegen. Gerade aus dieser Allgemeinheit der Musiksprache ergibt sich für Nietzsche, dass der Musik bei der Entstehung der Tragödie der Vorrang vor dem literarischen Text gebührt, der rezitiert wird. Die Musik ist nämlich immer „allgemeiner als jede einzelne Handlung: deshalb ist sie uns verständlicher als jede einzelne Handlung: die Musik ist also der Schlüssel zum Drama“ (ebd). Auf dieser theoretischen Bestimmung der Beziehung zwischen Musik und Drama fußt die historische Betrachtung, die den Großteil des Fragments ausmacht. Nietzsche resümiert die ganze Musikentwicklung in einem einzigen historischen Gesamtprozess. Mittelbar ist diese Sicht des Geschichtsprozesses sicher durch Georg Wilhelm Friedrich Hegel beeinflusst, aber der näher liegende Bezugspunkt ist erneut Hartmann. Auch wenn Nietzsche in der zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung mit dieser Sicht des Geschichtsprozesses scharf ins Gericht geht, darf man nicht vergessen, dass die Polemik in Nietzsches Denken stets eine Phase der Assimilation oder wenigstens der offenen Auseinandersetzung mit den Thesen voraussetzt, gegen die er polemisiert. Die Musikentwicklung wird als einheitlicher Prozess konzipiert, an dessen Anfang das hellenische Musikdrama steht und an dessen Ende sich das Problem einer Überwindung der Opernkultur stellt. „Das griechische Musikdrama ist eine Vorstufe der absoluten Musik, eine Form in dem ganzen Prozeߓ (ebd., 24), stellt er in dem untersuchten Fragment 1 (49) fest. Seine Idee der absoluten Musik würde fraglos in ihren verschiedenen Komponenten untersucht zu werden verdienen, doch kann schwerlich bestritten werden, dass sie einen unmittelbaren Verweis auf Wagner enthält. Vor allem gilt es aber herauszustellen, dass das hellenische Musikdrama keineswegs mit der absoluten Musik gleichzusetzen ist und auch kein vollkommenes, unerreichbares Vorbild darstellt. Die griechische Musik weist Nietzsche zufolge in der Tat erhebliche Grenzen auf: „Dies ist die Grenze der antiken Musik: sie bleibt Gelegenheitsmusik, d.h. man nimmt an, es gebe bestimmte musikalische Zustände und wiederum unmusikalische Zustände. Der Zustand, in dem der Mensch singt, galt als Maßstab“ (ebd). Die Allgemeinheit der Musiksprache nahm bei den Griechen noch nicht in der Fülle einer organischen Synthese Gestalt an. Durch den Bezug auf eine mythische Vergangenheit vermochte die Tragödie einen Urzustand des Gefühls zu idealisieren, aber außerhalb dieses imaginierten Zustandes brach die erahnte Einheit erneut entzwei. So alternierten im griechischen Musikdrama Momente eines hohen Pathos mit Rückfällen in ein reines Wortdrama. Zwangsläufig war ein solches Musikdrama dazu bestimmt, in dem von Euripides eingeleiteten Familiendrama und in der vagen Intuition einer absoluten Musik aufzugehen. Aus dem Fragment 1 (49) lassen sich die allgemeinen Umrisse eines historischen Rekonstruktionsschemas der Musikentwicklung ablesen, das im Hintergrund der Geburt der Tragödie fortlebt. Schon in dem Fragment spielt Nietzsche auf den gekünstelten Charakter der Oper an, die durch ein künstliches Zusammenfügen unterschiedlicher, nicht miteinander verbundener Teile die alte Einheit neu zu erzeugen suchte. Später widmete er der historischen Rekonstruktion der Opernkultur in der Florentiner Renaissance das 19. Kapitel der Geburt der Tragödie. Einige vorbereitende Fragmente zu diesem Kapitel sind dem genaueren Verständnis dieser Verknüpfung von Oper und

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Renaissance förderlich, die sich in der Folgezeit auch auf Nietzsches allgemeine Geschichtssicht auswirken sollte.3 Zweifellos harrt die Frage, welche Quellen Nietzsche damals im Einzelnen für seine Rekonstruktion der Entstehung der Oper heranzog, der sorgfältigen Untersuchung. Er bezieht sich zum Beispiel auf das Buch Zur Tonkunst von Ernst Otto Lindner, dem er wahrscheintlich auch die Zitate des RenaissanceMusiktheoretikers Giovanni Battista Doni entnahm. Von Interesse ist auch die wiederholte Gegenüberstellung der Entstehung der Oper im Florenz der Renaissancezeit und des mit Giovanni Pierluigi da Palestrina erreichten Höhepunkts der mittelalterlichen Musik. Georges Liébert hat mit seinen Untersuchungen gezeigt, dass das Vorbild Palestrinas von großer Wichtigkeit für die Entstehung einiger musikalischer Kompositionen des jungen Nietzsche war.4 Im Allgemeinen fehlt bei Nietzsche eine tiefere Sicht der Kultur des Mittelalters, aber die Beziehung zu Palestrina ist eine eingehende Untersuchung wert, nicht zuletzt im Rahmen einer allgemeineren historischen Rekonstruktion der Palestrina-Rezeption. Fürs Erste beschränken wir uns darauf, diese Desiderata der Nietzsche-Forschung zu nennen. An diesem Ort gilt es ein allgemeineres Element der Auseinandersetzung mit der Entstehung der Oper hervorzuheben. Nietzsche betont nämlich: „Die Oper ganz verstehen heißt den modernen Geist verstehen“ (ebd., 315). Seine Analyse der Moderne kreist vor allem um deren idyllischen Charakter, ihre nostalgische Trauer um einen für immer zerbrochenen ursprünglichen Naturzustand. So bedeutet die Überwindung der Opernkultur eine Überwindung der Moderne selbst mit ihren heillosen Brüchen. Dies war offensichtlich die Aufgabe, die Nietzsche Wagner zugedacht hatte, auch wenn Wagner selbst in seiner Sicht nur ein Moment in einem Prozess und nicht dessen höchstes Ergebnis war. Wagner war derjenige, der die Opernkultur und das mit ihr verknüpfte Idyll vollendet und damit die Möglichkeit für eine Erfüllung der Musik und der Tragödie eröffnet hatte, die von der hellenischen Kultur lediglich intuiert worden war. Allerdings war die Loslösung von Wagner gewissermaßen schon zum Zeitpunkt der größten Übereinstimmung mit ihm vorgezeichnet: Wie das hellenische Musikdrama keineswegs ein absolutes Vorbild darstellte, so war auch Wagners Gesamtkunstwerk alles andere als das letztgültige Resultat im historischen Prozess der Musikentwicklung, wie Nietzsche ihn skizziert. Die vorbereitenden Fragmente zur Geburt der Tragödie rücken diese Einschränkung seiner Bedeutung stärker ins Licht als die Endfassung des Textes, sie machen sie allererst begreiflich. Dies ist fraglos hilfreich für das Verständnis der späteren Entwicklung von Nietzsches Denken. Schon als Nietzsche die Vorbereitungsarbeit zur Geburt der Tragödie begann, wies seine Musikauffassung eine komplexe Stratifizierung auf, wie unser Blick auf Fragment 1 (49) gezeigt hat. Die darin behandelten Themen entwickelte er vertiefend in zweierlei Richtung fort. Zum einen vertiefte er die Analyse der Musik als Sprache und folglich der Differenz zwischen Musik und logischen Begriffen, zum anderen fragte er den Mechanismen genauer nach, die Gefühle in Worte und Ausdrücke umwandeln. Vor allem für diese zweite Fragerichtung war die Rezeption von Hartmanns Denken ausschlaggebend, die folglich, wenigstens teilweise, auch Nietzsches damalige Interpretation der 3 4

Vgl. ebd., Kapitel Nietzsches Renaissance-Bild zwischen Erasmus und Cesare Borgia. Es sei dazu auf Georges Liéberts Beitrag im vorliegenden Band verwiesen.

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Beziehung zwischen Philosophie und Musik beeinflusst hat. Besonders anschaulich wird das Nebeneinander der beiden genannten Richtungen in Fragment 2 (10), das auf Anfang 1870 zurückgeht: „Die Musik ist eine Sprache, die einer unendlichen Verdeutlichung fähig ist. Die Sprache deutet nur durch Begriffe, also durch das Medium des Gedankens entsteht die Mitempfindung. Dies setzt ihr eine Grenze. Dies gilt nur von der objektiven Schriftsprache, die Wortsprache ist tönend: und die Intervalle, die Rhythmen, die Tempi’s, die Stärke und Betonung sind alle symbolisch für den darzustellenden Gefühlsinhalt. Dies ist zugleich alles der Musik zu eigen. Die größte Masse des Gefühls aber äußert sich nicht durch Worte. Und auch das Wort deutet eben nur hin: es ist die Oberfläche der bewegten See, während sie in der Tiefe stürmt. Hier ist die Grenze des Wortdramas. Unfähigkeit, das Nebeneinander darzustellen“ (ebd., 47f.). Wie wir sehen, bezeichnet Nietzsche die Grenzen des Wortdramas vor dem Hintergrund einer Musikphilosophie, die die Musik als Sprache auffasst und ihr Augenmerk auf die Beziehung zwischen Gefühl und Begriff richtet. Das Gefühl bestimmt die Intensität von Sprache und Ausdruck durch den Rhythmus und andere spezifisch musikalische Elemente. Dadurch dass Nietzsche diese Musikauffassung weiterverfolgt, vermag er schließlich die eindeutige Übersetzung der Gefühls- in die Gedankenwelt in Frage zu stellen, die Hartmann die Voraussetzung bildet, damit Gefühle mitgeteilt werden können. Die Gedanken oder bewussten Vorstellungen kommunizieren nur einen Bruchteil des Gefühls; das Ausdrucksvermögen der Sprache und der logischen Begriffswelt erscheint Nietzsche klar begrenzt. Nachdrücklich unterstreicht er, dass auch auf dem Gebiet der begleitenden Vorstellungen ‚ein unauflösbarer Rest‘ des Gefühls unausgesprochen bleibe, und auf diesen unübersetzbaren Rest gründet er die tragende Struktur seiner ästhetischen Konzeption. So stellt er der von Hartmann ermittelten instinktiven Gebärdensprache eine Tonsprache zur Seite und konzentriert seine Aufmerksamkeit zugleich auf die Übertragungsmodalitäten, durch die das Unbewusste sich in den Gebärden äußern kann. Zum einen vertieft er die Analyse des psycho-physischen Substrats jeglichen Kommunikationsmechanismus: Die Gebärden seien durch „Reflexbewegungen“ bestimmt (KSA, DW, 1, 572); die visuelle Kommunikation, die sie bedingten, beruhe auf einer Reihe von Nervenreaktionen, die beim Sehenden ausgelöst würden. Zum anderen erlaubt diese physiologische Interpretation der Gebärdensprache, ihre potenzielle ästhetische Bedeutung herauszuarbeiten. Die Gebärden vermitteln nach Nietzsche Symbole, sie bieten „ein ganz unvollkommnes, stückweises Abbild, ein andeutendes Zeichen“ (ebd.) jenes unübersetzbaren Restes des Gefühls, der in der gesprochenen Sprache und in der Begriffswelt nicht zum Ausdruck gelangt. So steckt Nietzsche durch die Neuinterpretation der Gebärdensprache einen grundlegenden Kommunikationsbereich ab, der ihm zufolge gänzlich instinktiv bleibt und sich der Herrschaft des Bewusstseins und des logischen Denkens entzieht. In dem Moment, da er im Vergleich zu Hartmann die Sphäre der ‚begleitenden Vorstellungen‘ ausweitet, die das psycho-physische Substrat jedes Lust- und Schmerzempfindens und jeder Gefühlsäußerung bilden, ermittelt er die Möglichkeit einer Sprache, in der der Wille sich in seiner Reinheit manifestiert und den Auflösungstendenzen der logischen Erkenntnis entgeht. Während die Gebärden die begleitenden Vorstellungen des Gefühls symboli-

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sierten, sei der Ton „die instinktive Vermittelung“ (ebd., 574) des Willens selbst. Von der Rhythmik über die Dynamik bis zur Harmonie reinige sich der Wille von jeder Verschmelzung mit dem Schein, bis er das eigentliche Wesen des Willens symbolisiere. Die Musik bietet folglich die höchste Möglichkeit, um der Sprache ihre größtmögliche Ausdruckskraft zu verleihen und zugleich das begriffliche Universum in den Bereich des Instinkts zurückzuführen. Dank dieser Interpretation der Ton- und Gebärdensprache gelangt Nietzsche zu seiner ästhetischen Konzeption, die auf der Unterscheidung des Apollinischen (als Prinzip der bildenden Kunst) und des Dionysischen (als Prinzip der Musik) beruht. Eine Sprachphilosophie, welche die Fähigkeit der Sprache, eine logisch begründete Wahrheit auszudrücken, in Frage stellt, ist in dieser ästhetischen Auffassung im Kern bereits angelegt. Denn die Sprache entstehe aus der fortschreitenden Versteinerung der lebendigen Einheit von Bild und Ton, welche die höchsten Äußerungen der Kunst kennzeichne. Die Begriffswelt könne nur dann Gestalt annehmen, wenn „bei dem Festhalten im Gedächtniß der Ton ganz verklingt“ (ebd., 576). Deshalb kann der Begriff das Wesen des Willens nicht ausdrücken, sondern beschränkt sich darauf, „das Symbol der begleitenden Vorstellung“ zu wahren (ebd). Diese ästhetische Konzeption ermöglicht nicht nur die Definition eines Ausdrucksbereichs, in dem der Begriff „ganz unmächtig“ (ebd., 575) ist, sie beinhaltet zugleich eine höchst originelle Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Pessimismus und Optimismus, in Abgrenzung sowohl gegen Hartmann wie gegen Arthur Schopenhauer. Das Problem der Mitteilung des Gefühls impliziert die Erforschung der engen Beziehung zwischen Lust und Unlust, zwischen denen Nietzsche eine ‚nur quantitative Verschiedenheit‘ sieht. Dadurch dass er jedoch eine Sphäre ausmacht, in der der Wille sich erneut instinktiv in seinem Wesen ausdrückt, zeigt er eine Möglichkeit auf, die Tendenz der Zerstörung jeder Illusion durch die logische Erkenntnis, die den Weltprozess unweigerlich dem Pessimismus eines universellen Ekels entgegenführt, umzukehren. Die Tragödie sei aus dem Kampf des hellenischen Willens „gegen das dem künstlerischen correlative Talent, zum Leiden und zur Weisheit des Leidens“ (ebd., 562) entstanden; der tragische Künstler sei dem Heiligen verwandt, denn „beide haben gemein, daß sie bei der hellsten Erkenntniß von der Nichtigkeit des Daseins doch fortleben können, ohne in ihrer Weltanschauung einen Riß zu spüren“ (ebd., 570). Das in der Tragödie zwischen Musik, Bild und Sprache hergestellte Verhältnis sichert dem Willen die Möglichkeit, den nihilistischen Folgen der Erkenntnis zu entgehen und eine höhere Rechtfertigung des Daseins zu behaupten, denn die Verschmelzung der Kunstmittel führt die logische Wahrheit zur ursprünglichen Sprache des Instinkts zurück und verwirklicht ein wunderbares Gleichgewicht zwischen Wahrheit und Schein. In der Geburt der Tragödie finden wir eine konkrete Verwirklichung dieser Ideen im Hinblick auf eine Neubestimmung der Beziehung zwischen Pessimismus und Optimismus vor allem in Nietzsches Charakterisierung der lyrischen Dichtung, die auch für das Verhältnis zwischen Wort und Sprache, für die Entstehung der Dichtung aus der Musik besondere Bedeutung erhielt. Im Zusammenhang mit der Interpretation der lyrischen Dichtung wandte Nietzsche sich jener Überwindung des Subjekts und des Individuums, die bereits in den Fragmenten aus den Jahren 1869–71 angeklungen war, ausdrücklich

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zu. Im Allgemeinen erachtet Nietzsche den ganzen „Gegensatz, nach dem wie nach einem Werthmesser auch noch Schopenhauer die Künste eintheilt, den des Subjectiven und des Objectiven“ (KSA, GT, 1, 47), als unhaltbar. Er betrachtet ihn als der Ästhetik völlig fremd, „da das Subject, das wollende und seine egoistischen Zwecke fördernde Individuum nur als Gegner, nicht als Ursprung der Kunst gedacht werden kann“ (ebd). Das Ich des Lyrikers sei nicht das Ich „des wachen, empirisch-realen Menschen“ (ebd., 45), sondern es entstehe aus der Vision und dem Einswerden mit dem Ureinen. Tatsächlich sieht Nietzsche in der Identität des Lyrikers mit dem Musiker eines der bedeutsamsten Phänomene der griechischen Literatur. Seine Erklärung der lyrischen Dichtung führt somit zu dem Verhältnis zwischen Musik und Sprache zurück, das eines der zentralen Themen seiner Untersuchung in den Fragmenten und in der Dionysischen Weltanschauung gewesen war. So liefert der Lyriker in der Geburt der Tragödie das erste Beispiel für die Vereinigung von Apollinischem und Dionysischem, die in den Visionen des tragischen Chores ihren Höhepunkt erreicht hat. Als dionysischer Künstler sei der Lyriker zuerst „gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch“ (ebd., 43) eins geworden; seine musikalische Stimmung habe dadurch ein „Abbild dieses UrEinen“ (ebd., 44) geschaffen und ihn von jeder an seine konkrete Individualität gebundenen empirischen Kontingenz entfernt. In einem zweiten Moment erzeuge die Musik unter dem apollinischen Einfluss ein Traumbild. Die Sprache des Lyrikers spiegelt dergestalt jene lebendige Spannung zwischen Bild und Ton wider, die jedes authentische künstlerische Phänomen auszeichnet. Der Lyriker tauche in einen dionysischen Selbstentäußerungs- und Einheitszustand ein und erfahre auf diese Weise „die einzige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit“ (ebd., 45). Die Subjektivität, von der Nietzsche spricht, verwandelt sich in ein Symbol des Ureinen: Archilochus, „der leidenschaftlich entbrannte liebende und hassende Mensch“ (ebd.), sei unmittelbar „eine Vision des Genius, der bereits nicht mehr Archilochus, sondern Weltgenius ist und der seinen Urschmerz in jenem Gleichnisse vom Menschen Archilochus symbolisch ausspricht“ (ebd). Dank dieser Auffassung der Lyrik, die wir erst im definitiven Text der Geburt der Tragödie wiederfinden, überwindet Nietzsche demnach entschieden jede subjektiv begründete Ästhetik. Mit der Konzeption der Spiegelung des Willens im Schein, der Musik in der Sprache, wie sie die Lyrik auszeichne, entfernt Nietzsche sich nicht nur von jeglichem starren Subjekt-Objekt-Gegensatz, sondern auch von der Idee der Vernichtung des Willens, wie Schopenhauer sie vertrat. Tatsächlich bildet die Interpretation der Lyrik als literarischer Gattung in der Geburt der Tragödie eine der ersten Gelegenheiten, um den Gedanken der Rechtfertigung des Daseins und der Welt als ästhetisches Phänomen (vgl. ebd., 47) in Grundzügen zu entwickeln. Im Kunstwerk spiegele sich der ‚ewige Genuss‘ des Urkünstlers der Welt wider. Durch die ekstatische Vernichtung in der Vision und im Schein befreit dieser sich von dem Schmerz und Widerspruch, die dem Willen innewohnen. In dieser Vision vermag der im menschlichen Künstler verkörperte Genius der Schöpfungskraft des Urkünstlers teilhaftig zu werden. Die Wirklichkeit und die Menschen kommen in diesem unendlichen Spiel der Brechungen und Spiegelungen lediglich als „Bilder und künstlerische Projectionen“ (ebd.) des wahren Schöpfers vor, der sich ihrer bedient, um den Schmerz in die erneuerte Lust der künstlerischen Schöpfung

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umzukehren. Der Mensch und der Künstler fänden darin, Projektionen des Ureinen zu sein, ihre „höchste Würde“ (ebd.) und könnten den „verhüllten Untergrunde des Leidens und der Erkenntniss“ (ebd., 40) überwinden, auf dem ihr Dasein ruhe. Will man die Implikationen dieser allgemeinen Konzeption der Beziehung zwischen Musik und Philosophie genauer bestimmen, so ist beispielsweise das Fragment 9 (98) aus dem Jahr 1871 aufschlussreich. Nietzsche kritisiert hier eine subjektivistische Musikauffassung, die sich durch einen strengen Formgedanken zu reinigen trachtet. Er bezieht sich namentlich auf die musikwissenschaftliche Position von Eduard Hanslick, der in Felix Mendelssohns Musik eine höhere Klassizität erblickte. In dem Fragment heißt es: „Die Musik ‚die subjektivste‘ Kunst: worin eigentlich nicht Kunst? In dem ‚Subjektiven‘ d.h. sie ist rein pathologisch, soweit sie nicht reine unpathologische Form ist. Als Form ist sie der Arabeske am nächsten verwandt. Dies der Standpunkt Hanslicks. Die Kompositionen, bei denen die ‚unpathologisch wirkende Form‘ überwiegt, besonders Mendelssohn’s, erhalten dadurch einen classischen Werth“ (KSA, NF, 7, 310). Wie das Zitat erkennen lässt, ist Nietzsche auf der Suche nach einer Musikauffassung, die es ermöglicht, pathologische und unpathologische Elemente in ein schwieriges Gleichgewicht zu bringen. Die musikalische Form darf seines Erachtens nicht in einer bloßen Sublimierung leidenschaftlicher und subjektiver Elemente aufgehen, sondern muss aus dem tiefen Grund der Triebe und Impulse entspringen, den jedes Individuum in sich hat. Daraus folgt, dass sie auch nicht als streng klassizistische Abstraktion konzipiert werden kann. Die Idee der Arabeske enthält wiederum einen direkten, wenngleich impliziten Verweis auf die Philosophie des Unbewussten von Hartmann, der belegt, wie sich unterschiedliche Tendenzen in der Entstehungsgeschichte der Geburt der Tragödie überlagern.5 So nimmt im Denken des jungen Nietzsche eine neue Vision von Klassizität Gestalt an, die die Überwindung einer auf Subjektivität fußenden Ästhetikkonzeption und die Suche nach neuen künstlerischen Energien voraussetzt. Den zentralen Kern dieser neuen Vision von Klassizität bildet die Beziehung zwischen Musik und Mythos, Musikdrama und Wortdrama; sie zeugt offenkundig von der herausgehobenen Bedeutung Wagners. Die Überschneidung von Musik und plastischer Deutlichkeit, von Mimik und Sprache, wie sie durch das Verhältnis von Apollinischem und Dionysischem in der griechischen Tragödie verwirklicht war, hat Nietzsche einen „Abgrund künstlerischer Kräfte“ (ebd., 569) offenbart, den selbst Wagner nur habe streifen können, ohne ihn indes in seiner Tiefe zu beherrschen. Wagners Musik könne jedoch eine mögliche Brücke zum besseren Verständnis der Tragödie des Äschylos sein. In dem Fragment 25 (1) (vgl. ebd., 565ff.), das im Winter 1872–73, nach der Veröffentlichung der Geburt der Tragödie, entstand, wird zum Beipsiel die Aufführung von Tristan und Isolde erwähnt, die im Juni desselben Jahres unter Leitung Hans von Bülows in München stattgefunden und der Nietzsche zusammen mit Carl von Gersdorff und Malwida von Meysenbug beigewohnt hatte. Sie war, so Nietzsche, ein denkwürdiges Beispiel für das Verhältnis zwischen Musik und plastischer Komposition, das die Tragödie des Äschylos in ihrer lebendigen Nähe zu dem auf den Chor und dessen Mimik gegründeten tragischen Ur5

Vgl. Aldo Venturelli, Kunst, Wissenschaft und Geschichte bei Nietzsche, 19ff.

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phänomen ausgezeichnet haben musste. Die Aufführung des Tristan hatte den jungen Philologen in seiner bereits in einem Fragment vom Vorjahr geäußerten Überzeugung bekräftigt: „Wir müssen erst wieder den Mimus haben, um zum Drama zu kommen“ (ebd., 277). Diese Überzeugung war jedoch von einer einschränkenden Bewertung des Wagnerschen Gesamtkunstwerks begleitet, von der im definitiven Text der Geburt der Tragödie keine Spur mehr zu finden ist. Tatsächlich hat Wagner nach Nietzsches Ansicht nur „die Urtendenz der Oper, die idyllische, bis zu ihren Consequenzen geführt“ (ebd., 329), seine Musik sei nur eine Imitation der Urmusik, aber unfähig, das Drama hervorzubringen. Das heißt, Wagner zeigt eine Veränderungsmöglichkeit auf, eröffnet die Perspektive einer Überwindung der Opernkultur auf der Suche nach der authentischen Bedeutung der Tragödie, gelangt jedoch nicht zur tatsächlichen Wiederherstellung der Tragödie in ihrer ursprünglichen Reinheit. Namentlich der Tristan habe diese Überwindung des „Urübels der Oper“ (ebd., 323) in Aussicht gestellt, obwohl Wagner ihn noch „als radikaler Idylliker“ (ebd., 324) komponiert habe. Hier habe der Musiker die größte Anstrengung unternommen, sich dem Ursprung der Tragödie zu nähern: „Das Drama, das das Wort braucht: das Orchester als Nachahmung der menschlichen Stimme“ (ebd., 276). Der Tristan kann somit idealerweise als neuer Dithyrambus aufgefasst werden, in dem „die allergrößte Symphonie“ geschaffen werde, „deren Hauptinstrumente einen Gesang singen, der durch eine Handlung versinnlicht werden kann“ (ebd., 324). Nietzsche zögert nicht, sich vorzustellen, dass auf den Sänger, der seines Erachtens „ein Unding“ (ebd., 276) ist, verzichtet werden oder er direkt ins Orchester eingebunden werden könnte, um so eine Situation zu schaffen, die der des tragischen Chores ähnelt. Die titanische Kraft, mit der Wagner versucht habe, die ‚Operntendenz zu verrücken‘ (vgl. ebd.), ermutigt Nietzsche dazu, sich folgenden weiteren Schritt in Richtung auf eine mögliche Wiederherstellung des tragischen Urphänomens vorzustellen: „Eine solche Auffassung wie die meine, ist fast aus Wagner’s Tristan zu entnehmen. Wir müssen erst wieder den Mimus haben, um zum Drama zu kommen. Der Sänger ist nicht zu entbehren, weil er den seelenvollsten Ton hat. Das Orchester reicht nicht aus. Wir brauchen also den Chor: den Chor, der eine Vision hat und begeistert beschreibt was er schaut!“ (ebd., 277). In den letzten Kapiteln der Geburt der Tragödie beschäftigt Nietzsche sich wesentlich mit den Empfindungen, die der Tristan bei dem ästhetischen Zuschauer hervorrufe. Außerdem sei der Tristan das anschaulichste Beispiel für das Verhältnis zwischen Musik und Mythos, aus dem die Tragödie entstanden sei. Im Griechenland des 5. Jahrhunderts v. Chr. sei es allein der Musik gelungen, „den Mythus mit neuer tiefsinnigster Bedeutsamkeit“ (KSA, GT, 1, 74) auszustatten und ihn vor einer drohenden Krise zu retten. Die zwischenzeitlich verblassten Mythen der homerischen Welt seien so neu belebt worden, denn die Tragödie habe sie als Symbolik der dionysischen Wahrheit übernommen und „zum Vehikel dionysischer Weisheit“ (ebd., 73) umgewandelt. Der Mythos entging dadurch der Gefahr, „allmählich in die Enge einer angeblich historischen Wirklichkeit hineinzukriechen und von irgend einer späteren Zeit als einmaliges Factum mit historischen Ansprüchen behandelt zu werden“ (ebd., 74). Nietzsche zufolge steht er ganz und gar außerhalb der historischen Dimension, er kann keineswegs als „eine historisch-pragmatische Jugendgeschichte“ (ebd.) aufgefasst werden; sonst würde

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er unweigerlich der Sphäre der nihilistischen Tendenz der Weltgeschichte zugehören. Die systematische Sammlung und dogmatische Überprüfung der vermeintlichen historischen Fundiertheit des Mythos, die mühsame Verteidigung seiner Glaubwürdigkeit, beraubten ihn jeder Möglichkeit des ‚natürlichen Weiterlebens und Weiterwucherns‘. Nur in seinem Verhältnis zur Musik könne er diesem Schicksal entgehen. Wie Nietzsche sich bemüht hatte, einen Bereich abzustecken, in dem der Wille nicht ganz in der Vorstellung aufgeht, so unternimmt er jetzt im Hinblick auf den Mythos eine ähnliche Anstrengung. Indem er bei der Übertragung der Gefühle in Gedanken von einem unauflösbaren Rest des Gefühls ausging, hatte er die einzige Möglichkeit ermittelt, um das Verhältnis zwischen Instinkt und logischer Erkenntnis auf neue Weise zu bestimmen. Um den Mythos vor seinem unvermeidlichen Niedergang im historischen Bewusstsein zu retten, muss er ihn notwendigerweise im Rahmen jener symbolischen Steigerung ansiedeln, die durch das Spiel unendlicher Brechungen zwischen Apollinischem und Dionysischem, Bildern und Musik zustande kommt. Nachdem Nietzsche den Mythos zunächst von jeder übereilten Hoffnung auf ein eingebildetes deutsches Wesen gelöst (vgl. ebd., 20) und seine Reinheit zurückgegeben hat, konzipiert er ihn als die größtmögliche Steigerung der Ausdrucks- und Symbolkraft der Sprache in ihrem Verhältnis zur Musik. Seines Erachtens hat die musikalische Tragödie in ihrem Verhältnis zum Wort diese Charakteristik: „Nimmt nun zwar auch die musikalische Tragödie das Wort hinzu, so kann sie doch zugleich den Untergrund und die Geburtsstätte des Wortes danebenstellen und uns das Werden des Wortes, von innen heraus, verdeutlichen“ (ebd., 138). Das Erfassen des unausschöpflichen Bedeutungsreichtums der Sprache führt gleichzeitig zu einer unmittelbaren, durchaus nicht abstrakten Wahrnehmung des dichten Beziehungsgeflechts, das die plastische Bewegung der dargestellten Personen und den Zauber der Orchestertöne auf der Bühne zu einer einzigen suggestiven Totalität verschmilzt. Die musikalische Tragödie überwinde den „populären und gänzlich falschen Gegensatz von Seele und Körper“ (ebd., 139), der Nietzsche zufolge das Verhältnis zwischen Musik und Drama nicht angemessen darstellt. Dadurch realisiere sie eine perfekte Verschmelzung der lebendigen Innerlichkeit des Tones, worin der ‚ungedämmte Erguß des unbewussten Willens‘ (vgl. ebd., 137) sich verströme, mit der Äußerlichkeit der plastischen und sprachlichen Darstellung, die durch ein Gleichnisbild die Anschauung der Weltidee ermögliche. Die Musik rufe „die ganze Welt der Erscheinung in’s Dasein“; der Mythos erzeuge einen neuen Verklärungsschein, „um die belebte Welt der Individuation im Leben festzuhalten“ (ebd, 155). In dieser wechselseitigen Durchdringung von Mythos und Musik drückt sich am deutlichsten eine ästhetische Auffassung aus, die die Kunst nicht als einfache „Nachahmung der Naturwirklichkeit“, sondern als ihr „metaphysisches Supplement“ (ebd., 151) begreift. Die musikalische Dissonanz, deren mitreißende Wirkung uns in ihren Bann zieht und uns gleichzeitig dazu bewegt, ‚uns über das Hören hinauszusehnen‘, kann dieses Urphänomen der dionysischen Kunst zugänglich machen. Es offenbart uns „das spielende Aufbauen und Zertrümmern der Individualwelt als den Ausfluss einer Urlust“, ähnlich wie wenn Heraklit die „weltbildende Kraft“ der höheren Unschuld eines Kindes vergleicht, das „spielend Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft“ (ebd., 153).

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Durch den Nachvollzug der Verkettung von Lektüren, Fragmenten und Endfassungen konnten wir die Beziehung zwischen Musik und Philosophie, wie sie im Denken des jungen Nietzsche hergestellt wird, fokussieren und wie in einer Röntgenaufnahme durchleuchten. Aus einer solchen Röntgenaufnahme treten einige Errungenschaften und Tendenzen hervor, die Nietzsches Reflexion noch über die Geburt der Tragödie hinaus kennzeichnen werden: die Auffassung der Musik als Sprache und die Betonung des Symbolcharakters von Sprache und Musik; die Kenntlichmachung der inneren Grenzen des hellenischen Musikdramas trotz seines Charakters eines unnachahmlichen ästhetischen Modells; die großen Züge eines Entwicklungsprozesses der absoluten Musik, in dessen Rahmen die Renaissance und die Entstehung der Opernkultur eine grundlegende Rolle als Verbindungsglieder zwischen Griechentum und Moderne spielen; die Berufung auf Wagner, die jedoch von Anfang an ein Streben enthält, das über Wagners Gesamtkunst hinausweist; das Verhältnis zur Moderne, das auf die spätere Herausbildung einer utopischen Konzeption der Mediterranisierung der Musik vorausgreift.6 Aus der Gesamtheit dieser Tendenzen lässt sich folgendes allgemeine Fazit ziehen: Der Prozess, der sich in Nietzsche vollzieht, ist keine bloße Musikalisierung des Denkens, sondern beinhaltet ein weitaus komplexeres Verhältnis zwischen Musikästhetik und ontologischer Reflexion, das auf einer einzigartigen Spannung zwischen Kommunikation und Existenz beruht.

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Vgl. dazu Aldo Venturelli, „Die Vergeistigung der Macht und der Traum einer mediterranen Musik. Italienische Anklänge in Nietzsches Auffassung der Musik“, in: Macht Musik, hg. von Gerhard Kilger, Köln 2005; „L’utopia di una musica sovraeuropea. Aspetti della Verdi-Rezeption in Friedrich Nietzsche“, in: Verdi und die deutsche Kultur. Die deutsche Kultur und Verdi, hg. von Markus Engelhardt, Pierluigi Petrobelli und Aldo Venturelli, Parma 2003.

GEORGES LIEBERT

Nietzsche – musique ou verbe Ton oder Wort

Laissez-moi d’abord vous dire combien je me sens honoré de participer à cette rencontre en ce lieu, et combien donc je regrette de ne pouvoir m’adresser à vous dans votre langue. – En fait, grâce à Richard Wagner et à quelques autres compositeurs allemands, je la chante sans la parler. Sans doute Friedrich Nietzsche ne m’en aurait-il pas voulu, puisque, toujours excessif, dans l’éloge comme dans le blâme, il estimait qu’à l’instar des Grecs, les Français, possédant „à un haut degré le sens du style“, n’avaient pas besoin „d’apprendre une seconde langue et pouvaient se contenter de savoir la leur“ (KSB, 4, 128). Il est fort probable que Nietzsche ne trouverait plus aujourd’hui chez les Français, non moins en décadence que les autres peuples, ce „sens inné du style à un haut degré“. Mais comme il disait aussi ne pouvoir écrire en allemand qu’en imaginant avoir des Français pour lecteurs, il serait certainement comblé par le rayonnement dont son œuvre jouit en France. En moins d’un siècle, trois traductions complètes de ses livres ont paru (reprises, pour les titres principaux, dans des collections de poche), et une quatrième est en cours – à quoi il faut ajouter plusieurs traductions partielles et celle de tous les fragments posthumes (Nachlass …). Moi-même, j’ai eu le plaisir de publier, en 1993, une édition révisée de la première traduction complète dans une collection de grande diffusion. Enfin, l’édition Giorgio Colli/Mazzino Montinari des œuvres anthumes a fait récemment son entrée dans la prestigieuse Bibliothèque de la Pléiade, qui accueille les classiques français et étrangers. Comme William Shakespeare chez vous, Nietzsche a été assimilé à la culture française et, pour ainsi dire, naturalisé français. C’est par l’intermédiaire de la musique qu’il a pénétré en France, avec la traduction de la quatrième Considération inactuelle en 1877 et surtout, en 1893, avec celle du Cas Wagner, de tous ses livres celui qu’il souhaitait le plus voir paraître en français. Et son influence se fit rapidement sentir à Paris, à mesure que le wagnérisme déclinait, ce qui n’eût pas manqué de le réjouir. On savait que Nietzsche avait composé : mais, comme chez vous, ses œuvres musicales, d’un accès malaisé, étaient ignorées. Il fallut attendre 1976, vous le savez, pour qu’elles soient réunies et éditées, par Carl Paul Janz. Auparavant, un certain nombre de ses lieder avaient néanmoins été donnés dans des concerts, en Allemagne et en France. Depuis, plusieurs enregistrements en disques compacts ont été réalisés, surtout aux Etats-Unis et au Canada, qui offrent presque la totalité de sa production. Sans jamais

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être des chefs-d’œuvre, ces compositions méritent d’être connues. D’abord parce qu’elles permettent de mieux déchiffrer la personnalité de Nietzsche – „cette petite appartenance à la musique ‚facilitera‘ un jour la compréhension du problème psychologique que je suis“ disait-il à Peter Gast en octobre 1887.1 Ensuite, parce qu’elles suggèrent des rapprochements éclairants entre le musicien, l’écrivain et le philosophe. En effet, le musicien a précédé l’écrivain et le philosophe; les sons ont précédé les mots, puisqu’à quelques exceptions près ses œuvres musicales ont été écrites entre 1861 et 1867, c’est à dire entre sa 17e et sa 23e années. Et, même si l’Hymne à la vie fut la seule à être publiée de son vivant, Nietzsche n’a jamais renoncé à se faire reconnaître comme compositeur, en dépit des rebuffades ou des silences gênés qu’il essuya de la part de musiciens tels que Hans von Bülow, Johannes Brahms et Wagner lui-même, qui lui conseilla de se cantonner dans la philologie en se laissant „diriger par la musique“.2 Elle le dirigeait depuis son enfance. Issu d’une famille de pasteurs où elle faisait traditionnellement bon ménage avec la théologie, Nietzsche baigna très tôt dans le monde des sons qu’il ne tarda pas à considérer comme „son monde le plus authentique“. Son père „avait beaucoup d’adresse au piano, les variations libres lui réussissaient particulièrement“ se souvenait-il en 1858.3 Guidé par sa mère puis par un professeur semble-til médiocre, ses progrès au piano furent si rapides, qu’après deux ans d’enseignement suivi, il était capable d’interpréter plusieurs sonates de Ludwig van Beethoven et des transcriptions des symphonies de Joesph Haydn: ces deux compositeurs formant avec Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Schubert, Felix Mendelssohn et Johann Sebastian Bach „les seuls piliers de la musique allemande, les seuls fondements“ qu’il reconnaissait alors. Mais le jeune Nietzsche ne se contente pas d’interpréter, il compose. S’aidant du Manuel d’Albrechtsberger, le pédagogue viennois qui avait formé Beethoven et Johann Nepomuk Hummel, il se livre à d’austères exercices de contrepoint. La musique prolongeant chez lui l’expérience religieuse, il ébauche plusieurs chorals et messes ; et, en 1860, achève un Miserere où il se souvient non sans habileté de Giovanni Pierluigi da Palestrina. La musique donnait au jeune Nietzsche, comme il le notait alors, „le pressentiment du divin“: prélude à la mission rédemptrice qu’il lui assignera dans La Naissance de la Tragédie où le Dieu de la Bible a fait place à Dionysos. Mais du dieu de la transe et de la possession, Nietzsche, avant de le connaître et de le glorifier, a eu également, assez tôt, le pressentiment. C’est généralement très vite, dans la hâte, avec, dit-il, „une espèce de frénésie“, qu’il composait, sous l’emprise de cette puissance que Johann Wolfgang Goethe appelle „le démonique“. „Le démon de la musique s’est emparé de moi“, confie-t-il plusieurs fois dans sa correspondance. „Pour peu que l’on conserve un grain de superstition, on ne saurait qu’à grand peine repousser la conviction de n’être qu’une incarnation, un porte-voix, le medium de forces supérieures“ écrira-t-il dans Ecce Homo, au début d’une superbe évocation du phénomène de 1

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Friedrich Nietzsche, Lettres à Peter Gast, trad. de Louise Servicen, Editions du Rocher, 1957, t. II, 277. Lettre de Richard Wagner, du 4 février 1870. Friedrich Nietzsche, Ecrits autobiographiques, 1856–1869, trad. française, Paris, 1994, 17.

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l’inspiration, à propos, justement, d’Ainsi parlait Zarathoustra, ce nouvel Évangile né de l’esprit de la musique: „[…] On entend, on ne cherche pas : on prend sas demander qui donne : une pensée vous illumine comme un éclair, avec une force contraignante, sans hésitation dans la forme – Je n’ai jamais eu à choisir.“ Cette expérience de l’inspiration comme force contraignante, originaire et inconditionnée, c’est en musique que Nietzsche l’a d’abord faite. De là le goût très prononcé qu’il manifestait depuis l’enfance pour les improvisations. Et ces libres jaillissements sonores impressionnaient ceux qui en étaient les témoins. On en perçoit un écho dans ses compositions les plus personnelles (et les moins réussies): par exemple dans la Manfred Meditation, qui date de 1871–1872, „cette effusion volcanique de son âme musicienne“, comme l’écrira bien des années plus tard Louis Ketelborn, qui l’avait exécutée plusieurs fois avec Nietzsche, du temps où il était son élève à Bâle. Aussi vif et flatteur qu’ait été l’effet produit par ses improvisations, Nietzsche avait néanmoins le sentiment d’„obtenir à bon marché l’admiration“ de ses auditeurs. En 1877, „classant les choses selon le degré de plaisir qu’elles [lui] donnent“, il placera, dans ses carnets, „tout en haut: l’improvisation musicale à un moment heureux“.4 Mais dans Humain, trop humain, alors en cours de rédaction, la qualité esthétique de ce plaisir ne l’abuse pas: „[…] c’est un bas niveau, dit-il, que celui de l’improvisation au regard de l’idée choisie avec peine et sérieux.“ Et d’expliquer, longuement, qu’un „bon artiste“ est avant tout „un grand travailleur“ doté d’une „solide conscience artisanale“ qui doit donner à son œuvre une apparence d’improvisation tout en lui imprimant un caractère d’irrésistible nécessité.5 Or, si dans la plupart des œuvres pour piano de Nietzsche l’improvisation se fait sentir, les plus originales souffrent aussi d’insuffisances flagrantes: Son imagination excédant ses capacités de composition, Nietzsche éprouvait les plus grandes difficultés à mettre en forme ses idées, à les développer et à les fondre en un tout unifié. Dionysos „s’emparait“ de lui, le „contraignait“ à s’exprimer en sons; mais, pour transformer ses improvisations en œuvres accomplies, trop souvent il manquait à Nietzsche ce qu’il appellera „la liberté vis-à-vis des émotions les plus sauvages, le calme tout de sagesse d’Apollon le dieu-sculpteur“.6 Nietzsche, dira-t-on, manquait surtout d’une formation musicale appropriée: Jamais, en effet, il n’étudia la composition à fond. L’explication cependant n’est pas suffisante car rien, après tout, ne l’empêchait de le faire. Si les qualité apolliniennes n’apparaissent guère dans ses œuvres musicales les plus personnelles, c’est qu’au fond Nietzsche, ou du moins une part de lui-même, ne les tenait pas pour indispensables, comme on le découvre en lisant attentivement La Naissance de la tragédie. Sans l’intervention d’Apollon nous dit Nietzsche, en évoquant Tristan et Isolde, nous serions anéantis par la musique, brisés par son déferlement dionysiaque. Pour être supportable elle exige le mythe, le mot et l’image. La tragédie, qui naît de leur union, est „le remède naturel du dionysisme“.7 4 5 6 7

Fragments posthumes 1876–1878, dans Humain, trop humain I, O .C. (Colli-Montinari), 447. Humain, trop humain I, Aph. 155, „Croyance à l’inspiration“. La Naissance de la tragédie, § 1. Fragment posthume (3 [32]) de l’hiver 1869–1870, La Naissance de la tragédie, O. C., 206.

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Jamais au cours du livre, Nietzsche ne se résout à dire clairement qu’avant même la médiation du mot et de l’image, le Dieu sculpteur est intervenu au sein même de la musique pour lui donner forme; que, par conséquent, dès qu’une combinaison de sons mérite le nom de musique, elle est à la fois dionysiaque et apollinienne. Bien sûr, Nietzsche ne pouvait mettre explicitement en doute la nécessité de l’alliance entre la musique et le théâtre sans que son livre, entrepris pour célébrer le drame wagnérien, perdît toute raison d’être. Le doute, comme on sait, se manifeste dans les „fragments posthumes“ de cette période ; et il éclatera plus tard dans les pages polémiques contre Wagner et sa „théâtromanie“. Mais ce n’est pas seulement pour cette raison que Nietzsche, dans La Naissance de la tragédie, paraît réduire la musique au seul dionysiaque qu’il caractérise implicitement par l’absence de forme et de convention. Un exemple frappant, qui ne doit rien au théâtre, le montre bien. D’un côté, Nietzsche se moque de „l’arithmétique de la fugue et de la dialectique du contrepoint“, incapables, selon lui, de faire parler le démon du dionysiaque. De l’autre, il salue dans Bach le premier compositeur à avoir réveillé ce démon, et ouvert ainsi la voie vers Beethoven et Wagner, comme si Bach ne s’était exprimé qu’en dépit des formes musicales. On pourrait dire : comme s’il avait composé à la manière de Nietzsche, quand celui-ci s’abandonnait au démon du dionysiaque. Car si seule les formes les plus élaborées et les plus artistiques de la musique pouvaient satisfaire Nietzsche l’auditeur, Nietzsche le compositeur, lui, vivait la musique comme le plus spontané, le plus instinctif de tous les arts, „La musique où domine la force de l’instinct“ notait-il dans ses carnets en 1869–1870.8 Comme les qualités apolliniennes sont manifestes dans ses écrits, il apparaît que chez lui, les sons, émanation directe de l’affectivité ou de l’„inconscient“, n’atteignaient que rarement, et au prix d’une sensible perte d’énergie, le niveau d’organisation où se déploie le langage. Lorsque Dionysos s’emparait de lui et l’entraînait parfois „avec une barbare frénésie“, disait-il, „dans le périlleux domaine du lunatique“9, Nietzsche éprouvait intimement ce Chaos où il verra la vérité du monde, „de toute éternité“, et dont il ne cessera de combattre l’attraction avant d’y sombrer. En janvier 1889, à Turin, jour et nuit, son piano retentira sous les improvisations d’un Nietzsche au bord de la démence. „La musique est la pure irraison, disait Goethe, et la parole n’a affaire qu’à la raison.“ Une formule que Nietzsche paraît illustrer lorsqu’en 1862, à propos d’Ermanarich, une œuvre censée combiner poésie et musique, il remarquait avec clairvoyance dans ses carnets: „Pour la poésie, j’étais encore trop bouleversé, je n’avais pas la distance nécessaire pour produire un drame objectif ; c’est dans la musique que j’ai tout à fait réussi à exprimer l’état d’âme qui incarnait en moi pleinement la légende d’Ermanarich.“10

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La Naissance de la tragédie, O. C., 190. Dans un projet de lettre à Hans von Bülow d’octobre 1872 (Friedrich Nietzsche, Correspondance, t. II, Paris 1986, 360–362. „cette excitation musicale […] relève à demi de la psychiatrie, ajoute-il. De ma musique, je sais seulement qu’elle me permet de maîtriser une disposition affective qui, insatisfaite, produirait peut-être plus de dommages“). Friedrich Nietzsche, Ecrits autobiographiques, op. cit., 113.

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„Bon artiste“, Nietzsche musicien le sera donc rarement. Comme Jean Jacques Rousseau, il restera un dilettante doué, ce qu’à tort il reprochera à Wagner, qui le lui avait fait gentiment sentir. Et c’est comme écrivain qu’il se montrera un bon et même un grand artiste, qu’il saura „contraindre le chaos à devenir forme“, transposant avec une maîtrise croissante son talent d’improvisateur dans l’art des mots. Ses œuvres musicales comportent pourtant quelques réussites: lieder ou pièces pour piano. Par exemple: deux danses polonaises composées en 1862, qui trahissent l’admiration que Nietzsche porta toute sa vie à Chopin et aux Polonais, „ces Français du monde slave“, auxquels il s’identifiera par anti-germanisme, au point de se dire „noble Polonais pur sang“: descendant, comme le prétendait une légende familiale, de gentilshommes qui se nommaient Nietzky. Ces pièces, et les lieder composés entre 1861 et 1865, ont en commun d’être de facture traditionnelle. N’admirant au départ, on l’a vu, que les „classiques“, le jeune Nietzsche, en accord avec l’opinion dominante en Allemagne, avait commencé par afficher une „haine inextinguible“ (je le cite) pour „la musique moderne, la prétendue ‚musique de l’avenir‘“ de Franz Liszt, Hector Berlioz (et Wagner), à laquelle son ami Gustav Krug voulait le convertir. Cependant l’apostolat, surtout wagnérien, de celui-ci finit par entamer ses résistances. Et Nietzsche, délaissant les formes apprises, s’abandonna à l’inspiration en poussant tout de suite aux extrêmes ce langage nouveau, comme fera plus tard le philosophe avec les idées qui s’empareront de lui. De là deux pièces pour piano, Schmerz ist der Grundton der Natur et Ermanarich, pleines d’altérations et de chromatisme, et qui souffrent, comme plus tard la Manfred Meditation, de la même grave faiblesse de construction: Nietzsche échouait à ordonner son matériau sonore, non plus selon les règles du „style classique“, mais en fonction du sujet traité, de son contenu poétique et dramatique, comme chez les maîtres de la „musique de l’avenir“. Sorti du moule classique ou des formes du premier romantisme, Nietzsche composait au-dessus de ses moyens. Aussi, après ces incursions maladroites dans la modernité musicale, Nietzsche revintil à un langage et à des formes traditionnels, feuilles d’album, polonaises, lieder; de même qu’une vingtaine d’années plus tard, à l’issue de sa période de wagnérienne, il reviendra au style du choral, un peu à la manière de Johannes Brahms, pour adapter l’Hymne à la vie de Lou Salomé à l’une de ses compositions antérieures. Compositeur, Nietzsche annonçait donc le rebelle nostalgique de la tradition qu’il sera aussi en philosophie. Après avoir, dans la deuxième Inactuelle, dénoncé la „maladie historique“ par ce qu’il était tenté de vivre dans le souvenir et de sacraliser le passé, c’est le même Nietzsche, toujours extrême, qui affirmera dans Le Crépuscule des Idoles: „La beauté ne doit rien au hasard […] Tout ce qui est bon est hérité. Tout ce qui n’est pas hérité est imparfait, n’est qu’un commencement.“ L’autre caractéristique frappante des œuvres musicales de Nietzsche les plus réussies, c’est la brièveté, la concision. Dans les petites formes, l’imagination s’accorde aux moyens de l’improvisateur. De nouveau, le musicien annonce l’écrivain: le maître de l’aphorisme et du fragment qui, à partir d’Humain, trop humain, seront la marque distinctive de son œuvre philosophique; le philosophe ne parvenant pas mieux que le musicien à dominer la grande forme.

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Cette „grande forme“, Nietzsche commença par l’admirer chez Wagner. Alors que Beethoven la „laissait deviner“, à travers le contraste organique des mouvements de ses symphonies, notait-il en préparant la IVe Inactuelle, Wagner seul sut ensuite la réaliser grâce à une capacité de composition hors de pair.11 D’où ces „grandes scènes de longue haleine“, ces actes et même ces drames entiers agencés avec un „sens du rythme dans le monumental“. „Sa plus grande force, soulignait-il, est de sentir l’unité dans la diversité […] Il ordonne tout à grande échelle; on portera toujours sur lui un jugement faux, si on le juge sur un détail, aussi bien dans la musique que dans le drame.“12 Sept ans plus tard, à partir du Gai Savoir, Nietzsche amorce un revirement complet qui culminera dans Le Cas Wagner. Comme Wagner ne sait pas „créer un tout d’une seule pièce“, la grande forme, chez lui, n’est (je cite) qu’„un produit de synthèse“, un „mensonge“. „Qu’il est misérable, emprunté, ‚amateur‘ quand il développe, quand il tente d’encastrer les uns dans les autres [des] éléments qui ne sont pas d’une même coulée […] Wagner n’est admirable, n’est aimable que dans l’infime trouvaille, dans l’invention du détail – l’on est parfaitement justifié de le proclamer en cela un maître de tout premier ordre, notre plus grand miniaturiste de la musique […].“13 „Partout où le texte indique Wagner, on peut sans hésiter mettre mon nom“ écrira Nietzsche de la IVe Inactuelle dans Ecce homo. Mais le conseil vaut tout autant sinon plus pour Le Cas Wagner (que je viens de citer) où la projection est encore plus manifeste et éclairante. C’est en effet le compositeur Nietzsche qui „n’est aimable“ (sans être admirable), que dans les „infimes trouvailles“ et les inventions ponctuelles, maladroitement liées, de ses tentatives les plus ambitieuses, ou comme miniaturiste, dans ses pièces pour piano et ses lieder de facture traditionnelle. Mais l’écrivain ne transparaît pas moins dans cette projection. Reprochant à Wagner d’„encastrer les uns dans les autres des éléments qui ne sont pas de la même coulée“, Nietzsche retrouve presque exactement les termes employés par son ami Erwin Rohde à propos de la Naissance de la tragédie (dont la finition lui avait pourtant coûté beaucoup d’efforts). „Certains morceaux“, lui écrivait Rohde, donnent l’impression d’avoir „d’abord été achevés pour eux-mêmes, et ensuite incorporés à l’ensemble sans être refondus dans le flot du métal“.14 Surtout, lorsque (toujours dans Le Cas Wagner) Nietzsche, contre toute évidence, accuse le compositeur d’avoir „travesti“ en style dramatique „son incapacité à concevoir un tout organique“, conformément à „l’audacieuse habitude“ qu’il avait „d’énoncer un grand principe là où lui manquait une faculté“, eh bien, c’est lui-même qu’en réalité il décrit. Que fait-il, en effet, lorsqu’il affirme que „les livres les plus profonds et les inépuisables ont toujours quelque chose d’aphoristique et de soudain“, sinon énoncer un principe là où lui manque une faculté: celle de développer et d’unifier, dont avant ses livres, sa musique avait montré la faiblesse, et que la détérioration de sa santé devait encore amoindrir. 11 12 13 14

Fragments de l’été 1875, Considérations inactuelles III et IV, Friedrich Nietzsche, O. C., 424f. Fragments de janvier–février 1874, Considérations inactuelles III et IV, op. cit., 204f. Le Cas Wagner, Aph. 10 et 8. Lettre du 24 mars 1872, citée dans Friedrich Nietzsche, Correspondance, t. II, op. cit., 677.

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En travestissant cette incapacité en parti-pris littéraire, Nietzsche tentait de répondre aux reproches qu’on lui faisait, et qu’il se faisait, de n’être qu’un improvisateur, capable seulement de courts efforts, en dépit de l’ambition qui l’animait d’écrire un livre classique, un monument et non des recueils d’aphorismes et d’essais. Attaquer Wagner sur ce que lui-même, Nietzsche, abusé, dira-t-il, par son génie de comédien, avait loué comme „sa plus grande force“, c’était dévoiler qu’il n’y avait pas de „tout unifié“, de grande forme, sans au moins une bonne part d’illusion ou d’imposture. La miniature était la vérité de l’art de Wagner puisqu’elle était celle de l’art de Nietzsche, lequel, apparaissait, du coup, comme son double véridique. On devine là l’homme du ressentiment que Nietzsche n’aurait pas dénoncé avec autant de vigueur et d’acuité, si, comme il l’a confié dans Ecce homo, il ne l’avait d’abord été lui-même. Mais le ressentiment n’était pas seul à l’œuvre dans son revirement. Comédien toujours à la recherche de l’effet, affirme le Nietzsche des années 1880, Wagner simule la grande forme: elle est chez lui le produit de la réflexion et du calcul: du métier substitué à l’instinct. Du temps où il voyait en lui le „nouveau dramaturge dithyrambique“, c’est à Euripide, celui qui avait précipité „l’agonie de la tragédie“ que Nietzsche adressait de tels reproches – alors qu’Eschyle (auquel il comparait implicitement Wagner) devait lui, au contraire, „à la création inconsciente le meilleur de son œuvre“. Sept ans plus tard, dans Humain, trop humain, impatient d’exorciser la fascination du génie qu’il venait de subir, Nietzsche s’opposait presque diamétralement à cette vision romantico-schopenhauerienne du créateur. Sans dénier tout rôle à l’inspiration, il mettait maintenant l’accent sur le travail, la patience, la ruse. Un „bon artiste“, on l’a vu, devait être un „grand travailleur“ doté de cette „solide conscience artisanale“ qui faisait tant défaut au Nietzsche improvisateur. Mais à l’insistance et au ton polémique avec lesquels il s’exprimait alors, on sent bien que Nietzsche voulait d’abord se convaincre lui-même de ce que tout artiste lucide tient pour une évidence. Si cela n’allait pas de soi pour lui, c’est que, derrière son apollonisme voulu, il demeurait beaucoup plus dépendant de l’inspiration que ne le laisse croire sa peinture du processus créateur comme un bricolage persévérant. Il n’est donc pas surprenant qu’à l’issue de sa période dite „positiviste“, repris par la musique qu’il avait quelque temps abandonnée, Nietzsche ait fait retour à sa conception première. „Tout ce qui est bon est instinctif […] Ce qui est laborieux est suspect“ écrira-t-il dans Le Crépuscule des idoles. Et dans l’Antéchrist, il désignera „l’automatisme parfait de l’instinct“, qu’il admirait dans Siegfried, „comme la condition de toute maîtrise, de toute perfection dans l’art de vivre“, au point de nier „que l’on puisse faire quoi que ce soit de parfait tant qu’on le fait consciemment.“ Or, dans le fragment et l’aphorisme, l’écrivain retrouvait cet état de création innocente, sous la contrainte, que connaissait le musicien, lorsque le démon du dionysiaque s’emparait de lui et qu’il s’en libérait dans des improvisations où Apollon semblait n’avoir aucune part. Comme les idées s’emparaient de lui avec une force aussi impérieuse que la musique et qu’il maîtrisait mieux l’art des mots que celui des sons, le fragment et l’aphorisme lui permettaient d’éprouver une coïncidence presque idéale entre l’intuition et la forme et

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de communiquer ses pensées dans leur vibration immédiate. L’artisan, le comédien restait en coulisse et n’intervenait qu’une fois l’essentiel de l’action achevé, pour un travail de finition qui, aussi délicat qu’il fût parfois, ne trahissait pas la vérité du premier jet. On comprend donc mieux pourquoi, faute d’un souffle long, Nietzsche (je le cite) ne voyait de „probité possible“ que „dans tout ce qui est petit“.15 „Probe“, l’aphorisme a aussi une autre vertu, qui le rapproche encore de la musique : Conforme à l’instinct qui le dicte, généralement il affirme sans démontrer. „Un instinct qui se donne des justifications rationnelles est affaibli“ dit Nietzsche dans Le Cas Wagner; et dans Le Crépuscule des idoles: „Ce qui a besoin d’être prouvé ne vaut pas grand chose.“ Et c’est pourquoi, dans Le Gai Savoir, Nietzsche dit avoir „soif d’un maître dans l’art des sons, qui sache apprendre ses pensées et les exprimer dans sa propre langue, afin de mieux pénétrer dans l’oreille et le cœur des hommes.“ Car „les sons permettent de les induire en toute erreur et en toute vérité: qui songerait à réfuter un son?“16 Brièveté et concision caractérisent aussi les lieder de Nietzsche (seize achevés, qui dépassent rarement deux minutes). On y décèle souvent l’influence de Schumann, que Nietzsche commença par beaucoup admirer, avant de dénoncer (je cite) son „goût mesquin“, son „penchant dangereux au lyrisme intime et à l’ivrognerie du sentiment“17, penchant que lui-même avait cultivé en le prenant pour modèle … De toutes ses compositions, ce sont les plus réussies. Réussite relative cependant, et qui ne doit pas surprendre: moyen privilégié d’exprimer l’intériorité, le lied, depuis Schubert, était devenu chez vous une sorte de sport national. Dictée par les poèmes, la forme ici l’embarrassait moins; et l’on relève en outre une invention mélodique qui lui faisait généralement défaut. Autre trait frappant: alors que dans ses compositions précédentes comportant des parties vocales, les paroles manquaient presque toujours, ici verbe et musique se trouvent réunis. Mais, à une ou deux exceptions près, les textes ne sont pas de Nietzsche; il les a empruntés à plusieurs poètes: Sándor Petöfi, Klaus Groth, Friedrich Rückert, Alexandre Pouchkine et Adelbert von Chamisso. „Je cherche des paroles pour une mélodie que j’ai et une mélodie pour des paroles que j’ai, écrit-il à sa mère en 1863 – et ces deux choses que j’ai ne s’accordent pas ensemble, encore qu’elles viennent de la même âme. Mais tel est mon sort!“18 Et tel il restera. Don musical et don littéraire seront toujours chez lui en concurrence, une concurrence imparfaite puisque l’écrivain acquit assez vite cette maîtrise de la forme qui se déroba souvent au compositeur. Surtout, lorsque verbe et musique se trouvent réunis, cette union, en fait, n’allait pas de soi. Chez lui, en effet, la musique précédait les paroles qu’il devait ensuite lui adapter. „Quelle entreprise contre-nature et même impossible cela doit être que de faire de la 15 16

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Le Cas Wagner, „Second post-scriptum“. Le Gai Savoir, Aph. 106. „La musique qui intercède“. „Dans la musique, notait-il en 1859, les notes pénètrent plus profondément que les paroles dans la poésie, et l’art musical atteint les replis les plus profonds du cœur“ (Ecrits autobiographiques, op. cit., 37). Par-delà le bien et le mal, Aph. 245. Correspondance, I, op. cit., 271.

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musique pour un poème […] Une entreprise qui me paraît semblable à celle d’un fils qui voudrait engendrer son père“ notera-t-il en 1871.19 Mais si elle n’était pas contrenature, sa méthode insolite de composition était cependant très malaisée, et d’autant plus que presque jamais, je l’ai dit, les paroles de ses lieder n’étaient de lui. En témoignent les fautes de prosodie dont souffrent plusieurs d’entre eux, et surtout L’Hymne à la vie, conçu en 1874 comme un Hymne à l’amitié pour chœur et orchestre mais qui, resté à l’état de pièce pour piano à quatre mains, attendit huit ans qu’un texte (de Lou Salomé) lui fût adjoint. On comprend donc qu’ayant en 1865 composé, non sans peine, un lied sur un poème dont il était aussi l’auteur, Junge Fischerin, Nietzsche ait renoncé à ce genre et nourri des doutes sérieux sur ses aptitudes musicales. Sept ans plus tard, après avoir excessivement blâmé la Manfred Meditation que Nietzsche lui avait adressée, Hans von Bülow lui conseillait, s’il tenait encore à composer, de se limiter à la musique vocale: „et, dans l’esquif qui vous tire en tout sens sur le sauvage océan des sons, concluait-il, laissez le gouvernail au mot“. Hors du cadre des mots, en effet, la courte inspiration musicale de Nietzsche presque toujours s’étiolait ou s’égarait. Mais l’échec du compositeur ne découragea pas le théoricien. En 1883, réfléchissant aux moyens d’agencer „tout un acte d’opéra en vue de l’unité symphonique“, un „problème“ à ses yeux „non résolu“ par Wagner, il expliquait à son ami Peter Gast, lui-même compositeur: „Le texte proprement dit du poème devrait être composé après que la musique a été achevée, dans une continuelle adaptation à la musique; alors que jusqu’à présent, c’était le mot qui traînait la musique à sa suite.“20 Alors en effet que pour Platon, la mélodie et le rythme devaient suivre le mot et que chez Rousseau, il y a co-appartenance de la musique et du langage, chez Nietzsche la musique est première. Dans „l’alliance fraternelle“ entre Dionysos et Apollon que célèbre La Naissance de la tragédie, le poète est fécondé par le musicien, de façon spontanée puisque, nous dit Nietzsche (qui devait en rêver) dans la Grèce antique „l’union voire l’identité des deux était partout reçue comme naturelle.“ Cette union et même cette identité, Nietzsche, alors, proclamait qu’elle était restaurée chez Wagner, puis il lui reprocha de réduire la musique à n’être que la servante du langage, faute d’être „un musicien d’instinct“. C’était méconnaître, avec une bonne dose de mauvaise foi, combien chez Wagner le musicien et le poète se mêlaient intimement puisque ses livrets étaient toujours conçus dans le „sein maternel“ de la musique.21

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Fragment de fin 1870–avril 1871, La Naissance de la tragédie, O. C., op. cit., 297. Le 10 janvier 1883, Lettres à Peter Gast, op. cit., 119. Après avoir relu les livrets de Wagner au moment où il écrivait celui de Die Frau ohne Schatten, Hugo von Hofmannsthal se dira „vraiment abattu“ par „la qualité inaccessible“, „l’inimitable perfection avec laquelle la réalisation musicale y est conduite par anticipation: de même que les fleuves déterminent le paysage, de même ici, le paysage poétique est figuré par les fleuves et les ruisseaux de la mélodie, déjà connus du poète“ (Lettre à Richard Strauss du 24 septembre 1913, dans : Richard Strauss, Hugo von Hofmannsthal, Correspondance, trad. française, Paris 1992, 226). Ce qui explique que, lorsqu’il se mettait à composer, Wagner n’apportait au texte de ses livrets que des changements mineurs, et rarement parce que celui-ci faisait obstacle à la musique.

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Mais comme Nietzsche n’avait pu, lui, réaliser l’union de la musique et du verbe, il ne se priva pas d’en conclure que, passé le temps béni de la Grèce antique, le poète musicien était une impossibilité ou un musicien simulé. Où l’on retrouve le ressentiment mais, de nouveau, il n’explique pas tout. Que Tristan soit la seule œuvre de Wagner évoquée dans La Naissance de la tragédie n’est pas un hasard. Dans ce drame épuré, les mots ne forment qu’une „buée musicale“ remarque Nietzsche dans ses notes préparatoires. Les chanteurs, surtout au IIIe acte, sont submergés par cette „symphonie suprême“ à laquelle, soutient-il, „Wagner aspire inconsciemment afin de surmonter le mal originel de l’opéra.“22 Par là, Nietzsche entendait, bien sûr, l’asservissement au mot et au geste auquel Wagner, à ses yeux, cédait dans ses autres œuvres, le Ring surtout, en raison de sa nature essentiellement théâtrale. Alors que Nietzsche, lui, comme il le soulignera dans Le Gai Savoir (Aph. 368), était „d’une nature essentiellement anti-théâtrale“. Comme je l’ai déjà indiqué tout à l’heure, alors que La Naissance de la tragédie est censée célébrer l’alliance entre la musique et le théâtre, la musique et le verbe, en la lisant attentivement avec en regard les notes préparatoires, on constate que cette alliance non seulement n’est pas nécessaire mais qu’elle est nuisible. Sous peine d’être corrompue à sa source, la musique doit être première et inconditionnée. Vouloir qu’elle illustre un poème est une entreprise contre-nature parce que la musique est foncièrement étrangère aux réalités conceptuelles qu’on prétend lui faire symboliser. Et d’ailleurs, elle n’atteint son plein effet que si le verbe n’est pas compris. Lorsque nous écoutons „l’extraordinaire dernier mouvement“ de la Neuvième de Beethoven, affirme Nietzsche dans ses notes, nous n’éprouvons „la jubilation de cette musique de rédemption que par ce qu’elle nous a privés de toute capacité pour les images et les mots, et que nous n’entendons presque plus rien du poème de Schiller“.23 „Juxtaposer le poète et le musicien est une gageure“ notera-t-il en 1880, car le premier „fait jouer l’instinct de connaissance“ tandis que le second „le laisse en repos“. (Comme si la musique, à la différence du langage, produisait toujours un effet immédiat, sans jamais passer par l’intellect …).24 Aussi „dès qu’on ne comprend plus les paroles, tout rentre dans l’ordre – et c’est par bonheur la règle“.25 C’est ainsi, déjà, que Schopenhauer écoutait l’opéra, qu’il condamnait d’un point de vue philosophique. Et l’on aura reconnu plusieurs fois ici l’écho de sa conception de la musique, que Nietzsche fit sienne dans sa jeunesse. Exprimant la „quintessence de la vie“, l’„essence intime du phénomène“, la „volonté même“, la musique ne peut être 22 23 24

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Fragment posthume de 1871, La Naissance de la tragédie, op. cit., 401. Fragment posthume du début de 1871, La Naissance de la tragédie, op. cit., 435. Mais il lui arrive, dans ses carnets de reconnaître que ce n’est pas le cas, par exemple: „La jouissance esthétique dépend de certaines connaissances; c’est vrai aussi pour l’art le plus populaire. Il n’existe pas d’effet immédiat sur l’auditeur, pas d’échappée au-delà des limites de l’intellect“ (Fragments posthumes 1876–1878, dans Humain, trop humain, I, O. C., 447). Fragment posthume du printemps 1880, Aurore, O. C.,.364; „La parole agit d’abord sur le mode conceptuel et de là seulement sur la sensibilité, et bien souvent le chemin est si long que le but n’est pas atteint, écrivait-il en 1869. La musique, au contraire touche immédiatement le cœur, car elle est la véritable langue universelle partout comprise“ (Le drame musical grec, O. C., 28).

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subordonnée au livret d’un opéra ou au poème d’un lied, avec lesquels elle n’a qu’un „rapport analogique“, sous peine de devenir „une esclave aliénée du phénomène“ en perdant sa „propriété exclusive“: cette „généralité“ liée à une rigoureuse précision „qui lui donne une si haute valeur et en fait le remède de tous nos maux“.26 Si Nietzsche par la suite critiqua cette conception et en récusa le caractère métaphysique, il en conserva néanmoins l’essentiel, car elle s’accordait avec l’expérience intense de la musique qu’il avait en tant qu’auditeur, interprète et compositeur. Le monde des sons et le monde des mots étaient rigoureusement séparés; et le premier avait sur le second le privilège d’être moins conscient, plus spontané, plus instinctif et donc plus véridique. „Par rapport à la musique, toute communication par des mots est éhontée, notait-il en 1887. Le mot amoindrit et abêtit: le mot dépersonnalise, le mot rend commun ce qui est rare.“27 Bien sûr, infatigable écrivain, Nietzsche n’eût pas été l’auteur de tant d’aphorismes mémorables, s’il n’avait aussi beaucoup aimé les mots. Et ce serait une erreur mutilante de ne voir en lui qu’un apologiste de l’inconscient et de l’instinct. Comme l’a finement remarqué Paul Valéry, le surhomme de Nietzsche „doit avoir toute conscience avec tous les avantages de l’Inconscience“.28 Autant dire, „quelque chose“ d’aussi „contradictoire en soi“ que le „Socrate musicien“ auquel Nietzsche avait prévu de consacrer le dernier chapitre de La Naissance de la tragédie: une „dissonance incarnée“ telle que lui-même ne cessa de l’être, et de façon d’autant plus éprouvante qu’en lui le musicien resta inaccompli. „La musique est de beaucoup ce qu’il y a de mieux; à présent plus que jamais, j’aurais voulu être musicien“, écrivait-il à Peter Gast en 1884. Et trois ans plus tard: „Il est hors de doute que dans le tréfonds de mon être, j’aurais voulu pouvoir composer la musique que vous composez, vous – et ma propre musique (bouquins compris) n’a été faite que faute de mieux.“ Lorsque la folie l’aura exilé de la vie, la musique demeurera son ultime recours. „Quand on s’informe de son état, indique un procès verbal de l’hôpital de Bâle en janvier 1889 – il répond qu’il se sent bien, mais qu’il ne pourrait exprimer son état qu’en musique.“ Ce qui lui arrivera de faire d’ailleurs, comme au temps de sa jeunesse, dans d’étonnantes improvisations: „Pas une absurdité, notera une fois Peter Gast, rien que des phrases d’une inspiration tristanienne, pianissimo; puis des fanfares de trombones et de trompettes, une fureur beethovénienne, des chants exultant, des méditations, des rêveries – indescriptible.“ Ainsi, les sons qui avaient précédé les mots, quelque temps leur survécurent.

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La Naissance de la tragédie, § 16, où Nietzsche cite longuement et commente Le monde comme volonté et comme représentation. Fragments posthumes automne 1887–mars 1888, O. C., 140. Paul Valéry, Lettre à André Gide du 13 janvier 1899, Correspondance Gide-Valéry, Paris 1955.

CHRISTOPH LANDERER

Form und Gefühl in Nietzsches Musikästhetik

Die Musikästhetik des 19. Jahrhunderts ist zwischen zwei konträre Pole gestellt, die sich grob als das Subjektive und das Objektive der Musik oder, nach den allgemeinsten Fahnenwörtern der Debatte, als Gefühl und Form1 bestimmen lassen. Auch Friedrich Nietzsches Musikästhetik bewegt sich zwischen diesen beiden Extremen, mit dem früheren Nietzsche, unter dem Einfluss Richard Wagners und Arthur Schopenhauers, stärker auf der Seite des Gefühls, dem mittleren und späteren Nietzsche, unter dem Einfluß Eduard Hanslicks, stärker auf der Seite der Form. Damit sind freilich nur grobe Markierungen gesetzt, denn Elemente beider Auffassungsschulen greifen bei Nietzsche, mit den für ihn typischen persönlichen Anverwandlungen und Umdeutungen, ineinander und es lässt sich schwer eine allgemeine Entwicklungslinie nachzeichnen, die nicht von kritischen Momenten und dem allgemeinen Aufbegehren gegen ein starres ästhetisches Schema durchbrochen wäre. Beginnen wir mit dem frühen Nietzsche. Nietzsches frühe musikästhetische Aufzeichnungen zeigen wenig Sympathie für die ‚Neutöner‘ und die Ästhetik der ‚Zukunftsmusik‘. Wagner wird ausgesprochen kritisch behandelt: Über die Walküre schreibt Nietzsche an Carl von Gersdorff, „die großen Schönheiten und virtutes“ würden „durch ebensogroße Häßlichkeiten und Mängel aufgehoben“ (KGB I,2, 11. Oktober 1866, Nr. 523). Nietzsche schließt sich dem Urteil seines Bonner Lehrers Otto Jahn an, der Wagner für den „Repräsentanten eines modernen, alle Kunstinteressen aufsaugenden Dilettantismus“ hält.2 Auch ästhetisch zeigt sich Nietzsche alles andere als als Wagnerianer: „Das Gefühl ist gar kein Maßstab für die Musik“ notiert der 18jährige. 1862, zur Zeit der Abfassung dieser Notiz, steht er möglicherweise bereits unter dem Einfluss Hanslicks, dessen Ästhetiktraktat er nach Curt Paul Janz in diesem Jahr, wahrscheinlich über die Vermittlung Hermann Deiters, kennenlernt.3 Belegt ist Nietzsches 1

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Eine zweite, ebenfalls bedeutende theoretische Bruchstelle verlief zwischen den Begriffen ‚Form‘ und ‚Inhalt‘. Im historischen Rückblick scheint die Fokussierung auf das ‚Gefühl‘ analytisch fruchtbarer und theoretisch folgenschwerer, v.a. seit Hanslicks Polemik gegen die „verrottete Gefühlsästhetik“. Zu den musikästhetischen Auffassungen des frühen Nietzsche siehe: Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, Band 1, München 1978. Ders., ebd., 195. Auf eine mögliche Vermittlung durch Deiters hatte bereits Frederick Love, Young Nietzsche and the Wagnerian Experience, Chapel Hill 1963, 33, hingewiesen.

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Christoph Landerer

Hanslick-Lektüre erst für das Jahr 1865, aber schon im Sommer 1864 entsteht ein Brief, dem Klaus Kropfinger eine „überraschende Nähe“ zu Hanslicks Traktat attestiert hat.4 Von Rudolf Buddensieg nach den Gründen seiner musikalischen Erlebnisfähigkeit befragt, formuliert Nietzsche eine klare Abgrenzung von der Gefühlsästhetik: „Denken Sie nicht, daß der Grund dieser Intuition im Gefühl, im Empfinden, liegt; nein, gerade im höchsten und feinsten Theile des erkennenden Geistes“ (KSB, 1, 293). Die Rolle des Gefühls dagegen bestimmt Nietzsche als eine abgeleitete, sie sei kein Spezifikum der Musik, ist doch die damit verbundene Nervenerregung „nicht die Wirkung der Musik allein, sondern aller höhern Künste“ (ebd.). Diese Auffassung hatte auffallend ähnlich auch Hanslick vertreten. Die Ansichten des frühen Nietzsche zum Themenkomplex ‚Musik und Gefühl‘ sind allerdings alles andere als einheitlich. Andere Notizen derselben Zeit legen nahe, dass, wie Hans Gerald Hödl herausgestrichen hat, in Nietzsches „Reflexionen über das Wesen der Musik […] dem Gefühl eine tragende Rolle zukommt“.5 Mit Nietzsches Bekehrung zu Wagner scheint sich die Situation zu ändern. Ende 1868 lernt Nietzsche Wagner kennen, und es beginnt äußerlich eine Zeit der propagandistischen Tätigkeit für Wagner und dessen Kulturprogramm. Öffentlich, und in der Wahrnehmung der Nachwelt, wirkt Nietzsche nun als Verfechter der Wagnerschen Kunstdoktrinen und reiht sich klar in das antiformalistische Lager ein. In einem größeren Rahmen betrachtet, sind die Ansichten des wagnerbegeisterten Nietzsche allerdings für sein musikästhetisches Denken kaum repräsentativ und sie zeigen eine starke Diskrepanz zwischen veröffentlichter Meinung und ästhetischen Positionen in unveröffentlichten Vorstudien und Entwürfen. Nietzsche verfolgte über weite Strecken eine „Geheimhaltungs-Strategie“ (Wolfram Groddeck), die es unmöglich macht, den Wandel seiner Positionen aus veröffentlichten Schriften allein zu erschließen. Seine musikästhetischen Auffassungen sind von Selbstzensur in besonderer Weise betroffen, da Nietzsche in den Jahren der noch intakten Freundschaft mit Wagner vieles mit dessen Ästhetik Inkompatible mit Rücksicht auf den ‚Meister‘ planmäßig für sich behielt. Dazu kommen die komplizierten Wechselfälle von Nietzsches persönlichem Verhältnis zu Wagner, die eine auch nur halbwegs verbindliche Rekonstruktion seiner musikästhetischen Positionen sehr effektiv behindern. Als besonderer ‚Knackpunkt‘ erweist sich hier Nietzsches Verhältnis zur Frage der ästhetischen Wertung von ‚Form‘ und ‚Gefühl‘, eine Materie, die schon deshalb äußerst heikel war, weil Wagners ästhetischer Erzrivale Hanslick sich klar auf die Seite der Form geschlagen hatte und Nietzsche eine zu große Annäherung an das gegnerische Lager um jeden Preis vermeiden musste. Damit zum Kern der Sache: Hans Gerald Hödl hat nachgelassene Texte Nietzsches aus den Jahren 1869 bis 1872, im wesentlichen aus dem Bereich der Vorstudien zur Geburt der Tragödie, mit Blick auf die Auffassungen zum Verhältnis von Musik, Sprache und Gefühl untersucht und daraus den Schluss gezogen, Nietzsche würde die wesentliche Leistung der Musik in der „größtmöglichen Vermittlung von Gefühlsinhalten“ 4

5

Klaus Kropfinger, „Wagners Musikbegriff und Nietzsches ‚Geist der Musik‘“, in: NietzscheStudien 14 (1985), 3. Hans Gerald Hödl, „Musik, Wissenschaft und Poesie im Bildungsprogramm des jungen Nietzsche“, in: Günther Pöltner, Helmuth Vetter (Hg.), Nietzsche und die Musik, Frankfurt/M. 1997, 21.

Form und Gefühl in Nietzsches Musikästhetik

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sehen. Der Gefühlsbegriff selbst bleibt dabei, „als unbekannte Größe im Hintergrund“, so Hödl6, noch wenig konturiert, mit Ausnahme einer Bemerkung aus dem Sommer 1870. Hier bestimmt Nietzsche „Gefühl“ als „Komplex von unbewußten Vorstellungen und Willenszuständen“ (KGW III,2, DW, 64). Der Zusammenhang von Vorstellung und Gefühl wird allerdings noch nicht genauer analysiert, die Natur dieser Verbindung nicht hinterfragt. Musik gilt Nietzsche, der hier im wesentlichen noch als orthodoxer Schopenhauerianer spricht, als ‚Mitteilungsart‘ des Gefühls wie als Mitteilungsart der Regungen des Willens; die Unterscheidung Wille/Gefühl ist bei Schopenhauer bekanntlich nicht durchgearbeitet. Auch im kurz zuvor entstandenen Vortrag über das griechische Musikdrama verlässt Nietzsche die Bahnen der Schopenhauerschen Musikmetaphysik nicht. Auch hier ist Musik, wie später in der Geburt der Tragödie, eine „wahre allgemeine Sprache, die man überall versteht“ (ebd.). Ins kritische Detail geht Nietzsche erst im bedeutenden und in der Zusammenstellung der Thesen sonderbaren Fragment 12[1] aus dem Frühjahr 1871, dessen Analyse Hödl noch ausklammerte. Hier formuliert Nietzsche in Teilen bereits eine so radikale Absage an die Gefühlsästhetik, dass man versucht ist, an der Datierung zu zweifeln; dem Hauptteil der gedanklichen Motive und wohl auch der ursprünglichen theoretischen Intention nach handelt es sich immerhin um eine Vorstudie zur Geburt der Tragödie. Dieser kurze, knapp 10seitige und m.E. in seiner Bedeutung noch unterschätzte Text könnte mit einigem Recht als Nietzsches wichtigste musikästhetische Einzelstudie angesehen werden; nicht ohne Grund stoßen wir auf diese Studie auch in Textsammlungen zur Musikästhetik wie etwa von Carl Dahlhaus oder von Felix M. Gatz.7 In vielen für Wagners Ästhetik zentralen Positionen, so auch in der Einschätzung der Rolle des Gefühls, zeigt sich Nietzsche hier schon als Häretiker, wesentliche Motive der späteren Wagner-Kritik finden sich bereits vorgezeichnet. Für Wagner war Musik immer wesentlich vom Rezipienten verstandener Gefühlsausdruck. Nietzsche aber schreibt nun: „Das Gefühl […] ist überhaupt im Bereich der produktiven Kunst das an sich Unkünstlerische, ja erst seine gänzliche Ausschließung ermöglicht das volle sich Versenken und interesselose Anschauen des Künstlers.“ Und weiter: „Dem Lyriker ähnlich sind alle diejenigen Musikhörer, welche eine Wirkung der Musik auf ihre Affekte spüren: die entfernte und entrückte Macht der Musik appelliert bei ihnen an ein Zwischenreich, das ihnen gleichsam einen Vorgeschmack, einen symbolischen Vorbegriff der eigentlichen Musik giebt, an das Zwischenreich der Affekte“ (KSA, NF, 7, 364). Der theoretischen Sprengkraft solcher Formulierungen war sich Nietzsche bewusst. Sie in die veröffentlichte Fassung der Geburt der Tragödie aufzunehmen, schien ausgeschlossen. Nietzsche konnte sich von dem in den Vorstudien gefundenen Bild aber offenbar nicht ganz lösen. Die Abwandlung, die die entsprechende Passage in der Geburt der Tragödie erfahren hat, ist charakteristisch: „[Ich darf mich] nicht auf jene beziehen, welche die Bilder der scenischen Vorgänge, die Worte und Affekte der handelnden Personen [Hervorhebung – C.L.] benutzen, um sich mit dieser Hülfe der 6 7

Ders., ebd. Felix M. Gatz, Die Musikästhetik in ihren Hauptrichtungen. Stuttgart 1929; Carl Dahlhaus, Michael Zimmermann (Hg.), Musik – Zur Sprache gebracht. Musikästhetische Texte aus drei Jahrhunderten. München, Kassel 1984.

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Musikempfindung anzunähern; denn diese alle reden nicht Musik als Muttersprache und kommen auch, trotz jener Hülfe, nicht weiter als in die Vorhallen der Musikperception, ohne je deren innerste Heiligthümer berühren zu dürfen“ (KSA, GT, 1, 135). Nicht von den Affekten des ‚Musikhörers‘, sondern von jenen der (auf der Bühne) ‚handelnden‘ ‚Personen‘ ist hier die Rede. Der Kommunikationsaspekt der Musik, der vom Komponisten zum Rezipienten weist, bleibt so vorerst von theoretischer Kritik ausgenommen. Nietzsche fand sich zu diesem Zeitpunkt offenkundig noch bereit, selbst die gedankliche Substanz des ursprünglichen Arguments in eine mit Wagners Ästhetik kompatible Form zu gießen. Warum aber wäre es für Nietzsche gefährlich gewesen, die Rolle des Gefühls in einer Weise abzuwerten, wie er dies in Fragment 12[1] getan hatte? Werner Fietz hat bemerkt, daß Nietzsche in seiner in 12[1] dagelegten Auffassung, es wäre der Musik „versagt […], Gefühle darzustellen, Gefühle zum Gegenstand zu haben“, mit Hanslick vollkommen übereinstimmt.8 Diese Übereinstimmung ist bemerkenswert, denn Nietzsches Position weicht nicht nur beachtlich von früher geäußerten Ansichten aus dem Bereich der Vorstudien zur Geburt der Tragödie ab, die Tragödienschrift selbst war ursprünglich offenbar geradezu als ‚Anti-Hanslick‘ gedacht: in einem Briefentwurf an den Leipziger Verleger Wilhelm Engelmann hatte Nietzsche sein Erstlingswerk mit den Worten angeboten, das Buch sei „von aufregender Bedeutung […] vergleiche ich wenigstens das, was über das gleiche Problem etwa von Hanslick und Andern neuerdings gesagt worden ist“ (KGB II,1, 20. April 1871, Nr. 133). Auch die Bemerkung über die „irrige Ästhetik“ in der Geburt der Tragödie, die „an der Hand einer missgeleiteten und entarteten Kunst […] die Erregung des Gefallens an schönen Formen“ fordere (KSA, GT, 1, 104), ist erkennbar gegen Hanslick gerichtet, auch wenn dessen Name nicht fällt. Zentral in unserem Zusammenhang ist Nietzsches Aneignung der Hanslickschen Gefühlskritik, die dieser selbst der im damaligen Österreich bedeutenden Herbartschule verdankt.9 Hatte Nietzsche nur wenige Wochen zuvor Musik als ‚Mitteilungsart‘ der Gefühle bestimmt, so gerät diese Sicht nun in die Kritik: „Das, was wir Gefühle nennen, ist […] bereits schon mit bewußten Vorstellungen durchdrungen und gesättigt und deshalb nicht mehr direkt Gegenstand der Musik, geschweige denn, daß es diese aus sich heraus erzeugen könnte. Man nehme bspw. die Gefühle der Liebe, Furcht und Hoffnung: Die Musik kann mit ihnen auf direktem Weg gar nichts mehr anfangen, so erfüllt ist ein jedes dieser Gefühle schon mit Vorstellungen“ (KSA, NF, 7, 364). Hanslick argumentiert völlig analog: „Was macht denn ein Gefühl zu diesem bestimmten Gefühl? Zur Sehnsucht, Hoffnung, Liebe? […] Das Gefühl der Hoffnung ist untrennbar von der Vorstellung eines glücklicheren Zustandes […] Die Wehmuth vergleicht ein 8

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Werner Fietz, Medienphilosophie. Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche. Würzburg 1992, 35. Für eine Detailanalyse siehe Christoph Landerer, Marc-Oliver Schuster, „Nietzsches Vorstudien zur Geburt der Tragödie in ihrer Beziehung zur Musikästhetik Eduard Hanslicks“, in Nietzsche-Studien 31 (2002), 114–133. Der Herbartianismus propagierte einen extrem-kognitiven Reduktionismus, der alle psychischen Erscheinungen auf ‚Vorstellungen‘ zurückzuführen suchte. Hanslick wurde mit den Grundzügen der herbartianischen Psychologie wahrscheinlich schon in seiner Prager Zeit vertraut, spätestens durch sein Studium bei Franz Exner.

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vergangenes Glück mit der Gegenwart. Das sind ganz bestimmte Vorstellungen, Begriffe, Urtheile. Ohne sie, ohne diesen Gedankenapparat kann man das gegenwärtige Gefühl nicht ‚Hoffnung‘, nicht ‚Wehmuth‘ nennen. […] Die Liebe kann ohne die Vorstellung einer geliebten, individuellen Persönlichkeit, ohne den Wunsch und das Streben nach der Beglückung, Verherrlichung, dem Besitz des Gegenstandes nicht gedacht werden. […] Diese Betrachtung allein reicht hin, zu zeigen, daß Musik nur jene verschiedenen begleitenden Adjectiva ausdrücken könne, niemals das Substantivum, die Liebe, selbst. Ein bestimmtes Gefühl existiert als solches niemals ohne einen wirklichen historischen Inhalt, der eben nur in Begriffen dargelegt werden kann.“10 Es ist die besondere Pointe von Nietzsches Hanslick-Rezeption, dass diese die Schopenhauersche Musikmetaphysik und damit eine wesentliche theoretische Basis der Geburt der Tragödie im Grunde vollständig ruiniert. Nochmals Hanslick, erkennbar gegen Schopenhauer gerichtet: „Gemeiniglich glaubt man, das darstellende Vermögen der Musik genügend zu begrenzen, wenn man behauptet, sie könne keineswegs den Gegenstand eines Gefühles bezeichnen, wohl aber das Gefühl selbst, z.B. nicht das Objekt einer bestimmten Liebe, wohl aber ‚Liebe‘. Sie kann dies in Wahrheit ebensowenig. Nicht Liebe, sondern nur eine Bewegung kann sie schildern, welche bei der Liebe, aber auch bei einem andern Affect vorkommen kann, immer jedoch das unwesentliche seines Charakters ist.“11 Gefühle von ihrem konkreten, individuellen und damit historischen Inhalt ablösen zu wollen, ist ein unmögliches Unterfangen. Musik als ‚wahre allgemeine Sprache‘, die fernab aller Kontingenz und aller Geschichte das Wesen der Welt kommuniziert und uns so in ‚das Herz der Dinge‘ blicken lässt, wird zur Illusion. Nietzsche scheint die Illusion zu durchschauen, auch wenn er noch keine theoretischen Konsequenzen zieht. Erst in Menschliches, Allzumenschliches ist die Distanz zu Schopenhauer wie wohl auch zu Wagner groß genug, um die Einsichten der Aufzeichnungen aus dem Frühjahr 1871 theoretisch zu verwerten. „Die Musik“, so schreibt er nun, „ist nicht an und für sich so bedeutungsvoll für unser Inneres, so tief erregend, daß sie als unmittelbare Sprache des Gefühls gelten dürfte, sondern die uralte Verbindung mit der Poesie hat soviel Symbolik in die rhythmische Bewegung, in die Stärke und Schwäche des Tones gelegt, daß wir jetzt wähnen, sie spräche direkt zum Inneren und käme aus dem Inneren […] Die ‚absolute Musik‘ ist entweder Form an sich, im rohen Zustand der Musik, wo das Erklingen in Zeitmaass und verschiedener Stärke überhaupt Freude macht, oder die ohne Poesie schon zum Verständnis redende Symbolik der Formen, nachdem in langer Entwickelung beide Künste verbunden waren und endlich die musicalische Form ganz mit Begriffs- und Gefühlsfäden durchsponnen ist. […] An sich ist keine Musik tief und bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom ‚Willen‘, vom ‚Ding an sich‘ […] Der Intellect hat diese Bedeutsamkeit erst in den Klang hineingelegt, wie er in die Verhältnisse von Linien und Massen bei der Architektur ebenfalls Bedeutsamkeit gelegt hat, welche aber an sich den mechanischen Gesetzen ganz fremd ist“ (KSA, MA2, 2, 450ff. ). Die Bedeutung von Fragment 12[1] für Nietzsches beginnende Abkehr von Schopenhauer ist m.E. kaum zu unterschätzen. Dahlhaus, der diesem Text eine eigene Studie 10 11

Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, hg. von Dietmar Strauß, Mainz 1990, 43f. Ders., ebd., 47.

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gewidmet hat12, die konkreten Übereinstimmungen im Bereich der Gefühlskritik aber übersehen zu haben scheint, hat die begrifflichen Mühen nachgezeichnet, die Nietzsche nun auf die kritische Umformulierung der Schopenhauerschen Lehren verwendet. Zwar scheint es sein Ziel gewesen zu sein, Schopenhauers Ästhetik durch theoretische Anpassungen zu retten, es ist aber unübersehbar, dass hier schon das Fundament zu einer theoretischen Abkehr gelegt wird, die erst später, im Zeichen ausreichender persönlicher Distanz, vollzogen wird. Das letzte Zitat aus Menschliches, Allzumenschliches scheint nahezulegen, dass Nietzsche nun eine formalistische Ästhetik entwickelt, und nach seiner Abwendung sowohl von Wagner als auch von Schopenhauer die in Fragment 12[1] angelegten theoretischen Möglichkeiten konsequent entwickelt. Eric Dufour spricht mit Blick auf diese Werkperiode von Nietzsches ‚esthetique musicale formaliste‘13, wobei allerdings näher zu untersuchen ist, wieweit Nietzsche mit den im 19. Jahrhundert gängigen Formalismusschulen, und d.h. vor allem: mit den Ansichten Hanslicks, übereinstimmt und wo er eigene Wege beschreitet. Kontinuierlich entwickelt finden wir bei Nietzsche eine Auffassung von der ‚symbolischen‘ Natur des musikalischen Ausdrucks, die den Wandel der grundlegenden Basistheorie überlebt. Diese Lehre vom symbolhaften Ausdruck ist für das Formalistenlager untypisch.14 Die „in langer Entwickelung […] von Begriffsund Gefühlsfäden durchsponnene musikalische Form“, von der Nietzsche nun spricht, lässt sich kaum im Sinn eines Formalismus der Herbartschule verstehen, da die Herbartianer einer ausgesprochen statisch-ahistorischen Version des Formalismus anhingen und eine Ästhetik der „immer gleichen Verhältnisse“ vertraten.15 Interessant ist freilich Nietzsches Verweis auf die Architektur, nicht zuletzt deshalb, weil es sich um einen gängigen formalistischen Topos handelt. Es wird daher nicht überraschen, daß sich der Vergleich Musik-Architektur in Hinblick auf die Bedeutung der Formverhältnisse auch bei Hanslick findet. Nochmals Hanslick: „Die architektonische Seite des MusikalischSchönen, tritt bei der Stylfrage recht deutlich in den Vordergrund. Eine höhere Gesetzlichkeit, als die der bloßen Proportion, wird der Styl eines Tonstücks durch einen einzigen Takt verletzt, der, an sich untadelhaft, nicht zum Ausdruck des ganzen stimmt. Genau so wie eine unpassende Arabeske im Bauwerk, nennen wir styllos eine Cadenz oder Modulation, welche als Inkonsequenz aus der einheitlichen Durchführung des Grundgedankens abspringt.“16 Wichtig scheint mir hier der Gesichtpunkt des ‚Gedan12

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Carl Dahlhaus, „Die doppelte Wahrheit in Wagners Ästhetik. Zu Nietzsches Fragment ,Über Musik und Wort‘“, in: Ders., Zwischen Romantik und Moderne. Vier Studien zur Musikgeschichte des späten 19. Jahrhunderts. München 1974, 22–39. Eric Dufour, „L’esthetique musicale formaliste de Humain, trop Humain“, in: Nietzsche-Studien 28 (1999), 215–233. Wie auch George Liébert feststellt, ist es die Auffassung von einer wie auch immer verstandenen Symbolik der Formen, die Nietzsche vom Formalistenlager trennt (Georges Liébert, Nietzsche and Music, Chicago 2004, 172). Die Herbartianer, in Österreich v.a. Hanslicks Freund Robert Zimmermann, vertraten eine rigoros enthistorisierte Ästhetik, die die jeweiligen Formverhältnisse in zeitlosen Grundgesetzen menschlicher Psyche zu verorten suchte. Hanslick hat sich, wie seine Auffassung zur Zeitgebundenheit des Tonsystems zeigt, dieser orthodoxen Spielart des Formalismus ganz klar nicht angeschlossen. Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, 119.

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kens‘, den Hanslick auch in seiner Musikästhetik betont. Denn entgegen einem gängigen Vorurteil, das seiner Ästhetik ein geistloses Kleben an der Form unterstellt, wusste Hanslick sehr wohl zwischen geistloser und geistvoller Formgestaltung zu unterscheiden. „Nur dies macht eine Musik gut oder schlecht, daß der eine Componist ein geistsprühendes Thema einsetzt, der andre ein bornirtes, daß der Erstere nach allen Beziehungen immer neu und bedeutend entwickelt, der letztere seines wo möglich immer schlechter macht, die Harmonie des einen wechselvoll und originell sich entfaltet, während der zweite vor Armut nicht vom Flecke kommt, der Rhythmus hier ein lebenswarm hüpfender Puls ist, dort ein Zapfenstreich.“17 Wie aber verhält es sich mit Nietzsches Lehre von der Symbolik der Formen, die sich so gar nicht in einen als formalistisch verstandenen Theorierahmen zu fügen scheint? Ich muss gestehen, dass sich mir der Sinn von Nietzsches Ausführungen hier nicht ganz erschließt. Solange die Schopenhauersche Musikmetaphysik die Basis für seine musikästhetischen Ausführungen bildet, lässt sich eine Antwort auf die Frage nach der ‚symbolischen‘ Natur von Musik leicht formulieren: Musik symbolisiert den ‚Weltwillen‘ oder zumindest Aspekte davon; es gibt also eine klare Instanz, der gegenüber Musik im Verhältnis einer wie auch immer verstandenen Repräsentation steht. Fällt diese Basis aber weg, dann ist fraglich, worauf genau sich der Symbolisierungsaspekt beziehen soll. Ich vermute, dass Nietzsche hier zweierlei betonen will. Zum einen die schon in früheren Schriften herausgestellte Verbindung der Musik mit Instinkt- und Triebregungen und der mehr somatischen (also nicht-begrifflichen) Seite des Affekts. Zum anderen die historisch gewachsenen Bezüge der musikalischen Formenwelt, d.h. ihre Aufladung mit allerdings kunstinternen Bedeutungskomponenten, wie wir sie auch in der Architektur finden; insofern scheint mir dieser Vergleich außerordentlich glücklich gewählt. Im Unterschied zu seinen früheren Ausführungen fehlt aber jetzt die außer-künstlerische ästhetische Referenz der Musik zur Erscheinungswelt oder gar zum ‚Ding an sich‘. Beide Aspekte, die somatischen Bezüge und ihr konventionell-historischer Charakter, sind interessanterweise ebenso in der Ästhetik Hanslicks präsent. Auch Hanslick kennt außermusikalische Bezüge der Musik, allerdings sind diese, und das ist der springende Punkt, ästhetisch irrelevant. Nochmals Hanslick zur Rolle des Gefühls: „Vernünftiger Weise kann man […] nur meinen, die Musik solle die Bewegung des Gefühls, abgezogen vom Inhalt desselben, dem Gefühlten, enthalten; also das, was wir das Dynamische der Affecte genannt, und der Musik vollständig eingeräumt haben. Dies Element der Musik ist aber kein ‚Darstellen unbestimmter Gefühle‘. Denn ‚Unbestimmtes‘ ‚darstellen‘ ist ein Widerspruch. Seelenbewegungen als Bewegungen an sich, ohne Inhalt, sind kein Gegenstand künstlerischer Verkörperung.“18 Mir scheint, dass jene Aspekte der Symbolik etwa des Trieb- oder Instinktlebens, die auch ohne schopenhauersche Basis weiterbestehen können, sehr nahe an dieser Hanslickschen Auffassung liegen. Der zweite Punkt, die konventionell-historische Verankerung der Musik ist etwas heikler, nicht zuletzt deshalb, weil Hanslicks Intentionen in diesem Bereich häufig grob missverstanden wurden. Ein solches Missverständnis scheint mir auch bei Dufour vorzuliegen, der die Parallelen zwischen Nietzsche und Hanslick zwar herausarbeitet, die starke 17 18

Ders., ebd., 86. Ders., ebd., 62.

Christoph Landerer

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Betonung des historisch-konventionellen Elements bei Nietzsche aber als eigenständige Leistung herausstreicht.19 Tatsächlich finden bei wir bei Hanslick selbst die, zu seiner Zeit außerordentlich gewagte und sehr moderne, Auffassung des historisch-konventionellen Charakters des Tonsystems (eine Auffassung, die etwa bei Erich Moritz von Hornbostel noch 1905, mehr als 50 Jahre später, für Aufregung sorgte). Ebenso finden wir die Auffassung vom geschichtlichen Charakter des Schönen selbst, Hanslick betont sogar, es gäbe „keine Kunst, welche so bald und soviel Formen verbraucht, als die Musik. Modulationen, Cadenzen, Intervallenfortschreitungen, Harmoniefolgen, nützen sich in 50, ja 30 Jahren dergestalt ab, daß der geistvolle Componist sich ihrer nicht mehr bedienen kann und fortwährend zur Erfindung neuer, rein musikalischer Züge gedrängt wird. Man kann von einer Menge Compositionen, die hoch über dem Alltagsstand ihrer Zeit stehen, ohne Unrichtigkeit sagen, daß sie einmal schön waren.“20 Im Rahmen seines Systems führt diese Behauptung zu keinem Widerspruch, da Hanslick sich dem orthodoxen, statisch-ahistorischen Formalismus der Herbartschule eben nicht anschließt. Die Ideale des Schönen mögen sich historisch wandeln, aber dennoch sprechen wir, wenn wir es ästhetisch verhandeln, immer nur über ‚Formen‘. Ein kurzes Resüme: Die Auffassungen des mittleren und späteren Nietzsche nähern sich stark der Ästhetik Eduard Hanslicks an (eine starke Annäherung gibt es natürlich auch im musikpraktischen Urteil, v.a. im Fall Wagner, doch dies ist ein eigenes Kapitel). Die gegen Wagner gerichtete Rüge der ‚Formlosigkeit‘ hat hier eine wesentliche theoretische Wurzel. Resümierend lässt sich damit festhalten, dass das Gefühl für Nietzsche nun als maßgebliche analytische Instanz abdankt und die Form sich in den Vordergrund spielt, allerdings, wie mir scheint, nicht im Sinn einer ausgearbeiteten formalistischen Theorie, dafür waren Nietzsches intellektuelle Reserven entweder zu groß oder sein Drang nach einer ausgearbeiteten Theorie zu gering. Es ist aber auch nicht zu übersehen, dass er sich einer formalistischen Theorie im Sinne Hanslicks entscheidend annähert, v.a. wenn man den auch bei Hanslick ausgearbeiteten historischkontingenten Charakter des musikalischen Materials und die nie von ihm geleugneten somatischen Bezüge von Musik in Rechnung stellt. Nietzsche eine ‚formalistische Ästhetik‘ im Vollsinn einer Theorie zuzuschreiben, wie es Eric Dufour versucht, scheint mir überzeichnet, auch sehe ich keine zureichenden Belege für die von Dufour behauptete Hochschätzung der Partitur als einziger rechtfertigbarer Grundlage des ästhetischen Urteils, eine Auffassung, die auch Hanslick in dieser Form nicht vertrat, es sei denn, man negierte die Komponente ‚tönend‘ in seinem berühmten Diktum von den ‚tönend bewegten Formen‘. In seiner Musikästhetik scheint mir Nietzsche ein Denker ‚auf dem Weg zum Formalismus‘ zu sein, ein theoretisch Reisender, der sich zwar von einem Lager entfernt, ohne aber je ganz im anderen anzukommen.

19 20

Ders., ebd., 223. Ders., ebd., 86f.

STEFAN LORENZ SORGNER

Musik und Ethik in Nietzsches Geburt der Tragödie

In meinem Beitrag zeige ich1, dass bei der Behandlung der Frage nach dem Verhältnis von Musik und Ethik in der Geburt der Tragödie die Berücksichtigung folgende Aussage Friedrich Nietzsches über seine Philosophie zentral ist: „Meine Philosophie ist umgedrehter Platonismus: je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner, schöner besser ist es“ (KSA, NF, 7, 199).2 Bei meiner Analyse wird sich herausstellen, dass dieses Selbstverständnis auch auf die zentralen Elemente von Nietzsches Musikphilosophie zutrifft; in vielen Aspekten stimmen Platon und Nietzsche jedoch überein. Wie Platon so vertritt Nietzsche, dass in einem großen Kunstwerk das Wahre, Gute und Schöne eine Einheit bilden. Im Unterschied zu Platon stellen bei Nietzsche das Wahre und das Gute radikale Gegensätze dar, die im Schönen jedoch vereint werden können. Die Einheit des Wahren, Guten und Schönen bei Platon impliziert, dass Worte stets die Musik beherrschen sollen. Bei Nietzsche hingegen soll die Musik die Worte beherrschen. Nietzsche als auch Platon lehnen den Hedonismus als primäre Motivation der Rezeption von Musik ab, erachten die Musik als eine der wichtigsten Werte vermittelnden Instanzen. Diese Position vertritt Nietzsche in allen seinen Perioden, auch wenn ich sie hier nur exemplarisch an der Geburt der Tragödie aufzeigen werde, da sie hier am klarsten ist. Ich teile dabei die vorherrschende Meinung, Nietzsches Schaffen in drei Perioden3 einzuteilen.

Das Wahre, Gute und Schöne bei Platon4 Platon schätzt die Macht der Musik als enorm hoch ein, was in den Büchern drei, vier und zehn seiner Politeia, in denen ein zentraler Fokus auf der mousike liegt, explizit hervortritt. In Platons Erziehungsphilosophie kommt der mousike fundamentale Bedeu1 2

3 4

Ich danke Michael Schramm und Hans Otto Seitschek für wichtige Hinweise. Bereits Bertram Schmidt erkannte, dass Nietzsches Musikphilosophie umgedrehter Platonismus sei (Bertram Schmidt, Der ethische Aspekt der Musik, Würzburg 1991, 20), ohne diese Erkenntnis entsprechend auszuarbeiten. So im Nietzsche-Artikel von Bernd Magnus in der Encyclopedia Brittanica. Ich gehe von Nietzsches Platon-Verständnis aus (KSA, GT, 1, 93; KSA, NF, 12, 253), das ich mit weiteren Belegen aus Platon-Werken untermauere.

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Stefan Lorenz Sorgner

tung zu5, Erziehung kann man als Vermittlung von Kultur auffassen, Kultur beinhaltet stets ein Konzept des Guten. Die hohe Wertschätzung der mousike ist für viele heutzutage nicht nachzuvollziehen. Wir gehen in die Konzerthalle, um uns an der schönen und erhabenen musikalischen Form zu erfreuen. Bei Platon war die Erziehung durch die mousike einer der wichtigsten Grundpfeiler seines idealen Staates. Dies hängt mit seiner Konzeption der Welt zusammen, die er in die sinnliche Welt des Werdens und die davon getrennte Welt des Seins und der ewigen Ideen, von denen die höchste die Idee des Guten ist, trennt. In der Welt des Seins ist das Schöne, Wahre und Gute miteinander verbunden (KSA, NF, 12, 253). Der Komponist, der die bei der Erziehung genutzten Stücke komponiert, hat zwar keinen direkten Zugang zu der Welt des Seins, hält jedoch, ohne zur Erkenntnis gelangen zu können, an den platonischen Tugenden und der Ideenlehre fest, verarbeitet sie in seinen Kunstwerken.6 Die Welt der Ideen ist auch die Welt der Begriffe. Auf genaue Weise können die platonischen Tugenden und die Ideenlehre nur begrifflich vermittelt werden. Aus diesem Grund müssen sich laut Platon Harmonie und Rhythmus dem Wort anpassen.7 Es sei es äußerst schwierig, „zu erkennen, was Rhythmos und Melodie ohne Worte ausdrücken wollen und was für einem nennenswerten Urbilde sie ähnlich sind“.8 Die Genauigkeit der Absicht ist wichtig, da die Erziehung zum tugendhaften Menschen und die Vermittlung des Wahren und Guten Aufgabe der Erziehung sind. Das Wahre und Gute und die Eigenschaften eines tugendhaften Menschen sind unveränderlich. Die Worte in der mousike sollen dieses Ideal repräsentieren. So werden das Prinzip der Spezialisierung9 und das der Assimilation10 angemessen berücksichtigt. Die Erziehung durch Musik11 ist für Platon nicht ein Hilfsmittel, vielmehr ist diese Art der Erziehung für ihn die vorzüglichste, „weil am tiefsten in die Seele Rhythmus und Harmonie eindringen, sie am stärksten ergreifen und ihre edle Haltung verleihen“.12 So ist Platons Position folgende: Rhythmus und Harmonie sind für das Hervorrufen von Gefühlen zuständig, eine Position, die von vielen Musikphilosophen vertreten wird. Jedoch sind die vermittelten Gefühle bei Instrumentalmusik nicht spezifisch. Laut Platon sittlich angemessene konkrete Gefühle, Grundhaltungen und Einsichten sind in der Musik erst vorhanden, wenn entsprechende Worte treffend gegeben sind. Darum fordert Platon die Vorherrschaft des Wortes innerhalb der mousike. Das Wahre und Gute kann durch die mousike auf schöne Weise vermittelt werden. 5 6 7 8 9

10

11

12

Vgl. Karl Heinrich Ehrenforth, Geschichte der musikalischen Bildung, Mainz 2005, 60–70. Platon, Der Staat, Stuttgart 1958, 183, Pol 401c–d. Ders., ebd., 179, Pol 398d. Ders., Nomoi, Frankfurt/M. 1991, 167ff., Nom 669e. „,Wann leistet man nun schönere Arbeit, wenn einer viele Künste ausübt oder nur eine einzige?‘ ‚In letzterem Fall!‘ ‚Und auch dies ist klar: Wenn einer den richtigen Zeitpunkt für eine Arbeit versäumt, wird aus ihr nichts.‘“ (Ders., Der Staat, 140, Pol 370b). „Oder hast du nicht gemerkt, wie eine von Jugend auf andauernde Nachahmung zu Wesen und Gewohnheit wird bei Körpern, Sprache und Denken“ (Ders., ebd., Der Staat, 174; Pol 395d). Der Begriff mousike umfasst die Medien Musik, Drama, Tanz, kann jedoch auch mit Musik übersetzt werden. Platon, Der Staat, 183; Pol 401d.

Musik und Ethik in Nietzsches Geburt der Tragödie

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Die Macht der Musik in Nietzsches Geburt der Tragödie Die Erziehung in Platons idealem Staat beruht so zu einem großen Teil auf der Musik. Er misst der Musik eine außerordentliche Stellung zu. Auch bei Nietzsche kommt der Musik eine zentrale Stellung zu. In der Geburt der Tragödie bringt Nietzsche die kulturelle Erneuerung in den Zusammenhang mit Musik; eine Kultur impliziert stets ein Konzept des Guten: „Möge uns niemand unsern Glauben an eine noch bevorstehende Wiedergeburt des hellenischen Altertums zu verkümmern suchen; denn in ihm finden wir allein unsere Hoffnung für eine Erneuerung und Läuterung des deutschen Geistes durch den Feuerzauber der Musik“ (KSA, GT, 1, 131). Explizit schreibt er am 21. Dezember 1871 in einem Brief an Erwin Rohde: „Wenn ich mir aber denke, daß nur einige Hunderte Menschen aus der nächsten Generation das von der Musik haben, was ich von ihr habe, so erwarte ich eine völlig neue Kultur!“ (KSB, 3, 256f.) Bezüglich der Möglichkeiten der Musik stimmt Nietzsche mit Platon weitgehend überein, da beide die Musik als Basis der Vermittlung und Stiftung von Kultur sehen. Bei der Erörterung des Verhältnisses von Musik und Ethik in Nietzsches Geburt der Tragödie gehe ich zunächst auf die Musik ein, widme mich dann dem Tragödienkomponisten als dem Sender und dem Rezipienten als den Empfängern der Musik, wobei ich mich auf die ethischen Aspekte der Musik besonders konzentriere. Es sei noch erwähnt, dass Nietzsche selbst betont, dass das, „was der Athener als ‚Tragödie‘ verstand“, „wir allenfalls unter den Begriff der ‚großen Oper‘ bringen“ (KSA, GMD, 1, 515).

Musik Nietzsche unterscheidet zwischen verschiedenen Arten von Musik; explizit thematisiert er dionysische und apollinische Musik. Zudem stellt er die Möglichkeit eines musiktreibenden Sokrates in den Raum. Da Sokrates innerhalb der Geburt der Tragödie als ein Apollo und Dionysos gleichgestellter Gott dargestellt wird (KSA, GT, 1, 83), wird deutlich, dass es auch sokratische Musik geben könnte. Das Sokratische wie das Apollinische stellen formende Kräfte dar13, sie weichen jedoch in ihren inhaltlichen Ausprägungen voneinander ab. Apollo wird stärker mit dem Schönen und Speziellen, Sokrates mit der Logik und dem Umfassenden identifiziert. Weiterhin unterscheidet Nietzsche zwischen den „dionysischen Griechen“ und den „dionysischen Barbaren“14. Analog dazu ließe sich auch von der dionysisch-griechischen und der dionysisch-barbarischen Musik sprechen. Wenn Nietzsche jedoch von dionysischer Musik spricht, verweist er auf die dionysisch-griechische. Das Dionysisch-Griechische scheint für eine die Veränderung bewirkende Kraft zu stehen, die eine ordnende Gegenkraft fordert, das Dionysisch-Barbarische jedoch ausschließlich für eine zerstörerische Kraft. Georges Liébert 13

14

Vgl. Stefan Lorenz Sorgner, „Nietzsche“, in: Stefan Lorenz Sorgner/Oliver Fürbeth, Musik in der deutschen Philosophie, Stuttgart 2003. Vgl. Fredrik Agell, Die Frage nach dem Sinn des Lebens, aus dem Schwedischen von Jörg Scherzer, München 2006, 127.

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vertritt eine ähnliche Vermutung, wenn er schreibt, dass das Dionysisch-Griechische stets geringe apollinische Aspekte beinhaltet.15 In meiner Darstellung thematisiere ich, wie auch Nietzsche, primär das Apollinische, das die wichtigste Gegenkraft zum Dionysischen darstellt. Schließlich macht er anhand dieser beiden Kräfte das Ideal des Kunstwerks deutlich und beschreibt die apollinische Musik als „dorische Architektonik in Tönen, aber in nur angedeuteten Tönen, wie sie der Kithara zu eigen sind“ (KSA, GT, 1, 33). Die Kithara ist traditionell das dem Apollo zugeordnete Musikinstrument, wie die Flöte das des Dionysos ist. Dionysische Musik, dadurch die Musik überhaupt, ist gekennzeichnet durch die „erschütternde Gewalt des Tones“, den einheitlichen „Strom des Melos und die durchaus unvergleichliche Welt der Harmonie“ (ebd., 1, 33). Die unterschiedlichen Eigenschaften der zwei Arten von Musik kommen zustande, weil beide unterschiedliche ontologische Bereiche der Welt imitieren. Interessant ist anzumerken, dass dem Gedanken der Nachahmung, der mimesis, bei Nietzsche wie bei Platon eine zentrale Bedeutung zukommt. Dionysische Musik ahmt den Weltwillen nach, weswegen Nietzsche sie als allgemeinen „Spiegel des Weltwillens“ (ebd., 112) bezeichnet. Apollinische Musik bilde nur die Welt der Erscheinungen ab und sei „unendlich ärmer als die Erscheinung selbst“ (ebd.). Die „Tonmalerei des neueren Dithyrambus“ (ebd.) stellt laut Nietzsche ein Beispiel für diese Art von Musik dar. Auch die musikalische Nachahmung von Vogelgesang ist klar als apollinische Musik zu bezeichnen. Dionysische Musik hingegen darf nicht „jedes mythischen Charakters entkleidet“ sein (ebd.), wie dies bei der apollinischen Musik der Fall ist. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Ausdruck ‚dionysische Musik‘ nur auf Musiktragödien verweist. Auch Instrumentalmusik fällt unter dionysische Musik. Entscheidend für ihre Klassifizierung als dionysische Musik ist, dass in in ihr der Weltwille nachgeahmt wird. Auch Sätze von Symphonien, die einen aus der Bilderwelt entlehnten Titel tragen, können dionysische Musik sein. Für die Klassifizierung ist entscheidend, ob die Musik die Sinnenwelt abbildet oder ob die Titel der Sätze „nur gleichnisartige, aus der Musik geborne Vorstellungen“ sind (ebd., 50). Wenn die Musik die Sinnenwelt nachahmt und die Titel die nachgeahmten Dinge beschreiben, dann handelt es sich um apollinische Musik. Wenn jedoch eine „Symphonie als pastorale“, ein „Satz als ‚Szene am Bach‘“, ein anderer „als ‚lustiges Zusammensein der Landleute‘“ (ebd.) bezeichnet wird, kann es sich trotzdem um dionysische Musik handeln, sofern die Gleichnisse als aus der Musik geborne Vorstellungen aufzufassen sind, die Musik jedoch die wahre Welt imitiert. So gibt es zwei Arten von Musik, die apollinische, die sich an der Bilderwelt, und die dionysische, die sich an der wahren Welt orientiert. Analog zu beiden Kompositionsmethoden gibt es zwei grundsätzlich ausgerichtete Sprachen: die eine bildet die Erscheinungswelt ab, die apollinische Sprache, und die andere die Musikwelt, die dionysische Sprache. Wenn die apollinische Sprache mit der dionysischen Musik zusammenkommt, tut sie der Musik Gewalt an. Dionysische Sprache dagegen entströmt dionysischer Musik. In Bezug auf die apollinische Musik wären die Verhältnisse genau umgekehrt.16 In 15

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Georges Liébert, Nietzsche and Music, aus dem Französischen von David Pellauer, Graham Parkes, Chicago 2004, 88. Das „Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich. In diesem Sinne dürfen wir in der Sprachgeschichte des griechischen

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der ontologischen Hierarchie sind Wirklichkeit, Musik und Begriffe klar geordnet. Mit Hilfe scholastischer Terminologie verdeutlicht Nietzsche seine Position: „die Begriffe sind die universalia post rem, die Musik aber gibt die universalia ante rem, und die Wirklichkeit die universalia in re“ (ebd., 106f.). Das Wahre und Wirkliche wird als Wesen eines Dinges beschrieben. Die Musik, er meint die dionysische, kommt dieser Kraft sehr nahe. Begriffe und Bilder befinden sich in der Welt der Sinne, die er auch als Welt der Lüge bezeichnet. Warum die enge Beziehung zwischen Musik und dem Wesen der Dinge oder der Wirklichkeit besteht, lässt sich nur durch eine weiterführende Analyse klären. Dass eine enge Beziehung zwischen den beiden Bereichen besteht, ist nicht zu bezweifeln, schließlich bezeichnet Nietzsche die Welt als „verkörperte Musik, als verkörperten Willen“ (ebd., 106), weshalb die Musik „jedes Gemälde, ja jede Szene des wirklichen Lebens und der Welt“ „in erhöhter Bedeutsamkeit hervortreten lässt“, was wiederum umso besser geschieht, „je analoger ihre Melodie dem innern Geiste der gegebenen Erscheinung ist“ (ebd.). Allein an den Begriffen wird Arthur Schopenhauers Erbe noch deutlich. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Nietzsche ausschließlich Schopenhauers Philosophie auf eine neue Weise darstellt17, obwohl auch bei Schopenhauer Welt, Wille und Musik eng miteinander verbunden sind. Im Gegensatz zu Schopenhauer, der vom Willen als dem Ding an sich und der Welt der Erscheinungen ausgeht, findet man bei Nietzsche nur eine Welt, wie er selbst im Nachlass betont.18 Wenn er den Dualismus Schopenhauers ablehnt, müssen der Wille, das Verändernde und das Treibende Bestandteil eines jeden Dinges sein. Jedes Ding hat eine Form und eine Ordnung, jedoch trägt es ebenso in sich den Grund für Veränderung und Formlosigkeit. Die Form eines jeden Dinges ist unterschiedlich, jedoch ist das Dynamische in allen Dingen enthalten, alle Dinge können miteinander interagieren und bestehen aus einer, nimmt man einen traditionellen philosophischen Terminus, Substanz, die er als das Ur-Eine bezeichnet. Diese Substanz besteht nicht in etwas Unveränderlichem, sondern in dem ständigen Antrieb zur Veränderung, dem Ur-Willen. Das Wesen jedes Dinges ist dieser Ur-Wille, der auch der Antrieb der ständigen Veränderung aller Dinge ist. Der Ur-Wille stellt bei Nietzsche keine solche Einheit dar wie bei Schopenhauer, so dass das Wesen aller Dinge eins ist. Trotzdem kann auch er den Ur-Willen als das UrEine beschreiben, weil das Wesen eines jeden Dinges der Ur-Wille ist, der nicht ontologisch eine Einheit darstellt, sondern nur darin, dass das Wesen aller Dinge in einer Art von Substanz, nämlich dem Ur-Willen als dem ständigen Antrieb zur Veränderung, besteht. Die Musik wie die Wirklichkeit unterliegen der Veränderung. Ohne Veränderung gibt es weder Musik noch Wirklichkeit. Weiterhin ist die Musik weniger spezifisch als der Begriff, weswegen die Musik dionysischer ist als die Sprache. Dadurch, dass das

17 18

Volkes zwei Hauptströmungen unterscheiden, je nachdem die Sprache die Erscheinungs- und Bilderwelt oder die Musikwelt nachahmte“ (KSA, GT, 1, 49). Vgl. Stefan Lorenz Sorgner, Nietzsche, 115–134. „Hier fehlt der Gegensatz einer wahren und einer scheinbaren Welt: es gibt nur eine Welt, und diese ist falsch, grausam, widersprüchlich, verführerisch, ohne Sinn […] Eine so beschaffene Welt ist die wahre Welt“ (KSA, NF, 13, 193).

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Ur-Eine jedoch mit dem Veränderlichen und Widersprüchlichen beschrieben werden kann und die Musik die Wirklichkeit abbildet, ist auch die resultierende Musik widersprüchlich in Bezug auf eine mögliche Ordnung, was wiederum die von Nietzsche beschriebene Verbindung zwischen Dissonanz und dionysischer Musik erläutert. Eine Ordnung könnte eine Tonart sein. Wenn innerhalb eines Stückes auf Töne zurückgegriffen wird, die nicht zur Tonart gehören, stehen die Töne im Widerspruch zu der Tonart. „Musik und tragischer Mythus sind in gleicher Weise Ausdruck der dionysischen Befähigung eines Volkes und voneinander untrennbar. Beide entstammen einem Kunstbereiche, der jenseits des Apollinischen liegt; beide verklären eine Region, in deren Lustakkorden die Dissonanz ebenso wie das schreckliche Weltbild reizvoll verklingt; beide spielen mit dem Stachel der Unlust“ (ebd., 154). Hiermit ist mehr ausgesagt, als dass das Dionysische mit der Dissonanz verbunden ist und dadurch mit dem „Stachel der Unlust“ (ebd.) spielt, nämlich dass nicht nur die Musik, sondern auch der tragische Mythos mit dem Dionysischen verbunden ist. Weiter wird deutlich, dass die Dissonanz mit Unlust im Zusammenhang steht, Unlust jedoch nicht notwendiger etwas zu Verneinendes ist. Aus dem ‚Stachel der Unlust‘ resultiert das Empfinden von Lust, sowohl bei der Musik als auch beim tragischen Mythos. Bezüglich der Musik ist festzuhalten, dass dionysische Musik Dissonanzen beinhalten und mit ihnen spielen muss. Nachdem der Bezug der Musik zum Wahren abgesteckt ist, bleibt der Bezug zum tragischen Mythos zu klären. Der tragische Mythos lässt sich in die Tragödie und den Mythos aufgliedern. Diese Unterscheidung trifft Nietzsche. Er stellt den Mythos zwischen die Musik und die Tragödie.19 Dabei erzählt die Tragödie von den „Müttern des Seins“ „Wahn, Wille, Wehe“ (KSA, GT, 1, 132) und der musikalische Aspekt der Tragödie vermag „eine so eindringliche und überzeugende metaphysische Bedeutsamkeit“ zu geben, „wie sie Wort und Bild, ohne jene einzige Hilfe, nie zu erreichen vermögen“ (ebd., 134). Nietzsche beschreibt die Entstehung des tragischen Mythos: „[D]ie Musik läßt sodann das gleichnisartige Bild in höchster Bedeutsamkeit hervortreten. Aus diesen an sich verständlichen und keiner tieferen Beobachtung unzugänglichen Tatsachen erschließe ich die Befähigung der Musik, den Mythus, d.h. das bedeutsamste Exempel zu gebären und gerade den tragischen Mythus: den Mythus, der von der dionysischen Erkenntnis in Gleichnissen redet“ (ebd., 107). Die dionysische Musik als direktes Abbild des Ur-Einen ist von primärer Bedeutung. Sie gebiert den Mythos, wobei das Verhältnis bei der Rezeption der Tragödie vielleicht andersherum erscheinen mag20, dass nämlich die Musik des Dramas wegen da ist. Interessant ist, dass Richard Wagner diese andere, aus Nietzsches Sicht unzutreffende Position vertritt. Wagner macht in Oper und Drama deutlich, dass die Musik dem Drama 19

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„Die Tragödie stellt zwischen die universale Geltung ihrer Musik und den dionysisch empfänglichen Zuhörer ein erhabenes Gleichnis, den Mythus“ (KSA, GT, 1, 134). „Im Grunde ist ja das Verhältnis der Musik zum Drama gerade das umgekehrte: die Musik ist die eigentliche Idee der Welt, das Drama nur ein Abglanz dieser Idee, ein vereinzeltes Schattenbild derselben. Jene Identität zwischen der Melodienlinie und der lebendigen Gestalt, zwischen der Harmonie und den Charakterrelationen jener Gestalt ist in einem entgegengesetzten Sinne wahr, als es uns, beim Anschaun der musikalischen Tragödie, dünken möchte“ (KSA, GT, 1, 138).

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dienen solle.21 Trotzdem lobt Nietzsche Wagner in der Geburt der Tragödie und hofft, dass er maßgeblich an der Erschaffung eines neuen tragischen Zeitalters beteiligt sein werde. Später nimmt dieser Punkt eine prominente Stellung in seinen Argumenten gegen Wagner ein. In der Geschichte der Oper ist laut Nietzsche davon ausgegangen worden, dass die Musik als Mittel das Drama unterstützt. Dies läge an der Vorherrschaft des Christentums, das, wie es in späteren Schriften heißt, Platonismus für das Volk sei. Bei Platon befinden sich Begriffe in enger Verbindung mit der Ideenwelt, in der die Seelen sich vor dem Eintreten in diese Welt befanden, wo sie Ideen und damit Begriffe geschaut haben. Die Vorstellung sei, so Nietzsche traditionell auch für das Verhältnis von Drama und Musik oder besser Oper und Musik relevant gewesen. Da Begriffe mit Hilfe der Seele in der Ideenwelt wahrgenommen worden seien und nur durch sie das Wahre und Gute auf eindeutige Weise vermittelt werden könne, seien Begriffe von größerem Wert als die Musik. Aus diesem Grund sollen bei Platon die Begriffe die Musik im Drama beherrschen.22 Gegen die Vorherrschaft der Begriffe im Musikdrama wendet sich Nietzsche vehement.23 So hängt Nietzsches Ablehnung der Vorherrschaft der Begriffe und des Dramas als bestimmenden Faktors der Oper auch damit zusammen, dass er sich gegen den platonischen Dualismus und für ein letztendlich dynamisch, monistisches Weltbild ausspricht.24 Jedoch bleibt die Frage offen, inwiefern Nietzsche in der Geburt der Tragödie konsistent einen Monismus vertreten haben kann. Das dynamische Wesen aller Dinge stehe, so Nietzsche, in einem engen Verhältnis zur Musik, weshalb sich aus dieser auch das Drama herausbilden soll. Dass dieses das angemessene Verhältnis sei, werde auch am griechischen Volkslied deutlich. „Die Melodie gebiert die Dichtung aus sich, und zwar immer wieder von neuem; nichts andres will uns die Strophenform des Volksliedes sagen“ (KSA, GT, 1, 48f.). Obwohl die Melodie stets die gleiche bleibt, können unterschiedliche Texte zu ihr gesungen werden. Musik gebiert unterschiedliche Worte zur gleichen Melodie. So wird der Sicht vorgebeugt, dass die Begriffe, die Worte nicht als ewig gelten und auf eine ewige Welt unveränderlicher Ideen verweisen, sondern in jedem Kunstwerk die Erkenntnis mitgeteilt wird, dass sich im Wesen aller Dinge der Ur-Wille befindet. 21

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„Wenn ich diese Formel nun dennoch mit stärkerer Betonung ausspreche, wenn ich also erkläre, der Irrthum in dem Kunstgenre der Oper bestand darin, daß ein Mittel des Ausdruckes (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdruckes (das Drama) aber zum Mittel gemacht war, so geschieht dieß keinesweges in dem eitlen Wahne, etwas Neues gefunden zu haben, sondern in der Absicht, den in dieser Formel aufgedeckten Irrthum handgreiflich deutlich hinzustellen, um so gegen die unselige Halbheit zu Felde zu ziehen, die sich jetzt in Kunst und Kritik bei uns ausgebreitet hat“ (Richard Wagner, Sämtliche Schriften und Dichtungen (SSD), Leipzig 1911, 3. Bd., 417). Nietzsche deutet diesen Aspekt Platons: „Denn die Worte seien um so viel edler als das begleitende harmonische System, um wieviel die Seele edler als der Körper sei“ (KSA, GT, 1, 123). „Mit dem populären und gänzlich falschen Gegensatz von Seele und Körper ist freilich für das schwierige Verhältnis von Musik und Drama nichts zu erklären und alles zu verwirren“ (KSA, GT, 1, 139). Vgl. Stefan Lorenz Sorgner, Metaphysics without Truth, München 1999.

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Bislang ist festgestellt, welche Arten von Musik es gibt; für die eigentliche, die dionysische Musik wurde festgestellt, dass sie sowohl als Instrumentalmusik als auch als Musiktragödie vorkommen kann. In welcher Hierarchie befinden sich die unterschiedlichen Arten der dionysischen Musik? Was ist das Kriterium für die Hierarchie? Es ist zu vermuten, dass dieses Kriterium mit der ethischen Wirkung der Musik zu tun hat. Bereits in dieser Periode hat Nietzsche die enge Kopplung der verschiedenen akademischen Disziplinen an das Leben betont.25 Kunst und damit auch die Musik ist unter dem Aspekt des Lebens zu betrachten. Der Begriff ‚Leben‘ kann auf das reine Überleben verweisen, er kann aber auch auf menschliches Leben allgemein, auf menschliches und tierisches Leben, auch auf das menschlich-gute Leben verweisen. Spätere Ausführungen zu einer immanenten Form der Theodizee legen nahe, dass meist das gute Leben gemeint ist, wenn Nietzsche vom Leben spricht. Der unmittelbare Bezug auf das Leben wird jedoch nicht nur bei der Rezeption der Musik deutlich, sondern bereits bei ihrer Erschaffung.

Musiktragödiendichter Der dionysische Künstler, damit meint Nietzsche primär den Dichter der Musiktragödie, hat Zugang und wird eins mit dem Ur-Einen, somit der Wirklichkeit.26 Die Konzeption des Schaffensprozesses erinnert an die Eigenschaften der wahren ‚Musiker‘ bei Plotin, die die Fähigkeit haben zum Einen, zum hen, aufzusteigen.27 In vielen Bereichen ist Nietzsches Verständnis Platons neuplatonisch ausgerichtet.28 Im Gegensatz zu Plotin, bei dem sich keine positiven Aussagen bezüglich des Einen finden, identifiziert Nietzsche das Eine mit dem Ur-Willen, der Antriebskraft zur ständigen Veränderung, der das Wesen aller Dinge ausmacht. Der Künstler wird eins mit dem Ur-Einen, das das Dynamische, das Nicht-mit-sich-Eins-Sein, das Widersprüchliche, das Treibende und das Überwindende ist. Das Ur-Eine ist das Wesen aller Dinge, das in einer Art von Substanz besteht, dem Ur-Willen als ständigem Antrieb zur Veränderung. Eins zu werden mit dem Ur-Einen ist identisch mit dem Eins-Werden mit seinem eigenen Wesen, indem man alle Eindrücke der Sinneswelt ausblendet. Wenn man die Eindrücke der Sinneswelt ausblendet, verschwindet auch das eigene Subjektsein, weshalb Nietzsche den dionysischen Zustand auch als „das Zerbrechen des Individuums und sein Einswerden mit dem Ursein“ (ebd., 62) beschreiben kann. Der dionysische Künstler, der die Fähigkeit hat, den dionysischen Zustand zu erreichen, nutzt ihn zur Schaffung dionysischer Kunstwerke, der Produktion des Abbildes des „Ur-Einen als Musik“ (ebd., 44). Durch das Einssein mit dem Ur-Einen wird der Musiktragödiendichter übervoll und fließt über, wodurch er seine Musiktragödien schafft. Der Vorgang kann analog zu der 25

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„[D]ie Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens“ (KSA, GT, 1, 14). „Er ist zuerst, als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden und produziert das Abbild dieses Ur-Einen als Musik“ (KSA, GT, 1, 43f). Vgl. Stefan Lorenz Sorgner, „Plotinus and Minimal Music“, in: De Musica, Anno IX, 2005. Ellen Weber-Colonius, Nietzsche und Plotin, Kassel 1941, 75f.

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Erschaffung der Welt durch die Emanation des Einen bei Plotin gesehen werden. Die Eigenschaften, die bei Plotin mit dem schöpferischen Einen verbunden waren, erlangt bei Nietzsche der aus dem Überfluss schöpferisch tätige Künstler. An diesem Vergleich wird die Unterscheidung des Schöpferischtätigseins aus Überfülle und aus Mangel deutlich. Sie tritt beim späten Nietzsche in der Unterscheidung des Klassischen und Romantischen auf und nimmt dort eine exponierte Stellung ein. Aber bereits in der Geburt der Tragödie bezieht er die sie auf die Physiologie der Künstler. Ein starker, gesunder Künstler schafft seine Tragödien aus dem Überfluss, ein kranker, entarteter aus dem Mangel.29 Er hat mit der Unterscheidung zwischen dem Schaffendtätigsein aus überströmender Gesundheit30 und der physiologischen Ermüdung31 eine in seiner Kunstphilosophie zentrale Unterscheidung entwickelt. Ein weiterer Aspekt bei der Schaffung der Tragödie durch den Dichter ist der nichtmusikalische. Dabei ist zu beachten, dass alle geschaffenen Formen, wie auch der tragische Mythos, Lügen darstellen: „Die Metaphysik, die Moral, die Religion, die Wissenschaft – sie werden in diesem Buche nur als verschiedne Formen der Lüge in Betracht gezogen: mit ihrer Hilfe wird ans Leben geglaubt. ‚Das Leben soll Vertrauen einflößen‘: die Aufgabe, so gestellt, ist ungeheuer. Um sie zu lösen, muß der Mensch schon von Natur Lügner sein, er muß mehr als alles andere Künstler sein. Und er ist es auch: Metaphysik, Religion, Moral, Wissenschaft – alles nur Ausgeburten seines Willens zur Kunst, zur Lüge, zur Flucht vor der ‚Wahrheit‘, zur Verneinung der ‚Wahrheit‘“ (KSA, NF, 13, 193). Die Wahrheit ist der ständige Wandel, jede Ordnung und Form stellt eine Art der Lüge dar. Somit ist auch der tragische Mythos eine Erscheinungsform der Lüge, die vom Künstler erschaffen werden muss. Zwar sollen sich die Worte der Tragödie aus der Musik ergeben, trotzdem stellen die Handlung und die handelnden Personen erschaffene Formen dar, die in der wahren Welt nicht enthalten sind. Dies impliziert, dass der Tragödiendichter nicht nur eins mit dem Ur-Einen gewesen sein muss, was durchaus mit Leiden verbunden ist, schließlich ist das Ur-Eine widersprüchlich und unterliegt der 29

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An dieser Wortwahl werden Bezüge zum Kunstverständnis des Dritten Reiches deutlich, in dem der Ausdruck ‚entartete Kunst‘ große Bedeutung hat. Damit will ich jedoch weder sagen, dass Nietzsche geistiger Brandstifter, noch geistiger Urvater des dritten Reiches war. Er war Antiantisemit, und kann mit den nationalsozialistischen Greueln nicht in Verbindung gebracht werden. Außerdem ist die enge Kopplung der Kunst an das gute und das schlechte Leben nicht erst im Dritten Reich, sondern in jeder Kultur, anzutreffen (vgl. Stefan Lorenz Sorgner, „Nietzsche & Germany“, in: Philosophy Now, Issue 29, Oktober/November 2000, 10ff.). „[W]oher müßte dann die Tragödie stammen? Vielleicht aus der Lust, aus der Kraft, aus überströmender Gesundheit, aus übergroßer Fülle? Und welche Bedeutung hat dann, physiologisch gefragt, jener Wahnsinn, aus dem die tragische wie die komische Kunst erwuchs, der dionysische Wahnsinn? Wie? Ist Wahnsinn vielleicht nicht notwendig das Symptom der Entartung, des Niedergangs, der überspäten Kultur?“ (KSA, GT, 1, 16). „Wie? könnte vielleicht, allen ‚modernen Ideen‘ und Vorurtheilen des demokratischen Geschmacks zum Trotz, der Sieg des Optimismus, die vorherrschend gewordene Vernünftigkeit, der praktische und theoretische Utilitarismus, gleich der Demokratie selbst, mit der er gleichzeitig ist, – ein Symptom der absinkenden Kraft, des nahenden Alters, der physiologischen Ermüdung sein? Und gerade nicht – der Pessimismus?“ (KSA, GT, 1, 16f.).

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ständigen Veränderung, die notwendig mit Leiden verbunden ist. Vielmehr schafft er aus der Überfülle die Musiktragödie. Außerdem muss er neue Formen für die vorhandenen tragischen Mythen erstellen. Die tragischen Mythen, die die antiken Dichter behandelten, waren durch die antike Religion gegeben. Dass sie nicht neu zu schaffen waren, war für Nietzsche kein Problem. Vielmehr schien es ihm eine Bedingung für große Kunst zu sein. Im Nachlass der achtziger Jahre heißt es: „Die Konvention ist die Bedingung der großen Kunst, nicht deren Verhinderung“ (ebd., 297). Entstanden war die antike Religion auf ähnliche Weise wie eine einzelne Tragödie, nur mit dem Unterschied, dass ein gesamtes Volk daran beteiligt war. Die Bewohner des archaischen Griechenlands sollen sensibel das Leid empfunden haben, um in der Lage gewesen zu sein, das Leid zu ertragen und die olympische Götterwelt zu entwickeln.32

Musiktragödienrezeption Der tragische Mythos und die dionysische Musik bewirken auch ein Lustempfinden bei den Rezipienten33, jedoch sollte dies nicht der primäre Grund der Rezeption sein. Deutlich lehnt Nietzsche den primitiven (vielleicht aristippischen) Hedonismus als ethisches Ideal und als Aufgabe der Musik ab. Er darf nicht mit dem aufgeklärten, epikureischen Hedonismus verwechselt werden. Hedonismus ist die ethische Theorie, die von der Maximierung der Lust, der Vermeidung von Unlust oder einer Verbindung beider Maximen ausgeht. Aufgeklärter Hedonismus bemüht sich, sein Ziel unter Berücksichtigung normaler Lebensdauer zu erreichen, wohingegen der primitive Hedonismus Vergangenheit und Zukunft ausblendet und ausschließlich auf die momentane Lust fixiert ist. Den primitiven lehnt Nietzsche ab, indem er ihn mit dem Sklavenstand assoziiert. Die „Heiterkeit des Sklaven“ bestehe darin „nichts Schweres zu verantworten, nichts Großes zu erstreben, nichts Vergangenes oder Zukünftiges höher zu schätzen“ als das Gegenwärtige (KSA, GT, 1, 78). Außerdem sei „diese weibische Flucht vor dem Ernst und dem Schrecken, dieses feige Sichgenügenlassen am bequemen Genuߓ (ebd.) keine erhabene, einem Aristokraten gebührende Handlungsgrundlage. Zwar hat Nietzsche zu dieser Zeit seine Theorie der Herren- und Sklavenmoral noch nicht entwickelt, jedoch sind 32

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„Um leben zu können, mußten die Griechen diese Götter, aus tiefster Nötigung, schaffen: welchen Hergang wir uns wohl so vorzustellen haben, daß aus der ursprünglichen titanischen Götterordnung des Schreckens durch jenen apollinischen Schönheitstrieb in langsamen Übergängen die olympische Götterordnung der Freude entwickelt wurde: wie Rosen aus dornigem Gebüsch hervorbrechen. Wie anders hätte jenes so reizbar empfindende, so ungestüm begehrende, zum Leiden so einzig befähigte Volk das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe, von einer höheren Glorie umflossen, in seinen Göttern gezeigt worden wäre. Derselbe Trieb, der die Kunst ins Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins, ließ auch die olympische Welt entstehen, in der sich der hellenische ‚Wille‘ einen verklärenden Spiegel vorhielt. So rechtfertigen die Götter das Menschenleben, indem sie es selbst leben – die allein genügende Theodicee!“ (KSA, GT, 1, 36). „Die Lust, die der tragische Mythus erzeugt, hat eine gleiche Heimat, wie die lustvolle Empfindung der Dissonanz in der Musik“ (KSA, GT, 1, 152).

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bereits zentrale Elemente dieser Theorie in seinem Denken enthalten. Mit der zu verachtenden Form der „greisenhaften und sklavenmäßigen Daseinslust“ sei jedoch das sechste Jahrhundert v. Chr. „mit seiner Geburt der Tragödie, seinen Mysterien, seinen Pythagoras und Heraklit“ nicht zu verstehen und nicht in Einklang zu bringen (ebd.). Dass Nietzsche den primitiven Hedonismus als Primärgrund der Musiktragödienrezeption ablehnt, wird auch anhand seiner Aussagen zur zeitgenössischen Musik deutlich, die er mit Ausnahme Wagners ablehnt. Hier greift er wie in Bezug auf den Tragödiendichter in seinen Argumenten auf den Gesundheitsbegriff zurück. Die deutsche, romantische Musik sei eine „Nervenverderberin ersten Ranges“ (ebd., 1, 20). Gerade eine solche Musik sei „in ihrer doppelten Eigenschaft als berauschendes und zugleich benebelndes Narkotikum“ „doppelt gefährlich bei einem Volke, das den Trunk liebt und die Unklarheit als Tugend ehrt“, was beides laut Nietzsche auf die Deutschen zutrifft (ebd., 20). Die gegenwärtige deutsche Musik berausche und beneble bloß und sei „entweder Aufregungs- oder Erinnerungsmusik, d.h. entweder ein Stimulanzmittel für stumpfe und verbrauchte Nerven oder Tonmalerei“ (ebd., 114). Da die Tonmalerei mit Sklaverei an den Erscheinungen zu identifizieren sei, kann sie die Erkenntnis des UrEinen nicht vermitteln, wie dies durch den dionysischen Künstler geschehe34 und wie dies Aufgabe der eigentlichen, der dionysischen Musik sei. Interessant ist, dass Nietzsche der gegenwärtigen deutschen Musik mit Ausnahme der Wagners genau die negativen Eigenschaften zuspricht, die er später auch in dessen Musik erkennt. Festzuhalten ist jedoch, dass er in der Geburt der Tragödie, wie der mittlere Platon, den primitiven Hedonismus als primären Grund der Musikrezeption ablehnt. Liébert hat diese Erkenntnis in treffende Worte gefasst: „als guter deutscher Pfarrerssohn konnte er sich nicht ohne zu erschaudern vorstellen, dass seine geliebten Griechen mit gutem Gewissen ins Theater gehen konnten, um sich zu amüsieren“ (Übersetzung – S. L. S.).35 Unklar ist jedoch weiterhin, welche Kunstgattung er als die wertvollste erachtet. Da Kunst bei Nietzsche direkt mit dem guten Leben in Verbindung steht, ist zu erwarten, dass durch die Erkenntnis der wertvollsten Kunst das Verhältnis von Kunst und Ethik und im Speziellen der Musik und Ethik deutlich wird. Folgende Aussage Nietzsches macht auf entscheidende Weise sein Konzept der höchsten Form von Musik und auch der Kunst allgemein deutlich: „So wäre wirklich das schwierige Verhältnis des Apollinischen und des Dionysischen in der Tragödie durch einen Bruderbund beider Gottheiten zu symbolisieren: Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schließlich die Sprache Dionysus: womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt erreicht ist“ (ebd., 139f.). Es ist somit das tragi34

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„[W]o die Musik als Diener, das Textwort als Herr betrachtet, die Musik mit dem Körper, das Textwort mit der Seele verglichen wird? wo das höchste Ziel bestenfalls auf eine umschreibende Tonmalerei gerichtet sein wird, ähnlich wie ehedem im neuen attischen Dithyrambus? wo der Musik ihre wahre Würde, dionysischer Weltspiegel zu sein, völlig entfremdet ist, so daß ihr nur übrig bleibt, als Sklavin der Erscheinung, das Formenwesen der Erscheinung nachzuahmen und in dem Spiele der Linien und Proportionen eine äußerliche Ergötzung zu erregen“ (KSA, GT, 1, 126). „[A]s a good son of a German pastor, he never could think without shudder that his dear Greeks might in all good conscience go to the theatre for amusement“ (Georges Liébert, Nietzsche and Music, Chicago 2004, 106).

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sche Musikdrama, das die höchste Form der Kunst darstellt, womit deutlich wird, dass es nicht die reine Instrumentalmusik ist, die Nietzsche in der Geburt der Tragödie hochhält, sondern eine Form des Musikdramas. Liéberts Position, dass Nietzsche in der Geburt der Tragödie ein schwach verstecktes Plädoyer für die absolute Musik vorträgt, ist so nicht zuzustimmen36. Gleiches gilt für Theo Meyers Aussage, dass „bei Nietzsche die Musik die erste Stelle“ einnehme.37 Dass für Nietzsche die Instrumentalmusik nicht die höchste Kunstform ist, wird auch in Das griechische Musikdrama deutlich: „[W]ir sind gleichsam durch die absoluten in Stücke zerrissen und genießen nun auch als Stücke, bald als Ohrenmenschen, bald als Augenmenschen usw.“ (KSA, GMD, 1, 518). Weiter erläutert er: „[A]us dem Volkslied aber ist die gesammte antike Dichtkunst und Musik hervorgewachsen. Zwar giebt es auch reine Instrumentalmusik: doch machte sich in ihr nur das Virtuosenthum geltend. Der echte Grieche empfand bei ihr immer etwas Unheimisches, etwas aus der asiatischen Fremde Importirtes. Die eigentlich griechische Musik ist durchaus Vokalmusik: das natürliche Band der Wort- und Tonsprache ist noch nicht zerrissen: und dies bis zu dem Grade, daß der Dichter nothwendig auch der Komponist seines Liedes war. Die Griechen lernten ein Lied gar nicht anders kennen, als durch den Gesang: sie empfanden aber auch beim Anhören das innigste Eins-sein von Wort und Ton. Wir, die wir unter dem Einflusse der modernen Kunstunart, der Vereinzelung der Künste aufgewachsen sind, sind kaum mehr im Stande, Text und Musik zusammen zu genießen. Wir haben uns eben gewöhnt, getrennt zu genießen, den Text bei der Lektüre – weshalb wir unserem Urtheil nicht trauen, wenn wir ein Gedicht vorlesen, ein Drama vorspielen sehen und nach dem Buch verlangen – und die Musik beim Anhören. Auch finden wir den absurdesten Text erträglich, wenn nur die Musik schön ist: etwas was einem Griechen so recht eigentlich als Barbarei vorkommen würde“ (ebd., 529). Was seinen hochgeschätzten Griechen als Barbarei vorkommen würde, kann er selbst nicht befürwortet haben. Es ist jedoch richtig, dass laut Nietzsche der musikalische Aspekt stets der bestimmende in einer Musiktragödie bleiben muss. Zwar spricht er von einer „prästabilierten Harmonie, die zwischen dem vollendeten Drama und seiner Musik waltet“ (KSA, GT, 1, 137), durch die „das Drama einen höchsten, für das Wortdrama sonst unzugänglichen Grad von Schaubarkeit“ erreicht (ebd.). Trotzdem soll das musikalische Moment, das direkt an die Wahrheit des Werdens gekoppelt ist, das primäre Moment sein.38 Die Worte und Bilder der Dichtung sollen sich ausschließlich aus der Musik ergeben, was auch an Nietzsches Ablehnung der Oper, in der Dichtung und Worte die Musik beherrschen, deutlich wird. Wenn Worte die Musik beherrschen, wird dadurch ontologisch der hohe Wert der ewigen, aus der Ideenwelt stammenden Begriffe vermittelt. Eine solche Welt gibt es aber laut Nietzsche nicht, 36 37 38

Georges Liébert, Nietzsche and Music, Chicago 2004, 93. Theo Meyer, Nietzsche und die Kunst, Tübingen 1993, 104. „Die Dichtung des Lyrikers kann nichts aussagen, was nicht in der ungeheuersten Allgemeinheit und Allgültigkeit bereits in der Musik lag, die ihn zur Bilderrede nötigte. Der Weltsymbolik der Musik ist eben deshalb mit der Sprache auf keine Weise erschöpfend beizukommen, weil sie sich auf den Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen des Ur-Einen symbolisch bezieht, somit eine Sphäre symbolisiert, die über alle Erscheinung und vor aller Erscheinung ist“ (KSA, GT, 1, 51).

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sondern nur eine diesseitige Welt des beständigen Werdens. Damit die Wahrheit innerhalb der Musiktragödien deutlich wird, ist es wichtig, dass der Aspekt des beständigen Werdens durch die Herrschaft der Musik über die Dichtung klar hervortritt. Der Aspekt des Werdens und der Wahrheit wird in der Musiktragödie zum großen Teil durch den Chor repräsentiert. Historisch hat sich die Musiktragödie aus dem Chor entwickelt; damit die Diesseitigkeit der Welt durch die Musiktragödie vermittelt wird, sollten das musikalische Element und der Chor primär sein. Die Diesseitigkeit der Welt zu vermitteln ist wiederum wertvoll, damit man sich nicht auf ein nicht-existentes Leben im Jenseits vertröstet. Dionysische Musik hat weitere Wirkungen, die eng mit dem Satyrchor verbunden sind. Der Chor steht der Realität am nächsten.39 Daher ist in ihm keine Ordnung und somit Hierarchie enthalten, auch jede soziale Stellung im Chor wird irrelevant.40 Aus dem Chor entsteht die apollinische Bilderwelt.41 Aufgrund seiner fundamentalen Bedeutung, erachtet Nietzsche den Chor und die von diesem vorgetragene dionysische Musik als ursprünglicher der Tragödie zugeordnet als die „eigentlich ‚dramatische‘ Aktion“42. Eine griechische Tragödie besteht aus den Chorpartien und Abschnitten, in denen die Protagonisten bestimmend sind. Bei der Schaffung der Oper durch Mitglieder des Florentiner Camerate, auf theoretischer Ebene durch Vincenzo Gallilei43, glaubte man, dass man im antiken Theater während beider Abschnitte gesungen hätte. Heute hält man dies für falsch und meint, dass nur die Chorpartien gesungen worden seien. Von solcher Auffassung schien Nietzsche nicht weit entfernt zu sein, schließlicht betont er in Das griechische Musikdrama: „Hier genüge nur die Thatsache: nicht alles was gedichtet war, konnte gesungen werden, und mitunter wurde auch, wie in unserem Melodram, gesprochen, unter der Begleitung der Instrumentalmusik. Aber jenes Sprechen haben wir uns immer als Halbrecitativ vorzustellen, so daß der ihm eigenthümliche dröhnende Ton keinen Dualismus in das Musikdrama brachte; vielmehr war auch in der Sprache der dominierende Einfluß der Musik mächtig geworden“ (KSA, GMD, 1, 530f.). So stimmt seine Deutung mit der gegenwärtigen vorherrschenden Meinung durchaus überein. Das besonders stark vom Chor vorgetragene Dionysische ist ein essentieller Bestandteil der höchsten Art von Kunst und vermittelt das Wahre. Mit dieser Erkenntnis haben wir noch nicht die ethische Bedeutung der Vermittlung des Wahren erkannt. Das Wahre ist an sich nicht wertvoll, und Kunst ist direkt an das gute Leben und an das gebunden, was gut für das Leben (zumindest) der Aristokraten ist, denn es ist fraglich, ob die brei39

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„[D]ie einzige ‚Realität‘ eben der Chor ist, der die Vision aus sich erzeugt und von ihr mit der ganzen Symbolik des Tanzes, des Tones und des Wortes redet“ (KSA, GT, 1, 62–63). „[D]er dithyrambische Chor ist ein Chor von Verwandelten, bei denen ihre bürgerliche Vergangenheit, ihre soziale Stellung völlig vergessen ist: sie sind die zeitlosen, außerhalb aller Gesellschaftssphären lebenden Diener ihres Gottes geworden“ (KSA, GT, 1, 61). „[D]ie griechische Tragödie als den dionysischen Chor zu verstehen, der sich immer von neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt entladet“ (KSA, GT, 1, 62). Dieter Jähnig, Welt-Geschichte: Kunst-Geschichte, Köln 1975, 146. Vgl. Stefan Lorenz Sorgner, „Grundlagen der Medienethik“, in: Nikolaus Knoepffler u.a., Einführung in die Angewandte Ethik, Freiburg/Br. 2006, 146f.

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te Masse der Menschen die Vermittlung der Vergänglichkeit ertragen kann.44 Der Chor jeder Tragödie vermittelt den Rezipienten einen Trost, der darin besteht, dass „das Leben im Grunde der Dinge trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei“ (KSA, GT, 1, 56).45 Daran wird deutlich, dass die Vermittlung des dionysischen Wahren der Musiktragödie folgende ethische Bedeutungen hat. Sie vermittelt den Menschen, dass es nur diese eine Welt gibt, die sich ständig verändert und tröstet zugleich über die Erkenntnis von Leid und Vergänglichkeit, indem sie vermittelt, dass das Wahre und das Wesen aller Dinge „unzerstörbar mächtig und lustvoll sei“. Die Vermittlung des Trostes ist Bestandteil der Förderung des Guten durch die Tragödie, und die Vermittlung der Unzerstörbarkeit auch unseres eigenen Wesens gibt eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn unseres Lebens46, da auch dieses zwar nicht auf der persönlichen Ebene, aber in seinem Wesen „unzerstörbar mächtig uns lustvoll“ ist. Dass dieser Trost ein essentieller Bestandteil der Tragödie ist, betont Nietzsche explizit: „In der alten Tragödie war der metaphysische Trost am Ende zu spüren gewesen, ohne den die Lust an der Tragödie überhaupt nicht zu erklären ist: am reinsten tönt vielleicht im Ödipus auf Kolonos der versöhnende Klang aus einer anderen Welt“ (ebd., 114). Für Nietzsche ist die Vereinigung von Dionysischem und Apollinischem im tragischen Musikdrama die höchste Form der Kunst, deshalb ist nicht nur der dionysische Aspekt der Wahrheit zu vermitteln, sondern auch der apollinische der Lüge47, denn nur als ästhetisches Phänomen sind Dasein und Welt ewig gerechtfertigt. Martha C. Nussbaum ist zuzustimmen, wenn sie schreibt: „Gewöhnlich wird angenommen, dass diese Bemerkung eine Art von amoralischer Ästhetisierung der Existenz impliziert, eine spielerische Umwendung aller sittlicher und politischer Kategorien um losgelöster ästhetischer Werte willen. Wir haben bereits erkannt, dass Nietzsche das Abkoppeln des Ästhetischen vom Praktischen verachtet, und er sich über den Begriff der Kunst um der Kunst willen lustig macht: wir müssen diese Aussage im Kontext seiner eigenen Ästhetik, die stark praktisch ausgerichtet ist, interpretieren – dies wurde jedoch nur selten

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„Eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus Fülle des Daseins? Gibt es vielleicht ein Leiden an der Überfülle selbst? Eine versucherische Tapferkeit des schärfsten Blicks, die nach dem Furchtbaren verlangt, als nach dem Feinde, dem würdigen Feinde, an dem sie ihre Kraft erproben kann? an dem sie lernen will, was ‚das Fürchten‘ ist? Was bedeutet, gerade bei den Griechen der besten, stärksten, tapfersten Zeit, der tragische Mythus?“ (KSA, GT, 1, 12). „[U]ns jede wahre Tragödie entläßt – daß das Leben im Grunde der Dinge trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in leibhafter Deutlichkeit als Satyrchor“ (KSA, GT, 1, 56); „Vorgefühl einer höchsten Lust, zu der der Weg durch Untergang und Verneinung führt, so als ob der innerste Abgrund der Dinge zu ihm vernehmlich spräche“ (ebd., 135); „metaphysische Freude am Tragischen ist eine Übersetzung der instinktiv unbewußten dionysischen Weisheit in die Sprache des Bildes“ (ebd., 108). Vgl. Stefan Lorenz Sorgner, „Vattimo, Metaphysik und der Sinn des Lebens“, in: Grenzgebiete der Wissenschaft 53 (2004) 2. „Wir haben Lüge nötig, um über diese Realität, diese ‚Wahrheit‘ zum Sieg zu kommen, das heißt, um zu leben … Daß die Lüge nötig ist, um zu leben, das gehört selbst noch mit zu diesem furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins“ (KSA, NF, 13, 193).

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unternommen“ (Übersetzung – S. L. S.).48 Die Wahrheit allein erlaubt es nicht, eine klare Position zu beziehen, Grundprinzipien für das eigene Leben zu entwickeln, da mit der ständigen Veränderung keine Entscheidungen zu treffen sind. Diese Erkenntnis ist der Grund dafür, dass Nietzsche nicht die dionysische Instrumentalmusik als höchste Kunstform erachtet. Eine zentrale Einsicht, die durchgehend bleibt, ist, dass das Leben auf „Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Notwendigkeit des Perspektivischen und des Irrtums“ (ebd., 18) beruht49; die dionysische Instrumentalmusik hat daran einen zu geringen Anteil. Die mythologische Scheinwelt, die den apollinischen Aspekt der antiken Tragödien beherrscht, ist, wie von M. S. Silk und J. P. Stern herausgearbeitet50, die der olympischen Gottheiten der griechischen Religion: „Jetzt öffnet sich uns gleichsam der olympische Zauberberg und zeigt uns seine Wurzeln. Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins: um überhaupt leben zu können, mußte er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen“ (ebd., 35). Die olympischen Gottheiten der griechischen Religion sind daher notwendige Bedingungen des guten Lebens. Zwar wurden sie erschaffen und sind Lügen, aber gerade dies sind die Voraussetzungen dafür, dass sie das gute Leben ermöglichen. Die genaue Wirkung der griechischen Religion, die für den apollinischen Aspekt der Musiktragödie verantwortlich ist, beschreibt Nietzsche: „Wie anders hätte jenes so reizbar empfindende, so ungestüm begehrende, zum Leiden so einzig befähigte Volk das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe, von einer höheren Glorie umflossen, in seinen Göttern gezeigt worden wäre. Derselbe Trieb, der die Kunst ins Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins, ließ auch die olympische Welt entstehen, in der sich der hellenische ‚Wille‘ einen verklärenden Spiegel vorhielt. So rechtfertigen die Götter das Menschenleben, indem sie es selbst leben – die allein genügende Theodicee!“ (ebd., 36). – Die Götter rechtfertigen das Leben der Menschen, indem sie es selbst leben. Diese Aussage hat zwei Aspekte. Einerseits können die Menschen ohne Perspektive nicht leben. Eine solche wird ihnen durch die Götter gegeben. Dies bedeutet, dass die Götter Konzeptionen des Guten repräsentieren, an denen sich die Menschen orientieren können. Jeder Gott steht für eine besondere Stärke, Macht oder Fähigkeit. Je nachdem, in welchem Bereich man selbst aktiv sein möchte, 48

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„Usually, the remark is taken to imply some sort of amoral aestheticizing of existence, a playful overturning of all moral and political categories in the name of detached aesthetic values. We have already seen that Nietzsche actively scorns the detachment of the aesthetic from the practical, and ridicules the notion of the art for art’s sake: so it is in the context of his own view of the aesthetic, which is deeply practical that we ought to interpret these remarks – though this has too seldom been observed“. (Martha C. Nussbaum, „The Transfiguratuions of Intoxication: Nietzsche, Schopenhauer, and Dionysus“, in: Salim Kemal, Ivan Gaskell, Daniel W. Conway (Hg.): Nietzsche, Philosophy, and the Arts, Cambridge 1998, 59). „[S]o würde diese Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke. Dies ist die wahre Kunstabsicht des Apollo: in dessen Namen wir alle jene zahllosen Illusionen des schönen Scheins zusammenfassen, die in jedem Augenblick das Dasein überhaupt lebenswert machen und zum Erleben des nächsten Augenblicks drängen“ (KSA, GT, 1, 155). „Nietzsche reclaims the significance of art founded, as Greek tragedy is founded, on religious myth“ (M. S. Silk, J. P. Stern, Nietzsche on Tragedy, Cambridge 1981, 235).

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ist unter den olympischen Göttern einer zu wählen, wodurch diese Gottheit bei der Konzeption des guten Lebens des Betreffenden behilflich ist. Die antiken griechischen Götter ermöglichen die Rechtfertigung der Arten des menschlichen Lebens jedoch noch auf andere Weise. Sie repräsentieren nicht vom Leben abgekoppelte Ideale, sondern betrügen, stehlen, nehmen Rache und zeigen ganz menschliche Eigenschaften. Dies bedeutet, dass diese Eigenschaften, die in der traditionellen Moral als Schwäche gesehen, hier aufgewertet und vergöttlicht werden. Es ist nicht anzustreben, ausschließlich geordnet und stark zu sein, vielmehr ist es göttlich, auch Eigenschaften zu besitzen, die traditionell als Schwächen gesehen werden. Überspitzt, aber zutreffend formuliert ist es so, dass es nicht anzustreben ist, ein ausschließlich geordnetes Leben zu führen. In einem wahrhaft göttlichen Leben muss für Handlungen, zu denen man durch Leidenschaften getrieben wird, Platz gelassen werden. So rechtfertigen die olympischen Götter die Vielschichtigkeit des menschlichen Lebens und die menschlichen Eigenschaften, die traditionell als Schwächen erachtet werden. Beide Aspekte, Hilfe bei der Orientierung und Vergöttlichung des Chaos, stellen Aspekte einer Konzeption des Guten dar und sind inhaltliche Bestandteile der griechischen Religion und somit speziell des Apollinischen. Weitere ethische Aspekte, die in jeder formgebenden Kraft, sowohl der Apollinischen als auch der Sokratischen enthalten sind (KSA, SGT, 1, 639), sind die der Selbsterkenntnis und der sophrosyne (KSA, GT, 1, 101), der Fähigkeit, das rechte Maß zu halten: „Apollo, als ethische Gottheit, fordert von den Seinigen das Maass und, um es einhalten zu können, Selbsterkenntniss“ (ebd., 40). Aus diesem Grund müssen Maß und Selbsterkenntnis als essentielle Bestandteile der Konzeption des Guten, die im formgebenden Aspekt der höchsten Form von Kunst, der Musiktragödie, enthalten sind, gelten. Nietzsche betont zudem die Parallelität der ethischen Forderung des Maßes und der ästhetischen der Schönheit (KSA, DW, 1, 564). Jedoch darf nicht unterschlagen werden, dass er sich bezüglich der Tugend sophrosyne in Die dionysische Weltanschauung (ebd., 569) auch kritisch äußert.

Schluss Zusammenfassend ist sagen, dass der apollinische Aspekt der Musiktragödie, der wie der dionysische ein essentieller Bestandteil der höchsten Kunstform ist, die Vermittlung einer Konzeption des Guten bewirkt. Das Apollinische vermittelt eine Konzeption des Guten51 vor allem in der Hilfe zur Rechtfertigung menschlichen Lebens oder einer immanenten Theodizee. Das Dionysische hingegen repräsentiert den Bereich des Wahren, gibt eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und vermittelt den Menschen dadurch metaphysischen Trost. Die höchste Form der Kunst besteht sowohl aus 51

Bertram Schmidt deutet das Apollinische als ethischen Aspekt von Kunst (Bertram Schmidt, Der ethische Aspekt der Musik, Würzburg 1991, 16). Hier muss das Ethische in engem Sinn gefasst werden, wobei die Frage der Ethik die Frage nach dem Guten ist. Wenn man von einer weiteren Bedeutung von Ethik ausgeht, fällt die Frage nach dem Guten, aber auch die nach dem Sinn unter Ethik, woraus folgt, dass dem Apollinischen dem Dionysischen eine ethische Bedeutung zukommt.

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Formgebendem als aus Formzerstörendem. Laut Nietzsche waren in der Antike das Formgebende apollinisch und das Formzerstörende dionysisch. Beide Kräfte standen in der Geburt der Tragödie im Fokus.52 Mit diesen Überlegungen ist weiteres Licht auf die Frage nach der Wirkung der Musik bei Nietzsche geworfen worden. Höchste Kunstgattung ist die Musiktragödie. Sie hat einen dionysischen Unterbau, durch den metaphysische Einsicht in das Wesen der Welt und Trost vermittelt wird, und eine ordnunggebende Komponente, die apollinisch, aber auch sokratisch sein kann. Die ordnunggebende Komponente erfüllt eine ethische Aufgabe, hilft, Orientierung im Leben (Konzeption des Guten) zu finden, den Wert der Selbsterkenntnis und die Tugend der sophrosyne zu vermitteln und das Leben zu rechtfertigen. Natürlich soll die Musiktragödie auch die Menschen erfreuen, jedoch sollten die anderen Rezeptionsaspekte nach Nietzsche primär sein. Kunst ist um des auf einer metaphysisch informierten Basis beruhenden guten Lebens willen da. Nur Sklavenseelen wünschen primär momentane Lust. Damit wird deutlich, dass Nietzsche wie Platon Hedonismus als primäre Motivation zur Rezeption von Kunst ablehnen und dass das Wahre, Gute und Schöne bei beiden eine Einheit bilden. Bei Platon sind alle drei Bereiche in der Ideenwelt geeint. Bei Nietzsche stellen die Bereiche des Wahren (d.h. des Dionysischen) und des Guten (des Apollinischen) Gegensätze dar, die jedoch im Schönen, im Idealfall der dionysischen Musiktragödie, geeint werden. Bei Platon sind die ewigen Ideen und Begriffe das Wahre und sollen die Musik beherrschen, die eng mit den unbestimmten Gefühlen und der sinnlichen Welt verbunden ist. Aus diesem Grund fordert er, dass die Tragödie nur dann die Idee des Guten vermitteln kann, wenn ihre primäre Ausrichtung anhand der Begriffe stattfindet. Bei Nietzsche gibt es nur eine Welt, denn die ewige Welt der Ideen sei eine Erfindung Platons gewesen. Sie ist im ständigen Fluss, der nicht immer wahrzunehmen ist. Das fließende Moment der Welt ist der Grund für die enge Beziehung zwischen dem Wesen der Welt und der Musik. Die geordneten Aspekte der Welt, wie Begriffe und Bilder, spielen uns eine nicht vorhandene Stabilität vor. Damit wir uns, aus der Schwäche, die Wahrheit nicht ertragen zu können, nicht selbst täuschen, sollte die Musik beherrschender Aspekt jeder Musiktragödie sein. Außerdem vermittelt das Abbild der Wahrheit die unzerstörbare Mächtigkeit und Lust des Wesens der Dinge, damit einen metaphysischen Trost. Der Trost ermöglicht die Freude an einer Tragödie, gibt den Menschen eine Art von Sinn: unser Wesen ist unzerstörbar. Jedoch sollten auch Begriffe, Bilder und der tragische Mythos in Musiktragödien berücksichtigt werden, nur sie ermöglichen das gute Leben. Schließlich ist die Lüge notwendig für das Überleben. Mit der Wahrheit allein würden wir zugrunde gehen. Damit verhindert wird, dass die Bilder und Begriffe Ewiges vorgaukeln, sollen sie aus dionysischer Musik folgen. Julian Young, der behauptet, Nietzsches Reaktion auf den Pessimismus in der Geburt der Tragödie wie Schopenhauers Reaktion auf den Pessimismus repräsentiere eine

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Dass das Formgebende in der Gegenwart nicht das Apollinische sein kann, wird an der Hoffnung deutlich, dass eine Synthese aus Sokrates und Dionysos in der Zukunft kulturbestimmend sein wird (vgl. Stefan Lorenz Sorgner, „Nietzsche“, in: ders./Oliver Fürbeth, Musik in der deutschen Philosophie, Stuttgart 2003).

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Flucht vor dem Leben53, ist nicht zuzustimmen, schließlich berücksichtigt und bejaht Nietzsche alle Aspekte des Lebens. In dieser Zusammenfassung wird deutlich, dass die Wirkung von Musik in Nietzsches Geburt der Tragödie am besten zu verstehen ist, wenn man ihn als Antiplatoniker versteht, wie er es selbst betont hat. Es hat sich jedoch gezeigt, dass es zahlreiche Übereinstimmungen in der Philosophie Platons und Nietzsches bezüglich des Verhältnisses von Musik und Ethik gibt, wie die Ablehnung des primitiven Hedonismus oder dass Musik als Vermittler von Kultur angesehen wird. Entscheidend für die Bestimmung Nietzsches als Antiplatoniker ist seine Verleugnung der jenseitigen Welt, die eine höhere Wertschätzung der Musik im Vergleich zu den Begriffen folgt, was jedoch nicht impliziert, dass die Instrumentalmusik die höchste Kunstgattung ist. Nietzsches Musikphilosophie als antiplatonisch aufzufassen, trifft nicht nur auf den Nietzsche der Geburt der Tragödie zu, sondern auch auf den späten, was an anderer Stelle darzulegen sein wird.

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Julian Young, Nietzsche’s Philosophy of Art, Cambridge 1992, 27.

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„Die Musik erlangt ihre grosse Macht nur unter Menschen, die nicht discutiren können oder dürfen“ (Der Wanderer und sein Schatten, Aphorismus 167) Musik ist nicht gleich Musik

I. Das Zitat, das ich als Titel gewählt habe, stammt aus dem Aphorismus 167 (Der Wanderer und sein Schatten), der die Überschrift trägt: Wo die Musik heimisch ist (KSA, WS, 2, 621). Ich möchte mich im Umkreis dieser Stelle aufhalten, weil mir hier eine Musikauffassung Friedrich Nietzsches entgegentritt, die ich in der Rezeption seiner Äußerungen über Musik nicht gleichberechtigt gewürdigt sehe, im Vergleich zu denen aus den frühen oder späten Schriften. Während diese vorwiegend um Richard Wagner kreisen, tritt dies in der Phase von Menschliches, Allzumenschliches zurück, m.E. nicht nur aus taktischen Gründen oder aus Verärgerung, sondern weil Nietzsche hier andere Blickwinkel einnimmt, unter denen Wagner nicht stärker in Erscheinung tritt als andere Musikausprägungen und unter denen gerade diese anderen interessanter für sein Nachdenken werden als sie es früher oder dann wieder gegen Ende waren. 1) Wie soll man die Argumentationsebene dieses Aphorismus nennen? Zunächst neige ich dazu, sie als ‚sozialgeschichtlich‘ zu bezeichnen. Es wird an Fürsten erinnert, die Mäzene der Musiker waren und damit nicht zuletzt etwas für ihre Art der Machtausübung taten. Dazu gehört, das Diskutieren, überhaupt selbständiges Denken zurückzudrängen und ein Klima zu verbreiten, in dem die Fürsten als Wohltäter erscheinen. Unter dieser Bedingung haben lange Zeit in Europa Musiker wirken und sich entfalten können. Andererseits genügt das Gesagte den Anforderungen sozialgeschichtlicher Betrachtungsweise nur unvollkommen. Es ist zu pauschal, und er geht schnell mit einem ‚sodann‘ und einem ‚drittens‘ in sehr allgemein gehaltene anthropologische Behauptungen über, in denen die Musik als Hilfe in der Langeweile und in der Vereinzelung erscheint. Schließlich kommt er, wie oft, auf die alten Griechen zurück: sie stellt er hin als Gegenbild zu dem, ‚wo die Musik heimisch ist‘, da die Griechen diskutieren und mit Worten streiten wollten, was gerade bei Musik und über Musik nicht gut geht. Über sie lässt ‚sich kaum reinlich denken‘, wie Nietzsche nicht unzutreffend bemerkt. Nur die großen Schweiger unter den Griechen, die Pythagoreer, die nicht die Dialektik erfunden hatten, waren angeblich auch große Musiker. – Diese Mischung aus Speziellem und Allgemeinem, wobei die Antike als Muster mehr oder weniger deutlich durchscheint, begegnet einem in Nietzsches Aphorismus-Stil häufig und macht nicht zuletzt den Reiz und das Anregende seiner Beobachtungen und Betrachtungen aus. Aber man muss rich-

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tig damit umgehen, indem man das Oszillieren zwischen historisch barer Münze und allgemeinen anthropologischen Vermutungen nicht zugunsten einer der beiden Seiten entscheidet, sondern es in der Schwebe lässt und am besten als Sprungbrett für eigene Gedanken nutzt. Mir ist an diesem Aphorismus wichtig, dass durch eine solche Betrachtungsweise das Verführerische und Undiskutierbare, also die Übermächtigkeit von Musik zur Sprache gebracht und ernst genommen wird. Das Unternehmen seiner Erstlingsveröffentlichung wird damit von Nietzsche selbst als unbedacht in seine Grenzen gewiesen, und der Leser wird darauf aufmerksam gemacht, dass man sich in ein Geflecht irrationaler Abhängigkeiten begibt, wenn man die Musik Macht gewinnen lässt. Die Wirkung von Musik steht einem kritischen oder gar skeptischen Diskurs entgegen. Und das nicht nur, weil sich während Musik nicht sorgfältig argumentieren lässt, sondern auch weil es schwer ist, über Musik distanziert-sachlich zu diskutieren. Das kann jeder erleben, wenn er sich mit Fachleuten über Musik unterhält: wie schnell da Argumente an ihre Grenze kommen und die Sogwirkung oder abstoßende Wirkung des Musikerlebens alles Argumentieren sinnlos macht. Ich möchte schärfer ausdrücken, was sich für mich im Laufe der Zeit herausgestellt hat: Man weiß in der Regel nicht einmal genau, wie und worüber man diskutieren soll, wenn man über Musik reden will. Insofern landet man schnell im apodiktischen Behaupten, wie ich es zum Beispiel in den musiktheoretischen Erzeugnissen Theodor W. Adornos vorexerziert sehe. Dass der Autor des Dekretierens nicht müde wurde, mag daran gelegen haben, dass er genug Leser fand, die sich dem dankbar fügten. Was Nietzsche hier sagt, dient zunächst einer Distanznahme, und die ist gegenüber der Musik besonders nötig, weil sie ihr gegenüber besonders schwer fällt. Das nutzen u.a. staatliche totalitäre Ansprüche an die Allgemeinheit aus, indem sie die Wirkung von Musik gern als Gleichschaltungsmittel einsetzen, was dann eine besonders brutale Musik zu erfordern pflegt. Unter Fürsten war das nicht notwendig, obwohl auch da eine gewisse Prachtentfaltung durch Musik gewünscht wurde und ihre Wirkung nicht verfehlte. Aber es sollte auch die Förderung von Kunst und damit die Souveränität und der Geschmack des Fürsten demonstriert werden; ähnliches können sich totalitäre Machthaber in ihrer Angst vor Abweichung nicht leisten. Einen Schritt weiter, zur Distanznahme nicht nur gegenüber der Musik, sondern gegenüber aller Kunst, geht Nietzsche, wenn er an etwas früherer Stelle vom „Irrthum über eine Entbehrung“ spricht: „Wer sich nicht von einer Kunst lange Zeit völlig entwöhnt hat, sondern immer in ihr zu Hause ist, kann nicht von ferne begreifen, wie wenig man entbehrt, wenn man ohne diese Kunst lebt“ (KSA, VM, 2, 422). Der Umgang mit Kunst ist also auch nur eine Gewohnheitssache, die durch die Gewöhnung stabilisiert wird, aber dadurch noch nicht wirklich ihre Wichtigkeit oder Notwendigkeit bewiesen hat, ehe nicht die Gegenprobe der Entwöhnung gemacht ist. Man wird sagen können, dass Nietzsche die Kunst, und unter ihr auch die Musik, relativieren will. Diese Linie möchte ich beleuchten und stark machen. 2) Im Aphorismus 171 der Vermischten Meinugen und Sprüche wird die Musik „als Spätling jeder Cultur“ bezeichnet, und es heißt: „Die Musik ist eben nicht eine allge-

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meine, überzeitliche Sprache, wie man oft zu ihrer Ehre gesagt hat, sondern entspricht genau einem Gefühls-, Wärme- und Zeitmaass, welches eine ganz bestimmte einzelne, zeitlich und örtlich gebundene Cultur als inneres Gesetz in sich trägt: die Musik Palestrina’s würde für einen Griechen völlig unzugänglich sein, und wiederum – was würde Palestrina bei der Musik Rossinis hören?“ (KSA, VM, 2, 450). Diese Überlegung ist nicht nur amüsant, sondern auch anregend. Es lohnt sich, solche Gedankenspiele öfter und für verschiedene Musikstile anzustellen. – Dabei kann man auch ganz materiellen Überlegungen nachgehen, etwa: Was würde Mozart zu der Krachentfaltung sagen, in der heute auch die Wiedergabe der sogenannten klassischen Musik vor sich geht? Nicht nur in Rock-Konzerten ist es empfehlenswert, sich Ohrstöpsel einzusetzen, sondern auch in traditionellen Orchestern benutzen die Streicher, die vor der Gruppe der Blechbläser sitzen, Ohrstöpsel, um sich nicht das Gehör schädigen zu lassen. Musik mit Ohrstöpseln, das ist eine Realität, die angesichts früherer Bemühungen um Tonschönheit und Tonvariierung, die ein sehr genaues Zuhören verlangen, grotesk den Wandel im Kulturablauf anzeigt. Musik ist in der Tat relativ, zunächst zu den Geräten, die man zur Musikerzeugung benutzt. Dann aber auch in dem, was Nietzsche das ‚Gefühls-, Wärme- und Zeitmaߑ nannte. – Man kann auch sagen: die Empfindungen und Bewegungen der Menschen sind in verschiedenen Kulturstufen unterschiedlich, schon deshalb, weil die Reize, denen die Menschen ausgesetzt sind, in ständiger Veränderung begriffen sind. Nietzsche bringt im Aphorismus 134 den Ausdruck „Bewegung der Seele“ (ebd., 434f). Hier geht er, sogar namentlich, auf Wagner ein und auf dessen Idee der ‚unendlichen Melodie‘. Dabei benutzt er erhellend Vergleiche aus der Bewegung, ist die Musik doch selber Bewegung und hat bestimmte Rhythmen in sich. Die neue Musik Wagners ersetzt die Beziehung zum Tanzen durch eine Art Schwimmen: man kommt sich vor, wie wenn man immer weiter ins Meer geht, den Grund unter den Füßen verliert, dem Element ausgeliefert ist und schwimmen muss. In der Tat ist Schwimmen ein geschickter Ausdruck, um den Unterschied zu einer Musik, die dem Tanzen verbunden ist, zu kennzeichnen. 3) Im Aphorismus168 (Wanderer und sein Schatten) macht Nietzsche eine Klammerbemerkung, die ins Prinzipielle geht: „Man muss nämlich auch für die geringsten ‚Offenbarungen‘ der Kunst erst vorbereitet und eingelernt werden: es gibt durchaus keine ‚unmittelbare‘ Wirkung der Kunst, so schön auch die Philosophen davon gefaselt haben“ (KSA, WS, 2, 622). Man spürt Nietzsches eigene Erfahrung mit Musik, wie sie sich vollzogen hat unter dem Einfluss der Musikerziehung, die er genossen hatte. Es muss aber nicht unbedingt nur die Erziehung sein, mindestens ebenso stark wird das ‚Lebensgefühl‘ den Kunst-Geschmack prägen, wie es sich unter den Umständen einer Zeit, etwa deren Lärmproduktion oder Geschwindigkeitsabläufen herauszubilden pflegt. Aber auch dann bringt es ein differentes Kunstverständnis hervor, je nachdem wie man darin eingelernt wird. Hinsichtlich der Musik ist es besonders wichtig, der Meinung zu widersprechen, man könne sie ohne spezielle Vorbildung aufnehmen, verstehen oder machen. In Robert Schneiders Roman Schlafes Bruder wird sogar fabuliert, ein ungelerntes ‚Genie‘ ohne theoretische und praktische Ausbildung könne aus dem Stegreif eine Fuge auf der Orgel improvisieren. Ausgerechnet eine so artifizielle und kompli-

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zierte Form wie die Fuge! Wo es doch bei seinen Voraussetzungen, Genie hin, Genie her, nicht einmal „Hänschen klein“ spielen könnte. Solche absurden Wunschträume lassen tief in gern gehegte Vorurteile über Musik blicken. Aus derart simplen Vorstellungen folgt fast notwendig eine Hinwendung zu rhythmisch und melodisch monotoner und brutaler Musik, wie sie ‚unmittelbar‘ aufzunehmen und als Reizsteigerung erlebbar ist. Aber diese Unmittelbarkeit lässt eine Wahrnehmung von Musik als Kunst nicht zu, sondern nur als Geräusch, das natürlich auch irgendwelche Empfindungen auslöst oder verstärkt. Aber unmittelbare Wirkung hat Musik als Kunst nicht, da kommen Vermittlungen hinzu: Anleitung, Lernen, Bildung. Nur so kommt ein Sinn für Differenzierungen zustande, deren Wahrnehmung erst in das Gebiet der Kunst hinüberführt. Letztlich gehört dazu, selber zu versuchen oder versucht zu haben, Gelerntes aktiv-schöpferisch umzusetzen und anzuwenden. Dabei kommt es nicht darauf an, ob eine bemerkenswerte schöpferische musikalische Anlage dahinter steht, es kann sich um mittelmäßige und für andere überflüssige Produktionen handeln. Aber für den, der sie unternimmt, dienen sie der Schärfung des Musikverstandes. Insofern waren die Kompositionsversuche Nietzsches für ihn, für die Entwicklung und Stärkung seines Musikverständnisses enorm wichtig: da probierte er aus, ob und wie er vorgegebene Musiksprachen aufgenommen und gelernt hatte und mit ihnen umgehen konnte. Mögen diese Kompositionen für andere unergiebig sein (dass sie es sind, ist meine Meinung), für die Entwicklung von Nietzsches Musikverstand waren sie höchst nötig und nützlich. In eigener aktiv-kompositorischer Teilnahme an der Musikausübung wird auch bewusster als in nur reproduktiver oder hörender Teilnahme der Sinn geschärft für die Wahrnehmung und Reflexion darüber, wie sich das Verhältnis der Menschen zur Musik wandelt und um welche Wandlungen es sich dabei handelt. Das gilt für die Interpretation früherer Musik ebenso wie für die Entstehung neu komponierter Musik. Wenn in unserer Gegenwart die gleichen Musikstücke aus früherer Zeit immer wieder reproduziert werden, so steht ein passiver Musikfreund ohnmächtig davor, ist auf die sich weise gebenden Kritiker angewiesen, die ihm sagen, was er in dieser oder jener Interpretation zu hören und zu bewundern habe. Noch mehr als bei Musik der Vergangenheit sind die Musikfreunde bei neuen Werken davon abhängig, dass Kritiker ihnen erklären, was sie dabei zu denken und zu empfinden haben. Mangels Kompetenz bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich dem Verordneten zu fügen. Nietzsche war nicht in dieser hilflosen Lage, er konnte die Wandlungen im Interpretationsstil und die jeweils neuen Kompositionsentwicklungen bewusst wahrnehmen, ohne sich von Kritikern sagen lassen zu müssen, was vor sich geht. 4.) Zurück zum Aphorismus 171. Dort unternimmt Nietzsche den Versuch, die Entstehung der abendländischen Musik nach der Antike wenigstens in Umrissen zu beschreiben. Damit kommt er, da alles, was einen Anfang hatte, auch ein Ende hat, auf den Gedanken des Endes dieser Art von Musik. Mich interessiert vorwiegend der erstgenannte Gedanke: den Anfang beschreiben zu wollen. Das kann von Nietzsche nur in sehr pauschaler Weise und ohne belegbare Details geschehen. Seine wichtigste Vermutung ist, dass die Musik sich stets als letzte der Kulturerscheinungen entwickelt, zu spät

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kommt im Vergleich mit Dichtung, Malerei, Architektur, die alle näher an den sozialen und politischen Vorgaben der jeweiligen Kulturstufe sind. Das bedeutet, dass die Musik noch in Blüte stehen kann, wenn ihre Wurzeln in der Kultur schon abgestorben sind und die anderen Kunst-Ausprägungen weitergegangen sind oder anzeigen, dass für diese Art Musik die Zeit vorbei ist. Um die Einschätzung der Zeitunangemessenheit, der Verspätung der Musik, an Beispielen zu belegen, beginnt Nietzsche mit der niederländischen Polyphonie, die den Geist des christlichen Mittelalters zum Ausdruck gebracht habe, als dies schon vorbei war: „Erst in der Kunst der Niederländer Musiker fand die Seele des christlichen Mittelalters ihren vollen Klang: ihre Ton-Baukunst ist die nachgeborene, aber ächt- und ebenbürtige Schwester der Gothik“ (ebd., 450). Dass der Begriff ‚Niederländer‘ oder ‚niederländische Schulen‘ ein Fachbegriff geworden ist, geht zurück auf das 1829 erschienene Buch von R. G. Kiesewetter: Die Verdienste der Niederländer um die Tonkunst; darin wird auch der als ‚niederländisch‘ bezeichnete Musikstil aus dem 15. und 16. Jahrhundert geistig dem Mittelalter zugeordnet. Dies Buch hat sich musikhistorisch schnell und langfristig durchgesetzt, so dass Nietzsche davon in seiner Jugend gehört haben wird und mit einer gewissen Sicherheit darauf fußen konnte. Inzwischen differenziert man die Namensgebung ‚niederländisch‘, ebenso wie man in dem damit bezeichneten Musikstil mehr ein Zeichen des Aufblühens der frühneuzeitlichen Stadtkultur und ihres Selbstbewusstseins sieht als einen bloßen Nachklang des Mittelalters. Trotzdem kann auch etwas Sinnvolles darin liegen, wenn man hieran Verwandtschaft mit der Gotik wahrnimmt. Aber ob Nietzsche von dieser Musik überhaupt etwas aufgeführt gehört oder gelesen hatte, und wenn ja, was, ist mir unbekannt. Diese Epoche ist, damals mehr als heute, nurmehr musikhistorisch, aber nicht musikpraktisch relevant. Von da geht Nietzsche einige Epochen der Musikgeschichte durch, um sie jeweils als Spätling geistiger Entwicklungen und Kämpfe zu charakterisieren, endend mit „unserer neuesten deutschen Musik“, die von Wagner geprägt ist (weshalb noch einmal sein Name genannt wird). Von ihr aus kommt er dazu, das Ende dieser ganzen Art von Musik überhaupt zu denken. Der Gedankengang ist durchaus subjektiv und verzwickt (vgl. ebd., 451).1 Vom ‚Geist‘ der Wagnerschen Musik wird gesagt, er führe „den allerletzten Kriegs- und Reactionszug an gegen den Geist der Aufklärung“ und „gegen die übernationalen Gedanken der französischen Umsturz-Schwärmerei und der englischamerikanischen Nüchternheit im Umbau von Staat und Gesellschaft“ (ebd. 451). Es sei aber keineswegs sicher, dass die bei Wagner und seinen Anhängern zurückgedrängten „Gedanken- und Empfindungskreise“ (die der Aufklärung und des Pragmatismus) nicht „längst von Neuem wieder Gewalt bekommen haben“, so dass die musikalische Reaktion „in Ohren hineinklingt, die andere und entgegengesetzte Töne lieber hören?“ (ebd.). Dann könnte es sein, dass jene Kunst unverständlich wird und schließlich ins Vergessen gerät. Da die neueste deutsche Musik von Nietzsche aber als der allerletzte Kriegszug der Reaktion angesehen wird, muss, wenn der Kriegszug erfolglos ist, derartige Musik danach generell aufhören, passende Ohren zu finden. 1

Nicht erreichbar war mir: Jens-Peter Schütte, „Nietzsche und das Ende der Musik. Zum Verhältnis von Musik und Religion in Menschliches – Allzumenschliches“, in: Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne, FS Ulrich Barth, hg. von R. Barth, C.-D. Osthövener, A.von Scheliha, 2005.

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Hier ist Wagner wieder zu hoch angesetzt. Wohl aber ist es eine Konsequenz der Relativierung der Musik, auch auszusprechen, dass höchst ungewiss ist, ob die ‚neuere Musik‘ zu jeder Zeit verständlich und sprechend ist. Aus vielen Menschheitsepochen ist schließlich deren Musik gänzlich verloren gegangen, so dass man sich nicht mehr vorstellen kann, wie sie geklungen haben mag. Wer darf behaupten, dass nicht mit der abendländischen Musik seit den ‚Niederländern‘, vielleicht schon bald, etwas Ähnliches geschehen kann? Man bewahrt zwar ihre Dokumente gut konserviert auf, aber weiß man dadurch schon, wie es geklungen hat, wie es hat klingen sollen, wie es auf die Gemüter gewirkt hat und was damit für die Zeitgenossen ausgedrückt war? Vielleicht baut sich dies Unverständnis schon zu einer uns zeitlich noch näherstehenden Musik auf, während man noch meint, sie angemessen und verständnisvoll zum Klingen bringen zu können. Nietzsche wagt die Behauptung, die mir auf guter Beobachtung zu beruhen scheint und im Zweifelsfall wieder an dem Erbe der alten Griechen gewonnen ist: „Es liegt im Wesen der Musik, dass die Früchte ihrer grossen Cultur-Jahrgänge zeitiger unschmackhaft werden und rascher verderben, als die Früchte der bildenden Kunst oder gar die auf dem Baume der Erkenntnis gewachsenen: unter allen Erzeugnissen des menschlichen Kunstsinns sind nämlich Gedanken das Dauerhafteste und Haltbarste“ (ebd., 452). Musik wächst nicht nur als letzte Pflanze, sie verwelkt auch zuerst! Allenfalls könnten, so muss man folgern, Gedanken davon bleiben, wie sie konstruiert war. Was das Ende befördert, ist nach Aphorismus 170 (Der Wanderer und sein Schatten) die Hochschätzung der Arbeit in unserer Kulturstufe. So bleibt für die Musik nur die Erholungszeit von der Arbeit, speziell der Abend, und da muss sie gegen die Ermüdung ankämpfen, steht sie unfreiwillig unter dem Druck, mit den „gewaltsamsten Erregungsmitteln, bei denen selbst der Halbtodte noch zusammenschrecken muss“, die Ermüdeten in „ein Ausser-sich-sein des Entzückens und des Schreckens“ (KSA, WS, 2, 624) zu versetzen. 5.) Aus Nietzsches Konstruktion des Anfangs der neueren Musik möchte ich noch registrieren, dass er ihr religiöse Wurzeln zuspricht. Ich denke an den Aphorismus 219 aus Menschliches, Allzumenschliches: Religiöse Herkunft der neueren Musik (KSA, MA-1, 2,179f.). Da setzt er wieder um die Zeit der ‚Niederländer‘ an, allerdings bei Giovanni Pierluigi da Palestrina (ca. 1525–1594), der eben einem anderen Stil zuzuordnen ist; aber er gehört der Zeit an, um die es geht, und er verdient schon wegen seiner autoritativen Position für die katholische Kirchenmusik genannt zu werden. Nietzsche sieht in der Erneuerung des Katholizismus nach der Reformation, wie sie sich im Tridentiner Konzil auf vielen praktischen Ebenen dokumentiert hat, die Herkunftsquelle der neueren Musik. Es ist der „neu erwachte innige und tief bewegte Geist“ (ebd.) der gegenreformatorischen seelenvollen Frömmigkeit, der in der neueren Musik seit damals Klangausdruck gefunden hat. Auch Johann Sebastian Bach wird in diese Linie gestellt, da der in seiner Musik zum Ausdruck kommende Pietismus auch eine Art Gegenreformation darstelle, eine Umstimmung und einen Ausbruch „des innerlichst-erregten Gemüthes“ (ebd.). Das führt zu zwei Schlüssen: Einmal zur Einsicht, dass wir dem religiösen Leben „tief verschuldet“ (ebd.) sind. Zum anderen zum Geständnis, dass diese

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Musik in ihrer Gesamtheit wesensmäßig nicht den Bestrebungen der Aufklärung, sondern der „Gegenrenaissance“ (ebd.) angehört. Insofern fallen Franz Liszt und Wagner nicht aus dem Rahmen der ‚neueren Musik‘, bedürfen weder dramatischer Bewunderung noch dramatischer Polemik, sofern man die neuere Musik überhaupt gelten lässt. Es ist auch nichts Besonderes, wenn die Wagnersche Musik als Kriegs- und Reactionszug gegen den Geist der Aufklärung beschrieben wird; nur die These, dass sie der ‚allerletzte‘ Kriegszug der Reaktion sei und dass dessen Erfolglosigkeit deshalb das Unverständnis gegenüber der ganzen neueren Musik bedeute, ist überzogen. Zur religiösen Herkunft der neueren Musik (‚neuere‘ im Verhältnis zu der der antiken Kulturen, aber auch zur christlichen Gregorianik) gehört auch, was Nietzsche kurz vorher über die Abhängigkeit der Musik vom Wort geschrieben hat: „Die Musik ist nicht an und für sich so bedeutungsvoll für unser Inneres, so tief erregend, dass sie als unmittelbare Sprache des Gefühls gelten dürfte; sondern ihre uralte Verbindung mit der Poesie hat so viel Symbolik in die rhythmische Bewegung, in Stärke und Schwäche des Tones gelegt, dass wir jetzt wähnen, sie spräche direct zum Inneren und käme aus dem Inneren“ (KSA, MA-1, 2, 175). Auch dies dient der Relativierung der Musik und der Unterstreichung, dass die Gewohnheit die Grundlage des Musikerlebnisses ist. Die Feststellung hat angesichts der Wichtigkeit der Gregorianik für die abendländische Musik ihre unbestreitbare Berechtigung. Da dienten gesangliche Variierungen der Unterstreichung von Wörtern und Sinnabschnitten, so dass der Ton das Wort hervorhob und umgekehrt das Wort die Bedeutung des Tones resp. der Tonwendung festlegte. Von da ausgehend konnte die Musik sich verselbständigen und, wie der Ausdruck heißt, ‚absolute Musik‘ werden, ohne unverständlich zu werden.

II. Drei Weiterungen sind mir der Aufmerksamkeit wert: 1) Die erste ist von Nietzsche gesehen und benannt worden: Wir leben in einem „Zeitalter der Vergleichung“ (ebd., 44), will sagen: in einem Zeitalter der Überfülle an gleichzeitiger Kenntnis und gleichzeitigem Ausleben ganz verschiedener Stile, Werte, Sitten, Moden, ohne Festlegung an Orte, Zeiten und Geltungen. Dafür kannte Nietzsche noch nicht den aus der Architektur kommenden Namen ‚postmodern‘. Er ist als Epochenbezeichnung auch wenig aussagekräftig. Nietzsche sprach von einem „Durcheinanderfluten der Menschen“, einer „Polyphonie der Bestrebungen“ (ebd., 44f.). Dieser historisch erreichte Standort, ein Standort des Nichtstandortes, macht es erst möglich, derart relativierend zu denken, wie Nietzsche es mit Menschliches, Allzumenschliches öffentlich vorzulegen begann. Wie rasch sich der Musikstil weiterentwickelt hat und Nietzsche auch auf diesem Gebiet hinsichtlich der ‚Polyphonie der Bestrebungen‘ bestätigt wurde, konnte er im vollen Ausmaß nicht mehr miterleben. Hätte er das Pensionierungsalter von 65 Jahren erreicht und das bei klarem Bewusstsein, so hätte er die Erschöpfung des tonalen Sys-

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tems noch wahrnehmen können. Die führte dazu, dass Komponisten in einer ersten Phase meinten, selber einen neuen gültigen Stil schaffen zu sollen und zu können, dass sie aber inzwischen dessen belehrt sind, dass bei diesem Anspruch nur eine Fülle willkürlicher, sich aneinander reibender differenter Stile herauskommt, so dass es sinnvoller ist, sich keinem bestimmten Stil mehr verpflichtet oder auch nur innerlich verbunden zu sehen, zumindest keinen Anspruch auf einen allgemein gültigen Stil mehr zu vertreten. Die Musiker sind im ‚Zeitalter der Vergleichung‘ angekommen. Die Komponistin Lera Auerbach spricht deshalb für ihre Arbeiten von einer ‚Polystilistik‘, in der sie komponiere. – Es liegt in der Konsequenz der Polyphonie der Bestrebungen, dass auch der Kunstbegriff vieldeutig geworden und nicht mehr festgelegt ist in dem Sinne, wie ich ihn vorhin gebraucht habe. Indem auch das ‚Happening‘ als Kunst verstanden wurde, ist dieser Bereich einer offenen und nicht definierten Polyphonie der Handlungsweisen und Kreationen anheimgegeben, der seine verändernde Rückwirkunge auch auf das hat, was zu Nietzsches Zeit im engeren Sinne als ‚Kunst‘ angesprochen wurde. Worte mit ‚poly-‘ bieten sich zur Beschreibung dieser Zeit an. Auf religiösem Gebiet pflegt man von einer Erneuerung des ‚Polytheismus‘ zu sprechen, obwohl auch dieser Ausdruck ungenau ist. Denn es geht nicht um viele Götter nebeneinander, sondern um die Ablösung der Anerkennung eines persönlichen Gottes durch ein frei in beliebige Richtungen schweifendes ‚religiöses‘ Empfinden, das sich wechselnder Vorstellungen bedienen kann und an keine wirklich gebunden ist. Insofern könnte man von Patchwork-Religiosität sprechen. Vielfältig nebeneinander existieren nicht Götter, sondern Wertgeltungen, wobei man allerdings diese Vielfalt nicht überschätzen sollte. Zumindest innerhalb eines Kulturkreises verbirgt die Vielfalt nur notdürftig die Monotonie. Hier darf man vielleicht eine Entsprechung dazu sehen, dass die musikalische Kunst kein verbindendes und verbindliches musikalisches System und keinen verbindenden und verbindlichen Stil mehr kennt und trotzdem der vorherrschende Eindruck nicht die Vielfalt, sondern eine gewisse Monotonie ist: je stärker, je mehr die Musik ins Populäre geht. 2.) Die zweite zu nennende Weiterung konnte Nietzsche nicht einmal ahnen, weil sie späteren Datums ist: die technische Reproduktion von Musik, die zu einer Art Allgegenwart und unendlichen Wiederholung des Gleichen führt. Hinzu kommt die angestiegene Lärmmöglichkeit der technischen Geräte, so dass man von einem verbreiteten Musikterror wird sprechen müssen. Besonders grauenhaft ist er, wenn er mit Religiösem verquickt wird, wie in der Adventszeit das ständige Wiederholen von Weihnachtsliedern in den Kaufhäusern. – Nietzsche kannte nur die Verbreitung des Klaviers und des Klavierspiels, die es erlaubt, vom 19. Jahrhundert als einem ‚Jahrhundert des Klaviers‘ zu sprechen. Dies beginnt literarisch zum Jahrhundertbeginn in Friedrich Daniel Schleiermachers Weihnachtsfeier, bei der sich das Klavierspielen durch die ganze Novelle zieht. Und da geht es auch schon um das, was später Nietzsche gern selber getan hat: das freie Phantasieren am Klavier, das etwas Bestimmtes bedeuten sollte. Damals begann man auch, sich im eigenen Spiel möglichst viel aus der Musikliteratur zu erobern, indem diese für Klavier zu zwei und besonders zu vier Händen bearbeitet wurde und dies ein gutes Geschäft für die Musik-Verleger darstellte. So lernte man

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kennen, was in kleineren Städten (wie Naumburg) nie zu hören war, weil es dort keine Symphonieorchester gab, was aber auch in größeren Städten nicht öfters oder regelmäßig zu hören war. Im Jahrhundert des Klaviers versuchte man, sich die Musikliteratur zu Hause am Klavier selber zu erarbeiten und konnte dies auch tun. Das war ein auf eigener Aktivität basierender Kenntniserwerb von Musik, unvergleichbar der gegenwärtigen, durch technische Apparate ablaufenden, passiv zu konsumierenden Musikpräsentation, die zur rotierenden Dauerpräsenz von Musik jeder Art als Untermalung des Lebens geführt hat. Ohne sie fühlen sich viele unerträglich einsam: womit wir wieder an unserem Ausgangspunkt, dem Aphorismus 167 (Der Wanderer und sein Schatten) angelangt sind. 3.) Nachdem ich versucht habe, Nietzsche als Diagnostiker der Relativität von Musik vorzustellen, einer Relativität, die die Musik durch ihre Suggestivität zu dementieren scheint und die deshalb immer wieder bewusst gemacht werden sollte, komme ich zu einer speziellen Gestalt von Nietzsches Äußerungen zur Musik, die die Aphorismenreihe 149–169 (Der Wanderer und sein Schatten) ausmacht. Sie sind bisher in der Nietzsche-Literatur wenig beachtet worden. Es geht um Unterschiede innerhalb der ‚neueren Musik‘, wie Nietzsche sie von der Gegenreformation an datiert. Aber seine Kenntnisse reichten nicht so weit, dass er über den ganzen Zeitraum mitreden konnte; so tat er es nur im Bereich der Musik der ihm vorausgegangenen etwa einhundert Jahre, auch das nur, so weit der Bereich für Klavierspieler und durch gelegentliche Konzerte und Opernaufführungen in kunstorientierten Städten zugänglich war. Besondere musikhistorische Studien sind von Nietzsche nicht bezeugt, wohl aber hatte er das musikhistorische Grundwissen erworben, wie es damals gelehrt wurde. Dementsprechend hält er sich an bekannte Komponisten-Namen und versucht, die dahinter stehenden musikalischen Persönlichkeiten zu charakterisieren. – Die meisten Namen nimmt er aus der Reihe der Komponisten, die eine Generation älter sind als er: Felix Mendelssohn ist 1809 geboren, Robert Schumann und Fréderic Chopin 1810, Liszt 1811, Wagner und Guiseppe Verdi 1813 (wobei Verdi nur zur Orientierung genannt ist, bei Nietzsche taucht sein Name nicht auf). Wagner war nur 2 Jahre jünger als sein Schwiegervater, Mendelssohn, den Wagner als eine ihn einengende Autorität empfunden hat, nur vier Jahre älter als Wagner. Zu Nietzsches Zeit waren sie alle schon fester Bestand der Musikpflege. Er geht mit seinen Betrachtungen aber auch weiter in die Vergangenheit: zu Franz Schubert, zu den ‚Klassikern‘ Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven, aus der Zeit davor zu Bach und Georg Friedrich Händel. In diese Fülle bekannter Komponisten-Namen bringt Nietzsche beschreibende und wertende Bemerkungen zu einzelnen an. Für die meisten reicht ihm ein Aphorismus, nur wenige behandelt er öfter. Das Ganze macht einen recht zufälligen Eindruck, man fragt sich, was das soll. Bloße Eitelkeit, sich als Kenner zu zeigen, wird es nicht gewesen sein. Eher ist anzunehmen, dass Nietzsche innerhalb des damaligen Bildungsgutes Stellung nehmen wollte, um es niedriger zu hängen, als es in der Verehrung der Bildungsbürger erschien (bei David Friedrich Strauß dienten die Klassiker zum Gottesdienstersatz). Er will die Komponisten beeinflusst vom ‚Menschlich-Allzumenschlichen‘ zeigen, relativiert durch persönliche Eigenheiten. – Das heißt auch, dass unter den

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subjektiven Unterschiedlichkeiten ein Streit nicht sinnvoll ist, weil es nicht um wahr oder falsch geht, nicht einmal um gut oder schlecht, sondern um Eigenarten in Geschmack und Stimmung, beim Komponisten wie beim Rezipienten. Indem die Auswahl an Namen keine irgendwie geartete Vollständigkeit erstrebt, lässt sie den Lesern Freiraum zu eigenen Gedanken, Erinnerungen und Präferenzen. Was erreicht wird, ist die Einsicht, dass Musik nicht gleich Musik ist, dass sie aber darin gleich ist, dass sie sich nicht dazu eignet, allgemeine Geltung zu erhalten und kulturprägende Bedeutung zugesprochen zu bekommen, wie Nietzsche es in seiner Erstlingsveröffentlichung noch für Wagners Musikdramen hatte erreichen wollen. a) Es kann mir nur um Beispiele gehen für sein Vorgehen und seine Wertungen. Ich beginne mit Aphorismus 157 Felix Mendelssohn; Mendelssohn ist von Wagner als Antipode gesehen und bekämpft worden, er sah bei ihm einen Geschmack wirksam, unter dessen Macht Wagners eigene Musik nicht akzeptiert werden könnte. Deshalb hat er ihn auf jede Weise verunglimpft, auf der Linie des Antisemitismus ebenso wie mit dem Argument, er mache ‚Kammermusik‘, was auch als Abwertung gemeint war.2 Nietzsche nun schreibt zu Mendelssohn: Seine Musik „ist die Musik des guten Geschmacks an allem Guten, was dagewesen ist: sie weist immer hinter sich. Wie könnte sie viel ‚Vorsich‘, viel Zukunft haben! – Aber hat er sie denn haben wollen?“ (KSA, WS, 2, 618). Hier ist reflektiert, dass Mendelssohn faktisch, anders als Wagner erwartet hatte, für den Erfolg von Wagners Musik kein Hinderungsgrund gewesen ist, dass seine Musik sich als weniger zukunftsmächtig erwies als die Wagners. Das lag nicht an Wagners polemischer Schriftstellerei, die, wie von den meisten, so auch von Nietzsche nicht weiter ernst genommen wurde. Das lag an etwas anderem, das in Mendelssohn selber war und seine Musik prägte. Nietzsche erläutert es so: „Er besass eine Tugend, die unter Künstlern selten ist, die der Dankbarkeit ohne Nebengedanken: auch diese Tugend weist immer hinter sich“ (ebd.). – Das damit aufgeworfene Problem, wie eine ästhetische Welt sich gegen eine andere durchsetzt oder auch nicht durchsetzt, greift Nietzsche in Aphorismus 164 auf: dabei entscheide ‚leider‘ letztlich die Kraft und nicht die Vernunft, wobei man sich über das unerläuterte Einführen der Vernunft an dieser Stelle wundern kann. Geht es doch um Geschmack; welche Rolle könnte dabei die „Vernunft“ spielen und welche Art von Vernunft? Im Entwurf hat er zu „Vernunft“ in Klammern angefügt: „d.h. hier: Feinheit des Geschmacks“ (KSA, 14,193). Warum nicht so in der Druckfassung? In deren Überschrift heißt es stattdessen „Sieg und Vernünftigkeit“ (KSA, WS, 2, 620). Sein Beispiel wählt Nietzsche aus der Geschichte der Oper: Jetzt nehme man es als Tatsache, dass Willibald Gluck im Kampfe mit Nicola Piccini Recht gehabt habe. „Jedenfalls hat er gesiegt; die Kraft stand auf seiner Seite“ (ebd.). b) Wie sehr Nietzsche nach wie vor unter dem Gedanken der Weiterentwicklung der Musik stand und das Vorhandene nur als Teil des Weges in die Zukunft sah und bewertete, wird auch aus anderem deutlich. Der erste Aphorismus 149 in der genannten Reihe heißt Sebastian Bach, offensichtlich weil auch Nietzsche nicht daran vorbeikam, dass hier eine wichtige Schaltstelle und Inspirationsquelle der weiteren Musikgeschichte 2

Zu Wagners literarischer Musikpolitik: Dieter Schellong, „Was würde der ernstgemeinte Parsifal sein?“, in: Thomas Steiert (Hg.), Der Fall Wagner. Ursprünge und Folgen von Nietzsches WagnerKritik, 1991.

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liegt. Aber sein Urteil zeigt auch (was auch aus seinen Kompositionen hervorgeht), sein Klavierunterricht hat ihn nur wenig in Bach eingeführt. Er kann in dessen Polyphonie nur einen „artistischen Genuss“ vermuten und sieht darin „crude Scholastik“ (ebd., 615). Seinem Urteil versucht er Autorität zu geben, indem er sich auf Johann Wolfgang Goethe beruft, der „grandios ausgedrückt“ habe, dass einem als Hörer bei Bach „zu Mute sei, als ob wir dabei wären, wie Gott die Welt schuf. Das heisst: wir fühlen, dass hier etwas Grosses im Werden ist, aber noch nicht ist: unsere grosse moderne Musik“ (ebd.). Das Epitheton ‚grosse‘ hat er erst im letzten Moment in den Text eingefügt und dann gesperrt drucken lassen (vgl. KSA, 14,193). Er bemerkte wohl, dass eine aufsteigende Linie von Bach aus schwierig zu behaupten sei und wenigstens rhetorisch abgesichert werden sollte. Dabei hatte sich Goethe anders ausgedrückt und anderes gesagt. Es handelt sich um einen Brief an Zelter vom 17. 7. 1827 (Beylage). Über das Anhören von Stücken aus dem Wohltemperierten Klavier schrieb er: „Ich sprach’s mir aus: als wenn die ewige Harmonie sich mit sich selbst unterhielte, wie sich’s etwa in Gottes Busen, kurz vor der Weltschöpfung, möchte zugetragen haben. So bewegt sich’s auch in meinem Innern, und es war mir als wenn ich weder Ohren, am wenigsten Augen, und weiter keine übrigen Sinne besäße noch brauchte.“3 Das klingt erheblich anders, als was Nietzsche daraus gemacht hat. Immerhin hat er das prätentiöse „in Gottes Busen […] so auch in meinem Innern“ ersetzt durch eine historische Linie: Auf dem Weg vom Mittelalter zur modernen Musik steht Bach an der Schwelle zur letzteren, aber er „schaut sich von hier nach dem Mittelalter um“ (ebd.). Seine Musik habe noch nicht (wie die grosse moderne Musik) die Kirche, die Nationalitäten und den Contrapunkt überwunden (welche Zusammenstellung!). c) Noch in einem dritten Zusammenhang zeigt sich der ‚Rückblick‘ als leitender Gesichtspunkt in Nietzsches Betrachtungen über die Wirkung von Musik: in einer Rechtfertigung der Sentimentalität angesichts von Musik (Aphorismus 168). Fast jede Musik werde „erst von da an zauberhaft, wo wir aus ihr die Sprache der eigenen Vergangenheit reden hören“ (ebd., 622f.). Von da aus möchte Nietzsche dem Vergnügen an den „allereinfachsten italiänischen Opern-Melismen“ (ebd., 622) eine Rechtfertigung geben: Sie erinnern an die Entdeckung der Musik im eigenen Leben, als sie uns in der Kindheit in ihrer einfachsten Gestalt nahegebracht worden ist. Und den Zauber solcher Erinnerung nennen wir hochmütig ‚Sentimentalität‘. Interessanterweise geht Nietzsche von da aus auch seinen Aphorismus über Beethoven an (Aphorismus 152): „Beethoven’s Musik erscheint häufig wie eine tiefbewegte Betrachtung beim unerwarteten Wiederhören eines längst verloren geglaubten Stückes ‚Unschuld in Tönen‘; es ist Musik über Musik“ (ebd., 615f.). Der Unterschied zur Sentimentalität und zur Musik einfachster italienischer Opernmelodien ist deutlich: Beethoven gehört nicht zu den Verfassern solcher Musik, aber er nimmt sie auf und macht Musik über diese Musik. Was hat Nietzsche da gehört? Ich meine, beim Üben Beethovenscher Klaviersonaten bekommt man öfter der Eindruck, man habe durchaus etwas vulgäre einfache Lieder vor sich, die man zu kennen scheint (ohne dass man sie benennen, also wirklich ‚wieder‘erkennen würde!); man meint, Beethoven habe darüber seine 3

Johann Zitiert nach: Das Bach-Lexikon, hg. V. M- Heinemann, 2000, 226 (Art. Goehte).

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Musik komponiert. Nur: Um sich das einzugestehen, braucht es eine gewisse Distanz gegenüber der zu Nietzsches Zeit noch unbedingten, kritiklosen Beethoven-Verehrung, die sich erst im Lauf des 20. Jahrhunderts ermäßigt hat. d) Jetzt komme ich zurück zu den Komponisten, die eine Generation älter waren als Nietzsche. Das Verhältnis zur Musik Robert Schumanns war für Nietzsche durch Wagners Verachtung, ja Mißgunst ihr gegenüber beeinflusst. In Ecce homo kommt das, regredierend, bei der Erwähnung seines eigenen Klavierstücks Manfred zum Ausdruck (KSA, EH, 6,286). Nietzsche erklärt, er habe es als „Gegenouvertüre“ zu Schumanns Manfred geschrieben, „aus Ingrimm gegen diesen süßlichen Sachsen“, der, wie unter Deutschen üblich, jeden Begriff von Größe vermissen lasse. Ddas erklärt keineswegs die Entstehung dieser Komposition; schon deshalb nicht, weil Nietzsche auch sonst nicht zu dem, was ihm an deutscher Musik missfiel, eigene Gegenstücke komponiert hat. Die Einschränkung, dass es sich bei Schumann um einen Sachsen handelt, ist auch kein Argument; es sei denn, Nietzsche wollte daran erinnern, dass auch Wagner Sachse war: und gerade nicht typisch deutsch (ebd., 288f.). – Das Entscheidende verschweigt Nietzsche hier: dass die Abwertung Schumanns zu Wagners Musikpolitik gehörte und Nietzsche 1872 mit dieser Komposition seiner Übereinstimmung damit einen Ausdruck geben wollte (den Wagner aber nur ignorieren konnte). Auch Nietzsches Rhetorik erinnert an Wagner: Der hatte 1878 in Das Publikum in Zeit und Raum gegen den ‚seichten Gounod‘ und den ‚schwülstigen Schumann‘ polemisiert. Daran klingt Nietzsches unfreundliche Rede vom ‚süßlichen Sachsen‘ Schumann in Ecce homo an. Das Wort ‚schwülstig‘ vermied er wohlweislich; denn wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. – Was Nietzsche außerdem verschweigt, ist, dass seine eigene ManfredKomposition primär nichts mit Lord Byrons Manfred zu tun hatte, sondern auf ein fast zehn Jahre älteres Stück für Klavier zu vier Händen zurückgeht, das Eine Sylvesternacht betitelt war und für das Spiel mit seinem Freund Gustav Krug in den Weihnachtsferien 1862/63 bestimmt war. Neun Jahre später hat er zu Weihnachten 1871 das Stück wieder hervorgeholt und überarbeitet, es hieß nun Nachklang einer Sylvesternacht und wurde Cosima Wagner zum Geburtstag überreicht. Es ein Jahr später noch einmal zu bearbeiten und als ‚Gegen-Manfred‘ gegen Schumann auszugeben, ist ein wunderlicher Vorgang, den Nietzsche in Ecce homo lieber nicht erzählt hat. Auch hat er nicht erzählt, warum er das Stück Hans von Bülow geschickt hat. Irgendwie wollte er damit wohl im Kreise Wagner-Bülow eine Rolle spielen – aber welche? Doch Bülow konnte es sich nicht verkneifen, dem Herrn Professor den Rat zu geben, wenn er viel Freizeit habe, für diese sich eine andere Beschäftigung zu suchen als das Komponieren. Zur Zeit der Aphorismen-Reihe war Nietzsche freier, Schumann andere Seiten abzugewinnen. Dabei hat er ihn zeitgeschichtlich eingeordnet: „Der ‚Jüngling‘, wie ihn die romantischen Liederdichter Deutschlands und Frankreichs um das erste Drittel dieses Jahrhunderts träumten, – dieser Jüngling ist vollständig in Sang und Ton übersetzt worden – durch Robert Schumann, den ewigen Jüngling“ (KSA, WS, 2, 619). Der Ausdruck ‚Sang und Ton‘ gibt wie ‚die romantischen Liederdichter‘ zu erkennen, dass Nietzsche vor allem an die Lieder Schumanns dachte. Im Entwurf nennt er direkt Josef von Eichendorff (vgl. KSA, 14,193), von dem Schumann mehrere Gedichte vertont hat. Die Klavierwerke des jungen Schumann werden zu virtuos für Nietzsche gewesen sein,

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während die Lieder hinsichtlich der Sing- wie der Klavierstimme für die Hausmusik unter Laien bestimmt waren. In den Liedern stößt man, sie waren schon damals im historischen Fortgang gedruckt, auch auf das Nachlassen von Schumanns schöpferischem Genius, das Nietzsche mit den Worten anspricht: „so lange er sich in voller Kraft fühlte; es giebt freilich Momente, in denen seine Musik an die ewige ‚alte Jungfer‘ erinnert“ (KSA, WS, 2, 619). Gleich alt wie Schumann war Chopin, dem zwei Aphorismen gewidmet sind und den Nietzsche noch einmal in Ecce homo ausdrücklich hervorhebt. Es wird manchmal gerätselt, welche Musik wirklich Nietzsches ungetrübte Zustimmung erlangt habe oder hätte erlangt haben können. Man kommt dabei etwa auf Claude Debussy, wenn denn Nietzsche dessen Meisterwerke noch erlebt hätte. Doch das sind haltlose Überlegungen, zumal die Frage durch Nietzsche selbst schon entschieden ist: Es ist Chopin, den er obenan stellt. – In Ecce homo geschieht dies in der maßlosen und begründungsarmen Rhetorik, in die Nietzsche dort leicht fällt. Er erklärt rundheraus, dass kein Deutscher wissen könne, was Musik ist, aber die Ausnahmen kommen gleich hinterher: es seien „ausgestorbene Deutsche“ (KSA, EH, 6, 291) wie Heinrich Schütz, Bach und Händel. Dann verharrt er auf der nationalen resp. rassischen Linie: „Ich bin immer noch Pole genug, um gegen Chopin den Rest der Musik hinzugeben“ (ebd.). Und auch dazu fallen ihm gleich Ausnahmen ein, auf die er eingehen muss. Näheres zu Chopin erfährt man nicht. So muss man annehmen, dass für Chopin das gelten soll, was Nietzsche vorher prinzipiell darüber gesagt hat, was er „eigentlich von der Musik will. Dass sie heiter und tief ist, wie ein Nachmittag im Oktober. Dass sie eigen, ausgelassen, zärtlich, ein kleines süsses Weib von Niedertracht und Anmut ist“ (ebd., 290). Nun ja … Im Aphorismus 159 (Der Wanderer und sein Schatten) wird der Leser ernster genommen und gehaltvoller angesprochen, obwohl auch dort betont wird, dass Chopin Pole war, was eigentlich zu Nietzsches Auffassung von der großen modernen Musik nicht passt, die außer den Contrapunkt und die Kirche auch die Nationalitäten überwunden haben soll. Aber die Grundidee, die über Chopin ausgeführt wird, ist beachtenswert. Sie geht aus der Überschrift hervor: Freiheit in Fesseln – eine fürstliche Freiheit. Chopin ließ die vorgegebene Konvention in melodischen und rhythmischen Herkömmlichkeiten gelten, aber in diesen Konventionen konnte er, gleichsam in Fesseln, spielen und tanzen. Es ist keine absolute Freiheit, sondern eine fürstliche, eine gebundene und zugleich souveräne. Fürsten sind an die Etiquette gebunden, in ihr geboren, aber deren Spielräume auszunutzen gibt ihnen das Bewusstsein einer geordneten Welt, in der sie selber etwas gestalten können. – Ähnliches hatte Nietzsche schon von griechischen Künstlern, Dichtern und Schriftstellern gesagt. Der Aphorismus 140 (Der Wanderer und sein Schatten) ist überschrieben In Ketten tanzen und spricht vom Zwang, der Dichtern durch ihre Vorgänger auferlegt ist, den sie selber noch vergrößern können durch neue Einfälle, aber in dem sie sich bewegen können müssen, um darin ihre Souveränität zeigen zu können (vgl. KSA, WS, 2, 612). So dass wir für Chopin wieder die alten Griechen als Vergleich angeführt finden, obwohl sie nichts direkt zur Musik beitragen können. Wohl aber zur Freiheit in der geregelten Kunst, aus der die Schönheit wachsen kann.

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Auf die Musik Chopins geht noch der Aphorismus 160 ein anhand der Barcarole. Die These ist, dass fast alle Zustände und Lebensweisen einen seligen Moment haben. Den wissen die großen Künstler herauszufischen. Selbst etwas so Unerfreuliches, wie das Leben am Strande, hat solchen Moment, und den habe Chopin in seiner Barcarole zum Ertönen gebracht, so dass selbst Götter Lust bekämen, dabei zu sein (ebd., 619). Es ist eine schwärmerische Sprache, die Nietzsche hier führt, aber sie gibt vielleicht am ehesten Aufschluss darüber, was ihm Chopin bedeutete – und warum. Wie er praktisch dazu kam, Chopin zu hören, weiß ich nicht. Um selber dessen Klaviermusik zu spielen, wird das meiste für Nietzsche zu schwer gewesen sein. Vielleicht hat Peter Gast ihm etwas davon vorgespielt. e) Abschließend muss noch eine Frage ihr Recht bekommen: Und Wagner? Kommt er überhaupt in den beiden Teilen von Menschliches, Allzumenschliches vor? Sieht man von den späteren Vorworten zur 2. Auflage ab, so kommt Wagners Name nur in den schon genannten zwei Aphorismen 134 und 171 der Vermischten Sprüche vor. In der Aphorismenreihe im Wanderer und sein Schatten, bei der ich mich jetzt aufhalte, dagegen nicht: jedenfalls nicht direkt. Wohl aber indirekt, ohne Namensnennung und mehr bezogen auf den Musizierstil als auf bestimmte Kompositionen. In der von mir in den Mittelpunkt gestellten Aphorismenfolge sind die Aphorismen 153, 156, 162, 163, 165, 166 zu nennen. Das sind der Zahl nach weitaus mehr als zu einem anderen Komponisten. Inhaltlich sind sie monotoner und stilistisch nüchterner als die schon genannten. Aber es wird plastischer, was Nietzsche meinte, weil er sich nicht das Unsagbare zu formulieren vorgenommen hat, das wir zu Chopins Barcarole kennen lernten: der erquickenden Wirkung einer bestimmten Musik auf die Spur zu kommen. Es ist primär der dramatische Vortragsstil, wie er von Wagner verlangt worden ist, den Nietzsche hier charakterisieren und zugleich ablehnen will. Ich kann mich auf die beiden Aphorismen 156 und 165 beschränken mit den Überschriften Modernster Vortrag der Musik und Vom Principe des Vortrags in der Musik. Angegriffen wird von Nietzsche der innere Zwang, „jedem Stück so viel Hochrelief zu geben, als nur möglich ist, und es um jeden Preis eine dramatische Sprache reden zu lassen“ (ebd., 620). Dass diese neue Gepflogenheit ein Unding ist, zeigt deren Anwendung auf Wolfgang Amadeus Mozart, wobei man sich nicht nur an dessen Heiterkeit vergeht, sondern auch gegen seinen Ernst, der „ein gütiger und nicht ein furchtbarer Ernst ist, dessen Bilder nicht aus der Wand herausspringen wollen, um die Anschauenden in Entsetzen und Flucht zu jagen“, wie Nietzsche einfühlsam bemerkt. Aber wenn eingewandt wird, „die grössere Wirkung spreche zu Gunsten“ dieses Prinzips, und damit wäre etwas Richtiges gesagt, so bleibt die Gegenfrage, „auf wen da gewirkt worden sei, und auf wen ein vornehmer Künstler überhaupt nur wirken wollen dürfe!“ (ebd.). Damit stehen wir wieder vor Nietzsches Grundanliegen in der Geschmacksfrage. So sagt er unmissverständlich, auf wen ein Künstler nicht wirken wollen darf: „Niemals auf das Volk! Niemals auf die Unreifen! Niemals auf die Empfindsamen! Niemals auf die Krankhaften! Vor Allem aber: niemals auf die Abgestumpften!“ (ebd.). Das zuletzt Gesagte zeigt, dass es weniger um eine Klassen- oder Standesfrage geht, als vielmehr um einen Zug der Modernität, dem man verfallen kann oder von dem freizuhalten man sich bemühen könnte. Der Aphorismus 156 schlägt den Bogen zu Nietz-

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sches Diagnose vom Rückfall der Modernität in Ausläufer der christlichen Religion, wofür ihm Wagners Parsifal steht.4 „Der grosse tragisch-dramatische Vortrag in der Musik bekommt seinen Charakter durch Nachahmung der Gebärden des grossen Sünders, wie ihn das Christentum sich denkt und wünscht“ (ebd. 617). Nachdem er dies im einzelnen geschildert hat, schließt er mit dem erschreckten Ausruf, den er einem Zuhörer in den Mund legt, der nicht genug Christ ist, um die Sünden-Logik des Christentums zu verstehen: „Um des Himmels willen, wie ist denn die Sünde in die Musik gekommen!“ (ebd.). – Das kann man natürlich nur als Assoziation nehmen, die Nietzsche nahe lag und die für uns interessant, sogar anregend sein kann; doch als Bestandteil eines geschlossenen Gedankensystems kann ich solche Aussagen nicht nehmen. Es ist gerade der Reiz des Relativierens, dass auch die Aussagen dazu selber relativiert werden dürfen, ja sollen, und ich meine, die Form des Aphorismus zumindest in Menschliches, Allzumenschliches so zu verstehen, dass Nietzsche schon durch die Form diesem Umgang zuarbeiten wollte. Eine andere Frage ist, ob er das durchgehalten hat, ob er es überhaupt durchhalten wollte, ob das Menschlich-Allzumenschliche bei ihm selbst auf die Länge nicht in eine andere Richtung wies.

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Vgl. ders., ebd. (Anm. 2).

PETER ANDRÉ BLOCH

Nietzsche als Gesellschaftsmusiker zwischen Parodie und Pathos

Meinen Beitrag widme ich Curt Paul Janz, der am 1.10.2005 auf dem NietzscheKolloquium in Sils-Maria über seinen Weg zu Nietzsche gesprochen hat und bei dieser Gelegenheit von einem kleinen musikwissenschaftlich-literarischen Fund berichtete, auf den ich am Schluss, gewissermaßen als Krönung meiner Ausführungen, zurückkommen werde. Ihm verdanken wir alle Grundlagen zu unseren Arbeiten über Nietzsche als Musiker, in engem Zusammenhang mit dem Nietzsche-Haus in Sils-Maria, wie ich kurz ausführen werde, um dann einen weniger musikwissenschaftlichen als verhaltenspsychologischen Aspekt seiner Musikalität anzusprechen: deren Brückenfunktion zur Kontaktaufnahme mit ihn interessierenden Menschen, bei der Pflege freundschaftlicher Beziehungen über alle möglichen politischen, sozialen, kulturellen oder hierarchischen Unterschiede hinweg.1 Während Jahren ist Friedrich Nietzsches Musikinteresse vor allem im Schatten seiner Auseinandersetzungen mit Richard Wagner gesehen worden. Man hat seine Argumente gegen Bayreuth zitiert, auf seine Vorliebe für Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart und Joseph Haydn, Franz Schubert, Felix Mendelssohn und Ludwig van Beethoven, auf die Vorbehalte des jungen Nietzsche gegen die moderne Musik, die sogenannte ‚Zukunftsmusik‘ hingewiesen, hat seine Faszination durch Georges Bizets Carmen belächelt und über seine blinde Bewunderung für Peter Gasts Löwen von Venedig den Kopf geschüttelt. Zu alledem gab es das vernichtende Urteil Hans von Bülows, im Brief vom 24. Juli 1872, in welchem seine Manfred-Meditation als „das Extremste von phantastischer Extravaganz, das Unerquicklichste und Antimusikalischste“ bezeichnet wurde, das dem grossen Dirigenten und Musikkenner „seit langem von Aufzeichnungen auf Notenpapier zu Gesicht gekommen“ (KWB, II/4, 21) sei. So blieben seine Partituren weitgehend unbekannt, bis zur Einweihung des Nietzsche-Hauses in Sils-Maria am 25. August 1960. Der Stiftungsrat hatte den Musiker und späteren Nietzsche-Biographen Curt Paul Janz eingeladen, bei der Aufführung von Nietzsches Eine 1

Die Interpretationsskizze ist Curt Paul Janz gewidmet. Seinen biographischen und musikalischen Forschungen sowie vielen persönlichen Gesprächen und Begegnungen verdanke ich wesentliche Sachinformationen, die es mir erlaubten, die Musik Nietzsches in ihrer Eigenart zu begreifen. Es handelt sich um die überarbeitete und erweiterte Fassung meines Beitrags Nietzsche als Komponist und Musiker, in der Festschrift für Jean-Marie Paul, Entre la quête de l’absolu et le principe de réalité, hg. von Françoise Daviet-Taylor, Manfred Gangl, Anne-Sophie Petit-Emptaz, Paris 2003.

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Sylvesternacht, Phantasie für Klavier und Violine mitzuwirken, woraus die Idee einer Publikation von Nietzsches musikalischem Nachlass entstand. Bereits 1939 hatte Karl Schlechta versucht, die Partituren durch Gustav Lenzewski veröffentlichten zu lassen, aber die Bombardierungen Leipzigs zerstörten die Vorarbeiten wie auch einzelne Originale, von denen nur Abschriften erhalten geblieben sind. In der Euphorie der Einweihungsfeier gelang es dem Stiftungsrat, Janz zu überzeugen, im Auftrag der Schweizerischen Musikwissenschaftlichen Gesellschaft, die Herausgeberschaft von Nietzsches musikalischem Nachlass zu übernehmen. Nach sorgfältiger Vorarbeit konnte 1976 im Bärenreiter-Verlag Basel Nietzsches Musikalischer Nachlass erscheinen, in historischkritischer Ausgabe, mit den damals bekannten Kompositionen von Nietzsches Hand.2 An den seit 1981 jährlich stattfindenden Nietzsche-Kolloquien in Sils-Maria hat sich der Stiftungsrat stets um die Aufführung von Nietzsches und auch Peter Gasts Musik bemüht, durch renommierte Interpreten und studentische Gruppen, die sich im Zusammenhang mit ihrer Beschäftigung mit dem philosophischen und literarischen Werk auch für seine Musik interessierten. Ursprünglich begegnete man großen Vorbehalten und qualitätsbegründeten Einwänden, besonders von Forscherseite. Private Initiativen machten es indessen möglich, das Interesse eines größer werdenden Publikums zu wecken, wobei sich vor allem Musiker wie Janz, Max Lang und Wolfgang Rihm durch ihre theoretischen wie auch interpretatorischen Ausführungen große Verdienste erwarben. Viele Ausführende haben durch Idealismus und Experimentierfreudigkeit das Verständnis für die Eigenheiten von Nietzsches Musik gefördert, speziell die Tradition der gemeinschaftsfördernden Hausmusik3. In Europa, den USA und Kanada befassen sich immer mehr Studenten mit Nietzsches musikalischem Schaffen, das sie gerne mit dem von Nietzsches Zeitgenossen vergleichen. Es besteht kein Zweifel, dass man sich im Zusammenhang mit Nietzsches philosophisch-literarischer Tätigkeit für sein musikalisches Wirken interessiert. Zwischen Phi2

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Friedrich Nietzsche, Der musikalische Nachlass (zit. NMN), hg. im Auftrag der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft von Curt Paul Janz, Basel 1976. Im Anschluss an ihren Liederabend am Nietzsche-Kolloquium veröffentlichte die Sopranistin Traudl Tiefenbacher, mit dem Pianisten Wolfram Lorenzen, 1984 eine Schallplatte mit Romantischen Liedern von Nietzsche und Peter Gast. Etwas später gab der Bildungsverein Panomia dessen Klavierkompositionen heraus, mit dem Pianisten Carsten Storm. Die Luzerner Vokalisten führten unter Leitung von Hans-Jörg Jans in der Kirche zu Silvaplana Nietzsches Miserere auf; mit großem Erfolg wies der Pianist Charles Dobler anhand ausgewählter Beispiele auf die Eigenheiten von Nietzsches Klavier-Kompositionen hin. Die Cembalistin Christina Kunz erklärte die Struktur und Hintergründe seiner Harmonisierungen von Bach-Kompositionen. Der Gitarrist Michael Erni führte mit Gert Westphal (Sprecher) und David Aguilar (Flöte) Nietzsche-Melodramen auf, die 1990 im Berner Zytglogge-Verlag erschienen. Martin Pernet und der Cellist Gyula Petendi stellten Werke aus dem Umfeld Nietzsches, aus dem Kreis der Naumburger Familie Krug, mit Eigenkompositionen und Konzertdarbietungen, wie sie in deren Hause stattfanden, vor. Auf Anregung von Albi und Maud Rosenthal wurde Peter Gasts Ouvertüre zum Löwen von Venedig erstmals in der Schweiz gespielt. Schließlich präsentierten US-Musikstudenten unter der Leitung des New Yorker Dirigenten Tali Makell die selten aufgeführte Komposition für Klavier und Violine; Albi Rosenthal gab die Erlaubnis, die aufgefundene Partitur der Monodie à deux, mit dem bisher unbekannten Schluss, zu verwenden.

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losophie und Philologie, Essayistik und Lyrik stehend, ist er eine Mehrfachbegabung, wobei bei ihm im Musikalischen nicht nur die Perfektion im Vordergrund steht, sondern die Darstellbarkeit des Gedachten und Gemeinten. Das Spektrum von Nietzsches Tätigkeitsgebieten war so weit und seine experimentelle Neugierde als Künstler und Denker so groß, dass er bei seinen Darstellungen selbst mehr und mehr auch an deren Wahrnehmungsmöglichkeiten dachte, an das Spiel mit verschiedenen Perspektiven und Erfahrungsdimensionen. Dazu gehört seine Beschäftigung mit dem Klang, der Melodie, den Hörgewohnheiten des Menschen. Ihn interessierten am Wort nicht nur seine inhaltlichen Belange, sondern auch seine bild- und klanghafte, Assoziationen auslösende Bedeutung als Klangkörper, seine objektivierte Gestalt und subjektive Wirkung. Es geht auch darum, Nietzsches Eigenständigkeiten wie Abhängigkeiten als Autodidakt gerecht zu werden, im Sinne einer Einführung in die magisch-sinnlich-akustischen Bereiche seiner Einbildungskraft, in ihrer Spannung zu den Einflüssen bewusst wahrgenommener wie indirekt auf ihn wirkender Umgebung.

Die Stille der Selbstkonzentration Inschrift beim Eingang des Bergrestaurants Lagrev auf Isola bei Sils-Maria am Wege von Nietzsches Lieblingsspaziergang: „Wer Klang wirklich in seinen ganzen Dimensionen aufnehmen will, muss Stille erfahren haben. Stille als wirkliche Substanz, nicht als Abwesenheit eines Geräuschs. Diese echte Stille ist Klarheit, aber nie Farblosigkeit, ist Rhythmus, ist Fundament allen Denkens, darauf wächst alles Schöpferische von Wert. Alles, was lebt und dauert, entsteht aus dem Schweigen; wer diese Stille in sich trägt, kann den lauten Anforderungen von Außen gelassen begegnen“ (Yehudi Menuhin). Es ist die Stille vollkommener Selbstkonzentration, die Nietzsche am Musizieren interessierte. Die Selbstvergewisserung seiner Fähigkeiten, Gefühle und Stimmungen auszudrücken, in einem bedeutsam-verbindlichen Sinn, für sich, aber auch für die ihn umgebenden Menschen. Seine Werke hat er für ganz bestimmte Konstellationen geschrieben, sich die Aufführungsorte oder den Leser vorgestellt, bei der Arbeit miteinbezogen. Dabei ließ er sich von Vorbildern leiten, in Berücksichtigung auch der Hörgewohnheiten und automatischen Assoziationsreflexe seiner Zuhörer. In diesem Sinne ist er auch in seinem Schöpfertum Zeitzeuge. Parodierend übernimmt er die damaligen Voraussetzungen, pathetisch füllt er die übernommenen Gefäße mit der ihm eigenen Substanz, reinen Einfällen und Gefühlen, die er spielerisch, aufgrund der Vorstellungsebene seiner ihm nahe stehenden Lehrer, Freunde oder Verwandten, zu gestalten versucht. Er liebte das fröhliche miteinander Musizieren, das vierhändige Klavierspiel, das behutsam unterstreichende Begleiten einer Singstimme am Klavier, das Verteilen einzelner Funktionen auf verschiedene Rollenträger. Und gerne wirkte er dabei als das organisierende Zentrum, in der Einleitung, Durchführung und beim kommentierenden Abschließen oder Überleiten. Gemäß der ihm zugefallenen Rolle als einzig männliche, d.h. führende, Instanz in der Familie, welche die Familientreffen oder Feste feierlich zu eröffnen, in Würde zu leiten und allen mit Freundlichkeit zu danken hatte, im Namen des verstorbenen Vaters, der selbst ein hoch begabter Musiker gewesen war. Es entwi-

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ckelte sich in ihm so etwas wie eine schöpferische Spielleiterbegabung, in die er als Schüler, dann als Student, als Philologe, Sänger und Künstler mehr und mehr hineinwuchs, als verbindende Gestalt und verbindliche Mittlerfigur. Dieses für ihn typische Verhalten ist am besten in Zusammenhang mit seinen musikalischen Tätigkeiten aufzeigbar, weil dafür eine bestimmte, eher intime, Öffentlichkeit gegeben war.

Die Rolle der Musik in Nietzsches Kindheit und Jugend Die ersten musikalischen Eindrücke empfing Nietzsche im Elternhaus. Im Pfarrhaus Röcken widmete man sich intensiv der gehobenen Haus- und Kirchenmusik. Sein Vater war Prinzenerzieher im musikfreundlichen Altenburg gewesen und hatte seiner jungen Gattin während ihren Schwangerschaften stundenlang klassische Musik vorgespielt, Bach, Mozart, Beethoven, auch eigene Improvisationen, damit sich das Kleinkind bereits im Mutterleib an Harmonie und Wohlklang gewöhne. Bei den gefühlsmäßig zurückhaltenden Eltern vermittelte sich Zärtlichkeit indirekt in musikalischen Stimmungen und vorgegebenen Musikharmonien. Im Gesellschaftlichen wie im Erzieherischen gehörten gemeinsames Musizieren und Chorsingen für sie zu den persönlichkeitsbildenden, gemeinschaftsfördernden Elementen. Für Nietzsche stand so von Anfang an die Kommunikationskraft des musikalischen Ausdrucks im Vordergrund. Früh setzte er sich mit der europäischen Musiktradition auseinander, Hand in Hand mit dem Erlernen eigener sprachlicher oder bildnerischer Ausdrucksmöglichkeiten. Seine Briefe und Notizen sind voll von Bemerkungen über Musikalisches; bereits in seinem ersten umfangreicheren Werk, dem Entwurf zu einer Selbstdarstellung aus dem Jahre 1858, den er als 14jähriger niederschrieb und mit Aus meinem Leben4 betitelte, beschreibt er seine Faszination durch die Musik. Er spricht von der großen Fertigkeit seines Vaters im Klavierspiel, besonders im freien Variieren und erwähnt als erstes großes Jugenderlebnis das Erklingen der Röckener Osterglocken beim Spaziergang mit seinem Vater in der Umgebung von Lützen. Die gleichen Glocken ertönten zur Beerdigung seines Vaters, welche den jungen Nietzsche, zusammen mit Bachs Choral Jesu meine Zuversicht, zutiefst ergriffen: „Oh, nie wird sich der dumpfe Klang derselben aus meinem Ohr verliehren, nie werde ich die düster rauschende Melodie des Liedes ‚Jesu meine Zuversicht‘ vergessen! Durch die Hallen der Kirche brauste Orgelton“ (JS/AM, 5). Diese beiden Grunderfahrungen haben Nietzsche in seinem Verhältnis zur Musik geprägt: er eiferte seinem verstorbenen Vater im Klavierspiel nach, und eine seiner ersten Kompositionen ist die Harmonisierung von Bachs Jesu meine Zuversicht in mehreren schönen Variationen. Das Glockenmotiv selbst wird die Eingänge und Zwischenpartien seiner späteren Kompositionen leitmotivartig prägen. Nach dem Umzug nach Naumburg kaufte Franziska Nietzsche ein Klavier, um ihren Kindern vorerst selbst Klavierunterricht zu geben; sie pflegte mit ihnen vierhändig zu spielen, ließ sie gerne vorspielen und für jedes Familienfest kleine Gedichte vortragen, in Erinnerung an den verstorbenen Vater. Für solche Gelegenheiten hat der kaum 4

Friedrich Nietzsche, „Aus meinem Leben“, in: Friedrich Nietzsche, Jugendschriften, Bd. I (1854– 1861), hg. von Hans Joachim Mette, München 1994. (Im folgenden: JS/AM).

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10jährige Nietzsche seine ersten Werklein komponiert: Melodienfragment / Übungen / Mehrstimmige Sätzchen / Introduzion / Sonatine op. II / Geburtstagssinphonie etc. Es handelt sich dabei um ganz kleine musikalische Sätze, Melodienskizzen, elliptische Wendungen, die kaum je öffentlich aufgeführt worden sind. Ihre Titel weisen auf grössere Einheiten hin, auf Vorbilder, die es einzuholen gilt, auf der Suche nach einer eigenen musikalischen Sprache. Er entleiht links und rechts Ton- und Rhythmuskombinationen, die er in neuen Verbindungen verwendet, eigene Einfälle mit übernommenen Figuren kombinierend. So entstehen musikalische Entwürfe in klassischer Tradition, wie er sie kennt. Auffällig ist von Anfang an sein pathetischer Ton, die Freude an der Wiederholung und Abwandlung einmal gefundener Grundmotive, die er mit seinem noch etwas verhaltenen Schwung zum ekstatischen Ausdruck hin zusammenhält, was eines der Hauptkennzeichen seiner Musik bleiben wird. Für den jungen Nietzsche wurden besonders Georg Friedrich Händels Messias und Mozarts Requiem, die er 1853 und 1854 in der Stadtkirche von St. Wenzel hörte, wichtig. Immer wieder besuchte er die Proben, denen er in der Dunkelheit der Kirche aufmerksam folgte, sich in die harmonischen Tongebilde verlierend, als ob er in Träume versinke. In Wirklichkeit hörte er genau hin, um zu erfahren, wie man ein so komplexes Zusammenspiel der unterschiedlichsten Instrumente in all ihren Ausdrucksmöglichkeiten zu einem Ganzen zusammenbringe, um im Zuschauer eine Wirkung des Erhabenen auszulösen, im Sinne einer pietistischen geistigen Gottesekstase. Er fühlte sich unmittelbar angeregt zu eigenem Arbeiten, zum aktiven Umsetzen der in ihm ausgelösten Energien. In der Selbstdarstellung von 1858 beschreibt er, wie sehr er vom Halleluja beeindruckt war: „Mir war, als wollte ich mit einstimmen, deuchte mir doch, es sei der Jubelgesang der Engel, unter dessen Brausen Jesus Christus gen Himmel führe. Alsbald fasste ich den ernstlichen Entschluss, etwas Aehnliches zu komponieren. Sogleich nach der Kirche ging ich auch ans Werk und freute mich kindlich über jeden neuen Akkort, den ich erklingen liess. Indem ich aber davon jahrelang nicht abliess, gewann ich doch sehr dabei, indem ich durch die Erlernung des Tongefüges etwas besser vom Blatt spielen lernte. […] Ich empfing dadurch einen unauslöschlichen Hass gegen alle moderne Musik und alles, was nicht klassisch war. Mozart und Haydn, Schubert und Mendelssohn, Beethoven und Bach, das sind die Säulen, auf die sich nur deutsche Musik und ich gründete“ (ebd., 18). Er machte große Fortschritte im Klavierspiel, bewältigte 1856 ohne Schwierigkeiten die Sonaten 7, 26 und 49 von Beethoven wie auch dessen zweite Sinfonie in der Klavierversion zu vier Händen.5 Für den Entwurf seiner Tragödie Orkadal konzipierte er eine ‚rasende Ouvertüre‘ für Klavier zu vier Händen, die leider verloren ist, im November 1856 zwei Sonaten, die er am 2. Februar 1857 seiner Mutter zum Geburtstag schenkte, wie er von nun an alle musikalischen Werke für eine bestimmte Person verfasste. So zur gleichen Zeit eine Geburtstagssymphonie für Klavier und Geigenchor, dann bis 1858 neben verschiedenen kleinen Skizzen eine Ouvertüre in G-Moll für Streichorchester, einen vierstimmigen Satz Es zieht ein stiller Engel, zwei- und vierhändige Klavierstücke, einen Streichquartettsatz und Choralmelodienkonzepte; darunter auch die Harmonisierung der Bachmotette Jesus meine Zuversicht. Nietzsche ist zu 5

Curt Paul Janz: Friedrich Nietzsche. Biographie, München, Wien 1978, Bd. I, 58.

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diesem Zeitpunkt seines Lebens durch den Pietismus stark geprägt. Er ist überzeugt, dass Gott sein Schicksal gütig leitet; die herben Verluste seiner Jugend versteht er als Zeichen seines Auserwähltseins für höhere Bestimmungen. Musik ist für ihn ein Mittel, Gott näher zu kommen, mit Verstand und Herz. „Gott hat uns die Musik gegeben, damit wir erstens, durch sie nach Oben geleitet werden“, hält er in seiner Lebensbeschreibung fest: „Die Musik vereint alle Eigenschaften in sich, sie kann erheben, sie kann tändeln, sie kann uns aufheitern, ja sie vermag mit ihren sanften wehmüthigen Tönen das roheste Gemüth zu brechen.“. In der Erschütterung kann man Gott in sich erfahren; durch eine starke Konzentration auf die eigenen Gefühle, so dass man ganz sich selber wird. Aber wehe, wenn man durch Musik zerstreut oder bloß unterhalten wird; das ist „sündlich und schädlich; denn es führt von der göttlichen Bestimmung der Musik weg“ (ebd., 26f.).

Kompositorische Arbeiten für den Freundeskreis Germania In Naumburg hat er des öfteren mit seinen beiden Freunden Wilhelm Pinder und Gustav Krug, Patenkind von Mendelssohn, musiziert; wurde auch zu den Hauskonzerten beider Familien eingeladen, mit zum Teil eigenen Kompositionen der Gastgeber. Und in Schulpforta wurden Leseerfahrungen ausgetauscht und für gemeinsame Diskussionen eigene Beiträge abgefasst: Gedichte, musikalische Werke, Essays, philosophische Abhandlungen. Als Nietzsche 1860 in den Sommerferien den Freund Pinder einige Tage zu seinem Onkel Edmund Oehler, Pfarrer in Gorenzen im Harz, einlud, beschlossen sie, ihren literarisch-künstlerischen Austausch zu intensivieren und mit Krug den Freundeskreis Germania zu gründen, mit dem Zweck: „für unsere produktiven Neigungen in Kunst und Litteratur eine feste und verpflichtende Organisation zu finden: d.h. schlichter ausgedrückt: es musste sich ein Jeder von uns verbindlich machen, von Monat zu Monat ein eignes Produkt, sei es eine Dichtung oder eine Abhandlung oder ein architektonischer Entwurf oder eine musikalische Produktion, einzusenden, über welches Produkt nun ein Jeder der Anderen mit der unbegrenzten Offenheit freundschaftlicher Kritik zu richten befugt war“ (KSA, BA, 1, 653). An diese Vereinbarung hielten sie sich bis zum 4. August 1863. Die Germania bildete für Nietzsche das erste größere Forum zur Erfüllung seines schöpferischen Bildungstriebs. Seine Beiträge bestanden aus mehreren Ausschnitten für ein geplantes Weihnachtsoratorium, unter Weglassung aller weltlichen Beimischungen (vgl. KSB, 1, 138). Anstelle des Rezitativs sei das Melodram, d.h. das gesprochene Wort mit begleitender Musik, zu setzen. Gleichzeitig skizzierte er Teile einer Messe, fasste den Plan eines Requiems, komponierte ein Miserere für 5stimmigen Chor a capella, eine Phantasie für Klavier, die er zusammen mit seiner Schwester 1859 zu Weihnachten spielte. Es ist erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit er die großen Tonfolgen eines Giovanni Palestrina nachbildete, die Stimmen parallel oder gegenläufig miteinander verband, zu eigentlichen Klangtürmen zusammenfügte, um sie wieder in sich zu vereinzeln und dann erneut, in wellenhaften Auf- und Abwärtsbewegungen, ineinander aufzulösen. Immer wieder gelang es ihm, sich einen bestehenden Stil mit meisterlicher Perfektion anzueig-

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nen, die Eigenschaften eines Werks zu durchschauen und aus sich selbst heraus neu zu gestalten, mit unbändiger Freude an der konsequenten Durchführung. So entsteht der Eindruck, als ob er eine neu gelernte Sprache akzentlos reproduziere, in virtuoser Kunstfertigkeit, wie es bei manieristischer Kirchenmusik des öfteren der Fall ist. Nach seiner Konfirmation vom 10. März 1861 ist ein deutlicher Stilwandel feststellbar. Das schon weit gediehene Vorhaben des Weihnachtsoratoriums wurde aufgegeben, wie alle Pläne religiösen Inhalts, statt dessen die symphonische Dichtung Ermanarich in Angriff genommen, nach dem Vorbild von Franz Liszts Hungaria. In einem Vortrag machte ihn Krug mit Szenen aus Wagners Tristan und Isolde bekannt; gemeinsam versuchten sie, mehrere Passagen mit dem Aufwand ihrer stimmlichen wie instrumentalen Kräfte wiederzugeben. Bisher hatte Nietzsche, wie Janz ausführt6, die Technik des Kontrapunktes nach Johann Georg Albrechtsberger, Theorielehrer von Beethoven, studiert. Anstelle der linearen Ordnungen dominieren bei Wagner vornehmlich die harmonischen, was Nietzsche ursprünglich befremdete, später aber geradezu magisch verzauberte. Vorläufig wandte er sich aber bewusst kürzeren, übersichtlicheren Formen zu, entwarf Ungarische Skizzen und zwei polnische Tänze und ging an die Komposition mehrerer Lieder, wozu er sich beim Verleger Hofmann in Berlin aus dem „Verlag der modernen Klassiker“ einige kleinere Gedichttexte verschaffte. Mit Freude sah er sich der Aufgabe gegenüber, eine besondere Stimmung, einen Gemütsausdruck oder eine kleine Situation ins Liedhaft-Atmosphärische zu übertragen, mit viel Sinn für Fasslichkeit und zarte Ausdruckskraft. In schneller Folge komponierte er sangbare Lieder wie Mein Platz vor der Tür (nach Klaus Groth), Aus der Jugendzeit (nach Friedrich Rückert). Er schenkte eine kleine Liedersammlung, zusammen mit anderen Kompositionen, Anna Redtel, aus Kösen, der Schwester eines Schulfreundes, mit welcher er in den Ferien zusammen musiziert hatte. Der Versuch einer persönlichen Kontaktnahme mit einem Mädchen löste in der Mutter große Bedenken aus, so dass sie sein Taschengeld kürzte! Tatsächlich ist in den Liedern so etwas wie zarte Sinnlichkeit spürbar; einschmeichelnde Melodien wechseln mit dramatischen Momenten und starken Gefühlsregungen, es geht um romantische Motive wie Abschied und Sehnsucht, Objektivierungen bemerkenswerter Situationen und Eindrücke, die er musikalisch mit Könnerschaft anschaulich inszeniert. Formal wirken die Lieder in sich geschlossen, von verhaltener Eindringlichkeit und Klarheit, ohne Schnörkeleien oder überflüssiges Beiwerk. Im weiteren versuchte er eine Klaviersonate zu vollenden, aber die Berufs- und Universitätswahl belasteten ihn am Ende der Zeit in Schulpforta derart, dass er das Komponieren aufgab, obwohl er im Stillen mit dem Gedanken spielte, sich als Musiker oder Musikkritiker ganz der Musik zu widmen, wie er es am 27. April 1863 seiner Mutter nach Naumburg schrieb: „Es kommt mir alles tot vor, wo ich nicht Musik höre“ (ebd., 238). Seine inneren Entscheidungskämpfe schlugen sich in einer Reihe von Krankheiten nieder, auch in der melancholischen Verhaltenheit seiner Phantasie für Violine und Klavier, Eine Sylvesternacht, die er zusammen mit Krug spielte, in wehmütiger Erinnerung an die gemeinsame idyllisch-glückliche Zeit in Gorenzen. Nach dem Schlussexamen in Schulpforta blieb er einige Tage bei seiner Mutter, zusammen mit Paul Deussen, mit welchem er, vor der Immatrikulation in Bonn, eine Reise auf dem Rhein machte, der 6

Ders., ebd., 90f.

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sich eine Ferienwoche bei dessen Eltern auf dem Lande anschloss. Hier machte er die Bekanntschaft von Marie Deussen, für welche er in Erinnerung ‚an diese wunderschönen Tage‘ mehrere Lieder komponierte, die er ihr von Bonn aus in einem prächtig gebundenen Bändchen als Geschenk übersandte: Beschwörung (nach Alexander Puschkin), Nachspiel (nach Sandor Petöfi), Ständchen (nach Sandor Petöfi), Gern und Gerner (nach Adalbert von Chamisso).

Musikalisches Wirken in der Studentenzeit, in Bonn und Leipzig Durch den Eintritt in die Burschenschaft Franconia traf er mit musikliebenden Philologen zusammen, die durch seine Klavierimprovisationen, vor allem aber wegen seiner parodistisch-satirischen Offenbachiade Die Frankonen im Himmel, auf ihn aufmerksam wurden. Sein Studentenname lautete bezeichnenderweise ‚Ritter Gluck‘. Den Zwängen der Burschenschaft stand er kritisch gegenüber, thematisierte in der Parodie das männerbündlerisch-hierarchische Verhalten gegenüber dem weiblichen Geschlecht und kehrte ein Jahr später dem studentischen Burschenleben den Rücken; zu sehr ging er in seiner Freizeit in den Anregungen der musikbezogenen Umwelt auf. In Bonn besuchte er das Grab Schumanns, wo er feierlich einen Kranz niederlegte, fuhr über Weihnachten 1864 nicht nach Hause: mit den Bonner Freunden vertiefte er sich in Schumanns Manfred, Geschenk seiner Tante, im vierhändigen Klavierspiel. Mutter und Schwester hatte er ein in Leder gebundenes und mit seinem Photo versehenes Bändchen seiner Lieder geschenkt. Zum Teil sind es dieselben, die er an Marie Deussen geschickt hatte, die er nun auf einem beigelegten Merkblatt mit Kommentaren versah, mit welchen er der Schwester möglichst genau das Singen dieser Lieder erläuterte: „für den Fall, dass Du die Lieder selbst spielen und singen willst […] Das leichteste zum Vortragen ist ‚Das Kind an die erloschene Kerze‘, so innig, einfach und harmlos wie möglich zu singen. Aehnlich das letzte Lied (‚Nachspiel‘), das, ebenfalls einfach, indessen getragen von grossartiger Resignation, Dir gewiss gefallen wird. Vergiss nicht die Stellen ‚in eine wilde schöne Waldeinsamkeit‘ und ‚und endlich selber mit ihr untergehen‘ voll, erhoben und gross zu singen. Das Ständchen liegt sehr tief, die Begleitung ist ein wenig schwerer, die Melodie ist sehr leicht zu singen. Es kommt darauf an, die letzte Zeile jedes Verses hervorzuheben. Das ‚Ungewitter‘ von Chamisso wird Dir gefallen; spiele und singe es ernst, düster und entschlossen, bis auf den mittelsten Vers, der den Contrast nach beiden Seiten hin bildet. ‚Es winkt und neigt‘ erfordert die Fähigkeit, vollgriffige Akkorde anschwellen zu lassen, und der Stimme alle Nüancen des Tons zu geben. ‚Verwelkt‘ ist ähnlich, aber leichter. Der Schluss ist ‚erfroren‘, sieh einmal, ob Du das nicht bemerkst. Die besten, aber auch schwersten Lieder sind ‚Gern und gerner‘ und ‚Unendlich‘! Das erste muss sehr schwungvoll, keck und graziös ausgeführt werden, das andre mit voller Leidenschaft. Nimm den Mittelvers langsamer. Besonders muss die Begleitung vorzüglich eingeübt sein, wenn das Lied gefallen soll … Mögen Dir die Lieder gefallen!“7 7

zit. nach Curt Paul Janz NMN, 333

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In Bonn setzte er seine Liedkompositionen fort, und viele Kritiker, auch Janz, sind der Meinung, dass diese in technischer Hinsicht seine besten Musikwerke darstellen: In formaler Hinsicht entsprechen sie am besten seinem Willen, in fasslich überschaubarem Rahmen Stimmungen und gefühlvoll-leidenschaftliche Situationen wiederzugeben. Ihre Kürze entspricht seiner Vorliebe für Aphorismen und prägnante Formulierungen und deren Modulationen. Gern stellte er Einzelwerke zu einem Zyklus zusammen, um durch den Kompositionsrahmen ihre Ausdruckskraft zu verstärken. In Bonn ging er derart häufig ins Konzert und Theater, dass er sich bald in finanziellen Schwierigkeiten sah und mehrmals seine Mutter um Geld bitten musste, welche umso beunruhigter wurde, als ihr Sohn sich mehr und mehr von der Theologie entfernte, so wie sie sich diese vorstellte. Er las Das Leben Jesu von David Friedrich Strauss, lehnte es Ostern ab, mit ihr und der Schwester zum Abendmahl zu gehen. Statt dessen sah er alle Opern: Fidelio, die Hugenotten (mit der bekannten Sängerin Bürde-Ney), den Freischütz und Oberon; hörte Clara Schumann und Adelina Patti, sprach oft mit Deussen über Wagners Musik, die er zu der Zeit noch ‚problematisch‘ fand. Im Juni 1865 besuchte er das dreitägige Musikfest in Köln, unter Leitung von Ferdinand Hiller. Nietzsche war Mitglied des großen Chores des Bonner städtischen Gesangvereins mit 600 Mitgliedern, nahm aktiv an der Aufführung von Haendels Israel in Aegypten teil; trotz enormer Hitze besuchte er alle Konzerte mit Werken von Beethoven, Schumann, Hiller. Ihm war das Gemeinschaftserlebnis wichtig, die Erfahrung des Zusammenspiels aller Sinne, wie er es von den griechischen Festspielen her kannte und bewunderte: sich als Teil eines Ganzen erleben, sich aktiv am Geschehen beteiligen, nicht bloß Zuschauer sein. Bevor er Bonn verließ, um in Leipzig weiter zu studieren, komponierte er nach eigenem Text ‚in einem Zug‘ das Lied Junge Fischerin, wie er es der Schwester schildert: „An Deinem Geburtstag, den Du wahrscheinlich durch einen grossen Jungfrauenkaffé gefeiert hast, habe ich am Nachmittag zum ersten Male in diesem Jahre wieder componiert. Und zwar mit energischer Wuth, gleich alles fertig. Da Dein Geburtstag doch die Ursache sein muss, so sei die Composition Dir noch nachträglich dedizirt. Es ist ein Lied im höchsten Zukunftsstile mit einem natürlichen Aufschrei und dergleichen Ingredienzen einer stillen Narrheit. Zu Grunde liegt ein Gedicht, das ich als Untersecundaner gemacht habe und zwar in Gorenzen. Ein Fischermädchen, das sich nach ihrem Schatz sehnt – voilà le sujet!!“ (KSB, 2, 74). Es sollte dies für längere Zeit die letzte abgeschlossene Komposition sein, außer einem Kyrie für Soli, Chor und Orchester (Klavier), das er am 2. Februar 1866 der Mutter nach Naumburg schickte; dessen Partitur nicht erhalten blieb, außer dem Titelblatt und der ersten Seite. Wollte er damit, wie Janz denkt, die Mutter durch die Zusendung beruhigen? 8 Jedenfalls kontrastiert die Idee einer Komposition religiösen Inhalts sehr mit seinem Enthusiasmus gegenüber Schopenhauer. In Leipzig konnte er ein unabhängigeres Leben führen, da er sich nicht mehr den Regeln einer Burschenschaft zu unterziehen hatte. Statt dessen vertiefte sich seine Freundschaft mit Erwin Rohde, der, wie er, in Bonn studiert und mit Friedrich Wilhelm Ritschl nach Leipzig gewechselt hatte. Beide waren sie Schopenhauerianer, später Wagnerianer. Oft gingen sie zusammen in Theater und Oper, besuchten alle Konzerte. So sah er Giacomo Meyerbeers Afrikanerin (die ihm missfiel), mit großer Wahrscheinlichkeit 8

Siehe Curt Paul Janz, NMN, 335.

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Wagners Tannhäuser, Mozarts Zauberflöte; Jacques Offenbachs Schöne Helena, Gioacchino Rossinis Wilhelm Tell und Giuseppe Verdis Troubadour. Als aktives Mitglied des Riedelschen Chors folgte er begeistert der Aufführung von Bachs Johannespassion. Mit spezieller Aufmerksamkeit besuchte er alle Theateraufführungen mit Hedwig Raabe, der er ein Bändchen seiner Lieder dedizierte, mit langem Bewunderungsbrief. Die Fröhlichkeit des Leipziger Lebens spiegelt sich in seiner Komposition Herbstlich sonnige Tage (nach Emanuel Geibel), für vier Stimmen und Klavier, die sich dazu eignet, durch einen kleinen Freundeskreis prima vista gesungen zu werden. Ob er es für den von ihm gegründeten Philologischen Verein komponierte? – Während der Semesterferien Sommer 1867 unternahm er mit Rohde eine Fußreise durch den Böhmerwald, die mit einem 4tägigen Musikfest in Meiningen endete, welches von Avantgarde-Musikern um von Bülow organisiert wurde. Sodann begaben sie sich ans Wartburgfest, wo Liszt seine Heilige Elisabeth dirigierte. Er war von der Bedeutung solcher kultureller Veranstaltungen mit gemeinschaftstiftendem Charakter so erfüllt, dass er sich entschloss, neben seiner philologischen Tätigkeit als ‚Rezensent und Musikhistoriker‘ zu wirken; Musik schien ihm als Sprache ohne Worte besonders fähig, Menschen verschiedener Überzeugung auf der Ebene gefühlhaft-harmonischen Einklangs zusammenzuführen. Noch immer verstand er sich als feuriger Bewunderer der Klassiker, der mit Rohde die „seltsamen musikalischen merkwürdigen Orgien“ der Modernen kritisierte (Brief an Carl von Gersdorff vom 1. Dezember 1867, ebd., 239). Vor allem setzte er sich mit Schopenhauers Pessimismus auseinander, mit dessen großen Einfluss auf die zeitgenössische Kunst; nennt ihn den wahrsten Philosophen einer wieder-entdeckten Klassizität, eines germanischen Hellenentums, den Philosophen eines regenerierten Deutschlands.9

Leipzig – Basel – Tribschen – Bayreuth: Begegnungen mit Richard Wagner, im Zeichen von Rausch und Begeisterung Am 6. November 1868 begegnete er in Leipzig Wagner, durch Vermittlung von Ernst Windisch, bei Professor Brockhaus, dessen Frau Wagners Schwester war. Einige Tage zuvor, am 27. Oktober, hatte er einem Konzert, mit dem Tristan-Vorspiel und der Ouvertüre zu den Meistersingern, beigewohnt, das ihn, wie er an Rohde schrieb, in einen Rauschzustand versetzte: „Ich bringe es nicht übers Herz, mich dieser Musik gegenüber kritisch kühl zu verhalten; jede Faser, jeder Nerv zuckt an mir, und ich habe lange nicht ein solches andauerndes Gefühl der Entrücktheit gehabt als bei letztgenannter Ouvertüre“ (ebd., 332). Er war von Walthers Meisterlied zutiefst beeindruckt, sang es den Freunden auswendig vor, sich am Klavier begleitend, sich rückhaltlos Wagners Musikströmen ausliefernd, frühere Widerstände überwindend, ja verurteilend. Wieder an Rohde: „Ich wollte […] wir könnten zusammen den kühnen, ja schwindelnden Gang seiner umstürzenden und aufbauenden Aesthetik gehen, wir könnten endlich uns von dem Gefühlsschwunge seiner Musik wegreissen lassen, von diesem Schopenhaueri9

Siehe Curt Paul Janz, B, 182f.

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schen Tonmeere, dessen geheimsten Wellenschlag ich mitempfinde, so dass mein Anhören Wagnerischer Musik eine jubelnde Intuition, ja ein staunendes Sichselbstfinden ist“ (ebd., 352).10 Wagner hatte von Nietzsches Begeisterung erfahren und war begierig, den jungen Verehrer kennenzulernen. Er las ihm aus seiner Autobiographie vor, freute sich über dessen Interesse; lud ihn zu einem Besuch nach Tribschen ein, was dieser nach seiner Berufung nach Basel, noch vor der Antrittsvorlesung, tatsächlich wahrnahm. Während Jahren wurde Wagner für ihn Inbegriff von Gegenwartskunst. In dessen Schöpferkraft glaubte er eine neue klassische Zeit erstehen zu sehen, an der er sich aktiv beteiligt wusste. Anhand zahlloser Dokumente lässt sich die Entwicklung der Freundschaft dokumentieren: aufgrund von Nietzsches philosophischen und literarischen Schriften, der Briefe Wagners und Cosimas, deren Tagebuch sowie der Briefe Nietzsches an seine Freunde, außer denjenigen, die in Bayreuth nach ihrem Bruch zerstört wurden. Während langer Jahre tat der eine nichts, was der andere nicht wusste, sie ergänzten sich vorzüglich, trotz des großen Altersunterschieds; führten ausführliche Diskussionen über ihre Absichten und Vorhaben, erklärten sich gegenseitig ihre Werke. Cosima tat alles, um ihre Beziehung zu vertiefen: Als sich Nietzsche 1870 entschloss, freiwilligen Kriegsdienst zu leisten, versuchte sie ihn angesichts seiner Aufgaben an der Universität und im kulturellen Leben davon abzuhalten. Sie erkannten früh seine außerordentlichen Begabungen, gingen so weit, Texte in Griechisch und Lateinisch zu lesen, um seine Arbeiten zu verstehen. Besonders nach der Veröffentlichung der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik stellten sie sich beide solidarisch hinter seine Auffassungen, die sie mit Recht als Würdigung von Wagners Bemühungen um das Gesamtkunstwerk verstanden. In seiner Basler Zeit bis zu Wagners Abreise nach Bayreuth hat Nietzsche den Tribschener Freunden mindestens 23 Besuche abgestattet; hat im Auftrag von Cosima viele Einkäufe getätigt, Weihnachtsbesorgungen erledigt, Informationen weitergegeben. Er besaß in Tribschen eine eigene ‚Denkstube‘, war bei der Geburt Siegfrieds als Gast anwesend, auch bei der Uraufführung der Siegfried-Idylle durch die Zürcher Tonhalle-Musiker zu Cosimas Geburtstag am Weihnachtsmorgen 1870. Er hatte ihr den im Maderanerstal geschriebenen Aufsatz Geburt des tragischen Gedankens geschenkt, aus dem ihr Wagner am 26. Dezember vorlas, wie Cosima in ihrem Tagebuch vermerkte: „[D]ie Tiefe und Grossartigkeit der in gedrängtester Kürze gegebenen Anschauungen ist ganz merkwürdig; wir folgen seinem Gedankengang mit grösstem und lebhaftestem Interesse. Besondere Freude gewährt es mir, dass R’s Ideen auf diesem Gebiete ausgedehnt werden können.“ Nietzsche war von so viel Anerkennung tief beeindruckt; er dachte in seiner Wagner-Begeisterung sogar daran, den Professorenberuf aufzugeben, um sich der Erziehung des kleinen Sohnes zu widmen und sich rückhaltlos als Promotor Wagnerscher Kunst einzusetzen! Um Nietzsches eigene musikalische Werke kümmerten sich weder Wagner noch Cosima; lange wussten sie nichts von seinen kompositorischen Versuchen, zeigten sich überrascht, wenn nicht belustigt von deren Schwerfälligkeit und Pathetik. Bekanntlich hat Nietzsche ein militärisches Marschlied für Männerstimmen, Ade ich muss nun gehen, komponiert, als er sich 1870 auf der Reise nach Lindau und später nach Erlangen 10

Für die Bedeutung der Beziehungen Nietzsches zu Richard und Cosima Wagner: Georges Liébert, Nietzsche et la musique, Paris 2000, Avant-propos, X.

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befand. Wahrscheinlich hat Wagner dieses unbedeutende Werk nicht zur Kenntnis genommen, aber Cosima notierte in ihrem Tagebuch unter dem 21. August 1870 mit Erleichterung: „Brief von Prof. Nietzsche; er komponiert im Lazarette“. Nietzsche war krank geworden, wie immer, wenn er sich in schwierigen Situationen befand. Als er an Cosima das ihr gewidmete musikalische Werk Nachhall einer Sylvesternacht (für Klavier 4händig) sandte, antwortete sie am 30. Dezember mit ausweichendem Wortspiel: „Sylvester-Tag soll für die Sylvester-Nachtklänge danken; gemeinsame Eindrücke zur Erinnerung geworden, leuchteten durch die Mitternachtsglocken meinem diesjährigen Geburtstag, und ich sage dem freundlichen ‚Melomanen‘ Dank!“ Fünfzehn Jahre später erinnert sie sich dieses Geschenks in einem Brief an Felix Mottl: „Jakob Stocker, mein damaliger Diener […] blieb beim Abdecken des Tisches […] stehen, hörte aufmerksam zu, wandte sich endlich ab mit den Worten ‚schint mir nicht gut‘. Ich gestehe, dass ich vor Lachen, trotz meiner damaligen grossen Freundschaft, gar nicht weiterspielen konnte.“11 Ein anderer Zeuge, Hans Richter, berichtet, dass Wagner, laut lachend, bemerkte: „Da verkehrt man nun schon seit anderthalb Jahren mit dem Menschen, ohne dergleichen zu ahnen; und nun kommt er so meuchlings, die Partitur im Gewande.“12 Aber als Nietzsche am 20. Januar 1872 seine nächste Visite in Tribschen machte, notierte Cosima in ihr Tagebuch: „Professor Nietzsche, dessen Besuch uns sehr freut. Viel durchgesprochen; Pläne für künftige Zeiten, Reform der Schule usw.; er spielt uns seine Komposition sehr schön vor.“ Tatsächlich machte sein Spiel den größten Eindruck. Malwida von Meysenbug beschreibt eine andere verletzende Episode anlässlich Wagners 59. Geburtstag am 22. Mai 1872 in Bayreuth. Dieser dirigierte zur Grundsteinlegung die Neunte Sinfonie von Beethoven, und Nietzsche hatte in seiner Begeisterung alle näheren Freunde dazu eingeladen: Rohde, Krug, Gersdorff. Bei dieser Gelegenheit spielte er, nach dem Fest, einige Improvisationen zum Missvergnügen des Meisters, der sein Spiel vor allen Leuten mit der Bemerkung unterbrach: „Nein, Nietzsche, Sie spielen zu gut für einen Professor!“ In Basel komponierte Nietzsche nur wenig. Umso mehr war er bekannt für Phantasien und Improvisationen. In der Baumannshöhle am Schützengraben spielte er gern vierhändig mit Franz Overbeck, für dessen Geburtstag er, in Zusammenarbeit mit Studenten, eine kurze geistreiche musikalische Parodie aufführte: Kirchengeschichtliches Responsorium, Text und Musik von Nietzsche, für einstimmigen Chor und Klavier. Mit bekannten Zitaten aus der Kirchenmusik parodierte er Carl Rudolf Hagenbachs Mittelmäßigkeit; er spreche, ohne etwas zu sagen. Um das Freundespaar Nietzsche-Overbeck bildete sich bald ein unzertrennlicher Freundeskreis, mit Rohde, von Gersdorff, der zu Overbecks Hochzeit im Frühjahr 1876 als Monumentulum Amicitiae eine hölzerne Holzschale bemalte, mit Initialen und Sinnbildern der dazugehörigen Freunde. – Bei Einladungen pflegte Nietzsche gern intensiv auf dem Klavier zu improvisieren. Im Wildtschen Haus soll er bei bester Laune sogar mit der Nasenspitze gespielt und, als das Essen angekündigt wurde, mit dem Hinterteil auf der Tastatur sein Spiel lachend abgebrochen haben. 1871 verbrachte er die Semesterferien vom 28. September bis 22. Oktober in Naum11 12

Zit.nach: Richard Du Moulin-Eckard, Cosima Wagner, Bd. I, Berlin 1929, 428. Zit. nach: Martin Vogel, Nietzsches Wettkampf mit Wagner. Beiträge zur Geschichte der Musikanschauung im 19. Jahrhundert. Regensburg 1965.

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burg, traf sich bei dieser Gelegenheit mit Rohde, von Gersdorff, Krug und Pinder in Leipzig zu fröhlichen Scherzen. Am Tag nach seinem Geburtstag, am 16. Oktober, komponierte er zu Hause Das Fragment an sich, eine Art Selbstparodie; er versah das heitere Werk mit der Spielanweisung con malinconia und erweiterte das Fragment ins Unendliche, indem er dem Schluss durch die angefügte Bemerkung da capo in humorvoller Paradoxie einen immerwährenden Neuanfang anschloss.13 – In den gleichen parodistisch-fröhlichen Bereich gehört zwei Jahre später das kleine Werk für Klavier 4händig, das er Olga Herzen, der Adoptivtochter Malvida von Meysenbugs, schenkte, als sie in Florenz am 6. März 1873 den französischen Historiker Gabriel Monod heiratete. Titel Monodie à deux wie Untertitel Lob der Barm’herz’igkeit nehmen wortspielerisch die Namen des Paares auf, während beim Spiel die Hände der Partner sich in fröhlicher Verschränkung immer wieder liebend überkreuzen. So einfallsreich Titel, Untertitel und Spielgestik wirken, die musikalische Substanz bleibt an frühere Kompositionen gebunden, zum großen Teil ist sie den Entwürfen zum Weihnachtsoratorium entnommen.14

Nietzsches Eigenheiten als Komponist Wer Nietzsches Texte genau liest, erkennt überall Anspielungen, Verdrehungen, Ironisierungen. Es gibt praktisch keine Aussage, die nicht anderswo ihre Ergänzung, Vertiefung oder ihren Widerspruch fände, im Sinne seines antithetisch-dialektischen Denkens des in sich freien und dauernd verändernden Worts, im Ernst wie im Spiel. Für eine Beurteilung sind daher die Umstände und Anlässe wichtig, für welche die einzelnen Werke konzipiert wurden. Oft ist man geradezu versucht, von Gelegenheitsmusik zu sprechen, denn er liebte es, seine Tonwerke auf bestimmte Personen oder Situationen hin zu konzipieren, was seine Fähigkeit implizierte, Anregungen aus dem jeweiligen Umfeld aufzunehmen und musikalisch umzusetzen. Nietzsche blieb, trotz reicher Kenntnisse, ein Autodidakt, der es wagte, lustvoll seine intuitiv-inspirierte Seite zur Darstellung zu bringen. Durch sein konkretes Arbeiten erlangte er einen hohen Grad an kompositionstechnischem Können, das er gerne mit einer gewissen unkonventionellen Souveränität zur Schau trug. Dabei störte es ihn nicht, immer wieder auf ähnliche Darstellungsmittel zurückzugreifen. Oft spielt er mit denselben Oktaven und gleichen Formen, mit Terz-Girlanden, die ohne äußere Strukturmotivation wiederkehren. Oft bleibt eine musikalische Idee Fragment, Andeutung, Hinweis. Ist es aber nicht gerade der Charakter des Entwurfhaften, der an Nietzsche besonders fasziniert, bei seinem Schreiben und in seiner Musik? Beim Suchen nach philosophischen und literarischen Gedanken und Bildern, nach vorwärtsgerichteten Einfällen und Argumentationen, die er in seine Notate aufnahm, um sie später zu überarbeiten und schließlich in langer Kompositionsarbeit in einen definitiven literarischen Text einzugliedern, bei dem sich die schwierige, komplexe Entstehung kaum mehr fassen lässt. Es gibt musikalische Fragmente, die sich langsam um einen Zentralkern herauskristallisieren und in ihrer Struktur 13 14

Siehe Curt Paul Janz, NMN, 335f. Siehe ders., ebd., 338.

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den intuitiv-inspirierten Gedankenfragmenten gleichen. In der Musik sind die originellen, ursprünglichen Einfälle noch nicht zugedeckt durch virtuose Könnerschaft, wie er sie in der Literatur entwickelte, durch eine aufwendige und konzentrierte Arbeit des Abstrahierens, Verdichtens, Vertiefens, Hinterfragens. Seine melodischen Ideen vermitteln den Eindruck kleiner Mosaiksteinchen, die noch nicht in ein fertiges Gesamtwerk integriert sind und daher eine momentanistische Autonomie an sich tragen, die sich im durchgehenden Pathos zu einer Art musikalischem Tableau verbinden, im Sinne eines mehrdimensionalen Klangteppichs, wie man ihn heute von der modernen Malerei kennt, in welchem die Spannung der Farben zueinander als Teil der Bildstruktur wirkt. Die ungebrochen spontane Art zu arbeiten findet ihren Höhepunkt in den Improvisationen. Nietzsche liebte es, für sich oder ein Freundespublikum während Stunden zu spielen, ohne eine einzige Melodie festzuhalten, am Klavier wie konzentriert träumend, von leidenschaftlicher Ekstase getragen, in sich selbst versunken. Dieser freie, intimungebundene Improvisator, der weder an Zeit noch an Raum dachte, sondern nur dem musikalischen Moment verpflichtet war, ist uns nur durch Zeugnisse, nicht durch eigene Aufzeichnungen überliefert. Die Klänge wurden aus dem Augenblick für den Augenblick geschaffen, sich selbst genügend, im autonomen Selbstbezug reinen Spiels.

Kritik und Selbstkritik Nietzsches Es ist leicht, diese Art von Musik in ihrer programmhaften Momentanistik in Frage zu stellen, indem man sie mit konventionellen Kriterien beurteilt, wie es Nietzsche verschämt später selbst tat, als Kind seiner Zeit, in Unkenntnis der Ausdrucksmöglichkeiten experimenteller Musik oder ganz augenblicksbezogener afrikanischer und orientalischer Improvisationen. Er machte den Unterschied zwischen persönlich-privatem Spiel und öffentlicher Verbindlichkeit. Im Begriff, den Schritt zum großen Publikum zu vollziehen, begann er, sich zurücknehmend, im Musikalischen gegen den eigenen Geist des Avantgardismus anzukämpfen. Er erkannte dies in seltenen Momenten des Stolzes, in denen er, im Vollbesitz seiner magischen Phantasie, jede Konvention zu überwinden imstande war. Gleichzeitig wusste er als Künstler um die Bedeutung des Technischen, des handwerklich überzeugenden Schaffens, im Bereich des Traditionell-Vorstellbaren. Dazu gehören schlechte Erfahrungen mit Musikern, zum Beispiel mit Hans von Bülows niederschmetternder Kritik an seinen musikalischen Fähigkeiten: Nach der Niederschrift der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik begann Nietzsche mit den Manfred-Meditationen, in die er viel Energie und Ehrgeiz legte. Er wollte eine andere Musik schreiben als Schumann, den er jetzt, mit Brahms verglichen, süßlich und unfähig zur Größe fand. D.h. für einmal komponierte er, wie Janz argumentiert, nicht für eine bestimmte Person, sondern gegen ein bestimmtes Konzept. Im Prinzip handelt es sich bei den Manfred-Meditationen nicht um eine Neukomposition, sondern um die Wiederaufnahme des Nachklangs einer Sylvesternacht. Er hatte einige neue Passagen eingefügt, die den Improvisationen und freien Phantasien glichen, und beging die Ungeschicklichkeit, diese freie, leidenschaftsgeladene Produktion an von Bülow zu schicken, den großen Dirigenten der Zeit, dessen Bekanntschaft er durch Wagner gemacht hatte, von dessen Kompetenz er Bestätigung erhoffte. Aber von Bülow hatte kein Verständnis

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für diese Komposition, für die Magie seiner orgiastischen Selbstbespiegelung im trunkenen Spiel. Von Bülows Antwort vom 24. Juli 1872 ist berühmt geworden. Ihre Argumente werden immer zitiert, wenn man Nietzsche als Komponisten in Frage stellen oder ad absurdum führen will. Sie ist von erfrischender Spontaneität, getränkt von entsetzter Eitelkeit. Man spürt seinen Ärger ob der ihm angetanen Zumutung, Disharmonien und unkontrollierte Rhythmisierungen zu ertragen, formlose Ergüsse scheinbar unzusammenhängender Laute: „Ihre Manfred-Meditation ist das Extremste von phantastischer Extravaganz, das Unerquicklichste und Antimusikalischste, was mir seit langem von Aufzeichnungen auf Notenpapier zu Gesicht gekommen ist. Mehrmals musste ich mich fragen: ist das ganze ein Scherz, haben Sie vielleicht eine Parodie der sogenannten Zukunftsmusik beabsichtigt? Ist es mit Bewusstsein, dass Sie allen Regeln der Tonverbindung, von der höheren Syntax bis zur gewöhnlichen Rechtschreibung ununterbrochen Hohn sprechen? Abgesehen vom psychologischen Interesse […] hat Ihre Meditation vom musikalischen Standpunkte aus nur den Wert eines Verbrechens in der moralischen Welt […] Eine in Erinnerungsschwelgerei an Wagnersche Klänge taumelnde Phantasie ist keine Produktionsbasis […] Sollten Sie, hochverehrter Herr Professor, Ihre Aberration in’s Komponiergebiet wirklich ernst gemeint haben – woran ich noch immer zweifeln muss – so komponieren Sie doch wenigstens nur Vokalmusik und lassen Sie das Wort in dem Nachen, der Sie auf dem wilden Tonmeere herumtreibt, das Steuer führen.“ Hegar, Dirigent des Tonhalle-Orchesters in Zürich, beurteilte das Werk weniger negativ und begründete seine Ablehnung mit weniger Selbstgefälligkeit. Er bemerkte, dass die Musik den Eindruck einer freien Improvisation mache, reich an Gefühlen sei und vom Standpunkt der Architektur aus nicht als traditionell konzipiertes Werk zu betrachten sei. Beide Dirigenten vertraten bestimmte Richtungen, beide trafen den Kern von Nietzsches musikalischem Versuch in der scheinbar unkontrolliert-expressiven Seelenmalerei. Vor dem heutigen Hintergrund der großen Bemühungen in Richtung auf eine Befreiung der Musik von den ‚manieristisch‘ wirkenden Traditionszwängen der Hörgewohnheiten ist man fähiger geworden, die Expressivität dieses musikalischen Korpus objektiver, distanzierter zu erfassen. Zweifellos verbindet man Nietzsches philosophisch-literarisches Werk mit den außerordentlichen Qualitäten, die man nun in der Musik aufzuspüren sucht, aufgrund der scharfsinnigen Auseinandersetzung mit Wagners Tonkunst. Vor diesem Hintergrund hat man heute für Nietzsches Freiheiten mehr Verständnis, man würde sogar mehr Konsequenz und Sprengkraft erwarten, im Hinblick auf sein Bedürfnis nach aktiver Selbsterkenntnis durch eigenes schöpferisches Tun, selbst wenn dieses unvollkommen und manchmal dilettantisch wirkt. In den bewusst ‚ekstatisch‘ verstandenen Werken verwendet er die Klangverbindungen viel freier, weil er an den expressiven Moment und weniger an den Gesamtzusammenhang denkt. Er konnte jedoch nicht, und dies muss zugegeben werden und unterscheidet ihn von modernen Experimentatoren, auf gefühlhafte oder psychologische Bezüge verzichten, geht es ihm doch um den Eindruck, die Gesamtwirkung in einer rauschhaften Geste.

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Pathetische Feierlichkeit Der Komponist Nietzsche hörte mit einem letzten großen Anlauf auf. Während fast zwei Jahren, vom 24. April 1872 bis zum 29. Dezember 1874, arbeitete er intensiv an einem Hymnus auf die Freundschaft, dem er später den Text von Lou Andreas Salomé unterlegte und 1882 zum Gebet an das Leben umarbeitete und schließlich, mit Hilfe von Peter Gast, unter dem Titel Hymnus an das Leben, für gemischten Chor und Orchester, 1887 vollendete. Alles ist von pathetischer Gehobenheit, die heiteren Töne des Hymnus auf die Freundschaft sind einer melancholischen Grundstimmung gewichen, die sich wellenartig in sich schließt. Oft wiederholte Nietzsche, dass diese Komposition die einzige Musik sei, die von ihm bleibe und dass man sie einst zu seinem Gedächtnis aufführen solle. Er tat alles, um das Werk aufführen zu lassen, ohne jeden Erfolg. Er kam nie dazu, es in der von ihm gewünschten Form aufgeführt zu hören. Im Oktober 1887 schrieb er an von Bülow: „[E]s gab eine Zeit, wo Sie über ein Stück Musik von mir das allerberechtigtste Todesurtheil gefällt haben, das in rebus musicis et musicantibus möglich ist. Und nun wage ich es trotz alledem, Ihnen noch einmal Etwas zu übersenden, – einen Hymnus auf das Leben, von dem ich um so mehr wünsche, dass er leben bleibt. Er soll einmal , in irgend welcher nahen oder fernen Zukunft, zu meinem Gedächtnisse gesungen werden, zum Gedächtnisse eines Philosophen, der keine Gegenwart gehabt hat und eigentlich nicht einmal hat haben wollen. Verdient er das? […] Zu alledem wäre es möglich, dass ich in den letzten zehn Jahren auch als Musiker Etwas gelernt hätte“ (KSB, 8, 175f.). In Wahrheit hatte er schon im Herbst 1875 in seinen musikalischen Manuskripten Ordnung gemacht und alle Kompositionen durchgesehen. Von diesem Zeitpunkt an komponierte er kaum Neues. Was entstand, war Wiederholung von Bestehendem oder Improvisation. Er war beim Ordnen seiner Werke von deren Frische überrascht; begegnete sich in ihnen selbst in seiner Jugend, mit all seinen damaligen Möglichkeiten und Talenten, die sich so anders entfalten sollten. Am 2. Januar 1875 schrieb er nachdenklich an von Meysenbug: „Jetzt habe ich 10 Tage Ferien hinter mir, ich verlebte sie mit Mutter und Schwester und fühle mich recht erholt; ich liess während dem alles Denken und Sinnen hinter mir und machte Musik. Viele tausend Notenköpfchen sind hingemalt worden, und mit einer Arbeit bin ich ganz fertig. Der Hymnus an die Freundschaft ist jetzt zweihändig und vierhändig anzustimmen […] Ich bin sehr zufrieden damit […] Die Dauer der Musik ist gerade 15 Minuten – Sie wissen, was darin alles vorgehen kann, gerade die Musik ist ein deutliches Argument für die Idealität der Zeit. Möchte meine Musik ein Beweis dafür sein, dass man seine Zeit vergessen kann, und dass darin Idealität liegt! Ausserdem habe ich meine Jugend-Kompositionen revidiert und geordnet. Es bleibt mir ewig sonderbar, wie in der Musik die Unveränderlichkeit des Charakters sich offenbart; was ein Knabe in ihr ausspricht, ist so deutlich die Sprache des Grundwesens seiner ganzen Natur, dass auch der Mann daran nichts geändert wünscht – natürlich die Unvollkommenheit der Technik und s.w. abgerechnet“ (KSB, 5, 7). Es ist nachzutragen, dass Nietzsche, selbst im Zustand der Umnachtung, weiterhin sang und Klavier spielte; in der Klinik von Dr. Binswanger in Jena entwarf er ein ‚Testament‘, in dem, einem vorbewussten Text vergleichbar, Wörter und Namen, unzusammenhängende Sätze und verschiedene Sprachen nebeneinander stehen, nach dem

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Prinzip reiner Assoziation. Er legte darüber Notenbalken mit eingesetzten Noten, als ob über dem Text seine Musik stehe und über dessen Sinn entscheide, in der Art, wie er erklingt, gehört und verstanden wird, aus einem Meer von Klängen und Rhythmen, aus denen sich Bedeutungsfelder ergeben, in immerwährenden Variationen.15

Zu Nietzsches Hymnus auf die Freundschaft So sehr Nietzsche sich beim schöpferischen Denken und Arbeiten auf allein gestellt sah, so sehr war er in der Entwicklung seiner Ideen und Konzepte auf die Diskussion mit anderen angewiesen, sei es in aktiver Lektüre, im Briefkontakt mit Freunden, im direkten Gespräch. Seine Anpassungsfähigkeit war enorm: er passte seine Darlegungen, selbst seine Schrift oder den Ton, dem jeweiligen Zuhörer an; so muss es auch bei seinen Improvisationen gewesen sein, voller Hinweise auf gemeinsam Gedachtes, Erlebtes, Beabsichtigtes. In diesem Sinne möchte ich am Schluss nochmals auf seine letzte Komposition zurückkommen, welcher er später Lou Andreas Salomés Gedichttext unterlegte, wie er im musikalischen Nachlass überliefert ist. Er selbst wählte nur die erste Strophe des Gedichtes aus, während Gast 1887 in seiner Bearbeitung für Chor und Orchester beide Gedichtteile heranzog: „Gewiss, so liebt ein Freund den Freund,/ Wie ich dich liebe, rätselvolles Leben!/ Ob ich in dir gejauchzt, geweint/ ob du mir Leid, ob du mir Lust gegeben,/ ich liebe dich mit deinem Glück und Harme/ und wenn du mich vernichten musst,/ entreisse ich schmerzvoll mich deinem Arme,/ gleich wie der Freund der Freundesbrust.“16 Janz hat Nietzsches ursprünglichen Text wiederentdeckt; er spricht vom Glück der Freundschaft, das er in seinem Lied besinge, sich an die Göttin Amicitia wendend, im Stile eines Chorliedes der attischen Tragödie, so wie er früher vorliegende Musikstrukturen übernahm, um sie, in manieristischer Manier, mit neuem Leben zu füllen: der Situation des bedeutenden Augenblicks entnommen, hier pathetisch, in andern Fällen mit ironischem Augenzwinkern, dem Zeitenlauf zurückgegeben:

Curt Paul Janz: Friedrich Nietzsche: Hymnus auf die Freundschaft Das Gedicht zu der Komposition findet sich in den Skizzen zur unvollendeten Unzeitgemässen Betrachtung V ‚Wir Philologen’. Wie das mit der Komposition von 1873/74 entstandene Gedicht in diese Vorarbeiten zu Wir Philologen 1876 gekommen ist, wird kaum noch abzuklären sein, allerdings hatte es Nietzsche offenbar zur Hand. So schreibt Köselitz am 16. April 1876 an Paul Widemann: „Dann zeigte er einiges von seinen Kompositionen. Den Hymnus auf die Freundschaft in einer Anzahl Bearbeitungen … ursprünglich ist er für Orchester und Chor gedacht gewesen – Dichtung – in ganz erhabener Stimmung gehalten, las er mir vor.“ Montinari hat es publiziert in KGW IV, 198 als 7 (4) und in KSA 8/122. Im kritischen Apparat KGW 4, 383 führt [er] dazu aus: 15

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Das sogenannte Testament Nietzsches ist in seinem ganzen Wortlaut nicht publiziert und nur zum Teil entziffert; Albi Rosenthal hat es als Mitglied des Stiftungsrats dem Nietzsche-Haus übergeben. Begleittext zur CD Friedrich Nietzsche, Volume II. Compositions of His Mature Years/Kompositionen der Reife (1864–82), TROY 181, Albany Records U.S. 1996.

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„Worte für den Hymnus auf die Freundschaft? …“ Diese richtige Vermutung schöpfte Montinari wohl aus dem textlichen Inhalt. Die musikalische Parallele blieb ihm indessen fremd. In dankenswerter Weise hat mich Frau Dr. Hildegard Cancik auf die Stelle aufmerksam gemacht mit der Bitte um Prüfung, und die hat ergeben: Das Gedicht ist nicht in der skandierenden Art zu lesen, wie wir Gedichte zu lesen pflegen, sondern in Längen und Kürzen wie die Chorlieder der attischen Tragödie. Dann stimmt es Silbe für Silbe und Versstrophe vollkommen überein mit den Perioden und den Notenwerten der Komposition. Allerdings weicht Nietzsche von den antiken Metren teilweise ab, indem er eine Länge in Triolen auflöst und in den Kadenzen eine Länge auf das Doppelte zerdehnt.

Freundschaft Göttin höre gnädig das Lied – – | – – |ÞÞ Þ Þ Þ| –

––| –

das wir jetzt singen der Freundschaft. ³ – –| – Þ Þ Þ | –– | –

– – | – Þ Þ Þ | –– | –

Wohin auch blickt das Auge der Freunde –|– – | Þ Þ Þ Þ | –– | –

– | – – | Þ Þ Þ Þ | –– | –

übervoll vom Glück der Freundschaft: – –| Þ Þ Þ Þ | –– | –

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hülfreich nahe und – –| Þ Þ –

– – | Þ Þ –

Morgenroth im Blick und – – |Þ Þ Þ Þ

– – |

ewiger Jugend treues Pfand in der heilgen – Þ Þ | ÞÞ ÞÞ | – Þ Þ | – –

–Þ Þ |ÞÞÞÞ|–Þ Þ | ––

Rechten –– | ––

–– | ––

³ – |ÞÞÞÞÞ|–

| Þ Þ Þ Þ | –– | –

Þ Þ Þ Þ

Curt Paul Janz, September 200517

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Der Text ist für das 25. Nietzsche-Kolloqium in Sils Maria , September 2005 verfasst. Der Autor veröffentlicht ihn mit freundlicher Genehmigung des Verfassers.

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Nietzsche als Wortkomponist Nietzsche ist kein großer Komponist geworden, legt aber Zeugnis ab für eine beachtliche Könnerschaft, die es ihm ermöglichte, musikalische Momente auszufüllen durch Genrebilder und Ausdrucksszenen, die rhythmisch und melodisch an bestimmte Vorbilder anschließen: an Fréderic Chopin, Liszt, Schumann, Brahms, an Wagner. Im Gegensatz zu den Genannten blieb das Komponieren für ihn eine Freizeitbeschäftigung, nicht aber das Nachdenken über die Wirkung des Musikalischen. Beim Gedanken an die Realisierung des Gesamtkunstwerks spielte der Klang eine wichtige, wenn auch nicht die einzige Rolle, für die Integration des Musikalischen ins Sprachliche. Im rauschhaften Schreiben konnte er seine Kenntnisse des Klingens und Modulierens, Rhythmisierens und Retardierens, Variierens und Trunken-in-sich-Tanzens bewusst einsetzen, im Dienste des Ausdrucks, nicht als Selbstzweck, wie er es bei Wagner festzustellen glaubte, der beim Klang vor allem an die Wirkung dachte, statt an die Vertiefung der Aussage in reine, ekstatische Sprachsinnlichkeit. Im Kapitel Von den Dichtern im 2. Buch des Zarathustra wird verächtlich von der unerträglich oberflächlichen Musikalität lügenhafter Schriftsteller gesprochen, denen es um vordergründiges Reimen und wirkungsreiche Oberflächlichkeit geht: „Gespenster-Hauch und -Huschen gilt mir all ihr HarfenKlingklang; was wussten sie bisher von der Inbrunst der Töne!“ (KSA, ZA, 4, 165). – Musik war für ihn wichtig als Mittel sozialer Integration. In dieser Hinsicht sprach er die konventionelle Musik-Sprache der Zeit. Während er mit Freunden stundenlang improvisieren, seine Assoziationen, musikalischen Interessen und Stimmungen fröhlich erklingen lassen konnte, verlor er bei seinen zeitkritischen Fragen zu den Wertvorstellungen von Kunst und Philosophie jede spielerische Haltung, verlangte von sich absoluten, pathetischen Ernst, den sachgemäßen und nicht den künstlichen Klang, wie er es bereits in seiner allerersten Schrift verlangt hatte, als er für eine erhebende, hohe Kunst plädierte, die sich allein der Dekadenz und relativierender Oberflächlichkeit entziehen könne. Er strebte die vollständige Deckung von Inhalt und Form an, versuchte gewissermaßen den Prozess des Denkens im Formalen wiederzugeben, indem er die Wörter in sich selber tanzen ließ, in ihre Bestandteile auflöste, um sie wieder mit ihren eigentlichen und übertragenen Möglichkeiten aufzuladen, mit den von ihnen ausgelösten Bildvorstellungen und Assoziationsketten, aber auch in ihren gegenläufigen Verspiegelungen. Wenn man seine exaltiertesten Texte, die konzentrierten Aphorismen, als Gedankenfugen liest, merkt man, dass sie oft nach musikalischen Strukturvorstellungen konzipiert worden sind, in denen sich Sinn-Teile, Silben und Wortzusammensetzungen splitterhaft zu Gedanken zusammenfügen, die sich ergänzen, widersprechen, erneut ansetzen zu einem Strom von Möglichkeiten, in denen pulsierende Einfälle Gestalt gewinnen, Form werden, in einem sich wie von selbst ergebenden Vorstellungsnetz. Oft braucht Nietzsche bei seinen argumentierenden Gedankenfindungen ein Gegen-Ich, das er anspricht, um sich selber auszuformulieren, indem er sich gleich auf zwei Ebenen hin entwirft: um in der Spannung eines potentiellen Widerspruchs dem Gedanken so etwas wie eine materielle Verkörperung zu verleihen, im Sinne des musikalischen Kontrapunktes, in welchem sich die Gegensätze in ihrer dialektischen Gespanntheit zu einem Ganzen vereinen. Oft verwendet er das Wort kontrapunktisch, so wie er einen Klang in eine Melodie einfügt: als Selbstwert, aber auch als Mit-Klang im bezug auf den Kon-

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text. So wie er es liebte, beim Komponieren zu modulieren, zu variieren, die Substanz der Noten zu achten und gleichzeitig mit den Möglichkeiten ihrer Valenzen zu spielen, im Sinne eines sinnlichen Mitschwingens und Thematisierens der Grundaussage, die er formulierend zu fassen sucht. In unendlichen Spannungsfeldern lässt er Wörter zu ihrem Sinn vorstoßen, Körperliches und Geistiges in Gleichklängen vereinen, die sich zu Lied-Inkantationen steigern, im Jubel des Denkens und des sich selber Hinterfragens. Im Zarathustra wird auf die musikalische Vorstellung des Liedes verwiesen, um markante Gedankenfolgen ichhaft singend hervorzuheben, sei es im Nachtlied, im Tanzlied, im Grablied oder Nachtwandler-Lied, wo er eindrücklich auf sein musikalisches Urmotiv, das weihevolle Glockengeläute, zurückgreift, um den Abschied vom Tage zu besingen, mit dem Schmerz aber auch die Lust auf Ewigkeit beschwörend, im Taumel des Übergangs, in welchem sich Anfang und Ende vereinen. Es spricht das Ich, mit dem Wissen der Glocke, zu den über sich hinausstrebenden höheren Menschen; im rhythmischen Duktus des Gedichts den erzenen Glockenklang antizipierend: „Ihr höheren Menschen, es geht gen Mitternacht: da will ich euch Etwas in die Ohren sagen, wie jene alte Glocke es mir in’s Ohr sagt – so heimlich, so schrecklich, so herzlich, wie jene Mitternachts-Glocke zu mir es redet, die mehr erlebt hat als Ein Mensch: – welche schon eurer Väter Herzens-Schmerzens-Schläge abzählte – ach! wie sie seufzt! wie sie im Traume lacht! die alte tiefe tiefe Mitternacht!“ (ebd., 398). In gesteigerter Erregung wird das Instrument der Verkündigung angesprochen, die Glocke als Leier des Glücks und des Schmerzes, voll Macht über Leben und Tod, Raum und Zeit: „Süsse Leier! Süsse Leier! Ich liebe deinen Ton, deinen trunkenen Unken-Ton! – wie lang her, wie fern her kommt mir dein Ton, weit her, von den Teichen der Liebe! ‚Du alte Glocke, du süsse Leier! Jeder Schmerz riss dir in’s Herz, Vaterschmerz, Väterschmerz, Urväterschmerz, deine Rede wurde reif‘ […] – von trunkenem Mitternachts-Sterbeglücke, welches singt: die Welt ist tief und tiefer als der Tag gedacht!“ (ebd., 399f.). In höchster Steigerung wendet sich der Glockenklang schließlich an den Menschen, sein Bewusstsein und Empfinden, Erinnern und Hoffen, mit der Botschaft ganzheitlichen Lebens, in der der Augenblick sich in der Gegenwart erinnernd und wissend mit der Ewigkeit, im Miteinander von Erfahrung und Bewusstsein, vereint: „Oh Mensch! Gieb Acht!/ Was spricht die tiefe Mitternacht?/ Ich schlief, ich schlief –,/ Aus tiefem Traum bin ich erwacht: –/ Die Welt ist tief,/ Und tiefer als der Tag gedacht./ Tief ist ihr Weh –,/ Lust – tiefer noch als Herzeleid:/ Weh spricht: Vergeh!/ Doch alle Lust will Ewigkeit –,/ – will tiefe, tiefe Ewigkeit!‘“ (ebd., 404).

Versuch einer Bilanz Im Leben Nietzsches spielt Musik eine entscheidende Rolle, auf allen Stufen seiner Tätigkeiten, in allen wichtigen Erfahrungen und Begegnungen. Als Denker und Künstler hat er über die Bedeutung von Musik nachgedacht, über die Vielfalt der Ausdrucksmöglichkeiten und Klangtraditionen, über ihre religiösen wie allgemein kulturtragenden Funktionen: in wissenschaftlicher wie künstlerischer, persönlicher wie gesellschaftlichsozialer Hinsicht. Von musikalischen Schöpfungen war Nietzsche ebenso beeindruckt

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wie von Zeugnissen der Weltliteratur. „Um seine Persönlichkeit und sein Werk zu verstehen“, schreibt der französische Musikologe Georges Liébert, „sei es zumindest ebenso wichtig, den Tristan, Parsifal sowie die ästhetischen Essays Wagners zu kennen wie die Gesamtausgaben Schopenhauers, Kants und Heideggers“.18 In vielen Werken setzte er sich direkt oder indirekt mit dessen Werk auseinander, vor allem in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, dem Fall Wagner, Nietzsche contra Wagner, in vielen Aphorismen und Briefen, zahlreichen Notaten des Nachlasses oder Gesprächen; dabei ging es ihm in erster Linie um die schöpferischen Kräfte des modernen Künstlers, um die Problematik von Rausch und Sinnlichkeit, die Darstellung der Möglichkeiten und Grenzen eines einseitig konzipierten, vordergründigen Wirkungsbewusstseins, im Überwinden schwer fassbarer Vorstellungen, mit dem Ziel einer existentiellen Wahrnehmungsästhetik. In der Auseinandersetzung mit Wagner geht es ihm um erkennendes Gestalten im schöpferischen Überwinden tabuisierter Darstellungs-, Empfindungs- und Denkmodelle. Der ‚Meister‘ diente ihm lange als Vorbild, das ihn später in seinen Versuchen, Transzendentes und Immanentes im Ästhetischen zu verbinden, durch die forensische Mächtigkeit der entwickelten Mythologismen hinderte, weil diese seine differenziertere Auffassung vom Übermenschen parodierend in die germanische Vorgeschichte zurückprojizierten, in den Bereich des Vorstellbaren zurücknahmen und dadurch eines Teils ihrer emanzipatorisch-visionären Kraft beraubten. Nur wer ihm in diese existentiellen Bereichen folgt, begreift seine Auseinandersetzung mit Wagner in ihrer überräumlichen, überzeitlichen Relevanz gegenüber jedem Versuch ideologischen Missbrauchs durch eindeutige, vordergründig-gefährliche Festlegung auf konkrete Machtvorstellungen staatlicher, kirchlicher, auch denkerischer Instanzen gegenüber dem Freiheitsanspruch des sich ganz auf sich hin emanzipierten modernen Individuums, mit den damit verbundenen Problemen elitären Verhaltens. Wagner besaß eine egomane Art in der dramaturgischen Anverwandlung mythischer Germanismen, die er politisch auf die Gegenwart bezog, in der Zelebrierung altgermanisch-feudaler Vorstellungen, die sich später leicht faschistisch auswerten ließen, während Nietzsche solch verallgemeinernden Vorstellungen verständnislos gegenüberstand, selbst dort, wo sich gewisse Haltungen im Grunde deckten, wenn nicht in ihrer Motivation, so doch in der Absolutheit ihres Anspruchs. Es gab für ihn grundsätzlich nur die permanente Überwindung der Verwandlung des schöpferischen Ichs auf sein Selbst zu, in der Vollendung der damit verbundenen Kunst, im freien Verzicht auf bewundernde Nachahmung. So wurde er zum Kritiker eines ihn einst befreienden Ansatzes, der sich nun gegen seine Grundintention richtete, Restriktionen gesellschaftlichen Verhaltens anzunehmen, mit dem Ziel einer angepassten Brüdergemeinde. Nietzsche strebte Zeit seines Lebens die Gründung eines Klosters für freie Geister an, nicht im Sinne einer sektiererischen Gefolgschaft, sondern eines unablässig weiterdenkenden und weiterwirkenden Kulturauftrags der schöpferischen Eigenverantwortlichkeit, im Namen einer 18

„Or, il me paraît que, pour le comprendre, lui et sa pensée – et les deux à ses yeux étaient indissociables –, il est au moins aussi important de connaître Tristan, Parsifal, et les principaux écrits théoriques de Wagners, que les œuvres complètes de Schopenhauer, de Kant et de Heidegger“, Georges Liébert, Nietzsche et la musique, X .

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Peter André Bloch

ästhetisch ausgewogenen Selbstverwirklichung, in der sich Ernst und Humor, erhabenes Pathos und ironische Distanz vereinen, in der bewussten Wahrnehmung der eigenen Paradoxien durch einmal gefasste Festlegungen. In diesem Bereich einer sich stets erneuernden Vollendung spielt Musik für Nietzsche eine entscheidende Rolle, in der unablässigen Überholung von Festlegung und Weiterentwicklung, Konzentration und Abstimmung, im harmonischen Zusammenspiel aller Kräfte, zu dem auch das ernüchternde Erwachen aus dem Rausch der erreichten Einheitlichkeit gehört. Dies erlebte er vor allem in der künstlerischen Reifezeit; früher hatte sein Streben nach Vollendung oft stark imitatorischen Charakter, weshalb seine Spitzen gegen Wagner sich nicht zuletzt gegen eigene frühere Tendenzen richten. Die Fähigkeit zur Selbstkritik im andern beruht nicht auf seiner ihm oft vorgeworfenen mangelnden Systematik, sondern in den erstaunlichen Möglichkeiten seiner kritischen Selbstüberprüfung. Diese Begabung charakterisiert sein Verhältnis zur Musik von Anfang an, so unbedeutend die ersten Versuche waren und so vorläufig spätere Kompositionen erscheinen mögen. Doch sie erschöpfen sich weder im Virtuosen noch versanden sie im Theoretischen, sondern verstehen sich als Vorstufen eines komplexen Zusammenspiels kompositorischer Möglichkeiten, die sich nicht auf der Bühne, sondern in der Phantasie vollkommener Lesekonzentration vollziehen, in der bewusst inszenierten Vorstellungskraft des in sich autonomen Werks und damit in der konzentrierten Wahrnehmung des aufmerksamen Lesers.

II. Nietzsche und das Ressentiment 13. Nietzsche-Werkstatt 14.–17. 9. 2005 in Schulpforta

IVAN BROISSON∗

Ressentiment und ‚Wille zur Macht‘ Nietzsche und Hume über Moral- und Religionskritik

Die intellektuelle Verwandtschaft zwischen David Hume und Friedrich Nietzsche ist selten studiert worden.1 Dieser Mangel ist äußerst bedauerlich, denn eine gründliche Kenntnis der Beziehung zwischen beiden Philosophen würde sicher ermöglichen, ihren jeweiligen Platz in der Ideengeschichte genauer und gerechter zu bestimmen. Wir wissen, dass Nietzsche zumindest Humes Dialoge über natürliche Religion besaß.2 Diese Tatsache ist nicht unwichtig: Margot Fleischer hat 1996 einen Aufsatz veröffentlicht, wo sie zeigt, dass der Text des schottischen Philosophen möglicherweise eine Quelle für Nietzsches Lehre der ewigen Wiederkehr gewesen ist.3 Nicht nur diese Kernlehre, sondern auch Nietzsches Moral- und Religionskritik könnte in gewissem Maße von Humes Dialogen abhängen. Im 10. Teil derselben verkörpert eine der drei Hauptfiguren, der ‚Mystiker‘ Demea, das Gewicht des Hasses gegen das Leben im Erscheinen des religiösen Glaubens; und im 12. bringt der ‚Skeptiker‘ Philo ausdrücklich die Hypothese vor, Frömmigkeit habe ihren Ursprung in einer schwachen psychologischen Konstitution.4 Die Frage nach einem möglichen Einfluss Humes auf Nietzsche ist also sinnvoll, obgleich äußerst schwer zu beantworten. Doch will ich diese Frage beiseite lassen und nicht die historische, sondern die philosophische Verwandtschaft der Ideen beider Denker hinsichtlich der Moral- und Religionskritik unterstreichen. Ist es richtig zu sagen, dass Nietzsche und Hume einen ähnlichen naturalistischen Entwurf teilen? Wenn es der Fall ist, worin liegt die Einzigartigkeit der kritischen Lehre Nietzsches, besonders seiner Analyse des Ressentiments als Ausdruck des Willens zur Macht? Ich möchte kurz den Gegensatz zwischen Heidentum und Christentum besprechen, den Hume wie Nietzsche

∗ 1

2 3

4

Der Autor ist Forschungsassistent der Nationalstiftung für wissenschaftliche Forschung (Belgien). Vgl. Craig Beam, „Hume and Nietzsche: Naturalists, Ethicists, Anti-Christians“, in: Hume Studies 22 (1996) 2; ders., „Ethical Affinities: Nietzsche in the Tradition of Hume“, in: International Studies in Philosophy, 23 (2001) 3. Die Grundeinsicht einer gewissen Verwandtschaft zwischen Hume und Nietzsche ist nicht neu; jedoch hoffe ich, mit neuen Argumenten, Belegen und Nuancen zur Kenntnis dieser Verwandtschaft beizutragen. Vgl. Max Oehler, Nietzsches Bibliothek, Weimar 1942, 19. Margot Fleischer, „Hume – auch eine Quelle für Nietzsches Lehre der ewigen Wiederkunft des Gleichen?“, in: Nietzsche Studien, 25 (1996). David Hume, Dialogues concerning Natural Religion, hg. von Norman Kemp Smith, New York 1947, 225 (§ 12).

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entwickelt haben, bevor ich mich der Frage nach der Begründung ihrer Kritik an der christlichen Religion zuwende.

I. Heidentum und Christentum Man weiß, dass der Gegensatz zwischen Heidentum und Christentum wie eine Konstante in den Schriften Nietzsches gewirkt hat. Schon in einer seiner ersten philosophischen Arbeiten Heidenwelt und Christentum (1862) vergleicht der junge Nietzsche die christliche Sehnsucht nach Erlösung mit „einem düsteren Nachtbild“ (HKGW, 2, 64); obschon sie hier nicht notwendig negativ auszulegen ist, scheint diese Metapher auf spätere, durchaus kritische Stellen hinzudeuten, wie auf den Aphorismus 137 der Fröhlichen Wissenschaft: „Ein Jesus Christus war nur in einer jüdischen Landschaft möglich – ich meine in einer solchen, über der fortwährend die düstere und erhabene Gewitterwolke des zürnenden Jehovah hieng. Hier allein wurde das seltene plötzliche Hindurchleuchten eines einzelnen Sonnenstrahls durch die grauenhafte allgemeine und andauernde Tag-Nacht wie ein Wunder der ‚Liebe‘ empfunden“ (KSA, FW, 3, 488). Dieser Abschnitt drückt poetisch die religionsphilosophische These aus, das Christentum sei ein Glaube von Leidenden, die vom Leben ‚erlöst‘ werden möchten, während heidnische Religionen das Leben mit dem Leiden selbst bejahen. Weil sie das Leben fröhlich annehmen, können Heiden auch das Tierische, das ‚natürliche‘ Element im Menschen, ohne Verachtung ansehen. So schreibt Nietzsche im Herbst 1887: „Heidnisch ist das Jasagen zum Natürlichen, das Unschuldsgefühl im Natürlichen, ‚die Natürlichkeit‘. Christlich ist das Neinsagen zum Natürlichen, das Unwürdigkeits-Gefühl im Natürlichen, die Widernatürlichkeit“ (KSA, NF, 12, 572). Einen ähnlichen Gegensatz zwischen heidnischem Polytheismus und christlichem Monotheismus findet man in Humes Naturgeschichte der Religion. Hume stellt der Neigung des Monotheismus zur Verfolgung anderer Kulte die Toleranz des Polytheismus entgegen. Er weist darauf hin, dass heidnische Religionen dem Zweifel mehr Raum lassen als die christliche, deren Absurdität eine größere dogmatische Strenge erfordere. Er behauptet, das Christentum habe sich immer als ein Feind der Vernunft erwiesen. Der letztere Vorwurf wurde auch von Nietzsche geäußert. Blaise Pascals nennt er „das lehrreichste Opfer des Christentums“ (KSA, EH, 6, 385), weil er „an die Verderbnis seiner Vernunft durch die Erbsünde glaubte, während sie nur durch sein Christentum verdorben war“ (KSA, AC, 6, 171). Und am Schluss der Genealogie der Moral rechnet er zu den Aspekten des Lebens, denen der Wille zum Nichts sich entgegenstellt, nicht nur den Schein, den Stoff oder die Schönheit, sondern auch die Vernunft (KSA, GM, 5, 412); es ist für Nietzsche ein typischer Zug des asketischen Priesters und des Nihilisten, die Vernunft zum Schweigen zu bringen. Dies gehört dennoch zu den Gedanken, die er als treuer Erbe Voltaires mit der Aufklärung im Allgemeinen teilt, nicht spezifisch mit David Hume. Aber eine viel typischere Kritik am Christentum vereinigt die beiden Philosophen, nämlich die These, dass die vom Christentum geförderten Tugenden den Menschen erniedrigen, während das Heidentum zum Aufblühen menschlicher Größe beitrage. So lautet eine bekannte Passage aus der Naturgeschichte der Religion: „Where

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the deity is represented as infinitely superior to mankind, this belief, though altogether just, is apt, when joined with superstitious terrors, to sink the human mind into the lowest submission and abasement, and to represent the monkish virtues of mortification, penance, humility, and passive suffering, as the only qualities which are acceptable to him. But where the gods are conceived to be only a little superior to mankind, and to have been, many of them, advanced from that inferior rank, we are more at our ease, in our addresses to them, and may even, without profaneness, aspire sometimes to a rivalship and emulation of them. Hence activity, spirit, courage, magnanimity, love of liberty, and all the virtues which aggrandize a people.“5 – Dieser Abschnitt könnte fast von Nietzsche geschrieben worden sein. Vor allem seine Kennzeichnung des Christentums als passive ‚Sklavenreligion‘ ist unter Philosophen bekannt; aber die Betrachtungen von Hume sind auch mit einer weniger berühmten, doch ebenso typisch Nietzsche’schen These verwandt, nämlich dass der Glaube an mehrere Götter für die Vergöttlichung des Einzelnen Raum schaffen kann.6 Wir sehen, dass Hume als wahrscheinlich einer der wichtigsten Vorläufer Nietzsches hinsichtlich der Bewertung von Heidentum und Christentum zu betrachten ist; trotzdem liegt die tiefste Verwandtschaft zwischen beiden Denkern m.E. nicht im Katalog von Lob und Tadel, die sie den verschiedenen Religionen erteilen, sondern darin, dass ihre jeweiligen Kritik durch eine historische Untersuchung naturalistischen Charakters begründet wird.

II. Naturgeschichte und Genealogie Humes großes Vorbild war Isaac Newton. Wie Newton eine einheitliche Wissenschaft der materiellen Welt aufgebaut hatte, so wollte Hume eine Theorie des menschlichen Geistes entwickeln, welche nicht nur eine interne Einheit aufweisen würde, sondern auch mit der Physik zusammenhängen könnte. Die Sorge, die Kontinuität zwischen Natur und Mensch an den Tag zu bringen, ist das, was den Naturalismus definiert. Man kennt Hume vor allem als Skeptiker, und er berief sich in der Tat auf eine gemäßigte Form von Skeptizismus, den er den ‚akademischen‘ nannte. Aber innerhalb der Grenzen seiner Skepsis, die ihm verbot, von der Substanz der Dinge zu reden, will er Hypothesen formulieren, die auf bestimmte Naturgesetze hinweisen. Er schweigt über das Wesen der Wirklichkeit, aber versucht, von deren Regelmäßigkeiten eine wahrscheinliche Erkenntnis zu gewinnen. So spielt die Verbindung der Gedanken in seiner Theorie des menschlichen Verstands die Rolle der Körperanziehung in der Physik Newtons (dies gilt jedenfalls für den Traktat von der menschlichen Natur). Niemand wird bestreiten, dass solch ein Entwurf zum Geist der Neuzeit gehört; jedoch führt er nicht zu einer übertriebenen Verherrlichung der Vernunft: im Gegenteil sucht Hume die Notwendigkeit, die die Wirkung des Intellekts prägt, im tierischen Element der menschlichen Natur. Die Gewohnheit, die in seiner Epistemologie einen zentralen Platz einnimmt, behandelt er ähnlich wie einen Instinkt.7 5 6 7

David Hume, Natural History of Religion, hg. von H. E. Root, Stanford 1967, 52 (§ 10). Vgl. Ivan Broisson, Nietzsche et la vie spirituelle, Paris 2003, 112ff. Zu Humes philosophischem Entwurf, sie z.B. Terence Penelhum, David Hume. An Introduction to His Philosophical System, West Lafayette (Indiana) 1992.

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Die Naturgeschichte der Religion ist Teil dieses Gesamtentwurfs. In den ersten Zeilen trifft Hume eine wichtige Unterscheidung zwischen dem Grund der Religion in der Vernunft und dem Ursprung derselben in der menschlichen Natur.8 Nur Letzteres ist Gegenstand der Naturgeschichte. Dass er beide Fragen voneinander trennt, bedeutet eine einzigartige philosophische Stellungnahme: es setzt nämlich voraus, dass der Gottesglaube nicht vom vernünftigen Denken geboren wurde, sondern von irgendeinem Zug der menschlichen Natur, der gegenüber der Rationalität unabhängig und vielleicht widrig ist. Ironischerweise schreibt er, fast mit den Worten René Descartes’, die Neigung zum Glauben an eine intelligente, höhere Macht sei im Menschen wie „a kind of mark or stamp, which the divine workman has set upon his work“.9 Aber während Descartes seine Metaphysik auf die universelle Idee Gottes stützen wollte, untersucht Hume gerade nicht die ‚Idee‘ Gottes, sondern die ‚Neigung‘ zum Glauben an Gott. Wenn diese Neigung in die Natur des Menschen eingeschrieben ist, ist der Glauben selbst nicht universell: religiöse Anschauungen sind ebenso mannigfaltig wie die Völker; außerdem gibt es Nationen, bei denen kein religiöses Gefühl zu finden ist.10 Deshalb kann man nach Hume den Gottesglauben nicht als Urinstinkt (original instinct) des Menschen betrachten, sondern nur als das Produkt anderer, ursprünglicherer Instinkte, welche vielleicht viel weniger vornehm scheinen. Um diesen Ursprung der Religion ausfindig zu machen, will er sich mit ihrer Geschichte befassen. Die Gedanken und Einrichtungen, die in seinem Jahrhundert ‚die Religion‘ ausmachen, die man fast für ewig gegeben halten könnte, sind einst wegen bestimmter psychologischer Ereignisse aufgetaucht; zur Zeit dieses Auftauchens zurückzukehren, soll uns erlauben, die moderne Religion richtig zu verstehen. Nietzsches genealogische Methode hat vieles mit Humes Naturgeschichte gemeinsam. Die Genealogie der Moral ist sicher das vollkommenste Beispiel Nietzschescher genealogischer Untersuchung, aber sie ist nicht das erste. Die Suche nach dem Ursprung, nach der Genesis der Phänomene, durchdringt das ganze Werk Nietzsches; und immer geht es darum, die Urinstinkte, die Grundtriebe hervorzuheben, die dem Entstehen des fraglichen Phänomens unterliegen. Schon die Geburt der Tragödie ist eine solche ‚Genealogie‘: zwei Grundtriebe, der dionysische ‚Frühlingstrieb‘ und die apollinische Neigung zur Formbildung erklären die Verwandlungen griechischer Kunstgeschichte von Homer bis Sokrates. Aber noch früher, in seiner Vorlesung Encyclopädie der klassischen Philologie (1871), widmet er bereits den Abschnitt Genesis und Vorbildung der klassischen Philologie dem Thema der drei ‚Triebe‘, von denen die philologische Berufung abhängt: ‚pädagogische Neigung‘, ‚Freude am Altertum‘ und ‚reine Wissensgier‘ (KGW II/3, 366ff.). Die Beschreibung des letzteren ist umso interessanter, als sie zeigt, dass der Philologe nach Meinung Nietzsches unter anderem Naturwissenschaftler und Historiker sein muss, dass er als solcher gerade die Triebe, die Instinkte des Menschen zu erforschen hat. Der Philologe hat als Naturwissenschaftler die Aufgabe, „den tiefsten Instinkt des Menschen, den Sprachinstinkt zu ergründen“ (ebd., II/1, 249). Nietzsche 8 9 10

Vgl. David Hume, Natural History of Religion, 21. David Hume, ebd., 75 (15). Vgl. ebd., 21.

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schreibt ebenfalls, es sei die Rolle des Historikers, „das waltende Gesetz in der Flucht der Erscheinungen“ (ebd.) und „die dunkle Macht ungeheurer Instinkte, unbewußten Wollens“ (HKGW, 5, 195) zu zeigen. Solche „Darstellung des Trieblebens, der Gesetze“ rechnet er zu den „naturwissenschaftlichen Elemente[n]“ (ebd.) seiner Disziplin. Geistes- und Naturwissenschaft werden also auf ähnliche Weise begriffen: sie bestehen in der Untersuchung einer natürlichen Regelmäßigkeit, der Notwendigkeit der Triebe und Instinkte. Der Philologe darf sich darauf nicht beschränken, sonst ist er kein ‚klassischer‘ Philologe, nur ein unschöpferischer Theoretiker. Als klassischer Philologe soll er das Altertum als Instrument ästhetischer Bildung benutzen; aber dazu muss er zunächst ein richtiger Wissenschaftler werden. In seiner philosophischen Tätigkeit hat Nietzsche nie aufgehört, gegen die ‚Komödianten des Geistes‘ wissenschaftliche Genauigkeit und Redlichkeit zu verteidigen, obschon er zugleich den ‚Willen zur Wahrheit‘ in Frage stellt. Leidenschaftliche Verteidigungen der wissenschaftlichen Haltung findet man sowohl in der Fröhlichen Wissenschaft (KSA, FW, 3, 351f., 614ff.) wie in der Genealogie der Moral (KSA, GM, 5, 405ff.). Aber Nietzsche ist nicht nur ein Verteidiger der Wissenschaft: wie seine frühe Philologie stützt sich seine Genealogie auf naturwissenschaftliche Praxis. Ziel der Genealogie ist es, eine mögliche Verwandlung des Menschen vorzubereiten; aber dies erfordert eine bestimmte Erkenntnis der Phänomene, die diese Verwandlung hemmen statt voranbringen, z.B. das asketische Ideal. Wie es Teil philologischer Hermeneutik ist, die Überlieferung erst festzustellen, um sie danach auszulegen(vgl. KGW, II/3, 373ff., Encyklopädie der klassischen Philologie), so muss der Genealoge erst die Wirklichkeit erkennen, um sie danach umzugestalten und neue Werte zu schaffen. „Alle Wissenschaften haben nunmehr die Zukunfts-Aufgabe des Philosophen vorzubereiten“ (ebd., 289). Alle Wissenschaften, aber nicht alle im gleichen Maß. Der Physiologie schreibt der Philosoph einen gewissen Vorrang zu: „In der That bedürfen alle Gütertafeln, alle ‚du sollst‘, von denen die Geschichte oder die ethnologische Forschung weiss, zunächst der physiologischen Beleuchtung und Ausdeutung, eher jedenfalls noch als der psychologischen“ (ebd.). Wichtig ist: obgleich für Nietzsche (natur)wissenschaftliches Streben nach Erkenntnis ein Symptom von Nihilismus sein ‚kann‘, behauptet er sehr deutlich, dass solches Streben auch zur dionysischen Weltbejahung gehört: „genau so weit als der Muth sich vorwärts wagen darf, genau nach dem Maass von Kraft nähert man sich der Wahrheit. Die Erkenntnis, das Jasagen zur Realität ist für den Starken eine ebensolche Nothwendigkeit als für den Schwachen […] die Feigheit und Flucht vor der Realität […]. Es steht ihnen nicht frei, zu erkennen: die décadents haben die Lüge nöthig“ (KSA, EH, 6, 311). Wir erkennen zwar aus einer beschränkten, menschlichen Perspektive, und als Menschen vereinfachen wir die Welt; aber es scheint, dass Nietzsche die Möglichkeit anerkennt, innerhalb dieser allgemeinen Perspektive zwischen besonderen Perspektiven zu unterscheiden, welche nicht gleichwertig sind. Die Perspektive des Genealogen ist richtiger als die des asketischen Priesters; und unter Genealogen der Moral sind die verschiedenen Theorien ungleichwertig: Er behauptet mehrmals, seine Erklärung des Entstehens der Moral habe mehr Wert als die der sogenannten ‚englischen Genealogen‘. Vor allem unterscheidet er zwischen ‚Tatsachen‘, die er vorbringt, und ‚Interpretatio-

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nen‘, die Metaphysiker, Priester oder Morallehrer aufbauen. Bemerkenswert ist auch, dass er bei dieser Unterscheidung Interpretation mit ‚Moral‘, ‚Religion‘ oder ‚Psychologie‘ assoziiert und Tatsachen (den ‚Tatbestand‘) mit ‚Physiologie‘. – So lesen wir im Aphorismus 16 der 3. Abhandlung der Genealogie der Moral, „dass ‚Sündhaftigkeit‘ am Menschen kein Thatbestand ist, vielmehr nur die Interpretation eines Thatbestandes, nämlich einer physiologischen Verstimmung, – letztere unter einer moralisch-religiösen Perspektive gesehn, welche für uns nichts Verbindliches mehr hat“ (KSA, GM, 5, 376). Oder im Aphorismus 13: „Ein solcher Selbstwiderspruch, wie er sich im Asketen darzustellen scheint, ‚Leben gegen Leben‘ ist […] physiologisch und nicht mehr psychologisch nachgerechnet, einfach Unsinn. Er kann nur scheinbar sein; er muss eine Art vorläufigen Ausdrucks, eine Auslegung, Formel, Zurechtmachung, ein psychologisches Missverständnis von Etwas sein, dessen eigentliche Natur lange nicht verstanden, lange nicht an sich bezeichnet werden konnte, – ein blosses Wort, eingeklemmt in eine alte Lücke der menschlichen Erkenntnis. Und dass ich kurz den Thatbestand dagegen stelle: das asketische Ideal entspringt dem Schutz- und Heil-Instinkte eines degenerirenden Lebens […]; es deutet auf eine partielle physiologische Hemmung und Ermüdung hin, gegen welche die tiefsten, intakt gebliebenen Instinkte des Lebens unausgesetzt mit neuen Mitteln und Erfindungen ankämpfen“ (ebd., 365f.). Diese Zeilen fassen sehr gut das Projekt Nietzsches zusammen: gegen eine falsche, psychologische Auslegung, will er den physiologischen Tatbestand an den Tag bringen, der die Lebenshaltung des Asketen hervorbringt. Und dieser Tatbestand liegt letzten Endes in den ‚Urinstinkten‘ des Einzelnen. Diese Instinkte scheinen außerdem mit der Notwendigkeit von ‚Naturgesetzen‘ oder besser gesagt von ‚Lebensgesetzen‘ zu wirken. Nietzsche erwähnt, als er die Fatalität einer Selbstaufhebung der Moral behandelt, „das Gesetz der nothwendigen ‚Selbstüberwindung‘ im Wesen des Lebens“ (ebd., 410). Wie Hume sieht er im Instinkt die Stufe der treffendsten Erklärung anthropologischer Phänomene. Wie dieser sieht er im Tierischen, im Nicht-rationalen den Schlüssel zum Verständnis des Geistigen. Es war für Hume wesentlich, zwischen Grund und Ursprung des Gottesglaubens zu unterscheiden. Es überrascht kaum, dass Nietzsche eine vergleichbare Unterscheidung entwickelt. Im Aphorismus 12. der zweiten Abhandlung betont er, dass die Frage nach dem Ursprung der Strafe nicht mit der Frage nach deren Zweck zu verwechseln ist. Es ist nicht genau das Gleiche wie bei Hume, denn Nietzsches Unterscheidung verbietet alle utilitaristische Genealogie der Strafe, was ihn eher in einen Gegensatz zu Hume bringen würde. Aber beide Unterscheidungen haben eines gemeinsam: sie unterstreichen die Kluft zwischen dem Ursprung des Entstehenden und der Rationalität: im Falle Humes gegenüber der spekulativen Vernunft, im Falle Nietzsches gegenüber der rechnenden Klugheit. Für beide führt die Genesis anthropologischer Phänomene in die am wenigsten sublime Vergangenheit des Menschen, wo der Trieb in seiner rohsten Form erscheint. Der Mensch, bei dem für Hume die Religion entstand, ist kein beschaulich Weiser, der wie der Adam John Miltons die Schöpfung bewundert; er ist ein barbarisches Tier, „a barbarous, necessitous animal […] pressed by […] numerous wants and passions“11: es sind seine Bedürfnisse, die ihn zur Religion führen. Ähnlich interessiert sich Nietzsche für 11

Ebd., 1.

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die Vorgeschichte der Moral, das Zeitalter der so genannten „Sittlichkeit der Sitte“, „die älteste, längste Geschichte des Menschen“ (KSA, GM, 5, 302), als die „gegen sich selbst Partei nehmende Thierseele“ (ebd., 323) das schlechte Gewissen erfindet. In jenem Zeitalter sind alle Grundbegriffe der Moral entstanden, und Nietzsche hat vor, ihre Grobheit zu zeigen, welche von modernen Interpretationen der Moral verborgen wird: „alle Begriffe der älteren Menschheit sind […] anfänglich in einem uns kaum ausdenkbaren Maasse grob, plump, äusserlich, eng, geradezu und insbesondere unsymbolisch verstanden worden“ (ebd., 265). Jene Vergangenheit, „die längste tiefste härteste Vergangenheit“ (ebd., 295) ist, mit all ihrer „Tyrannei, [ihrem] Stumpfsinn und Idiotismus“ (ebd., 293), lebt noch in uns fort, wenn wir von uns selbst den Ernst der Verantwortlichkeit fordern. Die barbarische Vergangenheit ist noch das, was uns bestimmt; so dass, wenn wir das historische Wirken eines Triebes ergründen, wir auch seinen heutigen, vergeistigten Ausdruck verstehen. Wir sehen, dass die Naturgeschichte Humes und die Genealogie Nietzsches mehrere Züge gemeinsam haben. Beide gehen davon aus, dass der Ursprung bestimmter geistiger Phänomene nicht mit ihrer rationalen Begründung zusammenfällt. Beide bestehen darin, die Vor- und Frühgeschichte dieser Phänomene zu erzählen, in beiden Fällen führt die Erzählung zum Tierischen im Menschen, zum Trieb und dessen notwendiger Wirkung. Diese Behauptungen werden innerhalb der Grenzen einer gewissen Skepsis ausgedrückt.

III. Ressentiment und Melancholie Sind sie tatsächlich vergleichbar? Die Titel beider Werke könnten vermuten lassen, dass die behandelten Themen zu stark voneinander abweichen. Doch Nietzsche widmet der religiösen Ethik, der moralisierten Form der Religion, dem religiösen Bewertungssystem, einen erheblichen Teil der Genealogie der Moral. Sogar den Ursprung der Götter behandelt er in der zweiten Abhandlung. Die Frage ist, was sind die Grundtatsachen, die dem Entstehen der Religion und religiöser Ethik zugrunde liegen? Worin besteht die Einzigartigkeit der Hypothesen Nietzsches? Nach Hume liegt der Anfang der Religion in der Furcht und Hoffnung des Alltags, welche aus Unwissenheit entstehen.12 Der Urmensch, den er beschreibt, ist in zahlreichen Bedürfnissen gefangen. Keine edle Liebe zur Wahrheit hat die Frömmigkeit geboren, sondern die eigennützige Sorge um die Befriedigung dieser Bedürfnisse. Weil letztere vielfach sind, hat sich der Mensch eine Vielfalt von Göttern vorgestellt. Weil er dazu neigt, die Wirklichkeit nach eigenem Vorbild bis zur Karikatur zu vereinfachen, Hume verteidigt hier eine sehr ‚Nietzschesche‘ These13, hat er diesen göttlichen Wesen menschliche Gestalt gegeben.14 Das Entstehen des Monotheismus hängt nicht mehr von der Vernunft ab. Der Glaube an einen einzigen Gott hat genau denselben Ursprung: alles, was geschieht, ist, dass einer jener von der Furcht geborenen Götzen zum Fürsten 12 13 14

Vgl. David Hume, ebd., 26ff. Dazu Paul Valadier, „Maladie du sens et gai savoir“, in: Ders., Nietzsche l’intempestif, Paris 2000. Vgl. David Hume, Natural History of Religion, 29.

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der Götter erhoben wird, und weil das Elend und die Furcht der Menschen nicht verschwinden, schmeicheln sie ihrem Gott mehr und mehr, bis zu dem Punkt, wo sie aus ihm das Unendliche selbst machen.15 Was sagt Nietzsche zur Geburt der ersten Götter? Alles fange an, als das Verhältnis des Schuldners zu seinem Gläubiger in die Beziehung der Gegenwärtigen zu ihren Vorfahren ‚hineininterpretiert‘ wird. Die lebende Generation fühlt sich gegenüber der früheren in der Schuld, weil diese den gegenwärtigen Wohlstand ermöglicht habe und immer noch fördere. Daraus ergibt sich eine Furcht vor den Ahnen, welche umso größer ist, je mehr das Volk gedeiht. Ähnlich wie in der Erzählung Humes wird die Frucht so groß, dass ihr Gegenstand zuletzt als ebenso ungeheuer vorgestellt wird: „Vielleicht ist hier selbst der Ursprung der Götter, ein Ursprung also aus der Furcht!“ (KSA, GM, 5, 328). Die Theorien von Hume und Nietzsche weichen zwar voneinander in einem wichtigen Punkt ab: nach Hume ist es das Elend, nach Nietzsche der Wohlstand, der zum Glauben führt. Doch behauptet Nietzsche nicht, dass diese Urgläubigen aus Dankbarkeit ihre Gottheit verehren: wie Hume stellt er fest, dass die Sorge um das eigene Fortbestehen die erste Frömmigkeit erzeugt: „Hier herrscht die Überzeugung, dass das Geschlecht durchaus nur durch die Opfer und Leistungen der Vorfahren besteht, – und dass man ihnen diese durch Opfer und Leistungen zurückzuzahlen hat“ (ebd., 327). Nach Humes Interpretation reicht die Furcht nicht aus, um das Fortleben der Religion zu erklären. Ein anderer Affekt ist nötig, die Melancholie. Es ist wahrscheinlich seine Analyse der Melancholie, mit der er sich am meisten der Theorie Nietzsches nähert. Im 3. Abschnitt seiner Naturgeschichte schreibt Hume, dass Hoffnung und Dankbarkeit des bedürftigen Menschen das Entstehen der Religion ebenso verursachen können wie seine Furcht und sein Gram. Er nuanciert aber: „But if we examine our own heart, or observe what passes around us, we shall find, that men are much oftener thrown on their knees by the melancholy than by the agreeable passions.“ Und: „every disastrous accident alarms us, and sets us on enquiries concerning the principles when it arose: Apprehensions spring up with regard to futurity: And the mind, sunk into diffidence, terror, and melancholy, has recourse to every method of appeasing those secret intelligent powers, on whom our fortune is supposed entirely to depend.“ 16 Der Gebrauch des Terminus ‚Melancholie‘ ist schon an sich bedeutsam: er verweist auf eine Stimmung, welche das Physiologische sowie das Seelische betrifft. Der Begriff entstand im Bereich der Medizin, und noch im 17. Jahrhundert hat Robert Burton in seinem klassischen Buch die Melancholie einer ‚Anatomie‘ unterworfen. Die These Humes scheint diese Tradition weiterzuführen; er nennt die meisten Grundsätze der Weltreligionen die Träume kranker Menschen („sick men’s dreams“17). Nietzsche sagt nichts anderes, wenn er behauptet, die Askese verrate eine tiefe „physiologische Ermüdung“, in der Macht das asketischen Ideals drücke sich „die Krankhaftigkeit im bisherigen Typus des Menschen“ aus (ebd., 396); ebenfalls wenn er die priesterliche „Heilkunde“ deutet als einen von vornherein verlorenen Kampf mit dem „Unlustgefühl“, der „Müdigkeit und Schwere“ (ebd., 378) der schwächeren Menschen. 15 16 17

Vgl. David Hume, ebd., 41ff. Ebd., 31. Ebd., 75.

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Warum ist dieser Kampf von vornherein verloren? Weil der Priester selber krank ist (vgl. ebd., 372ff.), weil er die Krankheit nicht wirklich behandelt (nur deren Symptome); dabei macht er die Krankheit nur schlimmer (ebd., 391f.), was seinem Interesse dient: es ist das Hauptziel des Priesters, über die Kranken zu ‚herrschen‘; dazu muss er den Zustand der Kranken zumindest unverändert halten (ebd., 372ff.). Dass die homines religiosi das Leiden der Gläubigen ausbeuten, um ihre Macht zu sichern, wurde von Hume nicht übersehen: „No topic is more usual with all popular divines than to display the advantages of affliction, in bringing men to a due sense of religion; by subduing their confidence and sensuality, which, in times of prosperity, make them forgetful of a divine providence.“18 Dasselbe wiederholt er in Aberglaube und Begeisterung, wenn er über „ceremonies, observances, mortifications, sacrifices, presents, or any practice, however absurd or frivolous, which either folly or knavery recommends to a blind and terrified credulity“19 redet. – Bemerkenswert ist aber der Platz, den er in diesem Essay der ‚Begeisterung‘ zuschreibt. Er stellt sie dem Aberglauben gegenüber als eine der beiden Hauptformen irrationaler Frömmigkeit; dies entspricht dem Gegensatz zwischen Reform und Katholizismus. Obschon Begeisterung am Anfang ihrer Wirkung zerstörerische Folgen hat (sie wirkt wie ein gewalttätiger Wahn), wird sie von positiven Affekten hervorgebracht (etwa überfließender Lebensfreude) und kann langfristig positive Effekte auf sozial-politischer Ebene haben, soweit sie die Priester-Macht zugunsten der Initiative Einzelner verringert und zum Fortschritt politischer Freiheit beiträgt. Nietzsche würde dem nicht zustimmen: der Ursprung religiöser Begeisterung liegt für ihn in der Krankhaftigkeit des Menschen; man weiß, dass der Fortschritt zum modernen Staat für ihn die Dekadenz der Instinkte verrät. Diese Lehre von der Begeisterung bezeugt einen wichtigeren Unterschied zu Nietzsche: die Abwesenheit einer einheitlichen Theorie zum Ursprung religiösen Glaubens und der Ethik bei Hume. Beide Typen von Frömmigkeit, Begeisterung und Aberglaube werden durch den Verweis auf völlig verschiedene Affekten erklärt. Dies könnte einen Schwachpunkt Humescher Theorie darstellen, jedenfalls wenn wir deren Ergebnisse mit dem ursprünglichen Entwurf des Naturalismus vergleichen.20 Diesem gemäß sollte man eine ‚einheitliche‘ Erklärung der Naturphänomene, der menschlichen inbegriffen, anstreben. Ich möchte die Hypothese vorschlagen, dass Nietzsche im Gegensatz zu Hume eine solche Erklärung entwickelt, anhand der Begriffe ‚Wille zur Macht‘ und ‚Ressentiment‘ und dass er dem (so begriffenen) naturalistischen Entwurf treu(er) bleibt. Es ist nicht deutlich, ob Nietzsche in der Genealogie der Moral die Lehre des Willens zur Macht als allgemeine Hypothese zur Natur der Wirklichkeit voraussetzt. Wir stehen vor einem methodologischen Dilemma: sollen wir uns dem Nachlass zuwenden und vermuten, dort kühne, grundsätzliche Elemente seiner Philosophie zu finden, oder 18 19 20

Ebd., 31. Ders., Essays Moral, Political, and Literary (1742–1754), Indianapolis 1987 (I. X.). Wir verstehen ‚Naturalismus‘ als Versuch, menschliche Phänomene mit Blick auf die Kontinuität mit den natürlichen Phänomenen zu betrachten bzw. in den Geisteswissenschaften und der Philosophie eine gewisse Kontinuität mit Methoden und Ergebnissen der Naturwissenschaften anzustreben. Diese Kennzeichnung des Naturalismus (sowie die Hypothese des ‚Naturalismus Nietzsches‘), entnehme ich Brian Leiters Buch Nietzsche on Morality, London 2003.

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Ivan Broisson

dem veröffentlichten Werk Vorrang geben und den Nachlass als Gesamtheit von Experimenten betrachten, denen der Status grundsätzlicher Lehren nicht zuzuschreiben sei? Letzteres wird von Brian Leiter vertreten. Er identifiziert ‚drei‘ Hauptgegenstände naturalistischer Untersuchung, drei psychologische Mechanismen, die den drei Abhandlungen entsprechen: Ressentiment, verinnerlichte Grausamkeit, Wille zur Macht.21 Mit der Einschränkung der Rolle des Willens zur Macht als Phänomen, das nur in der dritten Abhandlung behandelt wird, stellt er sich gegen eine auf den Nachlass gestützte Interpretation. In einem Fragment von 1885 schreibt Nietzsche, die ganze Welt „ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem“ (KSA, NF, 11, 611). Den Willen zur Macht und also die Wirklichkeit bezeichnet er als das, was wirkt, was eine bestimmte Gestaltungskraft ausübt, besser gesagt, als dieses Wirken selbst; die ganze Welt ‚ist‘ Kraft und jede Kraft ist Ausdruck des Willens zur Macht.22 In der ganzen Genealogie der Moral sind Hinweise auf diese Theorie zu finden. So, wenn Nietzsche in der Vorrede die Problematik des Buches zusammenfasst: „unter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werthurtheile gut und böse? Und welchen Werth haben sie selbst? […] Sind sie ein Zeichen von […] Entartung des Lebens? Oder umgekehrt, verräth sich in ihnen die Fülle, die Kraft, der Wille des Lebens […]?“ (KSA, GM, 5, 250). – Der entscheidende Gegensatz zwischen Aristokraten und Priestern als Wertstiftern ist der zwischen Macht und Ohnmacht: die Ersteren haben eine „mächtige Leiblichkeit“ (ebd., 266), ihr Verhalten wird von einem „Überschuss plastischer […] Kraft“ (ebd., 273) bestimmt, während die Letzteren die „bösesten Feinde“ sind, „weil sie die ohnmächtigsten sind“ (ebd., 266). Der Aphorismus 13 der ersten Abhandlung enthält eine theoretische Passage, in der Nietzsche vom Thema des notwendigen Ausdrucks der Stärke ausgeht, um umfassend den Begriff eines „Seins“ hinter dem Werden zu kritisieren. Die Kraft, sagt er, kann nichts anderes tun, als sich als „Herrwerden-Wollen“ zu äußern, weil sie nichts anderes ist als solcher Wille: „Ein Quantum Kraft ist eben ein solches Quantum Trieb, Wille, Wirken, – vielmehr, es ist gar nichts anderes als eben dieses Treiben, Wollen, Wirken selbst“. Hier vertritt er eine allgemeine Theorie der Wirklichkeit, nicht nur zum Verhalten des Aristokraten; er schreibt weiter, mit denselben Begriffen, welchen er aber eine universelle Bedeutung zu geben scheint: „es gibt kein ‚Sein‘ hinter dem Thun, Wirken, Werden; der ‚Thäter‘ ist zum Thun bloss hinzugedichtet, – das Thun ist Alles“ (ebd., 279). Das Ressentiment ist also, wie alle Wirklichkeit, ein Ausdruck dieses Willens zur Macht. Weil der schwache Mensch Macht will, aber selber nicht genug hat, kann er sich selbst nicht wollen, nur die Macht vornehmer Naturen beneiden. Deswegen wird er das Wirken, die Aktion (andere Namen für Macht) negativ und Ruhe, Passivität positiv bewerten. Dabei hört er nicht auf, selber aktiv zu sein, wenn auch seine Aktion, weil sie nicht aus einem Überschuss der Kraft entspringt, nur Reaktion ist, von der Aktion des ‚Starken‘ abhängt. Das Ressentiment ist also der Mechanismus, wodurch ein einziger Trieb, der Wille zur Macht, der sich in aller Wirklichkeit ausdrückt, sozusagen sich 21 22

Vgl. Brian Leiter, Nietzsche on Morality, 173. Dazu Ivan Broisson, „Nietzsche: un kantisme naturalisé?“, in: Revue philosophique de Louvain, 104 (2006) 2; sowie ders., Nietzsche et la vie spirituelle, 135–146.

Ressentiment und ‚Wille zur Macht‘

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selbst entwertet. Moral und Religion können das Leben ebenso bejahen wie verneinen. Die Theorie des Ressentiments ermöglicht aber, sowohl ihre bejahende wie auch ihre verneinende Form als Äußerungen desselben Triebs zu betrachten. Hier finden wir die Einheit, die in der Theorie von Hume fehlt. Nietzsches Schilderung des Ressentiments sichert nicht nur die Einheit der ersten Abhandlung, sondern des ganzen Genealogie der Moral: Das Ressentiment ist es, das die Werte erschafft, dank derer die Priester die innerlichen Qualen des schlechten Gewissens sowie ihre ganze asketische Lebenshaltung durchsetzen können. – Wenn dies stimmt, sollten wir in den anderen zwei Abhandlungen weitere Verweisungen auf die Hypothese des Willens zur Macht entdecken. Dass der asketische Priester aus dem Willen zur Macht handelt, ist offensichtlich: er strebt nur nach Herrschaft über die Schwachen: „Hier herrscht ein Ressentiment sonder Gleichen, das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte, nicht über Etwas am Leben, sondern über das Leben selbst“ (ebd., 363). Finden sich auch Verweisungen auf den Willen zur Macht in der 2. Abhandlung? Dies ist der Fall, wenn Nietzsche das Gedächtnis beschreibt nicht als passives Vermögen, sondern als „ein aktives Nicht-wieder-los-werden-wollen, ein Fort- und Fortwollen des ein Mal Gewollten, ein eigentliches Gedächtnis des Willens“ (ebd., 292) oder er darauf hinweist, der Ursprung der Strafe liege im „Wohlgefühl“, „seine Macht an einem Machtlosen unbedenklich auslassen zu dürfen“ (ebd., 299f.) oder er ausdrücklich betont, gegen die Theorie der Anpassung, die für ihn nur „Reaktivität“ ist, dass das „Wesen des Lebens“ „sein Wille zur Macht“ sei und dieser „Machtwille“ sich „in allem Geschehen abspiele“ (ebd.). Noch in der zweiten Abhandlung findet sich eine diskrete, doch wichtige Bemerkung. Es sei dieselbe Kraft, die sich in den Handlungen der mächtigen Organisatoren des Urstaates äußert, die im Geiste ihrer Untertanen das schlechte Gewissen und negative Ideale schaffe; diese Kraft nennt er den „Instinkt der Freiheit“ und fügt hinzu: „jener Instinkt der Freiheit (in meiner Sprache geredet: der Wille zur Macht)“ (ebd., 326). Der Satz scheint äußerst interessant, erstens weil er die allgemeine Anwesenheit eines Instinkts unterstreicht, in der Aktion des Starken wie in der Reaktion des Schwachen; aber vor allem, weil er denken lässt, dass Nietzsche nicht immer ‚seine Sprache‘ spricht, dass diese Sprache die des Willens zur Macht ist. Man weiß, dass Nietzsche von seinem Leser fordert, sehr langsam und aufmerksam zu lesen. Wir können fragen, warum er nicht seine Sprache spricht: findet er die eigene Hypothese nicht stark genug? Eines ist jedenfalls deutlich: die Theorie, die er als seine eigene betrachtet, erscheint nicht direkt im Text; es ist notwendig, den Text ‚langsam‘ zu lesen, einen Teil des Denkens Nietzsches hinter gewissen Anspielungen zu suchen. Diese Notwendigkeit würde nähere Untersuchungen erfordern. Der fragliche Abschnitt scheint aber die Hauptrichtung der vorliegenden Interpretation zu bestätigen. Nietzsche, wie Hume, kritisiert das Christentum und lobt heidnische Kulte im Namen einer naturalistischen Genealogie, die die Triebe enthüllt, aus welchen die verschiedenen Formen von Religion stammen. Die Kraft der Hypothese Nietzsches besteht darin, dass er das Entstehen ‚starker‘ sowie ‚schwacher‘ Religion und Moral auf einen einzigen Trieb zurückführt, auf den Willen zur Macht. Man könnte fragen, ob dies nicht einen Verrat des naturalistischen Projekts und eine Rückkehr zur Metaphysik bedeutet.

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Dagegen ist festzustellen, dass Nietzsche in seiner Behandlung der Moral- und Religionsgeschichte, der Physiologie und Erkenntnis des ‚Tierischen‘ im Menschen eine größere Erklärungskraft zuerkennt. Zwar wird die Urkraft des ‚Tiers Mensch‘ ihr schönstes Aufblühen nur dann erreichen, wenn sie sich, verinnerlicht, in ein universelles amor fati umgestaltet; dennoch offenbart sie sich am klarsten, wenn sie sich in einem ‚natürlichen‘ Zustand befindet; man nimmt sie am besten wahr, wenn man der Erde treu bleibt, dem Tatbestand, den die Perspektive der Naturwissenschaft ans Licht bringt.

TOBIAS DAHLKVIST

Pessimismus als Ressentiment Eine zeitgemäße Geschichte1

I. Friedrich Nietzsche beschreibt sich als unzeitgemäß, als posthum geboren. Und Aspekte seiner Philosophie, seine Kritik der Modernität zum Beispiel oder der Moral, bleiben stets aktuell. Zugleich ist er aber ein sehr zeitgemäßer Denker. Er gehört zu den Denkern des fin de siècle. Dieser Beitrag thematisiert seine Kritik am Pessimismus und konzentriert sich auf die Aspekte der Kritik, die innerhalb der Diskussion des Ressentiments geliefert werden. Ich werde versuchen zu zeigen, dass Nietzsche sich mit einem sehr zeitgemäßen philosophischen Problem beschäftigt, dass der Pessimismus für ihn zu jeder Zeit ein Hauptproblem bleibt: nicht nur in den Frühschriften, sondern mehr oder weniger in allen Werken. Zwar ändert sich der Name: in den Spätschriften redet er mehr von Nihilismus oder décadence, pessimistisches Denken, vor allem das Arthur Schopenhauers, bleibt stets ein Muster und wichtiger Teil dessen, wogegen Nietzsche kämpft. Ich werde in diesem Beitrag die Frage, wie Pessimismus, Nihilismus und décadence sich zueinander verhalten nicht berühren.2 Nietzsche war, vielleicht abgesehen von der ganz frühen Zeit, eigentlich nie Pessimist, auch nicht in der Geburt der Tragödie. Er suchte stets eine Lösung für das Problem des Pessimismus; das bedeutet, auch Die Geburt der Tragödie ist gewissermaßen anti-pessimistisch. Die Art der Lösung ändert sich mit der Zeit, aber das Problem bleibt stets dasselbe. Die Lösung in der Geburt der Tragödie ist durchaus originell; es ist eine, die die Prämissen des Pessimismus respektiert. Im folgenden aber wird es um seine Argumentation gegen den Pessimismus in den Spätschriften gehen; die Lösung dort ist gar nicht originell. In dieser Frage sucht er eine zeitgemäße Lösung zu einem zeitgemäßen Problem.

1

2

Zum Teil wurde die Arbeit an diesem Aufsatz während eines Aufenthalts in Pisa ausgeführt, der durch ein Stipendium von der Stiftung STINT ermöglicht wurde. Vgl. Elisabeth Kuhn, Friedrich Nietzsches Philosophie des europäischen Nihilismus, Berlin, New York 1992.

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II. Es ist zuerst sehr wichtig, zu verstehen, was ‚Pessimismus‘ in den 70er und 80er Jahren des 19. Jahrhunderts bedeutete, vor allem, dass das Wort nicht denselben Sinn hatte wie heute. Sonst missversteht man generell und dann auch die pessimistischen Philosophen. Der englische Philosoph Bryan Magee definiert zum Beispiel in seinem Buch The Philosophy of Schopenhauer (1983) Pessimismus folgendendermaßen: „Two men who are drinking together shoot simultaneous glances at the bottle they are sharing, and one thinks to himself: ‚Ah good, it is still half full‘ while at the same moment the other thinks: ‚Oh dear, it’s half empty already‘. The point is, of course, that they would have no argument about how much wine there is in the bottle, or about the accuracy of any measurement, photograph or drawing, and yet the same fact is being not only seen but responded to in completely different ways.“3 Deswegen, meint Magee, kann keine Philosophie pessimistisch sein. Schopenhauer sei zwar Pessimist gewesen, aber seine Philosophie sei nicht pessimistisch. Wird Pessimismus als psychologische Neigung definiert, als ‚die Neigung eine halbvolle Flasche als halbleer zu betrachten‘, dann kann es keine pessimistische Philosophie geben. Wir werden aber sehen, dass diese Definition anachronistisch ist, dass Pessimismus im späten 19. Jahrhundert einen viel präziseren Sinn hatte. Auch in der Nietzsche-Forschung gibt es Beispiele einer ähnlichen, anachronistischen Pessimismusdefinition. Der neuseeländische Philosoph Julian Young meint, Die Geburt der Tragödie sei pessimistisch, da Nietzsche das Erlebnis der Tragödie als metaphysischen Trost bezeichnet, und da er schreibt, dass die Kunst den Menschen zu einem fortgesetzten Leben verführe. „None of these turns of phrase suggests human existence to be a particularly attractive state of being.“4 Pessimismus bedeutet demnach laut Young, ‚ein negatives Bild des Lebens zu liefern‘ und meint, Pessimismus habe für Nietzsche dasselbe bedeutet wie für uns. Wie hätte ein solcher Pessimismus Gegenstand einer philosophischen Diskussion werden können? Bedeutet nicht die bloße Tatsache, dass eine solche Diskussion in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts entstand, dass die übliche Definition des Begriffs zu Nietzsches Zeit anders als heute gelautet haben muss? – Die Philosophiehistoriker, die sich dieser Diskussion gewidmet haben, haben verschiedene Definitionen gegeben. Der Pessimismus sei laut Rudolf Malter und Andreas Dörpinghaus eine Art AntiTheodizee5; nach Michael Pauen er ein Perspektivwechsel zu Gunsten der Perspektive

3

4 5

Bryan Magee, The Philosophy of Schopenhauer, 1983; rev. and enlarged ed. Oxford, New York 1997, 14. Julian Young, Nietzsche’s Philosophy of Art, Cambridge 1993, 48. Rudolf Malter, „‚Eine wahrhaft ruchlose Denkungsart‘. Schopenhauers Kritik der leibnizschen Theodizee“, in: Studia leibinitiana 18 (1986); Andreas Dörpinghaus, Mundus Pessimus. Untersuchungen zum philosophischen Pessimismus Arthur Schopenhauers, Würzburg 1997 (Der Pessimismus sei laut Dörpinghaus „in nuce die Erkenntnis der schlechten Geschaffenheit und Beschaffenheit der Welt und vor diesem Hintergrund als Deutungszugriff auf Welt eine Antwort auf die Frage nach der Theodizee“, 14).

Pessimismus als Ressentiment

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des Individuums.6 Meines Erachtens besteht der Pessimismus in der Auffassung, dass das Nichtsein dem Sein vorzuziehen sei. Bei Arthur Schopenhauer gibt es keine explizite Definition des Pessimismus. Er verwendet das Wort in der ersten Auflage der Welt als Wille und Vorstellung gar nicht. In der zweiten Auflage (1844) heißt es dann: „Den Fundamentalunterschied aller Religionen kann ich nicht, wie durchgängig geschieht, darin setzen, ob sie monotheistisch, polytheistisch, pantheistisch oder atheistisch sind; sondern nur darin, ob sie optimistisch oder pessimistisch sind, d.h. ob sie das Dasein dieser Welt als durch sich selbst gerechtfertigt darstellen, mithin es loben und preisen oder aber es betrachten als etwas, das nur als Folge unserer Schuld begriffen werden kann und daher eigentlich nicht sein sollte, indem sie erkennen, daß Schmerz und Tod nicht liegen können in der ewigen, ursprünglichen, unabänderlichen Ordnung der Dinge, in dem, was in jedem Betracht sein sollte.“7 Optimismus und Pessimismus bedeuten „die Auffassung, dass das Dasein der Welt durch sich selbst rechtfertigt werde“ beziehungsweise „die Auffassung, dass das Dasein der Welt unmöglich zu rechtfertigen sei“ (ebd.). Obwohl das Wort Pessimismus erst hier, in der zweiten Auflage, vorkommt, ist die Auffassung, dass das Dasein der Welt nicht zu rechtfertigen sei, eine notwendige Prämisse seines ganzen Systems. Ohne sie wäre seine Kunstphilosophie undenkbar; ohne sie wäre seine Deutung der Askese Unsinn. Wir werden sehen, dass Nietzsches Verständnis des Pessimismus von der zitierten Textstelle beeinflusst wurde. Auch bei anderen Pessimisten der Zeit findet man einen ähnlichen Begriffsgebrauch. Für Eduard von Hartmann zum Beispiel, dessen Philosophie des Unbewussten (1869) große Popularität erreichte, ist es die Frage, ob das Sein dem Nichtsein vorzuziehen sei, das Hauptproblem.8 Seine Lehre unterscheidet sich aber von der Schopenhauers: bei ihm gibt es einen historischen Aspekt des Pessimismus. Er unterscheidet zwischen eudaimonologischem Optimismus bzw. Pessimismus und evolutionistischem Optimismus bzw. Pessimismus. Der eudaimonologische Pessimismus Schopenhauers muss mit einem evolutionären Optimismus kombiniert werden, um eine Lösung der Probleme der Menschheit zu finden. Der Pessimist muss sich dem Fortschritt der Gesellschaft widmen, er muss die Wahrheit des Pessimismus verkündigen, damit eines Tages, die Menschheit einen gemeinsamen Parlamentsentschluss fasse, die Welt zu vernichten. Hartmann liefert keine eigentliche Definition des Pessimismus. In der Philosophie des Unbewussten findet sich aber folgender Kommentar zu Schopenhauers Gebrauch des Wortes: „Der (Welt als W. und V. 3. Aufl. Bd. II, 667–668) versuchte Beweis, dass diese Welt die schlechteste unter allen möglichen sei, ist ein offenbares Sophisma; überall sonst will auch Schopenhauer selbst nicht weiter behaupten und beweisen, als dass das Sein dieser Welt schlimmer sei als ihr Nichtsein, und diese Behauptung halte 6

7

8

Michael Pauen, Pessimismus. Geschichtsphilosophie, Metaphysik und Moderne von Nietzsche bis Spengler, Berlin 1997, 11 passim. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, 2 Bde., in: Sämtliche Werke, hg. von Wolfgang Frhr. von Löhneysen, Frankfurt/M. 1998, Bd. 2, 219f. Zu Nietzsches Lektüre des Hartmannschen Hauptwerks: Francesco Gerratana, „Der Wahn jenseits des Menschen. Zur frühen E. v. Hartmann-Rezeption Nietzsches (1869–1874)“, in: NietzscheStudien 17 (1988).

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ich für richtig. Das Wort Pessimismus ist also eine unangemessene Nachbildung des Wortes Optimismus.“9 – Die Frage des Pessimismus sei also, ob das Sein oder das Nichtsein der Welt vorzuziehen sei. Bei Hartmann wie bei Schopenhauer ist die Frage, ob Leiden oder Glück überwiegt, das Kriterium, das über die Wahrheit des Pessimismus entscheidet. Für Schopenhauer ist die Frage schon a priori entschieden: da das Leben Wille ist, kann es nicht glücklich sein. Für Hartmann hingegen ist die Frage nur induktiv zu beantworten.10 Zwar meint auch er, die Unlust sei immer größer, aber seine Argumente sind nicht metaphysisch. So gibt es große Unterschiede zwischen den Pessimisten, vor allem hinsichtlich der Lösung des pessimistischen Problems: für Schopenhauer ist die Lösung die Askese, eine Lösung, die nur sehr wenigen offen steht. Für Hartmann ist die Lösung eine politische und technische Entwicklung, die die Zerstörung der Welt ermöglicht, eine kollektive Lösung. Für Philipp Mainländer ist die Lösung der Selbstmord. Die Prämisse, der Pessimismus, ist aber bei allen die Auffassung, dass das Nichtsein dem Sein vorzuziehen sei.

III. In seiner Encyclopädie der klassischen Philologie, geschrieben im Sommersemester 1871, spielt Nietzsche auf Schopenhauers Gedanken an, der Unterschied zwischen den Religionen sei in der Frage, ob sie optimistisch oder pessimistisch seien, zu finden. Die Anspielung ist so deutlich, dass man annehmen darf, Nietzsche verstehe den Sinn des Pessimismus nach Schopenhauer: „Denn die Frage zu berühren über Heidnisch u. Christlich: diesen zu entgegnen, daß es keine eigentliche Scheidung ist: die Urfrage ist, pessimistisch oder optimistisch gegen das Dasein. Sowohl im Christenthum als im Heidenthum giebt es die ernsthaftesten Stellungen z.B. die Mysterien, der Untergrund der Tragoedie, Empedokles; das ganze 6te Jahrhundert: während in der Verweltlichung der Kirche u. ihren staatlichen Ansprüchen ein heidnisches, dh. optimistisches Element liegt“ (KGW, II/3, 370). – Da Schopenhauers Pessimismus um die Frage, ob das Dasein zu rechtfertigen sei, kreist, ist es wichtig, dass die Frage, wie das Dasein zu rechtfertigen sei, ein wiederkehrendes Thema in Nietzsches Schriften ist. In der Geburt der Tragödie steht die berühmte Feststellung: „nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“ (KSA, GT, 1, 47). In der Fröhlichen Wissenschaft kommt dasselbe Thema wieder auf, allerdings ohne expliziten Hinweis auf die Rechtfertigung: „Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch erträglich, und durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor allem das gute Gewissen dazu gegeben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu können“ (KSA, FW, 3, 464). In der Genealogie der Moral findet sich weiteres Beispiel vom Menschen als ästhetisches Phänomen, das das Dasein rechtfertigt: „Aber von Zeit zu Zeit gönnt mir – gesetzt, dass es himmlische Gönnerinnen giebt, jenseits von Gut und Böse – einen Blick, gönnt mir 9

10

Eduard von Hartmann, Die Philosophie des Unbewussten. Versuch einer Weltanschauung, Berlin 1869, 540. Vgl. Eduard von Hartmann, Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus, Berlin 1880, 67.

Pessimismus als Ressentiment

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Einen Blick nur auf etwas Vollkommenes, zu-Ende-Gerathenes, Mächtiges, Triumphirendes, an dem es noch Etwas zu fürchten giebt! Auf einen Menschen, der den Menschen rechtfertigt, auf einen complementären und erlösenden Glücksfall des Menschen, um desswillen man den Glauben an den Menschen festhalten darf!“ (KSA, GM, 5, 278). Den Schlusspunkt dieser Entwicklung stellt die Diätlehre in Ecce homo dar. Nachdem er das richtige Klima, die richtige Küche, die richtige Erholung usw. sehr sorgfältig beschrieben hat, fügt Nietzsche an: „Man wird mich fragen, warum ich eigentlich alle diese kleinen und nach herkömmlichen Urtheil gleichgültigen Dinge erzählt habe; ich schade mir selbst damit, um so mehr, wenn ich grosse Aufgaben zu vertreten bestimmt sei. Antwort: diese kleinen Dinge – Ernährung, Ort, Clima, Erholung, die ganze Casuistik der Selbstsucht – sind über alle Begriffe hinaus wichtiger als Alles, was man bisher wichtig nahm. Hier gerade muss man anfangen, umzulernen“ (KSA, EH, 6, 295f.). Nachdem er umgelernt hat, ist ihm das Dasein gerechtfertigt: „Das Leben ist mir leicht geworden, am leichtesten, wenn es das Schwerste von mir verlangte“ (ebd., 296f.). Die Lösungen unterscheiden sich also: in der Geburt der Tragödie sucht Nietzsche eine metaphysische Antwort zum Problem des Pessimismus. Mit der Fröhlichen Wissenschaft beginnt die Suche nach einer Lebensweise, die das Dasein rechtfertigt. In der Genealogie der Moral versucht er Hindernisse dieser Lebensweise wegzuräumen. Nach der Übersiedlung nach Turin sieht Nietzsche ein, dass Klima und Ernährung noch wichtiger sind, als er vorher glaubte, und deswegen schreibt er Ecce homo, wo er sozusagen das Fazit seiner Lösung des pessimistischen Problems liefert. Konstant bleibt das Urteil Nietzsches, der Pessimismus sei ein passives, reaktives Verhältnis zur Welt. In der Genealogie der Moral stellt er diese Reaktivität mit der Sklaven-Moral und dem Ressentiment zusammen: „Während alle vornehme Moral aus einem triumphirenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem ‚Ausserhalb‘, zu einem ‚Anders‘, zu einem ,Nicht-selbst‘: und dies Nein ist ihre schöpferische That. Diese Umkehrung des werthesetzenden Blicks – diese nothwendige Richtung nach Aussen statt zurück auf sich selber – gehört eben zum Ressentiment: die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Gegen- und Aussenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äusserer Reize, um überhaupt zu agiren, – ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion“ (KSA, GM, 5, 270f.). Die Frage des Pessimismus liegt einigen wichtigen Themen bei Nietzsche wie bei Schopenhauer zugrunde. Nietzsche vertritt die Gegenposition zu Schopenhauer. Bei letzterem ist die Kunst ein Quietiv des Willens. Im Erlebnis der Kunst hört man auf zu wollen. Bei Nietzsche hingegen kann die Kunst dem Leben Wert verleihen. Mit Stendhal definiert er Schönheit als „une promesse de bonheur“ (KSA, GM, 5, 347).11 Für Schopenhauer wie für Nietzsche sind Schönheit und Kunst mit Glück verknüpft, aber für Schopenhauer besteht das einzig mögliche Glück in der Abwesenheit des Leidens. Auch die entgegengesetzten Stellungnahmen Schopenhauers und Nietzsches zur Moral sind mit Hinweis auf den Pessimismus verstehen. Für Schopenhauer ist das Mitleid 11

Vgl. Stendhal, „De l’amour“, in: Œuvres complètes, Bd. 3, hg. von Daniel Muller, Pierre Jourda, Victor Del Litto und Ernest Abravanel, nouvelle édition, Genève, Paris 1986, 74: „La beauté n’est que la promesse de bonheur.“

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höchster Wert in der Moral, weil der Mitleidende altruistisch ist und nach der Schmerzlosigkeit des Anderen strebt. Die ewige Wiederkunft ist gewissermaßen Nietzsches Gegenstück zum Mitleid. Da er die Frage des Pessimismus mit dem Hinweis, dass das Sein dem Nichtsein vorzuziehen sei, beantwortet, ist Schmerzlosigkeit nicht sein Ziel. Weil er so antwortet, kann das inhaltsreichste Leben das beste werden. Für Schopenhauer ist die Differenz zwischen Leiden und Glück das Kriterium, das entscheidet, ob Sein oder Nichtsein vorzuziehen ist. Für Nietzsche ist die Summe von Leiden und Glück das Kriterium des besten Lebens. – Die Rolle der Askese in Schopenhauers bzw. Nietzsches Philosophie beruht auf der Beantwortung der Pessimismusfrage. Für Schopenhauer ist Askese der erste Schritt in Richtung der Erlösung. Durch freiwillige Askese verlernt man das Wollen. Für Nietzsche hingegen ist Askese das Muster des Ressentiments. Ein gewisses Maß von Askese stärkt zwar den Körper und den Geist, ist also ratsam. Aber sofern sie zumIdeal erhoben wird, dient sie dem Leben nicht. – Für Schopenhauer sind Kunsterlebnis, Mitleid und Askese drei Beispiele einer besonderen Erkenntnisweise. In der Kunst sehen wir die Vorstellungen objektiv und hören deshalb momentan auf, wollende Subjekte, Individuen, zu sein. Der Mitleidende sieht intuitiv ein, dass die Scheidung zwischen ihm und dem Leidenden illusorisch ist. In der wahren Askese, beim Heiligen, ist die Einsicht tiefer. Die Einsicht des Heiligen entspricht Schopenhauers ganzer Philosophie: der Heilige sieht ein, dass das Leben Wille, mithin Leiden ist. Nur ist diese Einsicht intuitiv; Schopenhauer selbst hingegen besitzt eine intellektuelle Erkenntnis desselben Sachverhalts, dass der Kern der Welt Wille sei, und dass das Leben deswegen notwendig unglücklich sei. – Nietzsches Spätphilosophie ist das Gegenteil zu Schopenhauer. Sie beschäftigen sich mit demselben Problem, aber sie wählen gegensätzlichste Lösungen. Und die Position zum Pessimismus wirkt zurück auf viele Aspekte der Philosophie, auf Kunst, Moral, Askese.

IV. In der Geburt der Tragödie versuchte Nietzsche eine metaphysische Antwort auf die Frage des Pessimismus zu liefern. Diese Antwort besteht in einer Wiedergeburt der Tragödie durch das Musikdrama Richard Wagners. Dies ist eine Antwort, die Schopenhauers Prämissen akzeptiert, die aber den Pessimismus transzendiert. In den Spätschriften besteht die Antwort, oder die Lösung, erstens in einer neuen Lebensweise, einer neuen Diät usw. Zweitens besteht sie in einer umfangreichen Argumentation gegen den Pessimismus. „[W]enn es um zurückgewandtes Ressentiment, Selbsterkenntnis und Willen zur Wahrheit geht, muß er sich vorrangig mit Schopenhauer auseinandersetzen. Schopenhauer ist der Hauptgegner der dritten Abhandlung.“12 Nicht nur der dritten Abhandlung, sondern in der ganzen Spätphase seines Denkens. Nietzsches Argumente gegen den Pessimismus sind größtenteils ad hominem formuliert und nur indirekt gegen den Pessimismus gerichtet; sie sind gegen die Pessimisten gerichtet. Im Nachlass aus dem Herbst 1881 steht zu lesen: „Ich lache über die Auf12

Marco Brusotti, „Wille zum Nichts, Ressentiment, Hypnose. ‚Aktiv‘ und ‚reaktiv‘ in Nietzsches Genealogie der Moral“, in: Nietzsche-Studien 30 (2001), 130.

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zeichnungen des Schmerzes und Elends, wodurch sich der Pessimismus zurecht beweisen will – Hamlet und Schopenhauer und Voltaire und Leopardi und Byron“ (KSA, NF, 9, 618). Die Pessimisten sind Männer, die zu schwach sind, ihren Schmerz und ihr Elend tragen zu können; deshalb erheben sie ihr Leiden in ein System. Es ist wichtig zu beachten, dass alle diese ‚Pessimisten‘ ehemalige Vorbilder Nietzsches sind. Er kennt sie alle recht gut: er hat sie hoch geschätzt. Er hat sie nicht missverstanden; falls er sie ungerecht behandelt, dann deswegen, weil er gewählt hat, sie ungerecht zu behandeln. Im Fall Wagner erläutert er diese Methode: „Man widerlegt das Christenthum nicht, man widerlegt eine Krankheit des Auges nicht. Dass man den Pessimismus wie eine Philosophie bekämpft hat, war der Gipfelpunkt des gelehrten Idiotenthums“ (KSA, WA, 6, 51). Nietzsche ist kein gelehrter Idiot: Er bekämpft den Pessimismus nicht als Philosophie, er definiert die Pessimisten als krank: „Die Philosophen des Pessimismus:/physiologisch décadents/z.B. Baudelaire/Schopenhauer/Leopardi: geschlechtliche Irrungen am Anfang, Impotenz bei Zeiten als Folge“ (KSA, NF, 13, 429). Das Ressentiment ist die Erhebung einer Schwäche oder Krankheit in ein Ideal. Für Nietzsche bedeutet Pessimismus Erhebung des Nichts oder des Willens zum Nichts, zu einem Ideal. Der Pessimismus wird zum Musterbeispiel des Ressentiments. Die geschlechtlichen Irrungen Giacomo Leopardis äußern sich als pessimistische Gedanken.

V. Unter den Zeitgenossen Nietzsches finden sich etliche Beispiele ähnlicher Argumente. So finden sich bei Max Nordau, später einer der wichtigsten Zionisten und keineswegs nietzscheanischer Denker, die Auffassung, der Pessimismus sei ein Zeichen der Krankheit, der Degeneration. In seinem Buch Paradoxe (1885) schreibt er, dass pessimistische Philosophie eine Form der Unzufriedenheit mit der Endlichkeit des menschlichen Verstandes sei. Es gelingt dem Pessimisten nicht, zu verstehen, wie die Welt eingerichtet ist: „Darüber wird man verstimmt, man bringt die üble Laune in ein System und nennt es Pessimismus.“13 Im Fall der pessimistischen Dichter ist der Grund des Pessimismus noch kläglicher: „Alle großen Dichter des Weltschmerzes waren zerrüttete Organismen. Lenau starb im Wahnsinn, Leopardi litt an gewissen geschlechtlichen Verirrungen, die dem Irrenarzt wohlbekannt sind, Heine wurde erst trüb und verschleiert, als seine Rückenmarkskrankheit ihre nie fehlende Wirkung auch auf das Gehirn übte, und Lord Byron hatte jene Exzentrizität des Charakters, die der Laie Genialität nennt, während der Psychiatriker sie als Psychose etikettiert.“14 – In Nordaus Hauptwerk Entartung (1892f.) finden wir, dass die Popularität des Pessimismus eine Folge der Degeneration ist: „Die Degenerierten und Irren sind die vorbestimmte Gemeinde von Schopenhauer und Hartmann und sie brauchen blos den Buddhismus kennen zu lernen, um zu ihm bekehrt zu werden.“15 Der Pessimismus ist nach Nordau nur ein Symptom eines gefährlichen, die Menschheit bedrohenden Übels: der Entartung. Die 13 14 15

Max Nordau, Paradoxe, 71885, Berlin, o. J., 10. ders., ebd. 11. Max Nordau, Entartung, 2 Bde., Berlin 1892f., Bd. 1, 34.

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Tobias Dahlkvist

Entartung beruht auf der Lebensweise des modernen Menschen. Vor allem verliert er durch das Leben in der Großstadt seine Lebenskraft. Der Pessimist ist einer, der die eigene Schwäche und Krankheit in ein System erhebt. Der moderne Mensch glaubt, dass er den Vorfahren überlegen sei, aber diese Überlegenheit besteht in der Tat nur in Neurasthenie. Die Pessimisten sind krank, aber sie wähnen, dass ihre Krankheit ein Zeichen größerer Intelligenz und größeren Mutes sei. Trotz ihrer Oberflächlichkeit sind seine Argumente analog zu den Argumenten Nietzsches. Für Nordau ist aber auch Nietzsche ein Kranker in diesem Sinne: auch er ist ein Entarteter.16

VI. Am Anfang dieses Beitrages stand, dass auch scharfsinnige Forscher, die sich mit Schopenhauer und Nietzsche beschäftigen, den Pessimismus als eine psychologische Neigung definieren. Eine solche Definition ist anachronistisch: es ist eine Definition, die eher der heutigen Definition als der der Pessimisten des 19. Jahrhunderts entspricht. Sie ist aber auch eine Definition, die der Kritik des späten Nietzsche und der Nordaus entspricht. Den Pessimismus psychologisch zu definieren, heißt somit, die zeitgenössische Kritik gegen den Pessimismus zu akzeptieren. Bei Nietzsche aber ist die psychologische Deutung des Pessimismus das Ergebnis seiner Kritik; nimmt man an, dass sie ihre Prämisse ist, missversteht man die Bedeutung des Pessimismus in Nietzsches Denken. Da der Pessimismus immer ein Hauptproblem Nietzsches bleibt, heißt, den Pessimismus mißzuverstehen, auch Nietzsche mißzuverstehen.

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Vgl. Gregory Moore, „Hysteria and Histrionics. Nietzsche, Wagner, and the Pathology of Genius“, in: Nietzsche-Studien 30 (2001), 261ff.

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Siegreiches Verschwinden Wie uns der Sklavenaufstand aus den Augen gerückt ist

1. Schöpferische Reaktion In einem Nebensatz der Genealogie der Moral fällt die Bemerkung, dass der Sklavenaufstand „uns heute nur deshalb aus den Augen gerückt ist, weil er – siegreich gewesen ist“ (KSA, GM, 5, 268). Beachtung wird solch entrückender Bewegung trotz ihrer bedeutungsvollen Richtung nur in einer Wendung wie der genannten geschenkt, wohl aus dem bekannten Argwohn, den Nietzsche gegen die Bewegung hegt. Trotzdem führt sie weiter, denn als Wendung betrachtet, bewirkt sie das Verschwinden selbst; nicht in jedem Fall ist, was aus den Augen gerückt ist, aus dem Sinn. Was wäre, so die Frage, wenn die Wendung des Menschen zum eigenen Innen nicht aus verhinderter Rachsucht, sondern im Namen der Abwendung seines äußeren Schicksals geschieht, dadurch, dass er sich selbst zu dieser Wendung verwandt hat? Eigentümlich kommen im Sklaven-Ressentiment gleichermaßen schöpferische wie reaktive Momente überein. Seine Aktion ist von Grund aus Reaktion. Nein zu sagen wird zur „schöpferische[n] That“. Anstelle des Ja zu sich selbst steht von vornherein das initiale „Nein zu einem ‚Ausserhalb‘, zu einem ‚Anders‘, zu einem ‚Nicht-selbst‘“. „[D]ie Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Gegen- und Aussenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äusserer Reize, um überhaupt zu agiren, – ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion“ (ebd., 270f.). Von Grund aus, das gibt zu denken. Zweierlei ist dabei gesagt. Zum einen, es muss schon etwas da sein, damit reagiert und verneint werden kann. Zweitens, dass die Reaktion sich nicht auf dasjenige bezieht, was schon da war, sondern für sich eine Novität, ein Original ist, und damit „der Anfang, die eigentliche That in der Conception der Sklaven-Moral“ (ebd., 274). Veranlasst zwar, aber diesem Anlass nicht vermittelt, stellt sich die Ursprungshandlung dar. Sie ist weder ganz Aktion, weil sie sich von sich aus nicht begeben hätte, noch ganz Reaktion, weil sie dem hervorbringenden Impuls sich nicht verknüpfen lässt. Ebenso gut gilt für sie beides zugleich, denn ohne jenen Anstoß hätte sich nichts begeben, gesetzt selbst, er wäre nicht der ihre. Wogegen sie als Tat nur von sich selbst ausgehen kann, anderes steht ihr nicht zur Verfügung. Erstanden ist am Ende der, der Bosheit konstatiert und an diesem Werturteil seine ganze Existenz hat. Ein weiterer Zusammenhang besteht nicht zwischen dem substantiellen Werturteil über die Bonität, gefällt allein aus Bonität, und der selbsterstandenen Zuschreibung der Bosheit, wo einer, dem „die eigentliche Reaktion, die der That“ strikt versagt ist, sich unversehens abhilft durch eine „schöpferische

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That“ (ebd., 270f.), und damit zu Nietzsches Überdruss noch eine massenweise Lebensform erschafft. Nichts echauffiert die Genealogie mehr als die Unmöglichkeit dieses Schlusses. Unbenommen bleibt zunächst dabei, den Menschen des Ressentiments zum Urheber vom „andren Ursprung des ‚Guten‘“ (ebd., 278) ausersehen zu haben. Wem wäre eine solche Tat sonst anheim gestellt gewesen? Nur ist zu bedenken, dass dieser Typus selbst erst aus der Schöpfung des Werturteils ‚böse‘ hervorgegangen ist und dieses daher unmöglich als das seinige im akzidentiellen Sinn verstanden werden kann. Sehr wohl ist es das seinige, aber durchaus nicht so, als hätte es ihm freigestanden und wäre ihm selbst zur Last und in die eigene Verantwortung zu legen. Im Gegenteil. Das Nein des Ressentiments besteht in der Exklusion, oder besser, ‚an‘ ihr als „Nein zu einem ‚Ausserhalb‘, zu einem ‚Anders‘, zu einem ‚Nicht-selbst‘“. Was war, tritt nicht mehr in Erscheinung und wird unbekannt verneint. Nietzsche räumt ebendieses ein: „[W]er jene ‚Guten‘ nur als Feinde kennen lernte, lernte auch nichts als böse Feinde kennen“ (ebd., 274). Sie bleiben unerkennbar in dem, was sie eigentlich sind oder waren. Später, in den Ausführungen zum Ursprung des Gewissens, schildert er noch einmal, auf welche Weise eine solche Begegnung mit der „Eroberer- und Herren-Rasse“ formt: „Mit solchen Wesen rechnet man nicht, sie kommen wie das Schicksal, ohne Grund, Vernunft, Rücksicht, Vorwand, sie sind da wie der Blitz da ist, zu furchtbar, zu plötzlich, zu überzeugend, zu ‚anders‘, um selbst auch nur gehasst zu werden“ (ebd., 324f.). Was hereinbricht, sind Ereignisse von solcher Wucht und Plötzlichkeit, dass bereits ihre Aufnahme, vollends aber eine Reaktion ‚auf sie‘ unmöglich gemacht ist und an Letztere zu denken sich schon verbietet. Sogar der Hass fällt aus.1 Aus diesem Grund nur noch das Nein zu einem Außerhalb. Es ist das schlechthin Überwältigende und im Überwältigten nicht mehr zu Bewältigende, das Unfassbare des Eindrucks, das eine Reaktion hervorrufen soll, welche bei genauerer Betrachtung Aktion sein müsste und eigentlich auch diese nicht mehr ist. Als unfreiwillige und abstrakte Verneinung durch die unmögliche Repräsentierbarkeit einer allzu heftigen Reizeinwirkung gleicht sie eher einem Stoßgebet. An einem solchen Punkt wäre eigentlich Schluss, denn welche Menschen, selbst von nicht übermäßig schwächlicher Konstitution hätten für die „furchtbaren Tatzen“ (ebd.) blonder Raubtiere oder für welche sonst erdenklichen Formen übermäßiger kinetischer Energie die geeigneten Rezeptoren? Und auch, wenn es sich nicht um die im engeren Sinne taktilen, sondern um psychische Eindrücke gehandelt haben sollte, fehlte ihnen diejenige Haut, die es ermöglichen würde, die aufgenommene Reizmenge wieder loszuwerden, sie an sich abprallen lassen und so abführen zu können. Mit anderen Worten, eine Verwundung in einer Weise äußerlich zu halten, dass der durch sie verursachte Mangel aus den Kräften der bestehenden Organisation restituiert, und das heißt zugleich, die verursachende Kraftmenge ihr einverleibt und assimiliert würde. Nun ist nach Nietzsche weit eher das Überhandnehmen des aktiv-reaktiven Typus’ festzustellen 1

Wenn Nietzsche von „zurückgetretene[m] Hass“ als der „Rache des Ohnmächtigen“ spricht (KSA, GM, 5, 271), ist das für die Art, wie der Hass im Ressentiment zurücktritt, aufschlussreich. Er wäre einfach weg, wenn er nicht Geist geworden wäre. „[G]egen den Geist der priesterlichen Rache kommt überhaupt aller übrige Geist kaum in Betracht“, heißt es über die „geistreichsten Hasser“ und ihren „abgründlichsten Hass[ ]“ (ebd., 267).

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und gerade nicht sein Ausgestorbensein aufgrund der Aggression der Herrenschicht. Es bleibt zu fragen: Was passierte statt dessen?

2. Kein Kampf, nicht einmal ein Ressentiment Wir hatten die mangelnde Repräsentabilität angeführt als Grund für die Unverbundenheit von Anlass und Aktion, denn nur was man als Distinktes wahrzunehmen vermag, kann man auch ablehnen. Gleichwohl sind die Greuel ergangen. „Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung“, das „frohlockende Ungeheuer“ hinterließ bleibenden Eindruck (ebd., 275). Wenn ein Ereignis als distinktes nicht wahrnehmbar ist, ist es darum nicht zwangsläufig passé. Es besteht die Möglichkeit, dass es ganz da ist, dass man seiner Präsenz nur in Gestalt eines fast unerträglichen Druckes inne zu werden vermag, und gerade der Gestalt entbehrt solcher Zustand deshalb: „Ich glaube, dass niemals auf Erden ein solches Elends-Gefühl, ein solches bleiernes Missbehagen dagewesen ist“, dessen Allgegenwart der Betroffene nichts entgegenzusetzen hat. Dieses hat er mit Nietzsches „in den Bann der Gesellschaft und des Friedens“ eingeschlossenen „Halbthieren“ (ebd., 322) und sein Status mit dem Staat, der an ihnen statuiert wurde, gemein: dass er auf Bisheriges nicht mehr zählen kann „unter dem Druck jener gründlichsten aller Veränderungen […], die er überhaupt erlebt hat“ (ebd., 321). Soweit jedenfalls er, der bis ins Vegetative Versehrte, von der physischen Ohnmacht im eindeutigsten Sinne, von der Bewusstlosigkeit, verschont ist, wird Aufschluss über ihn nur durch die indifferenteste Regung zu gewinnen sein. Das gilt besonders für ihn selbst. Noch ist er nicht bei vollem Bewusstsein. Wenn er sich überhaupt regt und äußert im Schmerz, hat er schon reagiert: „Man reagirt […] nicht auf den Schmerz“, „der Schmerz selbst ist eine Reaktion“ (KSA, NF, 13, 360). Denn jede noch so schwache Äußerung repräsentiert den Druck und hilft, von seiner übermächtigen Präsenz loszukommen. Repräsentation meint, seinen Zustand unterscheidbar zu machen, wenigstens so viel Distanz zu ihm zu gewinnen, dass es dem Repräsentierenden allein darin, im Repräsentieren und als Repräsentierendem gelingt, sich vom ubiquitären Druck dieser Präsenz zu befreien. Und sei es auch a limine nur die Unmöglichkeit seines Zustands, die er sich selbst präsentiert.2 Nicht weiter erstaunlich, „dass jene Veränderung keine allmähliche, keine freiwillige war und sich nicht als ein organisches Hineinwachsen in neue Bedingungen darstellte, sondern als ein Bruch, ein Sprung, ein Zwang, ein unabweisbares Verhängniss, gegen das es keinen Kampf“ gab und „nicht einmal ein Ressentiment“ (KSA, GM, 5, 324). Kein Ressentiment also am Ursprung des Ressentiments. 2

„An sich giebt es keinen Schmerz. Es ist nicht die Verwundung, die weh thut; es ist die Erfahrung, von welchen schlimmen Folgen eine Verwundung für den Gesammt-Organismus sein kann, welche in Gestalt jener tiefen Erschütterung redet, die Unlust heißt […] Im Schmerz ist das eigentlich Spezifische immer die lange Erschütterung, das Nachzittern eines schreckenerregenden choc’s in dem cerebralen Heerde des Nervensystems: – man leidet eigentlich nicht an der Ursache des Schmerzes“ (KSA, NF, 13, 359; vgl. auch KSA, NF, 11, 114ff.). Schon in der Erschütterung redet Erfahrung, das Nachzittern ist ihre Präsentation. Hätte der Organismus erlebt, wovon er sich ausspricht, gäbe es keine Erfahrung. Der Schock ist die Grenze des Äquivalents.

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Man ahnt bereits, was es mit der Reaktion „von Grund aus“ auf sich hat. Der Mensch des Ressentiments hat „‚den bösen Feind‘ concipirt“, „hier gerade ist seine That, seine Schöpfung“, „und zwar als Grundbegriff, von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch noch einen ‚Guten‘ ausdenkt – sich selbst!“ (ebd., 274). Wenn die schöpferische Tat dem Walten der Bestie nachgeordnet ist, versteht sich, warum an dieser Stelle etwas Neues seinen Ursprung nimmt. Wo ein Bestehendes nicht in der Lage ist, mit Eindrücken fertig zu werden, sie sich so zu verdrücken, dass es sie, auch wenn es sich dabei verändert, am Ende doch übersteht, dort beginnt für deren Repräsentation ein neues Kapitel. Dass Nietzsche in diesem Zusammenhang von einem Nachbild spricht, ist nur ein Tupfer auf dem bildgewaltigen Tableau, erlaubt aber, als eine Handreichung zu dienen. Früh, an einer Stelle der Geburt der Tragödie über „nothwendige Erzeugungen“ des Apollinischen bei einem Blick „in’s Innere und Schreckliche der Natur“, bedient er sich genau jener physiologischen Erfahrung, die man angesichts einer zu starken Reizeinwirkung noch in gewissen Grenzen machen kann: „Wenn wir bei einem kräftigen Versuch, die Sonne in’s Auge zu fassen, uns geblendet abwenden, so haben wir dunkle farbige Flecken gleichsam als Heilmittel vor den Augen“ (KSA, GT, 1, 65). In der Tat kann das Nachbild keinen Anspruch auf einen Zusammenhang mit dem in dieser Wahrnehmung Perzipierten erheben. Denn repräsentiert wird davon in den überreizten Stellen nichts. Die Beobachtung, dass solche Flecken an eben der Stelle der Netzhaut erscheinen und dort ungeachtet weiterer Sehaktivität länger verharren, wo sich Sonnenstrahlen zwar kurz, aber doch zu lange konzentrierten, legt nahe, sie Heilmittel zu nennen. Nachbild sind sie nicht wie etwas Erhaschtes, das man übrig behält aus flüchtiger Impression, sondern indem sie etwas nachbilden: die durch den übermächtigen Reiz geschädigte Stelle. Zugestanden spricht Nietzsche von einem Nachbild zum Grundbegriff des Bösen und nicht direkt zur Einwirkung des Reizes. Nun ist, was der Mensch des Ressentiments von diesem Grundbegriff aus erschafft, immerhin er selbst. Ohne das Böse gäbe es auch ihn, den Guten, nicht. Zur Beantwortung der Frage, wie man sich sich selbst ausdenkt, kann schon gesagt werden, dass dessen Grundbegriff der Bosheit mehr sein muss als nur theoretisch relevant, jedenfalls für ihn selbst, der an diesem erst ersteht. Der Begriff muss sogar all das für ihn umfassen, was er perhorresziert, denn neben dem ‚Nachbild‘ ist er auch ‚Gegenstück‘.3

3

„Mit der Anerkennung des Urschmerzes als Grund aller Gründe stellt sich Nietzsches frühes Denken unter ein tragisches, theatralisches und psychologisches Vorzeichen. Wenn Wahrheit Unerträglichkeit bedeutet, dann darf Erkenntnis der Wahrheit nicht kurzerhand als Ertragen des Unerträglichen bestimmt werden. Das Unerträgliche selbst ist es ja, was uns in einen nicht umstandslos aufhebbaren Abstand zu ihm zwingt. Daher ist die Wahrheit über die furchtbare Wahrheit diese: daß wir sie immer schon verfehlt haben müssen – weiter: daß wir nicht einmal den aufrichtigen Willen haben können, sie in schonungsloser Präsenz zu erkennen. Denn wollen können wir immer nur das noch Erträgliche. Von der Wahrheit wissen heißt nach Nietzsche darum auch: immer schon in eine schützende Distanz vom Unerträglichen gesetzt sein“ (Peter Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus, Frankfurt/M. 1986, 83).

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Es wurde schon deutlich, dass, sobald ein überwältigend Getroffener es schafft, seinem Zustand Ausdruck zu verleihen, er sich ihn als dessen Medium vom Leibe zu halten vermag. Medium in diesem Sinne heißt vor allem: ein Abfuhrkanal. Und abführen muss der Betroffene mit aller Kraft. Wie wenig er hat, zeigt, wie unsagbar viel er dazu verbraucht. Ganz Schmerz zu sein, ist Grundbedingung der Abstoßung und Ausgangspunkt der Reaktion. Hier beginnt, was man das Verschmerzen einer Sache, oder mit Nietzsche, „die Verinnerlichung des Menschen“ (KSA, GM, 5, 322) nennen kann. Für das bis dato Unerfahrbare steht nun nichts ‚mehr‘ zu Gebote als in einen Ausdruck gebannt zu sein, denn das mehr Über- als Erlebte muss nun ex post erfahren werden. Was Not tut, ist bei Nietzsche mehrfach anzutreffen: in Jenseits von Gut und Böse ist es der „reichlich[e], überreichlich[e] Genuss auch am eignen Leiden, am eignen Sichleiden-machen“ (KSA, JGB, 5, 166)4, der Selbstgenuss der Grausamkeit, jene merkwürdige Lust, sich Schmerzen zuzufügen und dabei am Ende im Hochgefühl der Macht zu triumphieren: „Fast Alles, was wir ‚höhere Cultur‘ nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Grausamkeit – dies ist mein Satz“ (ebd.). Wird er konzediert, erweitert sich die Perspektive der Gewissens- und Moralentstehung um die der Menschenwerdung überhaupt.5 „Fügen wir sofort hinzu“, so ein Passus der Genealogie der Moral, dass „mit der Thatsache einer gegen sich selbst gekehrten, gegen sich selbst Partei nehmenden Thierseele auf Erden etwas so Neues, Tiefes, Unerhörtes, Räthselhaftes, Widerspruchsvolles und Zukunftsvolles gegeben war, dass der Aspekt der Erde sich damit wesentlich veränderte. In der That, es brauchte göttliche Zuschauer, um das Schauspiel zu würdigen, das damit anfieng und dessen Ende durchaus noch nicht abzusehen ist, – ein Schauspiel zu fein, zu wundervoll, zu paradox, als dass es sich sinnlosunvermerkt auf irgend einem lächerlichen Gestirn abspielen dürfte!“ (KSA, GM, 5, 323). Die Erde macht zusehends den Eindruck, als sei sie „der eigentlich asketische Stern“ (ebd., 362). – Wer sich die kosmologische Perspektive vergegenwärtigt, mit der Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne anhebt (vgl., KSA, WL, 1, 875), kann ermessen, aus welcher Perspektive hier erzählt wird, selbst wenn er weiß, dass so eigentlich nicht erzählt werden kann: was ihm die Perspektive einer göttlichen Würdi4

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„[W]o nur der Mensch zur Selbst-Verleugnung im religiösen Sinne oder zur Selbstverstümmelung, wie bei Phöniziern und Asketen, oder überhaupt zur Entsinnlichung, Entfleischung, Zerknirschung, zum puritanischen Busskrampfe, zur Gewissens-Vivisektion und zum Pascalischen sacrifizio dell’intelletto sich überreden lässt, da wird er heimlich durch seine Grausamkeit gelockt und vorwärts gedrängt, durch jene gefährlichen Schauder der gegen sich selbst gewendeten Grausamkeit“ (KSA, JGB, 5, 166). Auch wenn für diese Lustform gattungshalber eine Sonderstellung reklamiert werden soll, führt nichts um die reaktive Bestimmtheit zur Aktivität herum. Wilhelm Schmidt-Biggemann formuliert: „Nimmt man […] das Mängelwesen Mensch als Teil der Natur, so ist der Mensch – um sich in der Natur zu erhalten – gezwungen, die mangelnde Strukturiertheit seiner Triebe dadurch zu kompensieren, daß er den Willen zur Macht, seinen Teil an der Natur, auf sich selbst wendet. Das ist eine Form von Besonnenheit und formaler Re-Flexion, sozusagen Medium zwischen Aktiv und Passiv: In diesem Akt ist der Mensch, als Gattungswesen betrachtet, aktiv und passiv zugleich“ (Wilhelm Schmidt-Biggemann, Geschichte als absoluter Begriff. Der Lauf der neueren deutschen Philosophie, Frankfurt/M. 1991, 45). Nietzsche nennt das Leiden des Menschen an sich die Folge eines „Sprunges und Sturzes gleichsam“ (KSA, GM, 5, 323).

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gung des menschlichen Schauspiels aber erst eröffnet, aus welcher sich dann zeigt, dass gleichwohl nicht anders erzählt werden kann.6 Immerhin: „[J]ener Wille zur Selbstpeinigung, jene zurückgetretene Grausamkeit des innerlich gemachten, in sich selbst zurückgescheuchten Thiermenschen“ (KSA, GM, 5, 331f.) verhelfen erstmals zum Handeln, zu einem der Schauspielerei, als welche sie zugleich Kontur gewinnen lassen, was bisher mit Repräsentation gemeint war. In einer nicht zu ermessenden Anstrengung der Umkehr beginnt der Mensch, das ihm Zugefügte sich selbst wieder und wieder anzutun. Er beginnt es nachzuspielen, um sich von sich als Zuschauer seiner selbst und durch den eignen Anblick zu erholen. Distanz ist das alleinige Begehrte, Distanz und die Sicherheit der Ferne. Wir haben es mit der handfestesten Form der Repräsentation zu tun; es ist der ganze körperliche Einsatz vonnöten, um der gewaltsamsten aller Latenzen eine Form und sich selbst die Möglichkeit zu ihrer Externalisierung zu schaffen. Der kollektive Körper im rituellen Vollzug gehört ebenso in dieses derbe Ostinato wie der des Einzelnen als Mime. Befreiend wirkt die Darstellung an sich, aber ihre ursprünglicheren Formen verraten, wie wenig symbolisch sie sich anfangs ausnimmt. Nachgebildet wird das Erdrückende, die Grausamkeit der einwirkenden Kraft. Diese fügt man sich selbst zu, denn nur die lebendigste Nachbildung wirkt dem Wortsinn nach notwendig. Von Realismus kann deshalb die Rede in wahrhaft schlagendem Verständnis sein, und doch befindet sich die Kunst der Repräsentation in ganz ungeschlachtem Zustand. Was dargestellt wird, ist nicht zu sagen, es bildet sich dadurch gerade erst heraus. Exakt in dem von Nietzsche für die Charakteristik der Starken geforderten Sinn einer Kraftäußerung ‚ohne‘ ein dieser Äußerung zugrunde liegendes Substrat, gilt der Satz: „[E]s giebt kein ‚Sein‘ hinter dem Thun, Wirken, Werden; ‚der Thäter‘ ist zum Thun bloss hinzugedichtet“ (ebd., 279). Indem der darstellende Mensch reines Wirken, Werden, Tun ist, die Urform der Extase, vollbringt er genau die genannte Art der Dichtung. Er macht sich für seinen Schmerz Subjekte: ‚Für‘ solches Tun hat er nirgends einen Grund, ebenso wenig wie er ‚dabei‘ einen hat. Der Grund ist erst das Ergebnis, ein Ruheplatz, worauf er die Last der anderen Umstände, unter denen er sich verdichtete, abwälzen kann.7 Damit deutet sich schon an, dass die entlastende Externalisierung immer mit der gleichzeitigen festigenden Internalisierung einhergeht, mit der Fixierung dessen, woran man denken kann, weil man mit ihm nicht mehr unmittelbar übereinstimmt, woran man aber trotzdem denken muss, weil man die Unterschiedenheit nicht ohne sie zu wissen haben kann. Die Darstellung von etwas, nicht zuletzt die der Grausamkeit, hat ‚dieses‘ Etwas zu einem ‚gewissen‘ gemacht, von uns unterschieden. Aber ebenso hat sie uns ein ‚Gewissen‘ gemacht, diesem Etwas gegenüber, von uns nicht unterschieden. Seine 6

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Dazu: Christoph Türcke, Der tolle Mensch. Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft, Lüneburg 3 2000, besonders Kapitel 2 („Der ptolemäische Skandal“). Dietmar Kampers Rätselgedanke, dass Sieger Gründe und Verlierer Körper haben, gilt auch hier. Verlierer machen sich Gründe aus ihren Körpern, auf denen beharrend sie dann die Seiten wechseln: Der Sklavenaufstand ist siegreich gewesen (vgl. Dietmar Kamper, „Your ground is my body. Von der Fundamentalphilosophie zum KörperDenken“, in: Ruinen des Denkens. Denken in Ruinen, hg. von Norbert Bolz, Willem van Reijen, Frankfurt/M. 1996, 174ff.; ders., Abgang vom Kreuz, München 1996; ders., Horizontwechsel. Die Sonne neu jeden Tag […], München 2001, 93).

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Darstellung ist nicht zu trennen von der ‚unsrigen‘, die für den Abstand und die Distinktheit einer Sache sorgt. Wir allein stellen dar. Vielleicht liegt deshalb das Schreckliche immer so nah bei der Menschengestalt. Den Abstand haben wir nur, insofern wir dieser selber sind. Wenn es „ein instinktives Formen-schaffen, Formenaufdrücken“ der „unfreiwilligsten, unbewusstesten Künstler“ (ebd., 325) gibt, dann wohl dieses. Solches Tun ‚schöpferisch‘ zu nennen, ist bei einem Blick hinter die Kulissen dieser konstitutiven Repräsentation nicht leicht zu bejahen. Nietzsche hat das trotzdem getan. Darum weiß er auch, dass wir mit dieser existentiellen Form der Notlüge so vertraut sind wie mit dem Dasein unserer selbst, ‚von Grund aus‘. Wie in Jenseits von Gut und Böse zu lesen steht: „[W]ir sind von Grund aus, von Alters her – an’s Lügen gewöhnt. Oder, um es tugendhafter und heuchlerischer, kurz angenehmer auszudrücken: man ist viel mehr Künstler als man weiss“ (KSA, JGB, 5, 114). Weil die gelungene Abfuhr den repräsentierenden Menschen ihrem und auch seinem Wesen nach vergessen macht, woraus er besteht und ihn dadurch zur Marginalisierung dieser seiner eigenen Kunst verführt, hält Nietzsche es für nötig, an die stiftende und entlastende Funktion solcher alternativlosen Lügenkunst zu erinnern, so in der Fröhlichen Wissenschaft unter der Überschrift Wofür wir dankbar sein sollen: „Erst die Künstler, und namentlich die des Theaters, haben den Menschen Augen und Ohren eingesetzt, um Das mit einigem Vergnügen zu hören und zu sehen, was Jeder selber ist, selber erlebt, selber will; erst sie haben uns die Schätzung des Helden, der in jedem von allen diesen Alltagsmenschen verborgen ist, und die Kunst gelehrt, wie man sich selber als Held, aus der Ferne und gleichsam vereinfacht und verklärt ansehen könne, – die Kunst, sich vor sich selber ‚in Scene zu setzen‘. So allein kommen wir über einige niedrige Details an uns hinweg! Ohne jene Kunst würden wir Nichts als Vordergrund sein und ganz und gar im Banne jener Optik leben, welche das Nächste und Gemeinste als ungeheuer gross und als die Wirklichkeit an sich erscheinen lässt“ (KSA, FW, 3, 433f.). In der Kunst bleibt bei aller Verinnerlichung ihr Anfang präsent. Und an diesem bedeutete sie keineswegs, dem zartesten Hauche zu harren, oder wie Verinnerlichung sonst vorzustellen ist. Verinnerlichung bedurfte höchst dramatischer Verrichtung. Dass Marter und Kasteiung nötig sind, um den Glauben zu finden, stimmt für weit mehr als für die durch sie gelingende Priesterdemagogie (vgl. KSA, M, 3, 30ff.). Die in ihnen aufgewendete Kraft schafft erst die Nähe beständiger innerer Repräsentation und durch diese zuletzt den Abstand von Kultus und rituellem Vollzug. Trotzdem: „Leiden-sehn thut wohl, Leiden-machen noch wohler – das ist ein harter Satz, aber ein alter mächtiger menschlich-allzumenschlicher Hauptsatz“ (KSA, GM, 5, 302), der auch dann nicht zu gelten aufhört, wenn das Leidenmachen seine Hauptfunktion in der konstitutiven Latenz erfüllt hat. Es geht mit ihm wie mit dem Sklavenaufstand, auch er ist uns siegreich aus dem Blickfeld gerückt. Auf dieselbe Weise wird schließlich das Theater peu à peu zu einer eventuellen Institution, auf die von klugen Psychologen hingewiesen sein will8; 8

„Der Psychologe erkennt wohl, daß alles nur Theater ist; durch seine Personalunion mit dem tragischen Erkenntnistheoretiker weiß er jedoch auch, daß es unsinnig wäre, dieses Theater im Namen der Wahrheit schließen zu wollen. Die furchtbare Wahrheit ist ja die Mutter des Theaters. Ihrer Natur gemäß haben wir eine nicht aufhebbare Distanz zu ihr – eine Distanz, die unser alltägliches In-

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fast scheint sie entbehrlich, aber noch lange bleibt sie mit dem Nimbus tiefster Bedeutung versehen. „Mit der Kraft seines geistigen Blicks und Einblicks wächst die Ferne und gleichsam der Raum um den Menschen“ (KSA, JGB, 5, 75), da reicht es mithin, den Greueln bloß noch gelegentlich zuschauen zu brauchen. Aber diese Distanz ist allein um den Preis allernächster Nähe zu haben, so unmerklich nah, dass sie ebenfalls Anspruch erheben kann, uns glücklich aus den Augen gerückt zu sein. Mit dieser Nähe „wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine ‚Seele‘ nennt. Die ganze innere Welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häute eingespannt, ist in dem Maasse aus einander- und aufgegangen, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die Entladung des Menschen nach Aussen gehemmt worden ist“ (KSA, GM, 5, 322). Selbst wenn anzumerken wäre, dass an Ort und Stelle an die Außenwelt die bloße mechanische Entladungshemmung innerhalb eines nach wie vor vermittelten Kontinuums von Innen und Außen geknüpft ist, und nicht, wie dargelegt, Bedrohung schlechthin, bietet sich die Probe auf die Tragfähigkeit dieser Begriffe an. Das gilt auch und besonders für das Gedächtnis, den Inbegriff der sich neu ausbildenden inneren Welt.

3. Gedächtnis „[N]ur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtniss“. Der Satz enthält nicht nur die Urform der Repräsentation, jene Mnemotechnik aus Schmerz, die Schmerzen bannt, und von der zu sagen ist, im Vergleich zu ihr sei „vielleicht […] sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen“ (KSA, GM, 5, 295): er liefert auch die Erklärung für die Ausbildung eines derartigen Organs, weil er sagt, wann etwas aus dem Gedächtnis verschwindet. Dann nämlich, wenn es aufhört, weh zu tun, wenn wir von unseren fixen Ideen nicht mehr besessen werden, weil wir selber durch sie fix geworden sind. Kausalität und Kontinuität der Erfahrung mögen zu solchen Sedimenten gehören. Wir haben nicht mehr nötig, ihrer uns ständig zu versichern durch Mythos und Beschwörung. Sehr zutreffend daher, wenn Nietzsche anführt, die Vergesslichkeit wäre keine bloße vis inertiae, sondern „aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen“ (ebd., 291). Dass wir vergessen können, ist das Produkt eines lang anhaltenden Aufund zugleich Abarbeitungssprozesses, der Eindrücke so lange im Bewusstsein hält, d.h. wiederholt und repräsentiert, bis sie vertraut genug geworden sind, um nicht mehr ständig präsent gehalten oder immer wieder bemerkt werden zu müssen. Vertraut genug: Dieser Punkt bezeichnet die Assimilation und Einverleibung, aber eine Einverleibung nicht in dem Sinne, dass ‚stärker‘ einfach über ‚schwächer‘ siegte und sich ‚schwächer‘ einverleibt, so dass am Ende ‚stark‘ gänzlich aus einem Konglomerat von ‚schwach‘ bestünde, sondern Einverleibung als die Assimilation des Assimilierenden selbst an das Unvertraute, eine „im strengsten Sinne positiv[e]“ Arbeit, eine nämlich der Bannung der-Welt-Sein so radikal bestimmt, daß es uns beim besten Willen zur Wahrheit nicht freisteht, von diesem Distanziertsein Distanz zu nehmen. In der Regel ist die letzte Aufhebung der Distanz zum Unvorstellbaren der furchtbaren Wahrheit nicht überlebbar“ (Peter Sloterdijk, Der Denker auf der Bühne, 84).

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durch Bahnung.9 „Die Thüren und Fenster des Bewusstseins zeitweilig schliessen“ zu können erforderte ansonsten von der „aktiven Vergesslichkeit, einer Thürwärterin gleichsam“ (ebd., 291f.), dass diese außen steht und somit klüger ist als das Bewusstsein selbst, weil sie alle möglichen Eindrücke schon kennt und über deren Nutzen oder Schaden im Voraus entschieden hat. Abzuwehren ist ein Gedanke nur, wenn er schon gedacht ist und vor allem, indem er schon gedacht ist; ansonsten, das wusste Nietzsche, kommt der Gedanke, „wenn ‚er‘ will, und nicht wenn ‚ich‘ will“ (KSA, JGB, 5, 31).10 Äußerst fraglich also jener „plötzlich herausbrechend[e] Entschluss zur Unwissenheit, zur willkürlichen Abschliessung, ein Zumachen seiner Fenster, ein inneres Neinsagen zu diesem oder jenem Dinge“ (ebd., 167f.), welchen Nietzsche für den Starken postuliert, wenn dieser die Sphäre der Schwachen zu kennen „sich spröde zu Wehre setzt“ (KSA, GM, 5, 271), und der darin nicht mehr zu Gebote stehen und mutwillig aberzogen worden sein soll. Das Gedächtnis ist gerade zum Vergessen da, zur „Übermalung de[s] schreckliche[n] Grundtext homo natura“ (KSA, JGB, 5, 169). Vergessen hat man nicht gegen, sondern durch das Gedächtnis, immer dann, wenn der Gedanke konstitutionell geworden ist. Der Mensch hat sich ein Organ angezüchtet, das Eindrücke verdaut, indem es sie aus eigenen Mitteln immerfort repräsentiert. Wenn Nietzsches Bild, der Geist gliche am meisten „einem Magen“ (ebd., 168), noch variiert werden darf, könnte man sagen, er gliche einem für Henkersmahlzeiten oder besonders exotische Speisen, jedenfalls etwas hors d’œuvre – zur neuronalen Einverleibung von Nahrung aus dem Unabsehbaren. So wie man sich in der „längste[n] Geschichte des Menschen, seine[r] Vorgeschichte“ (KSA, GM, 5, 319), den Körper des erlegten Tieres einverleibt, die Hörner aber ansteckt, Trophäe und Metabolismus zugleich, um bei der nächsten Ausfahrt die Gefahr absehen und bei der übernächsten von ihr absehen zu können – so vollbringt der Mensch vermöge seines Gedächtnisses, seiner vorläufig avanciertesten Form der Repräsentation, seine eigene Verstellung. Indem er sich wieder und wieder verstellt, verstellt und modifiziert er seine Anlagen und zugleich seine Sicht auf das, wodurch er sich hervorbrachte, als er es verneinte.

4. Schluss Das Ressentiment, das Gewissen, der selbstquälerische Typus: Nietzsches Frage nach ihrer „Necessität ersten Rangs“, ihrer Möglichkeit, „ein Interesse des Lebens selbst“ (ebd., 363) zu sein, lässt sich mit einem Blick auf und hinter dessen Bildsamkeit mit 9

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„So lange etwas noch als einzelnes factum zurückgerufen werden kann, ist es noch nicht eingeschmolzen: die jüngsten Erlebnisse schwimmen noch auf der Oberfläche. Gefühle von Neigung Abneigung usw. sind Symptome, daß schon Einheiten gebildet sind; unsre sogenannten ‚Instinkte‘ sind solche Bildungen.“ – „Der Prozeß des Lebens ist nur dadurch möglich, daß viele Erfahrungen nicht immer wieder gemacht werden müssen, sondern in irgend einer Form einverleibt werden – das eigentliche Problem des Organischen ist: wie ist Erfahrung möglich?“ (KSA, NF, 11, 175, 190). Vgl. KSA, NF, 11, 644f.

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einigem Nachdruck bejahen. Viele von Nietzsches Bestimmungen der Stärke, allem voran ihre Grundlosigkeit, ihr Bildungsvermögen, ihre plastische Kraft und „KünstlerGewaltsamkeit“ (ebd., 325) finden sich zwangsläufig auf die Schwachen übertragen, und das sollte heißen, auf den Menschen überhaupt. Nietzsches Abarbeiten an seiner Lügenhaftigkeit und Verstellungskunst erlaubt Einblicke in seine Natur, die als verleugnete sein Wesen ist, das er dadurch nicht erkennt. Sein Repräsentationsvermögen bewahrt ihn davor, sehen zu müssen, was ihn vernichtet hätte, was er selber, ohne es wissen zu können, durch dieses Vermögen repräsentiert. Wenn er tatsächlich siegreich gewesen sein soll, dann auch gegen sich selbst, denn das Besiegte ist in ihm verschwunden. Grund genug, auf diesen Gedanken allergisch zu reagieren und sich in seinem Gefühlsrückhalt zu verschanzen. Nichts anderes bedeutet in dieser zutiefst gefühlten Bedürftigkeit der Schutz bei einem Ressentiment. Nur der Geist ist ohne Grund, er hat keinen, wenn er dermaßen auf sich besteht. Was ihn treibt, ist ein Ressentiment sondergleichen. An Nietzsches Seite hält man sich nur schwer davon entfernt, ihm in seiner Beharrung noch das Kalkül zu unterstellen, das den Menschen in die selbstquälerische Verdeckung des ihm Unerträglichen trieb. Damit wäre sein Versagen vor seiner größten Gefahr als ein Sich-Versagen ausgelegt, als eine im Konventikel ausgeheckte Schuld. Nur wenn die Schwachen diese Schuld an der Gefühlsverhaltung und emotionalen Obstipation, mit der sie aus verkehrter Lust am inneren Universum ihrer Analcharakterei sich ihre miefigen Begriffe bilden, nur wenn sie diese Schuld als willentliche und wissentliche wirklich trifft, kann es auch einen Starken geben, der all dieses nicht ist, weil er es nicht sein will. Weil er fähig ist, sich zur Unwissenheit zu verhelfen durch die Kalkulation der Vermeidung, die es ihm erlaubt, sich an den Schlichten gerade so zu vergreifen, dass er es selbst nicht bemerkt. Der damit genauso über Geist verfügt; einen, der treffsicher alle Ökonomie über Bord wirft „in Bezug auf die Sphäre, welche“ seiner vornehmen Wertungsweise „nicht genügend bekannt ist“ (ebd., 271). Am Ende kennen sich beide nicht. Zwischen ihnen steht die Gewalt, die sie treibt, die sie betreiben durch ihre unfreiwillige Kunst. Der „Kunstgriff in der Erhaltung des Lebens“ (ebd., 366), woran er sich immer vergreift, er verschafft beiden Halt.

DANIEL HEBLIK

Der Mensch des Ressentiments ‚im Lichte‘ seiner ‚Werkstätte‘

Der Begriff des Ressentiments nimmt bei Friedrich Nietzsche eine zentrale Rolle im ‚Sklavenaufstand in der Moral‘ ein. Der ‚Sklave‘ selbst, der wie sein Pendant, der ‚Herr‘, einen idealisierten Repräsentanten vormoralischer Stufe personifiziert1, ist wesentlich durch Schwäche gekennzeichnet, auf deren Grundlage sich das Ressentiment herausbilden konnte. Während der ‚Herr‘ sich vor allem aufgrund seiner ontologisch zu wertenden ‚Stärke‘ durch Elemente der Kreativität, Aktivität und Spontaneität auszeichnet, wird der ‚Sklave‘ vornehmlich als unkreativ, passiv, geradezu ohnmächtig charakterisiert. Letzteren Typus bezeichnet Nietzsche schließlich auch als den ‚Menschen des Ressentiments‘, zu dessen Tätigkeiten das Schaffen von Idealen gehört, im Zuge dessen der Sklave seine Schwächen gleichsam zu ‚Tugenden‘ umwertet. In prägnanter Weise werden der Mensch des Ressentiments und dessen Fabrikation von Idealen von Nietzsche in seiner Schrift Zur Genealogie der Moral (Erste Abhandlung, Aphorismus 14) in einem Bild beschrieben, das bislang in der Forschungsliteratur nur wenig Beachtung gefunden hat:2 Hier bezeichnet er, grob skizziert, den Ressentiment-Menschen als „Kellerassel“ in einer „dunklen Werkstätte“, in der ein „falsche[s] schillerndes Licht“ leuchtet und „wo man Ideale fabriziert“ (KSA, GM, 5, 281ff.). In diesem Bild scheint ein Element besonders hervorzutreten: das Licht. So werden die bekanntermaßen lichtscheuen Kellertiere angeführt, die Werkstätte wird als dunkel bezeichnet, es wird auf das falsche schillernde Licht hingewiesen und die Schwierigkeit, überhaupt etwas zu sehen, wird mehrfach hervorgehoben. Im folgenden soll diese pointierte Verwendung des Lichtmotivs im Hinblick auf die Interpretation des Ressentiment-Menschen betrachtet werden. Ziel der Überlegungen soll der Aufweis sein, dass die Verwendung des Lichtmotivs nicht allein als literarischschmückendes Beiwerk anzusehen, sondern in der substantiellen Bedeutung des Textes systematisch verankert ist. Die Beachtung des subtilen Einsatzes verschiedener Elemente des Lichtmotivs kann zu einem hilfreichen Instrument bei der philosophischen Interpretation nicht nur dieses Textes von Nietzsche werden. Nietzsches Schriften weisen 1

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Dazu die ausführliche Deutung der Moraltypen bei Stephan Günzel, „Herrenmoral – Sklavenmoral“, in: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2000, 253ff. So geht beispielsweise der Kommentar der Kritischen Studienausgabe (Bd. 14) auf keines der im folgenden behandelten Bildelemente ein.

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das Charakteristikum einer wortgewaltigen und bildreichen Sprache auf, die, besonders vor dem Hintergrund seiner Profession als Philologe, besondere Aufmerksamkeit verdient. Dabei scheint er für den Motivbereich des Lichtes (Sonne, Glanz, Feuer, Helligkeit usw.), dem auch dessen eigene Negation inhäriert (Dunkelheit, Schatten usw.), eine besondere Neigung zu besitzen.3 Nicht selten sind die von ihm verwendeten Bilder von der philosophischen Tradition inspiriert, werden durch ihn allerdings in ihrer Aussage umgedeutet – um nicht zu sagen: umgewertet.4 Ein Beispiel dafür und für die Verwendung des Lichtmotivs an prominenter Stelle wird im Aphorismus Der tolle Mensch (KSA, FW, 3, 480ff.) dargeboten,5 der auf die Anekdote des Diogenes von Sinope Bezug nimmt, wonach dieser mit einer Laterne am hellichten Tage umhergeht und mitteilt, er suche einen Menschen.6 Ein weiteres prominentes Beispiel für die Verwendung des Lichtmotivs stellt der Übermensch dar, wenn er metaphorisch als ‚Blitz‘ bezeichnet wird.7 Beide Textstellen können zwar nur exemplarisch einen Eindruck von der Ver3

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Eine statistische Erhebung aus Wörtern, die dem Bereich des Lichtes zugehören (z.B. Licht, leuchten, Blitz, Feuer usw.), belegt ein häufiges Vorkommen des Lichtmotivs, was sicherlich als Indiz für eine besondere Vorliebe gewertet werden darf, jedoch keine Aussage über deren systematische Verwendung darstellt. Nietzsche selbst bezeichnet seine Philosophie einmal als „umgedrehten Platonismus“ (KSA, NF, 7, 199). In diesem Aphorismus verwendet Nietzsche gleich mehrere Lichtmetaphern. Er lässt den tollen Menschen mit einer Laterne am hellen Vormittag über den Marktplatz gehen und den Tod Gottes verkünden. Seine Botschaft wird jedoch nicht verstanden. Er scheitert und wirft seine Laterne zu Boden. Dieses Scheitern kann bereits durch die Wahl des Lichtmotivs als unausweichlich angesehen werden: Die Laterne kann nicht mehr als ein diffuses, kleines Licht hervorbringen, dessen geringe Leuchtkraft sich im Tageslicht vollständig verliert. Ebenso scheitert der tolle Mensch, weil er nicht verstanden werden kann. In gewisser Weise resignierend sagt er: „Ich komme zu früh, […] ich bin noch nicht an der Zeit.“ (KSA, FW, 3, 481), und scheint auf eine Zeit zu hoffen, zu der ein stärkeres Licht als das seiner Laterne kommen wird: „Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit“ (ebd.). Um die Größe und das Ausmaß des Gottesmordes zu verdeutlichen, bedient er sich nochmals der Bilder aus dem Wortfeld des Lichtes, wenn es heißt: „Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten?“ (ebd.) und schließlich: „Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht?“ (ebd.). In Antike und Mittelalter wird die Sonne als (natürliches) Licht schlechthin angesehen. So wundert es nicht, dass Platon seine „Idee des Guten“ im Gleichnis als „Sonne“ bezeichnet und ihr den Status eines Göttlichen zuspricht (Politeia, 507d– 509b; 514a–517a.). Sie ist bei ihm nicht nur Lichtquelle, sondern auch Orientierungspunkt. Ihr natürliches Licht gibt im physischen Bereich die Möglichkeit zur Orientierung, ihr metaphysisches bietet diese im Bereich der Erkenntnis durch absolute Gewissheit. Nach der Loskettung von der Sonne tritt an die Stelle von Gewissheit und Orientierung Ungewissheit und Orientierungslosigkeit: die ‚Nacht‘ des Nihilismus ist angebrochen. Doch aus dem Vorhergehenden wird deutlich, auch diese Nacht ist von begrenzter Dauer und kann überwunden werden; allerdings nicht durch Rückkehr zur Sonne, sondern durch Hinwendung zu einem stärkeren Licht, das nach Überwindung der Nacht kommen wird. Dazu Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen VI, 2, 41. Für Nietzsche ist der Übermensch ein unbedingt anzustrebendes Ziel für den Menschen. Ihn mit dem Blitz zu identifizieren bedeutet folglich, dass dem hellen Licht des Blitzes eine herausragende Bedeutung zugesprochen wird. Bemerkenswert ist in diesem Kontext die mit dem Licht des Über-

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wendungsweise des Lichtmotivs bei Nietzsche vermitteln; aus ihnen wird aber bereits deutlich, dass die sprachliche Verwendung unterschiedlicher Intensitätsstufen und Konkretionen des Lichtes als Blitz, Lampe, Sonne u.a. eine vielschichtige und vor allem äußerst variable Verwendung der Lichtmetaphorik als bewusstes Stil- und Inhaltsmittel erkennen lassen. Dabei scheut sich Nietzsche nicht, traditionelle philosophische Deutungen des Verhältnisses von Licht und Dunkelheit umzukehren und neu zu bewerten. Die dunkle Wolke als Voraussetzung für den hellen Blitz ist hierfür ein eindrucksvolles Beispiel. Es gilt nun zu untersuchen, wie das Lichtmotiv im Aphorismus 14 (Genealogie der Moral, Erste Abhandlung) verwendet wird und welche Konsequenzen sich daraus ergeben. Der Textauszug steht im Kontext der Betrachtungen Nietzsches zur Umdeutung der Werte durch die Sklaven, d.h. zum Sklavenaufstand, der dem Ressentiment entspringt (vgl. KSA, GM, V, 270ff., Aphorismus 10). Der ausführlichen Charakterisierung des Vornehmen und des Sklaven folgt die Darstellung des Letzteren im Bild von Aphorismus 14. Darin nennt er die Werkstätte als den Ort, an dem Ideale fabriziert werden. Die Beschreibung dessen, was von den Kellertieren zu vernehmen ist,8 lässt sie als einen besonderen Typus des Ressentiment-Menschen identifizieren: als Vertreter der platonisch-christlichen Moral.9 Im folgenden soll auf die Betrachtung zweier Aspekte, die vom Lichtmotiv in besonderer Weise abhängen, ein Schwerpunkt gelegt werden: auf die dunkle Werkstätte und das falsche schillernde Licht, von denen aus die Eigenschaften des RessentimentMenschen sichtbar werden. Die Beschreibung der Werkstätte als ‚dunkel‘ kann zu folgender Deutungsmöglichkeit führen: Die Dunkelheit bringt mit sich eine Erschwernis oder gar ein Unvermögen, sehen zu können – aber auch gesehen zu werden: „Ich sehe Nichts, ich höre um so

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menschen einhergehende Metaphorik des Licht-Mangels, der Dunkelheit, die die Voraussetzung für diesen, die conditio sine qua non, darzustellen scheint: „Ich liebe alle Die, welche wie schwere Tropfen sind, einzeln fallend aus der dunklen Wolke, die über den Menschen hängt: sie verkündigen, daß der Blitz kommt […]: dieser Blitz aber heißt Übermensch“ (KSA, ZA, 4, 17). Diese Stelle legt bereits nahe, dass das helle Licht (der Blitz) aus der Dunkelheit (der Wolke) hervorgeht. Etwas weiter heißt es: „Meine Weisheit sammlet sich lange schon gleich einer Wolke, sie wird stiller und dunkler. So thut jede Weisheit, welche einst Blitze gebären soll“ (ebd., 360). Hier bricht Nietzsche vollständig mit antiker und mittelalterlicher Tradition, die das Licht als das Erste und Ursprüngliche ansieht, an dessen Ende allenfalls der Schatten, die Dunkelheit als periphere Erscheinung auftritt. „[…] Jetzt höre ich erst, was sie so oft schon sagten: ‚Wir Guten – wir sind die Gerechten‘ – […] was ihnen zu lieben auf Erden übrigbleibt, sind nicht ihre Brüder im Hasse, sondern ihre ‚Brüder in der Liebe‘, wie sie sagen, alle Guten und Gerechten auf der Erde.“ […] „Wie? Höre ich recht? Sie heißen das ‚das jüngste Gericht‘, das Kommen ihres Reichs, des ‚Reichs Gottes‘ – einstweilen aber leben sie ‚im Glauben‘, ‚in der Liebe‘, ‚in der Hoffnung‘“ (KSA, GM 5, 283). Dazu weiterführend Karl Bröse, Sklavenmoral. Nietzsches Sozialphilosophie, Bonn 1990, 115: „Nietzsche verbindet Platos Denken mit der modernen christlichen, sozialen und sozialistischen Sklavenmoral […].“; zum Verhältnis von Ressentiment und christlicher Moral auch Amandus Altmann, Friedrich Nietzsche. Das Ressentiment und seine Überwindung – verdeutlicht am Beispiel christlicher Moral, Bonn 1977.

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mehr“ (ebd., 281). In der Dunkelheit sind also bestimmte Dinge verborgen. Dies kann auf die Menschen des Ressentiments gedeutet werden: Auch sie (re)agieren und empfinden im Verborgenen. Ihr Hass ist aufgrund ihrer Ohnmacht ein versteckter. Der Mensch des Ressentiments tritt nicht durch aktives oder spontanes Handeln hervor, sondern ergibt sich in vornehmlich nach außen nicht sichtbaren Gemütszuständen. Darum schreibt Amandus Altmann: „Seine Erfüllung findet er in passivischen Zuständen wie Narkose, Betäubung, Ruhe, Frieden, ‚Sabat‘ und Gemüts-Ausspannung, nicht im Handeln.“10 Bereits im Aphorismus10 (Erste Abhandlung) deutet Nietzsche die Verbundenheit des Ressentiment-Menschen mit der Dunkelheit an: „[…] sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hinterthüren, alles Versteckte muthet ihn an als seine Welt […]“ (ebd., 272). Die Werkstätte als ‚Lebensraum‘ des Ressentiment-Menschen mit ‚dunkel‘ zu beschreiben, entspricht also dessen Eigenschaften, die durch dieses Attribut noch deutlicher hervortreten. Ebenso wird die Schutzfunktion des Dunklen und Verborgenen angedeutet, die dem Menschen des Ressentiments einen gewissen Halt bietet. So schreibt Karen Joisten, der Mensch des Ressentiments könne „weder sich selbst noch einem Anderen gegenüber ‚bestehen‘, ohne seinen Halt im Verbogenen zu haben. Dieser ‚hinterhältige Halt‘ gibt ihm die Sicherheit, in einer ‚hinterhältigen Weise‘ die Zeit, seine Zeit abwarten zu können […] Die Reaktion wird im Menschen des Ressentiments vergraben […].“11 Die explizite Erwähnung der Dunkelheit in der Werkstätte scheint insofern noch einen weiteren Sinn zu erhalten, als man ihr die Funktion einer Andeutung auf die platonische Höhle beimessen kann.12 Dies scheint sowohl vor dem Ergebnis unserer Überlegung, dass es sich bei den Kellertieren um Vertreter einer platonisch-christlichen Moral handeln muss, gerechtfertigt als auch vor der zusätzlichen Erwähnung des falschen schillernden Lichtes, in dem man eine Anlehnung an das Feuer im Höhlengleichnis sehen könnte.13 Immerhin spricht Platon in bezug auf das Licht des Feuers in der Höhle vom „flimmernden Glanz“.14 Auch die Gefangenen in der Höhle ließen sich in einigen Aspekten mit dem Menschen des Ressentiments vergleichen. Sie könnten dahingehend interpretiert werden, dass sich Nietzsche zufolge die Vertreter der platonischchristlichen Moral (Kellertiere) bisher keineswegs aus der Höhle (Werkstätte) herausbegeben haben, sondern immer noch im Zustand der Gefangenen verhaftet sind. Die ganze platonisch-christliche Moral selbst wird aus dieser Interpretationsperspektive zu einem ‚Kellerprodukt‘ degradiert, bei dem es ‚an der Zeit‘ ist, es herauszuführen und zu überwinden. – Aber nicht nur die Beschreibung der Werkstätte gibt Hinweise auf den Ressentiment-Menschen, sondern auch die Wahl der Werkstätte selbst als dessen Le10 11

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Amandus Altmann, Friedrich Nietzsche, 34. Karen Joisten, Die Überwindung der Anthropozentrizität durch Friedrich Nietzsche, Würzburg 1994, 156. Zur Interpretation des Schattens als Form der Dunkelheit bei Nietzsche (auch vor dem Hintergrund des Höhlengleichnisses) Rüdiger Schmidt, „Ein Text ohne Ende für den Denkenden“. Studien zu Nietzsche, Frankfurt/M. 1989, 181ff. Es geht hier nicht um einen ausführlichen Vergleich der Situationen in der Höhle und der Werkstätte, sondern um einen Hinweis auf deren inhaltliche Verbundenheit in einigen Motiven. Platon, Politeia 515c (Übersetzung nach Schleiermacher).

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bens- und Schaffensraum. In einer Werkstätte werden ‚Dinge‘ fabriziert: hier Ideale. Bemerkenswert ist, dass dem Herstellungsprozess ein gewisses ‚kreatives‘, schöpferisches Moment inhäriert. Allerdings verweist das Wort Fabrikation bereits darauf, dass dieses schöpferische Moment auf ‚äußere‘ Dinge ausgerichtet ist. Der Mensch schafft ‚sich‘ nicht selbst, sondern äußere Dinge.15 Die Form der ‚Kreativität‘ der Kellertiere ist daher nicht mit der des ‚Herrn‘ gleichzusetzen, die aus sich heraus spontan und aktiv tätig ist, sondern sie bedarf eines äußeren Anstoßes, um (re)aktiv tätig werden zu können.16 Ein weiterer Aspekt kommt mit dem falschen schillernden Licht hinzu. Während das Licht in der Philosophiegeschichte traditionell mit etwas Positivem verbunden wird, wird es hier durch seine Attribute (falsch, schillernd) deutlich ins Negative verkehrt. Ebenso aufgrund der Tatsache, dass Nietzsche seine Beschreibung auf die Erwähnung der dunklen Werkstätte hätte reduzieren können, gewinnt die Hinzufügung des Lichtes an interpretatorischer Bedeutung. Vor dem Hintergrund des doppelten Attributes und Nietzsches nicht seltener Verwendung von Lichtmotiven scheint der Schluss nahezuliegen, dem Licht komme hier eine spezielle Bedeutung und Funktion zu. – Sehen wir uns dazu die Attribute ‚falsch‘ und ‚schillernd‘ genau an: Sie können sowohl auf das Licht als auch auf den Ressentiment-Menschen bezogen werden. Wird das Wort ‚falsch‘ mit Licht zusammengedacht, kann es im Gegensatz zu echtem, natürlichem Licht, beispielsweise einem Blitz, verstanden werden. Dann würde es sich um unechtes, unnatürliches, um ein ‚künstlich hergestelltes‘ Licht handeln; tatsächlich wird in der Werkstätte auch etwas ‚künstlich hergestellt‘: Ideale! Der Begriff ‚falsch‘ kann aber auch auf den Menschen des Ressentiments bezogen werden: Er selbst ist falsch und produziert daher seine eigenen, aber bloß künstlichen ‚Ideale‘, weil, wie Nietzsche sagt, „das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert“ (ebd., 271). So wird „die Schwäche […] zum Verdienste umgelogen […]“: „[…] die Ohnmacht, die nicht vergilt, zur ‚Güte‘; die ängstliche Niedrigkeit zur ‚Demuth‘; die Unterwerfung vor Denen, die man haßt, zum ‚Gehorsam‘“ (ebd., 281). In diesem Sinne würde man ‚falsch‘ in der Bedeutung von ‚verkehrt‘ gebrauchen. Dazu schreibt Nietzsche: „Diese Umkehrung des werthesetzenden Blicks […] gehört eben zum Ressentiment.“ (ebd., 271). Diese Umkehrung verdeutlicht er durch die eigene Umkehrung des traditionell positiv konnotierten Begriffs des Lichtes zu einem negativen. Der Mensch des Ressentiments ist also genauso falsch bzw. ‚verkehrt‘ wie das Licht in der Werkstätte; Nietzsches Äußerung im Aphorismus 10, der Mensch des Ressentiments sei „weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu“ (ebd., 272), ist nur eine von vielen Stellen, die dies bezeugen. Wir haben gesehen, dass der Begriff ‚falsch‘ sowohl auf das Licht als auch auf den Menschen des Ressentiments bezogen sein kann. Es gilt nun zu überprüfen, ob diesel15

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„Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, daß das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert“ (KSA, GM, 5, 270). Zur ‚schöpferischen‘ Dimension des Ressentiments: Sybe Schaap, Die Unfähigkeit zu vergessen. Nietzsches Umwertung der Wahrheitsfrage, Würzburg 2002, 260ff. Zum Aspekt der Aktivität und Reaktivität: Marco Brusotti, „Wille zum Nichts, Ressentiment, Hypnose. ‚Aktiv‘ und ‚reaktiv‘ in Nietzsches ‚Genealogie der Moral‘“, in: Nietzsche-Studien 30 (2001).

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ben Möglichkeiten für den Begriff ‚schillernd‘ angenommen werden können. Ein Blick auf die etymologische Herkunft zeigt, dass es sich um eine Intensivbildung zu ‚schielen‘ handelt.17 Im eigentlichen Sinne meint es ein Wechseln von Helligkeitsgraden; im übertragenen Sinn heißt es z.B. von Personen, dass sie schwer durchschaubar sind. – ‚Schillern‘ auf ‚Licht‘ zu beziehen, scheint unproblematisch zu sein: Es wechselt die Grade seiner Helligkeit, was nichts anderes bedeutet, als dass es permanenter Veränderung unterworfen ist. Das macht es schwierig, in diesem Licht etwas zu erkennen. Darum heißt es auch in dem behandelten Abschnitt: „Warten Sie noch einen Augenblick, mein Herr Vorwitz und Wagehals: Ihr Auge muß sich erst an dieses falsche schillernde Licht gewöhnen…“ (ebd., 281) und einige Zeilen weiter wird gesagt: „Ich sehe Nichts“ (ebd.). So geben sich auch die Menschen des Ressentiments: Sie schillern, d.h. in der übertragenen Bedeutung, sie sind schwer zu durchschauen, da sie ‚falsch‘ sind, denn Nietzsche zufolge ist „der Mensch des Ressentiment weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu“ (ebd., 272). Er fügt dem noch eine für diesen Zusammenhang interessante Bemerkung hinzu; über den Menschen des Ressentiments sagt er: „Seine Seele schielt“ (ebd.). Wir erinnern uns an die etymologische Herkunft von ‚schillern‘ als einem Intensivum zu ‚schielen‘. Ob es sich hierbei um einen Zufall handelt oder Nietzsche um die etymologische Verwandtschaft wusste, muss letztendlich ungeklärt bleiben. Selbst verweist er jedoch öfters auf die etymologische Herkunft von Wörtern zur Bekräftigung eigener Ansichten. Im Begriff des falschen schillernden Lichtes scheint sich schließlich der Mensch des Ressentiments mit vielen seiner Facetten gleichsam widerzuspiegeln, wie auch in der weiteren Beschreibung der Situation in der Werkstätte. So werden Begleitumstände aufgeführt, die die Sinne unangenehm affizieren, wie etwa die „schlechte Luft“. Die Umgebung spiegelt auch den schlechten Charakter ihrer Bewohner wider: Sie sind „voll Rache und Haߓ (ebd., 282). – Überhaupt erfolgt die Charakterisierung der Kellertiere in bemerkenswerter Weise durchgängig indirekt. Nicht ein einziges Mal tritt das Kellertier bzw. der Mensch des Ressentiments selbst sichtbar oder aktiv in Erscheinung; statt dessen wird immer ‚über‘ ihn berichtet. Selbst der Berichterstatter kann den Menschen des Ressentiments nicht sehen. Diese indirekte Charakterisierung weist eine gewisse Ähnlichkeit zum Selbstverhältnis des Sklaven auf, das nicht durch Selbstbejahung, sondern durch die Negation eines Anderen konstituiert wird.18 Zu Beginn der Beschreibung des Ressentiment-Menschen heißt es, dass „vorsichtiges tückisches leises Munkeln und Zusammenflüstern aus allen Ecken und Winkeln“ (ebd., 281) zu vernehmen 17

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Vgl. Artikel ‚Schillern‘, in: Jacob u. Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 15, München 1984, Sp. 148 (Nachdruck des Bd. 9 der Erstausgabe 1899); ebenso: Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin 1975, 649. „Entsprechend der Wertsetzung ist das Selbstverhältnis kein in der Bejahung seiner selbst sich gründendes und ruhendes, sondern es gründet in der Verneinung des Anderen. Ein ich bzw. Selbst, in der Negation gewonnen, ist in sich zwiespältig, da es sich als bloßes Negativbild ohne Eigenwert als Selbst verleugnet“ (Amandus Altmann, Friedrich Nietzsche, 34); Stephan Günzel, „Herrenmoral – Sklavenmoral“, 254: „Der ‚Sklave‘ schließt in der Folge durch Negation der Setzung des ‚Herrn‘ auf sich, während der ‚Herr‘ seine eigene Setzung als solche bejaht.“

Der Mensch des Ressentiments ‚im Lichte‘ seiner ‚Werkstätte‘

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sei, was zum wiederholten Mal die Verborgenheit, in der der Ressentiment-Mensch lebt, hervorhebt. Es folgt eine Aufzählung verschiedener Defizite und deren Umdeutung. Mit der Nennung der ersten, vom Ressentiment-Menschen zu Idealen ‚pervertierten‘ Defizite, Schwäche und Ohnmacht, werden bereits zu Beginn des Abschnitts die beiden unabdingbaren Voraussetzungen für die Entstehung des Ressentiments angeführt.19 Eng mit diesen verknüpft, weil aus ihnen resultierend, sind der „Haߓ und das „Sich-nicht-rächen-können“20 (ebd.). Sie sind der Grund, weshalb es letztlich zur „imaginären Rache“ (ebd., 270 ) und somit zur Umwertung der Werte, zur Fabrikation der Ideale kommt, schließlich zum ‚Gut und Böse‘ anstelle des ‚Gut und Schlecht‘.21 Im Aphorismus 14 findet sich zudem eine interessante Variation des Lichtmotivs: Die Dichotomie von Licht und Dunkelheit korrespondiert mit der von Schwarz und Weiß, wenn Nietzsche die Kellertiere „Schwarzkünstler“ (ebd., 282) nennt werden, die ‚Weiߑ aus dem ‚Schwarz‘ herstellen. – Die hier vorgestellten Überlegungen verdeutlichen die eminente Bedeutung des Lichtmotivs für die Interpretation des Ressentiment-Menschen im Kontext von Aphorismus 14. Wie zu sehen ist, versinnbildlicht die Verwendung verschiedener Bilder aus dem Motivbereich des Lichtes auf subtile Weise die Eigenschaften des Ressentiment-Menschen. Wagen wir abschließend ein Gedankenexperiment und führen wir die verschiedenen Gedankenstränge der Lichtmetaphorik, die behandelt worden sind, zusammen: Durch ihre Kellerbehausung sind die Kellertiere auch geschützt vor dem ‚natürlichen Licht‘ der Sonne. Es bleibt jedoch fraglich, ob sie auch vor einem anderen Licht geschützt wären: dem Blitz, der, wie gesagt, als metaphorische Bezeichnung des Übermenschen gedeutet werden kann. Er hätte vielleicht das Potential, bis in die Kellerwerkstatt eindringen zu können. Man stelle sich vor, wie der Blitz, unter den Kellertieren, d.h. den Menschen des Ressentiments, in der dunklen Kammer einschlagen würde. Was würde passieren? Zweifellos würde der Blitz die Leuchtkraft des ‚falschen schillernden Lichtes‘ bei weitem überragen, so dass jenes nicht mehr sichtbar wäre. Mit größter Wahrscheinlichkeit, und das entspricht den Intentionen von Nietzsches Denken, würde der Blitz dieses falsche, künstliche Licht zerstören und die Chance für einen Neuanfang bieten. Das echte, stärkere Licht des Blitzes würde die Kellertiere blenden oder das bewirken, was Zarathustra sich wünscht: „Die – will ich blenden: Blitz meiner Weisheit! Stich ihnen die Augen aus!“ (KSA, ZA, 4, 360). Auf diese Weise würde der neue, der andere Weg des Menschen hin zum Übermenschen sichtbar werden.

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„Die beiden ersten Merkmale stehen in einem untrennbaren Zusammenhang: Das Ressentiment gelangt erstens nur auf dem ‚Boden‘ der Schwäche, die sich zweitens als Ohnmacht äußert, zur Wirkung. Anders formuliert: Die Verbindung von Schwäche und Ohnmacht bildet die notwendige Voraussetzung für die Herausbildung und Wirkung des Ressentiment. Schwäche und Ohnmacht können als unabdingbare Ermöglichungsgründe gefaßt werden“ (Karen Joisten, Die Überwindung der Anthropozentrizität durch Friedrich Nietzsche, 155). Eine differenzierte Deutung des Aspekts der Rache bei Nietzsche findet sich in Sybe Schaap, Die Unfähigkeit zu vergessen; insbesondere das Unterkapitel „Die Rache des Schwachen“, 271ff. Dazu Karen Joisten, Die Überwindung der Anthropozentrizität durch Friedrich Nietzsche, 155ff.

OLIVER IMMEL

Vom Ja des Neins Überlegungen zur sinn- und identitätsstiftenden Rolle des Ressentiments im Anschluss an Friedrich Nietzsche und Jean-Paul Sartre

Wenn bei Friedrich Nietzsche vom Ressentiment die Rede ist, scheint etwas für die Genealogie der Moral Wesentliches thematisch zu werden, das trotz der ansonsten recht luziden Argumentation nebulös bleibt, nämlich die Frage, welche inneren sozialen Bindungskräfte die auf dem Ressentiment fußende Moral ausbildet, in welchem Verhältnis Ressentiment und kulturelle Bindung stehen. Freilich finden sich hie und da grob skizzierte Hinweise, was in Nietzsches Augen aus welchem Grund verneint wird: Verneint werde in erster Linie das Leben, der Leib, verneint werde das Edle und Aristokratische, weil die angeblich Schwachen kein anderes Mittel gegen die angeblich Starken hätten als das reaktive und prohibitive Moment der Negation. Allerdings lassen diese Aussagen nur relativ vage Schlüsse über die eigentliche soziokulturelle Funktion des Ressentiments zu, die Nietzsche zweifelsohne gesehen hat, ohne sie allerdings aufzuweisen, versteht er doch das Ressentiment als wesentliches Movens für den „Sklavenaufstand der Moral“. Ich möchte daher den Versuch unternehmen, den Nebel der soziokulturellen Funktionen des Ressentiments etwas zu lichten. Um dies leisten zu kömmen, bedarf es allerdings eines Hinausgehens über Nietzsches eigene Ausführungen, weshalb ich Gedanken Jean-Paul Sartres hinzuziehe, um auf der daraus gewonnenen Grundlage Überlegungen über die Mechanismen der Sinn- und Identitätsgenerierung entwickeln zu können.

Nietzsches Verständnis des Ressentiments Werfen wir einen genaueren Blick auf das, was Nietzsche mit dem Begriff des Ressentiments meint, so fällt auf, dass er den Begriff nahtlos mit dem Problem der Moral verknüpft und Begriffe wie „vornehme Moral“ und „Ressentiment-Moral“ verwendet (KSA, GM, 5, 288). Auch fallen in diesem Zusammenhang häufig Begriffe wie „Geist“ und „Mensch des Ressentiments“ im Gegensatz zum Vornehmen, Edlen, was auf eine kollektive Disposition der Seinsauslegung schließen lässt. Das Ressentiment ist folglich nicht als spezifischer Affekt eines Einzelnen, sondern als Grundhaltung eines Kollektivs gedacht. Auf analoge Weise wird auch die Grundhaltung der Herrschenden charakterisiert. So spricht Nietzsche von einem „Pathos der Distanz“, das er als dauerndes und dominierendes „Gesammt- und Grundgefühl“ einer höheren „herrschenden Art im Verhältnis zu einer niederen Art“ versteht (vgl. ebd., 259). Vor diesem Hintergrund scheint es angebracht, das Ressentiment ebenfalls im Sinne eines „dominierenden Gesammt-

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Oliver Immel

und Grundgefühls“ anzusehen, das habitualisiert wird und sich in kulturellen Weltbildern manifestiert. Nietzsche spricht nun im Blick auf das Ressentiment nicht nur von Negation und Affekt, sondern auch von Aktivität und Passivität. So ist für ihn das Glück, das die grundlegendste Bejahung des Lebens darstellt, die selbst der Geist des Ressentiments aufrecht zu erhalten hat, im Hinblick auf den Vornehmen mit dem „Tätigsein“ verknüpft, während das „Glück auf der Stufe der Ohnmächtigen wesentlich als Narcose, Betäubung, Ruhe“, kurz passivisch auftrete (vgl. ebd., 271). Bedenkt man dies, so besteht die funktionale Grundlage des Ressentiments durchaus darin, das Leben über den Weg des Glücks zu bejahen. Wir können also festhalten, dass die grundlegendste Funktion des Ressentiments, noch jenseits jeder inhaltlichen Bestimmung desselben, gerade keine Negation sein kann, sondern im Gegenteil die Herstellung und Sicherung einer indirekten Affirmation des Lebens darstellt, und zwar über den Umweg der Affirmation des Gemeinwohls. Das Nein des Ressentiments besteht folglich keineswegs, wie Nietzsche zu suggerieren scheint, in einem jedes Ja ausschließenden Nein, sondern im Akt des Verneinens geschieht gleichzeitig eine entschiedene Affirmation, nämlich des Seinsollens einer kulturellen Gemeinschaft, durch die die Sinnhaftigkeit des Seins im Medium des Ressentiments hergestellt und gesichert wird. Nun bedarf nach Nietzsche die Sklaven-Moral, die er mit dem Ressentiment assoziiert, immer zuerst einer Gegen- und Außenwelt, weshalb ihm zufolge ihre Aktion pure „Reaktion“ ist. Während, wie Nietzsche sagt, „alle vornehme Moral aus einem triumphirenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem ‚Ausserhalb‘, zu einem ‚Anders‘, zu einem ‚Nicht-selbst‘: und dies Nein ist ihre schöpferische That“ (ebd., 270f.). – Was hat es nun aber mit diesem indirekten Ja zum narkotisierenden Glück durch das Nein auf sich? Was wird in der Reaktion verneint und warum kann sich die Gemeinschaft des Ressentiments nur durch eine Abhebung von einem Nicht-Ich konstituieren? Um dieser Frage nachzugehen, möchte ich einen Blick darauf werfen, wie sich nach Jean-Paul Sartre das ‚Wir‘ konstituiert.

Die Konstituierung des Wir Sartre unterscheidet in Das Sein und das Nichts1 zwischen Objekt-Wir und SubjektWir. Während ich zunächst ein durch permanente Transformation und Bewegung gekennzeichnetes Subjekt bin, d.h. für Sartre mit der Freiheit eine Seinsart besitze, die grundsätzlich von der Seinsart des positiven, feststellbaren Objekt-Seins unterschieden ist, bildet meine primäre Begegnungsart gegenüber dem Anderen die Objektheit, auch wenn ich von ihm intuitiv als Objekt mit Subjektcharakter erfasst werde. Entsprechend ist das ‚Wir‘ für Sartre seiner primären Struktur nach zunächst ein „Objekt-Wir“. Dies bedeutet nichts anderes, als dass ein Wir erst durch das Bestehen einer beobachtenden Außenperspektive auf mich und Andere konstituiert wird. Ein Wir bildet sich diesem 1

Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts: Versuch einer phänomenologischen Ontologie, hg. von Traugott König, Reinbek 1993.

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Gedanken zufolge also nicht primär als eine intendierte interpersonale Beziehung, durch die wir ein „Subjekt-Wir“ hervorbringen, sondern wir werden zunächst von einer Außenperspektive aus mit Anderen, wie Sartre sagt, „verklebt“. Was Sartre mit dem Objekt-Wir anspricht, ist folglich keineswegs die positive Erfahrung einer gewollten Solidaritätsgemeinschaft. Sie geschieht nicht auf der Grundlage einer Wahl, sondern auf einer Entfremdung meiner Freiheit und der Freiheit derer, die zu dem Objekt-Wir verklebt werden. Die Herausbildung eines Subjekt-Wir baut nach Sartre erst auf dieser Grundlage auf.2 Wichtig ist in diesem Zusammenhang vor allem der Gedanke, dass durch die Objektivierung und Verschmelzung meines Seins mit einem Kollektiv durch den Blick von außen eine ‚Solidaritätssituation‘ ohne eine gegenseitige Wahl gestiftet wird. Übertragen auf Nietzsches Szenario des „Sklavenaufstands der Moral“ bedeutet dies, dass die vormals Niedrigen, Verachteten, gerade erst durch die Edlen zu einer Solidaritätsgemeinschaft „verklebt“ werden. Erst in der Abhebung, d.h. Negation des Außerhalb, des Nicht-Selbst, des Andersseins, kann sich nach Nietzsche die Gemeinschaft des Ressentiments konstituieren und von einem Objekt-Wir in ein Subjekt-Wir verwandeln. Dieses Subjekt-Wir versucht, sich von der Abhängigkeit einer realen Außenperspektive dadurch zu lösen, dass diese als Urteilsinstanz negiert wird. Dabei bleibt es jedoch trotz dieses Abhebungsversuchs zunächst radikal abhängig von der Außenperspektive, da es seine innere Stabilität nur aus der Negation dieses Außen und Andersseins gewinnen kann. Vor diesem Hintergrund erhält Nietzsches Gedanke, dass das Nein die schöpferische Tat der Sklaven-Moral sei, seinen Sinn. Denn das Nein kann nur in Abhebung vom positiv Gegebenen eine eigene Kontur gewinnen. Was für das Außerhalb des Edlen gut war, muss nach Nietzsche für den Menschen des Ressentiments den Charakter des Bösen annehmen. Daher auch die Verknüpfung zwischen Ressentiment und Moral. Denn das Ressentiment bekommt nur dann eine vergemeinschaftende Signifikanz, wenn es diese Rolle der Gewinnung von Grundwerten spielt, die es in der Negation der Herrenmoral einnimmt. Aus dem Dargestellten wird deutlich, dass das Ressentiment in Bezug auf die Entwicklung der abendländischen Kultur von Nietzsche als Grundkonstitutivum aufgefasst wird, insofern es in Abhebung und Negation der Werte der Herrenmoral die Grundwerte der abendländischen Moral wie Gleichheit, Brüderlichkeit, Gerechtigkeit und Freiheit hervorgebracht hat. Da der innere Zusammenhalt einer sich aus der Negation des Anderen und Äußeren definierenden Kultur per se als fragil gelten muss, verwundert es kaum, dass Nietzsche den Hauptaspekt der moralischen Werte und Normen in der ‚Nützlichkeit für das Gemeinwohl‘ und dem ‚inneren Zusammenhalt der Gemeinschaft‘ verortet. Denn nur in Form eines Subjekt-Wir kann eine kulturelle Gemeinschaft eine gewisse Kontinuität ihrer Existenz als Solidaritätsgemeinschaft sichern, kann das Subjekt-Wir die Grundwerte zu einem kulturellen, moralischen System vernetzen, das ihm eine von der negierenden Außenperspektive weitgehend unabhängige Existenz sichert.

2

Ob diese Aufeinanderfolge der Entstehung von Objekt- und Subjekt-Wir plausibel erscheint oder nicht, spielt für die vorliegende Problemstellung keine prägnante Rolle.

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Der Wille zur Macht als Grundprinzip des kulturellen Zusammenhalts Nun bietet das Ressentiment zunächst nur für die spezifische Gestalt und Art der abendländischen, jüdisch-christlichen Kultur eine Erklärung. Seine strukturelle soziokulturelle Grundlage aber ist weiter zu hinterfragen. Zwar gibt Nietzsche selbst recht plausible Erklärungen für Antriebe zum sozialen Zusammenleben an, gleichzeitig wecken diese aber in ihrer Einfachheit nicht ohne Grund den Verdacht unzulässiger Reduktionen. So etwa Nietzsches Antwort auf die selbstgestellte Frage, warum der Mensch überhaupt „gesellschafts- und heerdenweise“ existieren wolle: aus „Noth und Langeweile“, aus „Trägheit und Gewohnheit“. Uns organische Menschen interessiere „ursprünglich Nichts an jedem Dinge, als sein Verhältnis zu uns in Bezug auf Lust und Schmerz“ (KSA, MA I, 2, 39). Die durch die Sklavenmoral geförderte und verfestigte Vergesellschaftung dient nach Nietzsche folglich primär der Vermeidung von Unlust und der Steigerung von Lust, was im Streben nach dem Glück als erhoffter Permanenz des Lustgefühls kulminiert. Ohne dass Nietzsche es explizit thematisiert hätte, nehmen die geschilderten Grundlagen der Kulturalität, wie er sie noch in Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne und Menschliches, Allzumenschliches gesehen hat, mit dem Aufkommen des Gedankens vom „Willen zur Macht“ eine neue Wendung, werden sie in einen anderen Kontext gestellt. Wenn der Wille zur Macht als fundamentales Prinzip des Lebens angesehen werden soll (vgl. KSA, NF, 11, 661), so muss es sich auch im soziokulturellen Bereich auf irgendeine Weise manifestieren. Allerdings scheint der Wille zur Macht auf den ersten Blick keine Möglichkeiten konsensuellen Ausgleichs und einvernehmlichen Zusammenlebens zu eröffnen. So heißt es mit Blick auf den Willen zur Macht: „Leben selbst ist w e s e n t l i c h Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mindestens, Ausbeutung, –“ (KSA, JGB, 5, 207). Die Ausbeutung wird dabei als „organische Grundfunktion“ apostrophiert, sie sei kein Zeichen einer verderbten, unvollkommenen oder primitiven Gesellschaft, sondern gehöre zum Wesen des Lebendigen (ebd., 208). Während sich nun auf der vergesellschaftenden Ebene sagen lässt, dass Nietzsche den geglückten Versuch, die Herrschenden mit Hilfe des Ressentiments und der Klugheit zu unterwerfen, dem Willen zur Macht zuschreibt, wird seine strukturelle Bedeutung für die konkreten Beziehungen des Menschen zum Anderen von Nietzsche nicht weiter thematisiert. Als Ergänzung und strukturierendes Moment daher wieder einige Gedanken Sartres, die deutlich werden lassen, inwiefern der Wille zur Macht auch in Nietzsches Perspektive zumindest als ‚Wille zur Vereinnahmung der Freiheit des Anderen‘ waltet. Um diese Verknüpfung herzustellen, bedarf es eines kurzen Blicks auf die anthropologische Struktur, die diesem Willen zur Aneignung in Sartres Konzeption zu Grunde liegt.

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Die Entwurfsstruktur menschlichen Seins Nach Sartres Konzeption des Zusammenhangs zwischen Sein und Nichts ist das Bewusstsein primär dadurch gekennzeichnet, dass wir uns immer schon in unseren verstehend-entwerfenden Bewusstseinsakten über unser So-Sein auf ein zukünftiges Seinsollen überschritten haben, so dass eine Lücke in unserem Sein, ein Nichts aufbricht. Auf diese Weise sind wir nach Sartre bewusstseinsmäßig im Entwurf bereits das, was wir sein werden, allerdings in dem Modus, es faktisch gerade noch nicht zu sein.3 Der Entwurf ist als unser in die Zukunft geworfenes, sein-sollendes Sein unserer selbst immer schon präsent, ohne dass wir ihn bereits in die Wirklichkeit eines Handelns überführt hätten. Auf diese Weise negieren wir durch unsere Entwürfe permanent, was wir in unserem So-Sein sind. Allerdings gibt, was Sartre nicht ausführt, jeder Entwurf, der das So-Sein des Menschen negiert, auch Möglichkeiten einer positiven Erfüllung frei. Denn menschliches Sein erwirbt seine grundlegendste Sinnhaftigkeit und Identität nicht als Permanenz eines objekthaften So-Seins, sondern in der Überführung eines Entwurfs in eine objektive Wirklichkeit, die sich in der Handlung manifestiert und die Lücke zwischen SoSein und Entwurf mit Sinn erfüllt. Auf diese Weise ermöglicht erst die Entwurfsstruktur des menschlichen Seins ein dialektisches Zusammenspiel von Dissoziation und Identifikation, führt sie zu einer Suche nach Sinn und Identität mit sich.4 Nun können wir uns nicht selbst verobjektivieren, ohne zugleich die Unzulänglichkeit einer nur projizierten Außenperspektive auf uns zu erschließen. Deshalb kann nur eine ‚reale‘ Außenperspektive unsere Objektheit bestimmen, also das, was und wie wir tatsächlich für Andere sind. Denn der Andere verfügt über das auf Subjekt-ObjektSpaltung basierende Urteilsvermögen, das ich mir selbst gegenüber nicht herstellen kann, ohne dessen Künstlichkeit gleich mit zu erschließen. Deshalb kann Sartre schreiben: „Der Andere besitzt ein Geheimnis: das Geheimnis dessen, was ich bin. Er macht mich sein [oder, um es etwas deutlicher zu sagen: er begründet meine Objektheit], und eben dadurch besitzt er mich“.5 Der Andere formt durch seine Urteile über mich ein ‚Für-Andere-Sein‘ meiner selbst, das mich als Objekt bestimmt, so, wie mich potentiell jede andere Außenperspektive erfassen würde. Mir entgeht die Kontrolle über das Bild, das von mir geformt wird, obwohl ich mich mit diesem Bild assoziiert sehe, und erfahre mein Für-Andere-Sein als ein ‚Besessenwerden‘. Das Bild, das der Andere von mir zeichnet, ist mein unfreiwilliges alter ego, der Aspekt meines Seins, der meine Objektivität trägt und sich doch meiner Kontrolle in gewissem Maße entzieht. Dies hat zur Folge, dass ich auch im selbstreflexiven Versuch, mich in meiner Objektheit zu bestimmen, auf den Anderen angewiesen bin, um valide Urteile über mich zu gewinnen. Weil explizierbare Urteile aber, um als wahr gelten zu dürfen, den Konsens mehrerer als repräsentativ verstandener Individuen erfordern, gehört mir gewissermaßen die 3 4

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Vgl. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, 96. Die folgenden Überlegungen sind an Sartres Grundgedanken orientiert, gehen aber in Bezug auf die Fragen nach Sinn und Identität über seine Ausführungen hinaus. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, 638.

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Wahrheit meines Seins nicht allein, der Andere ist im Besitz eines Aspekts meines Seins, der für die Konstituierung eines validen Urteils über mein Wesen unerlässlich ist. Aus diesem Grund steht der Mensch strukturell stets im Verlangen, sich in den Besitz seines Für-Andere-Seins zu bringen. Fasst man dieses Streben als Streben nach Identität6, so lässt es sich als Grundmotiv sozialer und kultureller Bindung überhaupt verstehen. Es wird wirksam in der Form, dass der Mensch sich durch die Subjektivität des Anderen die eigene Objektivität anzeigen und durch Kommunikation, bzw. kommunizierte Anerkennung zuspielen lassen möchte. Dies lässt sich durchaus, um den Bogen zu Nietzsche zu schlagen, mit dem Gedanken des Willens zur Macht vereinbaren, insofern, als ich mich im Bestreben, mein Für-Andere-Sein in meinen Besitz zu bringen, bemühe, die Freiheit des Anderen in meinen Verfügungsbereich zu bringen. Entsprechend heißt es bei Sartre: „Wenn ich also vorhabe, die Einheit mit dem Andern zu realisieren, bedeutet das, daß ich vorhabe, mir die Alterität des andern als solche als meine eigne Möglichkeit zu assimilieren.“7 Ich möchte von hier aus wieder den Bogen zu den Strukturen menschlicher Gemeinschaft schlagen und die Vernetzung von Gemeinschaft, Sinn und Identität aufzeigen. Dabei werden die dargestellten Argumentationen Nietzsches und Sartres durch eigene Überlegungen ergänzt, um die sinn- und identitätsstiftende Rolle des Nietzscheschen Ressentiments als vergemeinschaftender Denkungsart aufweisen zu können.

Identität und Sinn Bevor ich mich den genannten Funktionen von Kultur zuwende, ist zu klären, was in diesem Kontext unter Identität zu verstehen ist. Im Rückgriff auf bisher Dargestelltes kann man sagen, dass Identität auf der untersten Ebene als Identischwerden mit dem als zukünftiges Sein entworfenen bewusstseinsmäßigen Sein verstanden werden kann. Wir stellen eine Identität mit uns her, indem wir unser entworfenes Sein ergreifen und in eine objektive Wirklichkeit überführen.8 Diese ‚Identität-durch-mich‘ ist allerdings auf der Erlebnisebene grundsätzlich augenblickshafter Natur. Ihre relative Dauerhaftigkeit, die sie später durch Erinnerungen zugänglich macht, gewinnt sie durch eine reflexive Erfassung, d.h. Fixierung und Interpretation des Erlebnisses in Form von Erfahrungen. Allerdings fehlt dieser Form der Identität ein wesentlicher Aspekt, der ihr erst seine 6

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Sartre sieht jedes Streben nach Identität als zum Scheitern verurteilt an, da ihm zufolge das Für-sich nicht mit sich selbst koinzidieren kann. Dabei übersieht er die Differenz zwischen einer entwurfsgeleitet zu verwirklichenden Identität mit sich, die der anthropologischen Struktur des entwerfenden Bewusstseins in der Tat widerspricht (die Identität wird als Verwirklichung eines Ansich-Seins verstanden, was das Ende des Für-sich-Seins, des Lebens, bedeuten würde), und der Möglichkeit einer Identität, die sich als intersubjektiv konstituierte Gestalt meiner selbst im Geistigen bildet (vgl. ders., Sein und Nichts, 171). Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts, 639. Gegen Sartre ist zu betonen, dass die Identität eine geistige, objekthafte ist, deren Erlebnishintergrund zwar nur augenblickshaft ist, der aber vom reflektierenden Bewusstsein in Form von Erfahrung relative Dauerhaftigkeit verliehen werden kann.

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Bedeutung und objektive Geltung verleiht: es fehlt das durch Verschmelzung des selbstreflexiven Blicks und der Außenperspektive gefällte konsensuelle Urteil über mein Sinnerlebnis, das dieses erst zu einer relativ dauerhaften intersubjektiven Objektheit transformiert und so zu einem Teil meines objektiven Ichs werden lässt. Diese als Teilmoment meines Ichs erschlossene, zum Objekt erstarrte Sinnhaftigkeit meines Seins erwächst also erstens aus der Entwurfsstruktur meines Seins, durch die erst Sinn- und Identitätserlebnisse im Handeln generiert werden können, und zweitens aus vom Anderen abhängigen konsensuellen Urteilen, durch die mein Für-Andere-Sein, das zunächst im Besitz des Anderen steht, zum Baustein meines Ichs wird.

Gesellschaftliche Identität Nun bilden sich auch in soziokulturellen Zusammenhängen Sinn- bzw. Identitätserfahrungen im Individuum, die ich unter dem Titel ‚gesellschaftlicher Identität‘ versammle. Allerdings ist damit nicht eine Identität gemeint, die mich von außen als Funktionär eines gesellschaftlichen Apparates definiert, sondern eine Identität, die der Einzelne mit Hilfe gesellschaftlicher Anerkennungsmechanismen durch Handlungen initiieren, aber nicht ohne den Anderen konstituieren kann. Dabei geht es vor allem darum, den ‚persönlichen Nutzen‘ des gesellschaftlichen Zusammenhangs für die Sinngenerierung des Einzelnen aufzuweisen, um die Bindungskräfte kultureller Anerkennungsmechanismen deutlich hervortreten zu lassen. Auch wenn die gesellschaftliche Identität nur einen Aspekt kultureller Identität darstellt, lassen sich in deren Erläuterung die grundlegenden Aspekte kultureller Identitäts- und Sinngenerierung aufzeigen. Wesentlich für die Konstituierung gesellschaftlicher Identität ist, dass die kulturelle Gemeinschaft durch soziale Anerkennungsmechanismen die Möglichkeit eröffnet, eine über Rollen vermittelte Identität mit sich herzustellen, ein ‚Wer‘ unseres Seins herauszubilden. Analog zum Geschilderten ist die gesellschaftliche Identität als Erschließung der Sinnhaftigkeit meines Seins erstens vom Urteil des Anderen abhängig, und zweitens bringt sie durch die Urteile des Anderen ein ‚Wer‘ als objektive Wirklichkeit meines Seins hervor, die durch Kontinuität und eine gewisse Permanenz gekennzeichnet ist. Gesellschaftliche Identität spielt sich dabei in einem Spannungsfeld zwischen Besessenwerden und Inbesitznehmen seiner selbst durch die Vermittlung des Anderen ab. Der Andere bildet in seiner faktischen Anwesenheit stets Urteile über meine Objektheit, etwa: ‚du bist launisch‘, ‚du siehst müde aus‘, Urteile, die ich in Abgleichung mit meinen eigenen selbstreflexiven Bestimmungen als intersubjektive Wirklichkeit, als Spiegelung meines Seins, begreife. Auf gesellschaftlicher Ebene schaffen kollektive Entwürfe und Erwartungshaltungen Maßstäbe der gegenseitigen Beurteilung, die das Für-Andere-Sein in Kategorien des Gemeinnutzens einordnen. Es werden allgemeine Beurteilungsparameter der Objektivität menschlichen Seins aufgestellt, die wir als Sitten, Normen, Werte bezeichnen können. In diesen drücken sich bestimmte, konsensuell-kulturell verfestigte Entwürfe aus, anhand derer die Handlungen in ihrer Sinnhaftigkeit bestimmt werden können. Ein Taxifahrer zum Beispiel handelt nach allgemeinen Entwürfen ‚richtig‘, d.h. objektiv

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sinnvoll, wenn er die Fahrgäste zum gewünschten Ort bringt, ein Kaufmann, wenn er seine Waren an den Mann oder die Frau zu bringen sucht. – Diese von außen bestimmbare Sinnhaftigkeit bildet gleichzeitig den Bereich, in dem der Einzelne Anerkennung finden und darüber seiner Handlung einen objektiven Sinn verleihen kann. Aufgrund der Kenntnis allgemeiner Entwurfszusammenhänge, die der Einzelne durch deren Affirmation zu seinen eigenen macht, kann er sowohl eine Identität mit sich im Handeln herstellen als auch durch die vom Anderen hergestellte Verobjektivierung seiner Handlung Anerkennung finden. Das feste Gefüge von Rollen und Erwartungen ermöglicht dem Einzelnen in der kulturellen Gemeinschaft eine relative Kontrolle über das sich ansonsten seinem Zugriff entziehende Für-Andere-Sein. Da die Entwürfe standardisiert sind, kann er Perspektivübernahmen vollziehen, berechnend mit den Erwartungen Anderer umgehen und deren Urteile über die Sinnhaftigkeit seines Tuns antizipieren. Auf diese Weise kann der Einzelne ein Für-Andere-Sein seiner selbst dadurch in seinen Verfügungsbereich bringen, dass er den kollektiven Entwürfen folgt und in dieser Befolgung durch die Anerkennung Anderer in den Besitz eines Für-Andere-Seins gebracht wird. Freilich bleiben die auf gesellschaftlichen Anerkennungsmechanismen basierenden Identitätserfahrungen in der Bestimmung ihrer objektiven Sinnhafigkeit gebunden an die Permanenz kollektiver Rollenverständnisse und vermögen dem Einzelnen nur eine Identität zu vermitteln, die die Singularität seines Seins kaum in befriedigendem Maße objektiv werden lässt. Deutlich wird daran aber, dass soziokulturelle Bindungen zu persönlichen Sinn- und Identitätserfahrungen führen können und durch die Permanenz und Berechenbarkeit ihrer Anerkennungsmechanismen ein attraktives, weil einfaches Modell zur Sinngenerierung darstellen. Vor allem aber sorgt das Eigeninteresse an dem Sein-Sollen gesellschaftlicher Anerkennungsmechanismen und an dem Sein-Sollen bestimmter Erwartungen und Rollen für eine innere Stabilität der Gesellschaft: die gesellschaftliche Identität stellt den Knotenpunkt dar, an dem persönliches und kollektives Interesse zusammenfallen. Was bedeuten nun die ausgeführten Gedanken für die kulturelle Rolle des Ressentiments? Einmal wurde deutlich, dass das Nein des Ressentiments primär dazu dient, in Negation des Außerhalb, des Nicht-Selbst, ein ‚Objekt-Wir‘ in ein wertesetzendes ‚Subjekt-Wir‘ zu transformieren. Zweitens zeigte sich, dass die Abhängigkeit der Solidarität der Gruppe von der Abgrenzung des Fremden dadurch verringert wird, dass ausgehend von den durch das Ressentiment in der Negation gewonnenen Grundentwürfen kollektive Entwürfe, Normen und Werte geschaffen werden, die zu gesellschaftsimmanenten Bindungen, zu Abhängigkeitsverhältnissen führen und der Gemeinschaft dadurch eine innere Stabilität geben. Das Ressentiment stellt folglich nicht den Quell aller einzelnen kulturellen Entwürfe dar, sondern generiert aus der Negation der Herrenmoral nur einige Grundentwürfe, auf die alle anderen Entwürfe, Werte und Normen in irgendeiner Weise Bezug nehmen. Und drittens bilden die nun am Gemeinnutzen orientierten Werte, Normen und die diesen zu Grunde liegenden Entwürfe für die Gruppenmitglieder den Reiz, über gesellschaftliche Anerkennungsmechanismen einem strukturellen Mangel im menschlichen Sein zu begegnen: dem Mangel, sich nicht im Besitz einer Identität mit sich wissen zu können. Das Nein des Ressentiments bringt durch sein Nein aber nicht nur das Ja eines Subjekt-Wir hervor, es erzeugt über die Herausbildung einer Mo-

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ral auch ein kulturelles Werte- und Entwurfsgefüge, das von den Gruppenmitgliedern deshalb affirmiert wird, weil es ihnen die Erwartungssicherheit in Bezug auf Anerkennung und dadurch eine Sicherheit über die objektive Sinnhaftigkeit ihres Seins vermittelt. So entsprechen kulturelle Wert- und Normengefüge dem Bedürfnis nach Selbstaneignung. Für den Gesamtzusammenhang der kulturellen Entwürfe nimmt das Ressentiment nicht nur die Funktion ein, Grundentwürfe durch die Negation des Andersseienden zu generieren, sondern es spielt noch ein weiterer Aspekt des Ressentiments in die soziokulturellen Bindungen hinein: Nietzsches Auslegung des Ressentiments als „Grundund Gesammtgefühl“. Indem er das Ressentiment als affekthafte geistige Disposition einer Gemeinschaft apostrophiert, wird die Beziehung kultureller Entwürfe zu den unmittelbar durch das Ressentiment hervorgebrachten Grundentwürfen nicht nur auf die Ebene logischer Ableitbarkeit gebracht, sondern erhält seine Übereinstimmung mit den Grundentwürfen vordergründig durch das Wirksamwerden eines Grundgefühls. Und eben in diesem Grundgefühl, nicht im logisch-berechnenden Ableiten, waltet, was nach Nietzsche das Ressentiment durchdringt und motiviert, der Wille zur Macht. Mit dem Grundgefühl des Ressentiments meint Nietzsche folglich die Werte und Normen setzende Grunddisposition des abendländischen Menschen ausfindig gemacht zu haben und den verborgenen Ort, in dem der Wille zur Macht waltet.

Resümee Es ist augenscheinlich, dass Nietzsche für das, was ich als ‚gesellschaftliche Identität‘ aufgewiesen habe, nicht viel übrig hat, ist doch für ihn die Grundtendenz der Moral des Ressentiments, die ewige Unterordnung der persönlichen Interessen durch die Ausrichtung auf allgemeine Entwürfe, die Ursache für den „heutigen Widerwillen“ gegen den Menschen. Der „kleine Mensch“, der „letzte Mensch“, der auf der Erde herumhüpft und „am längsten“ lebt (KSA, ZA, 4, 19) – er ist in seinen Augen die Ursache für den Verfall des Glaubens an den Menschen. Und er lebt, so ist vor dem Hintergrund des Ausgeführten zu sagen, deshalb am längsten, weil kulturelle Kollektive durch die Herausbildung von Anerkennungsmechanismen die Erlangung einer gesellschaftlichen Identität und damit verknüpfter Sinnerfahrungen gewährleisten, die vor der Notwendigkeit bewahren, sich selbst, wie Nietzsche sagt, „Richter und Rächer“ zu werden, sich selbst Regeln und Normen zu setzen. Was er allerdings übersehen hat, ist, dass soziokulturelle Gefüge nicht nur eine Unterordnung persönlicher Interessen erfordern, sondern ihnen ebenso gut dienen. Denn das Geltungs- und Anerkennungsbedürfnis des kleinen Menschen, der in ihm waltende Wille zur Macht, wird durch die Kultur so kanalisiert, dass sein Eigeninteresse Befriedigung erhält und er sich in seiner rollenhaften Identität über seine eigene Austauschbarkeit und die Möglichkeiten seiner individuellen Selbstdefinition hinwegtäuschen kann. Dass diese Form der Identität letztlich weder mit der Singularität menschlichen Seins noch mit menschlicher Größe viel gemein hat, ist Nietzsche nicht entgangen. Ob indes der Mensch von der Sicherheit gesellschaftlicher Anerkennungsmechanismen

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tatsächlich dauerhaft absehen kann, bleibt mehr als fraglich. Denn auch die Wertetafeln, auf die der Mensch nach Nietzsche neu das Wort „edel“ schreiben soll, erfordern, um Sinn und Validität zu erhalten, einen „neuen Adel“. Dieser aber gerät als kulturelles Kollektiv, folgt man Sartres Gedanken vom Willen zur Inbesitznahme des Für-AndereSeins, zwangsläufig erneut in ein Spiel um gegenseitige Anerkennung, das auf konsensuellen und kollektiven Entwürfen beruht, und es so dem Einzelnen erneut verwehrt, sein Ich aus einer reinen Selbstbejahung und Selbstbestimmung gewinnen zu können.

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Wer spricht, wenn Hass spricht? Zum Sprachsubjekt des Ressentiments

1. Dimensionen des Ressentiments Nietzsches Analyse des Ressentiments gehört zu den grundlegenden Momenten seiner Moral- und Erkenntniskritik. Als Untersuchung der Herkunft moralischer Werte, als Infragestellung des „Werth[s] dieser Werte“, beruhend auf der „Kenntniss der Bedingungen und Umstände […], aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben“ (KSA, GM, 5, 253), verfolgt die Genealogie der Moral die Entstehung der moralischen Wertungsweise bis in die reaktiven Gefühle rachsüchtiger, ressentimentbeladener Schwacher hinein, die den Starken und Vornehmen durch moralische Kategorien und durch metaphysische Konstruktionen wie die von Täter und Tat1 Fesseln anlegen und jene in der Ausagierung der ihnen innewohnenden Stärke behindern, zähmen und still stellen. Das Ressentiment ist demnach eine im weiteren Sinne psychologische Disposition,2 besser: eine Kraft, die in den Exemplaren eines bestimmten Menschentypus3 wirkt und die im Zuge der abendländischen Kulturgeschichte ungeheuer einflussreich geworden ist. Darüber hinaus fungiert die Theorie des Ressentiments als Folie der Zeitalter- und Gegenwartskritik, insofern Nietzsche harsche Kritik an seiner Gegenwart übt, die trotz des allmählichen Hinwegsterbens des Glaubens an einen Gott immer noch von christlicher Moral geprägt ist. In der Entlarvung derselben und in der Aufdeckung von deren menschheitsverkleinernden Konsequenzen hofft Nietzsche, Mitstreiter für das Projekt 1

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Vgl. hierzu auch KSA, MA I, 2, 39f.; 62ff., mit speziellem Fokus 76f., 95f.; 99; vgl. zudem Zarathustras Rede Vom bleichen Verbrecher, KSA, ZA I, 4, 45ff.; ebenso KSA, JGB, 5, 35f., sowie Die vier grossen Irrthümer, KSA, GD, 6, 88–97. Vgl. Werner Stegmaier, Nietzsches „Genealogie der Moral“, Darmstadt 1994, 119. Die positiven Effekte des Ressentiments werden für die folgende Argumentation ausgeblendet. Lesarten, die in der Gegenüberstellung von ressentimentbeladenen Schwachen und freien Starken nicht zwei unterschiedliche Typen von Menschen, sondern Teilaspekte ein und desselben Menschen verstehen, insofern er einerseits willensschwach und nicht Herr über seine Affekte oder andererseits willensstark und die Affekte kontrollierend und ausagierend ist (vgl. Sybe Schaap, Die Unfähigkeit zu vergessen. Nietzsches Umwertung der Wahrheitsfrage, Würzburg 2002), scheinen wenige Anknüpfungspunkte im Text zu haben; aus systematischer Sicht spricht gegen eine intrapersonale Lesart, dass ein gezähmter Starker nicht einem Schwachen gleichzusetzen ist. In jedem Fall bedeutet solche Interpretation nur eine graduelle Verschiebung in meinen Ausführungen.

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einer Selbstüberwindung des Menschen hin zum Übermenschen zu gewinnen. Die Gegenüberstellung des vornehmen Starken und des ressentimentbeladenen Schwachen dient dabei als Plausibilisierung wie als Hintergrundfolie der projektiven Skizzen. Somit hat die Theorie des Ressentiments zwar einen individual- und kulturpsychologischen Gegenstand, daneben aber v.a. normative Absichten, zunächst als metaethische Relativierung der Geltung von Normen durch Aufweis von deren historischer Bedingtheit einerseits, durch die Entsakralisierung und Entwertung der Normen im Aufdecken ihrer Verwurzelung in Hass- und Neidgefühlen andererseits. Daneben sind auch der zeitkritische und der appellativ-persuasive Aspekt im normativen Bereich anzusiedeln, insofern Nietzsche zwar nicht direkt normativ eine neue Orientierung vorgibt, aber sie doch als Möglichkeit, negativen Konsequenzen auszuweichen und positive Potenziale zu wecken, anempfiehlt. Auch das Ressentiment selbst, folgt man Nietzsches Analyse, hat v.a. eine normative Dimension, insofern Normen und Werte mit intersubjektivem Geltungsanspruch allererst durch es in die Welt gebracht und als Mittel des Sklavenaufstands in der Moral benutzt werden. Dies geschieht durch die kategorisierende und moralisierende Einführung abstrakter Bestimmungen von ‚gut‘ und ‚böse‘ aus der Umwertung einer ursprünglichen, vornehmeren und nicht ressentimentalen Wertungsweise von ‚gut‘ und ‚schlecht‘, letzteres verstanden als ‚schlicht‘.4 Fragt man, wie genau das Ressentiment wirkt und der Prozess der Etablierung zähmender, menschheitsverkleinernder Moralkategorien vor sich geht, so ist zunächst der psychologische Aspekt augenfällig. Nietzsche unterscheidet5 zwischen aktiven und reaktiven Kräften: Die ersteren sind beim Starken im freien Spiel und überwinden im Augenblick der Handlung die verzögernden Hemmnisse der reaktiven Kräfte, diese als Sprungbrett und Kraftquelle nutzend. Eine Übermacht der letzteren führt beim Schwachen dazu, dass dieser Mechanismus gestört wird; statt dass die reaktiven Kräfte als Energiequelle der aktiven fungieren, geraten ‚unbewusste‘ Gedächtnisspuren ins Bewusstsein und verhindern eine für gesundes Handeln notwendige Erneuerung der seelischen Konstellation: „Im Wort ‚Ressentiment‘ steckt ein überdeutlicher Hinweis: die Reaktion hört auf, ausagiert zu werden und wird statt dessen gefühlt (senti).“6 Dies verläuft, folgt man Gilles Deleuze, subjektiv-psychologisch über einen Paralogismus,7 sozusagen eine Schafslogik, in der das Handeln vom Handelnden hypothetisch getrennt und dann die eigentlich nur reaktive Unterlassung der schwachen Lämmer als Ausdruck von deren moralischer Überlegenheit gegenüber den Raubvögeln gedeutet wird: „[…] so trennt die Volks-Moral […] die Stärke von den Äusserungen der Stärke ab, wie als ob es hinter dem Starken ein indifferentes Substrat gäbe, dem es freistünde, Stärke zu äussern oder auch nicht. Aber es giebt kein solches Substrat; es giebt kein ‚Sein‘ hinter dem Thun, Wirken, Werden; ‚der Thäter‘ ist zum Thun bloss hinzugedichtet, – das Thun ist alles“ (KSA, GM, 5, 279). Weiterhin heißt es, diesen Befund generalisierend und in die Gegenwart verlängernd: „[…] unsere ganze Wissenschaft steht noch […] unter der Verführung der Sprache und ist die untergeschobenen Wechselbälge, die 4 5 6 7

Vgl. KSA, GM, 5, 261ff.; ähnlich schon KSA, MA I, 2, 67ff. Vgl. Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie (1962), München 1976, 122ff. Ders., ebd., 122. Vgl. ders., ebd., 134ff.

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‚Subjekte‘ nicht losgeworden […]: was Wunder, wenn die zurückgetretenen, versteckt glimmenden Affekte Rache und Hass diesen Glauben für sich ausnützen und […] keinen Glauben inbrünstiger aufrecht erhalten als den, es stehe dem Starken frei, schwach, und dem Raubvogel, Lamm zu sein: – damit gewinnen sie ja bei sich das Recht, dem Raubvogel es zuzurechnen, Raubvogel zu sein …“ (ebd., 279f.).8 Über die Menschen des Ressentiments ist daher zu sagen: „Diese Art Mensch hat den Glauben an das indifferente wahlfreie ‚Subjekt‘ nöthig aus einem Instinkte der Selbsterhaltung, Selbstbejahung heraus, in dem jede Lüge sich zu heiligen pflegt“ (ebd., 280). Im Ressentiment entstehen nicht nur Vorstellungen von Tugend und Verdienst, die Nietzsche in Form der christlichen, später asketisch gewandeten Moral demaskieren will, sondern zugleich und als deren Voraussetzung das Bild eines Subjekts, das seine Handlungen kontrolliert und determiniert, das Kausalreihen beginnen lässt und Alternativen des Wirkens in die Welt hat. Das Ressentiment ist mehr als ein dumpfes Vorurteil, beruhend auf Neid, Ohnmacht und Hass, es ist genuiner Ausdruck eines Willens zur Macht, der die eigenen Antriebe sublimiert und zu einem Kampfmittel macht.

2. „Munkler und Winkel-Falschmünzer“ – Sprache und Sprecherposition des Ressentiments In der Rekonstruktion dieses Theoriestücks wird zumeist übersehen, dass es sich zumindest auch um einen sprachlichen Prozess handelt. Unter anderem deshalb stellt Nietzsche auch in der die erste Abhandlung beschließenden Anmerkung die berühmte Frage nach den „Fingerzeige[n]“ (ebd., 289), die die Etymologie für die Genealogie der Moral abgibt. Klingt dies schon in der zitierten „Verführung der Sprache“ (ebd., 279) an, so wird es noch deutlicher, wenn man die psychischen Voraussetzungen und Implikationen des ressentimentalen Wertungsprozesses betrachtet. Schon auf der strukturellen Ebene ist es das Nicht-Vergessen des Ressentimentmenschen im Unterschied zum „Überschuss […] auch vergessen machender Kraft“ (ebd., 273) beim Starken, diesem „nothwendig vergessliche[n] Thier, an dem das Vergessen eine Kraft, eine Form der starken Gesundheit darstellt“ (ebd., 292),9 das es ermöglicht, dass eine reaktive Überwältigung wie die des Ressentiments überhaupt stattfinden kann. Das Nichtvergessen funktioniert aber nur, wenn subjektive wie referenzielle Persistenz über die Zeit erzeugt wird; dies gelingt durch identifizierende Namensgebung und die Erfindung des Subjekts, jenes Substrats, das nach Nietzsche hinter den Handlungen angenommen wird, 8

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Der grammatische Bezug des „sie“ in „damit gewinnen sie ja bei sich“ ist überraschend eindeutig auf die „Affekte“ gerichtet, was nicht ganz zu deren Rolle als unbewusster Kraft zu passen scheint. Anders als Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, 126, sehe ich nicht, dass später eine ‚zweite‘ Theorie des Gedächtnisses nötig sei, die einen von der ursprünglichen Unfähigkeit zu vergessen differenten Ursprung oder Gehalt hätte. Auch das angebliche ‚erste‘ Gedächtnis beruht auf dem Wort, und es sind beim „Thier […], das versprechen darf“ (KSA, GM, 5, 291), die Persistenz über die Zeit notwendige und die Erfahrung als ein und derselbe hinreichende Bedingungen dieser Fähigkeit, deren spätere positive Konnotation zu den dialektisch-paradoxalen Volten bei Nietzsche gehört.

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sowie durch die Einführung situationsübergreifender Bezeichnungen für Handlungen und deren Zuschreibung. Nur durch die ‚grammatischen‘ Funktionen von Subjekt und von einer dessen Handlungsalternativen prädizierenden Beschreibung sind die Voraussetzungen für den Sklavenaufstand der Moral gegeben. Daneben ist das Mittel, dessen sich die Menschen des Ressentiments bedienen, genuin sprachlicher Natur. Insbesondere sind wertende Bezeichnungen wie ‚gut‘ und ‚böse‘ nicht nur situative, authentische Stellungnahmen souveräner Individuen, sondern beanspruchen, als wohl- oder letztbegründete Kategorien Geltung über Einzelfälle und Einzelmenschen hinaus zu besitzen. Ohne dass dies hier genauer ausgeführt werden kann, lässt sich diese Position mit der frühen Sprachkritik Nietzsches etwa aus Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, der Kritik am „Bau der Begriffe“ (KSA, WL, 1, 882), an den abstrakten, lebensfernen, unbeweglichen Konstrukten der ausdifferenzierten, lügnerischen und zum Zwecke der besseren Abstimmung zwischen hilflosen Wesen ohne eigenständige Überlebenspotenziale eingeführten Sprache parallelisieren: Was als Ausdruck einer individuellen Position der Stärke oder als Reizübertragung in eine Metapher seine Berechtigung und seine indirekte und sprunghafte Beziehung (die Metapher ist eine Sprungtrope) zu Phänomenen der Lebenswelt eines Individuums hat, verliert diesen Bezug und damit seine Legitimität wie seine Lebensförderlichkeit in der überindividuellen Hypostasierung zu einem Begriff oder einer moralischen Kategorie. Das Ressentiment ist so die Grundlage für Begriffsbildung überhaupt, mit der die Zukurz-Gekommenen ihre eigenen Dispositionen in eine ideale Welt verlängern und diesen dadurch Geltung zuschreiben zu können glauben. Ist die Sprache des Ressentiments eine, die die Subjektposition allererst erfindet und mystifiziert und die mit überindividuellen Kategorien arbeitet, so ist damit auch der formale Rahmen für die Sprecherposition gegeben. Als Sprecher einer solchen Sprache setzt man formal die Existenz von Subjektivität, Wahlfreiheit und Zurechenbarkeit über die Zeit voraus und erzeugt sich selbst im Sprechen performativ als ein Subjekt, dessen in der Sprache geforderte Position als imaginärer Fokus der Selbstbeschreibung fungiert. Als zumindest eine Bedingung der Möglichkeit eines Subjekts ist die Sprache des Ressentiments in Nietzsches Diagnose gleichermaßen konstitutiv, mindestens aber regulativ für moderne Selbstverständnisse wie Ursache für den Niedergang in abendländischer Kulturtradition und jüdisch-christlicher Religion. Die psychische Struktur der Benutzer dieser Sprache trägt als entscheidendes Merkmal die Orientierung nach außen: Wird in der Sprache performativ Subjektivität erst mit Hilfe von Schuldzuschreibungen hergestellt, so wird eine gehaltvolle Individualität gerade verweigert, weil kein wie immer indirekter individueller Ausdruck der eigenen Lebensanschauungen und -erfahrungen angestrebt, sondern die Selbsteinordnung unter moralisch imprägnierte Großkategorien vorgenommen wird. Der Sprecher dieser (und jeder allgemeinen) Sprache benötigt die Abgrenzung von anderen, als ihm wesensmäßig different imaginierten Menschen. Im Umkehrschluss: er hat keine Möglichkeit ‚positiver‘ individueller Selbstbeschreibung mit den Mitteln dieser Sprache. Dadurch wertet sich der Sprecher der Sprache des Ressentiments in seinen Augen auf, obwohl er sich gerade eigener Möglichkeiten enthebt und an eine kategoriale, lebensferne und externe Sprechweise bindet. Dies geschieht jedoch, das verschärft Nietz-

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sches kritische Bewertung, nicht als individuelle Selbstbindung, die als Ausdruck selbst gewählter Lebensführung positiv als Ermöglichung neuer Verbindlichkeiten verstanden werden könnte, sondern in Form einer verwinkelten, verschwiegenen, unehrlichen und verlogenen, weil die eigene Bindung als Einsicht in allgemeine Zusammenhänge und überzeitliche Wahrheiten tarnenden Unterwerfung unter einen Geltungsanspruch, der mit dieser Unterwerfung als Begründung auch für die Starken Legitimität und so deren Zähmung bedeutet. Ohne dass Nietzsche allzu konkret wird, darf man vermuten, dass ein ‚hoher Ton‘, ein moralingetränktes Pathos, das sich von jedem persönlichen Interesse distanziert, zu den Charakteristika der Sprache des Ressentiments gehört; er nennt als Beispiel Begriffe wie „Demuth“, „Gehorsam“, „Geduld“, „Liebe zu seinen Feinden“ und „Seligkeit“ (KSA, GM, 5, 281f.), durch Anführungszeichen als Produkt der Verschwörung der Schwachen gekennzeichnet. So kann er die Sprecher als „Munkler und Winkelfalschmünzer“ bezeichnen, die „warm bei einander hocken“ (ebd., 282) und ihre Schwächen „zu gutem Namen“ (ebd., 281) kommen lassen, indem sie als Tugenden benannt werden; auch hier zeigt sich wieder im Herdenhaften die Überzeugung, „der einsiedlerische und raubtierhafte Mensch“ (KSA, FW, 3, 591) hätte des Bewusstseins und der Sprache nicht bedurft, dass diese vielmehr Erfindungen zur besseren Koordination der hilflosen Herdentiere sind. Die Selbstabwertung und -verkleinerung in der Bindung an äußere Normen und in der Bezeichnung eigener Dispositionen mit Namen überzeitlicher Tugenden führt dazu, dass der Mensch des Ressentiments in der Sprache nur ein Instrument der Entindividualisierung der Starken und somit seines Versuchs sehen kann, sozialkonforme Handlungen zu erzwingen: Da der Sprecher niemals Sprache als Ausdruck seiner ureigenen Individualität kennen und nutzen gelernt hat, hat er über die Affirmation des überzeitlichen Geltungsanspruchs hinaus keinen positiven Bezug zu ihr. Sie kann kein positives Medium der Individualitätsbildung, kein Raum der Selbstverortung und -beschreibung sein, weil er sich der Möglichkeit enthoben sieht, sich im Gebrauch der Sprache als ein solcher individueller Mensch zu verstehen. Begriffe bilden nur den gemeinsam geteilten, deshalb minimalen Grundkonsens ab; eine expressive Dimension, eigentlich schon die Selbstbeschreibung als ein so und so charakterisierter Einzelner, steht nicht zur Verfügung. Innenleben, soweit davon zu sprechen ist, und eine Selbstpositionierung innerhalb der sprachlich transportierten Kategorien fallen ohne Verbindung auseinander, stehen sich disparat gegenüber10, es gelingt nicht, dieses spannungsreiche Verhältnis zu einer integralen Einheit zu bringen, weil kein Medium, Individualität angemessen zu thematisieren, zur Verfügung steht.

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Dass dies ein Problem von Nietzsches Sprachauffassung insgesamt ist, weil er die Sprache nicht nur, aber grundlegend als lebensfeindliche Kommunikationsabkürzung schwacher Geister ansieht, muss unausgeführt bleiben; dazu: Andreas Hütig, „Zur Individualität der Praxis. Aspekte der Sprache bei Nietzsche und Cassirer“, in: Nietzscheforschung, Bd. VII, Berlin 2000, 257–271.

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3. „Schlechte Luft“ – Adressat und lokutionäre Kraft der Ressentimentsprache Wie reagiert der von dieser Sprache Angesprochene, der Starke, der Raubvogel? Gelingt es ihm, der sich zuvor ohne Begriff gefiel und ein ursprüngliches Recht zur Namensgebung besaß, sich der moralisierenden Etikettierung zu entziehen? Die abendländische Moralgeschichte als Erfolg der Sprache des Ressentiments beantwortet die Frage mit Nein. Die genaue Wirkungsweise bleibt jedoch unklar. Zwar ist mittelbares Ergebnis des Ressentiments die Heraufkunft des schlechten Gewissens, jene „tiefe Erkrankung, welcher der Mensch unter dem Druck jener gründlichsten aller Veränderungen verfallen musste, die er überhaupt erlebt hat“ (KSA, GM, 5, 321). Auch bei den bisher Starken entsteht durch die Hemmung der Entladung eine Verinnerlichung und dadurch das, was Seele genannt werden kann: „Alle Instinkte, welche sich nicht nach aussen entladen, wenden sich nach Innen […] Jene furchtbaren Bollwerke [z.B. Strafe, AH] […] brachten zu Wege, dass alle jene Instinkte des wilden freien schweifenden Menschen sich rückwärts, sich gegen den Menschen selbst wandten“ (ebd., 322f.). Damit war die „grösste und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, […] das Leiden des Menschen am Menschen, an sich“ (ebd., 323). Dabei bleibt jedoch unklar, wie es gelingen konnte, dass die bisher Starken sich haben zähmen lassen; die Übermacht der Schwachen kann es nicht gewesen sein, auch die öfter variierte These vom kalkulatorischen Vorteil, den die Erfindung von Sprache und Bewusstsein mit sich brachten, reicht nicht hin, um Einfluss und Ablauf zu erklären. Wenn und da sich das Ressentiment für Nietzsche v.a. in der Sprache niederschlägt, mit grammatischen Hypostasierungen als formalen Bedingungen einerseits, mit abstrakten und äußerlichen Moralkategorien als inhaltlichen Determinationsversuchen andererseits, so muss er jenem Medium Sprache eine besondere Kraft zuschreiben. In der These von den Auswirkungen der Struktur dieses Mediums, von der notwendigen Voraussetzung eines Trägers von zurechenbaren Entscheidungen und Handlungen und der daraus entstehenden Selbstvorstellung steckt die Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit der sprachlichen Herrschaft der Sklaven: Wenn und insofern Sprache in der Lage ist, Selbstvorstellungen zu formen, allererst auf den Weg zu bringen, so wohnt der Sprache eine besondere Macht inne, die sie von anderen Formen menschlicher Weltaneignung unterscheidet. Diese lokutionäre Kraft vermag es nach Nietzsche, den Adressaten des Gesprochenen wenn nicht auf bestimmte Vorstellungen zu verpflichten, so doch die Struktur der Vorstellungs- und Anschauungswelt überhaupt zu schematisieren. Es sind, so ließe sich sagen, innerhalb einer bestimmten, durch moralische Großkategorien strukturierten Sprache nur bestimmte Vorstellungen möglich, bestimmte Voraussetzungen präsupponiert, wenn und indem die Welt mit Hilfe der betreffenden Sprache benannt und sich in dieser bewegt wird. Dazu zählen besonders Subjektvorstellungen und moralische Wertungen, mit denen Handlungen und Entscheidungen auf eine Art bewertet werden, die die von Nietzsche beschriebenen und perhorreszierten Folgen in der Geschichte der asketischen Ideale zeitigte.

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Nietzsche gibt der These von der schematisierenden Kraft der Sprache eine weitere Pointe. Sucht man danach, welche Effektwege der Prozess der Ressentimentübertragung nimmt, damit die gesamte Züchtungs- und Zähmungsmaschinerie, so sind im einschlägigen Kontext der sprachlichen Prozesse, im Unterschied zu den nachfolgenden institutionellen, z.B. der Errichtung einer Strafinstanz11, v.a. medizinische und somatische, in Sonderheit olfaktorische Vokabeln und Metaphern zu finden: Die im Winkel Munkelnden erzeugen gleich mehrfach „Schlechte Luft! Schlechte Luft!“, die Werkstatt der Idealproduktion „stinkt vor lauter Lügen“ (KSA, GM, 5, 282), der Beobachter muss sich die Nase zuhalten; zugleich erzeugt das „Giftauge des Ressentiment“ (ebd., 274) nicht nur schiefe Blicke, sondern kann allein „dieses falsche schillernde Licht“ (ebd., 281) durchdringen, an das sich das Auge des Beobachters fast nicht gewöhnen kann. Üble Gerüche und undurchdringliche Luft sind aber beileibe nicht illustratives Beiwerk der Argumentation, sondern indizieren die Wirkungsweise der Ressentimentsprache: sie erzeugen eine vernebelte, intransparente Atmosphäre, in der die Sinne passiv beeinflussende Mechanismen ablaufen und Stoffe zirkulieren, die auf der leiblichen Ebene wirken und von Rezipienten schwer oder gar nicht abgewehrt werden können. Wie bei der Zentralstellung des Leibes innerhalb der Philosophie Nietzsches nicht anders zu erwarten, schreibt sich die Idealfabrikation, die im Medium Sprache transportiert wird, über sensorische und somatische Mechanismen, über die Etablierung einer zunehmend undurchdringlichen, vergifteten Atmosphäre in den Leib des Adressaten ein: „‚Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtnis‘ – das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider auch allerlängsten) Psychologie auf Erden.“ (ebd., 295) So ist der Schmerz „das mächtigste Hülfsmittel der Mnemonik“ (ebd.). Allerdings bleibt die Frage, wie die starken und wilden Individuen die schmerzhafte Inskription über sich haben ergehen lassen. Die Perspektive auf die Sprache als Mittel dieser Subjektivation im Doppelsinne von Unterwerfung und Subjektwerdung12 macht deutlich, wie dies vor sich gehen kann: Durch die Kommunikation ermöglichenden wie abkürzenden Zeichen wird im Einzelfall wenig, in der Summe aber immer mehr in den Adressaten eingeschrieben, dieser schleichend vergiftet und soweit gezähmt, dass dem Schmerz der Mnemotechniken kein Widerstand mehr geleistet wird, kein Mittel der Gegenwehr mehr zur Verfügung steht. Insbesondere wenn der Starke sich ebenfalls der Sprache bedient und so die Giftschwaden des Ressentiments einatmet, sie an sich heranlässt und den dabei entstehenden kleinen Schmerz im Interesse der Interaktion mit den Menschen des Ressentiments außer Acht lässt, wirkt der Züchtungsmechanismus besonders gut.

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Vgl. KSA, GM, 5, 297ff. Vgl. hierzu in unterschiedlicher Akzentuierung: Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1977; ders., „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, in: ders., Von der Subversion des Wissens, Frankfurt/M. 1987, 69–90; Martin Stingelin, „Der Körper als Schauplatz der Historie. Albert Hermann Post, Friedrich Nietzsche, Michel Foucault“, in: Fragmente 31 (1989), 129; Judith Butler, Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt/M. 2001.

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Es ist anzunehmen, dass der Starke im Gebrauch der Sprache ein vages Gefühl der Diskrepanz zwischen dem hohen Ton der Moralkategorien, der Hinterweltlichkeit der Begriffe allgemein und dem individuellen Lebensausdruck verspürt. Der naivunvertraute Umgang mit der Sprache und das Absehen von diesem vagen Diskrepanzgefühl zum Zwecke der Kommunikation mit den in des Starken Augen weiterhin als schlicht zu bezeichnenden Schwachen führen dazu, dass immer mehr Zeichen eingeschrieben werden, immer mehr Nadelstiche erfolgen, über die das Gift des Ressentiments einsickert. Der Adressat der Sprache des Ressentiments wird daher durch deren lokutionäre Kraft gebunden, mit Hilfe der Sprache werden ihm die Strukturen der moralischen Weltsicht eingeschrieben, bis er sich selbst als Subjekt fühlt und sich der Weltsicht des Ressentiments unterworfen hat. Die gelegentlichen Ausbrüche, die Entladungen der „Unschuld des Raubthier-Gewissens“ (ebd., 275) werden weniger, die Zähmung der „blonde[n] Bestie“ (ebd.) hat Erfolg.13 Gerade der Schritt zur Verwendung und strafbewehrten Institutionalisierung abstrakter Kategorien wie der Tugenden trennt den bisher ungezähmten, wilden Geist von dessen eigenem Leben und sperrt ihn ein in die vorgegebenen Wertungen: der durch die kirchliche Menagerie verbesserte „vornehme[.] Germane […] war zum ‚Sünder‘ geworden, er stak im Käfig, man hatte ihn zwischen lauter schreckliche Begriffe eingesperrt“ (KSA, GD, 6, 99). Im Resultat ergibt sich ein zunehmend geplagtes, wegen der schleichenden Subtilität letztlich wehrloses Adressatensubjekt, das von der perlokutionären Kraft der Ressentiment-Sprache gefangen genommen und still gestellt wird. Dies geschieht durch zwei Eigenschaften der Sprache des Ressentiments: durch die interne Überstrukturierung des Sprachraums, in dem Subjektpositionen vorgezeichnet und die einzelnen Begriffe und Konzepte moralisch aufgeladen sind, und durch die Behauptung der Unmöglichkeit, zumindest aber Sinnlosigkeit radikal differenter, nicht sanktionierter Sprechweisen.14

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An der genannten Stelle der Genealogie der Moral fehlt in der Aufzählung der vornehmen Rassen der „japanesische[ ] Adel“ (KSA, GM, 5, 275) nicht. Im Japanischen, das damals zur uralaltaischen Sprachgruppe gezählt wurde, ist eine differente Sprachstruktur zu finden, was für die beschriebenen Vorgänge nicht unerheblich ist, wie Nietzsche durchaus wusste: „Philosophen des uralaltaischen Sprachbereichs (in dem der Subjekt-Begriff am schlechtesten entwickelt ist) werden mit grosser Wahrscheinlichkeit anders ‚in die Welt‘ blicken und auf anderen Pfaden zu finden sein, als Indogermanen oder Muselmänner[ ]“ (KSA, JGB, 5, 35). Die Zähmung der Bestie muss nicht überall gleich verlaufen sein. Auch hier ist Nietzsches frühe Sprachkritik anschlussfähig, empfiehlt er doch in Ueber Wahrheit und Lüge den ironischen und kunstvollen Gebrauch der Sprache. Die Verwendung von „lauter verbotenen Metaphern und unerhörten Begriffsfügungen“ (KSA, WL, 1, 889) soll den kaum noch möglichen Freiraum im Gefängnis der Begriffe erweitern und es von innen wo nicht zur Implosion, so doch ins Wanken bringen. Es ließe sich Also sprach Zarathustra als Versuch neuen Sprechens, als Erkundung der Möglichkeit, ein Selbstgespräch zu führen, ansehen, ein Versuch, der angesichts des Scheiterns der Figur Zarathustras nicht sonderlich erfolgreich scheint. Darüber hinaus deutet Nietzsche die Möglichkeit an, das Gift der Schwachen als „Reiz und Stachel“ (KSA, NF, 8, 223) zu genießen und es als Sprungbrett und Aufputschmittel zur eigenen Gesundheit und Stärke zu benutzen, eine Fähigkeit, für die es eine „große Begabung“ (ebd.) braucht.

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4. Inwiefern ist Sprechen ein Tun? Zur Kritik der Genealogie des Ressentiments Anhand einer Inblicknahme der sprachlichen Seite von Nietzsches Urgeschichte der Moralität, die sich in dem und durch das Ressentiment konstituiert, sind die Sprache sowie die beteiligten Sender- und Empfängerpositionen charakterisiert und die Wirkungsweise des Ressentiments über die psychischen Vorgänge hinaus aufgehellt worden, weil nur so deutlich wird, wie Nietzsche die Effekte, die er beschreibt, denken kann. Die These über die Sprache des Ressentiments beinhaltet dabei ein Doppeltes: Zum einen die grammatische Hypostasierung von Subjektpositionen bei Sprecher wie Adressat und die abstrakte Lebensferne, zum anderen nicht nur eine schematisierende Wirkung, sondern eine schleichende lokutionäre Kraft, die den Starken allmählich vergiftet und ihn wie die Menschen des Ressentiments an die Strukturen und Schemata der transportierten Weltsicht bindet. Beides zusammen, die lebensferne und subjektivierende Abstraktion und die mit ihr verbundene Hypostase einerseits, die lokutionäre Bindung andererseits, können nur zusammen bestehen, wenn die Sprache insgesamt primär als Entfremdungsphänomen, nicht als Expressionsmedium einer positiv verstandenen Interaktion aufgefasst wird. Ich werde diese Ansicht in der Folge plausibel zu machen suchen, indem ich Judith Butlers Kritik an zweierlei Maß in der Bewertung verletzenden Sprachgebrauchs, des sogenannten hate speech, auf die beschriebene thematische Situation übertrage. In ihrer Analyse US-amerikanischer Sprachpolitik und -jurisdiktion kritisiert Butler den Umgang mit Äußerungen über die eigene Geschlechtsidentität.15 Zum Beispiel werden amerikanische Soldaten, die sich als homosexuell bezeichnen, wegen der ‚Ausführung‘ sexueller Handlungen verurteilt und aus der Armee entlassen, während das Abbrennen eines Kreuzes vor dem Haus Farbiger als von der Verfassung gedeckte Meinungsäußerung gilt. Es geht nicht primär um Wertungswidersprüche in einer übersexualisierten und zugleich prüden Gesellschaft, sondern um eine fundamentale Kritik an den zugrunde liegenden Sprachkonzepten: Wird Sprache als unmittelbare Verletzung empfunden, so wird die Sprachhandlung nach dem Modell einer grenzenlos verfügenden Souveränität konzipiert, die allein dadurch etwas bewirkt, dass sie etwas und indem sie es sagt.16 Ist dies schon ein gewichtiger Einwand gegen Nietzsches Position, gegen die Vorstellung der Giftwirkung der Sprache des Ressentiments, so übersieht die beschriebene These, wie Butler weiter ausführt, Entscheidendes: Zwar ist der Mensch in seinem Subjektstatus auch für sie davon abhängig, in und durch Sprache angesprochen zu werden, und zeigt sich darin die Verletzbarkeit und Fragilität von Versuchen der Autonomiebildung. Aber gerade dadurch gilt, dass auch den Sprechern des Ressentiments die Sprache nicht souve15 16

Vgl. Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 2001. Es ließen sich Parallelen ziehen zum von Immanuel Kant hypothetisch eingeführten (und als illusionär abgelehnten) intuitus originarius, einer schaffenden Anschauung, „durch die selbst das Dasein des Objektes der Anschauung gegeben wird“ (Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, AA 3, B 72).

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rän zur Verfügung steht, sondern dass ihnen noch die verletzenden oder, im Falle von Nietzsches Ressentimentthese, die giftigen Anreden und Formulierungen entwendet werden können, dass jede Anrede, auch die beleidigende oder die mit Ressentiment beladene, immer auch Möglichkeiten der individuellen Reaktion, der Resignifikation, der Umbesetzung, des Nichtverstehens im Verstehen bietet: „Während also die verletzende Anrede ihre Adressaten scheinbar nur festschreibt und lähmt, kann sie ebenso eine unerwartete, ermächtigende Antwort hervorrufen.“17 Noch die Beleidigung gewährt dem Adressaten in gewissem Maße Anerkennung, auch wenn sie ihn zugleich in seinem Status bedroht. Die Wirkmächtigkeit des Performativen ist demnach nicht nur die schleichende Schematisierung sedimentierter Konventionen, sondern beruht auch auf der impliziten Anerkennung des Angesprochenen. Durch die Anrede als Diskursteilnehmer rückt noch derjenige, der gezähmt und unterworfen werden soll, auf eine Position, wo er ebenso konstitutiv für die Sprache wie der ursprünglich Sprechende ist und durch eigenes Sprachverhalten den Angriff parieren, ins Leere laufen oder für eigene Ziele nutzen kann. Als solchermaßen end- und ursprungsloser Prozess ist Sprache nicht nur ein Mittel der Zähmung und Vergiftung, sondern auch gehaltvolles Reservoir individueller Selbstbeschreibungen wie Raum von Begegnung mit dem oder der Anderen. Versteht man Sprache nicht von vorneherein als Medium der Entfremdung, sondern berücksichtigt, dass sie auch eine positive Funktion für Selbstreflexion und Alteritätserfahrung hat, so unterminiert das Nietzsches Argumentation erheblich und reduziert die Urgeschichte des Ressentiments auf die Beschreibung von uneigentlichem, verkürztem Sprachverhalten: Sprache transportiert das Ressentiment, bietet aber zugleich Möglichkeiten der Entlarvung desselben wie der positiven Welt- und Selbstgestaltung. Dies hat erhebliche Konsequenzen für Nietzsches normativen und zeitkritischen Impuls. Wer spricht, wenn Hass spricht, und was dieses Sprechen bewirkt, ist demnach nicht schon entschieden, sondern abhängig davon, wie Sprache insgesamt verstanden wird: als Medium der Disziplinierung und des Ressentiments oder als Rahmen und Raum von Selbstreflexion und Interaktion.

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Judith Butler, Haß spricht, 10.

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Ressentiment und Körpertechnologisierung Über die negativen und positiven Wirkungen des Sklavenaufstandes in der Körperethik

Durch die beginnende biotechnische Revolution eröffnet sich die Möglichkeit des körpertechnologischen Selbstumbaus des Menschen zu einem autoevolutiven Wesen. Das bedeutet nicht nur, dass „große Politik“ Erdregierung wird im Sinne der „Wirthschaftsgesammtverwaltung der Erde“ (KSA, NF, 12, 462ff.), sondern dass sie Anthropolitik wird, die darauf zielt, den Menschen selbst künstlerisch zu gestalten, ihn als Kunstwerk, als größtes und höchstes aller möglichen Kunstwerke zu gestalten (vgl. KSA, GT, 1, 29f.). Im Mittelpunkt dieser biopolitischen Praxis steht schon jetzt die Körperpolitik. Entwürfe eines anderen Menschen sind nicht von Körperentwürfen zu trennen, Körperentwürfe sind Menschenentwürfe. Das Übermensch-Sein ist durch ein neues Leibsein vermittelt, das nicht nur schön sein, sondern im Schönen gezeugt werden sollte. Die mit dem biotechnischen Zeitalter verbundene revolutionäre Umstellung der Einstellung des Menschen zu sich ist auch für das philosophische Selbstverständnis des Menschen nicht folgenlos. Durch die neuen Biotechnologien wird es nicht nur möglich sein, dass wir die Natur, die wir selbst sind, unseren Leib, selbst zu entwerfen vermögen, es könnte sich auch immer stärker der Verdacht erhärten, dass der menschliche Körper ein zentrales, aber auch das unvollkommenste Element unserer zukünftigen Welt ist. Für die Anthropologie hat dies zur Konsequenz, dass der Entwurf von Körpern nicht nur wieder eines ihrer Zentralthemen wird, sondern dass die Anthropologie der Körper explizit zur Basis einer jeglichen philosophischen Anthropologie wird. Ziel einer solchen Transanthropologie ist die ästhetische Reproduktion des Körpers zum Transkörper mit Hilfe einer Transtechnik. Im Mittelpunkt einer solchen technologischen Reproduktion des Menschen steht, die menschliche Physis nach funktionalen und ästhetischen Aspekten neu zu entwerfen. Ziel einer damit verbundenen funktionalen Körperästhetik kann aber nicht nur die effektivere Nutzung des Körpers sein, sondern auch die Wahrung seines Selbstzweckwertes. Es geht nicht nur um einen verbraucherfreundlichen Körper, sondern auch um einen körperfreundlichen Verbraucher, nicht nur die Funktionalität des Körpers soll beachtet werden, sondern auf seine schöne Form soll geachtet werden, der Körper soll nicht nur störungsfreier funktionieren, er soll auch schön sein. Im Zentrum dieser ästhetisch-funktionalen Umstellung der technologischen Einstellung zum Körper, die der Kern der körpertechnologischen Revolutionierung der Anthropologie ist, steht die Anerkennung der Rechte des Körpers. Von der Wahrung und

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Wahrnehmung dieser Rechte hängt ab, wie sich der Mensch im Spannungsfeld von Geworfensein und Entwurf, von Subjekt und Projekt selbst zu gestalten vermag. Der euphorischen Feier der Höherzüchtung des Menschen und seines Körpers durch die Körperfuturisten setzen nun die Körperkonservativen die Warnung vor den Gefahren der damit verbundenen Körperinstrumentalisierung entgegen.1 Der Körperverachtung der Körperfuturisten begegnen die Körperkonservativen mit der Körperachtung. Mit der lassenden Rücksichtnahme auf den Körper, mit der gelassenen Sorge um den Körper wollen sie die sorglose Benutzung und Vernutzung von Körpern durch die Körperfuturisten verhindern. Der Vergötzung der Körperinstrumentalisierung durch die Körperfuturisten setzen die Körperkonservativen die Ideologie der Kriminalisierung und Ablehnung jeder Körperinstrumentalisierung entgegen. Der rauschhaft-barbarischen Körperinstrumentalisierung der Körperfuturisten, ihrem körpervergessenen und zugleich körperbesessenen Körpergebrauch, ihrer Gleichgültigkeit und Verachtung von Leib und Leben, setzen die Körperkonservativen eine vorsichtige, nahezu ängstlich-philisterhafte Sorge um den Körper entgegen, die das sorglose Wüten der Körperfuturisten gegen den eigenen Körper und die Körper der anderen mindestens zivilisieren, wenn nicht verhindern soll. Während sich die ‚Starken‘, die barbarischen Körperfuturisten erbarmungslos selbst instrumentalisieren und mit ihren Körpern selbstausbeuterisch experimentieren, warnen die ‚Schwachen‘, die zivilisierten Körperkonservativen vor jeder Instrumentalisierung und jedem Experiment. Ihre Ohnmacht gegenüber dem eigenen Körper und Geschlecht, die die Skepsis der Körperkonservativen gegenüber jeglicher Körperbenutzung erzeugt, machen sie zu einer moralistischen Lebensanschauung, die uns allzuoft in Gestalt von humanisierender Bioethik entgegentritt. Diese ‚Schwachen‘, die sich schon für unterdrückt und vergewaltigt halten, wenn sie sich selbst instrumentalisieren, reden im Geiste „der rachsüchtigen List der Ohnmacht“ (KSA, GM, 5, 280) in bezug auf ihren Körper. Sie wollen im Gegensatz zu den ‚starken‘ und ‚bösen‘ Körperfuturisten anders, ganz anders sein: nämlich ‚gut‘. Aber ‚gut‘ ist nicht schon „Jeder, der nicht vergewaltigt, der Niemanden verletzt, der nicht angreift, der nicht vergilt“ (ebd.), sondern erst der, der niemanden gebraucht, benutzt, instrumentalisiert, der jeder Verführung, jeder Lust, jeder Begierde des Körpergebrauchs aus dem Weg geht und alle und jeden für immer als Selbstzweck betrachtet. In der Feier dieser absolut entinstrumentalisierten Selbstzweckbestimmung des Menschen und seines Körpers wie sie nicht bei Immanuel Kant, wohl aber bei Friedrich Schiller zu finden ist und die nicht nur von körperkonservativ-egalitaristischen Humanisten2, sondern auch von manchem Leibphänomenologen nochmals überschillert wird, drückt sich der Sklavenaufstand in der Körperethik aus: weil wir als ‚Schwache‘ keine 1

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Zu typologischen Unterscheidungen von Körperfuturismus, Körperkonservatismus, Körperkulturalismus, die idealtypisch in allen Bereichen der Bioethik und Biopolitik verschieden ausgeprägt zu finden sind und zur Idee der Rechte des Körpers: Volker Caysa, Körperutopien. Eine philosophische Anthropologie des Sports, Frankfurt/M., New York 2003. Eine Ansammlung aller damit verbundenen Vorurteile und Begriffsverwirrungen dieses erzkonservativen und im Grunde erzkatholischen Humanismus bietet Jean-Claude Giullebaud, Das Prinzip Mensch. Ende einer abendländischen Utopie?, München 2004.

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Macht über unseren Körper haben, ist es besser, mit dem Körper nichts zu machen und nicht mit ihm zu experimentieren. Das Lassen des instrumentellen Körperseins, das das unmittelbare Leibsein im Sinn des nichtinstrumentellen Körperspürens und nicht das vermittelte Leibhaben als Aufgabe betrachtet, ist nichts anderes als der Grundirrtum, die Fundamentalideologie der Körperkonservativen, die sich unter der Kutte der Gelassenheit verstecken, damit niemand ihre panische Angst vor dem Körper erkennt. Die Körperkonservativen verwechseln wie alle Menschen des Ressentiments unbedingte Selbsterhaltung mit Selbstbejahung und erklären das unmittelbare Geworfensein des Körpers als Leib zu dem schlechthin Guten der Körperethik in Trennung vom immer schon vermittelten Körperentwurf, der nun das schlechthin Böse ist. Die Schwäche, keine Selbstmacht über den Körper zu haben und ihm als Leib ausgeliefert zu sein, wird so in eine Stärke umgewertet. Nichtwählbarkeit des Körpers wird zur Grundtugend einer jeder Selbstgestaltung entsagenden Körperethik. Man wartet der Zukunft der menschlichen Natur in nichtstuender Gelassenheit entgegen und rechnet sich dies als Leistung, als Verdienst an. Man kämpft für die Gleichheit aller Menschen vor dem Zufall der Zeugung und braucht dazu beinahe schon wieder „den Glauben an Gott“ (KSA, JGB, 5, 154), wenn auch an den der kommunikativen Vernunft. Man feiert seine Ohnmacht gegenüber dem Zufall als die eigentliche Macht und wundert sich, dass einem die Macht über sich und damit über ein bejahenswertes Leben entgleitet. So ist es nicht verwunderlich, dass das Ressentiment der Körperkonservativen nicht nur zur Vermittelmäßigung, sondern auch zum Niedergang der Körperkultur per Körperzivilisierung führt. Denn die Körperkonservativen wollen keine starken, kühnen, wilden Körperexperimentierer, die freilich zu fürchten und gefährlich sind, weil sie am eigenen Körper die Umwertung aller Werte vollziehen, sondern sie wollen, dass nichts mehr am und im Menschen gefährlich und zu fürchten ist, sie wollen das Leben humanisieren, es zivilisieren, es zähmen. Wie das Christentum wollen auch die Körperkonservativen Herr werden über die Raubtiere, nämlich über die Körperfuturisten, und wie den Christen ist auch den Körperkonservativen das Rezept zur Zähmung, die Gesunden für krank, für abnorm zu erklären, um die Schwachen als Normale stark zu machen (vgl. KSA, AC, 6, 189). Die Stärke der Schwachen besteht darin, mit Geist die Not zur Tugend, die Unterlegenheit zur Überlegenheit umzuwerten, frei nach dem Motto: Wir sind die Avantgarde und wenn wir hinten sind, ist hinten vorn! Die Schwachen leiden an sich und mit den anderen, also erklären sie das Mitleid zur Tugend. Sie fürchten den Krieg, das Chaos, den Egoismus, die Unbeherrschtheit, Unangepasstheit, den unmittelbaren Ausbruch der Leidenschaften, die Unvorsicht, den direkten Kampf, das sofortige Zuschlagen, Grausamkeit und Hass, also erklären sie Frieden, Ordnung, Altruismus, Selbstbeherrschung, Anpassung, affektive Selbstdisziplinierung, Vorsicht, List, Verstellung, Geduld und Liebe zu den Hauptwerten humanen Lebens. Die Starken gehen sofort aufs Ganze, die Schwachen nehmen erst einmal das, was sie kriegen können, und was sie nicht sofort haben können, ist zunächst nicht Gegenstand des augenblicklichen Interesses. Sie können warten, bis ihre Stunde gekommen ist. Sie denken strategisch. Sie haben das Wissen und die intellektuelle Durchtriebenheit, nachhaltig zu handeln. Ihr psychologisches Raffinement versetzt sie in die Lage,

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die affektive Robustheit der Starken als unnormal und barbarisch zu diffamieren. Kurzum: Die Knechte haben das Recht und die Moral sich erarbeiten müssen, mit denen sie nun die Herrn knechten können. Weil die Schwachen ihre Bedürfnisse nur befriedigen können, indem sie an der Arbeit an sich und mit sich deren Befriedigung zunächst hemmen und sie hinausschieben, müssen sie eine andere Welt- und Wertinterpretation durchsetzen als die der affektiv handelnden, unmittelbar genießenden, den Lüsten verfallenden Starken.3 Die ungehemmte Durchsetzung der Werte der Starken macht die Schwachen klüger, weil sie die Schwachen zunächst bedroht und unterwirft und die Knechte sich auf ihre Macht besinnen müssen, wollen sie nicht gänzlich untergehen. Sie haben Geist nötig, um ihre Überlebenswerte durchzusetzen, weil nur in der Vermittlung durch das Nach-Denken die unmittelbare Macht, die überwältigende Gewalt, die Erhabenheit gekonnter Körperbenutzung ohne Reflexion, affektiver Robustheit, blühender Gesundheit, die überschäumende Lust an Krieg, Abenteuer, Jagd, Tanz, Kampfspielen aller Art und überhaupt an allem, „was ein starkes, freies, frohgemuthes Handeln in sich schließt“ (KSA, GM, 5, 267) begrenzt, gebremst, ja blockiert werden kann. Denn die Arbeit des Be-Denkens der Lust hemmt die Lustbefriedigung. Diesen Effekt der Protrahierbarkeit der Lust durch Bedenken der Lust machen sich die Körperkonservativen zunutze: er bewirkt Distanz gegenüber der unmittelbaren Lustbefriedigung, ein Aufschieben und Hemmen, ein Begrenzen der unmittelbaren Lustbefriedigung. Dadurch, dass über Sinn und Unsinn, über Nutzen und Nichtnutzen, über den Gebrauch der Lüste nachgedacht wird, werden diese nicht vollzogen, sondern in Gedanken aufgehoben. – Das Denken der Lust mag zwar bei den körperkonservativen Lustbedenkern, die erst einmal darüber nachdenken, wie man über Lust nachdenken sollte, wenn man denn sicher sein könnte, dass es Lust überhaupt gibt, selbst zur Lust am Denken werden, aber es ist eine in das Denken verschobene Lust, die die für manchen als Krieg der Körper so bedrohlichen interpersonellen Körperlustverhältnisse zu intrapersonellen und aus dem Krieg der Körper einen Krieg der Lüste im Denken macht. Das aber ist genau der zivilisatorische Fortschritt, den sich die so friedvollen und ängstlichen Körperkonservativen wünschen: dass der reale Krieg der Körper intellektuell-diskursiv ausgetragen wird durch ein Nach-Denken der Körper begrenzt wird. Damit der körperkonservative Sklavenaufstand in der Körperethik aber gelingen kann, muss dieses Nachdenken über den Körper selbst einer Norm, die zivilisierend und in diesem Sinne normalisierend wirkt, unterworfen werden. Diese Norm ist die der Selbsterhaltung. Nicht mehr über sich hinaus soll es gehen, nicht Selbststeigerung sei auch die Perspektive unserer Körperselbstverhältnisse, sondern sich möglichst lange auch körperlich zu erhalten, ist oberster Zweck unserer Körperzivilisation. Überschäumende Lust an der Selbststeigerung, Verschwendung von Kraft, Gier nach neuem Leben wird am Maß der Selbsterhaltung ökonomisiert. Der Selbststeigerungswille wird gezähmt, wenn mit ihm haushälterisch nach Nützlichkeitserwägungen umgegangen werden soll. Ungebremste Körperlust erweist sich als Luxus, der nicht nur lebensgefährlich, sondern vor allem auch gefühlsökonomisch und finan-

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Vgl. Friedrich Kaulbach, Nietzsches Idee einer Experimentalphilosophie, Köln, Wien 1980, 256– 269.

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ziell uneffektiv sein kann, denkt man an die investierten Gefühle, die herausgekommene Lust und an den Preis der Gefährdung der Gesundheit. Der Körperkonservative aber ökonomisiert nicht nur seine Körperselbstverhältnisse, er gestaltet sie nicht nur haushälterisch nach Kosten-Nutzen-Erwägungen mit dem Ziel möglichst langer Selbsterhaltung, sondern durch die Körperökonomisierung lernt er auch, Extreme, die mit der Selbststeigerung der Körperfuturisten verbunden sind, zu vermeiden. Nicht nur jede Verschwendung, auch jedes Extrem wird vermieden. Er hält sich in der Mitte, die Mitte wird zum Maß aller Dinge, das Mittelmaß beherrscht nun auch seine schöne neue Körperwelt. Mediokrität ist seine Lebensform und dieses Ethos bestimmt auch seine Körperselbstverhältnisse. – Aber der mediokre Körperkonservative ist noch mehr als durchschnittlich, er ist politisch korrekt, er klagt die Gleichheit aller Menschen ein. Für ihn sind zwar nicht mehr unbedingt alle Menschen vor Gott, aber doch zumindest vor der kommunikativen Vernunft gleich. Dieser Egalitarismus erhebt nicht alle Menschen, wie er es beansprucht, sondern durch Nivellierung erniedrigt er sie auch. Denn mit dem körperkonservativen Egalitarismus ist notwendig eine Vermittelmäßigung aller Menschen gegeben. Alle sollen einem Maß der Mitte entsprechen. Das aber macht zwar die Schwachen stark, die Starken aber schwach, indem diese verkleinert werden, damit sie nicht mehr groß und stark sind. Der körperkonservative Egalitarist ist der letzte Mensch, „der Alles klein macht“ (KSA, ZA, 4, 19). Wie aber verkleinert man die Starken? Dadurch, dass man ihnen ein Bein stellt, sie hinunterzieht, indem man ihre Stärke, ihre Authentizität als niedrig, barbarisch, als menschlich-allzumenschlich, als das normale menschliche Elend skandalisiert, obwohl gerade dies ihre Größe ausmacht. Die Sensationsgesellschaft lebt davon, dass der Kammerdiener keinen Helden, die letzten Menschen keinen Übermenschen kennen und folglich die mediokren körperkonservativen letzten Menschen auch nicht ‚Übermenschen‘ anerkennen, sondern nur immer „Über Menschen“ menscheln wollen, die sich nicht mehr verachten können (vgl. ebd.). In diesem Vermittelmäßigen durch Verkleinern drückt sich der Doppelcharakter des Strebens nach Gleichheit aus. Die Schwachen wollen zu den Starken gehören, wollen bei den Großen und ihnen gleich sein, zu ihnen hinauf, z.B. indem sie ihnen helfen, sich ihnen andienen, sie bewundern, sich mit ihnen freuen, sie verehren. Aber weil sie das nicht können oder weil sie nicht anerkannt werden in ihrem Streben, machen sie sich die Starken gleich, indem sie sie zu sich hinunterziehen. Der letzte Mensch kennt keinen Übermenschen, weil er letzter Mensch ist, der vom Ressentiment gegenüber der eigenen Natur, den eigenen Begierden, Wünschen und Sehnsüchten getrieben wird. Was am Menschen Physis ist, ist ihm bedrohlich und deshalb barbarisch, pervers, nicht menschlich. Er ist unfähig, was am Menschen erhabene Naturgewalt ist, als Größe des Menschen anzuerkennen, und erkennt es daher als das eigentliche Elend des Menschen, dem er nicht unterliegt, wodurch er, der Elend- und Leidenschaftslose, doch wieder zum Großen wird. Der Mensch des Ressentiments wird dem Großen immer nur Kleines abgewinnen, weil er selbst nicht groß sein kann. Ebenso ist er neidisch, wo er stolz sein müsste, weil er selbst nicht der ist, auf den man stolz sein könnte. Das, wozu man sich selbst nicht erheben kann, wird verdächtigt, verunglimpft, beneidet. Eifersucht und

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Neid treiben ihn von der verschmähten Liebe zum tödlichen Hass gegenüber den Starken, der als Wille zur alle umfassenden, alle ergreifenden, alle greifenden Liebe auftritt. In dem mit dem Willen zur Liebe verbundenen Willen zum Mitleiden mit allem und jedem realisiert sich aber auch ein Wille zur Verkleinerung und Herabwürdigung als Wille zur Überlegenheit gegenüber dem Anderen, der de facto ein Wille zur Vernichtung des Anderen ist, weil er dem Anderen seine Eigenheit nehmen will und ihn normalisieren, zivilisieren, erziehen will. Verbunden mit dem Willen zur Verkleinerung und Schwächung ist eine Psychologie und Moral des Kleinmachens, eine ‚kritische Sucht‘, eine Klatsch- und TratschHermeneutik, eine Hermeneutik der Vermittelmäßigung und Verkleinerung, die das, was groß und stark ist am Menschen, zum Niedrigen, Elenden, Ekelhaften, Unbeherrschten und die Vorzüge der Anderen zum Laster erklärt. Und so bringt man die Starken dazu, sich ihrer ‚Vornehmheit‘ zu schämen. Wer sich nicht gleich machen lässt, gilt als unerträglich. Wer sich nicht an die Norm hält, ist geschmacklos. Mit dem Ressentiment werden so nicht nur Selbstdisziplinierung und Zivilisierung zur allumfassenden Norm in der Gesellschaft der Anständigen, auch die Heuchelei greift um sich: unfähig, zu den eigenen Wünschen und Sehnsüchten zu stehen, lehnt man ab, diffamiert und kriminalisiert man, was man selbst nicht kann; man entsagt freudig dem, was man sowieso nicht haben kann. Nichtkönnen, Schwäche, wird so aus einem Mangel zur frei gewählten Tugend der Friedfertigkeit und Bedürfnislosigkeit. Indem sich nun, wie beschrieben, der Sklavenaufstand in der Bioethik durchsetzt, wird aus dem wilden Körper nicht nur der gezähmte Körper, aus der Wiederkehr des Körpers nicht nur der Verlust des Körpers, aus der Körperbesessenheit nicht nur Körpervergessenheit: das Körperressentiment wird selbst Werkzeug einer neuen Körperkultur, die sich als übermäßige Körperzivilisation selbst bedroht. Denn die Humanisierungswerkzeuge des Ressentiments zähmen die Körperselbstverhältnisse des Menschen nicht nur, sie vermittelmäßigen sie auch. Die Zähmung und Vermittelmäßigung der Körperselbstverhältnisse, die sich globalisiert als Vorstellung vom common body, ist allerdings nicht nur negativ „als Rückgang der Menschheit“ (KSA, GM, 5, 276), wozu Nietzsche des öfteren neigt, zu betrachten. Nietzsche hält eindeutig die Vermittelmäßigung des Menschen für einen Fortschritt, da sie eine entscheidende Bedingung der Möglichkeit für die Züchtung des Übermenschen ist: „Die selben neuen Bedingungen, unter denen im Durchschnitt eine Ausgleichung und Vermittelmäßigung des Menschen sich herausbilden wird – ein nützliches arbeitsames, vielfach brauchbares und anstelliges Heerdenthier Mensch – sind im höchsten Grade dazu angethan, Ausnahmemenschen der gefährlichsten und anziehensten Qualität den Ursprung zu geben“ (KSA, JGB, 5, 183). Nietzsche wendet sich allerdings dagegen, dass der im Prozess der Demokratisierung Europas erzeugte Mehrheitstyp von „geschwätzigen, willensarmen und äusserst anstellbaren Arbeitern“, „die des Herrn, des Befehlenden bedürfen, wie des täglichen Brodes“, dass dieser zur „Sklaverei im feinsten Sinne vorbereitete Typus“ von Mensch (ebd.), indem er sich flexibilisiert, zivilisiert und mäßigt, dass dieser „zahme Mensch“, dieser „Heillos-Mittelmäßige“, sich als „Ziel und Spitze“, als Sinn der Geschichte, als „höherer Mensch“ fühlt (KSA, GM, 5, 277). Er räumt andererseits aber auch ein, dass der zahme mittelmäßige Mensch „ein gewisses

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Recht darauf hat, sich so zu fühlen, insofern er sich im Abstande von der Überfülle des Missrathenen, Kränklichen, Müden, Verlebten fühlt, nach dem heute Europa zu stinken beginnt“ und durch diese Distanz gegenüber den mißlungenen, kränkelnden, lebensmüden Menschen „etwas wenigstens relativ Gerathenes, wenigstens noch Lebensfähiges, wenigstens zum Leben Ja-sagendes“ ist (ebd.). Aber dieser schon relativ „gut geratene“ zivilisierte Mensch, dieses „zahme und civilisierte Thier“, dieses „Hausthier“ (ebd., 276), braucht selbst „den Blick auf etwas Vollkommenes, zu-Ende-Gerathenes, Glückliches, Mächtiges, Triumphierendes, an dem es noch etwas zu fürchten giebt! Auf einen Menschen, der den Menschen rechtfertigt, auf einen complementären und erlösenden Glücksfall des Menschen, um dessentwillen man den Glauben an den Menschen festhalten darf!“ (ebd., 278). Die letzten Menschen brauchen eine Gegenbewegung, die sie selbst aus sich heraus über sich hinaus führt. Die Funktion des entgrenzenden inhumanen Körperfuturismus gegenüber dem humanen Körperkonservatismus besteht demzufolge darin, dass er hilft, durch eine Perspektive des Menschen von sich selbst die Ermüdung des Menschen an sich selbst, den selbstverschuldeten Nihilismus in bezug auf sich selbst, den die Körperzivilisierung und -konservierung notwendig erzeugt, zu korrigieren und aufzuheben: „Denn so steht es: die Verkleinerung und Ausgleichung des europäischen Menschen birgt unsre grösste Gefahr, denn dieser Anblick macht müde … Wir sehen heute Nichts, das grösser werden will, wir ahnen, dass es immer noch abwärts, abwärts geht in’s Dümmere, Guthmüthigere, Klügere, Behaglichere, Mittelmässigere, Gleichgültigere, Chinesischere, Christlichere – der Mensch, es ist kein Zweifel, wird immer ‚besser‘ … Hier eben liegt das Verhängnis Europa’s – mit der Furcht vor dem Menschen haben wir auch die Liebe zu ihm, die Ehrfurcht vor ihm, die Hoffnung auf ihn, ja den Willen zu ihm eingebüsst“ (ebd.). Der Wille zum Übermenschen, den die Körperfuturisten verkörpern, gibt dem humanisierenden Körperkonservatismus erst wieder eine Perspektive, indem im Anschein des Antihumanismus der Humanismus als Transhumanismus verwirklichbar wird. Andererseits hat das zivilisierende Körperressentiment nicht nur die Funktion der Ermöglichung einer höheren Körperkultur durch Demokratisierung der Körperzivilisierung, sondern sie hat auch eine Warnfunktion für die Zukunft der Höherzüchtung der Körpers: sie warnt vor den möglichen Gefahren einer ungebremsten, nicht reflektierten Körpertechnologisierung und ruft daher zur Selbstkorrektur unkritischer Körperinstrumentalisierung auf, die zur totalen Körpervernutzung im organlosen Körper führen kann und somit zur völligen Menschenvernutzung. – Diese real vorhandene Gefahr der Leibund Lebensvernichtung durch Körpervernutzung, weil auf den Körper in seinem Eigensein, weil auf den Selbstwertcharakter des Körpers nicht Rücksicht genommen und er versklavt wird, berücksichtig die Position des Körperkulturalismus, in dem er die Körperinstrumentalisierung im Sinne einer Körperökologie systematisch umwendet, sie am Maß der Rechte des Körpers perspektiviert und die Instrumentalisierung des Körpers dadurch begrenzt, aber auch entgrenzt für neue Perspektiven der Autoevolution des Menschen. Der Körperkonservatismus braucht den Körperfuturismus, damit der Mensch nicht an den Begrenzungen seiner Selbsterhaltung an sich müde wird und sich selbst ver-

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liert. Der Körperfuturismus braucht den Körperkonservatismus, damit der Mensch nicht an den Entgrenzungen seiner Selbststeigerung sich ekelt und sich selbst zerstört. Der Körperkonservatismus kriminalisiert den Körperfuturismus zu Recht, weil die Starken, werden sie nicht begrenzt, mit den Werten brechen, die die Schwachen sichern, wie der Körperfuturismus zutreffend den Körperkonservatismus diffamiert, weil, wird auch er nicht eingeschränkt, durch die Vorherrschaft der Werte der Schwachen die Höherzüchtung der Schwachen zu Starken verhindert wird. Genauso wie Mensch und Unmensch sich brauchen, um durch wechselseitige Selbstkorrektur funktional den Übermenschen zu erzeugen, so brauchen sich Leibwächter und Leibzerstörer, um sich nicht selbst zu zerstören und miteinander und gegeneinander den Transkörper zu erzeugen. Im Kontext der Selbstreproduktion der Menschen im Übermenschen ist das Körperressentiment der Körperkonservativen nicht nur negativ zu deuten, sondern auch positiv als notwendige Bedingung menschlichen Seins. Denn das Körperressentiment kriminalisiert nicht nur eine ungehemmte Körperinstrumentalisierung, es problematisiert dadurch ihre notwendige Begrenzung und wirkt so positiv kultivierend und gestaltend auf die Zukunft des Körpers ein, die der Körperkonservatismus gern verhindern möchte. Demzufolge ist Nietzsches Analyse und Darstellung des Ressentiments nicht bloß als apokalyptische Kulturkritik, sondern auch in bezug auf die Körperselbstverhältnisse des Menschen vor allem als Analyse grundlegender inter- und intrapersoneller Seinsstrukturen des Menschen zu begreifen, durch die sein humanes Dasein möglich wird.

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Philosophie erzählt?! Ein Blick auf Carson McCullers Ballade vom traurigen Café im Kontext von Nietzsches Analyse des Ressentiments

„Eigentlich hat alles, was meine Generation diskutierte, innerlich sich auseinanderdachte, man kann sagen: erlitt, man kann auch sagen: breittrat – alles das hatte sich bereits bei Nietzsche ausgesprochen und erschöpft, definitive Formulierung gefunden, alles weitere war Exegese.“1 Mit diesem Resümee bezieht Gottfried Benn 1950 deutlich Stellung zu Friedrich Nietzsche, der für ihn der epochemachende, Zeit- und Kulturverständnis umwertende Denker ist, nach dem sich das Problembewusstsein aller folgenden Generationen ausrichtet, bzw. auszurichten hätte: Nietzsche als der Gedanken vorwegnehmende Diagnostiker überhaupt! Es bleibt natürlich die Frage, ob, inwieweit und für wen eine solche Positionierung Gültigkeit haben kann. Allgemein bekannt ist, dass Nietzsche von vielen großen Literaten des 20. Jahrhunderts, wie Thomas Mann oder Robert Musil, direkt rezipiert wurde, diese von der Lektüre Nietzsches in Briefen oder Notizen berichten und sich in ihren Werken mit seinem Denken auseinandersetzen. Aber auch eine andere Art der Rezeption ist denkbar, eine, die die von Nietzsche aufgewiesenen Phänomene bezüglich des menschlichen Wollens und Seins und der menschlichen Verfasstheit immer wieder und auf neue Weise zum Ausdruck bringt, ohne eine explizite Auseinandersetzung mit Nietzsche schriftlich zu dokumentieren. Diese Art der Rezeption im Sinne einer freien Übernahme und Ausgestaltung von Nietzsches Denken, zu einer anderen Zeit oder innerhalb eines anders gearteten Kontextes, verweist auf das ‚un‘- bzw. ‚über‘zeitliche Moment in Nietzsches Philosophieren, das fern von theoretischen Konstruktionen auf der Suche nach ‚wesentlichen‘ bzw. ‚eigentlichen‘ Strukturen der menschlichen Lebenswirklichkeit ist und in diesem Sinne für ein nicht-philosophiehistorisch orientiertes Bewusstsein aktuell bleibt. In diesem Beitrag wird der Blick auf das von Nietzsche in seiner Genealogie der Moral beschriebene ‚psychologische‘ Phänomen des Ressentiments geworfen, auf den Typus des Ressentimentmenschen, der in Carson McCullers Novelle Die Ballade vom traurigen Café2 von 1943 in literarischer Form neue Gestalt erhält. Diese Art der Unter1

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Gottfried Benn, „Nietzsche nach 50 Jahren“, in: Ders., Gesammelte Werke in der Fassung der Erstdrucke, Bd. 3: Essays und Reden in der Fassung der Erstdrucke, mit einer Einführung hg. von Bruno Hillebrand, Frankfurt/M. 1989, 495. Carson McCullers, Die Ballade vom traurigen Café, aus dem Amerikanischen von Elisabeth Schnack, Zürich 1971.

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suchung versucht zu zeigen, inwieweit Nietzsche in der Genealogie der Moral ein menschliches Grundphänomen in struktureller Hinsicht schildert, das auch noch über ihn hinaus Gegenstand des ‚Bedenkens‘ bleibt. Am Beispiel eines Werks McCullers, einer amerikanischen Schriftstellerin der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, bei der man nicht von einer direkten Rezeption ausgehen kann, soll gezeigt werden, wie dieses ‚Thematisch-Bleiben‘ von Nietzsches Denken in und an der literarischen Umsetzung deutlich wird.

I. Vorbetrachtung: literarische Inszenierung und philosophisches Gedankengut Die wechselseitige Betrachtung von Literatur und Philosophie wirft die Frage auf, inwieweit eine Erzählung philosophisches Gedankengut transportieren und in welcher Art und Weise dies geschehen kann. Ohne in den gegenwärtigen Diskurs der narrativen Philosophie eintreten zu wollen, ist zu zeigen, wie mittels unterschiedlicher Darstellungsformen strukturell gleicher Phänomene verschiedene Erkenntnisdimensionen eröffnet werden, die sich gegenseitig erhellen bzw. erweitern können. Gerade Nietzsches philosophisches Gesamtwerk zeichnet sich nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch und methodisch durch seinen Variationsreichtum aus; er experimentiert mit verschiedensten Stil- bzw. Darstellungsformen (Aphorismen, Metaphern, Gleichnissen), um seinen Gedanken den passenden Ausdruck zu verleihen. Seine Sprache ist zumeist zwischen „Dichten und Denken“3 zu verorten. In diesem ‚Zwischen‘ versucht er seinen ‚neuen Wahrheiten‘ Gehör zu verschaffen. „Sinn und Stil von Nietzsches Schriften lassen sich […] nicht trennen, ihr Sinn spricht sich immer auch in ihrem Stil aus.“4 Die spezifische Sinnvermittlung bedarf eigener Darstellungsweisen, um ein neuartiges, nicht eindimensionales Verstehen zu evozieren. Nietzsche, der Dichter, Psychologe und Philosoph, fordert neue Ohren5 von seinen Lesern und Offenheit für neue Bedeutungsdimensionen, für neue Verstehens- und Erkenntnisweisen, die die traditionellen hinter sich lassen. Er spricht in verschiedensten Stimmen seine Vorhaben, seine Ziele mit einer ihm eigenen „Freimüthigkeit“ aus: „Vielleicht auch, dass ich in der Freimüthigkeit meiner Erzählung weiter gehn muss, als den strengen Gewohnheiten eurer Ohren immer liebsam ist?“ (KSA, JGB, 5, 238), sieht im poetischen, literarischen Erzählen neue Mitteilungsmöglichkeiten und nutzt diese aus. Im Folgenden wird der Blick auf eine Erzählung gerichtet, um auf das ihr immanente philosophische Potenzial hinzuweisen. Indem die literarische Inszenierung einer philosophischen Theorie erzählend Gestalt verleihen kann, kommt sie Nietzsches Forderung nach neuen Verstehenshorizonten nach. Dabei ist zu beachten, inwieweit die philosophische Betrachtung eines literarischen Textes neue Verstehensdimensionen stiftet und 3 4 5

Muneto Sonoda, „Zwischen Dichten und Denken“, in: Nietzsche-Studien 1 (1972). Werner Stegmaier, Nietzsches ›Genealogie der Moral‹, Darmstadt 1994, 57. „‚Da stehen sie‘, sprach er zu seinem Herzen, ‚da lachen sie: sie verstehen mich nicht, ich bin nicht der Mund für diese Ohren. Muss man ihnen erst die Ohren zerschlagen, dass sie lernen, mit den Augen hören?‘“ (KSA, ZA, 4, 18).

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der literarische Text in seiner Form philosophisches Gedankengut in anderer Weise fruchtbar machen kann, indem er den Leser spielerisch fiktional zur Problematisierung dessen einlädt, was er sicher zu wissen glaubt. Untersucht werden dabei die strukturellen Übereinstimmungen der Auslegung des ‚Menschseins‘ in Nietzsches Deutung des Ressentimentmenschen und dessen literarische Ausgestaltung in der Novelle von McCullers.

II. Das Ressentiment bei Nietzsche Es stellt sich die Frage, was Nietzsche unter dem Typus des Ressentiments und unter dem Begriff des Ressentiments versteht. Für ihn ist mit dem Ressentiment das Schlüsselphänomen gefunden, das verständlich macht, wie ‚moralische Werte‘ entstehen konnten; Werte, die nach Nietzsche nachträglich konstruierte und ‚uneigentliche‘ in der Art ihrer lebensverneinenden Ausrichtung sind, sozusagen ‚Werte gegen das Leben‘.6 Er führt in der Genealogie der Moral vor, wie mittels des Ressentiments die Schwächeren Herr über die ursprünglich Stärkeren werden konnten, wie die in seinem Sinne natürlichen Rangunterschiede verschiedener Menschentypen umgewertet werden konnten. Dazu weist er die strukturelle Verfasstheit beider Menschentypen auf. Menschsein heißt in Nietzsches Sinne Leibsein, wie er es im Zarathustra verdeutlicht: „Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem“ (KSA, ZA, 4, 39). Der Leib ist Ausdruck der Wesensbeschaffenheit des Menschen, seines schaffenden Selbst: „Hinter deinen Gedanken und Gefühlen, mein Bruder, steht ein mächtiger Gebieter, ein unbekannter Weiser – der heisst Selbst. In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er“ (ebd., 40). Die körperliche Verfasstheit des Leibes verweist auf das Maß an Stärke bzw. Schwäche im Menschen.7 – Wodurch und wie zeichnet sich diese Geartetheit des Ressentimentmenschen aus und was bedeutet diese für dessen ‚Seinszustand‘? Es handelt sich, innerhalb der Ressentimentausbildung8, um ein Zusammenspiel der Faktoren der ‚Schwäche‘, der ‚Ohnmacht‘, des ‚Leidens daran‘, des aufkommenden ‚Hasses‘, der ‚Klugheit‘ (des ‚Geistes‘), der ‚imaginär konstruierten Rache‘, die im „Sklavenaufstand in der Moral“ (KSA, GM, 5, 270) zu einer folgenschweren Umwertung führen, als deren Ergebnis das Werten in Gut und Böse anzusehen ist. Nietzsche fordert dazu auf, sich über die Entstehungsbedingungen und Umstände Klarheit zu verschaffen, um die ‚gegenwärtige‘ moralische Wertungsweise verstehen zu können. In dieser Hinsicht richtet er seinen Blick auf die Gewordenheit bzw. den Ursprung der Wertungsweisen. Dies geschieht in einer physischen und psychischen Perspektive auf den Menschen und dessen Handlungsweise. Nietzsche erkennt so die Mo6

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Die folgende Betrachtung geht weniger auf das schöpferische Element des Ressentiments und das moralische Werten ein, vielmehr wird der Typus des Ressentiments in seiner ‚psycho-physiologischen‘ Verfasstheit in den Vordergrund gestellt. Dazu: Karen Joisten, Die Überwindung der Anthropozentrizität durch Friedrich Nietzsche, Würzburg 1994, 140ff. Vgl. Dies., „Der Weg Zarathustras als der Weg über den Menschen“, in: Nietzscheforschung, Bd. 9 (2002). Vgl. Dies., Die Überwindung der Anthropozentrizität durch Friedrich Nietzsche, 154.

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ral als das Niedergangssymptom, das zwei Menschentypen qualitativ voneinander unterscheidet, den Höheren/Vornehmen und den Niederen/Schwachen. Der Herr zeichnet sich durch eine große Gesundheit aus, einen gesunden starken Leib, ein vollständiges Sein. Er besitzt ein ursprünglich und unmittelbar positives Gefühl sich selbst gegenüber, agiert daher frei, spontan, ohne schiefen Seitenblick auf ein Außen,9 da er seine Stärke in sich selbst findet.10 In der Geschichte der christlichen Moral zeichnet sich aber ein Prozess der ‚Ent-Selbstung‘ ab. Die Schwachen, die sich nicht auf ihr eigenes Selbst ausrichten, erlangen mit Hilfe moralischer Mittel die Herrschaft über die ursprünglich und natürlich Starken. Sie agieren so auf Umwegen, um ihre Schwäche umzuwerten, und diese indirekte ‚Umweghaftigkeit‘ verweist auf ihr negatives Selbstverhältnis.11 Die Schwäche der Schwachen unterscheidet sie in ‚psycho-physiologischer‘ Weise von den Vornehmen, besonders in Hinsicht auf den Umgang mit dem Ressentiment, einer lebhaft empfundenen gefühlsmäßigen Abneigung, deren Nachwirkungen körperlich erlebt werden. Der Vornehme zeichnet sich dadurch aus, dass ihm das Ressentiment zwar bekannt ist, ihn aber nicht ‚existentiell‘ kennzeichnet, denn „[d]as Ressentiment des vornehmen Menschen selbst, wenn es auftritt, vollzieht und erschöpft sich nämlich in einer sofortigen Reaktion, es vergiftet darum nicht“. Ihn zeichnet ein „tapfere[s] Drauflosgehn“ aus (ebd., 273). Der Schwache vermag dieses Ausagieren aufgrund seiner fundamentalen Schwäche, die sich in seiner Machtlosigkeit, seiner ‚Ohnmacht‘ gegenüber dem Starken äußert, nicht. Das Ressentiment auf Seiten des Schwachen kann also als eine Art „Disposition, die sich ausbildet, wo ‚die eigentliche Reaktion, die der That, versagt ist‘“12, verstanden werden. Der Schwache kann aufgrund seiner strukturellen Verfasstheit, die sich als ‚psycho-physiologisches‘ Defizit im Verhältnis zum Vornehmen zeigt, nicht unmittelbar reagieren, da ihm die Kräfte und Möglichkeiten zu einer solchen aktiven Reaktion fehlen. In diesem Sinne kann er sich nur „durch einen Akt der geistigen Rache Genugthuung“ verschaffen (ebd., 267). Der Schwache macht sich eine hinterhältige Klugheit zunutze, um sich zu rächen: „Eine Rasse solcher Menschen des Ressentiment wird [deshalb] nothwendig endlich klüger sein als irgend eine vornehme Rasse, sie wird die Klugheit auch in ganz andrem Maasse ehren: nämlich als eine Exis9 10

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Vgl. Dies., „Der Weg Zarathustras als der Weg über den Menschen“, 36. „Während der vornehme Mensch vor sich selbst mit Vertrauen und Offenheit lebt […], so ist der Mensch des Ressentiment weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu. Seine Seele schielt; sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hinterthüren, alles Versteckte muthet ihn an als seine Welt, seine Sicherheit, sein Labsal“ (KSA, GM, 5, 272). „Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert: Das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der That versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten. Während alle vornehme Moral aus einem triumphirenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem ‚Ausserhalb‘, zu einem ‚Anders‘, zu einem ‚Nicht-selbst‘: und dies Nein ist ihre schöpferische That. Diese Umkehrung des werthesetzenden Blicks – diese nothwendige Richtung nach Aussen statt zurück auf sich selber – gehört eben zum Ressentiment: die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Gegen- und Aussenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äusserer Reize, um überhaupt zu agiren, – ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion“ (KSA, GM, 5, 270f.). Werner Stegmaier, Nietzsches ›Genealogie der Moral‹, 119.

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tenzbedingung ersten Ranges“ (ebd., 272f.). Die Schwäche des Schwachen ist seine Krankheit; ihm mangelt es an ‚leiblicher‘ Gesundheit, er leidet unter seiner Machtlosigkeit. Das Ohnmachtsgefühl gegenüber der eigenen Schwäche nimmt überhand, aus „der Ohnmacht wächst […] der Hass in’s Ungeheure und Unheimliche, in’s Geistigste und Giftigste“ (ebd., 266f.). Bei der Seinsverfasstheit des Schwachen handelt es sich um eine „Verarmung des Lebens“, im Gegensatz zum Vornehmen in seiner lebendig jasagenden Gesundheit. 13 Ein weiteres Merkmal der strukturellen Verfasstheit dieses Typus ist, dass er nicht vergessen kann. Das Vermögen zu vergessen tritt beim Vornehmen als ein „positives Hemmungsvermögen“ auf, als eine Form seiner Gesundheit: „Seine Feinde, seine Unfälle, seine Unthaten selbst nicht lange ernst nehmen können – das ist das Zeichen starker voller Naturen, in denen ein Überschuss […] ausheilender, auch vergessen machender Kraft ist“ (ebd., 273). Der Mensch des Ressentiments dagegen vergisst nicht, „er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sichverkleinern, Sich-demüthigen“ (ebd., 272). Er durchlebt, durchfühlt alles wieder und ‚wider‘. In diesem Sinne leidet er schicksalhaft an seinem Dasein. Das Dasein wird als Verletzung an sich empfunden, die ihn konstant schmerzt, und es entsteht eine unbändige Gier nach Rache an den Gesunden, die als Übeltäter seines Schicksals konstruiert werden. Das Bild des Bösen entsteht so imaginär. Der Schwache bildet sich ein ‚Gegenüber‘, an dem er sich wenigstens geistig rächen kann, um seinen Mangel an Stärke und Gesundheit zu verdrängen. Deshalb ist der Mensch des Ressentiments hinterhältig. Sein Hass kann sich nicht unmittelbar entladen, er wartet seine Zeit ab, erfindet sich mit List Mittel und Wege, um sich hinterrücks zu rächen, auf uneigentliche Art und Weise. Der Mensch des Ressentiments ‚ist‘ so nicht im positiven Sinne, sondern er ist ein ‚Nicht-bei-sich-selbst-Sein‘.14 Deutlich wird dies durch das ‚Nicht-gerade-blickenkönnen‘ des Ressentimentmenschen; das ‚Schielen‘ ist Ausdruck seiner Verfasstheit und seines Selbstbezuges. In diesem Sinne muss der Blick als ein leiblicher verstanden werden, als die Art seiner Selbstauslegung, die die strukturelle Grundverfassung seines Menschseins in Gestalt und Haltung widerspiegelt. Der Mensch des Ressentiments kann nicht gerade zu sich selbst sein. Sein Blick richtet sich nach anderem, um über sich selbst hinwegzusehen.15

III. Menschen des Ressentiments: McCullers Ballade vom traurigen Café Nun ist zu untersuchen, wie dieser Typus des Ressentiments in der Figurenzeichnung McCullers Gestalt gewinnt. In ihrer Erzählung legt die Autorin besonderes Gewicht auf 13 14 15

Vgl. Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist, Darmstadt 1982, 438. Vgl. Karen Joisten, Die Überwindung der Anthropozentrizität durch Friedrich Nietzsche, 147ff. „[V]ielmehr frage man sich doch, wer eigentlich ‚böse‘ ist, im Sinne der Moral des Ressentiment. In aller Strenge geantwortet: eben der ‚Gute‘ der andren Moral, eben der Vornehme, der Mächtige, der Herrschende, nur umgefärbt, nur umgedeutet, nur umgesehen durch das Giftauge des Ressentiment“ (KSA, GM, 5, 274).

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das äußere Erscheinungsbild der Figuren, das ein Spiegel ihres Inneren ist. Die leibliche Verfasstheit ist Ausdruck der inneren Geartetheit des beschriebenen Typus, wie es auch bei Nietzsche zu lesen ist. Inhaltlich kreist die Novelle um die scheiternden Liebesbeziehungen der Protagonisten Miss Amelia Evans, Vetter Lymon und Marvin Macy, die sich alle als ressentimentbeladene bzw. -anfällige Figuren lesen lassen: dabei ist die Figur des Krüppels (Vetter Lymon) als ‚vollständigste‘ Verkörperung des Ressentimentmenschen anzusehen. Über den Verlauf der Dreiecksbeziehung wird im Zusammenhang mit der Entstehung des Stadtcafés in Amelias Haus, dem gesellschaftlichen Mittelpunkt des Ortes, berichtet, dessen Gründung sich dem Einzug eines Fremden in die Stadt verdankt. Miss Amelia, eine geschäftstüchtige reiche Frau, unterhält vor dessen Auftauchen einen Laden, fungiert in der Stadt als Ärztin und wird, trotz ihrer rohen Art und ihrer Vorliebe für Rechtsstreitigkeiten, von den Stadtbewohnern geschätzt. Eigentlich ist sie mit Marvin Macy verheiratet, den sie aber nach nur zehntägiger Ehe vertrieben hat. Seit diesem Vorfall lebt sie allein, führt bewusst ein selbstbestimmtes Leben. – Eines Tages taucht Lymon Willis vor der Veranda Amelias auf. Er gibt sich als ihr Vetter aus und wird zur Verwunderung der übrigen Stadtbewohner von ihr aufgenommen; sie verliebt sich nach kurzer Zeit in ihn. Bei Lymon handelt es sich nicht um einen ‚normalen Durchschnittsmenschen‘, sondern um einen kränkelnden Krüppel, der gepflegt werden will (was Amelia auch tut); um einen, der stets auf der Suche nach gesellschaftlichem Vergnügen und Ablenkung ist. – Mit der Rückkehr Marvin Macys, der nach dem Rauswurf sein Leben als Verbrecher auf der Straße und im Zuchthaus zubringt, schlägt die Erzählung um. Lymon verliebt sich beim ersten Anblick in Macy und führt diesen ins Haus Amelias ein, obwohl er um ihren Hass und Marvin Macys Rachebedürfnis weiß. Nach kurzer Zeit kommt es zum Zweikampf zwischen der maskulinen Miss Amelia und Marvin Macy, der mit Hilfe des Eingreifens von Vetter Lymon siegen kann. Nach dem Kampf verwüsten die beiden das Haus bzw. das Café und flüchten aus der Stadt. Amelia bleibt zurück, öffnet das Café nicht mehr, lebt allein und verbittert in ihrem Haus, das langsam zerfällt. Vetter Lymon ist in seiner Gestalt und seinen Charaktereigenschaften die auffälligste Figur des Textes. Er wird als fremdartige, schwer erkennbare Kreatur beschrieben, von der es heißt: „Erst als die Gestalt ganz nahe war und in den gelben Lichtkreis der Veranda trat, erkannten sie deutlich, was da gekommen war.“16 Zunächst wird er als eine Sache erkannt, nicht als Mensch. Er gibt sich als Verwandter Miss Amelias aus, was er durch ein veraltetes Bild zu beweisen versucht; die Erzählung lässt jedoch vermuten, dass es sich dabei um eine Lüge handelt, der es an Überzeugungskraft mangelt. Der Krüppel versucht, sich auf diese Weise Nähe zu erschleichen, die er auf redlichem Weg nicht erreichen könnte. Dies verweist auf seine gesamte ‚strukturelle‘ Verfasstheit, die an seinem Äußeren sichtbar wird. Lymon ist ein verkrüppelter Buckliger, mit „krummen“, dürren Beinchen, kaum einen Meter zwanzig groß, dessen Gesicht „sowohl weich[e] wie unverschämt[e]“ Züge aufweist und „unter [dessen] Augen […] blaßblaue Schatten [liegen]“.17 In seinem Aussehen verkörpert sich die Art des ‚Nicht-Gesunden‘ 16 17

Carson McCullers, Ballade, 11. Dies., ebd.

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schlechthin. Im Spiel mit seiner Schwäche und indem er sich selbst als bedauerns- und bemitleidenswert darzustellen weiß, erlangt er die Liebe Amelias und ändert daraufhin sein Gebaren. Er wertet seine eigene ‚Seinsweise‘ auf, um seine Schwäche und das Leiden daran zu verdrängen. Lymon zeigt sich beim Essen anspruchsvoller als Amelia, er lässt sich von ihr neu einkleiden, um ein ‚Anderer‘ zu sein, als er eigentlich ist und tritt sofort als eine Art ‚wichtige Persönlichkeit‘ innerhalb der Gesellschaft auf. Er bedarf dieses Präsentierens in einer Außenwelt, in der er sein Vergnügen sucht, um sich abzulenken, denn er findet in sich keinen gesunden Kern, mit dem er sich beschäftigen könnte. Ganz im Sinne Nietzsches: Er kann nicht bei sich selbst sein und findet in sich nichts, auf das er sich ausrichten könnte. Sein Selbst erscheint in dieser Hinsicht als ein ‚Verkümmertes‘, als ein ‚Ent-Selbstetes‘ im Sinne eines nicht-gesunden Seins, an dem er aufgrund des negativen Selbstverhältnisses machtlos und dauerhaft leidet. – In dieser Schilderung stimmt die Figur Vetter Lymons mit dem von Nietzsche geschilderten Typus des Ressentiments überein, der seine Schwäche auf ‚geistige‘ Weise umwertet, seine Seinsweise nicht positiv ausagieren kann und deshalb seine Ohnmacht und sein Leiden daran mit List überspielt. Lymon ist listig, „ein großer Unheilstifter“, der voller Neugier in allen Angelegenheiten herumschnüffeln muss und oftmals lügt, um etwas aus sich zu machen, das er nicht ist. Das Überspielen seiner ‚eigentlichen‘ Verfasstheit ist die einzige Weise seiner Selbstauslegung. Mit „listiger Miene [hält er] Umschau“18 im Sinne eines Lauerns, das seine Zeit abzuwarten weiß und dabei nichts vergisst. Seine Aktionen sind verzögert, seine Rache vollzieht sich hinterhältig auf Umwegen. Diese Art des Agierens kann man als nachträglich konstruierte bezeichnen. Deshalb ist es dem Buckligen auch so wichtig, über alle und alles Bescheid zu wissen, um Menschen gegeneinander aufzubringen: „[U]nd es war das reinste Wunder, wie er die Leute, ohne selbst ein Wort zu sagen, gegeneinander aufhetzen konnte. […] Er schnüffelte überall herum, wußte über die geheimsten Angelegenheiten aller Leute Bescheid und mischte sich jederzeit in alles ein.“19 So kann er sich durch eine imaginär konstruierte Rache geistig Genugtuung verschaffen. Auch sein Blick ist vom Ressentiment gekennzeichnet. Mit dem „Giftauge des Ressentiment“ (ebd., 274), schielt er immer nach den Anderen und stachelt sie durch ‚geistige‘ Akte gegeneinander auf. Sein Geist, seine Seele lieben, mit einem Ausdruck Nietzsches, „Schlupfwinkel“, um sich hinterhältig „einzuschmeicheln“.20 In seinem Einschmeicheln wertet er seinen eigenen Status in der Gesellschaft um. – Auch sein Verhalten gegenüber Marvin Macy, den er liebt, ist typisch für seine strukturelle Verfasstheit. Er geht nicht frei und unmittelbar auf ihn zu, sondern schleicht ihm hinterher, versucht, mit kleinen Kunststücken seine Aufmerksamkeit zu erlangen: „Vetter Lymon verstand sich auf ein komisches Kunststück, das er immer vorführte, wenn er sich bei jemand einschmeicheln wollte. […] Er hatte seinen Trick stets angewandt, wenn er Miss Amelia etwas Besonderes abschmeicheln wollte, und sie fand ihn unwiderstehlich. Auch jetzt, als er so dastand, wackelte er wie verrückt mit den Ohren, doch diesmal blickte er nicht Miss Amelia an. Er lächelte Marvin Macy zu, und zwar so flehentlich, 18 19 20

Dies., ebd., 64. Dies.,ebd., 64f. Dies., ebd., 79.

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daß er fast verzweifelt wirkte.“ 21 Diese Hervorhebung eines einzelnen Vermögens, bei Lymon eines Körperteils, erinnert an den ‚Bruchstückmenschen‘ im Zarathustra, ein Mangelwesen, das immer nur aus und mittels einzelner Teile agiert, dessen Leib im Sinne seiner ‚Seinsweise‘ ein verkümmerter ist, was wiederum ein Merkmal des Ressentimentmenschen ist.22 Als letzter Aspekt sei angeführt, in welchem Sinne man in McCullers Novelle davon sprechen kann, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird. Im Zweikampf zwischen Amelia und Macy bleibt der Bucklige entsprechend seiner Schwäche zunächst auf Distanz, er wagt nicht, selbstbestimmt bzw. aktiv einzugreifen. Als Amelia jedoch zu siegen scheint, wird er von seinen innerlich aufgestauten und unausgelebten Affekten so ergriffen, dass sie ihn auf sie springen lassen und der Kampf für Macy entschieden wird. – Auch wenn einzelne Aspekte des Ressentimentmenschen (wie der Hass) in der Figur Lymons nicht explizit ausgestaltet sind, wie dies in Nietzsches Schilderungen der Fall ist, so ist doch zu erkennen, dass McCullers dem Typus des Ressentiments in ihrer Erzählung in neuer Weise Gestalt verliehen hat. Die Figur Lymons, des Buckligen, spiegelt den ‚entselbsteten‘ Typus Nietzsches wider, dessen Schwäche sich in seiner leiblichen Verfasstheit niederschlägt. Er leidet an seiner Schwäche. Das Leid potenziert sich in ihm innerlich und entlädt sich, sich auf Umwegen rächend, an einem beneideten Gegenüber.

IV. Schlussbetrachtung Durch McCullers Ausgestaltung werden Nietzsches philosophische Ausführungen zum Ressentiment im Kontext der Fiktion wieder lebendig, finden im literarischen Erzählen neue Gestalt. McCullers Novelle wird ihrerseits im Betrachten der strukturellen Beschaffenheit der Figuren über die textimmanenten Aussagen hinaus erhellt und um einen Verstehenshorizont erweitert; das Scheitern der Beziehungen ist aus dieser Perspektive von Anfang an in der ‚ressentimentbeladenen‘ Figurenkonzeption angelegt, die Protagonisten verkörpern implizit den ‚Kampf des Ressentiments‘. Der philosophische Blick wirkt in dieser Hinsicht einer eindimensionalen Lesart der Novelle entgegen. Er eröffnet weitere Sinnebenen, die potentiell im Text angelegt sind und über die rein fiktionale Ebene des literarischen Werks hinausweisen. Nietzsche hat mit seiner Kritik an der Ressentiment-Moral eine psychologische Konstituente des menschlichen Seins aufgewiesen, es problematisiert; einen Hinweis auf dieses Phänomen fand er sicherlich nicht zuletzt in literarischen Vorlagen wie z.B. bei 21 22

Dies., ebd., 80. „‚das ist ein Ohr! Ein Ohr, so gross wie ein Mensch!‘ Ich sah noch besser hin: und wirklich, unter dem Ohre bewegte sich noch Etwas, das zum Erbarmen klein und ärmlich und schmächtig war. Und wahrhaftig, das ungeheure Ohr sass auf einem kleinen dünnen Stiele, – der Stiel aber war ein Mensch! Wer ein Glas vor das Auge nahm, konnte sogar noch ein kleines neidisches Gesichtchen erkennen; […] Aber ich glaubte dem Volke niemals, wenn es von grossen Menschen redete – und behielt meinen Glauben bei, dass es ein umgekehrter Krüppel sei, der an Allem zu wenig und an Einem zu viel habe“ (KSA, ZA, 4, 178).

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Fjodor Michailowitsch Dostojewskis, den er in der Götzen-Dämmerung als „einzigen Psychologen […], von dem [er] etwas zu lernen hatte“ (KSA, GD, 6, 147), anführt.23 In diesem Beitrag wurde bewusst keine literarische Vorform des Ressentimenttypus als Untersuchungsgegenstand gewählt, sondern der Blick auf Nietzsches ‚Nachzeit‘ gelenkt, um zu sehen, ob seine philosophisch diagnostizierten Phänomene auch nach ihm dem Denken präsent blieben bzw. bleiben. McCullers Novelle kann exemplarisch Möglich- und Wahrscheinlichkeiten solcher Präsenz verdeutlichen, in der strukturelle Phänomene in neuem literarischen Kontext ‚weiterleben‘, wie auch auf das philosophische Potenzial einer Erzählung hinweisen, in Anlehnung an Maurice Merleau-Pontys Philosophieverständnis im Vorwort zur Phänomenologie der Wahrnehmung: „Philosophie heißt in Wahrheit, von neuem lernen, die Welt zu sehen, und insofern kann eine schlichte Erzählung – erzählte Geschichte – ebenso ‚tief‘ die Welt bedeuten wie eine philosophische Abhandlung.“24

23

24

Vgl. ferner: Horst-Jürgen Gerigk, „Nietzsches Begriff des ‚Ressentiment‘ in seiner Bedeutung für die Literatur und die Literaturwissenschaft“, in: Vladimir Solov’ev und Friedrich Nietzsche. Eine deutsch-russische kulturelle Jahrhundertbilanz, hg. von Urs Heftrich u. Gerhard Ressel, Frankfurt/M. 2003, 57–66. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966, 18.

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Die Idee der Philosophie als Kritik bei Nietzsche und Adorno1

1. Genealogie als Kritik In der Vorrede der Genealogie der Moral aus dem Jahre 1887 stellt Friedrich Nietzsche folgende Frage: „Unter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werturtheile gut und böse und welchen Werth haben sie selbst?“ (KSA, GM, 5, 249f.). Die Genealogie spürt den konkreten Bedingungen nach, die es ermöglichen, die Entstehung der wichtigsten moralischen Werte zu verdeutlichen. Sie impliziert einen Wechsel der Perspektive, sowohl für die klassischen Erkenntnistheorien als auch für die vorläufigen geschichtsphilosophischen Methoden. Beide werden durch die genealogische Frage korrigiert oder sogar ersetzt. Im Unterschied zu klassischen geschichtsphilosophischen Methoden bildet die Genealogie keine Rekonstruktion der Notwendigkeit der Verwirklichung der moralischen Begriffe ‚gut‘ und ‚böse‘ bzw. ‚schlecht‘, wie das zum Beispiel in der Hegelschen Phänomenologie des Geistes der Fall ist. Es geht auch nicht darum, Marcel Proust umzuschreiben, hinsichtlich der ‚Suche nach dem verlorenen Ursprung‘, welche durch die Rekonstruktion des notwendigen Verlaufs der Geschichte erscheinen würde. Nietzsche sucht genealogisch nach den konkreten geschichtlichen Zufälligkeiten, die die „Herkunft unserer moralischen Vorurtheile“ (ebd., 248) zum Ausdruck bringen. Das genealogische Verfahren ist immanent und innergeschichtlich. ‚Gut‘ und ‚böse‘ hängen nicht von der notwendigen Verwirklichung der Vernunft wie bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel ab, sondern sie können „Zeichen von Nothstand“ oder „Wille des Lebens“ (ebd., 250) bedeuten. „Ich unterschied Zeiten, Völker, Ranggrade der Individuen“ (ebd.). Die genealogische Enträtselung der Entstehung der Werte ist mit der Idee der ‚kritischen Historie‘ zu vergleichen, da sich die Entwicklung dieser Entstehung nicht von ihrer Kritik trennen lässt. „Wir haben eine Kritik der moralischen Werthe nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in Frage zu stellen ― und damit thut eine Kenntnis der Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich entwickelt und verschoben haben (Moral als Folge, als Symptom, als Maske, als Tartüfferie, als Krankheit, als Missverständniss; aber auch Moral als Ursache, als Heilmittel, als Stimulans, als Hemmung, als Gift), wie eine solche Kenntnis weder bis jetzt da war, noch auch nur begehrt worden ist“ (ebd., 253). 1

Ich danke Andreas Mauer herzlich für die Korrekturen in deutscher Sprache.

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Diese grundlegende Bedeutung der Genealogie als Kritik ist jedoch deutlich von Immanuel Kants Begriff der Kritik zu unterscheiden. Im Gegensatz zu seiner abstrakten und formellen Untersuchung der transzendentalen Fähigkeiten der Vernunft und der Bestimmung ihrer Grenzen, besteht die Absicht genealogischer Kritik, immanent die gehaltvolle „doppelte Vorgeschichte“ (ebd., 251) von Begriffen wie ‚gut und böse‘ oder ‚gut und schlecht‘ zu entziffern. Die konkreten historischen Bedingungen der Entstehung sind weder rein noch transzendent, sondern unrein und vergänglich. Die Genealogie will die „Hieroglyphenschrift der menschlichen Moral-Vergangenheit“ entziffern (ebd., 254). Dass diese vergangene Schrift hieroglyphisch ist, zeigt einen zentralen Unterschied zu Kant sowie den meisten Erkenntnistheorien. Die Erfahrung des Wirklichen ist für den genealogischen Blick nicht mehr ontologisch vernünftig und damit für die Vernunft erkenntnistheoretisch durchsichtig. Die unvernünftige Realität stellt sich als zu enträtselnde Hieroglyphenschrift dar. Im Unterschied zu den klassischen Geschichtsauffassungen besteht die Genealogie nicht in einer vernünftigen Darstellung der ‚monumentalen Historie‘, deren Vorbild die Hegelsche Phänomenologie ist, sondern in der Entzifferung der häufig aus der Not geschaffenen Realität, einer Wirklichkeit, die oft als unverständlich erscheint. Genealogische Kritik sucht nach der Enträtselung dieser Hieroglyphen der Vergangenheit. Ist die Schrift kritisch dekodiert, können die moralischen Werte enthüllt werden. „Dass dies die natürliche Beziehung einer Zeit, einer Kultur, eines Volkes zu Historie ist – hervorgerufen durch Hunger, regulirt durch den Grad des Bedürfnisses, in Schranken gehalten durch die innewohnende plastische Kraft – dass die Kenntnis der Vergangenheit zu allen Zeiten nur im Dienste der Zukunft und Gegenwart begehrt ist, nicht zur Schwächung der Gegenwart, nicht zur Entwurzelung einer lebenskräftigen Zukunft“ (KSA, HL, 1, 271). Die genealogische Kritik verweist auf die Herkunft dieser Werte und stellt sie sich nicht mehr als wahr und notwendig, sondern als scheinhaft und zufällig vor. Die Entzifferung als Kritik hat eine Projektion in der Zukunft: als geschichtliche Methode bleibt sie nicht in der Vergangenheit gefangen.

2. Genealogie als Kritik und Kritik als Aufklärung Die Genealogie ermöglicht die Aufdeckung des nihilistischen Moments der Aufklärung durch die Kritik der Herkunft der asketischen Ideale: „Mitunter aber verlangt eben dasselbe Leben, das die Vergessenheit braucht, die zeitweilige Vernichtung dieser Vergessenheit; dann soll es eben gerade klarwerden, wie ungerecht die Existenz irgendeines Dinges, eines Privilegiums, einer Kaste, einer Dynastie zum Beispiel, ist, wie sehr dieses Ding den Untergang verdient. Dann wird seine Vergangenheit kritisch betrachtet, dann greift man mit dem Messer an seine Wurzeln dann schreitet man grausam über alle Pietäten hinweg“ (ebd., 269f.). Für Nietzsche kann das Ziel der Kultur nicht in der Verwirklichung der Moral des Ressentiments liegen. So wie Giorgio Colli schon unterstrich, führt das Leiden der gegenwärtigen Menschheit als ‚Symptom‘ am deutlichsten vor Augen, dass die Ressentiment-Moral die Zukunft der Menschen nicht beherrschen kann. „Denn wir leiden am Menschen, es ist kein Zweifel“ (KSA, GM, 5, 277). Die

Die Idee der Philosophie als Kritik bei Nietzsche und Adorno

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Genealogie als Entzifferung der Herkunft dieser Moral soll helfen, nach der Kritik eine Alternative für den nihilistischen Untergang der Kultur zu finden. Dieses kritische Moment der Entzifferung in der Genealogie impliziert ein aufklärendes oder emanzipatorisches Moment. Die Kritik demaskiert die falschen Vorstellungen des Absoluten sowie die Hypostasierung der Ewigkeit der Werte und lässt zu, neue Werte zu schaffen, und zwar kritischer und selbstbewusster. Man könnte die Genealogie oder kritische Historie als Anfang einer Ideologiekritik verstehen.

3. Dialektik der Aufklärung als genealogische Kritik der verwirklichten Aufklärung Auch wenn anfänglich die Dialektik der Aufklärung als „schwärzestes Buch“2 eindimensional als pessimistische Geschichtsphilosophie rezipiert wurde, gilt diese Interpretation mittlerweile als überwunden. Das Deutungsspektrum hat sich erweitert. Die hier zu beweisende These lautet, dass die Dialektik der Aufklärung sowohl in der Nähe zur Phänomenologie des Geistes als erste philosophische Dialektik der Aufklärung3 und als Übung der Dialektik überhaupt steht, wie auch in der Linie der Kritik, die Nietzsche mit seiner Genealogie der Moral eröffnet hat. Im zweiten Kapitel der Dialektik der Aufklärung schreibt Theodor W. Adorno: „Die Einsicht in das bürgerlich aufklärerische Element Homers ist von der spätromantisch-deutschen Interpretation der Antike, die Nietzsches frühen Schriften folgte, unterstrichen worden. Nietzsche hat wie wenige seit Hegel die Dialektik der Aufklärung erkannt. Er hat ihr zwiespältiges Verhältnis zur Herrschaft formuliert.“4 Im Folgenden wird der Exkurs über Odysseus oder Mythos und Aufklärung als rästelhafte Hybride von Phänomenologie und Genealogie bzw. von Dialektik und Kritik gedeutet. Diese merkwürdig anmutende Zusammenstellung von Hegel und Nietzsche lässt sich aber durchaus theoretisch erläutern. Für Adorno verschärft Nietzsche den kritischen Blick von Hegel, indem seine Philosophie die Hegelschen Annahmen des Subjekts der Geschichte, der Versöhnung am Ende der Verwirklichung des Geistes, der Notwendigkeit der Entwicklung und der Voraussetzung der Totalität und des Systems kritisch ablehnt. Im Unterschied zu Hegel, der an die Vernunft glaubt („was wirklich ist, das ist vernünftig“) und an ihre rationale Verwirklichung in der Geschichte („was vernünftig ist, das ist wirklich“)5, entziffert die Genealogie als Kritik die Ambivalenz6 der Aufklärung. Sie ist zweideutig, da sie so2 3

4

5

6

Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/M. 1985. Vgl. Reinhart Maurer, „Nietzsche und die Kritische Theorie“, in: Nietzsche-Studien, Band 10/11 (1982) 36. Theodor W. Adorno, Gesammelte Schriften in zwanzig Bänden. Bd. 3, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1997, 61f. Im Folgenden als GS, Bandnummer, Titel abgekürzt. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Ders., Werke 7, Frankfurt/M. 1970. Zur Ambivalenz der Aufklärung: Vanessa Vidal, „Die Dialektik von Mythos und Aufklärung: Nietzsche und Adorno“, in: Renate Reschke (Hg.), Nietzsche als Aufklärer. Nietzscheforschung. Sonderband II, Berlin 2004.

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wohl zur Befreiung als auch zum Nihilismus führen kann. Diese Zweideutigkeit gibt Zeugnis über den häufigen Zustand der Unvernünftigkeit der Wirklichkeit. Die Aufklärung bzw. Geschichte ist mit Hegel dialektisch, aber diese Dialektik ist mit Nietzsche nicht mehr einseitig vernünftig, sondern zweideutig. Die hegelsche Grundvoraussetzung der Vernünftigkeit der Wirklichkeit sowie sämtliche Folgen, welche die hegelsche Dialektik zeitigt, erfahren durch Nietzsches These der Zweideutigkeit der Aufklärung eine ‚kritische‘ oder, wie es Adorno später ausgedrückt hat, eine ‚negativdialektische‘ Überwindung. Der Einfluss von Nietzsches genealogischer Methode erlaubt es Adorno, die Dialektik der mit der Vernunft verbundenen Unvernunft kritischer zu betrachten. Die Dialektik der Aufklärung muss als Versuch verstanden werden, mittels der Dialektik die potentiell nihilistische, gleichzeitig aber dialektische Aufklärung genealogisch zu entziffern. Deswegen ist in der Dialektik der Aufklärung kein monumentales Bild der katastrophalen notwendigen Entwicklung des Geistes von der antiken Mythologie bis zum aufgeklärten Europa des 20. Jahrhunderts gezeichnet. Die Aufklärung wird nicht als epochaler, sondern als objektiver und philosophischer Begriff verstanden. Max Horkheimer und Adorno übernehmen von Nietzsche den objektiven Begriff der Aufklärung. In Odysseus oder Mythos und Aufklärung schreibt Adorno: „Indem solcher Doppelcharakter der Aufklärung als historisches Grundmotiv hervortritt, wird ihr Begriff, als der fortschreitenden Denkens, bis zum Beginn überlieferter Geschichte ausgedehnt.“7 Die durch die Genealogie von Nietzsche entzifferte Zweideutigkeit der Moral und der Aufklärung als fort- und rückschreitend, gestattet uns, über Aufklärung als objektiven Begriff zu reden. Das Buch versteht sich als Kritik bestimmter Momente des fragmentarischen und widersprüchlichen Aufklärungsprozesses. Der ‚Begriff‘ der Aufklärung wird durch den Gegensatz der Begriffe von Mythos und Aufklärung gebildet. So wie auch bei Karl Marx und Friedrich Engels die Kategorien der politischen Ökonomie die Denkprozesse beeinflussen und diese auf die Kategorien zurückwirken, ändern die Begriffe von Mythos und Aufklärung ihre Bedeutung durch die verschiedenen geschichtlichen Konstellationen, in denen sie in dem Werk zusammentreten. In Nähe zu Nietzsches Genealogie versucht dieses rätselhafte Werk die Herkunft der verwirklichten Aufklärung zum Ausdruck zu bringen. Rolf Tiedemann schreibt dazu: „Offenkundig ist, daß der Begriff des Mythischen von Adorno weder im Sinne der Religionsgeschichte noch in dem der Ethnologie verwendet wird; der seine gehört vielmehr streng in den Zusammenhang philosophischer Kritik. Gar nicht unähnlich dem Gebrauch der Kategorien des Dionysischen und Apollinischen in Nietzsches Geburt der Tragödie, fungieren das Mythische und Aufklärung als sein Widerpart in der Philosophie Adornos.“8 ‚Mythos‘ und ‚Aufklärung‘ funktionieren wie zwei entgegengesetzte Moral-Typen, deren Entstehung die Genealogie kritisch enträtselt. Die doppelte Vorgeschichte von ‚gut und schlecht‘ und ‚gut und böse‘ findet ihr Spiegelbild im zweiten Kapitel von Odysseus, oder Mythos und Aufklärung. Adorno 7 8

GS 3, 62. Rolf Tiedemann, „Gegenwärtige Vorwelt. Zu Adornos Begriff des Mythischen (I)“, in: Frankfurter Adorno Blätter V, hg. vom Theodor Adorno-Archiv, München 1996, 25.

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beschreibt in ihm den „Weg des leibhaft gegenüber der Naturgewalt unendlich schwachen und im Selbstbewusstsein erst sich bildenden Selbst durch die Mythen.“9 Hier gilt es jedoch, die Hieroglyphenschrift einer aufklärerischen Mythologie und einer mythologischen Aufklärung zu enträtseln. Der wichtige Unterschied zu Nietzsche besteht darin, dass bei Adorno diese Vorgeschichte nicht nur einen ‚doppelten‘ Charakter besitzt. Mittels Hegel ist Adorno dialektischer als Nietzsche, und ‚Mythos‘ und ‚Aufklärung‘ tauchen als dialektisch vermittelt auf: Der Mythos enthält gleichzeitig ein mythisches und ein aufklärerisches Moment, und die Aufklärung kann sowohl zu Forschritt als auch zu Rückschritt führen. Es gibt eine konkrete Vermittlung zwischen beiden Momenten, die bei Nietzsche, obwohl miteinander ringend, immer noch als zweipoliger Gegensatz erfasst werden. ‚Mythos‘ und ‚Aufklärung‘ ermöglichen die Geschichte nicht nur durch ihren absoluten Gegensatz wie bei Nietzsche, vielmehr enthalten beide bereits in sich ihr Gegenteil. Es ist nicht nur ein Kampf zwischen dem Gegensatz Mythos-Aufklärung bzw. Sklaven-Vornehme sondern: „Schon der Mythos ist Aufklärung. Und: Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.“10 Adorno wirft in der Ästhetischen Theorie Nietzsche vor, er habe „den Widerspruch unentfaltet stehen“11 lassen. Die Dialektik der Aufklärung untersucht dagegen keine ‚doppelte‘, sondern eine im erklärten Sinn dialektische Vorgeschichte von Mythos und Aufklärung. Im Kapitel Odysseus oder Mythos und Aufklärung entfaltet Adorno die nietzscheanische Dialektik der Aufklärung als „zwiespältiges Verhältnis zur Herrschaft“ durch die Entzifferung der ‚Vorgeschichte‘ der Identität. Odysseus bildet in dialektischer Beziehung zur Natur seine Identität. Im ersten Schritt gibt er sich der Natur hin und setzt sich ihren wilden Gefahren und Lockungen aus: „Das Wissen, in dem seine Identität besteht und das ihm zu überleben ermöglicht, hat seine Substanz an der Erfahrung des Vielfältigen, Ablenkenden, Auflösenden, und der wissend Überlebende ist zugleich der, welcher der Todesdrohung am verwegensten sich überlässt, an der er zum Leben hart und stark wird.“12 Auch Nietzsche sieht die Herren-Moral als „eine mächtige Leiblichkeit, eine blühende, reiche, selbst überschäumende Gesundheit, sammt dem, was deren Erhaltung bedingt, Krieg, Abenteuer, Jagd, Tanz, Kampfspiele und Alles überhaupt, was starkes, freies, frohgemuthes Handeln in sich schliesst“ (KSA 5, 266). Für Odysseus und für die Vornehmen ist die Hingabe an die Natur eine Bedingung der Entstehung der Moral aus Nietzsches Sicht, bzw. der Entstehung der Identität aus der Sicht Adornos und damit der Zivilisation. Aber das reicht nicht, um die Kultur zu konstruieren, da die komplette Hingabe an Natur, Triebe und Lust kein Anfang der Kultur wäre, sondern ein Rückschritt zur Animalität. „Solche Idylle, die doch ans Glück der Rauschgifte mahnt […] kann die selbsterhaltende Vernunft bei den Ihren nicht zugeben. Jene ist in der Tat der blosse Schein von Glück, dumpfes Hinvegetieren, dürftig wie das Dasein der Tiere. Im besten Falle wäre es die Absenz des Bewusstseins von Unglück. Glück aber enthält Wahrheit in sich. Es ist wesentlich ein Resultat. Es entfaltet sich am aufgehobenen

9 10 11 12

GS 3, 64. Ebd., 16. GS 7, Ästhetische Theorie, 418. GS 3, 65.

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Leid.“13 Die Zurückversenkung in die utopische Natur würde jede Möglichkeit der Aufklärung verhindern. Ähnlich wie bei Nietzsche ist die Priester-Moral nur eine Bedingung der Möglichkeit der Bewegung der Geschichte, was aber nicht bedeutet, dass diese Geschichte mit Kultur bzw. Aufklärung gleichzusetzen ist. Aber, das ist das zweite zentrale Moment der zweideutigen Dialektik der Aufklärung, „der listige [Odysseus] überlebt nur um den Preis seines eigenen Traums, den er abdingt, indem er wie die Gewalten draussen sich selbst entzaubert. Er eben kann nie das Ganze haben, er muss immer warten können, Geduld haben, verzichten […].“14 Die Sklavenmoral sagt von vornherein auch ‚Nein‘ zum Leben. Dies ist eine weitere, ebenso wichtige Bedingung der Kultur, die der ‚Versagung‘ der Triebe und der Natur. Adornos Beschreibung des listigen Odysseus ähnelt Nietzsches Darstellung der Moral des Ressentiments. „Er [Odysseus – V. M.] versteht sich auf das Schweigen, das NichtVergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demütigen“ (ebd., 272). Odysseus macht sich so klein, dass er, dem Zorn Polyphems zu entgehen, sich selbst ‚Niemand‘ nennt. „Seine Selbstbehauptung aber ist wie in der ganzen Epopöe, wie in aller Zivilisation, Selbstverleugnung.“15 Das ist der Grund, warum dieses SichVersagen der Natur das rückläufige Moment aller Aufklärung beinhaltet, so wie die Hingabe an die Natur die geschichtliche Bewegung unmöglich machen würde. Das zwiespältige Verhältnis zur Herrschaft in Bezug auf die Natur besteht seit der Vorgeschichte und bildet die Dialektik der Aufklärung: es gibt immer eine Zwiespältigkeit zwischen Hingabe und Beherrschung der Natur, mit Nietzsche gesagt, zwischen der Moral der Vornehmen und der des Ressentiments, die alle Zivilisation und damit Aufklärung sowohl im regressiven als im emanzipatorischen Sinn ermöglicht. Nur durch die Beherrschung der Natur wird die Aufklärung möglich, doch diese Beherrschung impliziert immer schon einen Rückschritt, in Nietzsches Worten, beginnt mit ihr bereits der Nihilismus zu keimen. Die abstrakte Negation der Herrenmoral durch das Ressentiment bei Nietzsche oder die Natur bei Odysseus führt zum Nihilismus bzw. zur Mythologie. Doch ohne diese Negation, ohne die Moral des Ressentiments oder den Verzicht auf die Lust, gibt es keinen Beginn der Geschichte. Bei Nietzsche bleibt diese Ambivalenz im Verlauf der gesamten Geschichte als Kampf zwischen den beiden Moralarten erhalten. Bei Adorno setzt der Kampf schon bei Odysseus selbst als sich bildende Identität ein. Aber es handelt sich nicht um den Kampf zweier im Verlauf der Geschichte von einander getrennte und als entgegengesetzte Werte gegenübergestellter Kräfte, vielmehr sind beide Kräfte bei Adorno dialektisch vermittelt. „Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortscheitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“16 Die kritische Diagnose der Dialektik der Aufklärung ist, dass sich Aufklärung in Mythologie gewandelt hat. Wenn die Beherrschung der Natur als einziges ‚gutes‘ oder ‚wahres‘ Ziel der Aufklärung hypostasiert wird, schlägt für Adorno die Aufklärung in Mythos zurück. 13 14 15 16

Ebd., 81f. Ebd., 76. Ebd., 87. Ebd., 19.

Die Idee der Philosophie als Kritik bei Nietzsche und Adorno

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Ohne Beherrschung der Triebe wäre keine Aufklärung möglich, aber die Hypostasierung dieser Beherrschung der Natur als einzigen Zweck der Aufklärung führt nicht zur Selbständigkeit der Menschen, sondern zu ihrem Rückschritt. Dient die Aufklärung nur der Naturbeherrschung, endet sie wieder in Mythologie. Nietzsche drückt eine ähnliche These aus: „Gesetzt, dass es wahr wäre, was jetzt jedenfalls als ‚Wahrheit’ geglaubt wird, dass es eben der Sinn aller Cultur sei, aus dem Raubthiere ‚Mensch‘ ein zahmes und civilisirtes Thier, ein Hausthier herauszuzüchten, so müsste man unzweifelhaft alle jene Reaktions- und Ressentiments-Instinkte, mit deren Hülfe die vornehmen Geschlechter sammt ihren Idealen schliesslich zu Schaden gemacht und überwältigt worden sind, als die eigentlichen Werkzeuge der Cultur betrachten; womit allerdings noch nicht gesagt wäre, dass derer Träger zugleich auch selber die Cultur darstellten; […] sie [die Ressentiment-Instinkte – V. M.] stellen den Rückgang der Menschheit dar!“ (ebd., 276). Sowohl der kritische Blick von Nietzsche als auch Adornos Kritik der Aufklärung demaskieren ihr mythologisches oder ideologisches Moment. Jede Hypostasierung von einem Teil des Gegensatzes als wahr, sei es die des Mythos oder die der ResentimentMoral, sei es die der Herrenmoral, ist ideologisch, und in der Ideologie, und in diesem Sinn im Mythos, sieht Adorno den gefährlichsten Gegner der Aufklärung. Mittels immanenter Kritik an der Aufklärung endeckt Adorno ein mögliches Antidot: „Durch Odysseus wird einzig das Moment des Betrugs am Opfer, der innerste Grund vielleicht für den Scheincharakter des Mythos, zum Selbstbewußtsein erhoben.“17 Das odysseische Bewusstsein dieses Betrugsmoments am Opfer, an der Versagung der Natur oder im Ressentiment, d.h. das Bewusstsein des in der Aufklärung impliziten Moments der Ideologie, ist der erste Schritt, kritisch und immanent über diese ideologische Aufklärung hinauszugehen. Die Kritik an der verwirklichten Aufklärung macht das bewusst, was auf dem Weg zur gegenwärtigen Aufklärung verloren gegangen ist oder sich in Ideologie gewandelt hat. Auch bei Nietzsche findet sich dieses ideologiekritische Moment hinsichtlich der Aufklärung: Man soll „die Aufklärung ins Volk treiben, daß die Priester alle mit schlechtem Gewissen Priester werden […] ebenso muß man es mit dem Staate machen. Das ist Aufgabe der Aufklärung, den Fürsten und Staatsmännern ihr ganzes Gebahren zur absichtlichen Lüge zu machen“ (KSA, NF, 11, 86). Dieses dank der Kritik selbstbewusste Moment ideologischer Aufklärung könnte die ‚Götzendämmerung‘ vorantreiben helfen. – Man kann sich der Aufkärung nicht entziehen, um einen neuen Begriff der Vernunft vorzuschlagen, der frei von dieser Ambivalenz wäre. Es liegt dialektisch in derselben Vernunft emanzipatorisches und regressives Potential; keines von beiden kann negiert werden. Nur durch die immanente Kritik an der in Ideologie verwandelten Aufklärung, die allein aus der existenten Vernunft heraus geübt werden kann, bleibt Platz für Hoffnung: „Es bleibt zu häufig bei einem Erkennen des Guten, ohne es zu tun, weil man auch das Bessere kennt, ohne es tun zu können. Aber hier und da gelingt der Sieg doch, und es gibt sogar für die Kämpfenden, für die, welche sich der kritischen Historie zum Leben bedienen, einen merkwürdigen Trost: nämlich zu wissen, daß auch jene erste Natur irgendwann einmal eine zweite Natur war und daß jede siegende zweite Natur zu einer ersten wird“ (KSA, HL, 1, 270). 17

Ebd., 69.

CHRISTINE WALDSCHMIDT

Die Bedeutung des Ressentiments für Zarathustras Lehre vom Übermenschen

Vorbemerkung Mit der Frage nach der Bedeutung des Ressentiments für Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra und damit für Zarathustras Lehre vom Übermenschen scheint nur ein Randbereich des ,Ressentiment‘-Themas in den Blick zu geraten. Ein Bereich jedoch, der die Aufmerksamkeit weglenkt vom Phänomen Ressentiment selbst und seine Funktion innerhalb der Philosophie Nietzsches stärker akzentuiert. Die Frage könnte dementsprechend kann auch lauten: Welchen Beitrag leistet die Konzeption des Ressentiments für die Lehre vom Übermenschen und in welchem Verhältnis steht sie zu ihr? Das Ressentiment unter dieser funktionalen Perspektive zu sehen, bedeutet nicht nur einen Beitrag zur Interpretation von Zarathustras Lehre, sondern ermöglicht auch Einsichten in die Struktur des Ressentiments. Bezogen auf Nietzsches Philosophie handelt es sich um einen Einordnungsgedanken, der dem Ressentiment einen Platz in der Lehre vom Übermenschen zuweist und dabei sowohl die Bestimmungen des Ressentiments auch in diesem Zusammenhang wiederfindet als auch eine durch den Kontext bedingte Verschiebung bzw. eine neue Sichtweise feststellt. Die Betrachtung der Rolle des Ressentiments im Zarathustra erhebt nicht den Anspruch, eine einheitliche Gestalt des Ressentiments für die Genealogie der Moral und Also sprach Zarathustra nachzuweisen, wird jedoch nicht umhinkommen, gewisse Bezugspunkte vorauszusetzen oder vergleichend vorzugehen. Vor allem die einzelnen Entstehungsstufen des Ressentiments, wie sie die Genealogie hervorhebt, werden auch den Analysen des früher entstandenen Werkes zugrundegelegt, da sie im Zarathustra nicht in dieser Ausführlichkeit vorkommen. Dass die Überlegungen der Genealogie der Moral für den Zarathustra gleichwohl mitgedacht werden können, belegt die Aussage Nietzsches in der Vorrede zur Genealogie, seine Überlegungen zur Entstehung der Moral ließen sich bis zu Menschliches, Allzumenschliches zurückverfolgen (KSA, GM, 5, 248). Abgesehen davon ist eine Übertragung der Ressentiment-Theorie auf den Zarathustra schon deshalb legitim, weil sich hier, obwohl dass das Wort ‚Ressentiment‘ nicht fällt, doch immer wieder Beschreibungen ressentimentähnlicher Mechanismen,1 1

Rüdiger Bittner, „Ressentiment“, in: Richard Schacht (Hg.), Nietzsche, Genealogy, Morality. Essays on Nietzsche’s Genealogy of Morals, Berkeley, Los Angeles, London 1994, 129: „[T]he mechanisms described in the Genealogy and in Zarathustra are the same.“

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von Neid und Rache finden lassen. Die folgenden Überlegungen umfassen drei Punkte: Erstens das Wiedererkennen der Grundmerkmale des Ressentiments aus der Genealogie der Moral schon im Zarathustra und ihre spezifische Instrumentalisierung in diesem Kontext, zweitens die Verwendung eines in der Ressentiment-Konzeption der Genealogie angelegten Deutungsangebots für die Lehre vom Übermenschen und drittens den besonderen Aspekt des Ressentiments, der sich aus dem Zarathustra selbst ergibt.

Grundmerkmale des Ressentiments und ihre Instrumentalisierung in Also sprach Zarathustra Die aus der Genealogie der Moral und ihren historischen Erörterungen bekannten Grundbestimmungen des Ressentiments erfassen das Ressentimentgefühl in seiner Entstehung aus der Schwäche über die Stufen Ohnmacht, Leiden an dieser Schwäche, Hass, Schuldzuweisung und Entwicklung einer listigen Klugheit2 sowie in seinen Auswirkungen für die Entstehung der Moral als einer imaginären Rache an den Stärkeren. Die Schwachen, die gegenüber den in der vormoralischen Rangordnung über ihnen Stehenden ein Gefühl der Ohnmacht empfinden, beginnen daran zu leiden, was durch die Unfähigkeit, aus eigener Kraft handelnd in die Verhältnisse einzugreifen, zu Hass und dem Wunsch nach Rache führt. Die Rache findet dabei ihren Ausdruck nicht, wie bei den Starken, in einer spontanen Aktion, sondern wird zu einem chronischen Leiden,3 es findet eine Verinnerlichung und Intensivierung des Affektes statt. Das Ressentiment wird klug und listig, es entsteht die „geistige Rache“ (KSA, GM, 5, 267): die Umwertung der Werte durch das Ressentiment. Die Anwort auf die Frage nach der Herkunft und dem Wert moralischer Werte (ebd., 253) fällt im Zarathustra nicht wesentlich anders aus. Zarathustra, Verkünder der Lehre vom Übermenschen, findet verschiedene Ausprägungen des bisherigen Menschen vor, die alle auf der herrschenden abendländisch-christlichen Moral und Metaphysik gründen. Zarathustra geht es darum, ein Verharren bei dieser Moral bzw. beim bisherigen Menschen zu verhindern, den Menschen stattdessen als Brücke zu begreifen, als ein „gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege“ (KSA, ZA, 4, 16), auf dem Weg zum Übermenschen. Die Moral aber und das moralische Werten verhindern die freie Entfaltung jener Potentiale im Menschen, die seiner wesenhaften Möglichkeit, ein „Übergang und ein Untergang“ (ebd., 17) zu sein, entsprechen. Die Lehre vom Übermenschen setzt damit eine Kritik am bisherigen Menschen, an seiner Bestimmtheit durch metaphysische Denktraditionen und moralische Ideale voraus: was Zarathustra leisten muss, um die abendländische Moral zu verabschieden, ist ihre Kritik. Moralkritik aber ist das eigentliche Anliegen der Genealogie der Moral als Genealogie des Ressentiments.4 2

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Vgl. Karen Joisten, Die Überwindung der Anthropozentrizität durch Friedrich Nietzsche, Würzburg 1994, 154. Sybe Schaap, Die Unfähigkeit zu vergessen. Nietzsches Umwertung der Wahrheitsfrage, Würzburg 2002, 274; Wenn Rache bei den Starken zur spontanen Aktion wird, kann sie keine ,vergiftende‘ Wirkung entfalten (vgl. KSA, GM, 5, 273). Vgl. Karen Joisten, Die Überwindung der Anthropozentrizität, 142.

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Wie kann sich diese Moralkritik auf eine Genealogie des Ressentiments stützen? Im Kapitel Von tausend und Einem Ziele spricht Zarathustra über den Ursprung moralischer (aber nicht nur dieser) Werte: „Wahrlich, die Menschen gaben sich alles ihr Gutes und Böses. Wahrlich, sie nahmen es nicht, sie fanden es nicht, nicht fiel es ihnen als Stimme vom Himmel. Werthe legte erst der Mensch in die Dinge, sich zu erhalten, – er schuf erst den Dingen Sinn, einen Menschen-Sinn!“ (KSA, ZA, 4, 75). Was Zarathustra ins Bewußtsein rufen möchte, ist der Ursprung allen Wertens im Menschen selbst, das Gewordensein jeder Moral. Damit verbindet sich sowohl ein Argument gegen die christliche Moral, die ihre Werte als ewig und gottgegeben ansieht, als auch der Aufruf, den Menschen-Sinn wieder als solchen anzuerkennen. Die Aufdeckung der Entstehung der bisherigen Moral stellt also per se ein Argument gegen sie dar. Die Genealogie der Moral fasst als ihr Hauptthema dieses Entstandensein der Moral durch eine bestimmte Gruppe von Menschen unter dem Namen Ressentiment. Das heißt, Ressentiment ist seiner Struktur zunächst einmal nach das Aufdecken eines Ursprungs, der gegen das daraus Entstandene sprechen soll. Jenseits aller inhaltlichen Bestimmung des Ressentiments wird, allein durch die historische Herleitung, durch das Einnehmen der historischen Perspektive, ein Gewordensein zum Ausdruck gebracht, das den besten Einwand gegen das Gewordene liefert: Nietzsche formuliert den gleichen Gedanken in der Morgenröte: „Ehemals suchte man zu beweisen, dass es keinen Gott gebe, – heute zeigt man, wie der Glaube, dass es einen Gott gebe, entstehen konnte […]: dadurch wird ein Gegenbeweis, dass es keinen Gott gebe, überflüssig“ (KSA, M, 3, 86). Ressentiment als Moralkritik funktioniert unter diesem Aspekt gleichsam methodisch, kann aber nur deshalb als Nachweis der Entstehung der moralischen Wertung ein Einwand gegen die bisherige Moral sein, weil sie sich als nicht entstanden, als ewig versteht und keinesfalls als Menschenwerk. Mit dem Anspruch christlicher Moral wird zugleich ihre Geltung bestritten.5 Ressentiment begründet somit das, was an der oben zitierten Stelle aus dem Zarathustra als Behauptung formuliert wird: das historische Entstehen von Moral (gerade der bisherigen Moral). Das zweite Argument, welches das Ressentiment gegen das aus ihm Entstandene, gegen die bisherige Moral, liefert, ergibt sich aus dem inhaltlichen Ausfüllen des Entstehungsgedankens, indem die Herkunft der Moral über das Ressentiment in der Schwäche, bei den Schwachen verortet wird. Im Mittelpunkt steht dann die quasi psychologische Analyse der Motive und Mechanismen, die der historischen Entwicklung zugrunde liegen6, wobei die Ablehnung auch des Ergebnisses dieser Entwicklung eine Gleichsetzung der ressentimentgesteuerten Intention mit ihrem Produkt impliziert. Ressentiment ist nicht nur die Ursache der Moral, sondern auch ihr Inhalt und ihre Struktur.7 Die Fragwürdigkeit der Moral und ihrer Gültigkeit ergibt sich damit aus der Verbindung ihres Ursprungs mit einer Bewertung oder vielmehr einer Abwertung. Zarathustra arbeitet mit dieser Argumentation, wenn er sich den Ausprägungen morali5

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Werner Stegmaier, Nietzsches Genealogie der Moral, Darmstadt 1994, 40: Moral wird entgegengesetzt zu ihrem Selbstverständnis als unter bestimmten Bedingungen entstanden und wieder aufhebbar betrachtet; die Historisierung der Moral eröffnet damit die Möglichkeit ihrer Veränderung. Robert C. Solomon, „One Hundred Years of Ressentiment“, in: Richard Schacht (Hg.), Nietzsche, Genealogy, Morality, 96. Ebd., 98.

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scher Wertungsweisen zuwendet. So wird das Entstehen einer Hinterwelt, eines Jenseits und die Abkehr vom Leben von ihm konsequent durch die Existenz der Kranken, Schwachen begründet, die dem Leben und seinem Leid nicht gewachsen sind und deshalb eine Welt erfinden, in der ihr Mangel an Lebenskraft in ein Verdienst umgewertet, „umgelogen“ (KSA, GM, 5, 281) wird. „Leiden war’s und Unvermögen – das schuf alle Hinterwelten“, „Kranke und Absterbende waren es, die verachteten Leib und Erde und erfanden das Himmlische“ (KSA, ZA, 4, 36f.). Diejenigen, welche am Leben verzweifeln und keine Kraft zur Änderung ihrer Lage haben, geben dem Leben die Schuld dafür.8 Die metaphysische Trennung von irdischer Welt und wahrer Welt, Gottes Reich oder Jenseits wird hier entlarvt, indem die Motive für ihre Erfindung in den Bereich der fehlenden Stärke und Lebenskraft verwiesen werden. Die Vorstellung eines Jenseits bzw. das asketische Ideal hält einen Sinn für das Leiden am Leben parat (KSA, GM, 5, 411), weshalb es für die Schwachen so attraktiv ist. Mit der Verleugnung des Lebens geht die Verachtung des Leibes einher, die Trennung in Körper und Seele, wodurch der Körper zum Inbegriff der Sünde und des Bösen gemacht wird. Das metaphysische Weltbild, wie es nicht nur christliches, sondern auch philosophisches Denken seit Platon bestimmt, ist gekennzeichnet durch einen das Leben verneinenden Dualismus, wie er alle aus dem Ressentiment hervorgebrachten Ideale auszeichnet.9 In der Rede Von den Tugendhaften gibt Zarathustra moralische Werte und Tugenden als das zu erkennen, was sie gemäß ihrer Entstehung aus der Umwertung durch die Schwachen sind: die Rache der Ohnmächtigen an den Starken. „Ach wie übel ihnen das Wort ,Tugend‘ aus dem Munde läuft! Und wenn sie sagen: ,ich bin gerecht‘, so klingt es immer gleich wie: ,ich bin gerächt!‘ Mit ihrer Tugend wollen sie ihren Feinden die Augen auskratzen; sie erheben sich nur, um Andre zu erniedrigen“ (KSA, ZA, 4, 122). Die Tugenden der Sklavenmoral können im Sinne der Genealogie als Ressentiment verstanden und entlarvt werden: In der Umwertung der Werte durch das Ressentiment erfolgt eine Umkehrung der vormoralischen Einteilung in Gut und Schlecht, die einen Rangunterschied bezeichnete und die Wertung ,gut‘ aus der physischen Überlegenheit und dem Selbstverständnis der Vornehmen bestimmte, zum moralischen Gut – Böse. Der Böse der Moral ist der Gute der vormoralischen Phase10, „eben der Vornehme, der Mächtige, der Herrschende, nur umgefärbt, nur umgedeutet, umgesehen durch das Giftauge des Ressentiment“ (KSA, GM, 5, 274). Es handelt sich um eine Umwertung durch Negation11, keine 8

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Annemarie Pieper, Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch. Philosophische Erläuterungen zu Nietzsches erstem Zarathustra, Stuttgart 1990, 205. Eine wahre Welt hinter der sichtbaren anzunehmen, bedeutet dementsprechend Rache am Leben selbst: Richard Ira Sugarman, Rancor against time. The Phenomenology of Ressentiment, Hamburg 1980, 72. Auch nach dem Tod Gottes lebt das asketische Ideal weiter, im dualistischen Werten und in der Wissenschaft, die den Glaube an den unbedingten Wert der Wahrheit perpetuiert (KSA, GM, 5, 399ff., 409). Vgl. Amandus Altmann, Friedrich Nietzsche. Das Ressentiment und seine Überwindung – verdeutlicht am Beispiel christlicher Moral, Bonn 1977, 38. Es handelt sich nicht um ein Werten, das neue Werte schaffen will, sondern andere zu verneinen strebt: Bernard Reginster, „Nietzsche on Ressentiment and Valuation“, in: Philosophy and Phenomenological Research 57 (1997), 295.

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neue Wertschöpfung, das Gute bezeichnet nun die Verhaltensweisen der Schwachen, wodurch der Ursprung der Moral verdeckt und die Rache am Starken durch seine moralische Herabsetzung vollzogen ist.12 Auch hier liegt die Kritik an den moralischen Tugenden darin, dass sie aus Ressentiment entstanden und , dass dieses weiterhin ihr Inhalt ist, nur unter dem Namen ‚Liebe‘ oder ‚Demut‘. Am deutlichsten wird der Rachegedanke der Schwachen in der Rede Von den Taranteln betont, die in jeder Lehre von der Gleichheit der Menschen nur den Deckmantel für die Rache sieht, mit der die Stärkeren zu den Ohnmächtigen herabgezogen werden sollen.13 Zarathustra betont demgegenüber die Ungleichheit der Menschen als Faktum und notwendige Voraussetzung für die Herausbildung des Übermenschen (KSA, ZA, 4, 130). Der zunächst reaktive Charakter des Ressentiments, die Unfähigkeit des Ressentiment-Menschen, aus sich selbst zu handeln, lässt ihn nur eine Gegentat14 hervorbringen, er ist stets von einem „Außerhalb“ bestimmt, auf ein „Anders“ (KSA, GM, 5, 270f.) gerichtet.15 Er kann nicht vergessen, seine Rache bindet ihn an die erlebten Verletzungen und Ereignisse.16 Diese Fesselung an das „es war“ ist Ausdruck der Ohnmacht seines Willens, seines Leidens und seines Hasses, wogegen Zarathustra den aktiven, schaffenden Willen setzt, der alles zu einem „so wollte ich es“ umwandelt (KSA, ZA, 4, 179ff.).17 In der Rede Vom bleichen Verbrecher schließlich zeigt Zarathustra jene Wirkung der Ressentiment-Moral, die den Menschen durch die Verurteilung seiner Aggressionen mit sich selbst entzweit, sein Tun in Tat und Täter aufspaltet, eine Trennung, die aufrechterhalten wird, um ein Schuldigsprechen zu ermöglichen bzw. die moralische Verurteilung zu legitimieren.18 Die Moral erhält hier eine ihr dienliche Fiktion aufrecht, denn Nietzsche stelle fest: „es gibt kein ,Sein‘ hinter dem Thun, Wirken, Werden; ,der Thäter‘ ist zum Thun bloss hinzugedichtet – das Thun ist Alles“ (KSA, GM, 5, 279).19 Die angefügten Textstellen mögen ausreichen, die Parallelität der Ressentimentproblematik nachzuweisen sowie die Vorwegnahme der Strukturen der im Ressentiment enthaltenen Moralkritik und der Einwände gegen die bisherige Moral in formaler und 12

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Indem der andere moralisch verurteilt wird, ist der Schwache über seine Verletzung hinweggekommen: Werner Stegmaier, Nietzsches Genealogie der Moral, 120. Weshalb für Nietzsche sozialistische Ideen keineswegs das Ressentiment hinter sich lassen, sondern nur seine moderne und verschärfte Erscheinungsform darstellen: Sybe Schaap, Die Unfähigkeit zu vergessen, 281. Ebd., 259. Vgl. Mathias Risse, „Origins of Ressentiments and Sources of Normativity“, in: Nietzsche-Studien 32 (2003), 163; Karen Joisten, Die Überwindung der Anthropozentrizität, 140. Während der Schwache unfähig ist, über Erlebnisse hinwegzukommen, die ihn schmerzhaft an die Vergangenheit binden, eignet dem Starken das Vergessen, das ihm die Ausrichtung auf Neues ermöglicht: Mathias Risse, „Origins of Ressentiments and Sources of Normativity“, 155; Sybe Schaap, Die Unfähigkeit zu vergessen, 259; Amandus Altmann, Friedrich Nietzsche, 69, 75. Zu einer Interpretation, die, im Sinne Martin Heideggers, das Wesen des Ressentiments als Rache gegen die Vergänglichkeit deutet: Richard Ira Sugarman, Rancor against Time, 74–85. Werner Stegmaier, Nietzsches Genealogie der Moral, 124. Die Erscheinungsformen des im Sinne der christlichen Moral gegen sich selbst gewendeten Ressentiments werden hier nicht näher ausgeführt; die Betrachtung konzentriert sich auf das nach außen gerichtete Ressentiment.

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inhaltlicher Hinsicht: in formaler Hinsicht aus der Tatsache, dass sie entstanden ist, in inhaltlicher Hinsicht aus ihrer Verbindung mit negativen Affekten und einer lebensverneinenden Grundkonstitution. Moralkritik im Zeichen des Ressentiments verdeutlicht für den Zarathustra zunächst das „frei wovon“, es ermöglicht Abgrenzung, Gegenentwurf. Kritik ist somit im Zarathustra immer Mittel, Instrument, Hinweis auf das Künftige als das eigentlich zu Verkündende, das „Frei wozu“ (KSA, ZA, 4, 81). In der Vorrede zur Genealogie verweist Nietzsche auf das Ziel, dem er seine Moralkritik unterstellt, wenn er die Hypothese äußert, dass „gerade die Moral daran Schuld wäre, wenn eine an sich mögliche höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch niemals erreicht würde“ (KSA, GM, 5, 253).20 Die Überwindung von Moral bzw. Metaphysik konstituiert eine wesentliche Qualität des Übermenschen. Die Moralkritik ist in ihrer Funktion die negative Seite zum Entwurf des zukünftigen Menschen bzw. des Übermenschen.21 Indem Zarathustra die bisherigen Wertsetzungen unterhöhlt, will er zu eigenem, neuem Werten veranlassen, den Blick auf die Möglichkeiten des Menschen freigeben und die dem Leben gemäßen Werte retten bzw. befreien. So ist die kritisierte Lebensverneinung der Moral und das auf ihr begründete Denken für Zarathustra im Sinne einer Bejahung des Diesseits, des mit dem Leben verbundenen Leidens, des Sinns der Erde und des Leibes zu überwinden. Dabei verweist die Kritik der Moral auf die ihr entgegengesetzte Vorstellung als das Gewünschte, jene Vorstellung, die der Kritik erst den Maßstab liefert. Die Kritik an Ressentiment und Schwäche beruht darauf, dass beides der dem Menschen möglichen Selbstüberwindung und einem Über-sich-hinaus-Schaffen entgegensteht.22 Die Ressentimentproblematik kann als Verweisen auf das zu Überwindende im Dienste des Zieles dieser Überwindung an verschiedenen Stellen wirkungsvoll eingesetzt werden, nicht zuletzt, da sie diese Instrumentalisierung bereits enthält: Denn die Schwäche, Ohnmacht, aus der das Ressentiment entsteht, gewinnt ihren pejorativen Charakter zumindest zum Teil aus dem Wertvollen seiner Entgegensetzung: der Stärke, die dem Ressentiment keinen Raum lässt. Die positive Konnotation, die ein lebensbejahendes, aktives, spontanes Handeln und ein starkes, auf sich selbst bezogenes Leben ohne Zweifel bei Nietzsche hat, wird in der Konzeption des Ressentiments immer schon mitgedacht; nachvollziehbar wird diese Werthaltigkeit aber erst aus der Lehre vom Übermenschen, der Ausrichtung auf die Zukunft. Somit erhält die Moralkritik ihre Rechtfertigung erst aus dem Voraussetzen des dem Ressentiment entgegengesetzten schaffenden und ungespaltenen Menschentyps. Die Behandlung des Ressentiments im Zarathustra zeigt damit dasjenige am bisherigen Menschen auf, was überwunden werden soll und liefert zugleich die Rechtfertigung für die Überwindung, d.h. die Überwindungswürdigkeit der Moral. Außerdem enthält es ex negativo den Verweis auf die dem Menschen als über sich Hinausstrebendem notwendigen, durch die Einordnung der Moral zum Bösen gerechneten und damit verdeckten, Eigenschaften immer schon mit. 20 21

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KSA, GM, 5, 336, 337 weist ausdrücklich auf die Zukunftsperspektive und den Zarathustra hin. Karen Joisten, Die Überwindung der Anthropozentrizität, 142, 147; Ingeborg Heidemann, „Nietzsches Kritik der Moral“, in: Nietzsche-Studien 1 (1972), 106 spricht von einer „vom Künftigen bestimmten Wertsicht und Weltsicht“. Vgl. Karen Joisten, Die Überwindung der Anthropozentrizität, 140.

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Deutungsangebote der Ressentiment-Konzeption im Bezug auf die Lehre vom Übermenschen Indem Zarathustra das Aufdecken der Ursprünge moralischer Wertungen über die Genealogie des Ressentiments für seine Ziele verwendet, gelangt er dadurch schon über die Diagnose ressentimentbegründeter Moral und der Notwendigkeit von Werten, die aus Stärke statt Schwäche hervorgehen, hinaus zum Entwurf einer Perspektive. Dabei zeigt sich nicht nur, dass Zarathustras Moralkritik im Dienste des Zukünftigen steht, sondern dass ihre Deutung eine Art Hoffnung bzw. Garantie für das Eintreten dieser Projektion liefert. Die Momente einer Moralkritik durch das Ressentiment machen diesen Entwurf in die Zukunft erst möglich. Anknüpfend an die Funktion der historischgenealogischen Methode für die Kritik, lässt sich festhalten, dass mit der Vorstellung des Prozesses, in dem zuerst das Ressentiment und aus diesem Gut und Böse entstehen, ein Entwicklungsgedanke formuliert wird, der nicht nur eine überzeitliche Gültigkeit moralischer Wertungen destruiert, sondern auch das Ressentiment als ein Umbruchs-, ein Übergangsphänomen, etabliert. Ressentiment bedeutet einen Umbruch im Werten, sichtbar an Nietzsches Einteilung in eine vormoralische und eine moralische Phase der Menschheitsgeschichte. Ressentiment verstanden als Entwicklungs- und Umwertungsidee stellt damit ein, wenn auch negatives, Beispiel für das Entstehen neuer Werte dar. Es fungiert gleichsam als Beweis für die Möglichkeit auch einer künftigen Umwertung aller Werte. Die Lehre von der Selbstüberwindung setzt einen historischen Prozess der Entstehung von Wertungen als Bedingung voraus. Das Ressentiment, so sehr seine Produkte von einer Lebensverneinung zeugen, ist, wenn es „selbst schöpferisch wird, und Werthe gebiert“ (KSA, GM, 5, 270), ebenfalls Ausdruck des Prinzips alles Schöpferischen und alles Lebens, des Willens zur Macht: „aus dem Schätzen selber heraus redet – der Wille zur Macht“ (KSA, ZA, 4, 149). Alles Werten ist Ausdruck des Willens zur Macht, auch wenn, wie in der christlichen Moral, nicht diesem entsprechend gewertet wird. Die Sklavenmoral der Ohnmächtigen ist ihr Mittel zur Herrschaft, ein ressentimentgeladener Wille zur Macht (vgl. KSA, GM, 5, 370).23 Versteht man dementsprechend das Ressentiment und die bisherige Moral als Teil einer Dynamik des auch in den Schwachen und ihrer Klugheit wirkenden Willens zur Macht, so liefert dieser Gedanke mit der Aufhebung zugleich die Notwendigkeit (und nicht nur die Möglichkeit) der Aufhebung dieser Moral zugunsten eines neuen Wertens. Denn: „Wahrlich, ich sage euch: Gutes und Böses, das unvergänglich wäre – das giebt es nicht! Aus sich selber muss es sich immer wieder überwinden.“ (KSA, ZA, 4, 149). Die Geschichte von der Entstehung der Moral durch das Ressentiment enthält alle Möglichkeiten ihrer Aufhebung schon in sich, sie hat den Übermenschen, die neuen Tugenden, die Selbstüberwindung nie aus dem Blick verloren.

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Marco Brusotti, „Wille zum Nichts, Ressentiment, Hypnose. ,Aktiv‘ und ,Reaktiv‘ in Nietzsches Genealogie der Moral“, in: Nietzsche-Studien 30 (2001), 111. Die Ressentiment-Moral, welche die Macht abwertet, ist durch nichts anderes als Macht, nämlich über die Stärkeren, motiviert (Bernard Reginster, Nietzsche on Ressentiment and Valuation, 291).

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Nietzsche weist noch auf etwas anderes hin: Die Zeit einer Ressentiment-Moral geht dem Nihilismus, als ihrer letzten Steigerung, und auch dem Menschen jenseits von Gut und Böse, notwendig voraus. So sehr die Umwertung aller Werte, der Weg zum Immoralismus eine qualitativ andere Stufe erreichen soll als die nicht aus sich heraus, sondern bloß durch Negation umwertende Rache vor ihr, so wird sie doch erst herkommend von der bisherigen Moral möglich. Einerseits bleibt die Ressentiment-Moral als Abgrenzungsund Definitionsgröße, als Maßstab, ein Maßstab der erst mitgedacht werden muss, um ihn dann zu verneinen, für den Immoralismus präsent. Andererseits hat das Ressentiment zu einer Reihe von Entwicklungen geführt, ohne die eine Überwindung nicht möglich wäre, z.B. die Entwicklung des Geistigen sowie der Innendimension des Menschen, die durch Selbsterforschung und Reflexivität eine Vertiefung und Verfeinerung des Menschen bewirkt hat,24 und die es noch von der inneren Zerrissenheit, die sich durch ihre moralische Bewertung einstellte, zu befreien gilt (vgl. KSA, GM, 5, 266). Die Prozesse, die das Ressentiment in Gang gesetzt hat, können genausowenig übersprungen werden, wie der Seiltänzer in der Vorrede zum Zarathustra. Eine Einsicht, die auch im Aphorimus 107 (KSA, MA-1, 2, 105) von Menschliches, Allzumenschliches ganz deutlich hervortritt.

Das Ressentiment und der Schaffende. Besonderheiten des Ressentiments im Zarathustra Um den Aspekt des Ressentiments anzusprechen, der im Zarathustra neben der moralkritischen Funktionen auftritt und hier eine besondere Betonung erfährt, muss festgestellt werden, dass das Ressentiment, was Nietzsches bzw. Zarathustras Auseinandersetzung mit ihrer Gegenwart betrifft, nicht allein in den moralischen Wertungen als deren Herkunft ständig präsent ist. Es lebt vielmehr in den Schwachen, den Vielen weiter und begründet ihre Reaktion auf alles Neue. Zarathustra steht demnach nicht nur in der Auseinandersetzung mit einem zu Moral geronnenen Ressentiment, sondern auch mit einem Ressentiment-Gefühl, das alle Zweifel am Bisherigen, alles Aufkeimen von Stärke verhindern will. Ressentiment ist also die Reaktion, auf die der Verkünder des Übermenschen und des schaffenden Menschen stößt, ebenso derjenige, der Zarathustra folgen möchte, der sich von der Moral und den bisherigen Menschen absetzt und sich selbst zu überwinden strebt. Der Ressentiment-Mensch ist aktueller Widerstand gegen alle Versuche zur Größe und deshalb ein Thema, mit dem sich Zarathustra, vor allem in Form der Warnung an seine Jünger, auseinandersetzen muss. Das Ressentiment will die Lehre vom Übermenschen verhindern, indem es sich gegen ihre Vertreter mit Verachtung, Spott und Hass richtet. Aus diesem Grund gilt für Zarathustra, dass der Erfolg seiner Lehre unter anderem davon abhängt, dass das Ressentiment selbst überwunden wird, denn die Überwindung des Menschen, der Weg zum Übermenschen ist mit der Überwindung des Ressentiments verbunden25: „Denn dass der Mensch erlöst werde von 24 25

Vgl. Robert C. Solomon, „One Hundred Years of Ressentiment“, 99. Vgl. Sybe Schaap, Die Unfähigkeit zu vergessen, 281; Richard Ira Sugarman, Rancor against Time, 84; Amandus Altmann, Friedrich Nietzsche, 63, 67.

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der Rache: das ist mir die Brücke zur höchsten Hoffnung und ein Regenbogen nach langen Unwettern“ (KSA, ZA 4, 128). Am ausführlichsten wird die Reaktion der Ressentiment-Menschen auf den Schaffenden im zweiten Teil der Rede Von den Fliegen des Marktes geschildert. Auf dem Markt, im öffentlichen Leben und Urteilen sehen sich Zarathustras Jünger mit den Vielen, den ‚Kleinen und Erbärmlichen‘ konfrontiert. Die Reaktion der Schwachen auf die Schaffenden, die, eins mit sich selbst, ihre eigenen Werte setzen und die ihr Stolz – denn die Schwachen sind ihnen keine ebenbürtigen Feinde – und ihr Großmut26 von einer Bekämpfung der ‚giftigen Fliegen‘ absehen lassen, ist Neid, Rache, Ressentiment. Ihre Gefühle und Absichten stimmen mit der Wirkung des Ressentiments bei der Entstehung der Moral überein. Angesichts des Schaffenden wird den Vielen ihre eigne Ohnmacht bewusst, in der Konfrontation mit einer starken Existenz wird ihnen ein Maßstab vorgesetzt, an dem gemessen ihre eigene Schwäche zutage tritt. Ihr Hass wendet sich schließlich gegen denjenigen, der etwas erreichen kann, was jenseits ihrer Möglichkeiten liegt, der sie damit ihre eigene Kleinheit spüren lässt.27 Indem die Schwachen immer wieder über den Verursacher der Störung ihres Selbstverständnisses nachdenken, vertieft sich der Hass, er wird giftig: „sie denken viel über dich mit ihrer engen Seele“ (ebd., 67). Wenn sie trotzdem den Starken schmeicheln oder sie loben, geschieht dies aus der Begleiterscheinung allen Ressentiments, der Klugheit. Diese Klugheit verfolgt die Strategie des Ressentiments (wie in der Entstehung der Moral), den festgestellten Rangunterschied wieder auszugleichen oder gar umzukehren, indem der Bessere herabgesetzt wird, seine Fähigkeiten abgewertet werden28 oder eine moralische Verurteilung stattfindet. „Aber ihre enge Seele denkt: ,Schuld ist alles grosse Dasein‘“ (ebd.). Mit solch einer moralischen Verurteilung, die den Schaffenden, für den moralische Maßstäbe keine Geltung mehr haben, zum Bösen und Verbrecher stempelt, begegnen die durch die Moral zu Macht Gelangten, die „Guten und Gerechten“, Zarathustra: „Sieh die Guten und Gerechten! Wen hassen sie am meisten? Den, der zerbricht ihre Tafeln der Werthe, den Brecher, den Verbrecher: – das aber ist der Schaffende.“ (ebd., 26).29 Das Ressentiment zeigt sich nun nicht mehr schöpferisch, denn seine Werte sind längst etabliert, sondern bewahrend. Es will die Wertung der Schwachen und damit ihre Macht über die Starken aufrechterhalten. „Neues will der Edle schaffen und eine neue Tugend. Altes will der Gute, und dass Altes erhalten bleibe“ (ebd., 53). Zarathustras Aufruf an seine Jünger will sie auf die Gefahren, denen sie ausgesetzt sind, aufmerksam machen, denn obwohl die Stiche der giftigen Fliegen nur klein sind, können sie durch ihre Vielzahl den Starken auf die Dauer müde machen, wodurch er seine Kraft nicht auf seine Selbstüberwindung konzentrieren kann. Zarathustra analysiert die Ressentiment-Reaktion, um seinen Jüngern zu verdeutlichen, dass die Verach-

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„ Weil du milde bist und gerechten Sinnes, sagst du: ,unschuldig sind sie an ihrem kleinen Dasein‘“ (KSA, ZA, 4, 67). 27 Annemarie Pieper, Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch, 241. 28 Ebd., 240. 29 „Und hüte dich vor den Guten und Gerechten! Sie kreuzigen gerne Die, welche sich ihre eigne Tugend erfinden, – sie hassen den Einsamen“ (KSA, ZA, 4, 82).

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tung der Masse kein gültiges Urteil über sie darstellt,30 sondern ein verzerrtes Urteil der Neidischen, die daran interessiert sind, den Schaffenden schlechtzumachen: „Du gehst über sie hinaus: aber je höher du steigst, umso kleiner sieht dich das Auge des Neides“ (ebd., 81). Das einzige, was aus der Verachtung der Vielen abgelesen werden kann, ist die eigene Größe. Zarathustra fordert seine Jünger auf, den Menschen des Ressentiments aus dem Weg zu gehen: „Fliehe, mein Freund, in deine Einsamkeit und dorthin, wo eine rauhe, starke Luft weht. Nicht ist es dein Loos, Fliegenwedel zu sein.“ (ebd., 68). Die eigene Wahrheit lässt sich nur im Weg zu sich selbst finden, das Ressentiment, das die Selbstüberwindung des Schaffenden zu verhindern sucht, muss aus seinem Blickfeld verschwinden. Im Zarathustra tritt das Ressentiment in dreierlei Gestalt auf: als Inhalt der Kritik am bisherigen Menschen und ihre Rechtfertigung, als Argument für die Möglichkeit, Notwendigkeit und Folgerichtigkeit seiner Überwindung und als Hindernis dieser Überwindung. Gedacht als Entstehungsprinzip von Moral, macht es erstens eine Aussage über das Entstandene selbst und die Wichtigkeit der Feststellung des Gewordenseins, zweitens über das Entstehen und die Konsequenzen der Verlängerung dieses Gedankens in die Zukunft. Dies alles steht im Dienste einer Lehre, die sich ihren Boden erst selbst bereiten muss: das Ressentiment dient hierbei als Abgrenzungs- und Verweisstruktur, als Diagnose der Moral und ihre Perspektive, beides zur Etablierung des Zukünftigen als ein Gewolltes und Erstrebenswertes. Das Ressentiment, gedacht als beharrendes Prinzip, veranschaulicht den Widerstand gegen ein Sich-Durchsetzen der Schaffenden, wird selbst zum Gegenstand der Überwindung und kennzeichnet nicht nur den Ausgangspunkt sowie ex negativo das Ziel, sondern auch den Weg des Schaffenden.

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Annemarie Pieper, Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch, 296.

STEFANIE WINKELNKEMPER

Der Hass des ‚Nazareners‘ Heinrich Heine antizipiert die Psychologie des Ressentiments

„Den höchsten Begriff vom Lyriker hat mir Heinrich Heine gegeben“ (KSA, EH, 6, 286), schreibt Friedrich Nietzsche in Ecce Homo. Er findet beim scharfzüngigen Dichter aus Düsseldorf eine erstrebenswert „göttliche Bosheit“ (ebd.) und deutet dessen Ironie und befreiten Rhythmus als Ausbund von Stärke. Markante Züge dieses an Heine wertgeschätzten Schreibstils kennzeichnen auch Nietzsches Schriften und wurden als Einfluss in der Forschung viel beachtet.1 Nietzsche selbst erklärt zur gemeinsamen Linie in Ausdruck und Wirkung: „Man wird einmal sagen, dass Heine und ich bei weitem die ersten Artisten der deutschen Sprache gewesen sind“ (ebd.). Neben dieser von Nietzsche selbst proklamierten sprachlichen Verbindung finden sich im Werk des Philosophen weitere Bezüge auf Heines Denken im Hinblick auf existenzielle Fragen und kulturkritische Prognosen. Der Dichter äußert antizipierende Ideen über die Zukunft Europas und den Menschen, der sich in der Gegenwart der Moral einer schwachen Masse unterwirft, aber zugleich die kulturellen Versprechungen einer neuen Zeit in sich trägt. In diesem Komplex des Nachdenkens über einen IstZustand der Menschheit und wie dieser überwunden werden kann, greift Heine mit seiner Beschreibung des ‚Nazarener‘-Naturells der Ressentiment-Psychologie vor. Maßgeblich als nazarenischen Charakter bestimmt er den Protagonisten in seinem prosaischen Werk Ludwig Börne. Eine Denkschrift.2 Heines Beobachtungen am Zeitgenossen, konfrontiert mit Nietzsches Modell, sollen zeigen, dass der Philosoph die wesentlichen Züge des Ressentiment-Charakters nicht als erster beschrieb.3

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Vgl. Bruno Hillebrand, „Nietzsche – der Dichter“, in: Renate Reschke (Hg.), Nietzsche. Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer?, Berlin 2004; Hanna Spencer, Dichter, Denker, Journalist – Studien zum Werk Heinrich Heines, Frankfurt/M. 1977; Herwig Friedl, „Heinrich Heine und Friedrich Nietzsche“, in: Wilhelm Gössmann und Manfred Windfuhr (Hg.), Heinrich Heine im Spannungsfeld von Literatur und Wissenschaft, Essen 1990. Heinrich Heine. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hg. von Manfred Windfuhr, Hamburg 1975ff. Im Folgenden: Düsseldorfer Heine-Ausgabe (DHA). Walter Kaufmann weist darauf hin: „Daß Nietzsche, wie man behauptet hat, diese Auffassung vom ressentiment nicht ohne jedes Vorbild entwickelt hat, ist […] nicht richtig. […] die stärkste Anregung zu dieser Vorstellung dürfte Nietzsche durch Heines Interpretation von Börnes Haß auf Goethe bekommen haben“, in: Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist, Darmstadt 1982, 483f.

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Vorab sei lediglich an die Genese des Begriffs Nazarener erinnert, der um 1810 als Spottname für junge deutsche Maler in der Künstlerstadt Rom aufkam. Jene trugen mit langem, in der Mitte gescheiteltem Haar ein christusähnliches Aussehen zur Schau und stellten ihr Schaffen in den Dienst der Religion. Bekanntlich schufen sie Bilder als gemalte Predigt, aus der ein breites Publikum seine Moralvorstellungen ziehen sollte.4 Heine löst den Begriff Nazarener aus dem Zusammenhang dieser Malerbewegung und macht ihn sich für ein grundsätzliches mitmenschliches Phänomen zu eigen. Anhand der Person Ludwig Börnes zeichnet er das Bild eines Menschentypus, der sich asketisch, leib- und materiefeindlich vergeistigt hat. Eigenschaften wie Eifersucht, Misstrauen und Neid benennt Heine als markante Züge dieses Naturells. Namentlich von den Qualen der Eifersucht wisse Börne viel zu sagen, „wie denn überhaupt die Eifersucht in seinem Charakter lag, und ihn, im Leben wie in der Politik, alle Erscheinungen durch die gelbe Lupe des Mißtrauens betrachten lieߓ.5

Ludwig Börne, vorgeführter Prototyp des Nazareners Die Denkschrift über Börne erscheint fünf Jahre nach dessen Tod im Jahr 1840. Heines Schreibmotivation ist keineswegs eine Abrechnung mit dem Frankfurter Radikaldemokraten, sondern eine Rechtfertigung seines Verhältnisses zu Börne, eingebettet in die Zeit. Über einen Zeitraum von mehreren Jahren hatte sich Heine in der Öffentlichkeit des Kommentars enthalten, während Börne ihn seit 1833 verunglimpfte. In der Denkschrift nun nimmt Heine die Rolle des souveränen Opfers ein und analysiert die Beweggründe für den Hass des nazarenischen Fanatikers. Nichts anderes als Neid, den Kern des Ressentiments, vermutet er als Ursache für Börnes Verachtung: „in Betreff meiner hat der Selige sich solchen Privatgefühlen hingegeben, und alle seine Anfeindungen waren am Ende nichts anders als der kleine Neid, den der kleine TambourMaitre gegen den großen Tambour-Mayor empfindet“.6 Aufsehen erregte die Börne-Schrift bei ihrer Veröffentlichung besonders durch die genauen Kenntnisse der Privatsphäre, die Heine ins Licht der Öffentlichkeit zerrt. Er verrät das häusliche Dreiecksverhältnis mit der von Börne geliebten Jeanette Wohl und deren Ehemann Salomon Strauss. Der Haushalt beruhe auf Heuchelei und Immoralität, erklärt Heine, und meint damit nicht, im Hause Börnes werde das herrschende Moralverständnis überwunden. Heine erkennt für sich selbst Regeln an, die er seiner Seele eingeboren empfindet und vor sich selbst zu verantworten weiß. Börne dagegen wage es ausschließlich im Verborgenen, „von Evas verbotenen Aepfeln zu kosten“7, erklärt er. Ihm fehle nach außen jegliche Majestät der Genussseligkeit. Dabei sei das Gefühl der

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Vgl. Hans-Joachim Ziemke, Zum Begriff der Nazarener, Katalog der Ausstellung im Städelschen Kunstinstitut, Frankfurt/M. 1977; Gudrun Jansen, Die Nazarenerbewegung im Kontext der katholischen Restauration, Essen 1992, 103ff. DHA 11, Ludwig Börne, 20. Ebd., 88. Ebd.

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Liebe grundsätzlich sehr stark in Börne ausgeprägt.8 Mit solchen Beobachtungen entlarvt er Heimlichkeit und Lüge. Die dieser Deutung entsprechende These begründet Nietzsche: „so ist der Mensch des Ressentiments weder aufrichtig noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu“ (KSA, GM, 5, 272). Heine wie Nietzsche, sehen im Verbergen eine Ursache für aufbegehrende, feindliche Gefühle, für eine Steigerung des Hasses. Heine war es zuerst, der an Börne erklärte, wie sehr Beschränktheit und Selbsttäuschung den Nazarener bis in die Verleumdung trieben. Nietzsches Mensch des Ressentiments kennzeichnet überdies ein schroffer Asketismus9, wie Heine ihn an Börne auf die Spitze getrieben sieht. Er beobachtet in dessen „Gesichte lauerndes Mißtrauen, im Herzen eine blutdürstige Sentimentalität“10 und weiteres ressentimentbeladenes Verhalten. Etwa ein Schweigen, wenn er bemerkt: „In großer Gesellschaft war Börne wortkarg und einsylbig, und dem Fluss der Rede überließ er sich nur im Zwiegespräch.“11 Auch die subjektivische Befangenheit, mit der Börne laut Heine publizistisch tätig war, entspricht den Analysen Nietzsches, der sagt: „seine Seele schielt; […] er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demüthigen“ (ebd.). Da Heine den Kontrahenten Börne zu verschiedenen Lebzeiten beobachtet und chronologisch von den Ereignissen berichtet, macht er die Feststellung, die nazarenischen Züge seines Wesens seien mit zunehmendem Alter stärker hervorgetreten. Offenkundig setzt sich das Nazarenische in Börnes Natur durch. Nietzsche wertet diese Entwicklung später als das langsame Aufsteigen der Ressentiment-Moral, die aus einer christlichen Tradition erwächst. Auch bei Heines Nazarener ist die Religiosität eine zentrale Kraft, die in der Person wirksam wird. Heine schildert an Börne eine sich steigernde, vergeistigte Frömmigkeit: „Psychologisch merkwürdig ist die Untersuchung, wie in Börne allmählich das eingeborene Christentum emporstieg“12; ergänzend heißt es: „er sank fast in den Katholizismus.“13 Auch nach Nietzsche sind der christliche Glaube und die christliche Moral Ausdrucksformen eines tief sitzenden Ressentiments. – Es war Heine, der zuvor die jüdisch-christliche Tradition dafür kritisiert hatte, dass sie den Geist allein verherrliche und die Sünde in die Welt gebracht habe. Auch finden sich weitere existenzielle Erkenntnisse in der Börne-Schrift, die die Philosophie Nietzsches berühren. So spricht Heine vom „Gottmensch“, von „hohen Geistern“ und wagt den Ausspruch: „Pan ist todt!“14 Nietzsche griff dieses Zitat in der Geburt der Tragödie wieder auf: „‚der große Pan ist todt‘: so klang es jetzt wie ein schmerzlicher Klagelaut durch die hellenische Welt“ (KSA, GT, 1, 75).

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Vgl. DHA 11, Ludwig Börne, 20. Auch bei Nietzsche spielt Liebe im Zusammenhang mit dem Ressentiment eine Rolle, aber diese Liebe erwächst aus dem Hass. Sie ist eigentlich Hass. Heine weist lediglich darauf hin, dass beide Gefühle in Börne stark veranlagt waren. Vgl. ebd., 19. Ebd., 87. Ebd., 32. Ebd., 19. Ebd., 19. DHA 11, Ludwig Börne, 50.

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Ebenso vorausdeutend erklärt Heine im Reisebild Die Stadt Lukka die eigentlich „giftige“ Wirksamkeit der römischen Priesterschaft. Er stellt das historische Erscheinen der jüdisch-christlichen Religion als Betrug von Priestern bloß, indem er seinen Erzähler gegenüber der Mylady der Geschichte bemerken lässt: „Alles dieses ist altegyptisch und Ueberbleibsel eines Priesterthums, von dessen wundersamem Wesen nur die ältesten Urkunden etwas weniges berichten, eines frühesten Priesterthums, das die erste Weisheit erforscht, die ersten Götter erfand, die ersten Symbole bestimmt und die junge Menschheit […].“15 Die Protagonistin schneidet ihm an dieser Stelle das Wort ab und ergänzt die Rede mit dem Zusatz: „Zuerst betrog.“ Mit dieser Art ‚Priesterbetrugstheorie‘ untergräbt Heine forthin alle klerikale Herrschaft. Nietzsche war es dann, der die Priester als Wesen des Ressentiments bestimmte: „Aus der Ohnmacht wächst bei ihnen der Hass in’s Ungeheure und Unheimliche, in’s Geistigste und Giftigste“ (KSA, GM, 5, 266f.). Ihre Böswilligkeit gepaart mit Klugheit lasse den Komplex in seiner ganzen Fatalität zu Tage treten.16

Die auratische Figur Goethes als Gegenpol Die Denkschrift über Börne verstrickt auf bemerkenswerte Weise Ausnahmefiguren der Literatur mit Heines Entdeckung, besonders Johann Wolfgang von Goethes. Er ist die interessante Schlüsselfigur für einen weiteren Zugang zur Nazarener-Psychologie, weil er als heiterer Hellene und somit Gegenspieler des Nazareners auftritt. Gegen ihn, der auf der Seite des Prestiges und der gelebten Leidenschaft verortet wird, war Börnes Groll zu Lebzeiten besonders groß. Heine erklärt das Phänomen so: „Hier wirkte […] ein Hader, welcher, alt wie die Welt, sich in allen Geschichten des Menschengeschlechts kund giebt, und am grellsten hervortrat in dem Zweykampfe, welchen der judäische Spiritualismus gegen hellenische Lebenherrlichkeit führte, ein Zweykampf, der noch immer nicht entschieden ist und vielleicht nie ausgekämpft wird: der kleine Nazarener haßte den großen Griechen, der noch dazu ein griechischer Gott war.“17 Börne tritt in dem ‚Zweikampf‘ als Verfechter des Spiritualismus gegen den Sensualismus an. Beide Naturelle sind veranlagt, jedoch tendiert und entwickelt sich jedes Individuum nach seiner Facon zum einen oder anderen Extrem. Gedanken zur Gegensätzlichkeit dieser wesensbestimmenden Züge entwickelt Heine in der zweiten Hälfte der 30er Jahre und konstruiert damit die Spaltung der Menschheit in zwei Lager. In einem 1836 entstandenen Abschnitt der Elementargeister beschreibt er erstmals, dass sich der „übergeistige Judäismus der Nazarener“ und eine „hellenische Heiterkeit“ antagonistisch 15 16

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DHA 7/1, Reisebilder III/IV, Die Stadt Lukka, 179f. Klugheit bescheinigt Heine wörtlich auch Börne. Gerhard Höhn fragt bei einem Vergleich der religiösen Thesen, ob sich Nietzsche legitim Begründer der Psychologie des Christentums nennen dürfe. Heine hatte bereits zwei entscheidende Schläge gegen das asketische Ideal, das ein bestimmtes Temperament erzeugt, sowie gegen die Priester geführt. Vgl. Gerhard Höhn, „Farceur und Fanatiker des Ausdrucks“, in: Heine-Jahrbuch 36, hg. von Joseph A. Kruse, Stuttgart, Weimar 1997, 146. DHA 11, Ludwig Börne, 18.

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gegenüber treten.18 In der Denkschrift über Börne gehen die Begriffe ‚Juden‘ und ‚Christen‘ als eine Einheit im Nazarener auf. Heine benutzt diese Typ-Bezeichnung, nicht um eine völkerspezifische Identität zu kennzeichnen, sondern „eine sowohl angeborne als angebildete Geistesrichtung und Anschauungsweise“.19 Nietzsche, der wie Heine mit gegensätzlichen Begriffs-, Symbol- und Metaphernpaaren arbeitet, nimmt seinerseits die Vorstellung eines Kampfes auf, nur nennt er ihn anders. Für ihn heißt das Gefecht „Rom gegen Judäa, Judäa gegen Rom“ (KSA, GM, 5, 286). Dichter und Philosoph bedauern für ihre Schauplätze den Triumph der streng vergeistigten Naturen.20 Der Konflikt des Nazareners mit dem hellenischen Souverän tritt im Verhältnis Börnes zu Goethe offen zu Tage. Börne verliert seine ironische Distanz, wenn er über den Dichterheroen spricht, und er trägt seine Angriffe mit leidenschaftlicher Abneigung vor: „Seit ich fühle, habe ich Goethe gehasst, seit ich denke, weiß ich warum“, erklärt er.21 Fast nie kritisiert er Einzelaspekte bei seiner Auseinandersetzung mit der auratischen Figur, sondern gern den ganzen Goethe. Er fragt, was „den größten Dichter zum kleinsten Menschen gemacht habe“22 und sucht in seinen Rezensionen unentwegt nach Hinweisen auf menschliche Züge des Autors. Aus den Erkenntnissen konstruiert er ein persönliches Feindbild. Ein Akt, der nach Nietzsche die Reaktion eines ressentimentbeladenen Menschen ist. Börne kennt, das sei angemerkt, die Werke Goethes so gut und hat sie zum Teil sogar auswendig gelernt, dass er den unerreichbaren Vorläufer häufiger zitiert als irgendeinen anderen Dichter. Der tiefe persönliche Konflikt, der sich in Widersprüchen seiner Kommentare und der Heftigkeit der Attacken offenbart, wird überdies an seinen Manuskripten offenkundig. In der Regel waren die satzfertigen Bögen sauber abgeschrieben, aber bei den Goethe-Polemiken schien der Zeitschriftsteller noch beim Setzer Korrekturen vorgenommen zu haben.23 Nicht zuletzt gibt er eine wenig aufrichtig erscheinende Begründung dafür, warum er seinen Termin zur Audienz bei Goethe in Weimar verstreichen ließ und auf halber Strecke umkehrte: Ihn habe der alte Groll gegen den „zahmen, geduldigen, zahnlosen Genius“24 überfallen. Bei den Zeitgenossen löste die heroisierte Figur wahre (Ehr-)Furcht bei persönlichen Begegnungen aus. Karl Gutzkow und Ludwig Uhland etwa gaben ein Erzittern bei ihrem Besuch in Weimar zu. Heine hingegen berichtet mit hellenischer Heiterkeit von seiner Audienz: „ich war nahe daran, ihn griechisch anzureden; da ich aber merkte, dass er Deutsch verstand, so erzählte ich ihm auf deutsch, dass die Pflaumen auf dem Wege zwischen Jena und Weimar sehr gut schmeckten“.25 Die Ironie 18 19 20

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DHA 9, Elementargeister, 47. DHA 11, Ludwig Börne, 18. Heine wie Nietzsche ziehen Martin Luther in die Verantwortung: „Und Luther stellte die Kirche wieder her“ (KSA, AC, 6, 251), heißt es bei Nietzsche. Damit habe dieser Judäa ermöglicht und dem Ressentiment einen erneuten Sieg. Ludwig Börne, Sämtliche Schriften, hg. von Inge und Peter Rippmann, Düsseldorf, Darmstadt 1964ff., Bd. III, 71. Ebd., Bd. II, 857. Vgl. Willi Jasper, Keinem Vaterland geboren. Ludwig Börne, Hamburg 1989, 231. Ludwig Börne, Sämtliche Schriften, Band IV, 848. DHA

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einer solchen Situationsbeschreibung zählt zu den von Nietzsche gerühmten Stileigenschaften. Er deutet sie als einen Ausdruck der Stärke und nicht des Ressentiments. „Ich suche umsonst in allen Reichen der Jahrtausende nach einer gleich süssen und leidenschaftlichen Musik. Er [Heine – S. W.] besass jene göttliche Bosheit, ohne die ich mir das Vollkommene nicht zu denken vermag, – ich schätze den Werth von Menschen […] darnach ab, wie nothwendig sie den Gott nicht abgetrennt vom Satyr zu verstehen wissen“ (KSA, EH, 6, 286). Börne selbst erklärt zum Goethe-Komplex, seine Kritik gehe aus der Sorge hervor, selbst ein „eitler Narr“ wie jener zu werden. Dabei gibt er in seinem 54. Brief aus Paris preis: „Ich wollte werden, sein wie er […] Nicht bis an die ersten Wolken kam ich. Ich fiel hinunter; aber mit blutigem Munde küsste ich meine gute Erde und vergaß die Schmerzen.“26 Mit Hass-Kritik betäubt er Schmerzen wie diese, die ihm durch eigene Schwäche wiederfahren. Dieses Verhalten als Reaktion erkennt Heine, bevor Nietzsche die These begründet, dass die Sklavenmoral, die aus dem Ressentiment erwächst, „von Grund aus Reaktion“ (KSA, GM, 5, 271) sei. Das Gesamtbild des Goethekomplexes erscheint bei Heine als stimmiges Bild von Ursache und negativer Wirkung mit dem Fazit: „Börne war ganz Nazarener, seine Antipathie gegen Goethe ging unmittelbar hervor aus seinem nazarenischen Gemüte.“27

Thomas Mann. Ein Verweis auf die Genealogie Im Kontext der Heine-Nietzsche-Konstellation ist der Vorgriff auf die RessentimentPsychologie als eine der weitreichendsten Anregungen Heines zu betrachten. Einer der ersten, der auf die Genealogie verwies, war Thomas Mann. Er rückte als Verehrer von Nietzsche wie Heine die Thesen beider in eine genealogische Reihenfolge. Mann notiert 1908 über Heine: „Von seinen Werken liebe ich längst das Buch über Börne am meisten. Er war als Schriftsteller und Weltpsycholog nie mehr auf der Höhe, nie weiter voraus als in diesem Buch […] Seine Psychologie des Nazarener-Typs antizipiert Nietzsche.“28 In einer der frühen Mann-Monographien von Franz Leppmann findet sich die ideengeschichtliche Reihe weiter gedacht: „Mindernickels Gesicht sieht so aus, als habe das Leben mit der vollen Faust hineingeschlagen, er ist mit allen Wundmalen des Nazarenertums ausgestattet, auch mit dem scheuen Blick, der seit Heines und Nietzsches Tagen dazu gehört, und den Hanno Buddenbrook und Savonarola haben.“29 Walter Kaufmann und Hanna Spencer wiesen in der Forschung bereits darauf hin, dass Heines Analyse des Hasses, den der Nazarener Börne empfindet, die Psychologie des Ressentiments sei.30 Und selbst ein Heine-Gegner wie Karl Kraus, der dem Dichter 26 27 28 29 30

Ebd., III, 315f. DHA 11, Ludwig Börne, 19. Thomas Mann, Gesammelte Werke in XII Bänden, Frankfurt/M. 1960, Bd. 10, 839. Franz Leppmann, Thomas Mann, Berlin 1916, 33. Vgl. Hanna Spencer, Dichter, Denker, Journalist, 84f. In Bezug auf das Ressentiment urteilt Spencer: „diese Enthüllung hat Nietzsche bereits bei Heine vorfinden können […] Mit der Gestalt Lud-

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in seinem polemischen Fackel-Aufsatz Heine und die Folgen vorwirft, er habe der deutschen Sprache das Mieder gelockert, gesteht ein: „so hat Heine vor Nietzsche den Nazarenertypus antizipiert“.31 Er relativiert den Hinweis allerdings, indem er die Überlegung vorausschickt: „Der Gedanke ist in der Welt“, und „wer ihn sucht, ist ein ehrlicher Finder, ihm gehört er, auch wenn ihn vor ihm schon ein anderer gefunden hätte.“32 Ein philologischer Nachweis über Nietzsches Lektüre des Börne-Buches liegt nicht vor. Aber bereits Gerhard Höhn stellt die rhetorische Frage: „Ist es möglich, […] daß der junge Hellenist Nietzsche ‚Ludwig Börne‘ nicht kannte, als er in der ‚Geburt der Tragödie‘ ebenfalls den Ausspruch zitierte: ‚der grosse Pan ist todt‘?“33 Walter Kaufmann behauptet, das Börne-Buch dürfe Nietzsche als Vorbild für Der Fall Wagner gedient haben sowie es Gedanken enthält, die an Nietzsches Übermenschen erinnern: „Bey ganz ausgezeichneten, über ihr Zeitalter hinausragenden Geistern kann daher die Menge nie wissen, ob sie Charakter haben oder nicht, denn die große Menge hat nicht Weitblick genug, um die Kreise zu überschauen, innerhalb derselben sich jene hohen Geister bewegen.“34 Bei Heine wie Nietzsche sind die Theorien über das Nazarenertum und Ressentiment ein Bestandteil ihrer Gegenwartskritik. Ihre Diagnosen treffen sich in den genannten Punkten, die Interessen aber unterscheiden sich, indem der Dichter vorrangig seine Zeit in den Griff bekommen will und seine Hoffnung auf den Geistern der Gegenwart und ihrer Wirkmächtigkeit ruht. Den neuen Menschen erhofft sich Heine als ein gesamtgesellschaftliches Phänomen im Sinne einer ‚Götterdemokratie‘35, während Nietzsche das Kommen des Übermenschen als seltenes Individuum in der Masse ersehnt und in wenigen welthistorischen Menschen seiner Zeit allein den vorweggenommenen Ausdruck desselben erkennt.

Schlussbetrachtungen Für seine Entdeckung der Psychologie des Nazareners findet Heine den Begriff „nazarenische Beschränktheit“36 und spricht vom nazarenischen Gemüt. Das Modell ist anwendungsorientiert, auf Börne bezogen, den „Sklave[n] der nazarenischen Abstinenz“.37 Der Ausdruck Sklave, der hier schon bei Heine fällt, beeindruckt, weil er bei Nietzsche nicht zu trennen ist von der Analyse der Ressentiment-Moral, die eine Skla-

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wig Börnes hat Heine geradezu ein psychologisches Modell für diesen tiefliegenden Komplex geschaffen“; Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosoph – Psychologe – Antichrist, 483f. Karl Kraus, „Heine und die Folgen“, in: Schriften, hrg. von Christian Wagenknecht. Bd. 4: Untergang der Welt durch schwarze Magie, Frankfurt/M. 1989, 202. Der Aufsatz erschien im Dezember 1910 im Verlag Albert Langen, München und im August 1911 in der von Kraus herausgegebenen, in Wien erscheinenden Zeitschrift Die Fackel Nr. 329/330. Ebd. Gerhard Höhn, „Farceur und Fanatiker des Ausdrucks“, 140. DHA 11, Ludwig Börne, 120. Vgl. DHA 8/1, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, 61. DHA 11, Ludwig Börne, 18. Ebd., 31f.

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ven-Moral ist. Insgesamt betrachtet, erkennt Heine den Ressentiment-Charakter in den wesentlichen, negativen Auswüchsen. Die schöpferischen Folgen der Daseinsform nimmt er nicht wie Nietzsche als interessantes, sondern lediglich als amüsantes Element wahr. Dies wird deutlich, wenn er spottend bemerkt, dass Börne seine bösartigen Äußerungen „zu wunderlichen Privatzwecken verarbeitet“.38 Für Nietzsche aber ist gerade diese Reaktion essenziell: Die Züge des beschriebenen Naturells geben die Bedingung dafür ab, „dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert“ (KSA, GM, 5, 270). Nietzsche kommt zu dem Schluss, dass „der Mensch auf dem Boden dieser Daseinsform überhaupt ein interessantes Thier geworden ist“ (ebd., 266), weil sich aus dem Ressentiment etwas Neues entwickelt. Diesem Phänomen begegnet Heine mit Verwunderung, stellt aber wie als Herausforderung an den Philosophen die Frage: „Wer löst uns das Räthsel dieses Mannes [Börne – S. W.], der in weichlichster Seide erzogen worden, späterhin in stolzen Anflügen seine innere Vornehmheit bekundete, und gegen das Ende seiner Tage plötzlich überschnappte in pöbelhafte Töne und in die banalen Manieren eines Demagogen der untersten Stufe?“39 – Die Vornehmheit nennt Heine an dieser Stelle als einen Zug, der beim jungen Börne aufgesetzt scheint und den er im Laufe des Lebens an diesem verschwunden glaubt. Nietzsche definierte Vornehmheit als einen zentralen Begriff innerhalb seiner Philosophie der Macht und der Mächtigen. Die vornehme Natur ist Werte schaffend, überlegen und ehrfürchtig vor sich selbst. Wenn Goethe in diesem Sinn als vornehm gelten darf, dann sei eine abschließende Bemerkung zur Börne-Goethe-Beziehung dahingehend aufschlussreich, als der alternde Börne, mit den Merkmalen des Schwachen ausgestattet, sich den Vornehmen zum Feind wählt. Diese Ressentiment-Reaktion par excellence als interessantes Moment zu werten, trennt Heine von Nietzsche.

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Ebd., 88. DHA 11, Ludwig Börne, 72.

III. Aufsätze

BABETTE E. BABICH

Nietzsches Ursprung der Tragödie als Musik Lyrik – Rhetorik – Skulptur

Nietzsche ist dieser seltene Philosoph, der auf eine erstaunlich breite Skala von Lesern wirkt, sowohl in der Mitte als auch am Rand der Philosophie, innerhalb und außerhalb universitärer Kreise. Vielleicht noch interessanter als diese breite Wirksamkeit ist die Tatsache, dass er sie seinerseits voraussah, wie ein Romancier, der mit sich selbst als künftigem Bestsellerautor kokettiert. Doch nicht nur dies. Nietzsche trifft seine selbstbewussten Aussagen über die Zukunft in einer Weise, dass aus seiner Perspektive Zurückweisung und Zustimmung gleich überflüssig sind. Und, was am bezeichnendsten ist: seine Voraussagen haben sich als derart präzise erwiesen, dass Philosophen (aber auch Kultur- und Politiktheoretiker) ihn als Stichwortgeber der Gegenwart nehmen, so dass sie ihn zu einer Art Nostradamus des 19. Jahrhunderts machen. Um solche Exzesse hartnäckiger Gelehrtengläubigkeit zu vermeiden, rief Nietzsche nach dem Heilmittel des Misstrauens, im ersten Teil der 1886 entstandenen Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches (Paul Ricoeur, nicht der einzige, der bei Nietzsches Sprache Anleihen nimmt, nennt Nietzsche, zusammen mit Sigmund Freud und Karl Marx einen ‚Meister der Verdächtigung‘). Nur sind die Qualitäten des von Nietzsche erwünschten Verdächtigens selten, stattdessen klagen Gelehrte, dass er in seinen Diagnosen allzu geläufig bleibe: Nietzsche scheint fast alles für fast jeden zu sein.1 David B. Allison hat diese Wirkung zum Thema gemacht: „Nietzsche schreibt ausschließlich für dich. Nicht an dich gerichtet, aber für dich. Für dich, den Leser. Nur für dich“.2 Aber wesentlich an Nietzsches komplexer Anrede an den Leser ‚nur dich‘ (wie er in Schopenhauer als Erzieher die Wirkung Arthur Schopenhauers auf sich selbst beschreibt) ist, dass die empfundene Intimität von Nietzsches Schreiben exzessiv zugänglich ist. Wo Schopenhauer schreibt ‚als ob er für‘ Nietzsche geschrieben hätte, will er, in der Tat und im Gegensatz zu Nietzsche, „nie scheinen: denn er schreibt für sich“ (KSA, SE, 1, 346, Hervorheb. B. B.). Nietzsche hingegen verfasst seine eigenen Bücher als ‚Allerweltsbücher‘. Komplexer als dieser Eindruck vulgärer Handhabbarkeit ist, dass das Paradigma eines Buches, das für jedermann geschrieben ist, am Ende die Bibel wäre, ein Buch, das abgefasst wurde, um jedermann in seine Aussagen einzuschließen. Weit entfernt davon, ein esoterischer oder geheimer Text zu sein, stellt sich das Wort 1

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Dies ist ein Kommentar, der von den Kommentatoren ständig wiederholt wird, seien sie Straussianer oder Nicht-Straussianer, analytischer oder kontinentaler Herkunft. Ich variiere ihn hier nur. David B. Allison, Reading the New Nietzsche, Lanham 2001, 1.

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Gottes als tief persönlicher, demokratisch inkludierender Text dar, der unmittelbar zum Leser spricht. Der rhetorische Stil der Bibel drückt dies aus, da er scheinbar die eigenen und intimsten Wünsche des Lesers ausspricht.3 In Menschliches Allzumenschliches hat Nietzsche bestätigt, dass die Bibel sein Modell sei; seine rhetorische Annäherung ist mitunter so getreu, dass manche Gelehrte Schwierigkeiten hatten zu erkennen, wo Nietzsches Text sich von dem der Bibel unterscheidet.4 Hier geht es nicht darum, die Frage nach Nietzsches religiösen Überzeugungen aufzuwerfen: Ich bin ich an der Frage des Rhetorischen interessiert. Das rhetorische Ziel und die rhetorische Leistung von Nietzsches Stil, der gegenwärtige und sich fortsetzende Eindruck seines Schreibens ist weder auf die sensitive Empfänglichkeit in unseren zeitgenössischen Reaktionen noch auf die Überzeugung zu reduzieren, dass er seiner Zeit voraus gewesen sei.5 Sehr sorgfältig kalkuliert, ist Nietzsches Stil das Ergebnis einer vollendeten literarischen Kunstfertigkeit, eine ‚Kunst des 3

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Wichtig ist, zu betonen, dass Nietzsche seine biblischen Variationsübungen nicht auf das Buch beschränkt hat, in dem dies am offensichtlichsten ist: Also sprach Zarathustra. Tatsächlich charakterisiert ein parabolischer Zug Nietzsches gnomische, aphoristische Texte, auch wenn die Bibel nicht unmittelbar hineinverwoben ist; dies reicht, von sehr frühen Arbeiten bis zu späten, von der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung zu Menschliches, Allzumenschliches und zum Antichrist und Ecce Homo. Es ist wichtig festzuhalten, dass Nietzsche den Zarathustra nach dem Modell Wagnerscher Opern entwarf, woran Ernst Bertram vor fast einem Jahrhundert in Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1918, erinnert, angefangen mit dem Kapitel Arion, 117ff. Siehe auch: Angèle Kremer-Marietti, L’homme et ses Labyrinthes. Essai sur Friedrich Nietzsche, Paris 1972; dies., Thèmes et structures dans l’oeuvre de Nietzsche, Paris 1957; Paul Loebs, „The Dwarf, the Dragon, and the Ring of Recurrence: A Wagnerian Key to the Riddle of Nietzsche’s Zarathustra“, in: Nietzsche-Studien 31 (2002) erwähnt die Vorgängerin, obgleich die Thematik eine der relativ bekannteren in der internationalen kulturellen Nietzscherezeption ist; siehe auch: Georges Liébert, Nietzsche et la Musique, Paris 1995. Die jüngere Rezeption ist auf dies religiöse Gewissen aufmerksamer geworden, gleichwohl war dieser Aspekt in der Forschung von Anfang an präsent. Gefährlicher als das Spektrum von Nietzsche-Forschern, die in der Bibel selbst nach einem von Nietzsche ‚gefundenen‘ Satz suchen (ein Bild wie das von Tübinger Theologen, die sich in Gebüschen entlang des Neckars verstecken), ist die größere Zahl von Gelehrten, die diese und andere Bezüge übersehen, unter den Zeitgenossen von Nietzsche bis heute. Diese Bezüge müssten Nietzsches Freunde und Zeitgenossen wie Erwin Rohde, Paul Rée und Wagner einschließen, aber auch Immanuel Kant und Arthur Schopenhauer, Friedrich Hölderlin, Johann Wolfgang von Goethe, Giacomo Leopardi, Balthasar Gracian, Niccolò Machiavelli. Im Blick auf die Antike äußert Nietzsche rhetorisch Zweifel gegenüber Sokrates und Epikur, man kann auch jenseits von Platon den Einfluss von Empedokles, Anaximander, Heraklit, Pindar, Sophokles, Epiktet, Marc Aurel finden. Robert Small hat in Nietzsche in Context, Aldershot 2001 hervorragende Arbeit geleistet, einige von Nietzsches Zeitgenossen zu erforschen und die Namen derer, die andere Einflusspuren überliefern, sind Legion in der Kommentarliteratur. Mit Blick auf Paul Rée: Robin Smalls Einleitung in Paul Rée, Basic Writings, Urbana 2003, auch David B. Allisons Erörterung von Rée, Nietzsche und Lou Salomé in Reading the New Nietzsche. Keineswegs kommt Nietzsches Appell von aufgeklärtem Vertrauen, aufgrund dessen wir uns von einer verdummten Vergangenheit emanzipiert hätten und das der Emanzipation klassischer Aufklärung unterlegen ist. Vielmehr geht es um Emanzipation gegenüber der gewöhnlichen und modernen Tendenz in postmoderner Zeit.

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Schreibens‘. – Weit entfernt von Spontaneität und unkontrolliertem affekthaftem Ausdruck, der seinem Schreibstil zugeschrieben wird, verbrachte er jeden möglichen Moment damit, diese Kunst zu erproben. Seit Beginn seines Gelehrtenlebens als Lehrer und Schriftsteller war sein Verständnis des rhetorischen Stils nichts weniger als ein Mittel, ihn zu der Frage zu führen, was zuerst oder vorbereitend erforderlich ist, wenn man schwierige Dinge zu sagen versucht, Sachverhalte, die schwierig sind, den Lesern und der Art, wie sie lesen, vorgelegt werden sollen. Um Nietzsches Leistungen auf dem Feld der Rhetorik zu verstehen, müssen wir seine Genese als Gelehrter in Betracht ziehen. Er bekam seinen Lehrstuhl nicht auf dem geläufigen Weg der Gelehrtenlaufbahn, beugte sich nicht dem Zwang, eine Dissertation akademischen Anforderungen zu unterwerfen, sie gegenüber einem Prüfungskollegium zu verteidigen. Vielmehr fängt er als literarischer Insider (in sehr esoterischer, doch typischer Weise) sein Forschungsleben in der deutschen Universitätstradition damit an, philologische Essays zu schreiben (mit sichergestellter Publikation und selbstverständlicher Anerkennung). Vermittelt durch die Einladung Friedrich Wilhelm Ritschls, entstehen sämtliche Aufsätze, Register, Berichte. Zusätzlich äußerte sich Nietzsche nach den überlieferten Gepflogenheiten sowohl in seiner Antrittsvorlesung als auch in einer Folge von öffentlichen Vorträgen spezifisch zu Fragen des Klassischen, doch so, dass dies die professionellen Disziplinen klassischer Philosophie durchkreuzte (zwischen historischer Präzision, kulturgeschichtlicher Exemplarität und gestalterischer Vortrefflichkeit, wie Nietzsche versucht, diese Spannung offen und esoterisch in der Geburt der Tragödie zu skizzieren). Indessen war er auch, wir sollten dies nicht vergessen, ein sehr konsequenter Lehrer der Rhetorik. Ein solcher, an den Leser gerichteter, sich selbst in Frage stellender Stil6, ist in den Büchern, die er für die Publikation vorbereitete, ebenso zu finden wie in seiner epistolischen Tätigkeit.7 Das bedeutet, dass ein sorgfältiges Studium der Kunst der Sprache Nietzsche nicht nur eine ‚theoretische‘, sondern ebenso und in dieser Ausnahmestellung in einer unter Gelehrten bemerkenswerten Weise eine ‚praktische‘ Meisterschaft in der Kunst schriftlicher Komposition, des Stils erwarb.8 Diese Meisterschaft führt nicht unbedingt dazu, dass Nietzsche einfacher zu lesen ist, aber sie bedeutet, dass in seinen Texten sehr viel mehr vor sich geht, als bei erster Begegnung oder vielen solcher Be6

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Zur Behandlung seines leser-adressierten, selbst-dekonstruierenden Stils siehe Babette E. Babich, „Nietzsche’s Self-Deconstruction: Philosophy as Style“, in: Soundings 73, Spring 1990, 50ff. und „On Nietzsche’s Concinnity: An Analysis of Style“, in: Nietzsche-Studien 19 (1990). Gemäß altphilologischer Bildung neigte Nietzsche dazu, den einen Brief an jeden seiner Freunde zu schreiben, aber er wandelte ihn ab, um sich an jede Person individuell zu richten; er entwarf zunächst eine Skizze, führte sie dann auf der Grundlage desselben zugrundeliegenden Themas an die verschiedenen Briefpartner aus. In diesem Kontext und gegen den Sturm der Textexegese, der in den Nietzsche-Studien im Gange ist, scheint mir die Relevanz von Nietzsches Lektüre von Gustav Gerbers Die Sprache als Kunst, 2 Bde., Bromberg 1871, soweit sie in Nietzsches, zu seinen Lebzeiten unpublizierte Abhandlung Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne Eingang fand, nach meiner Lektüre weniger ein Fall unterdrückten Einflusses zu sein als realer (oder routinierten) Einflussnahme eines für brauchbar befundenen Handbuchs, insbesondere in dem damaligen Zeitalter der nicht mechanischen, nicht auf Fotokopien beruhenden Reproduktionsmittel.

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gegnungen offensichtlich wird. Teils hat dies mit Nietzsche selbst, teils mit seinem Publikum zu tun.

Griechische Musik, griechische Worte: der lyrische Klang der Tragödie Nietzsche lehrte seinen Studenten in Basel, dass ein genuines oder in Wahrheit ‚klassisches‘ Verständnis der Kunst von Rhetorik, oder Stil, die genaue Kenntnis von Bedeutung und Funktionsweisen von Metapher, Metonymie und jedem anderen Tropos der geschriebenen Sprache einschließen müsse: im Blick auf eine gegebene spezifische Zuhörerschaft, was nicht auf einen grundsätzlich undemokratischen Akzent der Antike zurückgeht, sondern darauf, dass kein Buch für ein ‚allgemeines Publikum‘ abgefasst werden kann, ohne dass es auch und gleichermaßen an keinen gerichtet ist. In einem anderen Ausdruck dieser immanenten Begrenzung des Stils von spezifisch adressierten oder esoterischen Texten, besteht das Problem, das die antike Philosophie in ihrem spezifischen Kontext aufwirft, woran Pierre Hadot, aber auch Michel Foucault, Paul Ricoeur, Hans-Georg Gadamer und Ivan Illich in je besonderer Weise erinnert haben, wenn wir dies nicht schon von Nietzsche gelernt haben, darin, dass Philosophie von ihrem Ursprung und damit als Lebensform betrachtet, alles andere als ein offenes Buch ist. Vielmehr sind ihre spezifischen Dialogformen, Bekenntnisse und Meditationsbewegungen in der literarischen Gestaltung Unterredungspraktiken von einer sehr spezifischen Art und Weise, und, was besonders alarmierend ist, diese Formen, die nicht selbst Teil des Textes sind (obwohl sie Spuren in ein und demselben Text hinterlassen haben), sind in einem großen Ausmaß verloren gegangen, dass wir weder wissen noch wissen können, wie zu verstehen ist; oder, wie Nietzsche es ausdrücken würde: wir verstehen uns nicht mehr darauf, das zu ‚hören‘, was wir lesen. Eben dies meint Nietzsche am Beginn von Also sprach Zarathustra: „‚Da stehen sie‘, sprach er zu seinem Herzen, ‚da lachen sie: sie verstehen mich nicht, ich bin nicht der Mund für diese Ohren. Muss man ihnen erst die Ohren zerschlagen, dass sie lernen mit den Augen hören?‘“ ( KSA, ZA, 4, 18).9 Es ist bedenkenswert, dass man Nietzsches Sprechen von zerschlagenen Ohren und dem Hören mit eigenen Augen wie eine bloß figurale Rede vernimmt, als reine Metapher, in der Art des ‚Zwiesprache-Haltens‘ mit dem eigenen Herzen. Aber, wie Gerber in seiner Kunst der Sprache die Handbuchtradition der Rhetorik beschreibt und Nietzsche, weitgehend unabhängig davon, über dieselbe Tradition lehrte: es gibt nur Metaphern. Eine Aussage im Buchstabensinn, das Wort für die Sache zu nehmen, verlangt mehr, als die Sprache liefern kann. Jenseits der Kunst der Sprache, jenseits bloßer Metaphorik ruft seine Herausforderung unserer ‚Ohren‘ seine früheste und wichtigste Einsicht als Philologe zurück. Archäologisch in jedem Sinn, hatte der junge Nietzsche in seinem ersten Buch argumen9

Nietzsche bietet eine Umkehrung von Aristoteles’ Bezugnahme auf den Gebrauch proportionaler Metaphern in seiner Rhetorik, um seinen Hörern dazu zu verhelfen, zu „sehen“, Rhet. III, 10 und 11.

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tiert, sind schriftliche Zeichen, die aus der Vergangenheit überliefert sind, Konkretisierungen einer verschwundenen Lebensform. Im antiken Griechisch, das in phonetisch verstimmlichtem und klanghaftem Alphabet mit Metrum und Reim niedergeschrieben ist, haben wir nicht weniger vor uns als ‚Aufnahmen‘, eine gefrorene und kaum zu enträtselnde, aber ‚lesbare‘ und literale wörtliche Bewahrung des verlorengegangen Klanges. Wir hören nicht die Musik antiker griechischer Tragödien, würde Nietzsche argumentieren: aus diesem Grunde verfügen wir nur über den dürftigsten Teil dessen, was erforderlich wäre, um die antike griechische Tragödie zu verstehen. Doch seine triumphale Einsicht war, dass uns Hinweise auf diese Kunst nicht fehlen, wenn wir sie von ihren Ursprüngen im Volkslied auffassen, denn derselbe Geist derselben Musik kann in der lyrischen Dichtung gehört, nicht nur gelesen werden. Was er herausfand, als er in der Geburt der Tragödie und in den frühen öffentlichen Vorlesungen diese Verhältnisse zu beschreiben suchte, war, dass der Schlüssel zu den antiken Tragödien im Volkslied liege. In Anlehnung an Jean-Jacques Rousseau und Wilhelm von Humboldt beschreibt er diesen als Stimme des Volkes, die in der lyrischen Dichtung zu vernehmen ist, im Unterschied zu ihrer modernen Missdeutung als subjektiver Ausdruck. Als Gegensatz zwischen epischer und lyrischer Dichtung entworfen, stellt das Gegensatzverhältnis zwischen Homer und Archilochos das fehlende Zwischenstück zur Tragödie bereit, das er als Das griechische Musikdrama interpretiert. „Hiermit haben wir“, Nietzsche zufolge, „das einzig mögliche Verhältnis zwischen Poesie und Musik, Wort und Ton bezeichnet: das Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich.“ Er führt den Gedanken deutlicher fort: „In diesem Sinne dürfen wir in der Sprachgeschichte des griechischen Volkes zwei Hauptströmungen unterscheiden, je nachdem die Sprache die Erscheinungs- und Bilderwelt oder die Musikwelt nachahmte. Man denke nur einmal tiefer über die sprachliche Differenz der Farbe, des syntaktischen Bau’s, des Wortmaterial’s bei Homer und Pindar nach, um die Bedeutung dieses Gegensatzes zu begreifen; ja es wird Einem dabei handgreiflich deutlich, dass zwischen Homer und Pindar die orgiastischen Flötenweisen des Olympus erklungen sein müssen, die noch im Zeitalter des Aristoteles, inmitten einer unendlich entwickelteren Musik, zu trunkner Begeisterung hinrissen und gewiss in ihrer ursprünglichen Wirkung alle dichterischen Ausdrucksmittel der gleichzeitigen Menschen zur Nachahmung aufgereizt haben“ (KSA, GT, 1, 48). Ihr Nachklang konnte in der Dichtung vernommen werden, als Ausdruck der Musik des geschriebenen Wortes. In seiner ersten Baseler Vorlesung, die er im Sommer 1870 auch privat Richard Wagner vortrug, hatte Nietzsche dargelegt, dass es mit Mitteln der Philologie möglich ist, den musikalischen Rhythmus der Vergangenheit aufzudecken und, im wortwörtlichen Sinn, mit den eigenen Augen zu „hören“ (KSA, GMD, 1, 515). Schließlich bezog Nietzsche seine Inspiration für ein Verständnis des griechischen Musik-Dramas (wie er es umfassend in Die Geburt der Tragödie versucht hat) aus dem Text selbst (Philologie ist das einzige archäologische Mittel für seine Untersuchung), doch fand er diese Zusammenhänge ausschließlich, weil er musikalisch las und auf die Musikalität des Textes achtete (KSA, GT, 1, 17). Es ist zu bedenken, dass diese frühe und bleibende Einsicht nicht eine Frage, um die Formulierung zu verwenden, deren sich Nietzsche im Blick auf solchen Effekt in Nietzsche contra Wagner (gegen Kultur-

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Philistertum überhaupt) bediente, der Verwechslung des Libretto mit der Oper ist, noch (um den Gegensatz, den Wagner bevorzugte, ins Spiel zu bringen), die Musik unter das Gesamtkunstwerk zu summieren versucht, in dem Sinn, in dem Wagner Musik nur als Teil des Ganzen begriff. Es verhält sich mit Nietzsches Anfängen vielmehr so, weil wir im Fall antiker Überlieferung nur den Text haben; doch der Mangel der Musik (die einhergehende Abwesenheit eines ‚musikalischen‘ Lesens) rechtfertigt keineswegs die Folgerung, dass das, was uns heute fehlt, die ‚Partitur‘ oder Noten seien, wovon viele Forscher antiker Musik überzeugt sind.10 Nietzsches auch heute noch radikale These war vielmehr, dass der Text selbst die Musik sei: „Wer heutzutage von Aeschylus, Sophocles, Euripides spricht oder hört, der denkt unwillkürlich zunächst an sie als Litteraturpoeten, weil er sie aus dem Buche, im Original oder in der Übersetzung hat kennen lernen: dies ist aber ungefähr so als ob jemand vom Tannhäuser spricht und dabei das Textbuch und nichts mehr meint und versteht. Von jenen Männern soll also gesprochen werden, nicht als Librettisten: sondern als Operncomponisten“ (KSA, NF, 7, 9). Die Tragödie ging aus dem Volkslied hervor; sie war immer in Musik verkörpert, 10

Siehe Thomas J. Mathiesen, Apollo’s Lyre: Greek Music and Muid Theory in Antiquity and the Middle Ages, Lincoln 1999. Nietzsche ist besonders sorgfältig darin, sich von solchen Begründungen in seinen Baseler Vorlesungen über Das griechische Musikdrama zu distanzieren. Doch ist die angenommene Gewichtung der Notenschrift ungeachtet fehlender Evidenz dominierend. Selbst Martin West bemerkt nicht den extremen Grad an Aufmerksamkeit, der den vergleichsweise dürftigen Exemplaren musikalischer Notation zugewendet wird (Martin West, Ancient Greek Musik, Oxford 1992), wo die Evidenz der Notierung in der letzten von fünf Quellen für unser Verständnis antiker griechischer Musik aufgelistet ist; die Evidenz zeigt sich in verwinkelten Details. West zitiert Johann Friedrich Bellermann, Die Tonleitern und Musiknoten der Griechen, Berlin 1847, und ebenso Curt Sachs, „Die griechische Instrumentalnotenschrift und Die griechische Gesangsnotenschrift“, in: Zeitschrift für Musikwissenschaft 6 (1922/24) und 7 (1924/25); außer Bellermann zitiert er keine zeitgenössische Monographie. Siehe auch August Rossbach, Rudolf Westphal, Theorie der musischen Künste der Hellenen, Leipzig 1886. Obgleich Warren D. Anderson in seinem Anhang zu Saclae Systems and Notation in seinem Werk Music and Musicians in Ancient Greece, Ithaca 1994, zu Recht Wests Studie als herausragend hervorhebt, bemerkt er zugleich die Gefahren, die darin liegen, so viel Theorie und musikalischen Notationsapparat auf der Basis einer geringen Evidenz zu isolieren: vor den Harmonien von Aristoxenus können wir den tonoi keine Geschichte zuschreiben: in „variierenden Graden charakterisiert dieselbe Wissenslücke unseren Umgang mit harmoniai und Skalensystemen bis in die Hellenische Periode“ (Warren D. Anderson, Music and Musicians in Ancient Greece, 202). Anderson hält auch fest, dass „wir fast gar keine Spur irgendeines Systems griechischer musikalischer Notation haben, das mit Sicherheit so früh wie in das 5. Jahrhundert datiert werden kann“. Das einzige, was wir haben, sind Symbole, die von Alypius aufgezeichnet wurden, „die unser einziges Mittel sind, um zu versuchen die Melodien der griechischen Antike zu verstehen“ (ders., ebd., 203). Weil angenommen wird, dass Alypius nicht früher als im 4. Jahrhundert lebte, gibt Anderson zu verstehen, dass es ein Wunder gewesen wäre, wenn er darin erfolgreich hätte gewesen sein sollen, die musikalischen Praktiken der hellenischen Periode fortzusetzen, die sechs oder sieben Jahrhunderte vor seiner Lebenszeit virulent waren. Anderson zitiert Albert Riethmüllers Versicherung, dass „umso komplexer und sutbtiler sie (sc. die Annahmen) sind, umso mehr sich der Eindruck einstellt, dass wir es hier mit einer Art von Papier-Hervorbringungen zu tun haben“ (ders., ebd., 202, zit. nach Albert Riethmüller, Frider Zaminer (Hgg.), Die Musik des Altertums: Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Laaber 1989).

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„aus dem Volkslied aber ist die gesammte antike Dichtkunst und Musik hervorgewachsen“ (KSA, GMD, 1, 529), und aufgrund dieses Geboren- und Getragenseins sollte es ein Ergebnis des Verlustes jenes Geistes der Musik sein, dass das tragische Musikdrama seinen Tod von eigener Hand erleiden würde, ein Subtext (der Tod der tragischen Kunstform), der ausdrücklich Gegenstand der Geburt der Tragödie war.: „Die griechische Tragödie ist anders zu Grunde gegangen als sämmtliche ältere schwesterliche Kunstgattungen: sie starb durch Selbstmord, in Folge eines unlösbaren Conflictes, also tragisch“ (KSA, GT, 1, 75). Unter der Voraussetzung des Verschwindens des Geistes der tragischen Musik, so hat Nietzsche diese Einsicht später ausgeführt, ‚sehen‘, aber ‚hören‘ wir nicht mit unseren Augen, wenn wir Texte antiker Tragödien lesen. In seinen Vorlesungen zur selben Zeit legte er den Vergleich mit dem Mittelalter nahe, einer Zeit, in der Geschmack und Konvention so weit auseinandergefallen waren, dass, weil Konventionen, denen man folgen konnte, fehlten, Musik wörtlich ‚für das Auge‘ komponiert wurde. Die daraus resultierende ‚illustrierte‘ Partitur mutet uns „als helle Absurdität“ an; dabei färbte „man die Noten mit der Farbe der Dinge, von denen im Texte die Rede war, also grün, wenn Pflanzen, Felder, Weinberge, purpurroth, wenn die Sonne und das Licht erwähnt wurden. Es war dies Litteraturmusik, Lesemusik“ (KSA, GMD, 1, 517). Der springende Punkt für Nietzsche war, dass, wie der mittelalterliche Gelehrte bezaubert und von der Farbe eingenommen war, auch wir in unserer Wahrnehmung auf Zeichen begrenzt sind, die wir eher sehen als hören können, wenn es darum geht, antike Tragödie, den Gesang des antiken Musikdramas, zu verstehen. Diese emphatische Position Nietzsches kann damit verglichen werden, dass es einen bedeutenden Unterschied macht, wenn man als Musiker eine Partitur liest oder man dieselbe Partitur als nicht-musikalischer Leser studiert. Im bloßen Lesen der Partitur ‚hört‘ der musikalisch Geübte, was der andere nur sieht. Der Punkt ist, „dass wir gegen Aeschylus und Sophokles ungerecht sein müssen, dass wir sie eigentlich nicht kennen“ (ebd., 517). Da wir, wie es tatsächlich der Fall ist, das antike tragische Drama nicht lesen können, verfehlen wir es, mit unseren Augen zu ‚hören‘. Nach Nietzsche war der Mangel an musikalischem Lesen oder Hören das fundamentale Hindernis, das der Moderne bei dem Versuch der Annäherung an die antike Tragödie im Wege stand. Wir sind Welten von diesem Verstehen entfernt, nicht weil die antike Tragödie unter dem offenen Tageslicht aufgeführt wurde (nicht wie heute in abgedunkelten Theatern) oder weil ihr der Überraschungsfaktor einer Romanhandlung fehlt, sondern weil die Wort-Musik der antiken Tragödie für uns nicht erklingt: „Wir sind einer griechischen Tragödie gegenüber incompetent, weil ihre Hauptwirkung zu einem guten Theil auf einem Element beruht, das uns verloren gegangen ist, auf Musik“ (ebd., 529). Aus demselben Grund ist die Frage nach der Tragödie auf Fragen des Theaters, der Rolle des Schauspielers oder des Publikums verschoben worden. Über alldem verkennen wir die reflexive Zentralstellung des Chores als des Instruments des Werkes als Ganzem. Der nämliche Verlust der Musik ist auch der Schlüssel zum Wesen der antiken Tragödie, die nicht in der Dramenhandlung, sondern in Formen des ‚Pathos‘ umrissen wurde, und das bedeutet, wie Nietzsche diesen Zusammenhang verstand, des Empfindens in einem dezidiert musikalischen Sinn.

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Daher setzt sich Nietzsches Studium der Tragödie Aristoteles in zweierlei Hinsicht entgegen: indem er den ‚Mythos‘ vom Mythos (dem Handlungsplot) und die Funktion der Anagnorisis im Sinn der kathartischen Reaktion oder des Gewinns der Zuhörer an Erbauung zurückweist. Anstelle der ‚Therapie‘ des Theaters betont er das Geheimnis musikalischer Dissonanz als Schlüssel zum Wesen der Tragödie. Um ein Verstehen des griechischen Musikdramas anzubahnen, im Zugang zur antiken Tragödie, wendet er sich er dem Residuum zu, das in den Worten bewahrt wurde: dies ist die Evidenz der tragischen, lyrischen Poesie. Die philologischen Werkzeuge, die Nietzsche zur Erforschung der Antike gebrauchte, sind dieselben Werkzeuge, deren er sich bei jedem anderen Problem auch bediente. Wenn er in seinen frühen Schriften die Instrumente der Philologie verwendet, stilistische Werkzeuge des Lesens, die in der Absicht eingesetzt werden, die Problematik des lyrischen Künstlers zu fokussieren, die Dichtung als kristallisierten Klang oder als musikalisches Gesetz zu erklären, konzentriert sich sein späteres Schreiben auf dieselben Werkzeuge und auf Worte, im Sinn einer Genealogie begrifflicher Festlegungen zu unterschiedlicher Wirkung. – Dieselben Erwägungen, die Nietzsche zu seiner musikalischen (apollinisch-dionysischen) Einsicht in der Geburt der Tragödie brachten, in Entgegensetzung zu einer betont epistemischen, aristotelischen Deutung des kathartischen Vorzugs reiner Dissonanz (des tragischen oder Musikdramas), dieselben Erwägungen hatten zur Folge, dass sein eigenes Buch einen weit reichenden, (allgemeinen) Einfluss verfehlen musste, im Gegensatz zu einflussreichen Büchern und Traktaten: „Muss also nicht aus dem selben Grunde, aus dem solche Bücher wirkungsvoll sind, jedes rein wissenschaftliche Buch wirkungsarm sein? Ist es nicht verurtheilt, niedrig und unter Niedrigen zu leben, um endlich gekreuzigt zu werden und nie wieder aufzuerstehen?“ (KSA, MA-2, 2, 417). Aber der Punkt, dass ‚esoterische‘ Texte sich unfehlbar als ‚exoterisch‘ erweisen, wird von Nietzsche immer wieder wiederholt. Damit könnte man es sein Bewenden haben lassen, ohne dass man darauf zurückkommen müsste, wenn nicht der komplizierende Umstand bestünde, dass seine Einsicht die Bedeutung des Klassischen ebenso durchkreuzte wie positivistische Ansprüche modernen szientifischen und analytischen Denkens. Von allem wird angenommen, dass es von Natur aus kommunizierbar und idealiter jedem verfügbar ist.

Klassische Texte: Philosophen und Könige der Zukunft Als ‚Erzieher‘, der für die ‚besten‘ Leser schrieb, versuchte Nietzsche immer wieder, die Grenzen der rhetorischen Ausrichtung des Schreibens als Frage des Lesens und als entsprechende Notwendigkeit, die Kunst zu lesen zu ‚lernen‘, zu entwickeln. Das didaktische Projekt seines Schreibens war explizit exoterisch, der Absicht einer Verständigung im Allgemeinen zugeordnet. Im Unterschied dazu sollte das esoterische oder innere Problem der Philologie das Problem der Wechselbeziehung von Schreiber und Leser sein: das Problem der richtigen Leser, wie Nietzsche, der in seinen Empfindlichkeiten immer archaisch war, es für erforderlich hielt, es zu erkennen (oder dazu Ansätze zu unternehmen, oder es zu ahnen). Für seine Philologenkollegen bezeichnet er in einer

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Fußnote in Die fröhliche Wissenschaft das wissenschaftliche Projekt der Philologie als Unternehmen einer Bewahrung der ‚großen‘ Bücher, unabhängig davon, welche dafür gehalten werden; dies erfordert, was er die äußerste philologische Glaubenslehre nennt. Diese Überzeugung „setzt voraus, dass es an jenen seltenen Menschen nicht fehlt (wenn man sie gleich nicht sieht), die so werthvolle Bücher wirklich zu benutzen wissen: – es werden wohl die sein, welche selber solche Bücher machen oder machen könnten“ (KSA, FW, 3, 459). Nietzsche wiederholt die Aussage mit einem geschickt gewählten emphatischen Ausdruck: „Ich wollte sagen, die Philologie setzt einen vornehmen Glauben voraus, – dass zu Gunsten einiger Weniger, die immer ‚kommen werden‘ und nicht da sind, eine sehr grosse Menge von peinlicher, selbst unsauberer Arbeit voraus abzuthun sein: es ist Alles Arbeit in usum Delphinorum“ (ebd., Hervorheb. – B. B.) Hier ist es wert innezuhalten, um die Bedeutung der Anspielung ‚in usum Delphinorum‘ festzuhalten, die weit über die Grenzen jener Erläuterungen reicht, wie sie von Übersetzern und Kommentatoren gewöhnlich bereitgestellt werden. Die kraftvolle klassisch philologische Semantik von Nietzsches Verwendung des Ausdrucks, einer Variante von ad usum Delphini, ist oft trivialisiert worden, wenn sie nicht ganz übersehen wurde. Die Anspielung bezieht sich auf das imperiale, paternalistische Unternehmen, Spezialeditionen klassischer griechischer und römischer Texte hervorzubringen, die „für den Gebrauch des Dauphins“ bestimmt waren, was sich auf den Sohn von Louis XIV. bezog.11 Nun ist in diesem Zusammenhang wichtig, und dies war der Grund, warum Nietzsche das Zitat an dieser Stelle in seinen Text einfügte, dass der praktische Impetus und der Kulturcharakter der Zunft klassischer Philologen, ohne in Selbstzweifel zu kommen, an dem Projekt festhielt; derselbe Eifer, der nicht nur unendlich respektvoll, sondern unendlich devot zugleich war, bedingte den hohen moralischen Ton, der normalerweise bemüht wurde, wenn man sich auf die sogenannten ‚großen Bücher‘ bezog. Die ‚politische‘ Verbindung zwischen der standardisierten philologischen Konvention und Nietzsches Lektüre von Niccolò Machiavelli oder Rousseau ist, nach meinem Wissen, bisher nicht erforscht worden, wenn es um Nietzsche-Kontext geht. Nietzsches Problem liegt darin, dass das Unternehmen klassischer Philologie darin besteht, ‚gereinigtes‘ Quellenmaterial zur Verfügung zu stellen, was in Unterstellung eines vornehmen Lesers unternommen wird, der, ebenso wie der Dauphin, vor den besudelten und fragwürdigen Aspekten des rohen Quellenmaterials geschützt werden ‚muss‘. Aus der Sicht der legitimierten Mitglieder der Philologenzunft wurde angenommen, dass der Dauphin mit den künftigen Gelehrten in einer Übereinstimmung stand, mit verletzlichen und kostbaren ‚zukünftigen Lesern‘, die vor den weniger erbau11

Pierre-Daniel Huet (Hg.), Collection de classiques latins ‚Ad usum Delphini‘ (1674–1691), 67 Bde., davon 39 Verfasser, 5 Wörterbücher; Puget de Saint-Pierre, Historie de Charles de Sainte Maure, duc de Montausier, Genève, Paris 1784 ; Jacques Bénigue Bossuet, Politique tirée des propres paroles de l’Ecriture sainte, Paris 1709 ; Géraud de Cordemoy, De la nécessité de l’histoire, de son usage & de la manière don’t il faut mêler les autres sciences, en la faisant lire à un prince, dans Divers traités de métaphysique, d’histoire et de politique, Paris 1691. Beispiele des Projekts enthalten Jean Doujat, Abrégé de l’historie romaine et grecque, en partie traduit de Velleius Paterculus, et en partie tiré des meilleurs auteurs de L’Antiquité, Paris 1671 und Esprit Fléchier, Histoire de Théodose le Grand, Paris 1679.

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lichen Aspekten klassischer Literatur bewahrt werden müssen. Nietzsche liebte MalerMetaphern aus dem Bereich der Restaurierung, verglich die Kunst der Philologen mit der Arbeit eines Restaurators beschädigter Gemälde. Was Nietzsche nie vergaß (was heutige Philologen scheinbar nicht vollständig erfasst haben und diejenigen, die als Philologen arbeiten, im Zusammenhang der Ideengeschichte, noch nicht begonnen haben zu verstehen, indem sie das ignorieren, was Nietzsche historische Sensibilität genannt haben würde):12 dieser Zug besteht darin, dass ‚Texte‘, die aus dem philologischen Prozess gereinigt hervorgingen, niemals originale Werken ‚werden‘ können. Sie sind und bleiben konventionelle Restaurierungen: aufs genaueste präpariert (in einem Prozess gereinigt oder verwässert), bleiben sie Texte, die für sehr spezifische Augen produziert wurden. Wenn wir heute nicht mehr die moralische Rechtfertigung oder den Imperativ zu einem solchen Unternehmen haben, weil es keine Dauphins mehr gibt, die Moden sich geändert haben und Könige von Frankreich (um Bertrand Russells Referenz auf ‚Referenz‘ zu gebrauchen) entweder nicht-existent oder nicht mehr geehrt sind, leben die Ergebnisse in den Methoden heutiger klassischer Philologie weiter und in einem guten Teil dessen, was als philologische Quellengelehrsamkeit auch im Blick auf Nietzsche gilt.13 – Unter der Voraussetzung dieser philologischen Vorannahmen, indem er seine Arbeiten ‚für die Zukunft geschrieben bezeichnet, richtet Nietzsche keine persönlichen Liebesbriefe an das gegenwärtige Zeitalter, er betreibt vielmehr ein schmerzhaftes Wiederkäuen der Verdammmung des Autors und die Verfluchung der Arbeit des Philologen als definitiv sinnlos. Nietzsche schrieb in der Hoffnung auf die, die immer ‚kommen werden‘, aber zugleich jene sind, die nicht und nie da sind. Die idealen und besten Leser sind immer zukünftig, erklärt er und zeigt, dass Philologie von ihren Voraussetzungen her diese Überzeugung verlangt, trotz der widerstreitenden Tatsache, dass es keine Hinweise auf solche Leser gibt.14 Aber welcher Autor schreibt nicht für solche idealen Leser, wie imaginär sie sein mögen, welcher Autor verfehlt es, ihre Abwesenheit zu bemerken? Gewiss nicht Friedrich Hölderlin, der mit einer Leidenschaft, wie sie nur die Stimme eines Dichters evozieren kann, schrieb: „Aber Freund! Wir kommen zu spät“ (Brot und Wein).15

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Siehe Catherine Osborne, Rethinking Early Greek Philosophy: Hippolytus of Rome and the Presocratics, Ithaca 1987. Die Studie scheint relativ wirkungslos geblieben und der Presse entgangen zu sein. Nietzsches extremste Exemplifizierung seiner selbst-verfertigten oder idealisierenden Darstellung der Antike findet sich in den Zitiermethoden, die er in der Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen anwandte, mit kreativen Variierungen der vorplatonischen ‚Fragmente‘. Jenseits der Reaktionen Allen Blooms oder der Gegen-Reaktionen heutiger Ethno-Klassizisten in literarkritischen Studien zur antiken Philosophie vergleiche man nüchterne Interpretationen des Projekts in der Geschichte der antiken Philosophie (vgl. Catherine Osborne, Rethinking Early Greek Philosophy). Man ist an Lewis Carrolls reuevolle Alice erinnert, dieses Mundstück der Phantasie männlicher Begierden, ähnlich wie James Joyces Molly Bloom. „Es ist immer“, sagt Alice zur roten Königin, „Marmelade gestern und morgen aber niemals heute.“ Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Günter Mieth, Berlin, Weimar 1970 Bd. 1, 415

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Wie die Erwartung des Philologen, so wird sich, Nietzsche zufolge, die des Schriftstellers als Sache der Vergeblichkeit erweisen: vergeblich in mehr als nur einem Sinn. Wenn Nietzsche auf sein eigenes Schreiben in Ecce Homo zurückblickt, ruft er aus: „Ich selbst bin noch nicht an der Zeit, Einige werden posthum geboren“ (KSA, EH, 6, 298). Seine Überlegung ist selbst-zerfleischend konsistent. Es wäre sonderbar und selbstwidersprüchlich, zu erwarten, dass seine Werke verstanden werden können. Dass seine Leser Ohren haben für seine Kunst des Schreibens (er wählt die Metapher ‚Hände zu haben‘), dies wäre eine Erwartung, die sich gegen die konstitutiven Erfordernisse richten würde, die nötig sind, ein Buch überhaupt oder doch in erster Linie zu verstehen, Vorbedingungen der Interpretation, deren Wichtigkeit und Unverzichtbarkeit er immer festgehalten hat.

Griechische Bronze und der Körper in Raum, Architektur und Skulptur In Bezug auf Erziehung und Bildung als Gebärde wende ich mich nun der Reflexion der Skulptur zu; dies geschieht nicht nur, um an Nietzsches eigene Anrufung des Verhältnisses von Musik und Architektur zu erinnern, sondern wesentlich erhellt durch Martin Heideggers phänomenologische Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk. Ich werde, wie Nietzsche, die Skulptur in ein Verhältnis zum Bauen und der Landpflege setzen. Es sind der skulpturale Raum und die politische Bedeutung dieses Raums, die Nietzsches klassische Reflektionen über die Säulengänge des antiken Griechenlands auszeichnen, worin er fast dieselbe Landschaft in Worten malt, die als Hintergrund der Gespräche von Friedrich Hölderlins ‚Hyperion‘ diente. Er spielt auf die historische Ähnlichkeit der rekonstruierten Bilder, gegen Vorurteil und Phantasie über antike Skulptur, an, um den radikalen Kern seiner historischen Reflexionen in Das griechische Musikdrama einzuführen: „Galt es doch bis vor nicht lange als unbedingtes Kunstaxiom, dass alle ideale Plastik farblos sein müsse, dass die antike Skulptur die Anwendung der Farbe nicht zulasse. Ganz langsam und unter dem heftigsten Widerstreben jener Hyperhellenen, hat sich die polychrome Anschauung der antiken Plastik Bahn gebrochen, nach der sie nicht mehr nackt, sondern mit einem farbigen Überzug gedacht werden muss“ (KSA, GMD, 1, 518). Als Schlussfolgerung des Tragödien-Buches, ist die griechische Welt, die vorgestellt werden muss, eine Welt, die wilde dionysische Farben in eine ins Äußerste reflektierende und durchscheinende Welt hineinmischt. Dies ist nicht zufällig Apollos Welt, und Apollo ist nicht zufällig der Bildhauer-Gott. Wie steht es mit den Göttern und der skulpturalen Kunst im antiken Griechenland? Wir erinnern an Heideggers resümierende Wiedererinnerung, die er in seiner Abhandlung Der Ursprung des Kunstwerkes trifft, wenn er hervorhebt, dass die Figur des Gottes, die im Tempel aufgestellt wird, beides ist: sie ist und sie ist nicht der Gott. Heidegger zufolge ist diese Zwienatur Zeugnis für die Bedeutung der mitschaffenden Bewahrer eines Kunstwerks. Seine aletheische Einsicht entspricht Nietzsches Akzentuierung im Blick auf denselben Gegenstand und dieselbe griechische Konzeption aletheischer Wahrheit: „Das älteste Götterbild soll den Gott bergen und zugleich verbergen, – ihn andeuten, aber nicht zur Schau stellen. Kein Grieche hat je innerlich seinen Apollo als

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Holz-Spitzsäule, seinen Eros als Steinklumpen angeschaut; es waren Symbole, welche gerade Angst vor der Veranschaulichung machen sollten“ (KSA, MA-2, 2, 476).16 Die plastische Kunst, die Skulptur spannt Raum und Zeit zusammen, weil (aus antiker Perspektive) der Widerstand der Skulptur gegenüber dem Abstand der Kontemplation sie von der prototypischen Kunst der Malerei unterscheidet, es ist dieselbe Widerständigkeit, die sie mit Architektur und Musik verbindet. Eine Reflexion über die Kunstform von Skulptur und Architektur ist erforderlich, um Nietzsches traumhafte Schlussfolgerung in der Geburt der Tragödie zu fassen.17 Dort reflektiert er fantastische Erfahrungen des Träumers, der „in eine althellenische Existenz sich zurückversetzt fühlte: im Wandeln unter hohen ionischen Säulengängen, aufwärtsblickend zu einem Horizont, der durch reine und edle Linien abgeschnitten ist, neben sich Widerspiegelungen seiner verklärten Gestalt in leuchtendem Marmor, rings um sich feierlich schreitende oder zart bewegte Menschen, mit harmonisch tönenden Lauten und rhythmischer Gebärdensprache – würde er nicht, bei diesem fortwährenden Einströmen der Schönheit, zu Apollo die Hand erhebend ausrufen müssen: ‚Seliges Volk der Hellenen! Wie gross muss unter euch Dionysus sein, wenn der delische Gott solchen Zauber für nöthig hält, um euren dithyrambischen Wahnsinn zu heilen!‘“ (KSA, GT, 1, 155f.). Was zeigt uns die Oberfläche, der ganze ‚Olymp der Erscheinungen‘? Wenn wir die Frage stellen, rufen wir ins Gedächtnis, dass Apollo auch der Gott der Skulptur war. Wie aber korrespondiert Oberfläche mit Tiefe, wie Nietzsche sie in der beunruhigendsten unter seinen beunruhigenden Erwägungen nahe legt? Gibt es einen Weg zu sagen, die Ästhetik, als Spiel der Oberflächen, als denkerische Sinnlichkeit, entspreche tiefer Weisheit oder Abgründigkeit? Was gibt die Berechtigung festzustellen, dass unsere Antwort auf die Skulptur, die unsere leibliche Antwort, physisches Empfinden der Skulptur ist, eine solche sensitive Fähigkeit beinhaltet? Die Resonanz ist mehr als Reaktion, sie antwortet einer Forderung. Ich werfe deshalb die Frage nach der Skulptur als einer Kunst des Raumes auf, um mich dem Problem der Architektur zuzuwenden, indem ich Carl Boettichers Buch über den griechischen Blutkultus des Baumes, der mit Opfergaben der Schlacht und der Jagd behangen ist, anschaue; des Opfers, das, wie es auch Vitruv darstellt, die Linienführungen des Opfers als auch des Schmerzes anbahnt, das architektonisches Ornament und Gabe ist.18 16

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Wir können hinzufügen, dass dies das verlorene Geheimnis von Alkibiades’ Erfolg bei Athene ist. Es ist auch der Punkt, den Paul Veyne in seiner Studie Glaubten die Griechen an ihre Mythen?, Frankfurt/M. 1987 untersuchte. Dies ist ein kompliziertes Problem, der Leser sei an Studien, die besonders auf Apoll Bezug nehmen, wie die Arbeiten von Marcel Detienne, ebenso Peter Kingsley, In the Dark Places of Wisdom, Inverness, CA 1999. Dies kann auch erörtert werden, indem man Nietzsches topische Bezugnahme auf die Überhellenisierung der Hellenen aufnimmt, wofür das Beispiel reiner, nicht bemalter Marmorstudien symptomatisch ist. Carl Boetticher, Der Baumkultus der Hellenen, Berlin 1856. Siehe auch James G. Frazer, The Golden Bough: Taboo and the Perils of the Soul, London 1911, Arthur John Evans, „Mycenean Tree and Pillar Cult and its Mediterranean Relations“, in: Journal of Hellenic Studies 21 (1901): 99ff., und Walter Burkert, Homo necans: The Anthropology of Ancient Greek Sacrifice and Ritual, Berkeley 1983, Marcel Detienne, Jean-Pierre Vernant, La Cuisine du sacrifice en pays grec, Paris

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Plastische Kunst, die Kunst der Skulptur, verbindet Raum und Zeit, weil, aus griechischer Perspektive, die Widerständigkeit der Skulptur gegenüber der Distanz der Kontemplation, ihre Starrheit, sie wesentlich von der prototypischen Kunst der Malerei unterscheidet, dieselbe Widerständigkeit, die die Skulptur mit der Architektur und Musik verbindet. Man kann eine Skulptur nicht einfach anblicken, sie kontemplieren oder bloß ‚sehen‘. Vielmehr fordert die Plastizität der Statue den Betrachter, sie führt den Besucher als einen Gast in ihren Bereich ein, er verhält sich in Erwiderung auf sie, inmitten ihres eigenen Raumes und gefangen in ihrer eigenen Kreisbahn. Diese Dynamik ist der Grund, dass der Laokoon, der zuerst von Plinius als „Werk, das allen anderen Künsten von Malerei und Skulptur vorgezogen werden müsse“, gefeiert worden ist19, die Wirkung haben konnte, die er hatte. In persona, Auge in Auge, übte die Plastik eine vollständig, im Wortsinn zu verstehende galvanisierende Wirkung aus, die von Michelangelo, Johann Joachim Winckelmann, Johann Gottfried Herder und, am berühmtsten, von Gotthold Ephraim Lessing und Johann Wolfgang von Goethe gerühmt und erörtert wurde.20 Deshalb bleibt sie kanonisch und bis heute umstritten: ein Streit, der mit Originalität bzw. Herkunft (Fälschung oder römische Kopie) nichts zu tun hat. Simon Richter hat die Leidenschaft für die Erhaltung des Vergangenen als prägend für die Renaissance und Romantik als Grund für die ekstatische Wirkung hervorgehoben.21 Phänomenologisch betrachtet, geht es mir hier nur um diese Wirkung. Strittiger Punkt bei Richter ist, dass der Konservierungs-Impuls dazu führte, die Statuen in Holzboxen einzuschließen (eher aus Gründen der Pietät), bis zu Winckelmanns Lebenszeit, in der Epoche zwischen 1565 und 1770. Hätte er nur zwei Jahre länger gelebt, so wäre Winckelmann eine ganz andere Wahrnehmung möglich gewesen; aber weil er 1768 starb, kann Richter beklagen, dass er „die Statuen, die er so bewunderte, niemals anders als in einem düsteren Licht oder in der Illuminierung durch eine flackernde Fackel sah“.22 – Zweifellos hat Richter recht: doch möchte ich ergänzend zu bedenken geben, dass es unklar ist, ob das Erlebnis der Statuen im Tageslicht Winckelmanns Betrachtungsweise verändert haben würde, vor allem, weil er seine Sicht der Antike auf der Basis von Drucken in Bibliotheken ausbildete und nicht so sehr in authentischer An-

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1979, George Hersey, The Lost Meaning of Classical Architecture, Cambridge 1988, Vincent Scully, The Earth, The Temple, and the Gods, New Haven 1979 (1962). Plinius, Natural History, übersetzt von Frank Justus Miller, Cambridge 1977. Siehe Bernard Andreae, Laokoon und die Gründung Roms, Mainz am Rhein 1988, für eine Diskussion der irrigen Zergliederung des Allgemeinbegriffs der Skulptur als statutaria ars. Andreae argumentiert, dass der Begriff im Latein des Plinius ‚Bronze‘ bedeutet (vgl., ebd., 146f.) – Siehe auch Simon Richter, Laocoon’s Body and the Aesthetics of Pain: Winckelmann, Lessing, Herder, Moritz, Goethe, Detroit 1992. Simon Richter und Alex Pott (Flesh and the Ideal, Yale 1994), hoben hervor, dass Plinius’ Beschreibung so einflussreich war, dass anzunehmen ist, sie steht hinter der Inauguration jener Strömung, die Klassizismus genannt wird. Wir können feststellen, dass diese Leidenschaft bis heute fortbesteht, wenn auch wahr ist, dass sich unsere Leidenschaft zur Bewahrung nicht in der antiquarischen Begrifflichkeit der Renaissance oder der weniger reflektierten Nostalgie der Vor-Romantik artikuliert, sondern in dem eher objektiven Ansinnen, Verwüstungen durch Feuchtigkeit und zerstörende UV-Strahlung zu vermeiden. Simon Richter, Laocoon’s Body and the Aesthetics of Pain, 24.

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schauung. Bibliothekar, der er war, hatte er in jener Zeit einen privilegierten Zugang zu einer großen Zahl solcher Kataloge und stand unter ihrem bestimmenden Einfluss, so dass man sich vorstellen muss, dass die Beschreibung die Statuen in der antiken Literatur seine graphische Anschauung unterstützte.23 Wenn man um das weiß, was man sieht, dass ein Gegenstand das ist, was er ist (und was er bedeutet), so ist damit umschrieben, was man überhaupt sehen kann, wie offensichtliche physische Bedingungen einer Beobachtung die Wahrnehmung beeinflussen, so wie es heutige Psychologen, vor allem Wahrnehmungsphilosophien allzu deutlich machen. – Mit dem Hinweis auf das historische und textliche Gefüge von Winkelmanns bahnbrechenden Entdeckungen der antiken Ästhetik des Schönen argumentiere ich nicht für die Irrelevanz der Anschauung im Tageslicht. Es geht mir nicht in erster Linie um eine Kulturkritik hinsichtlich der günstigsten Bedingungen für die Ergötzung an Marmorstatuen, die im Dunkel der Renaissance-Sinnlichkeit geschützt waren. Deshalb habe ich in einer genau bestimmten, weil phänomenologischen Weise bemerkt, dass im Fall griechischer Bronzen es eine vollständige Differenz ausmacht, ob man ihnen unter offenem Himmel begegnet, das heißt: im lebendigen Licht, eine Erfahrung, die wir nur bis zu einem gewissen Annäherungsgrad überhaupt machen können, da wir heute keine solchen Statuen mehr haben, nicht einmal diejenigen, die uns überliefert worden sind, vergessen in Höhlen und Katakomben oder im Staub der Erde oder unter dem Wasser. – Selbstverständlich ‚besitzen‘ wir griechische Bronzen, sie sind nicht alle verloren. Wir haben viele kleine Exemplare, haben eine Reihe abbildender und ihrer Seltenheit wegen großartiger Meisterstücke, so wie die lächelnde Harmonie der delphischen Charitide oder die erotisch unwiderstehlichen Riacci-Bronzen. Doch bedeutet dies nicht, dass das, was unseren Sinnen in diesen Bronzen gegeben ist, eins ist mit dem, was ihr originaler Anblick bot. Ich füge hinzu, dies ist der neuralgische Punkt, nämlich: der ‚ästhetische‘ Punkt, dass wir sogar wissen, wie man den basalen, nicht reinen, nicht ursprünglichen, sondern rauhen Anblick solcher Werke wiederherstellt (antike Bronze ist ein Legierung aus Kupfer, Zinn, Blei, Silber-Blei-Legierung und anderen, teils organischen Materialien, Blut, Speichel, Harz). Solche Bronzen können wir heute nicht wieder hervorbringen. Grund dafür ist nicht nur die Schwäche unseres Wissen über antike Metallurgie, sondern sind auch die Grenzen unserer Ästhetik. Das Aussehen, der schwache Schein, die Substanz der Bronze fallen ins Gewicht; die Griechen, die über solche Statuen schrieben, benutzten die Sprache des leibenden Lebens zu ihrer Kennzeichnung. Dies zeigt sich besonders bei einem solch scharfen Beobachter wie Aristoteles, der auf die Differenz achtete, die es ausmacht, wenn man solche Objekte als gerade erst entstanden, neu, noch unoxydiert sieht. Bronze ahmte die Hautfarbe atmenden, blühenden Lebens so sehr nach, wurde gesagt, dass Bronzen für lebendig, für lebende menschliche Wesen gehalten werden konnten. Deshalb können wir uns fragen, bemerke ich am Rande, ob die Erzählung von Pygmalion und Galatea von solchen Konventionen abhängt, die im Marmor wiederholt wurden, so dass Marmor benutzt wurde, die Bronze nachzuahmen. 23

Tatsächlich wollte Winckelmann eine eigene Sammlung solcher Drucke publizieren, darin unterstützt von Battista Casanova, den er den „feinsten Zeichner in Rom“ nannte (Johann Joachim Winckelmann, Monumenti Antichi Inediti Spiegati ed Illustrata, Rome 1767).

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Doch wir sprechen im Falle Nietzsches nicht über Bronze, sondern von ‚leuchtendem Marmor‘; dies trifft nicht wirklich im Fall Laokoons zu, der so wichtig für die Disziplin der Kunstgeschichte und den Zusammenhang unseres Verstehens antiker Skulpturen werden sollte, wir sprechen über die dorische Starre der Wagenlenker, die man in Delphi sehen kann, von den erhobenen Armen und himmelwärts gerichteten Gesten des Knaben aus Bronze, der noch in Kopie existiert und der vor dem Pergamon Museum in Berlin steht; oder die in unheimlicher Weise erotischen Titanenkinder, die aus dem Meerbecken nahe von Riacci gefischt wurden. Ich spreche ausführlicher über den Laokoon, eine einzigartig fahle weiße Statue, die kanonisch für jede an der Plastik orientierte Reflexion über jenes Erschaffen von Dingen mit Worten ist, das die Dichtung ausmacht. Hier ist von den Bronzen der Antike die Rede, doch zugleich ist dieses Phänomen, wie die Marmor-Parallele zeigt, kaum auf die Bronze allein zu begrenzen, noch weniger auf eine ideale Qualität an ihr, es hat vielmehr mit einer skulpturalen Dynamik zu tun, die uns auch in gegenwärtiger Erfahrung der Skulptur noch zur Verfügung steht. Aus derselben phänomenologischen Perspektive ist es klar, und die kykladische Skulptur sagt uns dies, dass die Statue, die in flüssigen Stein gehöhlt ist, ihre eigene Kraft hat, auf unsere Sinne zu wirken, was im Falle der Statue bedeutet, dass das Kunstwerk der Skulptur auf unsere Leiber und nicht nur unsere Augen Einfluss nimmt. Es ist ohne Nutzen im Fall der Skulpur, über solche Figuren nur zu lesen. – Dies trifft für die Skulptur der Renaissance und noch für moderne, futuristische Formen zu. Keine Abbildung von Michelangelos David kann einen Sinn der architektonischen Proportionen der Plastik geben, noch kann eine Photographie von Umberto Boccionis Messingwirbelwind männlichen Zorns, das skulpturale Manifest des Futurismus Forme uniche della continuità nello spazio, das eher geringfügige Format des Werkes vermitteln. Das skulpturale Kunstwerk fordert oder berührt uns in einer unmittelbaren, physischen Weise. Wenn wir die griechische tragische Dichtung mit unseren ‚Augen‘ ‚hören‘ müssen, wie Nietzsche erklärt, indem wir die Maße ihrer Rhythmen in der Weise des Tanzes empfinden, so ist es zugleich der Imperativ der Skulptur, dass wir mit unseren Augen ,fühlen‘ müssen, wenn dies dazu verhilft, sie auch zu berühren. Phänomenologisch und von der Erfahrung her, wird die Spiegelung des lebenden Körpers im plastischen Kunstwerk, der physische Zauber der Skulptur in der offenen Welt, der Grund dafür gewesen sein, dass der wandernde Hölderlin, wie er es apokryphen Überlieferungen zufolge tat, als er in den Gärten einer Privatvilla in Frankreich an Statuen vorbeiging (wie deriviert, dekadent sie auch gewesen sind, wie mit Nietzsche sagen wäre). – Insbesondere unter freiem Himmel entbindet die Statue einen unwiderstehlichen Imperativ, sie löst einen Wandel aus, dem eine ganze Gesellschaft damals nicht und noch immer nicht Herr werden kann. Man kann dies erfahren, wenn man sich eine griechische Bronze vorstellt, wie sie unter freiem Himmel aussieht, selbst wenn sie verwittert ist, selbst wenn es nur die Kopie eines Originals ist. Aus demselben Grund kann Heidegger hervorheben, dass, während die Materialien im Zusammenhang alltäglicher Konstruktion ihre ,rauhen‘ stofflichen Quellen abnutzen, dies bei der Bearbeitung von Stein, Bronze oder Holz im plastischen Kunstwerk nicht geschieht. Der springende Punkt ist dabei nicht eine Frage der Materialität, sondern der Exemplifizie-

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rung. Wenn der Ziegel in der Ziegelmauer verschwindet, bringt der Bildhauer den Stein zu seiner vollkommenen Erscheinung ‚als‘ Stein. Wie das Gemälde, über das Heidegger sprach, so hält uns die Statue in ihrem ‚zögernden Verweilen‘, um die Sprachwendung zu gebrauchen, die Hans-Georg Gadamer von Hölderlin erborgt, wenn auch bei Gadamer in Begriffe von Platons Phaidros gefasst, um seinen Essay Die Aktualität des Schönen zusammenzufassen. Es ist dieses ‚zögernde Verweilen‘, das Gadamer dazu bewegt, Rainer Maria Rilkes Ausdruck des Imperativs der Skulptur: ‚Du musst dein Leben ändern!‘ zu wiederholen. – In phänomenologischer Sicht, unsere Analyse bisher geht nur so weit, halten wir fest, dass in einem solchen verkörperten Zauber der Betrachter ebenso von der Skulptur angesehen wird, die ihn grüßt, wie er selbst derjenige ist, der sieht. Während Heidegger sorgsam festhält, dass es in einer haptischen Weise überhaupt nicht möglich ist, dass ein Stuhl oder ein Tisch irgendetwas in der Welt berühren, weil Berühren die Möglichkeit des Erreichens und Entfernens voraussetzt, d.h., die Möglichkeit der Empfindung, Umarmung, auch des Zurückweichens (was erz-klassisch-phänomenologisch in Begriffen der Intentionalität ausgesprochen wird), ist im Fall der Erfahrung der Skulptur etwas anderes im Spiel. Ihr zu begegnen, bedeutet, in die räumlichen Bedeutungsbezüge des Werkes versetzt, durch die Statue selbst in das dimensionale Rund ihrer Spannung entrückt zu sein. Deshalb durfte Rilke von einer eminenten Begegnung mit einem antiken Torso schreiben. Dies ist noch immer möglich: der heutige Betrachter ist noch genauso empfänglich für eine solche wirkende Gestaltung, wie sie durch das Werk einer Plastik erzeugt wird. Trotzdem ist es keine Kunst, an den Plastikpuppen in den Auslagen vorbeizulaufen, die auf jedem Boulevard zu begrüßen sind und nur einen sekundären Glanz entfalten. Im Unterschied zur Schaufenster-Begegnung (die im Zeitalter des Internet eine aussterbende Erfahrung sein wird) war der antike Hellene ihnen ausgeliefert, wie Nietzsche sagt, wenn er seine Statuen, Bronzen oder Marmorstandbilder betrachtete, die mit lebendigen Farbtönen, nicht unähnlich wie Bronzen, bemalt waren , ohne sich anders entscheiden zu können, im Widerhalt zu den Maßen der Statuen, die die Griechen in großer Zahl als Spiegel des Lebens aufstellten, Plinius gebraucht den Ausdruck ‚Portrait-Statuen‘, die in ‚exakter Ähnlichkeit von drei zeitgenössischen Olympiasiegern‘ verfertigt wurden, waren diese Statuen doch nicht in Museen, Skulpturhöfen oder an anderen Orten ,interesseloser‘ Kontemplation, sondern überall in der Polis um die Menschen herum, in häuslichen Hofgärten, auf dem Markt, auf Tempelstufen wie im Tempelinneren und im Tempel selbst. Statuen waren so in Mode, dass Daedalus, dessen Statuen vor allen anderen gepriesen wurden, einen Weg finden musste, sie wieder und wieder zu verkaufen, um mit der Nachfrage Schritt zu halten. Was machen wir aus diesem Befund? So wie der wandernde Hölderlin auf die Kopien klassischer Statuen, wie er sie auf seinem Heimweg von Bordeaux nach Frankreich sah, auf sie in einer bestimmten Weise reagieren konnte, so entfaltet die Skulpturkunst, in welchem Medium auch immer, diese Kraft noch heute. Welchen Unterschied macht es aber, dass etrurische und griechische Statuen in Bronze gegossen und nicht in Marmor geschlagen sind? Fast als Übung, die dazu dienen könnte, die Frage zu beantworten, jedenfalls für die, die Vorteil aus den Mitteln der Phänomenologie gezogen ha-

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ben,24 bietet Constantin Brancusi, was als Annäherung an epochale Variierungen gelten kann, indem er wieder und wieder dieselbe Form bildet, auf der Suche nach einem invarianten Ei: Phanes Stil, in Gold-Bronze und dieselbe Form in Chrom und Marmor. Wenn die Substanz, die ‚Erde‘ derselben Form sich wandelt, wandelt sich die Werkwahrheit des Kunstwerkes: Erde und Welt. An diesem Punkt muss man sich in der Gegenwart des Werkes aufhalten, um die Differenz zu empfinden (mehr als bloßes Sehen ist im Spiel); der Stoff wandelt die Form, indem er als ungeformtes Substrat auf sie zurückwirkt. Ob Bronze, Chrom, Stein, die wirkende Kraft des Kunstwerks verändert sich, indem es auf uns wirkt. Gadamers platonische Reflexion über Rilkes Ausdruck der stillen Prüfung abwesender Vollkommenheit eines Skulptur-Torso: ‚Du musst dein Leben ändern‘, ist wichtig jenseits des ästhetischen Aufschlusses von zerstörtem Stein. Hier steht der Kontrast zwischen dem erbauten Leben der antiken Griechen und der Modellierung einer aufrechten Form in den Säulen, auf die sich Nietzsche immer wieder bezog, in Rede. Es geht nicht nur um die skulpturale Gestalt, die in seiner frühen Studie über die Vermischung der Metaphern für Licht und Ton evoziert ist, das Ertönen der Säule des Memnon bei Tagesanbruch, ein Bild, das nicht zufällig in Nietzsches Tragödienbuch wiederkehrt.25 Architektur ist zugleich Musik. Um das Mysterium der alten architektonischen, räumlichen Herkunft von Formgebung einzufangen, haben sich viele dem Studium von Erde, Tempeln und Göttern zugewandt, und es ist derselbe Geist, der aus den Reflexionen von Architekturtheoretikern wie Christian Norberg-Schulz über den Geist des Ortes im gebauten Leben einer Stadt zu ‚vernehmen‘ ist.26 Nietzsches frühe Bemerkungen verweisen nicht nur auf den „Tempel als Götterwerk, Statue als Verzauberung einer Seele in Stein“ (KSA, NF, 8, 385), sondern auf das „Verbergen der Tragödie (wie die Statuenwelt)“ (KSA, NF, 7, 139, NF, 9, 338). In einem Aphorismus, dessen Titel fast wörtlich in Heideggers Kunstwerk-Aufsatz wiederkehrt, Der Stein ist mehr Stein als früher, schreibt er vom Verlust des Verständnisses antiker rhythmischer, architektonischer und figuraler Formen wie von tragischer Musik: „Schönheit milderte höchstens das Grauen, – aber dieses Grauen war überall die Voraussetzung“ (KSA, MA-1, 2, 178). Für Nietzsche bezeichnet Hölderlin das unvermeidliche Scheitern des Versuches, sich denselben Geschmack zu erobern wie die Griechen, 24

Dieter Jähnig widmete eine Studie Constantin Brancusis „Bird in flight: ‚Der Ursprung des Kunstwerkes‘ und die moderne Kunst“, in: Walter Biemel, Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.), Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger, Frankfurt/M. 1989. 25 „ Auch die Sage von dem Tönen der Memnonsäule mag wohl im Grunde nichts anderes bedeuten. Das Umgekehrte, dass die Wirkung des Tones durch eine Lichtwirkung bezeichnet wird, ist vollständig durchgeführt in unsrer jetzigen musikalischen Terminologie. Sei es, dass unsere Sprache zu arm ist, um Schattirungen der Toneffekte auszudrücken, sei es überhaupt, dass wir, um die Wirkung von Schällen auf uns einem anderen vor die Seele zu führen, die fasslicheren und beschreibbareren Wirkungen des Lichtes als Medium gebrauchen müssen, wir reden von glänzenden, düstern, verschwommenen Harmonien, während wir in der Malerei von dem Tone des Gemäldes, von seiner Harmonie sprechen“ (Friedrich Nietzsche, Jugendschriften 1861–1864, hg. von Hans Joachim Mette, München 1994. 26 Christian Norberg-Schulz, Genius Loci: Toward a Phenomenology of Architecture, New York 1980.

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im Sinn einer echohaften Empfindung, eine Antwort, die unwiderbringlich verloren ist in unserer flachen, tollen, unreifen, zudem dekadenten Zeit. Er zitiert Hölderlin: „‚auch ich, mit allem guten Willen, tappe mit meinem Thun und Denken diesen einzigen Menschen (den Griechen) in der Welt nur nach und bin in dem, was ich treibe und sage, oft nur um so ungeschickter und ungereimter, weil ich wie die Gänse mit platten Füssen im modernen Wasser stehe und unmächtig zum griechischen Himmel emporflügle‘“ (KSA, NF, 7, 681). Jenseits des ästhetischen Imperativs des in Ruinen überkommenen Steins, den Gadamer aus dem Raum von Rilkes reflektierendem Fragment in seinem Gedicht auf einen archaischen Torso heraushebt, muss auch der Kontrast zwischen dem gebauten Leben der antiken Griechen und der Modellierung der aufrechten Form in den Säulen getroffen werden, auf die Nietzsche sich immer wieder bezog. Es ist nicht nur die skulpturale Figur (Memnons ‚Säule‘), die ich an anderer Stelle als Höhepunkt von Nietzsches früher Untersuchung der Verwischung der Metaphern für Licht und Klang erforscht habe, als Klangfigur des Tagesanbruchs27; es sind auch die Säulen, die das Ende seines ersten Buches einrahmen, wo er eine physische Parallele zur Musik harmonischer Stimmen und rhythmischer Gesten einsetzt: „im Wandeln unter hohen ionischen Säulengängen, aufwärtsblickend zu einem Horizont, der durch reine und edle Linien abgeschnitten ist, neben sich Wiederspiegelungen seiner verklärten Gestalt in leuchtendem Marmor, rings um sich feierlich schreitende oder zart bewegte Menschen, mit harmonisch tönenden Lauten und rhythmischer Gebärdensprache“ (KSA, GT, 1, 155). – Indem wir in die Säulen hinausgehen, die sich in uns reflektieren und in denen wir uns selbst reflektieren, spiegeln wir das konstruierte Leben der Architektur in dem Raum, in dem wir uns (be)finden, sei es Boston, Berlin, Paris oder New York, Hölderlins Tübingen oder die Plaka Athens. Man denkt an die textliche Rechenschaft, die Giuseppina Moneta vom Erzählen eines Platzes gab, das die Zwischenräume dessen artikuliert, was sie seine ‚Leere‘ oder die Intervalle ‚geformter Räume‘ nennt: „cristalli di rocca (Felskristalle) um die Wörter Palladios zu benutzen, solider als Massen“.28 – Wenn Moneta die Symmetrien von Vitruvs Einräumung dieser Form übermitteln, ihre dimensionalen Periodizitäten, könnte es den Anschein haben, als tue die Architektur dies für den Rezipienten. Wenn die Ruinen eines griechischen Tempels noch immer die Fügung der Konstruktionsräume um sie als auch das menschliche Leben der Schöpfer und Bewahrer solcher Werke übermitteln, können wir dieselbe Gefügtheit in den Bogenwölbungen und Höfen der Römer und Renaissance sehen. – Es tut nichts zur Sache, wo man sich aufhält: der Raum der menschlichen und natürlichen Welt umarmt und blickt in dich. Vielleicht kann ich damit schließen, dass ich sage, dass fast alles gewonnen werden kann, wenn wir lernen, zurückzuschauen. Übersetzung Harald Seubert 27

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Babette E. Babich, „Between Hölderlin and Heidegger: Nietzsche’s Transfiguration of Philosophy“, in: Nietzsche-Studien 29 (2000). Giuseppina Moneta, „Profile“, in: Babette E. Babich (Hg.), From Phenomenology to Thought, Errancy, and Desire: Essays in Honor of William J. Richardson, S.J., Dordrecht 1995, 206. Zur Bedeutung Leon Battista Albertis, siehe: Andrea Palladio, Die vier Bücher zur Architektur. Nach der Ausgabe Venedig 1570, Basel 1993.

ANATOLY LIVRY

Vladimir Nabokov, der Nietzsche-Anhänger

Vladimir Nabokov kannte das Werk von Friedrich Nietzsche ausgesprochen gut. Darüber hinaus war, wie ich zeigen möchte, Nietzsches Philosophie für den Schriftsteller Nabokov von besonderer Relevanz. Inwiefern muss Nabokovs Werk untersucht werden, um Nietzsches Einfluss zu erkennen? Vor allem ist dies deshalb notwendig, weil Nabokovs Werk, trotz vieler stilistischer Schwächen, einzigartig ist. Nabokov ist ein Schriftsteller voller Differenzierungen, besser gesagt, er ist ein Schriftsteller für die Schriftsteller. So ist jedes Wort, jeder Name, jede Ziffer seiner Romane höchstbedeutend für einen Schriftsteller wie ihn, dem alle Einzelheiten wichtig sind. Alle Romane Nabokovs, beginnend mit dem erstem, in russischer Sprache verfassten Roman Maschenka bis zu den letzten, in französischer oder englischer Sprache geschriebenen, sind geprägt von einer nietzscheanischen Weltanschauung: Begriffe wie ‚Übermensch‘, der ‚gute Europäer‘, ‚der Geist der Schwere‘ sowie der ‚theoretische Mensch‘ lassen sich hier finden. Das heißt auch, dass Nabokov mit Nietzsches Einstellung zur zeitgenössischen Welt, also zur Gleichheit, zum Sozialismus, zum Darwinismus und zur Demokratie usw. vertraut gewesen war. Die Hoffnungen, die Nietzsche in den europäischen Menschen gesetzt hatte, sind in Nabokovs Werk ebenfalls wiederzufinden: der Wunsch nach der Auferstehung einer geistigen Aristokratie, der méditerranisation Europas und selbstverständlich nach der Rückkehr des Geistes der Tragödie, der von einem ‚bösen‘ Geist aus Griechenland ausgewiesen wurde. Mein letztes in St. Petersburg veröffentlichtes Buch, Nabokov, der Nietzsche-Anhänger1, beschäftigt sich mit diesem Thema; hier möchte ich einige seiner relevanten Züge vorstellen. Bevor ich dieses Thema näher betrachte und einige Beispiele nenne, muss folgende Frage gestellt und beantwortet werden: Wann war es Nabokov möglich, Nietzsches Werk für sich zu entdecken? Seinem Biografen Bryan Boyd zufolge hat Nabokovs Vater seine Inhaftierung genutzt, um das Werk Nietzsches zu studieren: „Nabokovs Vater hat die Zeit der Inhaftierung ausgenutzt um Dostojevski, Nietzsche, Hamsun, Anatole France, usw. zu lesen [ …].“2 Vielleicht konnte der Vater dem Sohn dieses Interesse vermitteln.

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Anatoly Livry, Nabokov, der Nietzsche-Anhänger, St.-Petersburg, 2005, 240. Brian Boyd, Vladimir Nabokov, The Russian Years, 1899–1940, London 1990, 76 (Übersetzung A. L.).

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Neben dem väterlichen Einfluss gibt es eine weitere Quelle der Nietzscheinspiration: Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden viele Werke von Philosophen und symbolistischen Dichtern über Nietzsche veröffentlicht – unter anderem Die Idee des Guten bei Tolstoi und bei Nietzsche und Dostojevski und Nietzsche von Lev Schestov, Die Idee des Übermenschen von Vladimir Soloviov, Nietzsche und Dionysos von Viatcheslav Ivanov sowie Friedrich Nietzsche von André Bely. Bemerkenswert ist, dass Nabokov das Werk des letzteren bewundert. So mögen der väterliche Einfluss und der Einfluss der symbolistischen Bücher den 18jährigen Nabokov dazu geführt haben, das Werk des staatenlosen Nietzsche mit Vorliebe zu studieren, bevor er seine Heimat für immer verlassen sollte: „Vladimir Nabokov fand einen Lateinlehrer in Jalta und listete ihm alle Bücher auf, die er in der Stadtbibliothek lesen wollte: Entomologie, Literatur über Duelle, Entdeckungen, Naturalismus, Nietzsche.“3 Vielleicht hat sich Nabokov zu dieser Zeit für einen der Hauptzüge nietzscheanischer Philosophie interessiert, für die Lehre von der Ewigen Wiederkunft. Diesen von Heraklit beeinflussten und von Zarathustra so oft geäußerten Gedanken hat Nabokov so heftig empfunden, dass Ganine, der Hauptheld seines ersten Romans Maschenka, sich wie folgt äußert: „Nach einem alten Gesetz wird nichts verloren, ist Materie unzerstörbar, das heißt, dass Stücke meiner Spielzeuge und meines Fahrrads noch existieren. Das Böse aber daran ist, dass sie nicht mehr zusammengebracht werden können, nie. Damals habe ich ein Buch über die ewige Wiederkunft gelesen.“4 Darüber hinaus beeinflusst die Struktur des Werkes von Nietzsche die Struktur des Werkes von Nabokov. Ein Beispiel: Die Bibel gliedert sich nach einer genealogischen Dynamik, die auf der Zahl 14 beruht. So findet man im Evangelium nach Matthäus den Satz: „Alle Glieder von Abraham bis auf David sind vierzehn Glieder. Von David bis auf die babylonische Gefangenschaft sind vierzehn Glieder. Von der babylonischen Gefangenschaft bis auf Christus sind vierzehn Glieder.“5 So ist der Satz des Pilatus, ‚Sehet, welch ein Mensch‘ (Ecce homo) der Schluss des irdischen Wegs Christi und gleichzeitig des biblischen ‚Epos‘, das mit Abraham begonnen hatte. Mag sein, dass Nietzsche aus diesem Grund seine Autobiografie Ecce homo in 14 Kapitel strukturiert. Nabokov handelt genauso: Sein autobiografischer Roman Anderes Ufer befasst sich mit seiner soeben abgeschlossenen russischen Karriere, und dies in 14 Kapiteln, bevor er seine englischsprachige Karriere beginnt. Aber was Nietzsche-Spezialisten an Nabokov vor allem interessieren muss, ist der Einfluss, den Nietzsches Ideen auf sein Werk haben. Nabokov beschreibt eine Anzahl von Helden, die nach dem Prinzip nietzscheanischer Philosophie leben. Bemerkenswert ist daran, dass es sich dabei um die Hauptfiguren seiner Romane handelt – die auch manche Züge des Schriftstellers selber besitzen. So ist jedes Werk Nabokovs sozusagen autobiografisch, zugleich voller Bilder und Symbole aus Nietzsches Werk, auch voller Paraphrasen des Philosophen.

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Ders., ebd., 150. Владимир Набоков, Машенька в Собрании сочинений в четырёх томах, Москва 1990, т. 1, 59 (Übersetzung A. L.). Evangelium nach Matthäus, 1.17.

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Im Folgenden möchte ich mich zwei Romanen Nabokovs zuwenden: dem russischen Roman Die Gabe und dem englischen Ada, oder Das Verlangen. Im Roman Die Gabe können folgende Figuren als von Nietzsche inspiriert gelten: der Held, der Dichter Feder, und sein Vater Konstantin, Entomologe und Forschungsreisender in asiatischen Ländern sowie Erzieher des ersteren. Konstantin durchreist Asien und findet dort ein übereuropäisches Geheimnis: In den Erinnerungen seines Sohnes heißt es: „Ich habe den Eindruck, dass er bei der Abreise nichts Genaues suchte und sich auch nichts Genauem entzog, dass er aber später, bei der Rückkehr sein Geheimnis unabänderlich bei sich trug. Sein nicht-europäisches Geheimnis kenne ich nicht, ich weiß nur, dass er sich in einer komischen Einsamkeit befand, zu der weder meine Mutter noch alle Entomologisten der Welt Zugang hatten.“6 Dann verschwindet der Vater des Helden, ohne Spuren zu hinterlassen, und Nabokov betont mehrmals, dass Konstantins letzte Aussage von einem Missionar wiedergegeben wird, der schon lange keinen Europäer mehr gesehen hatte. Das Treffen zwischen Konstantin und dem Missionar findet in einer Landschaft ähnlich der des Zarathustra statt. Aus Konstantin wird ein Wanderer Europas, der ein nicht-europäisches Geheimnis besitzt: „Seit mehr als acht Jahren hatte ich keinen Europäer mehr gesehen […] Wir verbrachten mehrere angenehme Minuten auf dem Rasen, im Schatten eines Hauses, unterhielten uns ausführlich über die Nomenklatur einer spezifischen Schwertlilienart.“7 Nabokov betont, dass Konstantins geheimnisvolle Kenntnis nicht nur übereuropäisch ist, sondern sich auch übermenschlischer Kenntnis nähert. Deswegen weist Nabokov dreimal darauf hin, dass Konstantins Wissen nur von auserwählten Menschen zu verstehen sei; einer unter denen ist, ich zitiere, „der Wächter des Landes, ein alter, zweimal vom Blitz getroffener Mann. Er hat mit Aufrichtigkeit und ohne Angst vermutet, dass mein Vater etwas wusste, was kein anderer weiߓ. 8 Nabokov nutzt solche von Nietzsche geprägten Bilder immer wieder, und der ‚Blitz‘ schlägt viele seiner Helden – womit ich auf den wohlbekannten Satz aus Zarathustras Vorrede anspiele: „Seht, ich bin ein Verkündiger des Blitzes und ein schwerer Tropfen aus der Wolke: dieser Blitz aber heisst Übermensch“ (KSA, ZA, 4, 18). Nietzsche hat den philosophischen Schöpfer wie einen Kosmopoliten dargestellt, der jenseits der europäischen Grenzen wandelt und Länder und Kontinente durchreist. Die Erforschung von orientalischen und verbotenen Ländern wird ihm zum Symbol des Zugangs zur Weisheit. So schafft er eine gewisse Hierarchie unter den Denkern des alten Kontinents: je mehr imaginäre Grenzen sie überqueren, desto relevanter wird ihr Platz innerhalb seiner Vorstellungskraft. Beispielweise wird Immanuel Kant von Nietzsche als „der grosse Chinese von Königsberg“ (KSA, JGB, 5, 144) beschrieben. Er selbst vergleicht sich mit Buddha, selbstverständlich mit einem besonderen Buddha, einer orientalischen Gottheit, die über die Denker Europas herrscht: „Ich habe von allen Europäern, die leben und gelebt haben, die umfänglichste Seele: Plato, Voltaire - - - es hängt von Zuständen ab, die nicht ganz bei mir stehen, sondern beim ‚Wesen der Dinge‘ – ich könnte der Buddha Europas werden: was freilich ein Gegenstück zum indi6

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Владимир Набоков, Дар в Собрании сочинений в четырёх томах, Москва, 1990, т. 3, 104, Übersetzung A. L.). Ders., ebd., 121f. Ders., ebd.,104.

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schen wäre“ (KSA, NF, 10, 109). Bemerkenswert ist, dass Nietzsche seinem Lehrer Schopenhauer die gleiche Rangordnung zuerkennt. So übertrifft der überasiatische Schopenhauer (wie Buddha, präziser: Nietzsche) einen bloß asiatischen Kant (vgl. KSA, JGB, 5, 74). Diese nietzscheanische Einstellung erklärt Konstantins Ende. Er stirbt nicht, sondern erreicht das ‚asiatische Stadium‘ seiner Erkundungen, indem er sich mit der Weisheit beider Kontinente, Europas und Asiens, sättigt. Dann verschwindet er in die Unendlichkeit und tritt in das Stadium überasiatischer Kenntnis: „Konstantin hätte in den Westen nach Ladak gehen können, um später nach Indien zu reisen … Oder warum ging er nicht nach China, um dort in einem Schiff in irgendeinen Hafen zu fahren?“9 Bemerkenswert ist, dass ehe Nabokov seinen Konstantin im Fernen Osten lässt, der Schriftsteller seine Figur zu Dionysos führt, zu diesem gehörnten Gott, torokeron theon, wie der Chor der Bakchen Yakkos-Dionysos ruft. Nabokov führt diesen YakkosDionysos nicht nur in seinen Roman ein, er stellt nicht nur das Treffen zwischen diesem Gott und Konstantin her, sondern auch die Ursache für die Verspätung dieses Gottes in Asien erklärt er und daher dessen Unfähigkeit, nach Europa zurückzukehren und diesem Kontinent den Geist der Tragödie zurückzubringen: „Eines Tages im Winter, als ich über das Eis laufend einen Fluss überquerte, sah ich von Weitem eine eigenartige Linie dunkler Gegenstände. Es waren die Hörner wilder Yaks, die beim Durchschwimmen des Flusses vom Eis umfangen worden waren. Durch den dichten Kristall war die Regungslosigkeit der am Schwimmen gehinderten Körper zu sehen, und unter dem Eis hätten ihre wunderschönen Köpfe den Anschein des Lebens gehabt, wenn nicht die Vögel ihnen die Augen ausgepickt hätten.“10 Dieser Konstantin wird auch der Erzieher seines Sohnes, eines Nietzsche verehrenden Dichters. So taucht der Vater in den Erinnerungen seines Sohnes auf: „Selbstverständlich schätzten wir, Tania und ich, unseren Vater seit der Kindheit. Er schien uns viel bezaubernder als dieser Harold zum Beispiel, von dessen Abenteuer er uns erzählte, Harold, der in Byzanz gegen Löwen kämpfte, Diebe in Syrien verfolgte, im Jordan badete, achtzig Festungen im Sturm in Afrika nahm, usw.“11 Ich habe die russische Übersetzung der Abenteuer Harolds untersucht. Sie sind interessant, aber keine beschäftigt sich mit der Anzahl der Festungen, die von Harold gestürmt wurden. Wozu hätte sich Nabokov die Zahl achtzig ausdenken sollen, wenn nicht, um den Vater des jungen Dichters als nordischen Krieger darzustellen, der in Europa und Palästina kämpft und das Mittelmeer durchquert? Auf den Spuren von Zarathustras Schatten gelangt er in das Land der Töchter der Wüste und nimmt die afrikanischen Festungen im Sturm – deren Zahl der Anzahl der Reden Zarathustras in Also sprach Zarathustra gleicht. Der junge Held des Romans Die Gabe, Konstantins Sohn Feder, ist ein dionysienne, und als von Nietzsche beeinflusster Dichter die interessanteste Figur. Das wird deutlich, wenn man den Werdegang des jungen Helden mit der Art und Weise vergleicht, wie Nietzsche die Physiologie seines eigenen Werks in Ecce Homo beschreibt: „Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da giebt; wie ein Blitz leuchtet ein 9 10 11

Ders., ebd., 124. Ders., ebd., 110. Ders., ebd., 96.

Vladimir Nabokov, der Nietzsche-Anhänger

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Gedanke auf, mit Notwendigkeit, in der Form ohne Zögern, – ich habe nie eine Wahl gehabt. Eine Entzükkung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einen Thränenstorm auslöst, bei der der Schritt unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird; ein vollkommes Ausser-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen“ KSA, EH, 6, 339). – Nabokov beschreibt den Schaffungsprozess seines jungen Helden, als würde er die russische Übersetzung von Ecce Homo nachahmen, die von Antonovsky verfasst und in Petersburg veröffentlicht wurde, als Nabokov ein 11jähriger Junge war: „Die grosse Spannung, die mich ergriff, hüllte mich mit einer eiskalten Decke ein, nahm von meinen Gelenken Besitz, zog an meinen Fingern. Mein Gedanke irrte wie der Gedanke eines Schlaflosen herum, dem dank eines komischen Prozesses gelingt, unter den Tausenden von Türen die einzige Tür zu finden, die zum nächtlichen Garten führt. Meine Seele hämmerte, wird sie den Sternenhimmel erreichen oder sich bis zur Größe eines ‚Quecksilbertropfens‘ verkleinern; klassisches Zittern, Stammeln, Tränenstrom, all das war echt.“ 12 Es ist interessant, wie Nabokov den Feind seines Helden, des Nietzsche-Anhängers, darstellt. Sokrates war der Feind, den Nietzsche sich vorgestellt hatte, und auch im Werk des Nietzsche-Kenners Nabokov taucht oft ein Sokrates auf. Dieser Sokrates hat etwas besonderes: Er ist nicht aus Athen, sondern ist russisch. Im vierten Teil des Romans Die Gabe verkörpert Nikolai Tschernychevski (der Autor des Romans Was tun?, der die russischen Aufstände inspiriert hatte) den russischen Doppelgänger von Nietzsches Athener Dialektiker. Der Philosoph erzählt viel von seinem Sokrates, von diesem ‚Mörder der Tragödie‘, diesem ‚Schöpfer der optimistischen Doktrin‘, diesem ‚typischen Dekadenten‘, das heißt von jenem Sokrates, der seinen Gesprächspartnern gegenüber in Platons Protagoras-Dialog mit der Sprache herausrückt, nach der der Gerechte das Wissen hätte. – Manchmal empfindet Nietzsche gegen Sokrates eine gewisse Feindlichkeit, wie im Vorwort von Jenseits von Gut und Böse, in dem er jene grausame Frage stellt, ob Sokrates seinen Schierling verdient habe? (vgl. KSA, JGB, 5, 12). (In meinem Buch Nabokov, der Nietzsche-Anhänger lasse ich Nabokov diese Frage Nietzsches beantworten.) Aber am Anfang der Beschreibung Tschernychevskis stellt ihn Nabokov wie einen Sokrates vor: „Für Tschernychevski ist der Wissende ein Genie.“ 13 Dies ist mit der sokratischen Einstellung, die von Nietzsche in Die Geburt der Tragödie enthüllt wird, identisch: „‚nur der Wissende ist tugendhaft‘“ (KSA, GT, 1, 85). Nabokov verfährt nun in seinem Roman Die Gabe folgendermaßen: Zuerst beschreibt er ähnlich Nietzsche diese Person als einen, allerdings russischen, Sokrates. Dann konfrontiert er ihn mit seinem, von Nietzsche inspirierten Helden. So steht zum Beispiel in Also sprach Zarathustra der Hunger Zarathustras für den Hunger eines Schaffenden, sofern die irdische Nahrung den Schaffenden (die für den Körper ‚Geist‘ ist) mit Energie füllt, mit einer Energie, die für das Schaffen verwendet wird. Darüber hinaus ist für Nietzsche Hunger das erste Anzeichen des Schaffens: „Der Hunger überfällt mich, sagte Zarathustra, wie ein Räuber. In Wäldern und Stümpfen überfällt mich Hunger und in tiefer Nacht“ (KSA, ZA, 4, 24). Nabokov nun hält sich exakt an diese für 12 13

Ders., ebd., 137. Ders., ebd., 229.

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Nietzsche typische Struktur: Der Anfang des Schaffens entspricht Momenten von Hunger, die den Schaffenden plagen – ein Hunger, der gestillt werden muss. Ist dies nicht der Grund dafür, dass Nabokovs junger nietzschanischer Dichter sich daran erinnert, dass seine ersten dichterischen Inspirationen mit einem Gefühl des Hungers verbunden waren? „Ich kam gegen Mitternacht zurück nach Hause, und nie werde ich dieses Gefühl der Leichtfertigkeit, des Stolzes und diesen nächtlichen tierischen Hunger vergessen (was ich wollte, war Quark und Roggenbrot), als ich den ganzen Weg entlang lief, der zu unserem Haus führte, und das Bellen der Wachhunde hörte. So begann meine dichterische Krankheit.“14 Seinen russischen Sokrates betreffend betont Nabokov, dass Tschernychevskis Nahrung schlecht ist; er isst schlecht, appetitlos, misstrauisch: „Bei Wolf trank ich die letzten zwei Male Kaffee mit einem Kuchen für fünf Kopeken. Die hatte ich mir mitgebracht, ohne dass ich mich das letzte Mal zu verstecken hatte. Das heißt, das erste Mal war ich misstrauisch, denn ich wusste nicht, wie der fremde Teig akzeptiert würde.“15 So verlaufen die Gymnasialjahre des russischen Sokrates in Petersburg, und viermal berichtet Nabokov von dessen Bauchschmerzen. Schließlich gefährdet sein schlechter Magen sein Leben. In diesem entscheidenden Moment nimmt der diplomierte Tschernychevski Abschied von der Universität und ist bereit für seine dialektische Tätigkeit: „Tschernychevskis Tagebuch […] enthält viele ausführliche Details über die Orte und die Art und Weise, wie er sich erbrach. Tschernychevski hätte an seinen Magenschmerzen zu Ende seines Studiums sterben können – falls er die Uni nicht verlassen hätte, nachdem er sich für eine Doktorarbeit in Saratov eingeschrieben hatte.“16 Was Nabokov beschreibt, entspricht Zarathustras genauer Diagnose: „ein verdorbener Magen ist nämlich sein Geist: der räth zum Tode! Denn wahrlich, meine Brüder, der Geist ist ein Magen!“ (KSA, ZA, 4, 258). Dieses Beispiel ist nur eines unter Tschernychevskis vielen physiologischen Beispielen des Sokratismus (und in Nabokov, der Nietzsche-Anhänger zeige ich, dass Nabokov fast alle physiologischen oder physischen Züge von Sokrates und seinen großen Anhängern für seinen russischen Sokrates verwendet, dessen Hauptzug die durchaus schlechte Gesundheit ist). Nicht nur im physiologischen Bereich ist Tschernychevski der Feind der nietzscheanischen Helden Nabokovs und wie des Autors selber. Er ist auch im philosophischen Bereich der Feind. So wird alles, was zu Nietzsche passt, zum Feind des von Nabokov beschriebenen Dialektikers – auch die Beziehung zwischen Tschernychevski und dem Philosophen Schopenhauer, den Nietzsche als seinen Erzieher betrachtete. Tschernychevski verachtet Schopenhauer, was für den Nietzscheaner Nabokov so unerträglich ist, dass er dessen Satz unterbricht, als er Tschernychevskis Tagebuch zitiert. Da tut er etwas, das er sich sonst nie erlaubt: Er bringt in den Roman seine eigene Meinung über die philosophischen Kapazitäten seines russischen Sokrates ein: „Tschernychevski fällte respektlose und freche Urteile über Schopenhauer, unter dessen Kritik sein eigener sprunghafter Gedanke keine einzige Sekunde überlebt hätte.“17 14 15 16 17

Ders., ebd., 135. Ders., ebd., 203. Ders., ebd., 204. Ders., ebd., 221.

Vladimir Nabokov, der Nietzsche-Anhänger

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Einsam leben ist die einzige unentbehrliche Eigenschaft jedes Schaffenden. Sehr oft spricht Zarathustra von Einsamkeit als einer Bedingung seines Werkes und deswegen nimmt er im ersten Teil von Also sprach Zarathustra Abschied von einem seiner Anhänger. Zweifellos handelt es sich hier um einen autobiografischen Zug Nietzsches, der auf seinem Bedürfnis nach Einsamkeit bestand: „Meine Humanität ist eine beständige Selbstüberwindung. – Aber ich habe Einsamkeit nöthig, will sagen, Genesung, Rückkhehr zu mir, den Athem einer freien leichten spielenden Luft … Mein ganzer Zarathustra ist ein Dithyrambus auf die Einsamkeit, oder, wenn man mich verstanden hat, auf die Reinheit“ (KSA, EH, 6, 276). Liegt nicht hierin der Grund, dass Nabokov seinen nietzscheanischen Helden wie einen einsamen Bewohner der schneebedeckten Gipfel darstellt? „Während der letzten zehn Jahre einsamer und zurückhaltender Jugend, auf einer immer ein wenig schneebedeckten Felsenküste lebend, wo das Gefälle zur kleinen Brauereistadt am Fuß der Berge steil war […].“ 18 Nach Zarathustras Ratschlägen hält sich Nabokovs Held mit dem Schaffen zurück, was Tschernychevskis Verhalten völlig entgegensteht. Seine dialektische Tätigkeit ist von der Stadt nicht zu trennen, von der Stadt, die von Zarathustra so gehasst wird und die seiner Meinung nach überflüssig werden soll. Zarathustras Verhalten ist natürlich dem Verhalten des Sokrates völlig entgegengesetzt. Als er nach Xanthippes Aufforderung sein Haus verlassen musste, ging Sokrates zu seinen Gesprächpartnern – für Nietzsche die Quelle der Dialektik. In gleicher Weise beschreibt Nabokov die Art, wie sein russischer Sokrates arbeitet: „Tschernychevski wurde von den Besuchern verfolgt. Da er nicht wusste, wie er einen aufdringlichen Besucher loswerden konnte, diskutierte er gegen seinen Willen immer weiter. Er stütze sich mit den Ellbogen auf den Kamin, spielte mit irgendwas herum, sprach mit einer kleinen Spitzstimme; aber jedes Mal, wenn seine Gedanken verloren gingen, sprach er weiter und murmelte mit Eintönigkeit eine Reihe von ‚so‘.“19 Der einzige von Tschernychevski bewunderte Philosoph ist derjenige, den Nietzsche als einen Erben Sokrates betrachtete, der theoretische Mensch: „de[r] Typus einer vor ihm unerhörten Daseinform […], de[r] Typus des theoretischen Menschen“ (KSA, GT, 1, 98). – Den Athener Dialektiker kennzeichnend bemerkt Nietzsche, dass ein Vertreter seiner eigenen deutschen Kultur als ein Anhänger Sokrates gelten darf: ein theoretischer Mann, Gotthold Ephraim Lessing, „der ehrlichste theoretische Mensch“, wie Nietzsche ihn in Die Geburt der Tragödie nennt (ebd., 99). Treffender noch fasst Nietzsche Lessings kritische Kapazitäten im zwölften Kapitel von Die Geburt der Tragödie mit Euripides’ Talent – jener Maske des Sokrates, die „die aeschyleische Tragödie bekämpfte und besiegtе“ (ebd., 83). Um Die Gabe zu schreiben, hatte Nabokov Tschernychevskis Tagebuch zu Rate gezogen und dabei jene Passage nicht übersehen, wo Tschernychevski seine geistige und biografische Verwandtschaft zu Nietzsches ‚ehrlichstem theoretischen Menschen‘ andeutet: „Wie Lessing kam Tschernychevski oft von besonderen Fällen zu Verallgemeinerungen. Als er sich erinnerte, dass Lessings Gattin bei der Entbindung starb, fürchtete er

18 19

Ders., ebd., 148. Ders., ebd., 224.

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für seine Frau; auch schrieb er seinem Vater über die erste Schwangerschaft seiner Frau in Latein, so wie Lessing hundert Jahre früher.“20 Dies sind einige Bemerkungen über Nietzsches Einfluss auf Nabokov. Da diese Ausführungen aus einem in Sils-Maria gehaltenen Vortrag hervorgegangen sind21, möchte ich mit einem Hinweis zum Thema der Ewigen Wiederkunft abschließen. Im englischen Werk Nabokovs ist dies deutlich wahrnehmbar. Nabokov hat es in seinem in der Schweiz verfassten Roman Ada oder Das Verlangen behandelt. Hier sei nur erwähnt, dass Nabokov sich gewünscht hat, dass seine schriftstellerische Arbeit erst nach diesem Roman beurteilt werden soll. Er beschreibt hier den Weg der Hauptfigur Van Veen auf der Spur seiner Verlobten. Es geht um das Werkende und das letzte Wiedersehen der Verlobten nach langen Trennungen: „In diesem wilden Rennen hat Van Veen die Strasse zu Oberhalbstein ganz unerwartet bei der Silvaplana-Abzweigung (150 km südlich von Alvienna) verpasst. Er fuhr zurück in den Norden durch Splügen zur Straßenbahn Nummer 19, ein 100 km langes unnötiges Wenden.“ Nabokov selbst hat das Oberengadin mehrmals besucht, genauer den Ort, der von Nietzsche auf einer Karte an Franz Overbeck 1881 ein „Stück Ober-Erde“ (KSB, 6, 110) genannt worden war. Das erste Mal fuhr Nabokov im Dezember 1921 in die Gegend um Sankt Moritz und schrieb die Erzählung Der Flügelschlag. – Im Juli 1965, vier Jahre vor der Veröffentlichung von Ada oder Das Verlangen, kam er zurück nach Sankt Moritz, um die Dichtung Inmitten dieser Kiefern und Tannenbäume zu schreiben. Wahrscheinlich hat er dort den Schluss von Ada oder Das Verlangen entworfen. In dem Zitat ist die Anspielung an Nietzsche eindeutig: ‚Silvaplana-Abzweigung‘ symbolisiert die Beziehung des von Nietzsche beeinflussten Helden Nabokovs zur Ewigen Wiederkunft. Nabokov weiß genau, wo dies seinem Helden passieren soll – und die Idee der Ewigen Wiederkunft ist Nietzsche genau zwischen Sankt-Moritz und Sils eingefallen. Nach der Topografie von Nabokovs Roman fährt Van Veen auf der Strasse entlang des Silvaplana-Sees, die zum Dorf Surlei führt. An dem befindet sich der pyramidale Stein, von dem Nietzsche in seinem Ecce Homo spricht: „Ich ging an jedem Tage am See von Silvanaplana durch die Wälder; bei einem mächtigen pyramidal aufgethürmten Block unweit Surlei machte ich Halt. Da kam mir dieser Gedanke“ (KSA, EH, 6, 335). Mit diesem Zug à la Nietzsche beendet auch Nabokov sein Werk.

20 21

Ders., ebd., 210. Vortrag auf dem Nietzsche-Kolloquium in Sils Maria (Oktober 2005).

DIANA BEHLER

Nietzsche in America Elective Affinities

The topic ‚Nietzsche in America‘ presents the critic with certain difficulties already indicated by Friedrich Schlegel’s Lyceum Fragment 27: „Ein Kritiker ist ein Leser, der widerkäut. Er sollte also mehr als einen Magen haben.“1 One might add that a critic writing about reception history should have quite a few. The first question that arises here is that of identifying what exactly is to be understood by ‚American‘ receptions, a problem that Fritz Stern underestimates in his review of Hays Alan Steilberg’s comprehensive volume Die amerikanische Nietzsche-Rezeption von 1896 bis 1950 when he remarks: „Ein wirkliches Verständnis für die amerikanische Rezeption hätte allerdings eine – meinetwegen auch nur kurze – Übersicht über das jeweilige amerikanische Geistesmilieu vorausgesetzt. Welche Themen beherrschten das amerikanische Interesse der damaligen Zeit, wie weit war die Öffentlichkeit noch europahörig und dem englischen Geistes- sowie dem deutschen Wissenschaftsleben verpflichtet?“2 Stern fails to recognize that such a task would not only be daunting in scope, but would necessarily succumb to broad generalizations. Steilberg himself recognizes this danger in his preface, where he criticizes Allan Bloom’s infamous analysis of American culture in The Closing of the American Mind of 1987: „In der Wertekrise der amerikanischen Gesellschaft erkannte Bloom den kulturellen Krankheitsverlauf des Werterelativismus als herrschende Ideologie unter den Intellektuellen des Landes und diesen geistigen Virus selbst wies er als fremdländische Seuche aus, die vor allem nach dem zweiten Weltkrieg durch deutsche Gelehrte ins Land geschleppt worden sei.“ This was of course a Nietzschean virus, Bloom claiming to comprehend not only the totality of American culture, but also „the Germanness“ of this plague when he stated: „My insistence on the Germanness of all this is intended […] to heighten awareness of where we must look if we are to understand what we are saying and thinking […] For Nietzsche and those influenced by him, values are the products of folk minds and have relevance only to those minds.“3 One should not be too annoyed by Bloom, however, since by declaring war on Friedrich Nietzsche through this prejudicial attitude, he simply provided new incentives for 1

2

3

Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, ed. Ernst Behler with the collaboration of Jean-Jacques Anstett, Hans Eichner, and other specialists, Paderborn, München, 1958, II, 149. FAZ, Tuesday 27 March 1997, No. 71, „Über Hays Steilbergs Buch ‚Die amerikanische NietzscheRezeption von 1896 bis 1950‘“, Berlin 1996, XIV. Vorwort, vii.

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Nietzsche studies in the United States. What is indeed ‚the German‘ or ‚the American‘ brand of critical reception? Would it not be preferable to draw boundaries in terms of linguistic rather than geographical or national categories? Or are there indeed significant differentiations to be made among British, Australian, North and South American perspectives? And how does one classify critics who perhaps teach at American universities, but were born or educated in other countries? Was Michel Foucault an American critic because he held a tenured position at UC-Berkeley, or should he be classified as belonging to French postmodernism? Walter Kaufmann, while born in Berlin, certainly counts as an American critic who salvaged Nietzsche from the pervasive Nazified image following World War II, thereby resuscitating serious philosophical interest in Nietzsche for American scholars and students. Stern also notes in his review that Steilberg is a Germanist and philosopher, American by birth, but in terms of his education, a German. It would perhaps be useful to recall the romantic ideal of a progressive universal poetry combining literature, philosophy, and the arts as a potential mirror of the surrounding world, a picture of the age when considering Nietzsche’s impact and the network of critical relationships his philosophizing has forged.4 Indeed, with ever increasing internationalization, it will be difficult to recognize and isolate a distinctly American Nietzsche image other than from an historical perspective. Any attempt to assess an American Nietzsche reception should be approached with these reservations. The Cambridge Companion to Nietzsche, edited by Bernd Magnus and Kathleen Higgins, draws mainly on philosophers teaching at American universities, with a few exceptions (Jörg Salaquarda, R. J. Hollingdale, Graham Parks) and provides insights into their approaches and interests.5 Nietzsche in American Litgerature and Thought, edited by Manfred Pütz pulls together poetic, literary critical, and philosophical strands of Nietzsche receptions, beginning with Steilberg’s essay First Steps in the New World: Early Popular Reception of Nietzsche in America and concluding with Hubert Zapf’s Elective Affinities and America Differences: Nietzsche and Harold Bloom, along with Robert Ackermann’s scolding of various misreadings within contemporary Nietzsche interpretation in the United States.6 In his insightful introduction Pütz highlights the „encompassing idea of the relationship between author, work, and audience“ as the specifically American interpretative approach to Nietzsche. Early on, most readers were „animated by the suspicion that behind Nietzsche’s strange new philosophy lay the depth of another philosophy, replete with concealed intentions and effects, and that the public figure of the notorious author ‚Nietzsche‘ somewhere encapsulated a ‚true‘ Nietzsche whom it was advisable to bring to light in order to gain a full picture of the variably evil, beneficial, or whatever forces vested in the man behind the mask“ (1). Indeed, „the American encounter with Nietzsche reveals itself, already in its earliest stages, as an engaged search within a whole array of new Nietzsches, not yet identified and/or appropriated by others, around every corner“. Pütz maintains that it is precisely this discovery of ever-changing and ever-newer images of Nietzsche, that while appearing „to be a dominant tendency of various world-wide movements of the 4 5 6

Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, Athenäum 116. 1996. Columbia, S. C., 1995.

Nietzsche in America

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recent past“, is actually the „hallmark of American encounters with this philosopher from the very beginning“ (2). Stereotypes and problems of textual availability mark the first significant Nietzsche debates, extending from about 1895 to 1914, he continues. Animated by „crusaders and confessors from sharply divided camps battling it out over questions of Nietzsche’s presumable influence on the scenario of an eternal fight of good versus evil, democratic versus anti-democratic principles, and traditional versus revisionist, as much as Christian versus anti-Christian values“, the first „major wave of Nietzsche reception in America bore the stamp of genuinely American concerns“ (4f.). Were Nietzsche’s ideas compatible with the principles of a genuinely ‚American creed‘ underlying the cultural and political practices of American society as such? Whereas H. L. Mencken’s book The Philosophy of Friedrich Nietzsche (1908) was a „landmark of the reception, interpretation, and propagation of Nietzschean ideas in America“, literary types influenced by Nietzsche such as Jack London and Theodor Dreiser are seen as not engaged in these public debates. During the next three decades, American critical practice emphasized more „subtle literary and/or philosophical“ approaches, punctuated by the ideological debates and propaganda ignited by the two world wars (6f.). Authors such as Eugene O’Neill, Ezra Pound, Edward Cummings, Eliot, Stevens, and Ernest Hemingway are treated individually in this volume, reflecting diverse Nietzschean influences. During the first half of the twentieth century, American philosophers generally ‚bypassed‘ Nietzsche or dealt with the same narrowly focused issues found among his early popular reception (8). Following the breakthrough of Kaufmann’s epochal study Nietzsche: Philosopher, Psychologist, Antichrist of 1950 establishing Nietzsche „as an exceptionally important figure in the history of modern philosophy“, Pütz notes a wide „array of ‚new Nietzsches‘“ in America of recent times, ranging from the designation as metaphysician or anti-metaphysician, the precursor to Freudian „psychology of suspicion“, the proto-existentialist Nietzsche residing „next door to Nietzsche the uncompromising critic of the pitfalls of language“. While „paradigmatic shifts of Nietzsche interpretation“ can be seen in important Nietzsche monographs written during the past twenty years, he finds the recent „scene of philosophical Nietzsche reception in America“ as „more prolific and divergent than one can possibly hope to document in a single volume on the topic“. While Magnus has characterized these various strands of Nietzsche interpretation in contemporary America as „analytical“, „deconstructionist“, and „reconstructionist“, any typological organization appears inherently reductive to Pütz, considering the enormous „output and divergency“ of recent Nietzsche scholarship (9). He even agrees that it is „misleading to speak of a contemporary American Nietzsche reception at the given moment“, in view of its merging with European, indeed international dialogues. Furthermore, recent developments defy not only national demarcations, but also those of various forms of discourse, the „neat divisions between allegedly ‚philosophical‘, ‚literary‘, ‚theoretical‘, and/or ‚popular‘ forms of reception“ having „largely broken down“ (10). Richard Schacht had already announced a new phase of Nietzsche’s fate in America in his extensive review in The Times Literary Supplement of October 11, 1991, where he discussed nine new books dealing with Nietzsche: Ackermann’s Nietzsche, John

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Sallis’ Crossings, Alan Schrift’s Nietzsche and the Question of Interpretation, Maudemarie Clark’s Nietzsche on Truth and Philosophy, Alistair Mole’s Nietzsche’s Philosophy of Nature and Cosmology, Henry Staten’s Nietzsche’s Voice, Alan White’s Within Nietzsche’s Laybrinth, Leslie Paul Thiele’s Friedrich Nietzsche and the Politics of the Soul, and Lester H. Hunt’s Nietzsche and the Origin of Virtue. „It is really quite remarkable. The number of books on Nietzsche by English-speaking writers (all Americans, as it happens) published in the first year and a half of the 1990s may well equal the total number published in the previous decade – which in turn had easily surpassed the entire production of the prior post-war period“, he concludes, commenting that the high quality of the contributions will assure Nietzsche a wider American public. Furthermore, Schacht finds it astounding that these books appeared with important American and British publishing houses that shortly before had never dreamed of publishing books on Nietzsche and draws the conclusion: „Something important is happening […] English-language Nietzsche studies are coming of age, and Nietzsche is emerging as a philosopher of exceptional importance, as interest in him – at least as someone who must be reckoned with – grows both within a philosophical community in transition and beyond its bounds“ (25). „Nietzsche studies have been emancipated both from the suffocating embrace of the ‚new Nietzsche‘ deconstructionism and from the Procrustean bed of analytic philosophy, allowing him to be viewed in his own formidable right“, which for Schacht exemplifies Nietzsche’s „perspectivism upon which he himself insisted, both as an inescapable feature of interpretation and as the strategy that best serves the enhancement of comprehension.“7 In his rather devastating review of Stern’s Study of Nietzsche in The German Quarterly of March 1980, Magnus had already noted the downside of such proliferation: „The Nietzsche factory is booming. Every major press – and many a minor one – feels itself under an obligation to have its own Nietzsche title. Cambridge University Press is no exception, let it be noted [here] with regret. If books are like money (and if bad money drives out good), then Stern’s book will surely devalue Nietzsche’s currency quickly.“ Important contributions to American Nietzsche studies also come from Germany, as, for instance, newer volumes of Nietzsche-Studien or Information Philosophie exemplify. Martina Bretz and Doris Vera Hofmann delve into American Nietzsche interpretations, whereby credit is duly given to the European forbears without which the American Nietzsche could be neither understood nor even imagined.8 They trace the development of this, for the democratically oriented, so ‚suspect‘ philosophical ‚immigrant‘ Nietzsche from Arthur Danto with his deep reservations about Alexander Nehamas’ magic formula of the ‚world as text‘ that aims at solving the apparent contradictions in Nietzsche, to Henry Staten’s revolutionary Dionysian depiction, which seems to compensate for Nehamas’ Apollinian Nietzsche image. New books on the American market are organized according to six aspects: 1) democracy, 2) self-stylization, 3) 7

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His essay „Nietzsche’s Kind of Philosophy“, in: Cambridge Companion to Nietzsche, Schacht considers Nehamas‘ aesthetic-literary pattern „life as literature“ as too narrow a concept to capture the variety of Nietzschean links to music, painting, architecture, and sculpture, along with other areas of experience, 165. Nietzsche now. Zum Stand der amerikanischen Nietzsche-Forschung, 332–354.

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critique of religion and the individual, 4) critique of metaphysics and rhetorics, 5) perspectivism, and 6) Nietzsche now: timely untimeliness.9 Here, Nietzsche’s agonistic principle is not only identified, but utilized as a critical weapon to play one off against the other, a rather productive methodology. Herman Siemens takes a global, thematic approach in his analysis of the so-called „agonistic movement“ in political thought, its adherents as well as critics, whereby he starts out from the premise: „The last decade or so has seen a surge of interest in Nietzsche as a political thinker, especially in the Anglo-American world.“10 He detects, however, a growing critical reaction against a predominantly leftist consensus. „Much of the literature is by left-leaning authors concerned with retrieving constructive impulses in Nietzsche’s thought against the post-war consensus that Nietzsche’s strength as a critic of modernity is matched by his weakness as a constructive political thinker“, or what Daniel Conway calls the ‚standard political reading‘. Kaufmann and Richard Rorty, who in their ethics of perfection represent positive, apolitical views, constitute exceptions to this trend. Siemens continues: „I shall review some of the more recent challenges to this consensus from the left, concentrating on the pronounced, if not fashionable movement that has become one of the hottest topics in Anglophone Nietzsche studies: the attempt by poststructuralist or ‚radical‘ democrats to put Nietzsche’s ‚agonism‘ to work for the sake of a revitalized understanding of democracy“ (509). Siemens understands this agonistic movement „as a vitalist reaction against the ‚law-or rule-inducted sclerosis‘ of modern, bureaucratic democracies, as against the ‚regularian‘ character of modern liberal theory“; that is, the juridical/administrative conception of politics promoted by Rawls and other proceduralist liberals. He emphasizes that in his global and thematic approach, he is „less concerned to come to a final verdict than to bring out some of the questions and issues it raises“ (510). The attempt will not be made here to outline the complete array of American Nietzsche interpretations or produce a generalized image, but one cannot overlook the realization that if Nietzsche is not completely rooted in the American psyche, he has nevertheless challenged his interpreters to ignite what Bretz and Hofmann call „small fireworks“ from which a few sparks are bound to land on the European side of the Atlantic.11 In his First Steps in the New World: Early Popular Reception of Nietzsche in America, however, Steilberg notes that initial responses to Nietzsche on this side of the Atlantic were by no means friendly.12 „Clouds of misunderstanding“ materialized under the impact of the English versions of Max Nordau’s Entartung published in 1985 as 9

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Among those discussed and grouped according to these numbered categories are: 1) Alan Schrift, Mark Warren, Frederick Appel, 2) Alexander Nehamas, Henry Staten, 3) Richard White, Tyler Roberts, 4) Douglas Thomas, 5) Christoph Cox, 6) Alan Schrift. „Nietzsche’s Political Philosophy: A Review of Recent Literature“, in: Nietzsche-Studien, 30, 2001. „Der Faden, der aus dem Labyrinth der Nietzscheschen Texte und ihrer Interpretationen führen könnte, erweist sich als eine glimmende Lunte. Daß dies zu allzu großen Explosionen führe, wird man nicht wünschen können: Doch die amerikanischen Interpreten haben in den vergangenen Jahren immer wieder kleinere Feuerwerke entzündet, von denen einige Funken auch auf diese Seite des Atlantiks hinüberschlagen sollten“, 354. In: Nietzsche in American Literature and Thought, 19–40.

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Degeneration until Kaufmann opened the „sluice gates“ of American criticism, which still finds itself in two antagonistic camps today: The „firing line runs politically among anti-democratic (aristocratic and socialist groups) and democratic thought; morally between ethical revisionists and traditionalists; conservative (social Darwinian) and radical (socialist and anarchist) thinkers“ (19). Nicholas Murray Butler, Dean of Columbia University in the early 20th century, for example, did not want to know anything about Nietzsche, crying out „get you gone from civilization! […] there is no place among us for the lusting beast of prey“ (23). Others saw in Nietzsche an ethics that called for exploitation, egoism, even murder, as Paul Carus, well known through the journal The Monist, feared: „Passions would have full sway; lust, robbery, jealousy, murder, and revenge would increase and death in all forms of wild outbursts would reap a richer harvest than it ever did in the days of prehistory savage life.“ Charles Everett, the Dean of the theological faculty of Harvard at that time, warned: „He is in the first place a hearty and thorough-going atheist. One of his favorite expressions is God is dead.“ On the other hand, Nietzsche’s adherents tried to make him more palatable by emphasizing his difficult style, his dramatic language, and incitements to a better understanding of religion and critical thinking. For them he was an advocatus diaboli in the service of Christianity, who in his fanaticism displayed a deeply Christian spirituality (32). Some intellectuals feared a collapse of the social world order through Nietzsche infestations, whereas others regarded America as the culture predestined to produce the Übermensch. Even the anti-Nietzschean Carus claimed: „We Americans especially have faith in the coming kingdom of the overman, and our endeavor is concentrated in hastening his arrival.“ Some saw Ralph Waldo Emerson and Walt Whitman, those „greatest apostles of the individual“ in the 19th century, as the forerunners of Nietzsche (34), but others claimed ironically that Nietzsche was simply sent to America after he had worn out his welcome among the Germans: „German philosophies are, like their plays and operas, shipped over to America when the Germans have got tired of them“ (35). But there was also a good dose of ‚Germanophobia‘, Steilberg notes, because anarchists tended to be identified with German immigrants, in the Haymarket riots, for instance. On the other hand, there was resentment directed against students who did not want to miss out on spending their ‚Wanderjahre‘ in Berlin, Göttingen, or Heidelberg. Nietzsche was easily dismissed as a mad philosopher lacking imagination, and his unsystematic writing, his aphorisms, simply demonstrated his lack of patience for thinking through ideas, his ignorance of the exact sciences, and his tendency towards plagiarism. These were all appropriations of Nietzsche geared towards achieving private goals, a pattern of reception that still shapes his image in America. In his essay From Dolson to Kaufmann: Philosophical Nietzsche Reception in America, 1901–1950, Steilberg cites the influential George Santayana as having branded Nietzsche as the ideological forerunner of Wilhelminian imperialism that led to the World War I.13 In his Egotism in German Philosophy, he depicts Nietzsche as a part of the ‚sinister tradition‘ of Germany’s totalitarian thinking. But there were salvation attempts too, first of all, a dissertation by Grace Neal Dolson appearing in 1901 as The 13

In: ibid., 239–262.

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Philosophy of Friedrich Nietzsche and providing a lucid image of Nietzsche’s epistemological and ontological thinking. H. L. Mencken tried to present Nietzsche’s thinking as logical, comprehensible, and instructive for American matters. Nietzsche’s master morality was seen as a hypothetical construction of an immanent moral code, a product of critical philosophy aiming at the toppling of superstition and irrational belief (242f.). Nazi propaganda and Alfred Baeumler molded the Nietzsche image of the 1940s, one that Crane Brinton swallowed hook, line and sinker, claiming: „Nietzsche called for the Supermen. Mussolini and Hitler answered the call“ (251). After the World War II, Kaufmann is seen as having liberated Nietzsche’s philosophy more than any other critic, while at the same time popularizing him. He „is remembered mainly as the great enlightener, who dispelled the myths of the eugenicist, militant, anti-semitic, vitalist, hedonistic Nietzsche, and (especially in America) the discoverer of the proto-Freudian psychological insights in Nietzsche’s work.“ In his zeal, however, Kaufmann occasionally tended towards whitewashing Nietzsche’s image, Steilberg contends, or performed what Walter Sokel referred to as creating an „antiseptic“ Nietzsche (258). Steilberg concludes with the comment that today lecture halls resonate with Nietzsche’s name: „American Nietzsche scholarship is now among the most productive internationally; let us not forget that it has its heritage – both of delinquents who deserve censure, but also of pioneers who deserve a place of honor in the family tree“ (260). In his introduction to Nietzsche in American Thought and Literature, Pütz draws the conclusion that if one considers influence and reception as a reproduction of the unmitigated „truth“ of Nietzsche’s thinking, one must necessarily fail because such a „truth“ is not available. „Hence what remains as a task for the study of Nietzsche’s influence in America – embracing alleged readings and misreadings, imitations, modifications, and appropriations alike – is to follow lines of reception on their own terms of contextual occurrence and diversified direction, regardless of what the outcome of such an operation might be“ (14f.). In the following I will draw upon three kinds of Nietzsche receptions that illustrate certain affinities or congenialities with his style and thought while exhibiting great differences among their own concerns: 1) Bloom, 2) Emerson, and 3) contemporary feminist interpretations. With Bloom we have a comparative retrospective view of Nietzsche highlighting affinities between their ideas, whereas with Emerson, there is a twofold relationship: Nietzsche’s kinship with Emersonian thought, which in turn, has generated new Nietzsche receptions aligning him with quintessential American ideas. The first two are chosen because they were influential thinkers in American education at very different times, and the last because contemporary feminism would not appear to be particularly compatible with Nietzschean thought, but is indeed surprisingly kindred.14 14

It should be noted, however, that many consider the American brand of feminism that emerged in the 1960s and 1970s passé, something the New York Times columnist Maureen Dowd analyzes in her latest book Are Men Necessary?, New York, 2005. Recognizing ‚historic miscalculations‘ in women’s earlier attempt to be „independent from men by imitating them“, she unwittingly echoes some Nietzschean thoughts on the subject by noting that when women realized that they could achieve male status and power without becoming „rats on a treadmill“ like their male counterparts,

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Harold Bloom: Agonistic Humanism The philosophers discussed in the volume Nietzsche in American Literature and Thought are surely some of the best known Nietzsche scholars today: Paul de Man, whose deconstructive Nietzsche reading is sharply criticized by Pütz, Nehamas, whose thesis of Nietzsche’s life as literature is scrutinized by Stanley Corngold, and Rorty, whose pragmatism and contingency theory are treated by Lutz Ellrich, but also in Ackerman’s essay. One does not perhaps expect to find Bloom, whose repute is that of an expert in Romantic poetry and William Shakespeare, in this group. The New Yorker magazine of September 30, 2002, however, profiled Bloom as a long time conservative American critic who exhibited some commonalities with Nietzsche.15 Author of the pioneering Anxiety of Influence in the 1960s, Bloom has recently gained popular success with books written in a more personal tone: The Western Canon, The Book of J, and How to Read and Why. For his Shakespeare book he chose a Nietzsche quotation from Twilight of the Idols as his motto: „That for which we find words is something already dead in our hearts. There is always a kind of contempt in the act of speaking.“16 Like Nietzsche in his times, Bloom diagnoses a nihilistic condition in art and literature in Western culture that for him had reached its apex in Shakespeare and was now on the decline. Story and plot don’t interest him, but rather human will and character that are not time-bound. Poetry has to be bloody, showing torn veins and muscles. His hero Hamlet is associated with Nietzsche’s Dionysian type: „Both have once looked truly into the essence of things. They have gained knowledge, and nausea inhibits action; for their action could not change anything in the eternal nature of things […] Knowledge kills action: action requires the veils of illusion: that is the doctrine of Hamlet.“17 Like Nietzsche, Bloom feels alienated from his profession because writing has become his whole life. In a review of Bloom’s The Western Canon: The Books and School of the Ages, Bruce Robbins writes in the journal Radical Philosophy (Nov./Dec. 1996) that Nietzschean nihilism is actually Bloom’s main topic, since he prefers ‚nihilistic‘ literary heroes like John Milton’s Satan, Jean Baptiste Moliere’s Alceste, Shakespeare’s Falstaff, as well as Macbeth and Iago and declares those writers our best who undermine all our and their own values.18 Zapf in his Elective Affinities and American Differences: Nietzsche and Harold Bloom in Nietzsche in American Literature and Thought detects similarities between Bloom and Nietzsche in their polemical style of rhetorical battle and in questions related to human nature.19 Both regard the agonistic in the human spirit not as a higher principle of truth, but rather as the motor of life (340). Daniel O’Hara

15 16 17 18 19

they recoiled from doing this on male terms. She argues that women today are not going backward, but moving ahead by combining home and work in „more elastic combinations“ and in „less predictable and programmatic ways“, 70. Larissa MacFarquar, The Prophet of Decline. Harold Bloom’s influential anxities, 87–97. Ibid., 87. Ibid., 96. Bruce Robbins, Low anxiety, 46f. Zapf, 337–355.

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had previously analyzed the centrality of Nietzsche in Bloom’s theory, Zapf notes, particularly with regard to his ironical geniality in recognizing the inescapable fate of being dependent upon the very powers of history and the past against which one struggles to reach freedom and self-determination (339). In their assumption that the human spirit is agonistic, both thinkers tend to use belligerent rhetorical figures in their polemics. „Their common premise is the conflictive nature of the human mind, whose logical operations are not the agency of a higher truth-impulse but of instinctual drives at war with one another and geared towards survival and self-preservation“, Zapf writes. „Both writers tend to think in extremes rather than in gradations, and tend to use sweeping statements and apodictic, though highly personal generalizations. Both cultivate a rhetoric of high drama, staging their intellectual conflicts in the dramaturgy of worldhistorical crisis and catastrophe. If Bloom stands out for his ‚aggressive personalism‘, for the blatantly subjective propagation of his idiosyncratic views, something similar could be said about Nietzsche, who has become notorious to mainstream philosophers – and to a host of skeptical admirers – as the ‚philosopher with the hammer‘. In his antithetical criticism, Bloom like Nietzsche, is a cultural iconoclast, a ‚critic with a hammer‘ who mercilessly destroys traditional illusions of meaning, knowledge, and morality, in order to unmask them as comforting anthropocentric fictions“ (340). In Bloom’s theory, traditional concepts of truth and reality are replaced by „competing anthropomorphic illusions, whose basis is never any immediate experience but the constantly shifting metaphoric process of cultural self-interpretation“, „fictions of truths rather than truth“, as depicted in Nietzsche’s On Truth and Lie in an Extra-moral Sense (340f.). Poetry „revisionally subverts the apparently stable world of cultural metaphors“ for Bloom, whereby lie and error are a necessary and productive element of life and cultural activity. Art is therefore an intensified form of lie, appearing in Nietzsche’s The Gay Science as „the good will to representation“ because it offers powerful illusions (341). Bloom too replaces traditional moral categories of good and evil with what Zapf calls „transmoral categories such as original vs. derivative, self-reliant vs. dependent, and above all, strong vs. weak“ (341). His Anxiety of Influence reveals the power of cultural influence (death) over self-assertion (life) and rejects life-negating asceticism as well as the burden of history and forerunners, as does Nietzsche. Bad conscience identifies the relationship of earlier to later generations in their feelings of obligation that constantly demand sacrifices. Bloom speaks of the high price to be paid through „partially sinister rites of sacrifice and symbolic repayment“, a concept reminiscent of Nietzsche’s Genealogy of Morals (343). Another aspect of Bloom’s critical personality is his agonistic style with its arsenal of metaphors and tropes. In his „intertextual psychodrama, the deeper structure of texts are structures of ‚real life‘, that is of aggression, strife, envy, distortion, deceit, and indeed violence, even while they disguise themselves in humanist idealizations“, Zapf notes (344). Tropes are weapons engaged in poetical war, whereby poetry for Bloom is a means of attacking death and mortality. The destruction of the burden of the past is a symbolic act for him, the strong poet the one whose art of self-production stimulates, deepens, and beautifies life against the deadly powers of tradition and conformity. In this regard Bloom’s poet is like Nietzsche’s Utopian figure Zarathustra, that intellectual

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aristocrat whose creative freedom distances himself from the masses (346). Bloom and Nietzsche deliver radical critiques of cultural idealization in a prophetic stance oscillating between rationality and mysticism, radical skepticism and mythography, Zapf contends, attempting to deconstruct „over-spiritualized“ cultural attitudes, while at the same time opposing the total „despiritualization“ of contemporary culture (346). In this sense Zapf can compare the „Overman“ with Bloom’s „strong poet through whom the act of creation itself, the ‚making‘ of world and self, become the new, supreme value that emerges after the transvaluation of all values“ (347). There are of course differences separating Bloom’s theory from Nietzsche’s philosophizing. Bloom’s ‚Map of Misreading‘ is systematic, always revealing the same contours that are applied to various historical epochs and cultures, whereas Nietzsche’s philosophy is „protean and fluid“ (347). Where Bloom is retrospective, Nietzsche is prospective; „he labors in the prisonhouse of history, where Nietzsche shatters its very foundations in order to rebuild it into a playground for his envisioned Overman of the future“, Zapf claims (348). Yet both critics see the world as hostile and alienating, a place of error and deceit, a structure of illusions consisting of nothing and having no inherent meaning. Nietzsche’s amor fati points to a Dionysian festival of eternal becoming that embraces both life and death, in Zapf’s image, whereas Bloom’s poetical struggle opposes time and death in favor of the symbolic immortality of the individual (349). Zapf errs, however, in my opinion, when he establishes an essential American difference between Bloom and Nietzsche on the basis of Bloom’s inspirations from Emerson, the founder of the ‚American religion‘. This American belief supposedly distinguishes itself from its European counterpart of „God-reliance“ because of Emerson’s emphasis on „self-reliance“ that enables the individual to liberate himself from the temporal, material world through his own creative powers (352). In contrast, Zapf finds Nietzsche’s „power beyond the self“ in the species, the process of life, its creation and destruction to which the individual is continually subjected, the only possible affirmation of the self residing in „accepting its own disappearance“ (353). The „American religion“ expressed in Emerson’s „self-reliance“ meshes with Bloom’s theory of the apotheosis of the individual that corresponds to the „American myth of the sovereign individual“ for Zapf, all of which makes him, but presumably not Nietzsche, a „humanist“ (353). While insightful, Zapf’s Nietzsche image tends to reflect a bit too much Schopenhaurian pessimism. Furthermore, he overlooks Nietzsche’s close kinship with Emerson, the archetypal American that George J. Stack elucidates so well in his book Nietzsche and Emerson. An elective Affinity.20

20

Nietzsche and Emerson. An Elective Affinitiy, Athens, 1992.

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Ralph Waldo Emerson: ‚Elective Affinities‘ Emerson indeed counts among those few predecessors of the 19th century, Nietzsche considers worthy of the designation „master of prose“ in Aphorism 92 of the Second Book of The Gay Science, a designation he reserves only for those writers who have succeeded in warring with poetry. In Twilight of the Idols he devotes Aphorism 13 to Emerson, whom he finds a man of taste, much more enlightened, multiple, and ingenious, and happier than Thomas Carlyle. He possesses for Nietzsche an amicable, witty cheerfulness that discourages every kind of seriousness, and his spirit always finds ways to be satisfied, even grateful. Emerson was indeed an author with whom Nietzsche was completely compatible. In contrast to Zapf’s view, Stack shows us that Emerson and Nietzsche reveal similar modes of thought, „an elective affinity“, as he notes in his preface: „Tracing the profound influence of Emerson on Nietzsche may engender surprise in some, perhaps many.“ While scholars have noted a parallel between Emerson’s emphasis on self-reliance and European existentialism, Stack is more emphatic: „Emerson does not merely occupy the same intellectual and psychological space as the European existentialists; rather, his surprisingly radical thought entered directly into the bloodstream of this philosophical movement by way of Nietzsche. For more than twoand-a-half decades Nietzsche read and reread Emerson with great enjoyment and, as we shall see, with even greater profit“ (viif.). Even many of Nietzsche’s self-references in his letters „echo comments or observations of the American poet and essayist!“ (viii). Nietzsche’s style of daring thinking is also adopted from Emerson, who admitted to playing the role of the devil’s advocate, Stack writes. Possessing many voices of „enormous range“, and „always, like serpents, shedding their psychic and intellectual skins“, Emerson and Nietzsche emphasize flux and mobility of their thought, offering not a single philosophy, but „philosophies“ (ix). Stack finds Nietzsche the „most thorough and accurate interpreter of the thought of Emerson extant“ (viii). Both „restless thinkers, seekers, searchers, Versucher – ‚attempters‘, they saw man, life, and the world as riddled with ontological paradoxes. Existence for both is dialectical, oppositional, antagonistic“, and their thoughts abounded with polarities and entwined antitheses of joy and suffering, good and evil, spirit and nature, the ordinary and the extraordinary, giving expression to the pathos of existence (ix). What Stack seeks to accomplish is to show how Nietzsche’s indebtedness to Emerson has been underestimated and that it was Nietzsche’s assimilation of this „American thinker par excellence“, that Emerson „entered European thought and subsequently influenced more writers, poets, and philosophers than has previously been imagined“ (x). Furthermore, Stack’s readings in The Gay Science and Beyond Good and Evil, where Nietzsche advocates new experimental thinking, anticipates a new species of philosophers, and celebrates life as a means to knowledge, lead him back to Emerson and his „evocative proposals for a new mode of existence“ (58f.). Indeed, Emerson’s concept of wisdom, „seeing through deceptions and renouncing our former beliefs, is what Nietzsche later calls ‚self-overcoming‘ […] deliberately overcoming one’s own cherished ideals, one’s consoling illusions“ (59). There is a tension in Emerson’s thought for Stack, „between a tendency to let go of the personal self and immerse it in the circular

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flow of life and existence and a strong tendency to affirm the inexpungeable reality of the self“, a kind of thinking compatible with the experiential aspect of Nietzsche’s philosophy. In this regard, Stack agrees with Charles Andler’s conclusion that „Emerson was one of those beloved authors whose thought Nietzsche absorbed until he could no longer distinguish it from his own“, or what Stack calls his mining „surprising number of Emerson’s scattered treasures“ (60). In a letter to Franz Overbeck of 14 December 1883, Nietzsche wrote that Emerson was indeed a brotherly soul, leading Stack to maintain that we have before us an intellectual and spiritual kinship that is so profound that the word „influence“ does not suffice: „For Nietzsche absorbed as much as he could from Emerson and developed and expanded a compressed, economically expressed philosophy of nature, life, and culture that is dispersed throughout Emerson’s insightful writings“ (3). First encountering Emerson at the age of seventeen, Nietzsche is said to have treasured his essays, and his works in German translation were the most frequently read books in his library, according to Stack (3). That Nietzsche was influenced by Emerson’s polished style and greatly admired him is certainly well known. Stack emphasizes that „what is less known in English-speaking countries than in Germany is that a great deal of the core of Nietzsche’s philosophy was profoundly influenced by numerous aspects of Emerson’s reflections“. „Many ideas that are closely identified with Nietzsche – ideas about nature, life, man, power, society, and the individual, as well as some of his central, positive, and visionary conceptions, were originally suggested to him by his deeply sympathetic reading of Emerson“, Stack maintains. Nietzsche is viewed as having the ingenuity to build upon Emerson’s casual observations and developing a „sentence, a paragraph, a short essay in Emerson into a theory, a philosophical doctrine“, inspiring Stack to say that „Emerson served as Socrates to Nietzsche’s Plato“ (5). Stack considers Emerson as a thinker „whose radicalism was hyperbolically perpetuated by Nietzsche“, his self-reliant individuality entering into the bloodstream of European existentialism via Nietzsche’s transformative language (7, vii). Having read Emerson for more than two decades with pleasure and profit, „Nietzsche praises the Amerikaner almost without reservation“ Stack remarks, even claiming that he modeled his „tragic optimism of his ‚Dionysian pessimism‘ on the insights of the American thinker“. Nietzsche recognized, as many American critics of time did not, that Emerson „was a hard-headed thinker who was quite aware of the tragic dimension of human existence, of what Emerson in youth called ‚the ghastly reality of things‘“. Claiming that Nietzsche understood Emerson more thoroughly than any of his contemporaries, Stack considers him as „probably the most thorough and accurate interpreter of the thought of Emerson extant“ (viii). Not only an admirer of his literary style, he imitated and idealized it „to the point of adopting him as an alter ego“. Emerson is for Stack the one who tempts Nietzsche to be a „dangerous thinker, to write dangerously“, adopting the boldness of his predecessor (viii). „The theme of a new, superior culture of one form or another, in coordination with the historical orientation that Arnold Toynbee called ‚futurism‘ was very much in the air in nineteenth-century Europe“, Stack notes. With the exception of Arthur Schopenhauer, „many of the thinkers Nietzsche respected were visionary about what culture and

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man might yet become, even as they disagreed about the form that this new culture and new man would take“. By the time Nietzsche wrote The Birth of Tragedy, he continues, „Nietzsche had already received what amounted to an education in futuristic ideals and elitist cultural values. What is less known is that some of these ideals and values were imported from America“ (7). Noting Emerson’s radical thinking, Stack admits that some may be „surprised that the optimistic transcendentalist, the ostensible champion of democracy and the common man, is closely linked to the elitist philosopher of the ‚beyond-man‘, of the ‚transvaluation of values‘, of ‚the will to power‘, the critic of every social and political leveling tendency of the modern world“. Indeed, much of Emerson’s radicalism was taken up and perpetuated by Nietzsche in his hyperbolic manner (8). „The similarity between Emerson’s supreme ‚bellwethers‘ of the future and Nietzsche’s ideal of what man may yet become is far more than a family resemblance. By relating Emerson’s writings on this specific theme to those of Nietzsche, we may come to see Nietzsche’s conception in a new light. And, by the same token, Emerson’s reflections concerning the possibility of the emergence of man perfected are illuminated, retrospectively, from a surprising angle of vision. Although it may be the case that the importance of Emerson’s influence on Nietzsche provides a ‚clue to the nature of Emerson’s poetry‘, it is a far more significant clue to the nature of and meaning of some of Nietzsche’s central conceptions and valuations“ (8). Stack also finds themes and reverberations of meaning and tones of Emerson’s Circles in Nietzsche’s writings: „The central idea of the predominance of circularity throughout nature, in life, in human existence easily suggests Nietzsche’s paean to ‚the eternal ring of becoming‘ and even the possibility, given the circular pattern of all things, of the eternal return of all things.“ Like Nietzsche, Emerson had celebrated the flux and process of life, passionately embracing „the transitory nature of life, ideas, values, and institutions“. While admitting „a degree of ‚permanence‘ in the world“, he „abjured a philosophy of Being or permanence and urged us to adopt a philosophy of ‚time and becoming‘, as Nietzsche had Zarathustra call it“. Recognizing that Nietzsche was quite familiar with Heraclitus’ theory of universal flux, Stack nevertheless contends that Emerson reinforced this idea in Nietzsche’s mind, his Circles having drawn implications for this way of viewing the world and the self. „All that seems permanent is subject to change, the impertinence of the new. And what is new ‚destroys the old‘. Theories, generalizations, values, beliefs, and ideals that seemed at their birth to be eternal prove victims of the relentless power of temporality“, ideas that emerged in Nietzsche’s celebration of „the endless becoming of all enthusiasm“ (16f.). Finally, Stack maintains that Emerson and Nietzsche each envisioned a self-creative, independent human being who could escape the powerful nets of the all-too-human and „cultivate an affirmative, distinctively individual style of thought and existence“ (355). „They tried to teach mankind a difficult faith, a faith far more demanding than a belief in a distant, perfect, omniscient, but hidden and strangely silent, deity: a faith in man and his capacity for self-overcoming“ (356). If Emerson is indeed the quintessential American, then one can also say that Nietzsche has a deep intellectual kinship with this American way of thinking.

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Feminist Analogies In his contribution to the Cambridge Companion to Nietzsche, where he emphasizes Nietzsche’s perspectivism, Schacht refers to Nietzsche’s metaphor of woman as a prime example of this method of observation and philosophizing.21 Nietzsche’s famous hypothetical comment in the Preface to Beyond Good and Evil „Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist –, wie?“ (KSA, JGB, 5, 11) is one example of how Nietzsche attempts to show in a playful manner that truth cannot be approached from a dogmatic or purely male point of view, but only indirectly. Accordingly, every idea that appears triumphant is necessarily as precarious and uncertain as the pursuit of a woman (170). Jacques Derrida’s Spurs had indeed chosen Nietzsche’s metaphor of woman as his departure point for his playful analysis of Nietzsche’s style. And with this, Schacht continues, Derrida found himself in agreement with more contemporary feminist critique that reinterpreted Nietzsche’s ostensibly anti-feminine texts as ironic, metaphorical expressions masking the paradoxical, oppositional, and contradictory character of his thought. Linking feminist criticism with philosophical inquiry can nevertheless appear problematic, as Jean Grimshaw elaborates in her review of Michelle Le Doeuff’s book Hipparchia’s Choice in the journal Radical Philosophy, but only if one draws the disciplinary boundaries too narrowly.22 If one takes this ‚feminist-philosophy‘ seriously, then the field of investigation widens, often producing strong, productive debates, she argues. Furthermore, the designation ‚feminist‘ does not constitute a mark of authenticity or credibility by which one can confirm a theory as genuine; first of all, because feminist goals are hotly debated; second, because this should not only address women; and third, because most feminist theories take as their starting point that openness rather than objectivity is the mark of philosophical questioning. „Some kind of perspectivism must be an essential presupposition of feminist enquiry“, Grimshaw maintains, even if this is difficult to formulate (20). She always finds it stimulating, especially with authors like Nietzsche or Sigmund Freud who are considered patriarchal and anti-woman, to find insights or conceptual structures that stimulate one’s own thinking. Jean Graybeal even claims in her study Language and ‚the Feminine‘ in Nietzsche and Heidegger, that these philosophers were actually feminists, or at least protofeminists, even if they did not wish to acknowledge this.23 Furthermore, she gives us to understand that there is a figure in the margins of the texts by Nietzsche and Martin Heidegger that she calls „la mere qui jouit“, a ‚feminine‘ capability of language present in both authors. This is a ‚jouissance‘ in Julia Kristeva’s vocabulary that is similar to Nietzsche and Heidegger’s search for a non-metaphysical manner of thought (2). Graybeal finds this ‚jouissance‘, this pleasure that extends beyond the metaphysical, especially in their language where the passion and intensity of their thoughts transport them into the poetic. Indeed, by struggling with the problem of how one can possibly speak following the death of God, they reach into the vicinity of the maternal stylistically and 21 22 23

Nietzsche’s Kind of Philosophy, 170. „Philosophy, feminism, and universalism“, in: Radical Philosophy 76 (March/April 1996). Bloomington, Indianapolis 1990, Introduction, 1.

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metaphorically. They do not develop a theory of the feminine, she suggests, but practice it. In her book Corporeal Generosity. On Giving with Nietzsche, Merleau-Ponty, and Levinas, Rose Diprose considers Nietzsche’s woman as his promulgating a kind of „corporeal generosity“ that surpasses egoism, not in an economical, contractual sense, as so many critics perceive of gifting, but as that which the ego or I has established in relation to the other.24 Nietzsche’s writing about woman alludes to the way that men create an image of woman in order to provide a support, a crutch as it were, to assure them that as men, they are autonomous and have stability, a thesis echoing Simone de Beauvoir’s work. Diprose invokes Nietzsche’s image of woman as a gliding, magical figure who appears as an ideal type, a better self, to the men enmeshed in their own noise below. Since identity is formed in relations, however, this supposedly autonomous and transcendent male ego is not complete without the incorporation or negation of that which is different. In other words, he must possess the image of woman he has created to validate himself, a self-affirming appropriation against which Nietzsche sounds a warning bell. The magical effect of woman is strongest at a distance, as actio in distans, whereby she maintains an identity, although one created by men. The other possibility would be to overcome this distance, which would propel her into the possession of the man, resulting in a „double bind“ (37). Woman in this Nietzschean projection has only two choices, the first, maintaining the magical effect of the „profound image of difference that man has of her“ without letting on that she knows what a deception this is (38f.), and the second, requiring submission sexual subordination. „At a distance, woman’s ‚difference‘ is complementary and promises to affirm man’s selfpresence; in proximity, her ‚sameness‘ heralds the death of the self.“ The irony embedded in these two choices, however, is that each revokes the premise on which it is based: action at a distance still depends on keeping woman in her place, whereas proximity will expose the „revelation through submission that woman is not the profound, unfathomable depth, the mysterious eternally feminine, which man’s desire seeks“ (37). Thus women defy both the surface image of the eternally feminine and the supposed underlying „truth of the woman beneath“, Diprose argues, but here there is another catch. No matter how successful the attempt to escape male definition, woman is still affected by man’s image of her: „The truth of woman, as elusive and as changeable as it is, is a name, […] and what things are called […] gradually grows to be part of a thing, and turns into its very body“ (43). For Nietzsche, women are like actors who mirror alien forms not their own, but provided by others, Diprose continues. She reflects a Dionysian metamorphic identity depicted in Twilight of the Idols, where the entire emotional system is intensified, discharging all of its powers of representation – imitation, transformation, convertibility – every kind of mimicry and acting. Diprose agrees with Derrida’s contention that with Nietzsche female artistry lies in dissimulation, in a disguise that defers her own identity (39). Dropping the veil of woman discloses neither the truth of woman nor the self-presence of man, but exposes only further dissimulations and false interpretations that, in turn, serve to protect the Nietzschean mask. But it is man’s evaluation of woman that ultimately creates the mask that constitutes the 24

Albany 2002.

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socially imposed difference to man that cannot be erased, she maintains, quoting Nietzsche’s observation in Aphorism 67 of The Gay Science that women form themselves according to this image and are simply acting in the role imposed upon them (37). The famous warning by the old woman in Zarathustra: „Du gehst zu Frauen? Vergiss die Peitsche nicht!“ (KSA, ZA, 4, 86) is thus interpreted as directed to men who think they can hold on to the dangerous plaything they need in order to discover the internal child within themselves. Pauline Johnson in Nietzsche Reception Today considers Diprose’s stance as an attempt to provide opposition not only to the social domination of woman, but also to an essentialism that determines her one-sidedly.25 Considering what she calls the „feminist redemptive strategy“, however, she has strong reservations: „For the most part, this redemptive feminist strategy has sought to marginalize or absorb the importance of Nietzsche’s tirades against women in general, feminists in particular, in the name of some supposedly more fundamental sympathies“, she remarks skeptically. She prefers Luce Irigaray’s vain attempt to win Nietzsche for her cause, her ideal of cooperation on the basis of an admittedly asymmetrical reciprocity. Irigaray’s hermeneutic struggle with Nietzsche is characterized by her designation of him as „the other“, but Johnson appreciates her conscious awareness of her own hermeneutical standpoint, something that cannot be said about other Nietzsche rescuers. This hermeneutic problem is exemplified by what Mark Warren calls a „gentle“ and a „bloody“ Nietzsche in his study Nietzsche and Political Thought, the „gentle postmodern Nietzsche“ confronting a „bloody, politically engaged Nietzsche“ who subjugates everything that dominates, exploits, and is different for the sake of his own self-production. With this, those critics who seek to „save“ Nietzsche politically get into trouble in Johnson’s view (28). Other Nietzsche receptions, such as Nehamas’ Life as Literature and Foucault’s historicizing Nietzsche are also taken to task and drawn under the hermeneutic magnifying glass by Johnson. Her discussion of Rorty’s culturally poeticized interpretation with its distinction between the public and private spheres is perhaps the most interesting, however (31). By recognizing and emphasizing the „contingent historicity of our own horizons“, he tries to lay claim to Nietzsche’s „sympathetic aspects“ without giving up his hermeneutic, distancing standpoint (32). Rorty’s trick is simply that we choose that Nietzsche whom we just need for our own projects and interests. Agnes Heller maintains that we should read Nietzsche only from the standpoint of self-realization and not as public philosophers because this is the only this way „we liberals“ can tolerate him. Johnson is convinced that instead of seeing Nietzsche’s texts „as the terrain of a known 25

In: Radical Philosophy 80 (Nov/Dec, 1996), Johnson evaluates various newer Nietzsche studies that approach Nietzsche as an „ally in their suspicions regarding all humanist assertions of solidarity and all appeals to humanity’s telos“ (24). Grouping them together as „redemptive Nietzsche criticism“, she sees contemporary interpreters as attempting to find in Nietzsche „an advocate of their own deep misgivings about the levelling suppression of the different, the displaced, and those marginalized by the abstract liberal conception of equality“ against the totalizing character of Georg Lukács’ Destruction of Reason in 1952 (25). Authors treated here include Steven Ascheim, Keith Ansell-Pearson, Rosalyn Diprose, Luce Irigaray, David Krell, Mark Warren, Alexander Nehamas, Michel Foucault, and Richard Rorty.

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enemy, Nietzsche reception today typically seeks to fashion strategies designed to yield a Nietzsche relevant to the egalitarian/pluralistic persuasions of the modern reader“. In other words, we produce a Nietzsche we can tolerate, „since we cannot live with an untamed Nietzsche“. The question remains for Johnson: „How much of Nietzsche’s world can be dissolved in the solution of our own contemporary value-ideals?“ (32). Caroline Joan Picart organizes the various feminist camps of Nietzsche criticism in four categories ranging from Ofelia Schutte’s conviction about Nietzsche’s absolute woman-hating to David Krell’s understanding of Nietzsche as a writer who „writes with the hand of a woman“.26 Uninterested in Nietzsche’s personal relationships with women, as with Sarah Kofman and Kelly Oliver, Picart considers the figure of woman rather as a metaphor for the creative power that is destined to bring about the regeneration of the sickly world in Nietzsche’s political view. Nietzsche does not suffer from a castration complex here, as Clayton Koelb has analyzed , but rather womb envy, for which reason Zarathustra, as a romantic incarnation of the Zeus-Dionysus-Apollo myth, is allotted the power of birth (5). The more impotent politics becomes, the more disappointed Nietzsche becomes and the more negative his image of woman seems until she becomes the scapegoat for the sterility and impotence of modernity in Picart’s analysis. One should perhaps note here that Martha Nussbaum responds to her own question: Is Nietzsche a Political Thinker? with a clear ‚no‘.27 Although she regards today’s rekindled interest in Nietzsche as positive, since it can enrich many questions of psychology and epistemology and illuminate the relationship of art to human needs, she nevertheless believes that „Nietzsche’s attacks on egalitarianism“ have had a „baneful“ influence (12). Daniel Conway in Nietzsche and the Political also questions the suitability of defining Nietzsche’s political role as a precursor of feminist epistemology.28 While agreeing that Nietzsche’s critique of Kantian disinterestedness and emphasis on the affective qualities of the human subject accommodate the kind of radically situated experiences prized by feminist thinkers, there is a political cost. By embracing a Nietzschean perspectivism, feminist thinkers must realize that if there is no objective standpoint, then 26

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„Resentment and the ‚Feminine‘“ in: Nietzsche’s Politico-Aesthetics, University Park, 1999, 2. Her categories of „warring camps of readers“ are 1) those who believe Nietzsche’s writings are essentially feminist; 2) those who believe Nietzsche’s writings are at least potentially useful to feminism; 3) those whom maintain that Nietzsche’s writings are irredeemably misogynistic; and 4) those for whom a possible connection between Nietzsche and feminism is not even a mentionable or speculative issue. Picart chooses a more genealogical or developmental approach in analyzing „what this misogyny means for his political philosophy as a whole“, 2f. International Journal of Philosophical Studies, Vol. 5, 1997. To qualify as a „serious political thinker“, Nussbaum claims that a philosopher must contribute to the following seven areas: 1) material need, 2) procedural justification, 3) liberty and its worth, 4) racial, ethnic, and religious difference, 5) gender and the family, 6) justice between nations, and 7) moral psychology (2–3). In her estimation, it is only within the realm of moral psychology that Nietzsche makes a substantial and subtle contribution to philosophy (3). Nussbaum also finds Nietzsche’s „account of material need and human functioning“ „barren of argument“ preferring instead to turn attention to the „Enlightenment thinkers Nietzsche found so boring“, 12. London, 1997, 34.

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their political project is also subject to skepticism. Conway does, however, mention how some feminist theoreticians wind themselves out of this conundrum by taking a postmodern approach embodied in Donna Haraway’s ‚feminist objectivity‘ composed of a collective subject position dwelling within contradictions, but does not seem convinced by this kind of analysis (34). Arguments emerging from this and other edited volumes, such as Paul Patton’s Nietzsche, Feminism & Political Theory and the essays in Feminist Interpretations of Friedrich Nietzsche, edited by Kelly Oliver and Marilyn Pearsall reveal the intensity and variety of the positions taken by feminist writers on Nietzsche’s views and impact.29 The editors of the latter volume note that the sharp and ironic style of Nietzsche’s texts do not mask the „virulent misogynist“ speaking in these texts, but his gendered „metaphors of pregnancy, castration, effeminancy, emasculation, gestation, birth, sexual potency, impotence“, among others, call for interpretations of what he means by „masculine and feminine“, and lead to questions about truth, objectivity and their cultural identifications as gendered (4). What is feminist philosophy? they ask.If there is a feminine philosophy, can men write in feminine ways? To whom does the category ‚woman‘ refer? Is there a homogeneous group that we can call women? Does feminism require identity politics, identifying a particular group called women? In her discussion of Gender in The Gay Science here, Kathleen Higgins notes Nietzsche’s distinction between sex as biologically determined and gender as assigned by society, and claims that Nietzsche „urged his readers to recognize the contingency of gender roles and to consider the desirability of changing them“ (131). It is precisely this kind of questioning analysis of Nietzsche’s works that have spawned ongoing debates categorized as ‚feminist‘ inquiry, but in reality they focus on an aspect of Nietzsche’s writings that is pervasively central to his thought. Frances Opel’s recent book Nietzsche on Gender. Beyond Man and Woman takes this approach, viewing Nietzsche’s texts as eliminating gender conventions as marks of identification and going beyond ‚man‘ and ‚woman‘ to another level of conceptualization providing „entirely new possibilities for self-identification“ symbolized in his ‚Übermensch‘.30

Popular Resonances for Good or Evil In conclusion, I would like to mention a few Nietzsche reverberations in the more popular realm of reception that are either amusing or consternating. Higgins gives a glimpse into the Hollywood film industry in her chapter Nietzsche in the Movies of Comic Relief. Nietzsche’s Gay Science commenting that „Nietzsche has hit the cinematic big-time“.31 Compulsion, Rope, The Doors, Blazing Saddles, A Fish Called Wanda, The Fisher King, A Kiss Before Dying, Sybil, the 1991 version of Cape Fear, and Conan the Barbarian all incorporate Nietzsche in some manner, Arnold Schwarzenegger’s Conan the Barbarian most blatantly with its line „What does not kill us, makes us stronger“ (42). Scenes in the remake of the classic thriller Cape Fear or Ro29 30 31

Patton, London, New York, 1993; Oliver, Pearsall, University Park, 1998. 2005, 14. New York, Oxford 2000, 42.

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man Polanski’s Death and the Maiden, where despicable murderers are identified with Nietzsche by their readings or citations of him, do not exactly promote a complex philosophical image. Since Compulsion and Rope treated the cold-blooded murders committed by Leopold and Loeb, individuals whose obsession with Nietzsche is a wellknown historical fact, Nietzsche has been caricatured as a monster in movies, and his name has often flagged a total break with decency, Higgins notes. In the comic A Fish Called Wanda the sadistic Otto, awakened by an alarm, fires a gun, and then calmly continues reading Beyond Good and Evil. Later, administering a Nietzsche quiz emphasizing the superman and Nietzsche’s supposed theory of cruelty, he stuffs a French fry he had been eating into the nostril of his victim as punishment for insufficient answers (43). But Nietzsche appears in other guises in American popular culture, such as the „the morbidly serious thinker“ depicted in the film Clueless, where the heroine’s stepbrother is characterized by his reading a heavy Nietzsche volume (43). While the movies tend to associate Nietzsche with „cruelty, violence, perversity, murkiness, and inappropriate ponderousness“, as well as barbarous insanity, there are also counter-images to be found. Kundera’s The Unbearable Lightness of Being provides insights into Nietzsche’s vulnerability by depicting his weeping embrace of the horse in Turin as a sign of his madness, but also his sensitivity, Higgins notes: „Nietzsche’s gesture, Kundera speculates, was a request for forgiveness. Nietzsche sought forgiveness for the whole Western philosophical tradition since Descartes, which has treated animals as mere machines“ (44). Controversial films such as Benigni’s Life is Beautiful (La Vita E Bella) and Stanley Kubrick’s Eyes Wide Shut also offer more nuanced affiliations. Analyzing Benigni’s film and the puzzle of what art is and should be, Casey Haskins confronts Theodor W. Adorno’s ascetic-aesthetic vision with Nietzsche’s early aesthetic justification of life: „Nietzsche, however, speaks more forcefully than any modern writer to the irrepressibility of the human drive to keep the ordinary sufferings and indignities of everyday life, not to mention the more sobering realities like that of the Holocaust, at an aesthetic distance, for better and for worse.“32 He asks himself how cultural consumers today, especially those who through affluence, boredom, and a need for the sensational have extravagant expectations of beauty and meaning, can possibly relate to suffering. Life is Beautiful deals with this problem by showing how impossible it is for contemporary consumers, who need hyped-up visual sensations to find purpose and beauty in life, to know anything about true suffering (382). Then there are allusions to Nietzsche through the use of visual symbols such as the mask in Kubrick’s Eyes Wide Shut, his adaptation of Arthur Schnitzler’s Dream Story. In the concluding scenes of the film Bill, returning from the orgiastic evening of the secret society, places his mask on the pillow of his sleeping wife in a gesture of communication and desire for forgiveness. She understands this unspoken plea very well, the mask both hiding and revealing their hidden desires and raising the question as to whether their marriage can be continued in unmasked fashion, whether they can face penetrating what lies beneath the surface of their lives. 32

„Art, Morality, and the Holocaust: The Aesthetic Riddle of Benigni’s Life is Beautiful“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 59: 4 (Fall 2001), 381.

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Aside from various negative expressions resonating Nietzsche that continue to flurry about, one finds serious attempts to make Nietzsche’s ideas more immediately accessible to the broader English-reading public. Perhaps the best known ‚popularizing‘ book on Nietzsche is What Nietzsche Really Said by Robert Solomon and Kathleen Higgins.33 While some scholars may be put off by the breezy style of encapsulated answers to troubling questions that confront the uninitiated reader of Nietzsche, the succinct paragraphs of the little handbook provide clear-sighted answers that undercut prevailing negative assumptions. Christopher Lehmann-Haupt has quite a positive take in his New York Times review of February 17, 2000: „By now many readers have at least an inkling of how much misunderstanding has surrounded the ideas of the German philosopher Friedrich Nietzsche (1844–1900), who has been blamed for everything from killing God to advocating nihilism to inspiring Nazism with his promotion of the Übermensch and ‚the will to power‘“, he notes. Presently, the most quoted philosopher of the Western tradition, Nietzsche’s name appears in novels and films. It can never hurt to clarify his ideas, Lehmann-Haupt asserts, which is what these authors do by using a few tricks in a practical, but amusing fashion. Their special knack is that they present their interpretations in the form of 30 rumors about Nietzsche that should be forgotten, as for example, that Nietzsche had no sex life. By using the popular late-night talk-show gimmick, the Top Ten, to list Nietzsche’s most and least favorite authors, the book uses wit and entertainment to eliminate misunderstandings and bring clarity to serious topics, such as Nietzsche’s relationship to Christianity or the meaning of eternal recurrence. Furthermore, the emphasis on Nietzsche’s perspectivism and playful style are most instructive, since these aspects of his thinking make his ideas useless for political purposes, or as Lehmann-Haupt concludes: „Attempts to commandeer Nietzsche as part of the support structure for particular political doctrines, however, do seem to fly in the face of another of Nietzsche’s own proposals: that we respond to the recognition of the limitations of our outlook by becoming more playful and lighthearted“ (228). Nietzsche is in the American consciousness today, as the Internet, with its more than 40,000 Nietzsche-related entries, chat rooms, and clubs can attest. We can listen to the sonorous voice of Charlton Heston relating aspects of Nietzsche’s biography and view of life on a compact disc produced by the prominent Nietzsche scholar Schacht. T-shirts and coffee mugs adorned with images and sayings along with comic book representations of Nietzsche also reveal a filtering down to the general public in a frivolous commercialized vein. An energy bar emblazoned with Nietzsche: What does not kill me makes me stronger recently hit convenience store shelves, only to sell out in short order, and one can still read graffiti claiming Nietzsche: „God is dead.“ God: „Nietzsche is dead.“ The irony here is that Nietzsche is very much alive in American popular culture, albeit often in contorted fashion. What is paramount, however, is Nietzsche’s presence on the English-speaking intellectual scene, in the North American Nietzsche Society, which recently produced a bibliography of Nietzsche Scholarship in English from 1993–2005 (Nietzscheana 11), in various Nietzsche journals, at philosophical and literary conferences, in university classes and seminars, as well as in national cultural journals. The critics discussed in 33

New York 2000.

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this essay are drawn to the dynamic aspect of Nietzsche’s philosophical thought so inextricably laced with his uniquely penetrating style. Nietzsche is a stimulant, a challenge to accepted ways of thinking and doing, an agonistic partner to their attempts to plumb the riddles of human existence and envision the future. The Emersonian spirit of individual initiative, self-actualization, and free expression, as well as his evocative prose style so admired by Nietzsche, found a new provocative voice in him that continues to resonate and revolutionize our thinking.34

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This essay is based on a lecture in honor of Wolfgang Müller-Lauter delivered in October of 2002 at the Humboldt University in Berlin.

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Valuation and Revaluation of the Idyll Schillerian Traces in Nietzsche’s Early Musical Aesthetics

1. Introduction As insufficiently acknowledged, all kinds of Schillerian traces can be discovered in Nietzsche’s work.1 In this article, I concentrate on a relation between Friedrich Schiller and Freidrich Nietzsche, which is barely discussed in the literature.2 This relation is detectable in Nietzsche’s reflections on Schiller’s notion of the idyll (Idylle) as it appears in the treatise Über naive und sentimentalische Dichtung (1795). In the preliminary notes to Die Geburt der Tragödie (1870/1871), one can find a strong interest in this notion. Nietzsche even tries to think the tragic and the idyllic together in respect of Richard Wagner’s music. However, Die Geburt der Tragödie makes clear that the attempt to unite these terms was eventually impossible for Nietzsche. There he even concludes that the tragic excludes the idyllic, hence he discards the idyllic completely in this context. – Nevertheless, it returns in Nietzsche’s Italian, wandering years in a remarkably positive estimation, albeit now more connected to the landscape painters Nicolas Poussin and Claude Lorrain than to Schiller. This return however suggests that the notion of the idyll might have well affected both Nietzsche’s position as a ‚tragic‘ and as a ‚heroic‘ philosopher. By implication, I want to defend the thesis that the notion of the idyll shapes Nietzsche’s aesthetics and philosophy significantly over time. In so doing, I shall first focus on the idyll as it turns up in the notes assembled by Giorgio Colli and Mazzino Montinari under ‚9‘ in the Kritische Studienausgabe (KSA, NF, 7, 269–332, being Notizheft U I 4a.1871), in which Nietzsche evaluates the idyllic elements in Wagnerian music and Italian opera. Then I shall turn to Nietzsche’s criticism of the idyll in Die Geburt der Tragödie, specifically chapters Eight and Nineteen which show that Nietzsche’s ideal of a more tragic culture eliminates every tendency to the idyllic. With this exclusion of the idyllic, Nietzsche’s reflections on this notion end for 1

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I thank Roger H. Stephenson for very helpful commentaries and corrections on an earlier version of this text. The only systematic discussion of Nietzsche’s relation to Schiller is to be found in Nicholas Martin, Nietzsche and Schiller:Untimely Aesthetics, Oxford 1996. However, Martin disregards the notion of the idyll, even in his discussion of Nietzsche’s image of Schiller in Die Geburt der Tragödie. It is my claim that exactly this notion of the idyll proves that the relation between Schiller’s aesthetics and Nietzsche’s is much more subtile and complex than admitted so far.

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a substantial amount of time, before returning in his notebooks again at the end of the seventies, after his resignation from university-work. How it returns, I shall finally discuss at the end of this article.

2. Nietzsche’s critique of the idyllic tendency in Italian opera and his appraisal of Wagner’s tragic idylls (KSA 7) 2.1 The ‚idyllic tendency‘ of Italian opera The first time that Nietzsche addresses ‚the idyll‘ is in a note stemming from 1870 or 1871, (ibd., 283f.). This note belongs to a group of long fragments, intended for Die Geburt der Tragödie. Nietzsche refers to Schiller’s concept of the idyll as presented in Über naive und sentimentalische Dichtung. There it is described as ‚die poetische Darstellung unschuldiger und glücklicher Menschheit‘, as the poetical depiction of humanity in a state of harmony and peace with it.3 Far from being a matter of poetical imagination only, Schiller locates the idyll historically at the beginning and at the end of human history: the idyll constitutes humanity’s infancy on the one hand, and the last goal of human culture on the other. It is the state towards which humanity must strive, modelled upon ancient Greek ‚naivity‘. Innocence, peace, and harmony are the characteristics of Schiller’s imagined idyllic culture, as marks of a unity between humanity and nature. – Nietzsche, at least in KSA 7[126], understands the idyll slightly different from Schiller. In this note, he views the ‚sentimental‘ as the opposition of ‚naiv‘, and he equates ‚naive art‘ with ‚Apollonian art‘, art as ‚Schein des Scheins‘. He uses the ‚sentimental‘ to describe modern art in just one word, and defines it as the aim to create the Idyll. Although Nietzsche perceives the sentimental as the counterpart of the naive, he remarks that not all non-naive art can be called ‚sentimental‘. Greek tragedy, Shake3

The ‚idyll‘ is a poetical form, like the ‚elegy‘ and the ‚satire‘. The idyll portrays humanity in a state of innocence and happiness („Die poetische Darstellung unschuldiger und glücklicher Menschheit ist der allgemeine Begriff dieser Dichtungsart [der Idylle – M. P.]“ (Friedrich Schiller, Über naïve und sentimentalische Dichtung, in: Ders., Werke. Nationalausgabe, Philosophische Schriften, Bd. 20, I. Teil, hg. von Benno von Wiese, Weimar 1962, 467 [From now: UNDS], ‚that is in a state of harmony and peace with itself‘ („d.h. in einem Zustand der Harmonie und des Friedens mit sich selbst“ ibid). However, the idyll is not only a poetical form, but also a human condition and a historical period. Unschuld and Glück formed the human condition in the ‚childlike period‘ in human history, that is the hypothesized pre-cultural period: ‚But such a state does not only occur prior to the beginning of culture, but it is also what culture aims at as its final purpose‘ („Aber ein solcher Zustand findet nicht bloß vor dem Anfange der Kultur statt, sondern er ist auch, dem die Kultur […] als ihr letztes Ziel beabsichtet“ ibd.). Humanity wants to regain this state of Unschuld and Glück, however, he does not want to simply regress to childhood, but he wants to become more ‚human‘. He desires for himself ‚adulthood‘ or ‚maturity‘. Schiller, here, calls this ideal with an utopian term ‚Elysium‘: the idyllic poet must not direct us back into ‚Arcadia‘, but lead us to ‚Elysium‘, where we (the public) will find the ‚higher harmony‘ that is the reward for all warriors and victors (ibd., 472).

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speare, and music cannot be grasped with the term ‚sentimental‘. For them he has invented the term ‚Dionysian‘, which he defines as the art of ‚Schein des Seins‘, or the ‚Wiederspiegelung des ewigen Ur-Einen‘. In note 8 [29] (ibd., 7, 232f.), Nietzsche again following Schiller’s traces, elaborates the idea of modern art as ‚idyllic‘. Unlike Schiller, he applies the notion to music. Although music in principle is ‚Dionysian‘, modern opera is ‚idyllic‘, Nietzsche states, because of its recitative, which forms opera’s foundation. According to Nietzsche, the recitative is the result of the attempt to restore the primordial language of humanity. On the other hand, Nietzsche regards it as a flight „in idyllischer Regung, aus der Unnatur neuer Musik in ein erträumtes Paradies naiver Wesen“, or more plainly, „einen sentimentalischen Trieb ins Idyllische.“4 „Das Idyllische“ is being understood, then, as a „phantastische Urgeschichte der Menschheit“, a prehistoric epoch of happiness. The recitative, however, does not succeed in regaining this happy era, because it is hemmed in by modern language. It is the tragedy of modernity that we are not able to understand Ancient simplicity, due to our Modern complexity. – Note 9 [123] frames Nietzsche’s criticism of the morality of the idyll. He speaks of „idyllische Tugendschwärmerei“ and scorns the moral feelings at which opera directs itself by transforming the desire for paradise into the idolisation of the great, moral moments in human history. Fragment 9 [126] explains this in more detail: the musical effect is being lost because of the „Affektwirkung“. The sentimental bent, or idyllic tendency, turns art into „Affektwirkung“. The public enjoys this art because of its ‚morality‘, but for Nietzsche it affirms that the Greek world has perished (ibd., 7, 322). Another objection that Nietzsche raises against opera, is its idyllic belief that one becomes an artist solely by means of his ‚Leidenschaft‘ (ibd., 325). This pathological conception of art makes opera ‚amateurish‘ in Nietzsche’s view. – That the idyllic does nonetheless quite appeal to Nietzsche, while he is working on Die Geburt der Tragödie, is emphatically shown by the greater collection of notes that is classified under number 9 of KSA 7 (Notizheft U I 41. 1871). These notes offer a counterbalance to Nietzsche’s apparently one-sided, negative judgement of the ‚idyllic tendency‘ of Italian opera. In the notes discussed below, Nietzsche’s conception of the idyll is being extended by reference to more of its characteristics on the one hand, and, on the other, is complicated by Nietzsche’s estimation of Wagner as a ‚tragic-idyllic‘ musician.

2.2 Wagner’s ‚tragic-idyllic‘ compositions Although 9 [40] starts with an opposition that suggests that Wagner returns to the saga, or myth, and therefore escapes the ‚idyllische Schläferei‘, the same note defines Wagner’s Tristan und Isolde as a ‚tragic idyll‘. In light of the foregoing, this union of the tragic and the idyll is highly remarkable. For it strongly suggests that the tragic and the idyllic can be united, in an even more remarkable ‚tragic idyll‘. – Note 9 [48] shows that Nietzsche regards Wagner as overcoming opera, and of the tendency to opera (die 4

Cf. 9[45], KSA, NF, 7, 292. Here Nietzsche speaks of a „Wiedererweckung des Alterthums“ as a sign of a new idyllic tendency. He situates this in post-Raffaelite Italian Renaissance painting and the beginning of opera in Italian music.

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Operntendenz). Fragment 9 [90] (ibd., 313f.), on the other hand, demonstrates the possibility of Wagner as the ‚Vollender‘ of the idyllic tendency in opera. Nietzsche does not clarify what he means by this until note 9 [114] (ibd., 317). Using the term ‚tragic idyll‘, Nietzsche refers to canto V of Dante’s Hell, where Francesca di Rimini tells her story of fatal love. This reference brings out that ‚tragic idyll‘ for Nietzsche is connected with the motif of fatal love. Having defended Wagner as a true, Greek musician in note 9 [111] (ibd., 316), Nietzsche suggests that this turns Wagner into an idyllic artist. He criticizes the beat (Takt) in music as a static border with which the Greeks were unfamiliar. In Wagner’s music we can occasionally experience how such beat-less music sounds: harmony and melody are completely freed, and hence stem perfectly from nature. Therefore Nietzsche calls Wagner ‚idyllic‘. Here, obviously, the term in used in a highly positive way. Nietzsche refines this idea of Wagner’s bringing the idyll in music to perfection in notes 9 [92] and 9 [106]. Music, he says here, should be ‚sublime‘5 (erhaben) in order to redeem and create an ‚idyll‘ (Idylle), a ‚Schillerian‘ world in which nature, that is reality, and the ideal are united. Wagner’s Siegfried-Idyll is such an idyll.6 However, what distinguishes Wagner from Schiller is their view of nature. Wagner has a tragic view of nature, whereas Schiller adheres to a joyful (heiter) view.7 According to Nietzsche, the Siegfried-Idyll bridges the apparent opposition between tragic and idyllic. The idea of a better world entails the moral ideas of ‚world completion‘ (Weltvollendung) and ‚world redemption‘ (Welterlösung). This completion, however, demands the annihilation of the primordial pain (Urschmerz), which is the essence of all Being.8 Hence, perfection can only be experienced in the mode of imagination. All good things, Nietzsche concludes here with Arthur Schopenhauer, emanate from being temporarily lost in imagination. Note 9 [135] elaborates the idea of Wagner as a ‚Vollender‘ of the idyllic tendency yet further. Wagner triumphs over opera by acting as a ‚radikaler Idylliker‘: „Ihm [Wagner – M. P.] schwebt eine deutsche Musik vor, die vom romanischen Joche befreit ist: diese […] findet er zunächst nur als radikaler Idylliker, als Vollender des romanischen Gedankens“ (ibd., 324). This is a surprising thought, especially because Wagner, in his centenary Beethoven-essay, resists everything that is Roman by con5

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Nietzsche uses this term in the metaphysical sense Schopenhauer and Wagner use it, as the immediate communicator of the true, metaphysical truth of life. As such, music is the symbol of truth. Even in Ecce Homo, where he attacks the combination ‚German‘ and ‚music‘, he makes an exception for the Siegfried-Idyll: ‚I shall never tolerate that a German could know what music is […] I make an exception for Wagner’s Siegfried-Idyll, for three reasons‘ („Ich werde nie zulassen, dass ein Deutscher wissen könne, was Musik ist […] ich nehme, aus drei Gründen, Wagner’s SiegfriedIdyll aus“ (KSA, EH, 6, 290f.). Unfortunately, Nietzsche did not record the three reasons for this exception here. Hence Goethe and Schiller are seen as forebears of the artistic Reformation. The experience of pain is fundamental to life, according to Schopenhauer, Wagner, and Nietzsche, and founds the joy, the peak of which we experience in Beethoven’s Ninth Symphony, according to Wagner.

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demning it as superficial and frivolous, whereas according to Wagner (German) depth and seriousness are needed for the improvement of culture. The ‚Roman thought‘ for Nietzsche, however, consists, amongst other things, in the favouring of text and images over music. Wagner has pushed the textual and pictorial elements to the limits in the Third Act of Tristan und Isolde, to protect the public against the corroding effect of music. Obviously, some balance must be found between music, text, and image, hence, between musical and idyllic elements in order to not alienate the public, something later expressed in Die Geburt der Tragödie as Apollonian protection around Dionysian violence. Note 9 [142] confirms that Nietzsche endorses Schiller’s definition of the idyll as the enjoyable (restored) unity of nature and ideal and that he regards Wagner’s compositions Siegfried and Tristan as idyllic in which, however, not the Schillerian ‚serene‘ (heiter) view of nature is at work, but Wagner’s tragic worldview. In Wagner’s view, life means suffering. However, in enjoying the unity of nature and the ideal, tragedy does, at times, encompass joy. Thus, says Nietzsche, we enjoy Tristan’s death, instead of weeping over it, because, in his death, reality and the ideal have become one, and true. What makes Wagner ‚idyllic‘, albeit ‚idyllic‘ with a tragic worldview, is the fact that he pushes the idyllic aspects of opera, like the recitative, verses, and myth, to its limits 9 [149], as Ludwig van Beethoven did with the symphony. His total-artworks (Gesamtkunstwerke) are the product of an ‚undivided person‘ (ungetrennter Mensch), meaning the primordial human being (Urmensch) and ‚the idyll of today‘ (das Idyll der Gegenwart). Wagner, we may now conclude, possesses insight into primordial humanity. He shows us what our true nature is, besides being a modern man who, according to Schiller’s analysis of modern man in his Aesthetic Letters, lives alienated from nature, or who is ripped in pieces by the ‚principium individuationis‘, according to 9 [149]. The idyllic-tragic artist Wagner creates ‚Urmusik‘, which would be music free from rhythmical boundaries, music, which frees harmony from any plastic bent, and which brings us the message that we can and will find union with nature again, albeit only in music. Because only then shall we be liberated from the merely Roman, idyllic tendency to frivolous superficiality.

2.3 Wagner as executer of Schiller’s ideal For Schiller, realism and idealism must coincide in tragedy, since the level of the ideal contains the poetic freedom, imagination, and universality, hence the ‚sensuality‘ (Sinnlichkeit) that is necessary to literally move the public, to urge it to action, to make it understand that it can change its own situation, to urge it to stand up against tyranny, speak its own voice, and shape its humanity. The action must not just take place in the empirical sphere of the real, of ‚the common‘ (das Gemeine), but rather operate in the poetical sphere of the idyll so as to ennoble reality and supply the public with hope and determination. In this sphere, the real and the ideal come together in a bond, excelling the French naturalistic imitation of reality. Drama should present ‚single, excellent moments of humanity‘ (einzelne auβerordentliche Augenblicke der Menschheit), in which all ‚poetic forms‘ (poetische Gestalten), however, are ‚symbolic entities‘ (symbolische

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Wesen).9 Humanity’s, and art’s, goal should be the reinvigoration of the idyllic, paradise-like state, whose features are innocence and happiness (Glück), „d.h. in einem Zustand der Harmonie und des Friedens mit sich selbst“, as noted above.10 This state is the original state of humanity, but not necessarily in the past. Schiller believes in its future rebirth, provided that art shows humanity the way. Only this belief in a paradiselike state to come can help humanity to come to terms with present culture. The poetical form of the idyll helps to envision this idyllic state of purity, in which men live in harmony with each other and nature. The idyllic poet leads „uns vorwärts zu unser Mündigkeit, um uns die höhere Harmonie zu empfinden zu geben, die den Kämpfer belohnet, die den Überwinder beglückt.“11 Nietzsche criticizes Schiller’s idea that drama should present single, excellent moments of individuals, because of its moral component. And yet believing that humanity’s experience of freedom is limited to short aesthetic moments of ‚Selbstvergessenheit‘, he can not go along with Schiller’s hopes for the future. Moreover, the idea of a future harmony, innocence, and happiness which await the ‚Kämpfer‘ or ‚Ueberwinder‘ appeals to the later Nietzsche, as we shall see further on. What appeals to Nietzsche at all times, also in Die Geburt der Tragödie, is the union of nature and the ideal in the symbolic mode of art. Although Nietzsche has a tragic view of nature, he confirms Schiller’s ‚sentimental bent‘ as showing the right way. Therefore Nietzsche states in note 9[23]: „Wagner vollendet was Schiller und Goethe begonnen haben“ (ibd., 280). The idea that Wagner accomplishes the conception of art, which was initiated by Schiller and Goethe determines the last ten chapters of Die Geburt der Tragödie. At the same time, this is Nietzsche’s transmutation of Wagner’s view that Beethoven completed Schiller’s and Goethe’s struggle against the Roman bent for superficiality, as expressed in his Beethoven-essay (1870). Wagner’s Walküre surpasses Goethe’s Iphigenie auf Tauris, according to Nietzsche: whereas Schiller and Goethe had made efforts to become pregnant with the true Greek spirit, Wagner was the only German artist actually to give birth to it. He holds precisely the undue ‚idyllic tendency‘ responsible for hampering Schiller and Goethe in bridging the gap between perfect Greece and imitative Germany.

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10 11

Johann Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens, hg. von Karl Richter (Münchner Ausgabe – MA), Bd. 8: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805, hg. von Manfred Beetz, München 1990, 609. I want to underline this, since this idea returns in Nietzsche, Der Wanderer und sein Schatten, 350. UNSD, 444

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3. Die Geburt der Tragödie: Nietzsche’s critique of the modern idyllic tendency 3.1 Chapter Eight: the satyr versus the idyllic shepherd Nietzsche starts chapter Eight of Die Geburt der Tragödie with comparing and opposing the figure of the satyr and the shepherd: the latter, according to Nietzsche, is a newer version of the former. Both figures represent the desire for the primitive, natural, simple life. But whereas the satyr lives without fear, like Wagner’s Siegfried, and is a kind of ‚strong-man‘, the flute playing herdsman has a sentimental and gentle temperament. According to Nietzsche, the satyr represented the ultimate being, the archetype (Urbild) of man in Greek culture. The satyr possessed a form of knowledge, which is the most intimate knowledge a man can possibly have, namely, knowledge of the deepest, true nature of life. Therefore Nietzsche calls him the „Weisheitsverkünder aus der tiefsten Brust der Natur“ (KSA, GT, 1, 58). The herdsman, confined to a subjective, private, and sunny experience of nature, lacks this depth within. He is the creation of the „Culturmensch“ and as such embodies the „Culturlüge“, whereas the satyr, or „Naturgenie“ (ibd., 59) represents the „Naturwahrheit“ (ibd., 58).

3.2 Chapter Nineteen: Nietzsche’s critique of the idyllic tendency What chapter Nineteen adds to the preliminary notes and to chapter Eight, is the assertion that opera is founded on the same principles as Alexandrian culture. In chapter Nineteen, Nietzsche describes opera’s idyllic tendency as the gay optimism of the theoretical man. Simultaneously, he remarks that this idyllic tendency must be understood in the Schillerian way (ibd., 124). Here more explicitly than anywhere else, Nietzsche distances himself from Schiller’s ideas concerning the way culture is to be led back to Greek Antiquity and, in so doing, to a more humane humanity. According to Nietzsche, Italian opera is based on the idea of an idyllic reality, in which Natur and Ideal come together, a primordial moment in which humanity ‚lay at the heart of nature‘, a state of paradise and an ultimately artistic state at the same time. Opera reintroduced this idyllic image in history, by means of the singing herdsman, who expresses the ‚Heiterkeit des ewigen Wiederfindens‘ against the elegaic suffering on account of an eternal loss. In this chapter, Nietzsche calls this kind of serenity (Heiterkeit) ‚Alexandrian‘ to express the fact that he finds the optimism of the idyllic way of thinking in opera and science, that is the optimism that opera and science cherish man exactly as he is in his very core. But for Nietzsche the true man is the satyr and not the idyllic shepherd, and the true artist hence should be ‚satirical‘ rather than idyllic. Nietzsche resists the Alexandrian Heiterkeit of opera, saying expressively: „Wer die Oper vernichten will, muss den Kampf gegen jene alexandrinische Heiterkeit aufnehmen“ (ibd., 125). What art should do, as Nietzsche argues, is redeem us from the agitation of the will in semblance, in ‚schöner Schein‘. And it is this important task of art that is threatened under the influences of the idyllic temptations of merely Apollonian art forms, in which music has been completely excluded in its true nature as the mirror of truth.

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Nietzsche, at the end of his pondering, rejects every idyllic tendency, and opposes strictly the tragic and the idyllic. The idyllic is only allowed as far as it describes the object of the (sentimental) longing for humanity’s return to nature, for the rejuvenation of the unity between humanity and nature. However, for Nietzsche, at this stage of his philosophy, this unity can only be reached temporarily, in the experience of Wagner’s music. Having excluded the idyllic, at last, the idyllic remains outside Nietzsche’s purview for quite a long time. Nietzsche’s interest in the idyll only grows again in the summer of 1879, after having said a definitive goodbye to Wagner and his music. Nietzsche spends that summer in St. Moritz, where he experiences a life-changing moment, which is also the starting-point for a new, heroic-idyllic philosophy.

4. The return of the idyll in Nietzsche’s Middle Period After a period of seven years, a sudden shift in Nietzsche’s estimation of the idyllic takes place. Excited and emotionally moved, he notes down, in 43[3]: „Vorgestern gegen Abend war ich ganz in Claude Lorrain’sche Entzückungen untergetaucht und brach endlich in langes, heftiges Weinen aus. Daß ich dies noch erleben durfte! Ich hatte nicht gewußt, daß die Erde dies zeige und meinte, die guten Maler hätten es erfunden. Das Heroisch-Idyllische ist jetzt die Entdeckung meiner Seele: und alles Bukolische der Alten ist mit einem Schlage jetzt vor mir entschleiert und offenbar geworden – bis jetzt begriff ich nichts davon!“ (KSA, NF, 8, 610). – In his excitement about the beauty of nature in St. Moritz, Nietzsche discovers the idyllic, or rather ‚heroic-idyllic‘ side of his personality. This looking at nature and enjoying its beauty will guide Nietzsche’s philosophy even more than music from this point on.12 He even begins to understand music in terms of the nature and climate that surround him. The music he will estimate the highest in the Eighties is Georges Bizet’s opera Carmen.13 He is especially struck by the natural representation of tragic, fatal love, in this opera. Not Tristan or Siegfried, but Carmen and Don José will represent the tragic, or heroic, idyll, from November 1881 on.14

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Ingrid Schulze, „Nietzsche und Claude Lorrain“, in: Nietzscheforschung 4, 221 writes that Nietzsche might have visited the Galleria Doria Pamphili in Rome not later than 1883. Here one can find several paintings of Claude Lorrain. Gary Shapiro, Archeologies of Vision, Foucault and Nietzsche on Seeing and Saying. Chicago, London 2003, 42 suggests that Nietzsche has seen (two) paintings of Claude in the Dresden Gallery; Ernst Bertram, Nietzsche, Berlin 1929, 277f. points to the influence exercised by Goethe’s Gespräche mit Eckermann, in which Goethe more than once speaks positively about Claude. See, for a more elaborate treatment of Nietzsche’s love of Carmen and of Italian opera in connection with Nietzsche’s love of the south, my Lof der Méditerranée. Over Nietzsches ‚vrolijke wetenschap‘, Kampen 2005. As he writes to Franz Overbeck, ca. 20. December 1882: „Bizet war ein großer Genuß, ich wünschte um mich herum etwas Bizetismus in allerlei Gestalt. Ich habe die Idylle nöthig – zur Gesundheit“ (KSB, 6, 306).

Valuation and Revaluation of the Idyll

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Note 43[3] is elaborated in Der Wanderer und sein Schatten.15 The aphorism 295 is entitled Et in Arcadia ego (KSA, WS, 2, 686f.). This famous motto was used by, amongst many others, Goethe for his Italienische Reise, but also by Nicolas Poussin, who, together with Claude Lorrain, is known as a painter of heroic and idyllic landscapes.16 In Claude and Poussin, Goethe recognized exactly that high, plastic understanding of nature and art, that he himself strived for in Italy, an ‚anschauenden Begriff‘ of art and nature, or as he writes in his Italienische Reise: „Ich will auch nicht mehr ruhen, bis mir nichts mehr Wort und Tradition, sondern lebendiger Begriff ist.“17 According to note 43 [3], Nietzsche arrived at exactly such a plastic or ‚anschauenden Begriff‘ of nature and idyllic art, which moved him so much, that he burst into tears. Nietzsche must have agreed with Goethe, who said of Claude that his paintings contained the highest truth without representing reality, meaning that the illusionary effect was so strong, that what we saw in his painting really makes us believe that we are looking at reality.18 – Der Wanderer und sein Schatten Aph. 295 gives a longer account of this crucial moment in Nietzsche’s life. Here he even imagines Greek heroes walking around in the landscape. But that is not all. He also refers to the heroic-idyllic landscapes of Poussin and to the heroic-idyllic philosophy of Epicurus. Nietzsche actually felt how they experienced life, and will integrate this experience into his philosophy from now on, as is shown, for example, by Morgenröthe 530, in which he describes a mild and flexible philosophy as follows: „Ströme mit vielen Krümmungen und abgeschiedenen Einsiedeleien; es giebt Stellen in ihrem Laufe, wo der Strom mit sich selber Versteckens spielt und sich eine kurze Idylle macht, mit Inseln, Bäumen, Grotten und Wasserfällen; und dann zieht er wieder weiter, am Felsen vorüber und sich durch das härteste Gestein zwingend“ (KSA, M, 3, 303). ‚Heroism‘ is viewed by Nietzsche now as a token of freedom, to which „der herzliche Antheil am Kleinen, Idyllischen“ belongs as well (KSA, NF, 10, 255). Nietzsche still looks for the unity of humanity and nature, but at this time finds it in the heroic-idyllic tendencies of Goethe, Poussin, Lorrain, the landscapes of St. Moritz and Genua, and maybe even of Schiller. Does not Der Wanderer und sein Schatten Aph. 350 remind us of Schiller’s definition of the idyll, when Nietzsche explains what the motto of the free spirit is, namely „Frieden um mich und ein Wohlgefallen an allen nächsten Dingen“ (KSA, WS, 2, 702)? On top of this, he finds it in the lightness of Bizet, Vincenzo Bellini, Gioacchino Rossini, Wolfgang Amadeus Mozart, and ‚Pietro Gasti‘. Of Wagner he only tolerates the Siegfried-Idyll, but otherwise French and Italian opera are the order of the day, not least because of their idyllic tendencies, so it seems. 15 16

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See Burkhard Meyer-Sickendiek, Die Aesthetik der Epigonalität, Tübingen, Basel 2001, 316ff. Its origin is not certain, but likely to be the painting ‚Il Guercino‘ (1621) by Giovanni Francesco Barbieri. It became famous through two paintings Poussin. Arcadia, part of the Greek Peloponnesos, had been cherished as a paradise by Greek Bucolian poetry and Vergil. Johann Gottfried Herder and Goethe equated Arcadia with Italy. Rome, 27–06–1787. MA 15: Italienische Reise, Andreas Beyer und Norbert Miller (Hg.), 1992, 427. Johann Wolfgang von Goethe, MA 19: Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, hg. von Heinz Schlaffer, 1986, 321f.

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Writing the Idyllen aus Messina, in which he explicitly commemorates the Alexandrian poet and Epicurean Theocritus, whose poems were the first to be known as ‚idylls‘, and in which he cherishes the idyllic South, Nietzsche even transforms himself into an idyllic poet. A clearer token of his new, heroic-idyllic life and philosophy is hard to imagine.

VI. Rezensionen

George J. Stack, Nietzsche’s anthropic circle. Man, Science, and Myth, Rochester 2005; Von Wille und Macht, hg. von Stephan Günzel, Frankfurt/M.: Insel 2004. „Thatsachen giebt es nicht, nur Interpretationen“ (KSA, NF, 12, 315). Schon früh formuliert Nietzsche, was später als sein ‚Perspektivismus‘ Epoche machen soll. Es handelt sich dabei um die mit der Vermittlung Arthur Schopenhauers anverwandelte kantische Lehre, nach der es von der Welt der Erscheinung keinen Weg zum ‚Ding an sich‘ gibt. Stürzt Immanuel Kant mit seiner Einsicht Zeitgenossen wie Heinrich von Kleist in die hinlänglich bekannte Lebenskrise, setzt Nietzsche dagegen von Anfang an auf ein trotziges bis triumphierendes Ja-sagen zum anthropomorphen Grundcharakter allen Erkennens. Nietzsches Philosophem vom ‚Willen zur Macht‘, der Welt als gegenseitig sich überbietender Geschehens- und Interpretationsprozesse, ist so letzten Endes verstehbar als eine Art ‚Dynamisierung‘ der kantischen Einsicht in die Unerkennbarkeit des ‚Wahren‘, des ‚Ding an sich‘. Ein beträchtlicher Teil seines Werks befasst sich mit den Konsequenzen dieser philosophischen Erkenntnis für die Wissenschaften. Zwei Neuerscheinungen befassen sich mit Nietzsches ‚Willen zur Macht‘ auf sehr unterschiedliche Weise: Zum einen die Textkompilation Von Wille und Macht, hg. von Stephan Günzel, die Nietzsches Aphorismen zum Thema in neuer Form versammelt. Zum anderen George J. Stacks Werk Nietzsche’s Anthropic Circle. Man, Science, and Myth, das es sich zur Aufgabe macht, Nietzsches wissenschaftstheoretische Gedanken vor dem Hintergrund der Vorstellung zum Willen zur Macht zu deuten. Mit Nietzsche’s Anthropic Circle formuliert Stack, der bereits mit einer Reihe von Arbeiten zu ‚Nietzsche und …‘ hervorgetreten ist1, die Summe seiner Erkenntnisse zu Nietzsche und den Wissenschaften. Er greift dabei vielfach auf eigene Arbeiten zurück, geringer wiegt für ihn die Auseinandersetzung mit konkurrierenden Deutungen: Spätestens seit Arbeiten wie Friedrich Kaulbachs Philosophie des Perspektivismus2 oder Babette Babichs Nietzsches Philosophy of Science3 liegen zu diesem Themenkomplex gründliche Untersuchungen vor. Kaulbach kommt im vorliegenden Werk nicht vor. Dagegen belegt zumindest das Literaturverzeichnis die Kenntnis der Existenz von Babichs Monographie. Untersuchungen zum ‚Willen zur Macht‘ liegen unter anderem von Günter Abel4, Volker Gerhardt5 und Wolfgang Müller-Lauter6 vor. Von diesen drei muss sich allein Müller-Lauter mit einigen Fußnoten-Würdigungen begnügen. 1

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Lange and Nietzsche, Berlin, New York 1983, „Nietzsche and Boscovitch’s Natural Philosophy“, Pacific Philosophical Quarterly 62/1981; Nietzsche and Emerson, Athens 1992. Friedrich Kaulbach, Philosophie des Perspektivismus, 1. Teil: „Wahrheit und Perspektive bei Kant, Hegel und Nietzsche“, Tübingen 1990. Babette Babich, Nietzsches Philosophy of Science. Reflecting Science on the Ground of Art and Life, New York 1994. Günter Abel, Nietzsche. Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, Berlin, New York 1984. Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht. Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplari-

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Bereits einem Blick ins Vorwort, das das Vorhaben erläutert, offenbart sich der Charakter dieses Werks: Es geht weder um Verifizierung noch um Falsifizerung der von Nietzsche vorgetragenen Argumente: Eine (weitere) immanente Lektüre-Nietzsche, erklärt mithilfe Nietzsches, ist es, die Stack dem Leser präsentiert. Eine Gesamtinterpretation des mehr oder minder enigmatischen philosophischen œuvres, fokussiert auf das Thema Wissenschaftskritik im engeren Sinne und Erkenntniskritik im weiteren. Sein Vorhaben einer weiteren Gesamtinterpretation legitimiert Stack mit der Klage, Nietzsche-Interpretationen stilisierten allzu häufig Teilaspekte des Werks zu dessen Summe, gleichviel ob in kritischer oder apologetischer Absicht. Anstelle eines willkürlichen Umgangs mit Nietzsches Texten und dem Zurechtstutzen derselben in ein vorgegebenes Interpretationsraster, möchte Stack hingegen dessen philosophisches Projekt gleichsam von innen heraus zum Sprechen bringen. Die Betonung liegt auf dem philosophischen ‚Mehrwert‘, den Nietzsche durch die Anverwandlung moderner Theoriebildung hindurch geschaffen hat. Hierbei greift Stack auf seine früheren Arbeiten zurück: Ruggero Giuseppe Boscovichs Theoria Philosophiae Naturalis (1759), Friedrich Albert Langes Geschichte des Materialismus (1866) und Ralph Waldo Emersons Essays (1858) spielen die Hauptrolle auch in seinem neuen Buch. Das Erkenntnisinteresse des Verfassers ist fokussiert auf Nietzsches Auseinandersetzung mit dem Antropomorphismus und dem nachhaltigen Ringen mit der Frage der Erkenntnis und ihrer sich wandelnden Bedeutung angesichts wachsender Bedeutung der Wissenschaften. Hierbei habe sich Nietzsche nicht nur des Beistands der zeitgenössischen Wissenschaft versichert, sondern er habe wesentliche Beiträge zur zeitgenössischen Grundlagendiskussion beigesteuert: „What is undeniable and important, I believe, is that Nietzsche’s allusions to physiology, chemistry, biology, and physics are not merely rhetorical devices, but are related to substantive questions raised by his engagement with the natural sciences of his day“ (XIV). Nietzsches Schreiben erschöpfe sich nicht in einem Plädoyer für einen perspektivischen Ansatz im Gebiet des Wissens, nein, sein eigenes Werk sei bereits das beste Beispiel dieses Ansatzes. Desweiteren geht es dem Verfasser um Nietzsches Motivation, zur vermeintlichen Rückkehr zur Metaphysik mit seinem Modell des Willens zur Macht. Wichtig erscheint dem Verfasser die Erkenntnis, dass Nietzsches Denken nicht anti-wissenschaftlich sei, auch wenn er „den tiefsten Sinn im Leben als affektiv-ästhetisch“ betrachtet habe. Damit habe Nietzsche letztlich kurrente Wissenschaftstheorien des 20. Jahrhunderts antizipiert, wie die Kuhnsche Vorstellung des „Paradigmenwechsels“ (XI). Die „undescribable complexity“ des Naturgeschehens spiegele sich in Nietzsches labyrinthischem Schreiben selbst, das man immer nur im Hinblick aufs Ganze und nicht verkürzt darstellen dürfe. Dabei unterstreicht Stack einmal mehr die Bedeutung des umfangreichen Nachlasses: „What is interesting about Nietzsche’s Nachlass is his intense, passionate, and serious engagement with philosophical questions“ (XIII). Stacks Schwerpunkt liegt weniger in dem Nachweis von Nietzsches Aktualität in den Wissenschaften, die er gleichwohl durchgehend behauptet, sondern in der Verortung der Quel-

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schen Fall Friedrich Nietzsche, Berlin, New York 1996. Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin, New York 1971.

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len von Nietzsches Denken. „Nietzsche came to see that the ultimate truth that previous thinkers believed they possessed or might some day possess simply does not exist“ (63). Aber auch diese Erkenntnis ist keine ultimative Wahrheit, sondern nur eine Hypothese, so könnte und müsste man der Vollständigkeit der Würdigung des perspektivistischen Ansatzes halber hinzufügen. Nietzsches ‚philosophische Psychologie‘ lasse sich auf folgende drei Hypothesen bringen: Die vom Menschen subjektiv erfahrenen Affekte werden als Symptome eines unbewussten Prozesses interpretiert. Diesen Prozess benenne Nietzsche mit dem Begriff Wille zur Macht, ein Affekt, auf den alle anderen zurückführbar seien. Zweite Hypothese: Die Affekte seien Voraussetzung für eine Erkenntnis der äußeren Realität. Es bestehe eine prästabilierte Entsprechung von subjektiven Affekten und der „materiomechanistic world“ (198). Schließlich unterstelle Nietzsche drittens eine Entsprechung der subjektiven Affekte mit einer unabhängig vom Menschen existierenden „primitive form of the world of affects“ (198). Stack kommt zu dem Schluss, Nietzsche habe mit dem ‚Willen zur Macht‘ eine allumfassende Fabel zu formulieren versucht, der dem sinnleeren postaufklärererischen Wissensdrang einen neuen anthropomorphen Sinn unterlegt. Der ‚Wille zur Macht‘ sei als exoterischer Mythos zu verstehen, der einem rein mechanistischen Naturverständnis und der Abwertung des Lebens eine Art theoretischen Viagras („life-enhancing power“, 204) entgegensetze, sich des hypothetischen und fiktionalen Charakters der so gesetzten ‚Welt-Anschauung‘ aber stets gewiss bleibe. Mit dem von Stephan Günzel herausgegebenen Band Von Wille und Macht erscheint ein neuer Versuch, Nietzsches Gedanken zum Willen zur Macht in einem Band zu vereinen. Auf der Textbasis der von Giorgio Colli und Mazzino Montinari begonnenen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches, bzw. deren Revision durch Marie-Luise Haase. Schon der Titel erweist sich dabei als kluge Herausgeberentscheidung, muss man doch, wie im editorischen Bericht zur Textsituation zutreffend zu lesen ist, „zwischen dem Buchprojekt Der Wille zur Macht und der philosophischen Begrifflichkeit ‚Wille zur Macht‘ unterscheiden“ (224). Zum einen plante Nietzsche zwar ab Mitte der 1880er Jahre den „Versuch einer neuen Auslegung alles Geschehens“ KSA, NF, 11, 629), verwarf den Plan aber später. Zum anderen nahm man nach seinem geistigen Zusammenbruch 1889 das vermeintliche ‚Fehlen‘ eines präsentablen ‚Hauptwerks‘ zum Anlass, aus den einschlägigen Notizen ein solches, nach Themen gegliedert, nachträglich zusammenzustellen. Über die Verfälschungen und die fatale Wirkung dieses Werks, das in der ersten Auflage 1901 erschien und als Autor Friedrich Nietzsche behauptete, ist die Nietzscheforschung informiert. Was die nun erschienene Edition auszeichnet, ist, dass sie dem Leser zumutet, sich selbst einen Weg durch die Diversität der von Nietzsche zum Thema hinterlassenen Texte zu schlagen. Die Anstrengung der Sinnkonstitution kann der Herausgeber dem philosophisch interessierten Publikum beim besten Willen nicht vorenthalten. Statt einer ‚Sortierung‘ des Textes nach mehr oder minder willkürlichen Kriterien, bekommt der Leser einen flott geschriebenen Appendix an die Hand, einen philosophiegeschichtlichen Essay, der es unternimmt, die Traditionen aufzuzeigen, an die Nietzsches Philosophie des Willens anknüpft. Das ist nicht in erster Linie Arthur Scho-

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penhauer. So leuchtet es unmittelbar ein, dass Nietzsche gelegentlich von Baruch Spinoza als seinem ‚Vorgänger‘ spricht, angesichts eines einzigen Satzes aus dessen Ethik: „Ein Affekt kann nicht anders gehemmt oder aufgehoben werden als durch einen Affekt, der dem zu hemmenden Affekt entgegengesetzt ist und der stärker ist als dieser“, heißt es im vierten Teil von Spinozas Ethik.7 Anders als Stack betont Günzel Nietzsches expliziten Anti-Darwinismus. Nicht jeder wird hingegen Günzel folgen mögen, wenn er schreibt, dass Nietzsche „neuzeitlich erregt“ (210) war, dass es „Schopenhauers Fehler“ war „mit der Dichotomie von ‚Psyche‘ und ‚Physis‘ operiert“ (210) zu haben oder dass die „Formulierung vom ‚Willen zum Leben‘ […] philosophisch zutiefst unsinnig war“ (211). Doch die Nonchalance des Nachworts wird kontrastiert von einer sorgfältigen textkritischen und inhaltlichen Kommentierung im Anhang. Auch ein Grußwort vom Meister des pensiero debole, Gianni Vattimo, fehlt in Günzels preiswerter Ausgabe nicht, dessen Empfehlung sich der Rezensent anschließt. Hans-Gerd von Seggern

Friedrich Nietzsche. Rezeption und Kultus, hg. von Sandro Barbera, Paolo D’Iorio, Justus H. Ulbricht, Pisa: ETS 2004. Der Sammelband eröffnet eine vom italienischen Verlag ETS veröffentlichte Reihe, die den eindeutigen Titel nietzscheana trägt.8 Es geht um eine editorische Initiative, die unter der wissenschaftlichen Leitung von Sandro Barbera, Giuliano Campioni und Franco Volpi verspricht, ein neuer Referenzpunkt der italienischen NietzscheForschung zu werden. Leitfaden des ersten Bandes ist das Phänomen des NietzscheKultus, das innerhalb der kontroversen Rezeption des Philosophen von Anfang an eine sehr bedeutende Rolle spielte. Im Folgenden werden alle zwölf Abhandlungen kurz vorgestellt und abschließend einige Bemerkungen über den gesamten Band hinzugefügt. 1) Die ersten zwei Beiträge konturieren jeweils eine bedeutende Figur der Biographie Friedrich Nietzsches. Was den ersten betrifft, schildert Jacques Le Rider die nach dem Muster mütterlicher Liebe zu verstehende Beziehung Malwida von Meysenbugs zu Nietzsche. Neben der Rekonstruktion der Hauptmomente ihrer Freundschaft, die trotz Malwidas unverrückbarer Treue zu Richard Wagner und ihrer daraus folgenden Distanzierung von Nietzsches ‚Freidenkerei‘ weiter besteht, liefert Le Rider eine Skizze des leidenschaftlichen Werdegangs der Idealistin, die ihrer Vitalität Rechnung trägt. Schließlich werden einige ihrer sachlichen Einflüsse auf Nietzsche hervorgehoben.

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Baruch Spinoza, Ethik, 4. Teil (Siebenter Lehrsatz), Leipzig 1972, 266. Vgl.: http://www.edizioniets.com/view-Collana.asp?Col=nietzscheana&Pag=1#medio.

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2) Siegfried Lipiner, einem der feurigsten Nietzsche-Anhänger in Wien, ist Renate Müller-Bucks Abhandlung gewidmet. Genau wie bei Malwida von Meysenbug folgt auch bei Lipiner der ersten Begeisterung für Nietzsches Artistenmetaphysik eine immer stärkere Distanzierung. Seitens Nietzsche erfolgt aber diesmal ein eindringlicher Bruch. Wie Müller-Buck erstmals dokumentiert, war der Grund dafür Lipiners Vorschlag eines Aufenthalts in der Klinik von Josef Breuer, Freuds künftigem Mentor, den Nietzsche als eine geschmacklose und aufdringliche Einmischung empfand, die praktisch ihre Beziehung beendete. 3) Mit dem dritten Beitrag taucht ein weiterer Akteur, der in fast allen Abhandlungen des Bandes eine Rolle spielt, auf: das Nietzsche-Archiv. Thomas Mittmann betrachtet die Nietzsche-Rezeption im „Antisemiten-Loch“ (78), wobei er sich besonders auf die Kreise, die sich jeweils um die Namen von Wagner, Eugen Dühring und Theodor Fritsch gebildet haben, konzentriert. Diese Kreise waren durch eine explizite Feindschaft Nietzsche gegenüber gekennzeichnet, die sich in wiederholten Diskreditierungsversuchen manifestierte. Im Hinblick darauf weist Mittmann auf eine gemeinsame argumentative Strategie hin, aus der die Schilderung eines „pathologischen“ „jüdischinszenierten“ und „undeutschen“ (102) Nietzsche folgt. Doch wird ihre gegen Nietzsche gerichtete Tätigkeit durch die vom Nietzsche-Archiv ausgehende offizielle Faschisierung des Philosophen, die bei den Nationalsozialisten volle Unterstützung fand, endgültig zum Schweigen gebracht. 4) Nietzsches Mythologisierung traten aber nicht nur antisemitische Blätter, sondern, auf gegenüberliegendem Feld, auch zahlreiche Parodien entgegen. Diesem wenig beachteten Kapitel der Nietzsche-Rezeption wendet sich Christian Benne zu. Jenseits ihrer nicht zu unterschätzenden literarischen Bedeutung gewinnen die Nietzsche-Parodien in der Auffassung des Autors großen Wert im Hinblick auf die gesamte Geschichte seiner Rezeption. Denn parodisiert wurde in primis jene plumpe und dubiöse Kultus-Figur, die das Nietzsche-Archiv inszenierte. Die Nietzsche-Parodien bildeten deshalb eine Contratendenz gegen die akritische, oft ideologisierte Aufnahme seines Denkens, dessen Referenzpunkt das Archiv war. In diesem Sinne privilegieren sie jene nüchtere Lektüre, die Autoren wie Georg Brandes oder Walter Benjamin dem Kultus entgegensetzten. 5) Wie Johannes Weiß in seiner Abhandlung klar macht, charakterisiert dieselbe Haltung einen weiteren prominenten Repräsentanten der Kultur der Jahrhundertwende: Max Weber. Die Unumgänglichkeit des Denkens Nietzsches anerkannte er, lehnte aber den Genie-Kultus dezidiert ab. Den Nihilismus-Diagnostiker und Kulturkritiker hochschätzend, sah er in den Nachtretern des Philosophen das gedankenlose Fortleben von dessen „schwächste[n] Partien“ (308). Deren akritischer Aneignung setzt Weber seinen leitenden, nietzscheanisch geprägten Begriff der „intellektuelle[n] Rechtschaffenheit“ (305) entgegen. 6) Die von Weber attackierte Strategie des Archivs rekonstruieren einige andere Beiträge des Bandes. Angelika Emmrich beschreibt sorgfältig die Geschichte der Villa Silberblick, wo Nietzsche seine letzten Jahre verbrachte und das Nietzsche-Archiv untergebracht war. Es werden einerseits die nur teilweise realisierten Projekte des belgischen Künstlers Henry van de Velde, die auf Elisabeths beharrlichen Widerstand stießen, andererseits die allein unter der Führung von Nietzsches Schwester kitschig

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eingerichteten Räume im Obergeschoss, wo sich Reliquien aus dem Leben des Philosophen und exotische Stücke aus Südamerika miteinander vermischten, beschrieben. Emmrichs Beitrag betont besonders Elisabeths Neigung zur Manipulation und zur eindrucksvollen Theatralisierung. 7) In diesem Szenario entrollte sich die Geschichte des Archivs, die Justus Ulbricht in ihren Hauptmomenten schildert. Besonders interessant, da sie wenig bekannte Ereignisse präzis konturiert, ist seine Betrachtung der Archivgeschichte in den zwanziger Jahren. Er konzentriert sich einerseits auf die Beziehungen des Archivs zum faschistischen Italien, das Elisabeth mit Bewunderung betrachtete, andererseits auf den gescheiterten „Weimar-Jena-Plan“, dessen Ziel die Anfügung des Archivs an die Universität Jena war und macht deutlich, wie das Archiv, und in seinem Schatten Nietzsche selbst, von Anfang an zum „Politikum“ (243) gemacht wurde, eine Tendenz, die seine ganze Tätigkeit ausnahmslos prägte. 8) Alessandro Fambrinis Abhandlung ist der dreifachen Beziehung Elisabeth – Georg Brandes – Konrad Simonsen gewidmet. Besonders werden Simonsens wiederholte rachsüchtige Attacken gegen Brandes, den er als paradigmatischen Fall jüdischer Dominanz in der nordischen Kultur angreift, dargestellt. Am Fall dieser Polemik wird Elisabeths typischer Opportunismus sichtbar: Trotz ihrer Neigung zu Simonsens antisemitischer Position, ergriff sie Partei für Brandes, den Prominentesten unter den Rivalen. 9) Eine deutlichere Position zugunsten des Antisemitismus bezog sie in ihrem Verhältnis zu Hans Vaihinger, wie Sandro Barbera belegt. Der von Bruno Bauch in der Kant-Gesellschaft verursachte Skandal gab Anlass, die latente Divergenz zwischen Elisabeth und Vaihinger zu manifestieren. Dem Bild eines antisemitischen und kriegsfordernden Nietzsche entgegen, unterstrich Vaihinger den Kulturkritiker und Diagnostiker des europäischen Nihilismus, der vor der Bedrohung einer absoluten Massifizierung der Menschheit die „ethische und metaphysische Rechtfertigung des Individualismus“ (296) beanspruchte. 10) Franco Perrelli dokumentiert die Geschichte des Briefwechsels zwischen Nietzsche und August Strindberg. Neben der Rekonstruktion des waghalsigen Umherirrens der Briefe in Strindbergs Besitz, die sogar in Australien landeten, identifiziert Perrelli Strindbergs Wiederaufnahme von einigen Topoi, die Nietzsche in seinen Briefen verwendete und die dem schwedischen Dichter zu „symbolischen Schlüssel[n]“ (171) seiner Poesie wurden. 11) Cristiano Grottanelli geht von einer Aussage Walter Benjamins aus, die eine Affinität zwischen der sich um Georges Bataille bildenden Gruppe von Acéphale und den Kosmikern, dem von Ludwig Klages geleiteten Kreis, konstatiert. Der Autor entwickelt eine Parallele, wobei er zuerst Batailles Haltung gegenüber Klages herausarbeitet, um dann ihre jeweiligen Nietzsche-Interpretationen zu vergleichen. Auf diesem letzten Feld lassen sich dann einige Konvergenzen bestätigen, wie beispielsweise die Bevorzugung des Dionysismus und der kultischen Atmosphäre. Damit liefert Grottanelli eine paradigmatische Illustration der besonderen Nachwirkung, die Nietzsche auf ‚heilige Gruppen‘ ausgeübt hat.

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12) Das Phänomen des Nietzsche-Kultus im Internet analysiert Paolo D’Iorio. Aus seiner Betrachtung wissenschaftlicher wie auch amateurhafter Webseiten kommt D’Iorio zum Schluss, dass das kultische Element das virtuelle Nietzsche-Bild, vor allem wenn man es mit der Printtradition vergleicht, nur in geringem Maße prägt. Dies liege an der schwachen Appellkraft des Netzes als Verbreitungsort kultischer bzw. religiöser Einstellungen. D’Iorio schenkt damit einem Medium Aufmerksamkeit, das trotz seiner immer steigenden Wichtigkeit für die Kulturverbreitung von der akademischen Forschung noch zu wenig beachtet wird. Als allgemeine Beurteilung des Bandes ist hinzufügen, dass er sorgfältig dokumentierte Beiträge, die oft bisher wenig erforschte Aspekte der Nietzsche-Rezeption betrachten, zusammenbringt. Besonders wird der Briefwechsel zum privilegierten Ort, um versteckte Momente seiner Biographie und Rezeption zu erhellen. Viele Briefe werden darüber hinaus erstmals zur Kenntnis gebracht und ausführlich wiedergegeben. Besonders die Ereignisse, die im Vordergrund des Nietzsche-Archivs stehen, erhalten eine vielseitige und stimulierende Betrachtung. Die Lektüre des Bandes ist deshalb dem, der die in Angriff genommenen Thematiken vertiefen möchte, durchaus zu empfehlen. Mattia Riccardi

Thomas Mann, Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung. Vortrag am XIV. Kongress des PEN-Clubs in Zürich am 3. Juni 1947. Gedruckter Text und vollständige Tonaufnahme auf CD, hg. von David Marc Hoffmann, Beiträge zu Friedrich Nietzsche (BFN), Bd. 9, Basel: Schwabe Verlag 2005; Nietzsche-Wörterbuch, Band 1 (Abbreviatur – einfach), hg. von der Nietzsche Research Group (Nijmegen) unter der Ltg. von Paul van Tongeren, Gerd Schank und Herman Siemens, Berlin, New York: de Gruyter 2004; Friedrich Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe, Neunte Abteilung. Der handschriftliche Nachlass ab Frühjahr 1885 in differenzierter Transkription, hg. von Marie-Luise Haase und Martin Stingelin in Verbindung mit der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Bde. 4 und 5, Berlin, New York: de Gruyter 2004 und 2005 (mit einer CD-Rom). David Marc Hoffmanns Wiederentdeckung der Tonbandaufnahme des Vortrages Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung auf dem XIV. Kongress des Internationalen PEN-Clubs am 3. Juni 1947 in Zürich des Schweizer Radios DRS und der faksimilierte Text nach dem Erstdruck in Die neue Rundschau (Achtes Heft, Herbst 1947) sind in der Einheit ihrer Wort-Ton-Veröffentlichung nicht nur ein beachtenswerter Beitrag zum Thomas-Mann-Jahr 2005; der gegenwärtigen Nietzsche-Forschung sind sie

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authentische Dokumente einer äußerst widerspruchsvollen Periode der Rezeptionsgeschichte des Philosophen im 20. Jahrhundert. Dass die Zeitschrift zu diesem Zeitpunkt noch beim Bermann-Fischer-Verlag in Stockholm erschien und der gerade aus dem amerikanischen Exil zurückgekehrte Dichter in Zürich seinen ersten Vortrag in deutscher Sprache hielt (in Washington und London hat er englisch gesprochen), bezeugt die unmittelbare geistige und institutionelle Kultursituation eindringlich. So verwundert es nicht, dass Mann seinen Vortrag in der Schweiz mit einer (nur als Tondokument erhaltenen) Eloge an das Land begann, dass ihm und seiner Familie, nachdem er Deutschland ‚verloren‘ hatte, wie er es nannte, fünf Jahre Zufluchts- und Arbeitsort gewesen war. Ein von „Weltluft“ durchwehtes Land sei es, durch und durch europäisch und für einen, der wie er, nie aufgehört habe, sich „als Europäer zu fühlen“ (auch nicht nach neun Jahren in der ‚jungen‘ Welt und nicht als amerikanischer Staatsbürger, der er geworden war), in einer Zeit der Zerstörungen, Verwirrungen und „krisenhaften Anpassungsnöte“ eine Hoffnung auf Humanität, Freiheit und einen neuen Anfang: „Wir haben überlebt, die Schweiz und ich“ und der PEN-Club ebenso. In dieser Dreiheits-Konstellation, die ihm eine Welt des „ungefesselten Gedankens“ war, wollte er die glückende Chance einer „Idee der Humanität“, eines „neuen Humanismus, der vielleicht im Entstehen begriffen ist“, einer sozialen und friedlichen Welt sehen. So sind die dem Vortrag vorgeschalteten Schweiz-Reminiszenzen mehr als obligate Danksagung an das Gastgeber- und erste Exilland: Sie präludieren das Thema ‚Nietzsche‘, das in der unmittelbaren Nachkriegszeit der Erklärung bedurfte, wenn man in dem Philosophen nicht, wie zu dieser Zeit verständlich, nur den geistigen Brandstifter und Mitverantwortlichen an der Katastrophe des deutschen und europäischen Faschismus sehen wollte. Indem Mann ihn in bemerkenswerter und 1947 provokanter Verschränkung von Nähe und Distanz zu diesem Jahrhundertdesaster stellte, ihn aber zugleich als einen unverzichtbaren geistigen Partner für die notwendige kulturelle Erneuerung zu zeichnen bemüht war, dessen Leben und Denken eine berührende Tragik besaß, die mehr war als eine persönliche, stellte er ihn in die Tradition europäischer Aufklärung und Moderne zugleich, dessen ambivalente Philosophen-Existenz, wie er meinte, exemplarisch und außerordentlich in einem, durch ‚rettungslosen‘ Ästhetizismus die Grenze zum Barbarischen gewollt zum Einsturz brachte und sich in der Feier des starken Lebens gefiel, das sich ihm als Macht und Machtsteigerung bis zum Exzess offenbarte, dessen Philosoph er kompromisslos zu sein beschlossen hatte. Für Mann erschütternd wie folgerichtig, dass sich die falschen, die gefährlichen Geister seiner bemächtigten und für sich in Anspruch nahmen. Wie es dazu kommen konnte, dem spürte er nach, diesen Irrweg und Irrtum galt es transparent zu machen, der Öffnung in die Zukunft des Denkens und der intellektuellen Verantwortung wegen. „Und nun fangen wir mit dem Anfang an“, der Satz markierte nicht nur den Übergang zum eigentlichen Vortrag, er führte auch buchstäblich in das Thema ‚Nietzsche‘, indem die Biographie des Philosophen aufgerufen, genauer dessen Zusammenbruch in Turin im Januar 1889, indem mit der persönlichen Katastrophe begonnen und diese mit Shakespeares Ophelia-Klage: „O, what a noble mind is here o’erthrown!“ mit norddeutsch-hartem Akzent hervorgehoben wurde. Der Auftakt, englische Dramatik und gedämpfte Rezitationsstimme ohne Pathos, ließ alles folgende jenseits jeglicher Huldi-

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gungs- oder Verdammungsgesten, konzentrierte sich auf die großen Konflikte zwischen Lebensstärke und Leid(ens)erfahrung, zwischen Ethik und Ästhetik, an denen Mann seinen Zuhörern den Zusammenhang von Lebenstragödie und Lebensumständen, Philosophie und geistiger Täterschaft, Verhängnis des Selbstkenner- und Selbsthenkertums, wie es Nietzsche sah, vergegenwärtigte. Dessen unglückliche und folgenreiche Sensibilität für alles Herkunftsdenken, die ihn von den Griechen über das Christentum bis zur kulturellen Moderne stets den Akzent auf deren Verdrängungsleistungen setzen ließ und ihn damit zu einem Kultur- und Moralkritiker ersten Ranges gemacht habe, sei es auch gewesen, die ihn an die Schwelle jener Barbarei gebracht habe, die ihm abgrundtief als Pöbel-Kultur verhasst war. Vom Vorwurf der Verkennung des falschen Verhältnisses, in das er Moral und Leben gebracht habe, sei er nicht zu entlasten, und nicht vom Irrtum der Aufwertung des Instinkts gegen den Intellekt. Mit feiner Ironie und angesichts der jüngsten Vergangenheit durchaus ernst gemeint, formulierte Mann seine Kritik an Nietzsches Bild der Griechen, das der Romancier gegen den Philosophen als „liederliche[s] Ästheten- und Artistenvölkchen“ zeichnete, das sich nicht lange auf der Weltkulturbühne habe halten können. Wie anders dagegen leiderfahrene, ernste Völker, die Juden zum Beispiel. – Wo einer Schönheit der Stärke das Wort geredet werde, da seien die falschen, totverbundenen Propheten nicht fern und die Gefahr groß, Mißverständnisse zum Programm zu machen. So unschuldig geistig war Nietzsche nicht, als er das ‚gefährliche Leben‘ zum Inhalt seiner Philosophie machte; die schrillen Formulierungen seiner Ärzte-Moral, der Hygiene- und Züchtungsgedanken konnte Mann nur als „letzte Überreiztheiten“ eines an sich selbst und den Umständen zuschanden werdenden Geistes erklären, die er nicht beschönigen, aber auch nicht überbewerten wollte. Demgegenüber machte er andere Momente Nietzscheschen Denkens notorisch, die kulturkritischen, die subtilen psychologischen Studien der Nöte des modernen Menschen, den Gedanken, der Erde treu zu bleiben, die antibürgerliche Attitüde gegen den Wilhelminismus, den rigorosen Anti-Antisemitismus, die Voraussicht der Katastrophe einer Herrschaft des Pöbels, wie immer der zu bestimmen sei. Mann sah sie im elendsten „Kultur-Banausentum“ der Nazi-Herrschaft und in der Anmaßung von Völkermord und Judenvernichtung Realität geworden. Dies aber sei dem Geiste Nietzsches „im Tiefsten fremd“ gewesen. Der Philosoph müsse es sich gefallenlassen, trotz alledem als Humanist und Aufklärer gesehen zu werden (Das nachdrückliche mit den Fingern aufs Rednerpult unterstreichende Klopfen ist hörbar geblieben und der Digitalisierung nicht zum Opfer gefallen). Das war zwei Jahre nach dem Zusammenbruch des Faschismus, dessen „Schundideologie“ sich Nietzsches zu Parolen eines verkommenes Denken zurecht gemacht hat, dessen Protagonisten zu denen gehörten, nach deren Berührung der Philosoph stets angeekelt das Bedürfnis gehabt habe, sich die Hände waschen zu müssen; ein Wagnis, gesprochen in einer Öffentlichkeit, die gerade dabei war, sich über das Ausmaß des europäischen Desasters Rechnung zu geben. Kaum jemand anderes als Mann konnte in dieser Situation Nietzsche so rigoros-ambivalent zum Thema eines kulturellen Diskurses machen, ihn zum ‚guten‘ Europäer erklären und zu mahnen, nicht ohne ihn den Schritt in eine kulturelle Erneuerung Europas zu gehen. Hinter seinen wilden Gedanken eine zu lebende Philosophie zu entdecken, ihn als „Gestalt von zarter und ehrwürdiger Tragik“ zu sehen, „umloht vom Wetterleuchten dieser Zeitenwende“,

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das nahm ihm das Publikum nach einstündiger eindringlicher Darstellung ab. Und auch das Pathos, auf das für einen kurzen abschließenden Augenblick doch nicht zu verzichten war. Insgesamt ein Philosophen- und Epochenporträt, das von einer geradezu zeitlosen Gültigkeit geprägt scheint. Jahrzehnte später war es die Lektüre auch dieses Textes, die kritisch-marxistischen Denkern Argumente für einen differenzierten historischen Umgang mit Nietzsche gegeben hat, um ihn aus den Ideologiemustern eines orthodoxen Marxismus zu befreien, der es fertig gebracht hatte, ihn zu einer ‚Unperson‘ der Philosophie zu erklären. Nicht ohne Grund hat Mann an seine Zuhörer appelliert, wer Nietzsche beim Wort nähme, sei schon verloren, hat Giorgio Colli gewarnt, wer Nietzsche zitiere, sei ein Fälscher; der Philosoph selbst hat mehrfach darauf verwiesen, es sich mit ihm nicht zu leicht zu machen. Seine Rezeptionsgeschichte ist begleitet von immer neuen Versuchen, den Rezipienten Hilfsinstrumentarien an die Hand zu geben, sich zurechtzufinden in den Netzen seiner Gedanken und Gedankenblitze, seiner das Werk durchziehenden konstanten Begriffe, Metaphern, Philosopheme und der nur kurz auftauchenden und wieder fallengelassenen Bilder, Wörter, Namen, Leitsätze. Das von Johann Prossliner herausgegebene Licht wird alles, was ich fasse. Lexikon der Nietzsche-Zitate (München: Kastell Verlag 1999) und das von Henning Ottmann besorgte Nietzsche Handbuch. Leben–Werk–Wirkung (Stuttgart, Weimar: Metzler Verlag 2000) sind nur zwei solcher Kompendien aus den letzten Jahren. Nun der erste Band des bis 2010 auf vier Bände (und einer CD-Rom) konzipierten Nietzsche-Wörterbuches der Nietzsche Research Group (Nijmegen). Mit ausdrücklicher Berufung auf eine nicht nachlassende Nachfrage und der Erinnerung an Mazzino Montinaris Wörterbuch-Projekt sucht ein Forscherteam um Paul van Tongeren, „in diesem Wörterbuch mit wissenschaftlicher Akribie Nietzsches Sprachgebrauch zu beschreiben“ und dabei „der Vitalität von Nietzsches Texten gerecht zu werden“ (IX). Zugrundegelegt sind die Kritischen Studienausgaben, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari (KSA, KSB) und die Kritische Gesamtausgabe der Werke (KGW) und Briefe (KGB). Ziel sei es, „in Hinsicht auf eine Anzahl wichtiger und schwieriger Wörter soviel Material bereitzustellen, dass die philosophische und literarische Interpretation unterstützt und befördert wird“ (ebd). Mit der Konzentration auf Nietzsches Sprache will man gegenwärtige Themen der Nietzsche-Forschung unterstützen und „neue Themen für diese Forschung erschließen“ (XIX). Welcher Art die Konzentration auf die Sprache des Philosophen ist, bleibt relativ vage. Nietzsches Wissen um die Macht der Sprache und seine Skepsis ihr gegenüber („Die Verführer der Philosophen sind die Worte, sie zappeln in den Netzen der Sprache“, KSA, NF, 8, 113; „Die Sprache trägt große Vorurtheile in sich“, KSA, NF, 9, 191; „Die Sprache, scheint es, ist nur für Durchschnittliches, Mittleres, Mittheilsames erfunden. Mit der Sprache vulgarisirt sich bereits der Sprechende“, KSA, GD, 6, 128) finden keinen ersichtlichen Eingang in das Auswahl- und Darstellungskonzept. Im Bewusstsein prinzipieller Unabschließbarkeit eines Wörterbuches, geht es weder um Vollständigkeit des Wortschatzes noch um die seiner Rezeption. Vom etwa 30 000 Wörter umfassenden Wortgebrauch Nietzsches werden ca. 500 aufgenommen und beschrieben, deren Auswahl nach nicht wirklich genau bezeichneten Kriterien der Wichtigkeit (aus der Sicht der Herausgeber) erfolgt.

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Im Band I sind 67 aufgelistet und in neun Kategorien (1 Wortformen, Beleganzahl, Belegzeiten; 2 Zusammenfassende Übersicht über die Bedeutung; 3/4 Ausgewählte Belege: elektronische Ausgabe; Buchausgabe; 5 Wort- und Begriffsgeschichte; 6 Interpretation und Nietzsche-Forschung; 7 Zu einzelnen Belegen; 8 Rezeption; 9 Querverweise) vor- und zur Verfügung gestellt. Das Spektrum ihres Gebrauchs ist durch dieses Kategoriengefüge eingekreist und andeutungsweise in die Kontexte zeitgenössischer Verwendung, Quellen, Bedeutungsvarianten und Ersterwähnungen, der spezifisch Nietzscheschen Bedeutungsmuster und -vielfalt gestellt und aus ihnen erklärt. – Das ist ein hoher Anspruch, der auf Nietzsches, in den siebziger Jahren formulierten Auffassung von der Kulturbedeutung der Sprache beruht, in ihr sei die „geistige Thätigkeit von Jahrtausenden niedergelegt“ (KSA, NF, 7, 457), der die spätere Einsicht korrespondiert, die Geschichte der Sprache sei nichts als „die Geschichte eines AbkürzungsProzesses“ (KSA, JGB, 5, 221), mit den darin liegenden Letalisierungen ihrer Lebendigkeit und Symbolkraft in den Kolumbarien der Begriffe, bis zu den ‚Wechselbälgern‘, die sie von Zeit zu Zeit hervorbringt. Immanuel Kants ‚Ding an sich‘, eines homerischen Gelächters wert, war ein solches (vgl. KSA, GM, 5, 280). Man sucht es vergebens, das Lemma ‚Ding‘ ist nicht aufgenommen. Solch Horizont wäre wirklich ein die Nietzsche-Forschung unterstützendes Hilfsmittel. Daran muss sich das Ergebnis messen lassen. Sicher ist es nur bedingt gerechtfertigt, vom ersten Band auf das Gesamtprojekt zu schließen. Doch zeigt sich bereits die Problematik der Lemma-Auswahl. Unbestreitbar grundlegende Begriffe wie Abstraktion, Aphorismus, Arbeit, Aristokratie, Askese, Bewusstsein, Bildungsphilister, Chaos, Christentum, Dekadenz, Demokratie, Denken, Egoismus, dionysich/apollinisch, arisch/semitisch stehen neben kaum bedeutsamen wie abgeschmackt, Abkürzung, augenscheinlich, billig, delikat, einfach. Überlegt man bei diesen schon, warum die Wahl auf sie fiel, erreicht die Warum-Suche bei abgehellte Luft, blöd, brav, Dummheit, Eckensteher eine nächste Stufe nachdrücklichen Fragens und In-Frage-Stellens. Nicht, dass es keinen Sinn macht, sie aufgenommen zu haben, ist das Problem, sondern dass sie in ihrer Aussagekraft für Nietzsche nur von einer begrenzten Reichweite sind und dass viele nicht aufgenommene Lemmata in ihren Bedeutungsfeldern von vergleichbarer und aus der Sicht der Rezensentin weit größerer Wirkmächtigkeit für den Philosophen waren und für die Rezeption sind. Es will nicht einleuchten, warum zum Beispiel Abbild, Ästhetik, Abgrund, Ekel oder abendländisch, abgeirrt und elektrisch keine Aufnahme und eigenständige Analyse erfahren. Ihre positiven wie pejorativen Konnotationen tangieren die ganze Kulturkritik und Ästhetik, berühren den Kern Nietzscheschen Philosophierens. – Der Präposition ‚anti‘ eine 25-seitige Darstellung zu geben, darunter Begriffe wie Antichrist und Antisemitismus, seine Kritik am deutschen Idealismus, an der Romantik, an Kant, Napoleon Bonaparte, der Moral, der Moderne, am Nationalismus, der Demokratie zu subsumieren, ist wenig einsichtig, erschwert das erfolgreiche Nachschlagen, erliegt einem semasiologischen Vorgehen, das dem Signifikanten den Vorrang vor dem Begriff gibt (vgl. XIf). Darin liegt die crux der Methode, die dem Denkrhythmus Nietzsches weder entgegenkommt noch kongenial ist. Eher scheint eine Unterschätzung seines Hinweises auf: „Das Verständlichste an der Sprache ist nicht das Wort selber, sondern Ton, Stärke, Modulation, Tempo, mit denen eine Reihe von Wor-

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ten gesprochen werden“ (KSA, NF, 10, 89). Anti entzieht sich der Modulation. Es ist die Sprache der Begriffe, in der in Wörtern wie Antisemit oder Antichrist der Akzent der Kritik und das über alle Begrifflichkeit hinausweisende Bedeutungsspektrum liegt. Man kommt nur schwer auf die Idee, unter anti nachzuschlagen, wenn man sich über Nietzsches Christentumskritik oder antidemokratische Sentenzen, geschweige denn über deren Kontexte informieren will. Der vom Philosophen hoch veranschlagten leiblichen Symbolik der Sprache (vgl. KSA, NF, 7, 359), der Bedeutung ihres sinnlichen Moments, sucht das Konzept u.a. gerecht zu werden mit der ausdrücklich zu begrüßenden Aufnahme von Farben als Lemmata: blau, braun, blond, deren Wertungsskalen die besondere Sprachphysiognomie verdeutlichen, die eine ganze Kulturgeschichte codiert. Naturbezüge, anthropologische Bestimmungen (Rasse- und Geschlechtszuordnungen), kulturkritische Momente beschreiben ihren sprachlichen Gebrauch, zeigen ihre konnotativen Deskriptions- und Wertungsmöglichkeiten. Aber auch an ihnen macht sich bemerkbar, wie sehr ein zu strenger Systematisierungswille dem Verflechtungsuniversum Nietzscheschen Denkens entgegensteht. Die Querverweise brechen die Systematik nur gering auf. Fragen bleiben: Warum zum Beispiel bei blau nicht auf blond verwiesen wird, die Textzitate im Zusammenhang mit deutsch legen es nahe. Das Fehlen des Lemmas deutsch schlägt negativ zu Buche. Oder warum die blonde Bestie, auf die sich die Rezeptionsgeschichte gestürzt hat, nicht als eigenständiges Stichwort abgehandelt wird. Die Darstellungskriterien stehen dafür im Wege. Für die nächsten Bände sollten die Vernetzungen überprüft, ihre inhärenten Möglichkeiten optimiert, das Lemma-Programm erweiternd korrigiert werden. Wobei das Augenmerk auf Nietzsches Spracheigenwilligkeiten unbedingt beibehalten werden sollte. Dem Sprachschöpfer Nietzsche nachzuspüren, bleibt allemal eine perennierende Aufgabe. Wie jeder weiß, der, Wörterbuchhilfen nicht ausschlagend, eigener Nietzsche-Lektüre den Vorrang gibt. Dass Nietzsche lesen9 eine problematische Angelegenheit ist, wussten und wissen Nietzsche-Editoren am besten. Die dramatische Geschichte der Nietzsche-Werkausgaben im 20. Jahrhundert bis zur großen Edition von Colli/Montinari hat mit herausgeberischen Eingriffen in den Textkorpus bis zur Fälschung und umstrittenen Auswahlkriterien dafür Beispiele gegeben. Als die beiden italienischen Nietzsche-Philologen in den sechziger Jahren begonnen hatten, ihr Projekt einer nach den Handschriften besorgten Ausgabe zu realisieren, um der vollständigen Veröffentlichung des Nachlasses editorische Authentizität zu sichern, ging es um die Befreiung des Werkes vom Vorwurf unerlaubter Bereitstellung ‚gesäuberter‘ Texte und der Rücksetzung des von Elisabeth Förster-Nietzsche absichtsvoll der Öffentlichkeit präsentierten ‚Hauptprosawerks‘ Der Wille zur Macht, jenem Text-Kompilat, das verhängnisvoll Ideologiegeschichte ‚geschrieben‘ hat, in seine Arbeits- und Gedanken-Skizzen-Stadien, die Nietzsches Ringen um das Thema und sein schließliches Aufgeben des Projekts, aus dem Charakter der Aufzeichnungen transparent machen sollte. Das ist ihre bleibende historische wie philologische Leistung, der alle ernstzunehmende Rezeption seitdem verpflichtet ist. Für die Herstellung lesbarer Texte bedurften auch sie Ordnungs-, Einteilungs- und Wahlkriterien, die Topologie des Schriftenkonvoluts in textkonstituierbare Passagen und Materialen zu verwandeln 9

Mazzino Montinari, Nietzsche lesen, Berlin, New York 1982.

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und sie dabei in einer angenommenen größtmöglichen Nähe zu Nietzsche zu halten. Wie sehr sie sich mit ihren Entscheidungen über Einteilungen in Haupttexte oder Vorstufen von der selbst geforderten Authentizität entfernten, wussten die, die in ihrer Nachfolge differenzierende editorische Kärnerarbeit leisteten. Die seit 2001 erscheinenden Bände der Neunten Abteilung (handschriftlicher Nachlass ab Frühjahr 1885) machen das Problematische einer solchen Einteilung, aber auch die Tatsache, dass keineswegs bereits alle Aufzeichnungen aus dem Nachlass zur Verfügungen stehen, zum Programm einer Edition der Arbeitshefte zwischen 1885 und 1889, jenes Zeitraumes, der das späte Nietzsche-Denken umgreift.10 Nachdem die ersten drei Bände die Notizhefte N VII 1–4 in einer differenzierten Transkription vorgelegt haben, werden mit den Bänden IV und V jetzt die Arbeitshefte W I 3–8 differenziert transkribiert verfügbar. Ihr auffällligster Unterschied zu den Bänden 1–3 ist ihr Großformat, geschuldet der Originalgröße der Vorlagen. Ihr größerer Seitenspiegel verlange ein größeres Format, so das Argument der Herausgeber. Die Arbeit mit den Bänden wird für den Leser zur Schwerarbeit, im Sinne des Wortes: ca. 30 x 40 cm und fast 3 kg pro Band wollen bewältigt sein. Man fragt sich, ob eine geringe Verkleinerung das Konzept der Edition wirklich beschädigt hätte. Wer diese Anstrengung in Kauf nimmt, den erwartet, wie für die gesamte Abteilung IX zu sagen ist, nicht nur ein Leseabenteuer, sondern vor allem ein Gang in das Denklabor eines Philosophen, von dem man zwar wusste, wie ‚nomadisch‘, sprunghaft, suchend, in sich widersprüchlich, seine Denk-Arbeit war, hier erlebt man es hautnah, quasi materialiter und mit der trügerischen Intensität und Vorstellung, selbst in das Denkgeschehen involviert zu sein. Da auf jede Textgenese verzichtet wird, kann man aus diesen ‚Texten‘ schwer zitieren. Die Deutungsmacht liegt nicht mehr bei den Editoren, sie haben sie dem Leser überantwortet, nach dessen Interessen jetzt mit dem ‚Text‘ umzugehen ist. Je nach Sichtweise wird sich die Perspektive verschieben. Sicher aber ist, dass das Nichtabgeschlossene, das Unabschließbare seines Denkens eine gewichtigere Bedeutung erhält, eine sinnlich fassbare Kontiguität, die vielleicht Sinnkorrespondenzen transparenter machen kann, als es jeder auf die Finalität des Gedankens orientierenden Lesart möglich wäre. Auf manchen Seiten entsteht der Eindruck von Schlachtfeldsituationen: da werden Gedankenblitze mit einer psychologischen oder hammerphilosophierenden Art verwegen notiert und ebenso wieder zerschlagen. Wie groß die Zeitdifferenz ist, weiß niemand zu sagen, kann auch die unterschiedliche Farbgebung, die die offensichtlich zeitlich verschiedenen Niederschriften markiert, nicht deutlich machen. Liegen nur Augenblicke dazwischen, oder Tage, Wochen? Was eindringlich und notorisch ist, ist das Unruhige, Beunruhigende des Nietzscheschen Denkens, kraft der Einsicht, dass man den Mut aufbringen müsse zu einem Zu-Ende-Denken, wie schmerzlich es immer sein möge. Sonst verdiene Philosophie nicht ihren Namen. In einem Brief an Heinrich Köselitz hat Nietzsche schon 1881 darauf verwiesen, als dieser das Manuskript der Morgenröte abschrieb: „Ich schreibe zu schlecht und sehe alles krumm. Wenn Sie nicht errathen, was ich denke, so ist das Manuscript unentzifferbar“ 10

Renzension von Stephan Günzel, in: Nietzscheforschung, Bd. 10 (2003), 348–353.

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(Brief vom 25. 1. 1881, KSB, 6, 58).11 Dieses Problem verschärfte sich im Laufe der achtziger Jahre, potenzierte sich in den ohnehin nicht zur Veröffentlichung vorgesehenen Arbeitsheften. Insofern sollte die ‚Unlesbarkeit‘ der ‚gekritzelten‘ Texte, aber auch ihre ‚Anordnung‘ auf den Seiten nicht verwundern; hier gehen Denkrhythmus und visuelle Einschränkungen eine bemerkenswerte Symbiose ein und ist ihr jeweils genauer Anteil kaum zu klären. Auf jeden Fall öffnet sich ein Raum für das Interesse an Nietzsches ‚materialem‘ Schreiben, an Schreibmaterialien, Schreibräumen und -bewegungen, Überarbeitungsgewohnheiten, die auf die Art seiner Denkbewegungen, ihren Fluss und ihre Intensität schließen lassen. Dies ist wichtiger, als der kümmerliche Aha-Effekt, der große Philosoph habe auf einer Seite neben wesentlichen Gedanken (was ist angesichts solcher Seiten ‚wesentlich‘?) Alltäglichkeiten, Merknotizen, Selbstermahnungen, Informationen mit geringem Halbzeitwert festgehalten. Jeder, der einen Teil seines Lebens mit dem Aufschreiben von Gedanken, dem Anfertigen von Manuskripten verbringt, weiß von solchen Seiten‚kompositionen‘. Man sollte Nietzsche in dieser Frage ernst- und beim Wort nehmen: „[…] ich notire mich, für mich“ (KSA, NF, 12, 450). Dann erkennt man den eminenten Anspruch auf subjektive Authentizität, auf die unverrückbare Einmaligkeit des Aufgeschriebenen, das zum Ausdruck der Ganzheit einer Persönlichkeit wird, der es zwar immer um die Differenz von Person und Schrift(en) ging, die aber zugleich von der provozierten Auflösung dieser Differenz profitierte, um sich selbst und das ‚Werk‘ auf folgenreiche Weise zu ‚dekonstruieren‘, d.h. sich in gewisser Weise hinter das Geschriebene zu stellen und, was die französische Nietzsche-Rezeption früh erkannt und kritisch reflektierend zum Thema gemacht hat, beide zu ‚liquidieren‘. Das unübersehbar destruktive Moment einer daraus erwachsenen Editionspraxis ist nicht ohne eine aparte Problematik, auf die hinzuweisen ist. Der kaum zu überbietende Respekt vor allem Geschriebenen, seinem Was und Wie, macht nicht nur letzten Illusionen einer klassisch philologischen Textgläubigkeit den ernüchternden Garaus, sondern gibt mit der sinnlichen Optik auf Arbeitsheftseiten, Mehrfachfarben, Überschreibungen, Durchstreichungen, Wellen- und Querlinien, dem Auf-dem-Kopf-Stehen von Zeilen, dem zuweilen von Hinten-nach-vorn-Lesen, selbst wieder einer nahezu exegetischen Philologie Raum, der dieses Mal allerdings genau vom Gegenteil her Argumente zufließen. Jetzt kann alles zur Lesart werden, keine und alle Lesarten können eine eigene Verifikationspotenz reklamieren, die sich auf die Texte berufen kann. Der Autor selbst ist dafür so verantwortlich wie machtlos und gleicht dem, der nach Sokrates/Platon seine Gedanken durch Verschriftlichung an eine Leserschaft entlässt, von der er nicht wissen kann, ob sie dem Gestus des Gedankens gewachsen noch gewillt ist, ihn aus seinem Kern zu verstehen. Dass die Verantwortung nun beim Leser liegt, ist die letzte Konsequenz einer Editionsgeschichte, die sensibel und wach geworden ist und andere dabei unterstützen will, wie sehr alles an der bereitstellenden Wiedergabe der Texte liegt, ohne Eingriffe jeglicher Art. Und doch, so eigenartig es klingen mag und gar nicht anders sein kann, ein Vergleich zwischen den Handschriftenseiten, deren Faksimiles auf der CD-ROM einzusehen sind, und den diplomatischen Umschriften zeigt eine Diffe11

Köselitz war sich über die Schwierigkeiten der Entzifferung bewusst und hat das Moment des (fast) Nicht- Lesbaren auf die schlechte Sehkraft Nietzsches bezogen. In einem Brief an Cäcilie Gussenbauer hat er vom „Manuskript eines fast blinden Mannes“ gesprochen (KSA, 15, 116).

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renz zwischen ihnen, die das Anliegen der Edition sinnfällig problematisiert. Streng und (fast) sophistisch genommen, ist schon die Übersetzung in eine differenzierte Transkription ein editorischer Eingriff. Das manchmal um Deutlichkeit bemühte Schreiben, dem die Unsicherheit der Hand und des Auges des Autors deutlich anzumerken sind, die schnell notierte Sentenz oder die zwischen die Zeilen geschriebene Selbsterinnerung an die Banalität des Alltags, der Nachdruck, der mancher Zeile gegeben wird oder die Anstrengung, einen angefangenen Satz zu beenden, ohne noch einmal die Feder in das Tintenfass zu tauchen, gehen auch hier verloren. Sie sind nur am wirklichen Original zu haben. Da aber muss man das Buch und dessen graphische ‚Erfindungen‘ verlassen und am PC der letzten Authentizität der Handschriften und ihrem Schriftbild, die leider nur digitalisiert als CD-Rom vorliegen, vertrauen. In dem Bewusstsein, der Monitor des PC arbeitet schon wieder verändert am Original. Renate Reschke

Georges Bataille, Nietzsche und der Wille zur Chance (Atheologische Summe III), hg. und mit einem Nachwort versehen von Gerd Bergfleth, München: Matthes & Seitz 2005 Die Tatsache gehört mittlerweile zu den fait accomplis der Ästhetik des 20. Jahrhunderts, dass Nietzsche zu den tragischen Heroen der surrealistischen Bewegung zählte. Ebenso bekannt ist, dass erste Reparationsbemühungen um den deutschen Philosophen nach seiner faschistischen Vereinnahmung im Rahmen eines Unternehmens surrealistischer Dissidenz angestellt wurden. Unter dem Titel Acéphale publizierten verschiedene Autoren von 1936 bis 1938 subversive wie leidenschaftliche Bekenntnisse zu dem Philosophen der feindlichen Seite, die das Ziel verfolgten, den wahren Nietzsche vor dem infamen zu retten: ein Unternehmen, aus dem nicht zuletzt die glanzvollen französischen Nietzsche-Renaissancen des 20. Jahrhunderts hervorgegangen sind. Ihr Anstifter und Herausgeber des Acéphale war Georges Bataille, der nach den Jahren der gemeinschaftlichen Bemühungen um Nietzsche einen ganz eigenen und eigentümlichen Weg einschlug, mit ‚seinem‘ Nietzsche umzugehen. Die deutlichste Wegmarkierung, die er auf diesem Weg hinterließ, war neben unzähligen offenen und verdeckten NietzscheBezügen sein Buch Sur Nietzsche, ein im Februar 1945 erschienenes Werk, das die in Nietzsche angelegte Infragestellung des Werkes konsequent ausführte. Sur Nietzsche, ein Kompendium aus Essays und Tagebuchaufzeichnungen vom Februar bis August 1944, war ein Werk, eher die Abschaffung eines Werkes, das eine der radikalsten Nietzsche-Adaptionen des 20. Jahrhunderts darstellte. Diese eigentümliche Adaption, die jetzt als dritter Band von Batailles philosophischem Opus magnum, der Somme Athéologique, in deutscher Übersetzung vorgelegt wurde, war eigentlich zum

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100. Geburtstag Nietzsches am 15. Oktober 1944 verfasst worden; zu diesem Datum hätte es jedoch nur veröffentlicht werden können, wenn jene Deutschen, die Nietzsche ebenfalls für sich reklamierten, zu diesem Zeitpunkt Frankreich wieder verlassen hätten. Der Krieg markierte nicht nur die äußeren Eckdaten einer atheologischen Summe, deren Notate 1939 mit dem Ende von Acéphale und der französischen Kriegserklärung begannen, um mit der Libération zu enden. Er war das geheime Thema dieser epochalen Summe selbst, deren Unternehmen darin bestand, einen inneren Krieg zu entfesseln, um den äußeren in Schach zu halten. Das Werkzeug dieser Entfesselung, die heute von den Lesern des Nietzsche-Buches nachvollzogen werden kann, ist durch nichts besser beschrieben als durch jene Dynamik der désœuvrement, jener Entwerkung, die Batailles Komplize Maurice Blanchot ins ästhetische Vokabular des 20. Jahrhunderts eingetragen hat. Ein Werk ist Sur Nietzsche ebenso wenig wie ein Buch über Nietzsche, das der französische Originaltitel versprach. Was Bataille unter diesem Titel 1944 zum ersten Mal vorlegte, in deutscher Übersetzung als Nietzsche zurechtgestutzt wurde, war eine verstreute Sammlung Essays, Tagebuchnotizen, Reflexionen und Nietzschezitaten, die mehr schlecht als recht vom Titel zusammengehalten wurden. Auch diese waghalsige Konstruktion wird von den deutschen Herausgebern kompensiert, die dem zerbrechlichen Gebilde diverse Nietzsche-Aufsätze zur Seite stellen, die Batailles Auseinandersetzung mit dem Philosophen historisch flankieren. Diese Flankierung wird den Herausgebern aus dem Grund notwendig erschienen sein, da der Kerntext von Sur Nietzsche neben seiner formalen Unterschreitung mit einer inhaltlichen Unterschreitung aufwartete: Dieses merkwürdigste Buch über Nietzsche, das kein Buch über Nietzsche sein wollte, ersetzte dessen Rezeption durch freizügigste Adaption. Seine Texte werden in ihrer formalen Heterogenität keineswegs durch die gemeinsame thematische Klammer ‚Nietzsche‘ zusammengehalten. Bataille äußerte sich nicht nur nicht in unterschiedlichen Formen zu Nietzsche; sein Nietzsche-Buch äußerte sich, von Nietzsche-Zitaten abgesehen, über weite Strecken überhaupt nicht zu ihm. Was der philosophische Kopf des Surrealismus unter dem Decknamen Sur Nietzsche vorlegte, war alles andere als ein Buch mit dem Thema Nietzsche, es war eine konsequente Unterschreitung des thematischen Anspruchs. Man hat in einem halben Jahrhundert Bataille-Rezeption gelernt, die vollkommene Negativität dieses Autors nicht als trotzige avantgardistische Geste abzutun. Einige der luzidesten Lektüren des abgelaufenen Jahrhunderts haben gelehrt, seine systematischen Unterlaufungen als philosophische Gesten zu entziffern. Diese Entzifferungsarbeit lässt sich an keinem Gegenstand besser demonstrieren als an Sur Nietzsche, einem Buch, dessen einsame Radikalität gerade darin bestand, seine philosophische Geste bis zum völligen Fallenlasssen (in der Diktion Batailles: der völligen Verausgabung) seines Gegenstands auszureizen. Wenn Sur Nietzsche zu den radikalsten Nietzsche-Büchern überhaupt zählt, dann nicht aus dem Grund, weil es neue oder radikale Interpretationen Nietzsches vortrüge; seine vollendet formale Radikalität besteht darin, die Geste der Interpretation überhaupt fallenzulassen. Bataille inszenierte sich nicht als Exeget Nietzschescher Schriften, sondern als Austräger einer Erfahrung. Darin besteht der Kunstgriff Batailles: Anstatt großartige intellektuelle Verrenkungen zu unternehmen, um die

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jähen Perspektivwechsel Nietzsches, seine changierende und irrlichternde Position interpretatorisch zu parieren, unterließ er das Geschäft der Interpretation ganz und entlastete sich in derselben Bewegung von der Bürde der Interpretation, in der er Nietzsche gerecht zu werden hoffte. Mit dieser von Nietzsche gelernten Geste der Affirmation platzt der Ballon der Interpretation, ohne den Sinn des Geschriebenen preiszugeben. En passant sollte die Entspannung vom Interpretationsstress die Einklammerung von Wahrheitsansprüchen einführen, die erst von den poststrukturalistischen Positionen produktiv gemacht werden sollte. Mit anderen Worten: Nietzsche stellte nicht das fragwürdige Objekt von Sur Nietzsche dar; er war auf seine (nahezu und notwendig unsichtbare) Subjektseite gewandert. Hier hat sich jemand herausgenommen, ihn derart für sich zu reklamieren, dass jede Veröffentlichung oder Ausweisung des unmöglichen Anspruchs ausfallen konnte. Wer vollends aus dem Geist nietzscheschen Schreibens philosophiert, braucht über dessen Philosophie nicht mehr zu räsonieren. So lautet das gewagte Credo eines Denkens, das in der Geste, sich aufs Spiel zu setzen (es ist dieses Spiel, das Bataille unter seiner ‚Chance‘ verstehen wird) fast vollkommen aufging: inklusive des Risikos, den reklamierten Gegenstand in der Distanzlosigkeit zu verfehlen. In der Tat wird dieses Risiko, das darin besteht, Nietzsches Eigengesetzlichkeit einzukassieren, derart offensiv in Kauf genommen, dass man an eine mittlerweile historische Wette des Autors glauben möchte: Entweder produziert er ein diffuses Amalgam zweier Privatmystizismen oder es gelingt ihm, aus der Auflösung der Konturen zwischen Subjekt und Objekt ein Schreiben auf anderer Ebene hervorzutreiben, das seine Grenzverwischung rechtfertigt. Dabei war es die eingestandene Nähe zu einer mystischen Position, die Bataille dazu bewog, den Band später in sein großes philosophisches Projekt, die Somme Athéologique einzugemeinden, die eine Zahl mystischer Texte auf der Höhe des Surrealismus versammelte. Der Anstifter dieser mystischen Position war kein anderer als Nietzsche. Auch wenn Nietzsche nie zum Gegenstand dieses furiosen Buches degradiert wird, wird er von Bataille ebenso kommentarlos wie umfassend zitiert. Bataille verwendete für seine Nietzsche-Lektüre jene 2397 von Friedrich Würzbach zusammengestellten NachlassFragmente, die in der Übersetzung von Geneviève Bianquis unter dem irreführenden Titel Volonté de puissance zunächst auf Französisch erschienen – eine Textsammlung, die trotz des gleichen Titels nicht identisch war mit den 1067 Fragmenten des Willens zur Macht. Was Bataille mit den Fragmenten anstellt, war bereits mit seinem NietzscheMemorandum angedeutet worden, das seit 1999 ebenfalls in deutscher Übersetzung vorliegt: ein Kompendium aus Nietzsche-Fragmenten, die von ihm aus Anlass des 100. Nietzsche-Jubiläums 1944 zusammengestellt und in die Somme Athéologique aufgenommen worden war. Das Nietzsche-Memorandum zeigte, dass die Geste kommentarlosen Zitierens in jenen Jahren eine ausgesprochene Konjunktur hatte. Nicht nur hatte Walter Benjamin wenige Jahre vorher dekretiert, sein Passagen-Projekt würde die Kunst des anführungslosen Zitierens zur Vollkommenheit entwickeln; ebenso inszenierte sich ein von ihm argwöhnisch observierter Philosoph aus Moskau namens Alexandre Kojève in seinen berühmt-berüchtigten Seminaren der vierziger Jahre weniger als Exeget denn als Exe-

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kutor der Phänomenologie des Geistes. Kojèves bester Schüler Bataille würde nicht nur Hegel zitierend treu bleiben, sondern auch das Drama eines Nietzsche redivivus abgeben. Was in den exzentrischen Gesten snobistischer Philosophen auf dem Spiel stand, war nicht nur die Aufkündigung des Eigenen, die jede philosophische Alterität vorwegnahm. Es war vor allem eine ernstgemeinte Fortsetzung und Radikalisierung Nietzsches unter zeitgenössischen Vorzeichen. Während Kojève meinte, nicht Napoleon Bonaparte, sondern Josef Stalin sei der Vollender der Geschichte, kommentierte Bataille die letzten Kriegstage aus seiner Gemeinschaftserfahrung mit Nietzsche heraus – ein Kommentar, der sich seines Nietzsche so sicher war, dass er es nicht nötig hatte, zu betonen, es handele sich um den gleichen Philosophen, der auch von der Gegenseite kanonendonnernd gelesen wurde. Die eklatante Differenz zwischen Batailles mystischem Nietzsche und den teutonischen Nietzsche-Mystizismen schmolz auf diese Weise derart dahin, dass auch Batailles beste deutsche Leser, wie Peter Bürger, von einer mystischen Allianz zwischen beiden räsonieren konnten. Dabei war der Abgrund zwischen beiden Nietzsche-Lektüren nicht nur bereits in den Beiträgen des Acéphale herausgearbeitet worden, eine Bemühung, die von dem Aufsatz Nietzsche und der Nationalsozialismus im vorliegenden Band fortgeführt wird. Bereits die ironisch-verzweifelte Geste Batailles in seiner Rede über ‚Herrn Nietzsche‘ sowie die grellen Gesten seiner Adaption lassen jede Allianz ausgeschlossen erscheinen. Für stramm nationalsozialistische Nietzsche-Exegeten konnte Batailles stammelndes Nietzsche-Delirieren nichts anderes bedeuten als entartete Philosophie. Batailles delirierende Nietzsche-Adaption war noch mit einer anderen Rezeption unverträglich, die auf ihre Weise stille Komplizenschaft (oder Opferschaft) mit der nationalsozialistischen offenbart: mit der bundesdeutschen Nietzsche-Rezeption, die 1945 einsetzt. Auch wenn ihre inhaltlich-ideologiekritischen Vorzeichen erfolgreich alle Zeichen des Schreckensregimes ins Gegenteil verkehrten, so fallen aus heutiger Perspektive, im Vergleich zu den surrealistischen Nietzsche-Exzessen, formale Korrespondenzen ins Auge, mit denen niemand radikaler aufräumen sollte als Bataille. Mit dem Festhalten an der transzendentalen Aufhängung des Geschriebenen, an der Suche nach Sinn und Bedeutung, an der Botschaft Nietzsches, ist die Rezeption aus dieser Perspektive hinter Nietzsche zurückgefallen. Umgekehrt lässt Batailles freizügiger Umgang mit Nietzsche, der an keiner Stelle auf Kosten philosophischer Einsichten ging, erkennen, in welchen Kanälen Weiterführungen der Nietzscheschen Philosophie im 20. Jahrhundert auch auf nichtfranzösischen Seiten hätten verlaufen können. Batailles waghalsiger Parcours der Nietzsche-Adaption ist dem genau entgegengesetzt, den die deutschsprachige Nietzsche-Rezeption einschlagen sollte – was dazu führte, dass er bei seinen ideologiekritisch geschulten deutschsprachigen Lesern über Generationen nichts als Kopfschütteln erntete. Es ist kein Wunder, dass sein Meilenstein der Nietzsche-Rezeption heute erst mit über fünfzigjähriger Verspätung erscheint. Während die Leser Nietzsches diesseits des Rheins sich nach der faschistischen Vereinnahmung vor allem auf kritische Sichtung und neutrale Bestandsaufnahmen beschränkten, mussten Gesten der Adaption und des Anschlusses ausfallen. Es bleibt selbst für seine Leser jenseits des Rheins bemerkenswert, die faschistische Vereinnahmung des Philosophen mit dem Hammer nicht mit nüchterner Versachlichung, sondern mit systematischer

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Distanzlosigkeit zu beantworten. Mit der surrealistischen Dissidenz wurde Nietzsche von der Gegenseite vereinnahmt – ein nicht unriskantes Unternehmen, bei dem das Gift zum philosophischen Gegengift zeitgenössischer französischer Philosophie wurde. Gemäß der unakademischen Maxime, man könne Nietzsche nicht lesen, ohne ein Stück weit Nietzsche zu werden, geriet Batailles Nietzsche-Buch zu einer Art Versuchsanordnung in eigener Sache, zu einer Nietzscheforschung an der eigenen Person. Dabei verfehlt man die Vertauschung von Subjekt und Objekt der Forschung, wenn man sie nur als subjektivistische Aneignung oder dreiste Idee sehen würde. Umgekehrt verstehen sich Batailles Expeditionen in die Welt der ewigen Wiederkehr, aus der die Wiederkehr Nietzsches in der eigenen Person abgeleitet wird, als konsequente Ausführungen Nietzschescher Einsichten. Der Witz und methodische Clou von Sur Nietzsche besteht darin, dass der Verzicht auf die Objektposition des Gegenstandes, Nietzsche, sich als Konsequenz aus dessen eigener Philosophie verstand. Bataille trug nicht von außen eine methodische Invektive an Nietzsche heran, er las von innen eine Bewegung an Nietzsche ab, die er selber sich auszuführen autorisierte. Darin bestand seine ProtoDekonstruktion. Er schrieb kein Buch ‚über‘ jemanden, sondern etwas ‚aus ihm heraus‘. Er ließ Nietzsche als Gegenstand fallen, weil die Auflösung jedes Gegenstandsbezugs – jeder transzendentalen Referenz – den Kern von Nietzsches Philosophie ausmachte. Was sich im Verhältnis eines unschuldigen ‚über‘ zu seinem Gegenstand austrug, war nichts weniger als die buchgewordene Unterlaufung jeder transzendentalen Referenz, auf die er im Namen einer mystischen Erfahrung verzichtete. Batailles Nietzsche-Rezeption war esoterisch im besten Sinn des Wortes: Sie verhielt sich so esoterisch, wie es ihrem Gegenstand angemessen zu sein schien, d.h. sie verhielt sich zu keinem Gegenstand. Bataille schrieb kein Buch ‚über‘ Nietzsche, weil dessen Philosophie von der Motivation getragen war, jedes Herrschaftsverhältnis auszulöschen. Diese Auslöschung jedes Gegenstandsverhältnisses sah sich im Einklang mit Nietzsches Philosophie und wurde von Bataille paradoxerweise durch seine durch Kojève vermittelte Rekonstruktion Hegelscher Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft gewonnen: Wenn das Gegenstandsverhältnis ein Herrschaftsverhältnis ist und Nietzsches Schreiben sich gegen jede Art von Herrschaft und Unterdrückung auflehnte, dann muss, wer Nietzsche folgen will, auch dieser Bewegung der Auflehnung folgen und darf ein Buch ‚über Nietzsche‘ nicht schreiben. Wer Nietzsche treu sein will, wer das Ressentiment aus seinem Schreiben löschen will, darf am Ende überhaupt nicht mehr über etwas schreiben. Diese Position einer herrschaftslosen Herrschaft, mit der Bataille Hegel unterbietet, um Nietzsche gerecht zu werden, nannte er Souveränität; tatsächlich war, was sich im Verlauf eines Werkes wie Sur Nietzsche ereignete, nicht nur die Ablösung vom übermächtigen Schatten Hegels, hinter dem die schattenlose Philosophie Nietzsches aufleuchtete; es war auch das Drama eines souveränen Buches mit Nietzsche, das über ihn nicht sein durfte. Batailles heikle Position einer Nachfolge zu Nietzsche hätte nicht die bekannten Wirkungen entfaltet, hätte sie nicht mit einer in der Ästhetik des 20. Jahrhunderts neuen Operation aufgewartet: Bataille hat die philosophische Problematik der Referenz unmittelbar an die des Schreibens gekoppelt. Nicht ohne Grund war er einer der Schreibenden seines Jahrhunderts, an deren aufnahmefähiger Schrift die Bewegung einer écriture

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exemplarisch entfaltet werden konnte. Es war die ungewöhnliche Durchlässigkeit eines Schreibens für die beschriebenen philosophischen Probleme, die zu einer eigentümlichen Wirksamkeit führte: Während die haarsträubendsten philosophischen Einsichten anderer Autoren derselben Zeit folgenlos an deren Schreibweisen vorbeirauschten, konnte ein philosophisches Problem wie das der Referenz eine andere Schrift vollkommen verwüsten. Batailles philosophisches Hauptwerk Somme Athéologique liest sich wie ein Einschlagfeld philosophischer Meteoriten, das bei keinem Autoren derart zerklüftet erscheint wie anlässlich der Adaption Nietzsches, der sich selbst durch seine Einschlagsgewalt definierte wie der philosophische Hammer. Die Vervielfachung von Einschlagquotienten ist jedoch nicht der einzige Ertrag von Batailles Nietzschenachfolge. Seine Position wäre unsouverän, wäre sie nur Nachfolge, deren Nachbarschaft zur Unterwerfung, wenigstens in der Perspektive Kojèves, offensichtlich war. Tatsächlich ergab sich Batailles Eindruck einer Gemeinschaft mit Nietzsche aus der Fülle geteilter Motive, die das Nietzsche-Buch durchziehen: Die Überwindung von Ressentiment und Reaktion, der Eindruck von Luzidität und Selbsterleuchtung, die Verfolgung von Rausch und Raserei, schließlich „moralische Unruhe“ (Bataille) und ‚dionysischen Zustände‘ (Nietzsche), die bei letzterem die Theorie und bei Bataille die Lebenspraxis betrafen. Während sich Nietzsche Schaum vor den Mund schrieb, entwickelte Bataille eine schaumgeborene Philosophie, so glitzernd und reizvoll wie Aphrodite selbst. Die Hochstimmungsschreiberei, die den einen Lehrstühle kostete und den anderen zu lebenslanger Depression verurteilte, war nur ein Ertrag aus den hysterischen Hochdruckzonen des Denkens. Neben dem performativen Ertrag eines gemeinsamen Philosophierens, das sich aus der Gemeinsamkeit mit Nietzsche ergab, existierte ein veritabler philosophischer Ertrag euphorischen Denkens. Aus euphorischer Erfahrung von Gemeinschaft, die als communauté geraume Zeit im französischen Denken des 20. Jahrhunderts gastieren sollte, nahm sich Bataille die Freiheit einer nicht unbeträchtlichen Korrektur: Er entwickelte Nietzsches ‚Willen zur Macht‘ stillschweigend zum ‚Willen zur Chance‘ weiter, der im Untertitel seines Nietzsche-Buchs erscheint. Er setzte nicht mehr auf eine verdächtig gewordene Macht, sondern auf den hoffnungsvoll schillernden Zufall, den er einige Jahre vor den Philosophien der Kontingenz aus dem Hut zauberte. Es ist der Begriff der ‚Chance‘, des Zufalls, der von Nietzsche übernommene, aber von Bataille gesetzte Begriff, an dem das Vorgehen des Nietzsche-Buches am deutlichsten wird. Bataille leitete seine ‚Chance‘ aus dem Zarathustra-Wort vom „raubenden Löwen“ und dem „Kinde“ ab (KSA, ZA, 4, 31). Während aber Nietzsche seine Philosophie des Willens zur Macht aus der Perspektive des raubenden Löwens entwickelt hätte, setzte der Surrealist Bataille auf das Kind: „Der Wille zur Macht ist der Löwe, aber ist das Kind nicht ein Wille zur Chance?“ (200). Wie Bataille in seiner Rekonstruktion der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft das Augenmerk auf den von Hegel vernachlässigten Herrn verschoben hatte, verschob er in der Adaption des Zarathustra-Wortes die Perspektive auf das von Nietzsche seiner Auffassung nach vernachlässigte Kind. Es ging jedoch nicht allein um Verschiebungen zwischen Begriffspersonen. Batailles Konzeption eines ‚Willens zur Chance‘ bedeutete die Weiterentwicklung und Radikali-

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sierung Nietzsches. Mit der ‚Chance‘ entwickelte er nicht nur ein Motiv weiter. Er setzte einen philosophischen Begriff mit eigener Mächtigkeit, der der Nietzscheschen Denkbewegung möglicherweise gerechter wurde als es die Konzeption des ‚Willens zur Macht‘ selbst vermochte. Schließlich reicht die Konzeption der ‚Chance‘ weit über die surrealistischen Spielereien hinaus, die man auf den ersten Blick mit ihr verbinden mag. Als Gegenbegriff zur Notwendigkeit nimmt sie Nietzsches Kritik an zweckrationaler Bestimmung des Denkens ebenso auf wie dessen Verwerfung planender und Notwendigkeit herstellender Aktivität der Ratio. Batailles ‚Chance‘ zielt auf Nietzsches Auslieferung der Existenz an unbekannte und unkontrollierbare Kräfte, auf das amor fati. Ihre Spannung bezieht die Konzeption eines ‚Willens zur Chance‘ nicht nur durch die Anlehnung am ‚Willen zur Macht‘, sondern auch durch die Reibung zwischen den Welten des Zufalls und des Willens. Bataille verschränkte beide derart, dass bei der ‚Chance‘ die Bereitwilligkeit herauskam, sich dem Spiel des Zufalls überlassen zu wollen. Knut Ebeling

Personenverzeichnis Kursiv gesetzte Seitenzahlen beziehen sich auf den Fußnotentext

Abel, G. 281 Abravanel, E. 133 Ackermann, R. 248–249, 254 Adorno, T. W. 78, 195–199, 265 Agell, F. 61 Aguilar, D. 94 Aischilos 226–227 Albrechtsberger, J. G. 99 Allison, D. B. 221, 222 Altmann, A. 149, 150, 152, 204, 205, 208 Alypius 226 Anaximander 222 Anderson, W. D. 226 Andler, C. 258 Andreae, B. 233 Andreas-Salomé, L. 43, 108–109, 222 Ansell-Pearson, K. 262 Anstett, J.-J. 247 Appel, F. 251 Aristipp 68 Aristoteles 224, 225, 228 Ascheim, S. 262 Auerbach, L. 84 Babich, B. E. 223, 238, 281 Bach, J. S. 40, 42, 82, 85, 87, 89, 93, 96–97, 102 Baeumler, A. 253 Barbera, S. 284 Barbieri, G. F. 277Barth, R. 81 Barth, U. 81 Bataille, G. 286, 295–301 Bauch, B. 286

Baudelaire, C. 21, 135 Beam, C. 117 Beauvoir, S. de 261 Beethoven, L. van 42, 44, 48, 85, 87–88, 93, 96–97, 99, 101, 104, 272, 273–274 Beetz, M. 274 Behler, E. 247 Bellermann, J. F. 226 Bellini, V. 277 Bely, A. 240 Benigni, R. 265 Benjamin, W. 20, 285, 286 Benn, G. 183 Benne, C. 285 Berlioz, H. 43 Bertram, E. 222, 276 Beyer, A. 277 Bianquis, G. 297 Biemel, W. 237 Binswanger, O. 108 Bittner, R. 201 Bizet, G. 15, 276–277 Blanchot, M. 296 Bloom, A. 230, 247, 253–256 Boccioni, U. 235 Boetticher, C. 232 Bolz, N. 142 Börne, L. 212–218 Boscovich, R. G. 282 Bossuet, J. B. 229 Boyd, B. 239 Brahms, J. 17, 40, 43, 106, 111 Brancusis, C. 237

304 Brandes, G. 13, 16, 18, 285, 286 Bretz, M. 250–251 Breuer, J. 285 Brinton, C. 253 Brockhaus, H. 102 Broisson, I. 119, 126 Bröse, K. 149 Brusotti, M. 134, 151, 207 Buddensieg, R. 52 Bülow, H. v. 34, 40, 42, 47, 88, 93, 102, 106– 107, 108 Bürde-Ney, J. 101 Bürger, P. 298 Burkert, W. 232 Burton, R. 124 Butler, J. 171, 173, 174 Byron, G. G. 22, 88, 135 Campioni, G. 284 Cancik, H. 110 Carlyle, T. 257 Carroll, L. 230 Carus, P. 252 Caysa, V. 176 Chamisso, A. v. 46, 100 Chopin, F. 43, 85, 89–90, 111 Clark, M. 250 Colli, G. 25, 39, 194, 269, 283, 290, 292 Conway, D. W. 73, 263–264 Cordemoy, G. de 229 Corngold, S. 254 Cox, C. 251 Cummings, E. 249 D’Albrechtsberger, M. 40 D’Iorio, P. 287 Dahlhaus, C. 53, 55, 56 Dante 15, 272 Danto, A. 250 Daviet-Taylor, F. 93 Debussy, C. 15, 89 Deiter, H. 51 Del Litto, V. 133 Deleuze, G. 166, 167

Personenverzeichnis Delibes, L. 15 Demokrit 16 Derrida, J. 260–261 Descartes, R. 120, 265 Detienne, M. 232 Deussen, M. 100 Deussen, P. 99, 101 Diogenes Laertius 148 Diprose, R. 261–262 Dobler, C. 94 Dolson, G. N. 252 Doni, G. B. 30 Dörpinghaus, A. 130 Dostojewski, F. M. 191, 239 Doujat, J. 229 Dowd, M. 253 Dreiser, T. 249 Du Moulin-Eckard, R. 104 Dufour, E. 56–58 Dühring, E. 285 Eckermann, J. P. 277 Ehrenforth, K. H. 60 Eichner, H. 247 Eliot, T. S. 249 Ellrich, L. 254 Emerson, R. W. 252–253, 256–259, 282 Emmerich, A. 285–286 Empedokles 132, 222 Engelhardt, M. 37 Engelmann, W. 54 Epiktet 222 Epikur 68, 222 Erni, M. 94 Euripides 26, 45, 226, 245 Evans, A. J. 232 Everett, C. 252 Exner, F. 54 Fambrini, A. 286 Fietz, W. 54 Fléchier, E. 229 Fleischer, M. 117 Förster-Nietzsche, E. 100–101, 285–286, 292

Personenverzeichnis Foucault, M. 171, 224, 248, 262 France, A. 239 Frazer, J. G. 232 Freud, S. 221, 260, 285 Friedl, H. 211 Fritsch, T. 285 Fürbeth, O. 61 Gadamer, H.-G. 224, 236–237 Gallilei, V. 71 Gangl, M. 93 Gaskell, I. 73 Gast, P. 40, 47, 49, 90, 93–94, 108, 277 Gatz, F. M. 53 Geibel, I. 102 Gerber, G. 223 Gerhardt, V. 281 Gerigk, H.-J. 191 Gerratana, F. 131 Gersdorff, C. v. 34, 51, 102, 104–105 Gide, A. 49 Gluck, W. 86 Goethe, J. W. v. 20, 40, 42, 87, 214–116, 218, 222, 233, 272, 274, 276, 277 Gössmann, W. 211 Gracian, B. 222 Greybeal, J. 260 Grillparzer, F. 17 Grimm, J. 152 Grimm, W. 152 Grimshaw, J. 260 Groddeck, W. 52 Groth, K. 46, 99 Grottanelli, C. 286 Guillebaud, J.-C. 176 Günzel, S. 147, 152, 281, 283, 293 Gussenbauer, C. 294 Gutzkow, K. 215 Haase, M.-L. 283 Hadot, P. 224 Hagenbach, C. R. 104 Hamsun, K. 239 Händel, G. F. 85, 89, 97, 101

305 Hanslick, E. 34, 51–52, 54–58 Haraway, D. 264 Hartmann, E. v. 27, 29, 31–32, 34, 131–132, 135 Haskin, C. 265 Hasse, J. A. 23 Haydn, J. 85, 93, 97 Heftrich, U. 191 Hegar, F. 107 Hegel, G. W. F. 29, 193–197, 298–300 Heidegger, M. 113, 205, 231, 235–236, 260 Heidemann, I. 206 Heine, H. 135, 211–218 Heller, A. 262 Hemingway, E. 249 Heraklit 36, 222, 259 Herder, J. G. 233, 277 Herrmann, F.-W. v. 237 Hersey, G. 233 Herzen, O. 105 Heston, C. 266 Higgins, K. 248, 264–266 Hillebrandt, B. 183, 211 Hiller, F. 101 Hitler, A. 253 Hödl, H. G. 52–53 Hoffmann, D. M. 287 Hoffmannsthal, H. v. 47 Hofmann, D. V. 250–251 Höhn, G. 214, 217 Hölderlin, F. 222, 230–231, 235–238 Hollingdale, R. J. 248 Homer 102, 225 Hong, W. 16 Horkheimer, M. 196 Hornbostel, E. M. v. 58 Huet, P.-D. 229 Humboldt, W. v. 225 Hume, D. 117–120, 122–125. 127 Hummel, J. N. 40 Hunt, L. H. 250 Hütig, A. 169 Illich, I. 224

Personenverzeichnis

306 Irigaray, L. 262 Ivanov, V. 240 Jahn, O. 51 Jähnig, D. 71, 237 Jans, H.-J. 94 Jansen, G. 212 Janz, C. P. 17, 39, 51, 93–94, 97, 99, 100, 101, 102, 105, 106, 109–110 Jasper, W. 215 Johnson, P. 262 Joisten, K. 150, 153, 185, 186, 187, 202, 205, 206 Jomelli, N. 23 Jourda, P. 133 Joyce, J. 230 Kampers, D. 142 Kant, I. 113, 173, 176, 194, 222, 281, 291 Kaufmann, W. 187, 211, 216–217, 248, 251– 253 Kaulbach, F. 178, 281 Kemal, S. 73 Ketelborn, L. 41 Kiesewetter, R. G. 81 Kilger, G. 37 Kingsley, P. 232 Klages, L. 286 Kleist, H. v. 18, 281 Kluge, F. 152 Knoepffler, N. 71 Koelb, C. 263 Kofman, S. 263 Kojève, A. 297–300 König, T. 156 Köselitz, H. 14–18, 23, 293, 294 Kraus, K. 217 Krell, D. 262, 263 Kremer-Marietti, A. 222 Kristeva, J. 260 Kropfinger, K. 52 Krug, G. 23, 43, 88, 98, 104–105 Kruse, J. A. 214 Kubrick, S. 265

Kuhn, E. 129 Kuhn, T. 282 Kundera, M. 265 Kunz, C. 94 Lang, M. 94 Le Doeff, M. 260 Le Rider, J. 284 Lehmann-Haupt, C. 266 Leiter, B. 125, 126 Lenau, N. 135 Lenzewski, G. 94 Leopardi. G. 135, 222 Leppmann, F. 216 Lessing, G. E. 233, 245–246 Liébert, G. 30, 56, 61, 62, 69–70, 103, 113 Lindner, E. O. 30 Lippiner, S. 285 Liszt, F. 43, 83, 85, 99, 102, 111 Livry, A. 239 Loebs, P. 222 Löhneysen, W. Frhr. v. 131 London, J. 249 Lorrain, C. 269, 276–277 Louis de France 229–230 Louis XIV. 229 Love, F. 51 Lukács, G. 262 Luther, M. 215 MacFarquar, L. 254 Machiavelli, N. 222, 229 Magee, B. 130 Magnus, B. 59, 248 Makell, T. 94 Malter, R. 130 Mann, T. 183, 216, 288–290 Marc Aurel 222 Marin, N. 269 Marx, K. 196, 221 Mathiesen, T. J. 226 Maurer, R. 195 McCuller, C. 183–185, 187–191 Mencken, H. L. 249, 253

Personenverzeichnis Mendelssohn Bartholdy, F. 34, 40, 85–86, 93, 97 Menuhin, Y. 95 Merleau-Ponty, M. 191 Mette, H. J. 96, 237 Meyer, T. 70 Meyerbeer, G. 101 Meyer-Sickendiek, B. 277 Meysenbug, M. v. 34, 104–105, 108, 284– 285 Michelangelo 233, 235 Miller, F. J. 233 Miller, N. 277 Milton, J. 122, 254 Mittmann, T. 285 Mole, A. 250 Moliere, J. B. 254 Moneta, G. 238 Monod, G. 105 Montinari, M. 25, 39, 110, 269, 283, 290, 292 Moore, G. 136 Mottl, F. 104 Mozart, W. A. 23, 40, 79, 85, 90, 93, 96–97, 102, 277 Muller, D. 133 Müller-Bück, R. 285 Müller-Lauter, W. 267, 281 Murray, N. 252 Musil, R. 183 Mussolini, B. 253 Nabokov, V. 239–246 Nalewski, H. 14 Napoleon Bonaparte 291, 298 Nehamas, A. 250, 251, 254, 262 Newton, I. 119 Nietzsche, Franziska 96, 100–101 Norberg-Schulz, C. 237 Nordau, M. 135–136, 251 Nussbaum, M. C. 72, 73, 263 O’Hara, D. 255 O’Neill, E. 249 Oehler, E. 98

307 Oehler, M. 117 Offenbach, J. 15, 102 Oliver, K. 263–264 Opel, F. 264 Osborne, C. 230 Osthövener, C.-D. 81 Ott, L. 21–22 Ottmann, H. 147, 290 Overbeck, F. 104, 246, 258, 276 Palestrina, G. P. da 30, 40, 79, 82, 98 Palladio, A. 238 Parkes, G. 62 Parks, G. 248 Pascal, B. 118 Patti, A. 101 Patton, P. 264 Pauen, M. 130, 131 Paul, J.-M. 93 Pearsall, M. 264 Pellauer, D. 62 Penelhum, T. 119 Perelli, F. 286 Pernet, M. 94 Petendi, G. 94 Petit-Emptaz, A.-S. 93 Petöfi, S. 46, 100 Petrobelli, P. 37 Philo 117 Picard, C. J. 263 Piccini, N. 86 Pieper. A. 204, 209, 210 Pindar 222, 225 Pinder, W. 98, 105 Platon 47, 59–62, 65, 66, 75–76, 148, 149, 150, 204, 222, 236, 242–243, 294 Plinius 233, 236 Plotin 67 Polanski, R. 265 Pöltner, G. 52 Pott, A. 233 Pound, E. 249 Poussin, N. 269, 277 Prossliner, J. 290

308 Proust, M. 193 Puschkin, A. 46, 100 Pütz, M. 248–249, 254 Raabe, H. 102 Rawls, J. 251 Redtel, A. 99 Reé, P. 222 Reginster, B. 204, 207 Reijen, W. van 142 Reschke, R. 195, 211 Ressel, G. 191 Richter, H. 104 Richter, S. 233 Ricoeur, P. 221, 224 Riemann, H. 17 Riethmüller, A. 226 Rihm, W. 94 Rilke, R. M. 14, 236–237 Rippmann, I. 215 Rippmann, P. 215 Risse, M. 205 Ritschl, F. W. 101, 223 Robbins, B. 254 Roberts, T. 251 Rohde, E. 44, 61, 101–102, 104–105, 222 Rorty, R. 251, 254, 262 Rosenthal, A. 94, 109 Rosenthal, M. 94 Rossbach, R. 226 Rossini, G. 79, 102, 277 Rousseau, J.-J. 43, 225, 229 Rückert, F. 46, 99 Russell, B. 230 Sachs, C. 226 Saint-Pierre, P. de 229 Saint-Saens, C. 15 Salaquarda, J. 248 Sallis, J. 250 Santayana, G. 252 Sartre, J.-P. 155–160 Schaap, S. 151, 153, 165, 202, 205, 208 Schacht, R. 201, 203, 249, 260, 266

Personenverzeichnis Scheliha, A. v. 81 Schellong, D. 86 Scherzer, J. 61 Schestov, L. 240 Schiller, F. 48, 176, 269–275, 277 Schlaffer, H. 277 Schlechta, K. 94 Schlegel, F. 247 Schleiermacher, F. D. E. 84, 150 Schmidt, B. 59, 74 Schmidt, R. 150 Schmidt-Biggemann, W. 141 Schnack, E. 183 Schneider, R. 79 Schnitzler, A. 265 Schopenhauer, A. 13, 17, 32–33, 48, 51, 53, 55–57, 63, 101–102, 113, 129, 131–135, 221, 222, 242, 244–245, 258, 272, 281, 283 Schrift, A. 250, 251 Schubert, F. 17, 40, 85, 93, 97 Schulze, I. 276 Schumann, C. 101 Schumann, R. 17, 46, 85, 88–89, 100, 106, 111 Schuster, M. O. 54 Schütte, J.-P. 81 Schutte, O. 263 Schütz, H. 89 Scully, V. 233 Shakespeare, W. 39, 254, 270–271, 288 Shaw, G. B. 17 Siemens, H. 251 Silk, M. S. 73 Simonsen, K. 286 Sloterdijk, P. 140, 144 Small, R. 222 Smith, N. K. 117 Sokel, W. 253 Sokrates 26–27, 120, 222, 243, 245, 294 Solomon, R. C. 203, 208, 266 Soloviov, V. 240 Sonoda, M. 184 Sophokles 222, 227 Sorgner, S. L. 61, 63, 65, 66, 67, 71, 72, 75

Personenverzeichnis Spencer, H. 211, 216, 217 Spinoza, B. 284 Spitteler, C. 17 Stack, G. J. 256–259, 281–284 Staten, H. 250, 251 Stegmaier, W. 165, 184, 186, 203, 205 Steiert, T. 86 Steilberg, H. A. 247–248, 251–253 Stendhal 133 Stern, F. 247, 250 Stern, J. P. 73 Stevens, W. 249 Stingelin, M. 171 Stocker, J. 104 Storm, C. 94 Strauß, D. 55 Strauß, D. F. 85, 101 Strauss, R. 47 Strauss, S. 212 Strindberg, A. 286 Sugarman, R. I. 204, 205, 208 Thiele, L. P. 250 Thomas, A. 15 Thomas, D. 251 Tiedemann, R. 196 Tiefenbacher, T. 94 Tongeren. P. van 290 Toynbee, A. 258 Tschernychevski, N. 243–245 Türcke, C. 142 Uhland, L. 215 Ulbricht, J. 286 Vaihinger, H. 286 Valadier, P. 123 Valéry, P. 49 Vattimo, G. 284 Velde, H. van der 285 Venturelli, A. 27, 34, 37 Verdi. G. 85, 102

309 Vergil 277 Vetter, H. 52 Veyne, P. 232 Vidal, V. 195 Vitruv 238 Vogel, M. 104 Volpi, F. 284 Voltaire 21, 118, 135, 242 Wagenknecht, C. 217 Wagner, C. 88, 103–104 Wagner, R. 13–23, 25–26, 29–30, 34–35, 37, 39–40, 42–45, 51–54, 58, 64, 65, 77, 81– 83, 85–86, 88, 90–91, 99, 101–104, 106– 107, 111, 113–114, 134, 222, 225–226, 269–270, 272–276, 285, 286 Wallrup, E. 13, 18 Warren, M. 251, 262 Weber, M. 285 Weber-Colonius, E. 66 Weiß, J. 285 West, M. 226 Westphal, G. 94 Westphal, R. 226 White, A. 250 White, R. 251 Whitman, W. 252 Wickelmann, J. J. 233, 234 Widemann, P. 109 Wiese, B. v. 270 Windfuhr, M. 211 Windisch, E. 102 Wohl, J. 212 Würzbach, F. 297 Young, J. 75, 76, 130 Zaminer, F. 226 Zapf, H. 248, 254–257 Zelter, K. F. 87 Ziemke, H.-J. 212 Zimmermann, M. 53, 56

Autorenverzeichnis

Babette E. Babich Department of Philosophy Fordham University 113 West 60th Street 925H or 914 New York, NY 10023 USA Diana Behler University of Washington Department of Germanics Box 35 31 30 Seattle, WA 98195-31 30 USA Peter André Bloch Gallusstr. 30 CH – 4600 Olten Ivan Broisson FUNDP rue de Bruxelles 61 B – 5000 Namur Volker Caysa An der Selz 20 D – 55278 Köngernheim Tobias Dahlkvist Institutionen för idé- och lärdomshistoria Box 629 S – 75132 Uppsala Knut Ebeling Greifenhagener Str. 53 D – 10437 Berlin

Rüdiger Görner University of London Institute of German Studies 29, Russell Square, 1 London WC 1 B 5 DP Great Britain Tobias Grave Kochstr. 30 D – 04275 Leipzig Daniel Heblik Eichendorffstr. 57, App. 4 D – 55122 Mainz Andreas Hütig Johannes Gutenberg Universität Mainz Philosophisches Seminar Jakob-Welder-Weg 18 D – 55099 Mainz Oliver Immel Johannes Gutenberg Universität Mainz Philosophisches Seminar Jakob-Welder-Weg 18 D – 55099 Mainz Christoph Landerer Universität Salzburg Fachbereich Philosophie Franziskanergasse 1 A – 5020 Salzburg

Georges Liébert Editions Gallimard 5, rue Sébastian-Bottin F – 75007 Paris Anatoly Livry 24, rue David d’Angers F – 75019 Paris Martine Prange Institute for Philosophy Oude Boteringestraat 52 NL – 9712 GL Groningen Renate Reschke Schmollerstr. 9 D – 12435 Berlin Mattia Riccardi Stephanstr. 14 D – 10559 Berlin Dieter Schellong Darfeldweg 31 D – 48161 Münster Hans-Gerd von Seggern Ansbacher Str. 72 D – 10777 Berlin Stefan Lorenz Sorgner Mittelstr. 47 D – 07745 Jena Nicole Thiemer Nackstr. 53 D – 55118 Mainz

Autorenverzeichnis

312 Aldo Venturelli VILLA VIGONI Deutsch-Italienisches Zentrum Centro Italo-Tedesco Via G. Vigoni 1 I – 22017 Menaggio (CO)

Vanessa Vidal Mayor Universitat de València Departament de Metafisica i Teoria del Coneixement Facultat de Filosofia i Ciències de l ´Educació Avgda, Blasco Ibánez, 30 46010 València Spanien

Christine Waldschmidt Frankenstr. 47 D – 63128 Dietzenbach Stefanie Winkelnkemper Brunnenstr. 48 D – 40223 Düsseldorf