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German Pages [297] Year 2009
Nietzscheforschung Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft Band 11 Antike und Romatik bei Nietzsche
Nietzscheforschung Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft
Band 11
Antike und Romantik bei Nietzsche Herausgegeben Volker Gerhardt und Renate Reschke von
in Zusammenarbeit mit
J0rgen Kjaer Jacques Le Rider Annemarie Pieper Robert B. Pippin und Vivetta Vivarelli
Akademie Verlag
Drucklegung erfolgte mit Unterstützung der Landesregierung Sachsen-Anhalt (Regierangspräsidium Halle)
Die
Einbandgestaltung unter Verwendung eines Ausschnitts aus einem Exlibris für Torsten Unger von Olaf Gropp (Magdeburg). Mit Genehmigung des Künstlers. Redaktion: Veit
Friemert, Julia Niemann, Jan Prause
ISBN 3-05-004049-1
© Akademie Das
Verlag GmbH, Berlin 2004
eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.
Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. -
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Satz: Veit Friemert, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus
Printed in the Federal
„Thomas Müntzer", Bad Langensalza
Republic of Germany
Inhaltsverzeichnis
Siglenverzeichnis I. Nietzsche und die Romantik
Jahreshauptversammlung der Nietzsche-Gesellschaft, Naumburg, 17.-19. Oktober 2003 13.
Steffen Dietzsch Karl Joëls Nietzsche und die Romantik neu
gelesen.
13
Dirk von Petersdorff Nietzsche und die romantische Ironie.
29
Violetta L. Waibel Hölderlin und Nietzsche über Philistertum und wahre Bildung.
45
Justus H. Ulbricht
Neuromantik
Ein
Rettungsversuch der Moderne mit Nietzsche.
63
-
II.,,[...] gegen die Verlogenheit von Jahrtausenden"? Friedrich Nietzsche und seine Interpreten VIII. Internationales Dortmunder Nietzsche-Kolloqium 6.-8. August 2003 Andreas Urs Sommer Jesus gegen seine Interpreten oder Die Hermeneutik der Urteilsenthaltung Pilatus und der „Typus des Erlösers".
75
Johann Figl Nietzsche und die
87
Religionsstifter.
Inhaltsverzeichnis
6
Hans-Martin Gerlach Nietzsche im linken und rechten Zerrspiegel. Volker Caysa Nietzsches Kritik der Macht und die Macht der Kritik nach Nietzsche Kurt Jauslin Ordnung schaffen Lesarten zu Nietzsches
....
97 107
Genealogie der Moral.115
Volker Ebersbach „Denn zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit giebt es keinen nothwendigen Gegensatz" Friedrich Nietzsche und die Verleumdungen des Erotischen in der Liebe Jason M. Wirth Nietzsches Fröhlichkeit Gibt es etwas, über das absolut nicht mehr gelacht werden darf?
...
129
.143
Erwin Hufnagel Déformation professionelle Zur Rezeption Friedrich Nietzsches in der Phänomenologie Max Schelers
...
153
Pia Daniela Volz Wahrsinn oder Wahnsinn? Nietzsche als Objekt belletristischer Begierde.175 Karen Joisten Wie viel Nietzsche verträgt der Interpret? oder Der Weg vom Verstehen über das Verstehen hinaus.193
III. Nietzsche und die Griechen
Nietzsche-Werkstatt, Schulpforta, 10.-13. September 2003 11.
Matthew H. Meyer Die Einheit der Gegensätze als
tragisches Prinzip.205
Enrico Müller
Politik, Sophistik und Philosophie im Zeitalter der
athenischen Demokratie nach Nietzsche.213
Ole Schütza Nietzsche und
Thukydides Thukydides' Herleitung des „Allgemein-Menschlichen" aus dem Besonderen seiner Geschichtsschreibung und deren Rezeption durch Nietzsche.223
Inhaltsverzeichnis
1
Konstantin Broese Nietzsche und die antike Aufklärung Nietzsches kritische Auseinandersetzung mit Demokrit in seiner Leipziger Studienzeit vor dem Hintergrund seiner Lange-Rezeption.231
Christian Wollek Nietzsche und das Problem des Sokrates.241
IV. Aufsätze Arno Boehler Nietzsches virtuelle
Wanderung im Sprachzeitraum des „Gefährlichen Vielleicht".251 Axel Schubert Die Genesung des Zarathustra
eine
Epikrise.265
-
Martin Pernet Eine Quelle für Nietzsches christliche Herkunft Der Briefwechsel seines Vaters mit Emil Julius Schenk
.279
V. Rezension Martin Heidegger, Zur Auslegung von Nietzsches II. Unzeitgemäßer Betrachtung. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben ', Freiburger Seminar Wintersemester 1938/39, {Stephan GünzeT).299 ,
Personenverzeichnis
.305
Autorenverzeichnis.313
Siglenverzeichnis
Werkausgaben den Kritischen Werk-/Briefausgaben zino Montinari, Berlin/New York 1967ff. und 1980.
Werkausgaben nach KGW KGB KSA KSB
Kritische Kritische Kritische Kritische
Giorgio
Historisch-Kritische Historisch-Kritische
Gesamtausgabe
Werke bzw. Briefe, München
Gesamtausgabe, Werke Gesamtausgabe, Briefe
Siglen einzelner Werke AC BA CV DD DS DW EH FW GD
Colli und Maz-
Gesamtausgabe, Werke Gesamtausgabe, Briefe Studienausgabe, Werke Studienausgabe, Briefe
sowie nach der Historisch-Kritischen 1933ff. HKGW HKGB
von
Der Antichrist
Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten
Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern
Dionysos-Dithyramben
David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller
(Unzeitgemäße Betrachtungen 1) Die dionysische Weltanschauung Ecce homo
Die fröhliche Wissenschaft
Götzen-Dämmerung
10
Siglenverzeichnis
GG GM GMD GT HL
Die Geburt des tragischen Gedankens Zur Genealogie der Moral Das griechische Musikdrama Die Geburt der Tragödie Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben
IM
(Unzeitgemäße Betrachtungen 2) Idyllen aus Messina
JGB M MA MD NF NH NW PHG
SE SGT ST VM WA WB WL
WS WzM ZA
Jenseits
von
Gut und Böse
Morgenröthe
Menschliches, Allzumenschliches (I und II)
Mahnruf an die Deutschen
Nachgelassene Fragmente Ein Neujahrswort an den Herausgeber der Wochenschrift Im neuen Reiche Nietzsche contra Wagner Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen Schopenhauer als Erzieher (Unzeitgemäße Betrachtungen 3) Sokrates und die griechische Tragödie Sokrates und die Tragödie Vermischte Meinungen und Sprüche Der Fall Wagner Richard Wagner in Bayreuth (Unzeitgemäße Betrachtungen 4) Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne Der Wanderer und sein Schatten Wille zur Macht Also sprach Zarathustra
A bkürzungenfür Nietzsche-Periodika Nietzsche-Studien Nietzsche-Studien. Internationales Jahrbuch für die Nietzscheforschung, begründet von Mazzino Montinari, Wolfgang Müller-Lauter, Heinz Wenzel, hg. von Günter Abel, Josef Simon, Berlin/New York: Walter de Gruyter Verlag -
Nietzscheforschung Nietzscheforschung.
Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft, und Renate Reschke, Berlin: Akademie Verlag -
hg.
von
Volker Gerhardt
I. Nietzsche und die Romantik 13. Jahreshauptversammlung der Nietzsche-Gesellschaft Naumburg, 17.-19. Oktober 2003
Steffen Dietzsch
Karl Joëls Nietzsche und die Romantik neu gelesen
Die Analogie impliziert also nicht die Einheit der Welt, sondern ihre Pluralität, nicht die Identität des Menschen, sondern seine Gespaltenheit, sein ständiges Sich-von-sich-Abspalten. Octavio
Paz1
In seinem Baseler
Habilitationsvortrag Die Zukunft der Philosophie hat Karl Joël 1893 Nietzsche gesagt, dass bei ihm, „mit seiner dionysischen Wildheit und prophetischen Bilderkraft [...] die Philosophie von einer Wissenschaft sich wandelt zu einer Stimmungspoesie von orientalisch mystischem Duft".2 Joël ahnt hier „die kommende Geisteswende"3, wie er sagt, und er nähme in „dem jungen Kultus der Originalität, in dem Vordrängen neuromantischer Individualitäten [...] neben viel Künstelei und experimentierender Unreife deutlich die Sehnsucht [...] nach subjektiver Vertiefung"4 wahr. Eine entsprechende Diagnose würde sich leicht schon ein Säkulum früher finden lassen, wenn man einige der Stimmen aufriefe, die vor dem Abgleiten des aufklärerischvernünftigen Denkens in Subjektivismus, lustvolle Paradoxie, schwarzen Humor und gar Nihilismus meinten warnen zu müssen, so wie sich das wohl tagtäglich im Jenaer Salon der Madame Lucifer (Caroline Böhmer Schlegel Schelling) in den späten Neunzigern des 18. Jahrhunderts zuzutragen schien. Wir Heutigen nennen das allerdings die Geburt der ersten (Jenaer) Romantik. Ist Friedrich Nietzsche um 1900 solch ein später, allzuspäter ,Wiedergänger' jener juvenilen dionysischen Magier (wie exemplarisch die Aphoristiker Johann Wilhelm Ritter oder Friedrich Karl Forberg) aus dem Salon der Schlegels um 1800? War er jetzt also sehr zu Recht in seinem Jenaer Tollhaus? Das liegt übrigens nur ein paar Straßen von
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3 4
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Octavio Paz, „Analogie und Ironie", in: ders., Essays 2, Frankfurt/M. 1984, 74. Karl Joël, „Die Zukunft der Philosophie", in: ders., Philosophenwege. Ausblicke und Rückblicke, Berlin 1901, 12. Ebd., 24. Ebd., 24.
Steffen Dietzsch
14
dem einstigen Romantikersalon entfernt, und es wurde (1804) gegründet, als der Jenaer Romantikerkreis zerfiel. Dort, wo nach landläufiger Meinung sowieso die hingehören, die sich nicht dem ,ideokratischen' Normativ die Abweichung sei immer dümmer als die Regel (Peter Hacks) -, und seiner Botschaft des ,Ordentlichen', ,Gültigen', ,Normativen' und des ,Fertigseins' zu beugen geneigt sind. „Nietzsches Freigeist ist ,sich selbst entsprungen' und ,haßt alle Gewöhnung und Regeln, alles Dauerhafte und Definitive'."5 Karl Joël hat jedenfalls als einer der ersten in einer sehr frühen Phase der Nietzscheforschung (noch zu Lebzeiten des Meisters) diese genealogische Spur zum Verstehen des nun in der Villa Silberblick in Weimar archivierten, stillgelegten Geistes gelegt. Sein Buch über Nietzsche und die Romantik ist 1905 bei Eugen Diederichs in Jena erschienen. Es ist entstanden aus schon länger zurückliegenden Vorträgen von vor der Jahrhundertwende. Diese Schrift ist einmal sozusagen als mit seinem Gegenstand geistesverwandt gerühmt worden, als ein „glänzend geschriebenes, geistvolles Buch [...] fernab von jener Trockenheit [herkömmlicher] wissenschaftlicher Arbeit", und das es gerade deshalb in Probleme hineinloten kann, „die mit dem kalten Verstände allein nimmermehr erfaßt werden können".6 Im folgenden soll dreierlei vorgestellt werden: 1) einführend eine Skizze zu Karl Joëls Leben, 2) seine Idee, Nietzsche als Romantiker zu lesen, und 3) ein paar Bemerkungen zu der Frage, ob sich Nietzsche in dieser Genealogie wiedererkannt hätte. von
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I. Joël stammt aus Schlesien, aus Hirschberg, hier wurde er am 27. März 1864 in ein liberales jüdisches Milieu hineingeboren. Er ist, wie die Bedeutendsten der ersten Generation der deutschen Nietzscheforschung, jüdischer Herkunft, wie Theodor Lessing, Salomo Friedlaender (Mynona), Felix Hausdorff (Paul Mongré), Raoul Richter7, Max Brahn, Georg Simmel oder Oscar Levy (Defensor Fideift. Von früh auf „sog ich", wie er sich später in seiner Selbstdarstellung der schlesischen Heimat erinnerte, „einen starken Duft von Naturromantik ein".9 Hier besuchte er zwischen 1873 und 1883 das Gymnasium. Seine philosophische Bildung hat er in Leipzig erhalten, seit er zwischen Ostern 1883 und 1885 dort studierte. Im ortsansässigen (von Ferdinand Avenarius 1866 gegründeten) ,Akademisch-Philosophischen Verein' hat er mit einigen Freunden gegen die, wie er sich ausdrückte, „Hochblüte des Tatsachenkul-
5 6
Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, Jena/Leipzig 1905, 154. Literarisches Centralblatt, 1906. Vgl. Steffen Dietzsch, „,Die Philosophie fängt an, wo der Respekt aufhört'. Raoul Richters fröhliche Skepsis", in: Weimarer Beiträge ig. 49 (2003), H. 2, 219-241. Vgl. Steffen Dietzsch, „Ein Nomade in der Landschaft Zarathustras. Oscar Levy und der jüdische Nietzscheanismus", in: Nietzscheforschung, Bd. 10 (2003), 205-225. Karl Joël, in: Die Deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. von Raymund Schmidt, Bd. 1, Leipzig 1921, 71.
Karl Joëls Nietzsche und die Romantik neu gelesen
tus"10 gerade das ,Andere' dieser Wirklichkeit
zu
15
eruieren versucht. Nietzsches
Frage
1874, wann denn wieder „die Menschen Kleistisch-natürlich empfinden, wann sie wieder lernen, den Sinn einer Philosophie erst wieder an ihrem heiligsten Innern zu messen?" (KSA, SE,1, 356), gab genau die mentale Lage des jungen Joël wieder. Es
von
ein authentischer Immanuel Kant und die (zuerst, wie just der Schlegelkreis, in Dresden erfahrene) romantische Kunst, die sich ihn gegen den akademischen Zeitgeist stellen ließ. Seine wissenschaftliche „Fachliteratur mutete an wie eine Verschwörung der Nüchternheit, wie eine Scholastik ohne Glaube und gab zumeist nur Psychologie ,ohne Seele', Erkenntniskritik ohne Erkenntnis, Historie ohne originales Leben [... und] die äußerste Abkehr von allem spekulativen Sinn".11 So griff er just auf Plato zurück, über den er, und zwar „ohne jede Fühlungsnahme mit einem Lehrer"12, im Oktober 1886 in Leipzig promovierte Zur Erkenntnis der geistigen Entwicklung und der schriftstellerischen Motive Piatos [gedr. Leipzig 1887]. Joël nomadisierte anschließend ein halbes Dutzend Jahre zwischen Leipzig, Dresden und Berlin als freier Autor, er schrieb unter Pseudonym für Zeitschriften, wie die Gegenwart, Neue deutsche Rundschau und das Magazin für Literatur. In jenen Jahren erlebte er eine „fast wurzellose Fremdheit zur zeitgenössischen Universitätsphilosophie, am schärfsten wohl", wie er sich erinnerte, „als ich in einem Gespräch mit [Franz] Brentano in Wien, und bei einem Habilitationsversuch in München einer tiefen Geringschätzung und Ablehnung der deutschen spekulativen Philosophie begegnete, die mir doch als Höhepunkt geistiger Kultur feststand".13 Er lernte u. a. Eduard Zeller und Wilhelm Dilthey kennen, mit Georg Simmel begann eine Jahrzehnte hindurch gepflegte Freundschaft, mit ihm fand er sich zusammen „in einer gewissen Loslösung von der Schulphilosophie und dann immer positiver in der Betonung der Lebensbedeutung des Denkens".14 Joël hat dabei en passant auch ein modernes urbanes Medium für die Philosophie entdeckt: das Café. „Seitdem es Cafés gibt, ist Europa wohl dreimal so geistreich, dreimal so paradox, dreimal so radikal geworden [...], auf dem roten Polster in nachtschwärmender Gesellschaft [wird] selbst der Frömmste radikal, und der schwarze Trank [...] begeistert selbst den kleinsten Registrawaren
-
tor
zum
Weltreformer."15
Joël wird dann von einem Freund (dem kulturphilosophisch orientierten Philologen Ferdinand Dümmler) auf Basel aufmerksam gemacht, „der ernsten, frommen, altehrwürdigen, patrizisch regierten Stadt".16 Das ist neben Leipzig der zweite Ort, der ihn jetzt mit Nietzsches Wirken nachhaltig konfrontieren wird. In Nietzsche begegnet ihm einer, der sich, in seinen Leipziger und Baseler Jahren, in einer vergleichbaren Seelenlage befindet. Joël wird 1893 Privatdozent für Philosophie in Basel; im selben Jahr wird, als Nachfolger Jacob Burckhardts, Heimich Wölfflin als Extraordinarius für 10
1' 12 13 14 15 1
Ebd., 73. Joël, in: Die Deutsche Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen, 76. Ebd., 77. Ebd., 80. Ebd., 80. Karl Joël, „Geselligkeit und Geisteskultur", in: ders., Antibarbarus, Jena 1914, 153. Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 69. Karl
Steffen Dietzsch
16
hierher berufen. Mit ihm und seinem Kreis verbindet ihn bald eine enge Freundschaft. Franz Overbeck informiert dann fünf Jahre später Heinrich Köselitz von der akademischen Karriere Karl Joëls in Basel: „Ein [bezüglich auf Paul Mongré]
Kunstgeschichte
recht verschieden gearteter einstiger Genosse aus der Leipziger philosophischen Gesellschaft, Prof. Joël, ist hier als Extraordinarius [...] niedergelassen."17 Joël versteht sein Wirken von nun ab ausdrücklich kulturphilosophisch: ganz so wie er jetzt Nietzsche begreift, der „den Philosophen zum Erzieher und zum Kulturmissionar berief und den Gedanken aus der grauen Theorie und der Enge des Studierzimmers ins farbige Licht, in die Freiluft, ja Bergluft hinaustrug zu lebendiger Intuition".18 Das ist der geistige Hintergrund, vor dem Joël dann sein Bild von Nietzsche dem Romantiker zeichnen wird. Im Herbst 1895 war die Leiterin des Nietzsche-Archivs, das im Vorjahr in Naumburg gegründet wurde, Elisabeth Förster-Nietzsche, zum ersten Mal nach dem Ausbruch der Krankheit Nietzsches wieder in Basel, zur Vorbereitung ihrer großen Biographie des Bruders. Joël seinerseits traf im Frühjahr 1899 (gelegentlich einer Fahrt nach Berlin) die Weimarer Archivleiterin. Overbeck schrieb damals an Köselitz, er wisse wohl, dass Joël „der Frau Förster einen Kratzfuss auf seiner Rückreise zugedacht habe" und er sei „nun neugierig zu erfahren, was er dort [...] für Erfahrungen macht, nach den Orakeln, welche die Frau Förster, als rückwärts gewendete Pythia in der ganzen Angelegenheit [einer vermuteten Stirner-Rezeption Nietzsches S. D.] schon abgegeben hat".19 Von Leipzig her hatte später der Privatdozent für experimentelle Psychologie, Max Brahn, der nach dem Tode seines Freundes Raoul Richter (1912) dessen Vermittlerrolle zwischen dem Nietzsche-Archiv und der akademischen Welt weiterführte, versucht, 1916 der Philosophischen Fakultät der Universität Basel vorzuschlagen, aus Anlass ihres siebzigsten Geburtstages der Förster-Nietzsche ein Ehrendoktorat zu verleihen. Der Basler Dekan Karl Joël jedoch konnte nicht anders als abzulehnen. „Sie werden es mir nachsehen", so schreibt er nach Leipzig, „daß ich es [...] namentlich dem Andenken Overbecks schuldig bin, nicht gerade den Vorschlag zur Krönung ihrer ausgesprochensten Feindin zu machen, die gar nicht aufhören kann sie zu beschuldigen" kurz: es wäre ein Vorschlag, „den man in Basel nicht anders als einen Schlag gegen Overbeck und andererseits nicht anders als ein pater peccavi der Basler verstehen würde".20 Seit 1902 ist dann Karl Joël Ordinarius in Basel (bis 1931). Sein Nachfolger wird Herman Schmalenbach (aus Göttingen), bis er 1950 emeritiert wird. Karl Joël starb 1934 in St. Gallen. In der ihm gewidmeten akademischen Festschrift, die ihn kurz vor seinem Tode noch erreicht hat, hat allerdings keiner der Beiträge auf seine, vielleicht zu wenig akademische, Pretiose von vor dreißig Jahren über Nietzsche und die Romantik irgendeinen Gedanken verschwendet. -
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17
1 19
20
Franz Overbeck
an
Heinrich Köselitz,
v.
8. März 1898, in: Franz Overbeck/Heinrich Köselitz,
Briefwechsel, hg. von David Marc Hoffmann, Berlin/New York 1998 [Suppl. Nietzscheana 3], 447. Karl Joël, in: Die Deutsche Philosophie der Gegenwart, 81. Franz Overbeck an Heinrich Köselitz, v. 16. April 1899, in: Franz Overbeck/Heinrich Köselitz, Briefwechsel, 479f. Karl Joël an Max Brahn, v. 11. April 1916, Goethe-Schiller-Archiv [Weimar], Sign. 152 /12.
Karl Joëls Nietzsche und die Romantik neu gelesen
17
II. Mit seiner Nietzsche-Deutung als Romantiker wollte Joël ausdrücklich, wie er aus der Rückschau seiner Selbstdarstellung schrieb, nicht „Nietzsche durch Romantisierung begraben, wie es mancher [...] Nietzscheaner ängstlich pro domo mißverstand."21 Er hat Nietzsche vielmehr eine diesbezügliche Aktualität zugemutet, die sich, paradox genug, gerade im Abendlicht der romantischen Sonne verdeutlichte (in derselben Tageszeit, in der nach der Meinung von einem, der dem Romantiker-Salon in Jena eher fern stand, die ,Eule der Minerva' ihren Flug beginnt). Diese Metapher weist dringlich daraufhin, dass Joël mit seiner Nietzsche-Deutung gerade nicht einem verlöschenden, vergehenden Leuchten nostalgisch nachhängt, sondern es wird jetzt das überwältigend Gegenwärtige von Romantik selber namhaft gemacht: „Die Romantik", schreibt Joël, als wär's ein Satz von heute, „so lange nach ihren reaktionären Ausläufern verkannt und verketzert, ward ja erst heute wieder in neuem Erleben aus dem Schatten ins Licht getragen".22 Joëls frühes Werk ist selber in gewisser Hinsicht noch ein romantischer Text. Er will sich explizit, durch seine Darstellungsform abheben von der akademischen, literarhistorischen Art und Weise, wie gerade zur selben Zeit die alten Romantiker aus dem Staub der Bibliotheken hervorgeholt und sich inzwischen „eine anschwellende gelehrte und ungelehrte Literatur [...] bereits ihrer bemächtigt"23 hat. Mit seiner Schrift will er gerade nicht einen Beitrag zur Historisierung oder Philologisierung Nietzsches in Relation zu einer hundert Jahre alten Geistesbewegung leisten, sondern beide innerlich als verbunden und aktuell vorstellen: Nietzsches Metapher dafür: Der Wanderer und sein Schatten. Joël fand sich zu dieser Doppelsicht insofern berechtigt, als sich der Sinn von Nietzsches Diktum: Jede Philosophie verbirgt auch eine Philosophie, offen zu legen schien. Er weiß natürlich, dass Nietzsche selber sich generell nie in den engen akademischkomparatistischen Rahmen Nietzsche und hätte zwingen lassen. Oder, wie Joël gleich anfangs schreibt: „Das Genie verträgt kein ,und'; denn es ist das Unvergleichbare."24 Dementsprechend begreift man gerade Nietzsche nicht, „indem man in der üblichen Weise sich begnügt ihn in Perioden zu zerlegen, die man der Reihe nach beschreibt; man begreift ihn überhaupt nicht, indem man ihn isoliert".25 ...
Nihilismus in Jena und im Geiste Nietzsches Mit den Nachtwachen {1804), die ein junger Jurastudent aus dem Schlegel-Kreis in Jena unter Pseudonym verfasst hat, wird eine erste Etappe in der Geschichte des philosophischen Nihilismus, der als eine Abrechnung mit der Transzendentalphilosophie am Ende des 18. Jahrhunderts von Jacob Hermann Obereit und Friedrich Heimich Jacobi 21
22 3
24 25
Karl Joël, in: Die Deutsche Philosophie der Gegenwart, a. a. O., 82. Ebd., 83f. Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 2. Zu nennen wären Jakob Minor, Friedrich Franz Schultz, August Sauer oder Oskar Walzel. Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 6. Ebd., 344.
von
der
Leyen,
Steffen Dietzsch
18
Dieser Text galt als ein Paradebeispiel des Nihiliswie einmal bezeichnet er wurde, „ein nihilistisches Gesamtkunstwerk, [...] mus, als, William Lovell neben dem [von Tieck] das reinste dieser Art".26 Hier wird die GeSuche nach der verlorenen Herkunft eines Ich erzählt. Die Recherche schichte einer Ich identifiziert seinen toten Erzeuger, der bei einer Berühendet im Schauhaus, das zu Staub die Schlusssentenz: zerfällt, und, so „ich streue diese Handvoll väterlirung chen Staub in die Lüfte und es bleibt nichts ! Drüben auf dem Grab steht noch der Geisterseher und umarmt nichts ! Und der Widerhall im Gebeinhaus ruft zum letzten Male nichts !"27 Dies dreifache Nichts als Pointe der Suche nach der verlorenen Identität des raisonnierenden Ich-Erzählers galt als ohrenfälliges Zeugnis des romantischen Nihilismus mit all seinen vermuteten verhängnisvollen Folgen für die deutsche Geistesgeschichte,von Friedrich Wilhelm Joseph Schelling zu ,Gottseibeiuns-Hitler'. Nicht erst gegenwärtige political correctness warnt vor solcher Genealogie, schon die biedermeierlichen Zeitgenossen Bonaventuras bemerkten hier eines der „merkwürdigsten und entsetzlichsten Bücher, die jemals geschrieben worden"28. Natürlich sind solche Text-Wahrnehmungen und Warnungen gegenstandslos. Uns Heutigen sollte es möglich sein, unaufgeregter als im Biedermeier und schärfer noch als Joël, diesen romantischen Schatten von nomadischen Texten verstehend zu konturieren. Das trifft zunächst auf das zu, was Joël vom Nihilisten Nietzsche sagt, das der alles von sich stieße und selbst das Glück verachte. Dieser, wie Gottfried Benn es genannt hat, „Ecce-Homo-Schauer: Nihilismus ist [selber] ein Glücksgefühl"29, ist eine ebensolche, jedenfalls prima facie, nihilistische Konfession, wie sie uns seinerzeit aus Schlegels Salon, exemplarisch in den Nachtwachen des Bonaventura entgegentrat. „Ich kenne", so sagt Nietzsche im, zu Lebzeiten unveröffentlicht gebliebenen, Ecce homo, „die Lust am Vernichten (und ich) gehorche meiner dionysischen Natur, welche das Neinthun nicht vom Jasagen zu trennen weiß. Ich bin der erste Immoralist: damit bin ich der Vernichter par excellence."30 Nietzsche verkündet die ,Jieraufkunft des Nihilismus"31 als europäisches Schicksal der nächsten zweihundert Jahre. Der Nihilismus sei „die zu Ende gedachte Logik unserer großen Werte und Ideale"32, er ist so nicht „Ursache, sondern nur die Logik der décadence".33 Dieses Aufrufen des Nihilismus
begründet wurde, abgeschlossen.
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Werner Kohlschmidt, „Nihilismus der Romantik", in: Romantikforschung seit 1945, hg. von Klaus Peter, Königstein/Ts. 1980, 53f., und Werner Kohlschmidt, Form und Innerlichkeit, Stuttgart 1955. Nachtwachen des Bonaventura, hg. von Steffen Dietzsch, Leipzig 1991, 141. Vgl. auch Karen Brzovic, Bonaventuras .Nachtwachen as Satirical Novel, Berlin/New York 1990. Ernst v. Lasaulx an Joseph Görres, 28. März 1831, in: Richard Stölzle, Ernst v. Lasaulx (18051861), Münster 1904, 29. Gottfried Benn, „Rede auf Heinrich Mann" [1931], in: ders., Das Hauptwerk, Bd. 2 (Essays, Reden, Vorträge), hg. von Marguerite Schlüter, Wiesbaden/München 1980, 276. Friedrich Nietzsche, Ecce homo, hg. von Raoul Richter, Leipzig 1908, 117. Friedrich Nietzsche, Nachlass, Werke in drei Bänden, hg. von Karl Schlechta, München 1966, Bd. 3, 634. Ebd., 635. Ebd., 775. '
8
19
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32 33
Karl Joëls Nietzsche und die Romantik neu gelesen
19
durch Nietzsche, werkgeschichtlich34 seit 1880, verstellt allerdings immer wieder die Verstehenshorizonte seiner Philosophie; immer wieder, quer durch die Lager sonst streng verfeindeter Ideenkombattanten, wird Nietzsche mit seiner Botschaft identifiziert. Jedoch: Auch bei Nietzsche liegt im Umgang mit dem Nihilismus, wie bei jenem Jenaer Romantiker, kein resignativer Gestus in Erwartung des ,Endes' vor, vor allem auch kein Denkabusus angesichts einer überwältigenden, unbegriffenen Lebenswelt. Nietzsche zeigt im Gegenteil dazu, wie man trotz der Konfrontation mit dem Gefürchteten mental unbeschädigt bleiben könnte: Ein „Philosoph erholt sich anders und mit anderem: er erholt sich z. B. im Nihilismus. Der Glaube, dass es gar keine Wahrheit gibt, der Nihilisten-Glaube, ist ein großes Gliederstrecken für einen, der als Kriegsmann der Erkenntnis unablässig mit lauter häßlichen Wahrheiten im Kampfe liegt. Denn die Wahrheit ist häßlich."35 Aber: Nietzsche ehrt als Philosophen gerade die, die trotzdem im Denken blieben, gleichwohl sie „im Denken den Bann der Sitte durchbrachen" (KGW, NF, V, 1, 457f), um so nachhaltig, innovativ, gestaltend zu schaffen. Die Wahrnehmung von Finalitäten führt im Verstände Nietzsches gerade nicht zum finalen Gedankenblitz (der die reflektierende Urteilskraft gerinnen lässt). Übersehen wurde bei allen auftauchenden ,moralischen' Lesarten nihilistischer Texte fast immer die enigmatische Botschaft solcher Texte, um derentwillen sie, so verschieden sie sind, wahrscheinlich überhaupt geschrieben wurden. Dieses ,Enigma' lautet in den Worten Bonaventuras: ,Jfichts geht doch über das Lachen"7"6. Das Subjekt vermag, gewissermaßen als auf eine ,Subtextur' zum Verstand, in solchen Situationen auf eine Sprache des Leibes' zurückzugreifen. „Der Witz ist das Nichternstnehmen des äußeren Anschauungsstoffes, die Ironie das Nichternstnehmen der eigenen inneren Vorstellungen und Gedanken, der Humor das Nichternstnehmen der eigenen Gefühle."37 ,
Romantische Ironie als Wahr-Lachen Jenes
und
dionysische Jasagen und Neintun ist exemplarisch am Künstler wahrzunehmen Spötter; hier „lassen sich aus Nietzsches Philosophie diejenigen Bedingungen
am
entfalten, die ein den Nihilismus hinter sich lassendes
,amor fati'-Bewußtsein konstitu-
dazu Elisabeth Kuhn, „Nietzsches Quelle des Nihilismus-Begriffs", in: Nietzsche-Studien, Bd. 13 (1984), 253ff. Vgl. auch: Walter Müller-Lauter, „Nihilismus als Konsequenz des Idealismus", in: Denken im Schatten des Nihilismus, hg. von Alexander Schwan, Darmstadt 1975. Friedrich Nietzsche, Nachlass, Werke in drei Bänden, Bd. 3, 675. Nachtwachen des Bonaventura, 124. Vgl. auch K. Alfons Knauth, „Luckys und Bonaventuras unglückliche Weltansichten", in: Romanistisches Jahrbuch 26 (1975), 147ff, und Luciano Zagari, „Der Sprung über den eigenen Schatten. Die Nachtwachen als poetologisches Oxymoron", in: Skepsis oder das Spiel mit dem Zweifel, Festschrift für Ralph-Rainer Wuthenow zum 65. Geburtstag, hg. von Carola Hilmes u. a., Würzburg 1994, 5Iff. Friedrich Gundolf, „Friedrich Schlegels romantische Schriften", in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, Bd. 1927, 69.
Vgl.
Steffen Dietzsch
20
ieren."38 Das ist in dem Diktum von Karl Joël ausgedrückt: „Der Romantik ist es Ernst mit dem Lachen."39 Den höchsten Ernst gleich ins Komische zu wenden, damit man, wie es ein Romantiker des Jenaer Schlegel-Kreises (Johann Wilhelm Ritter) gesagt hat, nicht gleich totgeprügelt werde, dazu sind auch für Nietzsche die Ironie und das Lachen da. Joël unterstreicht Nietzsches Einfall, „die Rangordnung der Philosophen nach ihrem Lachen [zu] bestimmen"40, denn, so sagt Nietzsche: „Über sich selber lachen, wie man lachen musste, um aus der ganzen Wahrheit heraus zu lachen dazu hatten bisher die Besten nicht genug Wahrheitssinn und die Begabtesten viel zu wenig Genie! Es gibt vielleicht auch für das Lachen noch eine Zukunft!" (KSA, FW, 3, 370) An Nietzsche ist besonders schätzbar, in der Sprache des Athenaeum, „sein Hochmut und sein Hang zur Mystik des Witzes"41, wodurch bei ihm so etwas möglich wird, wie die Mitteilung von etwas Nicht-Mitteilbaren. Der Grund des besseren Lachens hängt nach ihm zusammen mit den unentwegten und, in ihren Folgen, unentrinnbaren Aktivitäten der Menschen, liegt in den Inkongruenzen zwischen der ihnen nicht verfügbaren Welt und ihren Glücksansprüchen. Nietzsche variiert dabei jene klassische Kantsche Bestimmung des Lachens42, die gewissermaßen den inneren, mentalen Anfang der Moderne darstellt, wenn er schreibt: „Wenn man erwägt, daß der Mensch manche hunderttausend Jahre lang ein im höchsten Grad der Furcht zugängliches Tier war, und daß alles Plötzliche, Unerwartete ihn kampfbereit, vielleicht todesbereit sein ließ [...] so darf man sich nicht wundern, daß bei allem Plötzlichen, Unerwarteten, in Wort und Tat, wenn es ohne Gefahr und Schaden hereinbricht, der Mensch ausgelassen wird, ins Gegenteil der Furcht übergeht: das vor Angst zitternde zusammengekrümmte Wesen schnellt empor, entfaltet sich weit der Mensch lacht. Diesen Übergang aus momentaner Angst in kurzdauernden Übermut nennt man das Komische" (KGW, MA I, IV, 2, -
-
159f).
Der Mensch bedarf des
Komischen, er handhabt das Lachen als die Antwort des Leibdie Schwere unserer technischen Lebenswelt. Gegen sie bleibt ihm, imhaftigen gegen noch das merhin, Lachen, „der Hanswurst-Geist d. h. die Fingerfertigkeit' der Ironie".*3 Nietzsche sieht sich, wie die Spötter im Jenaer Salon um 1800, vor allem bei seinen Deutschen, „wir müssen die Deutschen durch esprit rasend machen" (Brief an Carl Fuchs vom 27. 12. 1888, KSB, 8, 554), umgeben von lustlosen Muckern, denen im Vollzug ihrer bürgerlichen Tüchtig- und Hörigkeit das Lachen abhanden gekommen ist. Die große idealistisch-humanistische Tradition, so Nietzsche, habe zu Respekt vor absoluten und unbedingten Werten und Wahrheiten erzogen. „Nietzsche aber hob [sogar] die MoNihilismus und Metaphysik. Entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen deutschen Idealismus bis zu Heidegger, Stuttgart 1989, 226. Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 184. Vgl. auch Ernst Behler, „Die Theorie der romantischen Ironie", in ders., Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie, Paderborn 1988, 46- 65.
Hans-Jürgen Gawoll, vom
Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 133. Athenaeum, 1. Bd. (1798), 2. Stck., 84.
Vgl. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, A 225: „Das Lachen ist ein Affekt aus der plötzlichen Verwandlung einer gespannten Erwartung in nichts." (Akademie-Ausgabe, Bd. 5, 332). Carl Roos, Nietzsche und das Labyrinth, Kopenhagen 1940, 87.
Karl Joëls Nietzsche und die Romantik neu gelesen
21
ral in der Natur auf. Er liebt die Natur [...] weil sie idealfeindlich ist, er idealisiert sie nicht, er pflegt sie nicht, er versenkt sich nicht in sie [...] er liebt die Wüste, in der die Kraft der Welteroberer und die Träume der Propheten ausatmen, er spricht von den Nordpolarexpeditionen der Erkenntnis."44 Nietzsches „Wahrlachen" kommt natürlich, wie alles Wichtige bei ihm, maskiert, als Rätsel und Paradox vor. Das war wohl auch der Grund, dass jenes Lachen des Philosophen bei vielen Interpreten, namentlich bei Deutschen, lange außer Acht gelassen wurde. Aber, so notiert sich er einmal, „man muß dem bornierten ,deutschen Ernst' [beispielsweise in der Musik] das Genie der Heiterkeit entgegenstellen".45 Das Lachen also ist die momentane physische Antwort auf die Frage, auf die es zunächst keine begriffliche Antwort gibt; das Lachen, als ein Vermitteln (von so noch nie Vermitteltem: exemplarisch im Witz!), ist die Arbeit an der „Wiederherstellung des Sinns"46, der im Nihilistischen untergegangen schien. „Das bis zum Tragischen Komische und das bis zum Komischen Tragische, Jean Paul und Don Quixote sind die Lieblingspoesie des jungen
Nietzsche."47
trägt dazu bei, die verkehrte Logik einer verkehrten Welt erkenn- und machen. Es konditioniert uns, Widersprüche und Absurditäten unserer Mitwelt hinzunehmen und mit ihnen so umzugehen, dass uns kein affirmativer Realitätstaumel befallt. Nietzsche und die Romantiker verstehen sich als „Parodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes vielleicht", so ihre Hoffnung, „dass, wenn auch nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser Lachen noch Zukunft hat" ( KSA, JGB, 5, 157). Das Lachen wird uns im Ganzen als eine ,mittlere' Kompensationsform, als Mittel, unsere Psychosen ,soziabel' zu machen, zugemutet. „Laßt mir nur das Lachen mein lebelang, und ich halte es hier unten aus!"48 Viele literarische und künstlerische Manifestationen seither, von Georg Büchner bis Thomas Bernhard, haben eine Nähe zu jenem Diktum Bonaventuras (aus der 15. Nachtwache): „Wo gibt es überhaupt ein wirksameres Mittel jedem Hohne der Welt und selbst dem Schicksale Trotz zu bieten, als das Lachen?"49 So erweist sich bei Nietzsche wie in der Jenaer Romantik gerade das Lachen, das aus der Schwärze kommt, als Korrektiv im Umgang mit den virtuellen Gebilden der Philosophie, z. B. den Begriffen von Gott, Seele oder Unsterblichkeit, auch Humanität, weil das Lachen das Leben im Gefolge hat. Für unsere Gegenwart ist das einmal so zusammengefasst worden: „Der Witz half den Ohnmächtigen angesichts der tödlichen BedroDas Lachen
ertragbar
zu
-
Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 58. Notiz Nietzsches auf der Rückseite einer Postkarte, die er von A. Ruthardt, am 2. Nov. 1887 aus Leipzig erhalten hatte. Vgl. Hans Eggert Schröder, „Unbekannte Nietzsche-Briefe", in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, 13. Jg., 1969, 79. Paul Ricoeur, Die Interpretation, Frankfurt/M. 1969, 41; vgl. auch Hans Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1986, 387ff. Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 94. Nachtwachen des Bonaventura, 125. Vgl. Ernst Behler, Klassische Ironie, romantische Ironie, tragische Ironie, Darmstadt 1972. Ebd., 125. —
22
Steffen Dietzsch
ihre Menschenwürde zu bewahren."50 Beide, Nietzsche und die Romantiker, „werden zu [...] Spöttern gegen die ,Vernünftler', die ,logischen Philister', und Novalis stellt eine Liste der .Vorurteile der Gelehrten' auf, die bei Nietzsche stehen könnte".51 Aber, so gibt uns Joël zu verstehen, das Lachen ist nicht mißzuverstehen als ein wo-
hung
möglich bloß begrifflicher Schlussstein in Nietzsches ,System'. Sondern es ist vielmehr ein Signum für Überschuss: „Hinter seinem Lachen tobt die Leidenschaft, die sich befreien will."52 Kurz: mit Nietzsches kategorischen Imperativ gesagt: „Das Lachen sprach ich heilig: ihr höheren Menschen, lernt mir lachen!" (KSA, GT, 1, 22). Wichtig bleiben für Joël trotz allem nicht Sätze aus Romantiker-Schriften, die man mit solchen bei Nietzsche zu vergleichen hätte. Wichtig bleibt: „Der Geist der Romantik beherrschte seine ganze Entwicklung; [...] Musik, die Kunst der Künste für die Romantiker, zusammenklingend mit Philosophie, deren starker Einschlag die Romantiker gleich Nietzsche zu rätselhaften Mischwesen stempelt von Denkern und Dich-
Religion Hier scheinen sich Romantiker und Nietzsche momentan am weitesten voneinander zu entfernen, denn „wie die Romantik ihre Liebe, so trug Nietzsche seinen Krieg bis in den Himmel hinein."54 Aber die Religion ist auch schon bei den (Jenaer) Romantikern ein exemplarisch konstruiertes Artefakt. Einen ,Katholizismus' wie den in Novalis' Die Christenheit oder Europa hat es in der wirklichen Glaubenswelt nie gegeben. Und: „Im übrigen ist es schwer erkennbar, worin sich die für Novalis richtungsgebende Idee der Gottheit von der romantischen Idee einer in Poesie verwandelten Humanität unterschei-
det."55 Joël betont auch, dass Nietzsche gerade in die Religion der Romantik eintreten kann, weil er exemplarisch deren Bestimmung bedient, nämlich Religion begreift als, wie es in einem Schlüsselsatz des ganzen Buches heißt, „überschwenglichen Trieb, unendliches Lebensgefühl", das „weit hinaus über fremde Satzung, über die Ideale der Liebe und Güte, über die Grenzen der Moral, ja über Gott hinaus" greift und „noch die heiße Stirn des himmelstürmenden Ketzers (küßt), weil sie heiß ist".56 Die kleine Geister erschreckende Gottesleugnung, derer auch Nietzsche immer wieder geziehen wurde, betrifft nur den, allerdings theokratisch verbreiteten, ,Gott' als Herrn, der Knechten befiehlt, als Herrn, vor dem wir die Knie zu beugen haben, dessen Namen inflationär (und straflos) aufrufbar und zu beliebigen Zwecken instrumentierbar scheint. „Nietzsche eifert", so Joël, „gegen Gott als Grenze des Menschen, gegen den Gott außer dem Men-
5' 52 53
54 5
56
Milo Dor, „Der Witz in finsteren Zeiten", in: ders., Grenzüberschreitungen, Wien 2003, 13. Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 101. Ebd., 124. Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 71 ff. Ebd., 65. Werner Krauss, „Französische Aufklärung und deutsche Romantik", in: ders., Aufklärung III, von Martin Fontius, Berlin 1996, 226. Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 181.
hg.
Karl Joëls Nietzsche und die Romantik neu gelesen
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sehen".57 Das hat er mit den Jenaer Romantikern gemeinsam, denen, wie Joël exemplarisch Friedrich Schlegel zitiert, „nichts religiös im strengen Sinne ist, was nicht ein Produkt der Freiheit ist".58 Damit wird in diesem Denkkreis auf etwas verwiesen, was ursprünglich nur mit dem „Einen Christen, und der starb am Kreuz" (KSA, AC, 6, 211), verbunden werden musste. Es geht hier nicht um eine so oder so zu erzählende Geschichte des Christentums. Vielmehr erkunden Nietzsche und die Romantiker zuerst einen (immanenten, nicht transzendenten!) Weg, wie der Mensch über sich hinaus kommen könnte, denn er ist in seinem je konkreten Dasein etwas, das immer schon zu überwinden ist. Wir vermögen dabei eine überraschend ,kreuzesphilosophische' Konsequenz Nietzsches zu erkennen: „Die Via Crucis wird zu einem Weg, der nirgendwohin führt, es sei denn zu einem kahlen Grabhügel übersät von anonymen und nackten Kreuzen. Außerdem ist das Kreuz wieder zu dem geworden, was die Frömmigkeit nach und nach unkenntlich gemacht hatte: zum Zeichen des Widerspruchs im höchsten Sinne."59 -
Traum Nietzsches „ganze Jugendzeit ist voll von romantischen Träumen, romantischen Spielen, romantischen Spaziergängen [...] vor allem voll von den romantischen Künsten Lyrik und Musik".60 Alle Poesie, vermutet Nietzsche, ist ,Traumdeuterei'. Mit Calderón konnte er sagen: Traum schien mir die Welt [...] Und träumend zu wandern war eine der geistigen wie sozialen Verkehrsformen der Romantiker allesamt waren sie leidenschaftliche Wanderer, wie Nietzsche, „der sich seine Gedanken ,ergangen' hat, wie er zugleich sich in ihnen erging. Er fühlte sich und schreibt als der ,Wanderer'."61 Das führt den späten allzu späten Romantiker nicht weg von der ,Wirklichkeit', gar in eine Traumlandschaft mit blauer Blume, sondern schärft seinen Blick für sie. Das aber ist nicht die Wiedergewinnung einer vorgeblich authentischen, ursprünglichen' Natur à la Jean Jacques Rousseau (den hassen die Romantiker wie auch Nietzsche). Sondern Joël bemerkt hierbei einen realistischen Kontext, der ein nach vorn weisendes Gedankenexperiment wie den ,Uebermenschen'', den „Hölderlins ,Hyperion' und die Romantik vorgeahnt hat"62, möglich macht. Die Romantiker sind die ersten, die sich begrifflich um diese Steigerungsfigur des Menschen bzw. der Realität Gedanken machen. Hier wird auch jener neue Begriff gefunden, der die künftige Kunst und Literatur der Moderne nachhaltig bestimmen sollte, der Begriff des Surrealen. So entdeckt Joël, und das ist ein Zeichen bemerkenswerter hermeneutischer Sensibilität, in den Romantikern die „Finder des ,Ueberwirklicheniii63. -
Ebd., 182. Ebd., 181. Vgl. auch Karl Joël, „Der Glaube der Atheisten", in ders., Antibarbarus, 187f. Xavier Tilliette, Philosophische Christologie, Einsiedeln/Freiburg 1998, 276. Vgl. auch Eugen Biser, Nietzsche. Zerstörer oder Erneuerer des Christentums, Darmstadt 2002. Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 72. Ebd., 75. Ebd., 138. Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 139. -
Steffen Dietzsch
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Symphilosophieren Einer überraschenden Pointe bei Nietzsche, dem Romantiker, kommt Joël im Zusammenhang mit dem Wandern auf die Spur, nämlich der Freundschaft als höchstem Gut. Die Jenaer Romantiker nannten das ,Symphilosophieren'. Nietzsche der Romantiker konnte, wie wir wissen, ohne Freunde (und auch mit ihnen) nicht leben: „Sie mußten ihn enttäuschen, weil er sie dichtete, und wiederum, weil sie ihn enttäuschten, muß er sich neue Freunde dichten."64 Das heißt, so Joël mit einer überraschenden terminologischen Wendung: „Dieser anscheinende Fanatiker des Individualismus denkt und fühlt sich immer sozial."65 Neuerdings hat Kurt Röttgers diesen Impuls aufgenommen und die Sozialphilosophie mit einer Erbschaft aus dem Geist der Romantik, namentlich aus dem Schlegel-Kreis, versehen wollen: „dass bei Schlegel [...] Bedingungen für die Herausbildung einer eigenen Sozialphilosophie erfüllt sind: die Reflexion des Philosophierens als eines sozialen Prozesses".66 Dazu gehört auch ein Handhaben von Nähe und Distanz. So fordert Nietzsche (mit Ludwig Tieck) immer auch „Geheimnisse gerade zwischen Freunden".67 Freundschaft ist so asymmetrisch wie es das Lachen angesichts des Unendlichen ist. Nietzsche der Romantiker, so fasst Joël den tragischen Zauber dieses Lebensschicksals zusammen, „hat aus dem Schiffbruch seiner Seele und seiner Zeit, nur das nackte Leben und Streben gerettet, aber die Güter des Lebens preisgegeben. Nietzsche ist ein Übergang, kein Ziel, aber ein notwendiger Übergang, ein notwendiger Umschlag: „Mir ist es unbegreiflich", schreibt Joël, „wie man Nietzsche als pathologisches Ungeheuer [...] anschauen kann"68, denn: „Nietzsche ist immer nur für kleine Leute größenwahnsinnig gewesen."69 Das heißt: Joël will uns zumuten, was wir seit diesem Nietzsche, dem Romantiker, als eine kulturphilosophische Aufgabe aufgegeben bekommen haben, das Dionysische aus der Altphilologie in unser Leben und unsere Kultur zu transferieren. Nietzsche und die Romantiker, das seien „die Dithyrambiker der deutschen Literatur", das ist das Ja zu derjenigen „seelischen Gewalt, in der die tiefste Tragik umschlagen kann in das Jauchzen des Satyrspiels, in der die höchste Freude den Schmerz gebiert und der tiefste Schmerz die Lust".70 Also: „An allen Dingen und Problemen [...] interessiert ihn [Nietzsche] nur das Versucherische, das Gefährliche. Es ist das Grunddogma dieser dogmenfeindlichen Natur: wahr ist, was wehe tut."71 Man wird Nietzsche nicht verstehen, wenn man ihn nicht auch als einen Spieler des Geistes verstünde, „einen Spieler mit Welten um Tod und Leben, einen Spieler auf einer unendlichen Harfe der Phantasie, so verloren [...] wie keiner sonst war, keiner außer der Ro-
Ebd., 77. Vgl. auch Klaus-Dieter Eichler, ,„In deinem Freund sollst du deinen besten Feind haben'. Nietzsches Reflexionen über die Freundschaft", in: Nietzsche im Exil, hg. von Rüdiger Schmidt u. Steffen Dietzsch, Weimar 2001, 164-185. Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 76. Kurt Röttgers, Kategorien der Sozialphilosophie (Sophistes, Bd. 1), Berlin 2002, 36. Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 76. Ebd., 89. André Breton, Anthologie des schwarzen Humors, München 1972, 211. Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 90. Ebd., 91. -
Karl Joëls Nietzsche und die Romantik neu gelesen
mantik".72 Oder, wie
es
einem
aus
leser bescheinigt wurde: dass „die
25
dem Kreis jener ersten deutsch-jüdischen NietzschePhilosophie dort anfange, wo der Respekt aufhört".73
III. Nietzsche hat sich gelegentlich deutlich gegen die Romantik ausgesprochen. „Die romantische Kunst ist nur ein Nothbehelf fur eine manquirte Realität" (KSA, NF, 13, 494). Für Distanzierungen gilt in hohem Maße das, was von Heinrich Heines Abwendung vom romantischen Geist gesagt worden ist: das er dabei gelegentlich gerade das an ihr übersehen hat, was ihn mit ihr verbindet.74 Er hat sich selber einmal, ironisch, die rhetorische, selbstkritische Frage gestellt, bezüglich seiner Geburt der Tragödie: „Aber, mein Herr, was in aller Welt ist Romantik, wenn nicht Ihr Buch Romantik ist [...] ist das nicht das ächte rechte Romantiker-Bekenntnis von 1830, unter der Maske des Pessimismus von 1850?" (KSA, GT, 1,21) Hier wird deutlich, dass Nietzsche sich hauptsächlich mit der französischen Romantik auseinandersetzt, als deren Schattenmann er Rousseau wahrnimmt. Vor allem dessen 18. Jahrhundert und die Folgen sind es, wovon sich Nietzsche abzuheben bemüht, wenn er die Romantik kritisiert. Exemplarisch ist, was er über George Sand schreibt, als er ihre Lettres d'un voyageur las: hier sei „alles, was von Rousseau stammt, falsch, gemacht, Blasebalg, übertrieben. Ich halte diesen bunten Tapeten-Stil nicht aus; ebensowenig als die Pöbel-Ambition nach generösen Gefühlen. [...] Wie kalt muß sie bei alledem gewesen sein, diese unausstehliche Künstlerin! [...] Kalt, wie Hugo, wie Balzac, wie alle Romantiker, sobald sie dichten! [...] diese fruchtbare Schreibe-Kuh, die etwas Deutsches im schlimmen Sinne an sich hatte, gleich Rousseau selbst" (KSA, GD, 6, 114f). Karl Joël hat angesichts solcher Textlagen insgesamt deutlich gemacht, dass man im Blick auf Nietzsche zweierlei Romantik auseinanderhalten muss, und „was hier ein für allemal gesagt sei: Nietzsche bekämpft als .Romantik' nicht die eigentliche, die Frühromantik um die Jahrhundertwende, sondern die spätere, die großenteils gar nicht mehr Romantik ist, sondern der Standpunkt altgewordener Romantiker, Dekadenz und Epigonentum der Romantik, Nachromantik".75 Auf einen wichtigen Unterschied zwischen den Romantiken, namentlich zwischen deutscher und französischer Romantik hat Nietzsche selber verwiesen und dabei seine Nähe zur deutschen Romantik nahegelegt. Die deutsche Romantik setzt sich nicht, wie die französische ab vom Klassizismus. „Die Romantiker in Deutschland", so Nietzsche, „protestieren nicht gegen den Klassizismus [im Gegenteil, sie sehen z. B. in Goethe einen ihrer Mentoren], sondern gegen Vernunft, Aufklärung, Geschmack, achtzehntes
Jahrhundert."76
Ebd., 78. Heinrich Hasse, Die Philosophie Raoul Richters, Leipzig 1914, 12. Vgl. Oskar Walzel, „Wesensfragen deutscher Romantik", in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts, Bd. 1929, 252. Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 158f. Friedrich Nietzsche, Nachlass. Werke in drei Bänden, Bd. 3, 647.
Steffen Dietzsch
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gibt im Leben Nietzsches
Berührungen mit dem romantischen Geist. Aber: Romantik dessen eigenen Romantizismus zu entwickeln und diesen nicht zuletzt am ,Phantasie'-Begriff zu erläutern"77, ist, wie Karl Heinz Bohrer schreibt, die Leistung von Karl Joëls Buch Nietzsche und die Romantik Es
viele
„Aus dem Widerspruch Nietzsches
zur
gewesen. Nietzsche hat seine geistigen Quellen, Arthur Schopenhauer und Richard Wagner, „dem man zugute halten muß, dass er die Tendenzen der Romantik auf seine Weise im Groß-Üppigen weiterführte"78, als die markantesten Fortsetzer und Ideenspender der europäischen Romantik gesehen. Gleichwohl hat er Wagners bedenkliche Fortentwicklung hin zu einem „Romanticismus" (KSA, NF, 9, 417) gesehen, es sei „Wagners Musik noch Literatur, so gut es die ganze französische Romantik ist".19 Überdies gab es viele bildungsgeschichtliche Berührungspunkte des jungen Nietzsche mit romantischen Verkehrslagen. Die näheren Orte seiner Kindheit und Jugend sind Orte der Romantik, sein Pfortenser Lehrer Karl August Koberstein war ein Romantikforscher. Auch sein enger Leipziger Freund Erwin Rohde war ein intimer Kenner des romantischen Landes (der Caroline v. Günderode und Friedrich Creuzers).80
Aphoristik Ein zentrales formales Element, das allerdings eine Verbindung von Nietzsches Schreibart mit der (Jenaer) Romantik nahe legt, ist der Umgang mit dem Aphorismus. Die Fremdheit seiner philosophischen Zeitgenossen diesem Mittel gegenüber, sieht Nietzsche nicht darin, dass sich modern, gewissermaßen diskursdemokratisch, eine systematische Redeart durchzusetzen beginnt, die die Verstehensprozesse, allgemein verbindlich, argumentativ, reguliert. Sondern Nietzsche bemerkt in der Warnung vor dem Aphorismus umgekehrt ein allgemeines Reduktionssyndrom in der philosophischen Kultur am Werk. Dass viele mit der aphoristischen Form Schwierigkeiten be-
kommen, läge darin,
so Nietzsches romantisch(-ironische) Schlüssel-Erklärung, „dass diese Form heute nicht schwer genug nimmt. Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und ausgegossen, ist damit, dass er abgelesen ist, noch nicht ,entziffert'; vielmehr hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen, zu der es eine Kunst der Auslegung bedarf. [...] Freilich thut, um dergestalt das Lesen als Kunst zu üben, Eins vor Allem noth, was heutzutage gerade am Besten verlernt worden ist und darum hat es noch Zeit bis zur ,Lesbarkeit' meiner Schriften -, zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls nicht ,moderner Mensch' sein muss: das Wiederkäuen" ( KGW, GM, VI, 267f.). So betont auch Joël die Aphoristik als die literarische Idealform für den kritischen Geist, als ,Lessingsches Salz gegen die geistige Fäulnis'. Der Aphorismus ist keine „Scherbe, sondern als Gemme, als Ganzes im kleinen, als selbstständige Ausmeiselung [...] als Entfaltung des Endlichen zu unendlicher Bedeutung"81 zu begreifen. Nietzsche man
-
Karl Heinz Bohrer, Die Kritik der Romantik, Frankfurt/M. 1989, 84. Ferdinand Lion, Romantik als deutsches Schicksal, Stuttgart 1963, 105. Ebd., Bd. 13,494. Vgl. Otto Crasius, Erwin Rohde, Tübingen/Leipzig 1902, 202. Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 116.
Karl Joëls Nietzsche und die Romantik neu gelesen
27
hätte, wenn er mehr rezeptive Energie freizusetzen in der Lage gewesen wäre, durchaus
Entdeckungen in der Jenaer Salonkultur machen können. Und er hätte Geistesverwandte, wie Friedrich Schlegel finden können (in ihm hätte er einen gemeinsamen LessingVerehrer getroffen), und mit ihnen dasselbe Interesse nach einer anderen Kunst, nämlich „eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche Kunst,
welche wie eine helle Flamme in einen unbewölkten Himmel hineinlodert!" (KSA, FW,
3,351). IV. Die letztliche Unbestimmbarkeit Nietzsches als Romantiker aber kann (oder will) Joël nicht überspielen, die wird deutlich, wenn er den Röckener einen „romantischen Barockgeist" nennt, als wäre man mit einem Epitheton nicht schon hermeneutisch genug gefordert! Es bleibt als ein Resultat der Re-Lektüre von Nietzsche und die Romantik die doppelte Einsicht: Romantik und Nietzsche sind beide Phänomene des Modernismus. Beide betonen: „In der Kunstrevolution verwirklicht sich das emanzipierte Individuum."82 Nietzsche und die Romantiker sind (a) Denker der Selbstüberwindung, damit über die Zeiten von Interesse, weil sie nicht bloß ihre Zeit in Gedanken fassen, sondern „Mutmacher überhaupt"83 sind. Damit repräsentieren sie (b) Lebensformen des Übergangs: „Nietzsche und die Romantiker, das sind sie Bacchantenseelen, die Dithyrambiker der deutschen Literatur [...] in der die tiefste Tragik umschlagen kann in das Jauchzen des Satyrspiels, in der die höchste Freude den Schmerz gebiert und der tiefste Schmerz die Lust."84
Werner Krauss, Aufklärung III, 229. Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, 92. Ebd., 90.
Dirk von Petersdorff
Nietzsche und die romantische Ironie
Wie eine ironische Rede in schöner Form aussieht, zeigt der Schluss der Fröhlichen Wissenschaft. Der vorletzte Aphorismus endet mit der Beschwörung eines neuen Ernstes, der in einer noch unbestimmten Zukunft eintreten soll: wenn, so heißt es dort, „das eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rückt, die Tragödie beginnt [...]". Hier wird rhetorisch der hohe Ton geübt, gekennzeichnet durch die Metaphorik („Schicksal der Seele"), das bedeutungsschwere Adjektiv „eigentlich", das Substantiv „Tragödie" und die drei Punkte am Schluss. Dem folgt der als „Epilog" bezeichnete letzte Aphorismus, der den Ernst der rhetorischen Situation durch „das boshafteste, munterste, koboldigste Lachen" unterbricht: „Die Geister meines Buches selber fallen über mich her, ziehn mich an den Ohren und rufen mich zur Ordnung. ,Wir halten es nicht mehr aus rufen sie mir zu -; fort, fort mit dieser rabenschwarzen Musik. Ist es nicht rings heller Vormittag um uns? Und grüner weicher Grund und Rasen, das Königreich des Tanzes? Gab es je eine bessere Stunde, um fröhlich zu sein? Wer singt uns ein Lied, ein Vormittagslied, so sonnig, so leicht, so flügge, dass es die Grillen nicht verscheucht [...]'" (KSA, FW, 3, 637). Es ist wichtig, dass dieses Gelächter nicht von außen kommt, sondern aus dem Buch selbst hervorgeht, denn es sind die Geister des Buches, die den hohen Ton als „rabenschwarze Musik" ironisieren, dem Propheten die Ohren langziehen und ein Vormittagslied fordern. Zu diesem Buch und zur sprechenden Instanz gehört also beides: Der Ernst und das Lachen; beides hat seinen Platz im Umgang mit der Welt. Wie in der Natur, auf die sich die Geister berufen, die Finsternis nur ein Teil ist, so soll der Denker verschiedene Perspektiven in sich verbinden, die Schwere und das Lachen vereinen. Wenn man an dieser und anderen Stellen bemerkt, dass die Ironie als Stilprinzip und Denkform eingesetzt wird, dann liegt es nahe, nach einer möglichen Beziehung zur Romantik zu fragen. Denn innerhalb der Moderne hat zuerst die Romantik die Ironie theoretisch begründet und literarisch erprobt.1 Schon Karl Joël hat in seiner Pionier-
1
Auf die antike Ironie und ihre wichtigste Manifestation in der Dialogführung des Sokrates kann hier nicht eingegangen werden. Sie ist aber für die Entwicklung des Ironie-Konzepts in der Romantik von großer Bedeutung. Wiederholt nennt Friedrich Schlegel Piaton einen Menschen, der sich in einer un-
Dirk von
30
Petersdorff
Studie zum Verhältnis Nietzsches zur Romantik von dieser Gemeinsamkeit gesprochen: Friedrich Schlegel und Nietzsche „sind Ironiker, und sie betonen die Ironie als ihre bewusste Methode und Kunst", heißt es bei ihm.2 Dabei soll einer möglichen Beziehung allerdings nicht in Form einer Einflussforschung nachgegangen werden, die fragt, welche romantischen Texte Nietzsche zu welcher Zeit gelesen, wie er sich dazu geäußert und welche Spuren diese Lektüre womöglich hinterlassen hat. Nicht selten verlieren sich solche grundsätzlich berechtigten Nachforschungen in einem Gewirr aus Einzelbemerkungen, die aus ihren Kontexten herausgelöst werden, bleiben auf Vermutungen angewiesen, müssen mit einkalkulieren, dass ein Autor Einflüsse unterschlägt oder dass sie ihm selber nicht bewusst sind. Zudem wird bei solchen Untersuchungen oft das zeitgenössische Verständnis von Romantik, in das auch Nietzsche eingebunden war, mit dem gegenwärtigen Bild und der gegenwärtigen Kenntnis von Romantik überblendet und vermischt. Die Ergebnisse solcher Studien fallen nicht selten unpräzise aus; sie lauten etwa so, dass Nietzsche einerseits die Romantik stark bewundere, sie gleichzeitig aber scharf kritisiere, wobei das eine mit dem anderen in einem dialektischen Wechselverhältnis stehe.3 Hier soll ein anderer Weg eingeschlagen, soll systematisch gefragt werden: Warum stellt die Ironie für die Romantiker wie für Nietzsche eine plausible Form dar, sich selbst auszudrücken und die Umwelt zu beschreiben? Aufweiche Situation antwortet das Konzept der Ironie, und inwiefern handelt es sich dabei um eine den Romantikern und Nietzsche gemeinsame Situation? Welche äußeren Bedingungen und welche Normen teilt Nietzsche mit seinen Vorfahren?
Die romantische Ironie: Erkenntniskritik und Moderne-Reflexion als
Voraussetzungen Die romantische Ironie ist offenkundig Teil eines großen denkgeschichtlichen Umbruchs, der transzendentalphilosophischen Wende. Mit Immanuel Kant wurden die Bedingungen und Formen der Erkenntnis zwischen das Ich und die Welt geschoben. Mit Kant setzte sich die Einsicht durch, dass unsere Beschreibungen von irgend etwas in der Welt immer durch unsere Perspektive und Begriffswahl vorgeformt sind. Die Ironie reagiert darauf, indem sie Äußerungen, Behauptungen und Wahrheitsansprüche
Suchbewegung befunden habe: „Er ist nie mit seinem Denken fertig geworden, immer beseine Ansichten zu berichtigen, zu ergänzen, zu vervollkommnen" (Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett, Hans Eichner u. a„ Paderborn u. a. 1958ff., Bd. XII, 209). Die beständige Selbstkorrektur, die im Blick auf ein nie zu erreichendes Absolutes geschieht, entspricht dem, was Schlegel romantische Ironie nennt. Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, Jena, Leipzig 1905, 121. Beispiele für solche Einflussforschungen sind : Matthias Politycki, Umwertung aller Werte? Deutsche Literatur im Urteil Nietzsches, Berlin/New York 1989, 230ff.; Ernst Behler, „Nietzsche und die frühromantische Schule", in: Nietzsche-Studien, Bd. 7 (1978), 59-96; Ingrid Hennemann Barale, „Subjektivität als Abgrund. Bemerkungen über Nietzsches Beziehung zu den frühromantischen Kunsttheorien", in: Nietzsche-Studien, Bd. 18 (1989), 158-181; Linda Duncan, „Heine and Nietzsche", in: Nietzsche-Studien, Bd.19 (1990), 336-345. endlichen
schäftigt,
2
Nietzsche und die romantische Ironie
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stellt. Eine Äußerung wird getan, wie in dem oben genannten Beispiel der Fröhlichen Wissenschaft, um anschließend ihre Gültigkeit einzuschränken: Sie ist nicht die einzig angemessene, einzig wahre Form des Ausdrucks. Schlegel, der wichtigste romantische Theoretiker der Ironie, spricht von der „Unmöglichkeit und Notwendigkeit einer vollständigen Mitteilung".4 Das heißt: Wir versuchen, mit einer Situation angemessen umzugehen, das Notwendige zu sagen, wollen einem Menschen gerecht werden, wissen aber gleichzeitig, dass dies nie wirklich gelingt. Immer fehlt etwas, immer ist ein Ton falsch, könnte man eigentlich auch ganz anders reden. Deshalb wird die Äußerung, für die man sich entscheidet, mit einer Einschränkung versehen. Im besonderen Maß ist die Ironie nach Meinung der Romantiker dort am Platz, wo es um Geltungsansprüche, um Wahrheitsfragen geht, wo vom Absoluten gesprochen wird. Hier ist es besonders notwendig, jene Aussagen oder Institutionen als begrenzt zu verlachen, die sich für substantiell, für unbezweifelbar halten. Einem selbstsicheren Menschen, der mit dem Gefühl auftritt, im Recht zu sein, begegnet die Ironie mit einem Lächeln, das um die vielen anderen Richtigkeiten weiß. Wenn mit Kant das Unbedingte nur als regulative Idee jenseits der Realität existiert und sich nicht in Gedanken repräsentieren lässt, dann ist die Position des Unbedingten freizuhalten, dafür ist der Ironiker zuständig. Jede Grenzziehung stellt er in Frage, um den Horizont offenzuhalten. Er demonstriert die Vorläufigkeit und Unvollständigkeit dessen, was mit sich ganz einig ist. Das Endliche, was seine Endlichkeit vergisst, wird an das Unendliche verwiesen. Deshalb kann Schlegel in einer seiner enigmatischen Äußerungen sagen: „Wer Sinn fürs Unendliche hat, [...] sagt, wenn er sich entschieden ausdrückt, lauter Widersprüche."5 Dabei fällt der ironische Widerspruch oft komisch aus, gibt der Ironiker den Hanswurst, der die Wahrheitsansprüche durch den Kakao zieht. Die Verbindung von Philosophie und Witz wird deutlich, wenn Schlegel die Ironie als „transzendentale Buffonerie" bezeichnet,6 somit Kant und die komische Figur der italienischen Oper verbindet. Neben den denkgeschichtlichen Bedingungen, neben der philosophischen und religiösen Situation, gibt es weitere Gründe für die Plausibilität der Ironie. Die Ironie reagiert auch auf die Erfahrung einer modernen, pluralen Gesellschaft, die sich nicht mehr auf Glaubenssätze festlegt, die allgemein geteilt werden, sondern nur noch den Anspruch erhebt, das Nebeneinander der verschiedenen Positionen in eine möglichst friedliche Form zu bringen. Die Literatur um 1800 hat schon ein deutliches Bewusstsein von der entstehenden offenen Gesellschaft, wie sich an verschiedenen Beispielen von Friedrich Schiller über Novalis bis zu Friedrich Hölderlin und Clemens Brentano zeigen ließe. Die Autoren reflektieren den Verlust von Einheitsbegriffen, sehen, dass der moderne Mensch eine Rollenpluralität in sich austarieren muss, bemerken, dass die verschiedenen Teilbereiche der Gesellschaft eigenen Normen folgen und dass die Variabilität des unter Vorbehalt aus
Ideengutes zunimmt.7
4
Friedrich
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Ebd., 243. Ebd., 160.
6
Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. II,
160.
Dazu: Dirk von Petersdorff, „Ein Knabe saß im Kahne, fuhr an die Grenzen der Romantik. Clemens Brentanos Roman" ,Godwi', in: Text + Kritik 143 (1999): Aktualität der Romantik, 80-94.
Dirk von Petersdorff
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In einer solchen Gesellschaft weiß jeder Anspruch auf allgemeine Gültigkeit, dass er mit anderen prinzipiell gleichrangigen konkurrieren muss, und deshalb lässt sich hier die Korrekturleistung der Ironie besonders gut erfahren. Dass das soeben Gesagte von einer nachfolgenden Position dementiert wird, kann jeder erfahren, der eine Zeitung durchblättert. Wenn die Ironie, wie Schlegel sagt, aus der Erfahrung „der ewigen Agilität, des unendlich vollen Chaos" hervorgeht,8 dann lässt sich eine solche Erfahrung in pluralen Gesellschaften besonders gut machen, denn sie leben von der beständigen Konkurrenz der Meinungen, die sich nicht mehr von einer übergeordneten Position aus ordnen und bewerten lassen. In dieser Gesellschaft ist die Kritik zum Prinzip geworden, herrscht ein Strom von Rede und Gegenrede, von Denken und Gegendenken. Ausdrücklich stellt Schlegel die Ironie in eine Verbindung zur Urbanität und zum Prinzip des Dialogischen: „Schaffe dir Ironie und bilde dich zur Urbanität."9 Mit dem Begriff der ,Urbanität' spielt der junge Schlegel auf die antike Polis als Herkunftsort der Ironie und auf moderne Großstädte an, besonders auf Paris. Verbunden damit ist die Vorstellung eines Menschen, der Anteil an den verschiedenen Bereichen der modernen Gesellschaft und ihren verschiedenen Normen besitzt und deshalb als vielfältige Persönlichkeit agiert. Von einem „Geist, der gleichsam eine Mehrheit von Geistern" enthält, ist in dem Zusammenhang die Rede, von einem „liberalen" Menschen, der „von allen Seiten und nach allen Richtungen wie von selbst frei ist".10 Die Moderne bringt ein bewegliches Ich hervor, und dessen Selbstverständnis lässt sich mit der Ironie ausdrücken, die Schlegel als „steten Wechsel von Selbstschöpfung und Vernichtung" bezeichnet." Dass solche Formulierungen nicht nur in einem ideengeschichtlichen Raum entstehen, wie es die jüngere Forschung betont hat, sondern auch aus historisch-politischen Erfahrungen hervorgehen, zeigt sich, wenn Schlegel das Innenleben des Ironikers als eine „ununterbrochene Kette innerer Revolutionen" bezeichnet.12 So wird der Zusammenhang der Ironie mit dem Zeitalter nach 1789 hergestellt: Im modernen Menschen und in der entfesselten Geschichte ist wenig Stabilität vorhanden, ringen verschiedene Ansprüche miteinander, und die Ironie ist eine Form, diese Widersprüche nicht zu leugnen, mit ihnen umzugehen, ohne dabei die Wahrheitsfrage zu suspendieren. Sie wird nicht abgeschafft, sondern offengehalten.
Nietzsche. Die Vergleichbarkeit seiner Voraussetzungen: Erkenntniszweifel und Differenzierung Damit sind die Voraussetzungen und Bedingungen der romantischen Ironie skizziert. Die aufgestellte These war, dass sich bei den Romantikern und Nietzsche eine vergleichbare Konstellation findet, dass sie sich mit vergleichbaren Bedingungen auseinandersetzen, auf die sie mit der Ironie reagieren. Zu fragen ist, nachdem die romanti9
10 11 12
Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. II, 163. Ebd., 251.
Ebd., 185,253. Ebd., 172. Ebd., 255.
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sehe Ironie in einen Zusammenhang mit der philosophischen Erkenntniskritik und der Reflexion einer modernen Gesellschaft gestellt wurde, ob sich beides auch im Werk Nietzsches findet. Dessen Erkenntniskritik ist gut bekannt. Sie findet einen markanten Einsatz mit dem frühen Aufsatz Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne; der berühmte Anfang lautet: „In irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls gab es einmal ein Gestirn, auf dem kluge Thiere das Erkennen erfanden" (KSA, WL, 1, 875). Wichtig ist, dass das Erkennen als Erfindung bezeichnet wird, es nicht um das einzig richtige Verständnis einer erfassbaren, feststehenden Realität geht. Erkenntnis versteht Nietzsche als den Versuch, dem undurchschaubaren Chaos der Wirklichkeit Regularitäten aufzuerlegen, sich die Welt im Zuge von Aneignungsprozessen handhabbar zu machen. Subjekt- und Objekt-Welt bilden zwei getrennte Sphären, zwischen denen es „keine Causalität, keine Richtigkeit" gibt (ebd., 884). Damit gelangt man über den Status einer Deutung der Objekt-Welt nie hinaus, und es fehlen Anhaltspunkte, die eine bestimmte Interpretation vor anderen auszeichnen könnten, weil sie der Wirklichkeit besonders nahekäme (KSA, FW, 3, 627). Der Zugang zu einer Welt ,da draußen' ist nicht möglich, ,die' Realität als einzige Realität nicht abbildbar. Die Bezeichnungen der Sprache sind Erfindungen, die ein gesellschaftliches Miteinander ermöglichen, indem sie verbindliche Bezeichnungen und Deutungen der Dinge festlegen. Nietzsche vertritt einen weitgehenden Nominalismus, der die Erschließungs-Leistung der Sprache bezweifelt. Dieser Nominalismus untergräbt den Glauben an unbedingte, nicht konstruierte Wahrheiten, die im „Alter der theoretischen Unschuld" versinken (KSA, MA I, 2, 356). Normen gehen aus Behauptungen und Annahmen hervor, die sich als nützlich erwiesen haben. Man kann hier von einer großen Verunsicherung sprechen, aber auch von einer großen Befreiung. Man wird frei von Unbedingtheitsansprüchen und ihrem Furor: „Es ist nicht der Kampf der Meinungen, welcher die Geschichte so gewaltthätig gemacht hat, sondern der Kampf des Glaubens an Meinungen" (ebd.). Wer um die Grenzen der Erkenntnis weiß, ist von der „Tyrannei des Wahren" befreit (KSA, M, 3, 297). Erkenntnis soll fortan als Gegengift dienen, um die Wirkung neu auftretender Wahrheiten zu begrenzen (KSA, MA, 2, 323). Befreit von den „Bezauberungen", welche in Jedem unbedingten Ja und Nein" liegen (KSA, FW, 3, 627), kann der Einzelne die Lebensformen wechseln; er wird nicht festgehalten. So schließt die Einsicht, dass individuelle Willensentscheidungen in jedem Erkenntnisakt mitwirken, eine Aufforderung zum Experimentieren ein. Wenn alles Erkennen einem Tanz gleicht, kann man diesen auch neu, elegant und schön tanzen (ebd., 417). Ausführlicher muss von Nietzsches Diagnosen zur modernen Gesellschaft die Rede sein, weil sie weniger bekannt sind. Dabei stammen die zitierten Äußerungen überwiegend aus den Büchern der mittleren Phase, aus Menschliches, Allzumenschliches, Mor-
und Die fröhliche Wissenschaft. In ihnen hat er die gesellschaftlichen Bedinseiner Zeit überraschend genau und abseits der üblichen zivilisationskritischen gungen Muster beobachtet. Im ersten Kapitel von Menschliches, Allzumenschliches, 1878 erschienen, heißt es unter dem Titel Zeitalter der Vergleichung: „Je weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so grosser wird die innere Bewe-
genröthe
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gung der Motive, um so grosser wiederum, dem entsprechend, die Polyphonie der Bestrebungen. Für wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an einen Ort sich und seine Nachkommen anzubinden? Für wen giebt es überhaupt noch etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste neben einander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralität, der Sitten, der Culturen. Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können; was früher, bei der immer localisirten Herrschaft jeder Cultur, nicht möglich war, entsprechend der Gebundenheit aller künstlerischen Stilarten an Ort und Zeit" (KSA, MA I, 2, 44). Die Geschichtsschreibung nennt das nüchtern Modernisierung. Beschrieben ist der Verlust von Bezügen, aus denen der Lebensvollzug unbefragt und selbstverständlich hervorging; der Verlust von Räumen und Milieus, die Mentalitäten prägten und Einstellungen vorgaben. Dem entspricht ein Gewinn, wenn man die gestiegene Beweglichkeit sieht, die neue Möglichkeit, zwischen Lebensformen zu wählen, Häuser zu wechseln. Die moderne Gesellschaft ist durch äußere und innere Unruhe gekennzeichnet, weil den freigesetzten Individuen verschiedene Welt- und Selbstbetrachtungen offen stehen, die sie leben können, auch probeweise, vorläufig. Die Gesellschaft stellt immer weniger Selbstverständlichkeiten bereit, der Grad ihrer Heterogenität steigt. Der moderne Mensch ist unentwegt damit beschäftigt, sich zu vergleichen. Das ist ein allgemeines Kennzeichen der Moderne, die sich in Schüben durchsetzt und deren Unruhe dort besonders stark wird, wo ein solcher Schub auftritt und wieder eine Schwelle überschritten wird. Nietzsche spricht von seiner Gegenwart als einer solchen Zeit, wo Altes und Neues einen „Contrast" bilden, weil sie „noch zu nahe gestellt" sind. Gegensätze stehen nebeneinander, führen zu einem „aufgeregten" Dasein, das die Reizbarkeit der Individuen erhöht (ebd., 43). Denn es ist nicht so, dass Traditionen einfach abgeschnitten werden und beseitigt sind. Sie verlieren nur ihre fraglose Normativität, existieren aber weiter und treten in Konkurrenz mit Neuentwicklungen. Dadurch ist der Einzelne verschiedenen Ansprüchen ausgesetzt, und Nietzsche kann einen durchschnittlichen Zeitgenossen beschreiben, der sich nach einer religiös bewegten Kindheit einem jugendlichen Pantheismus zuwendet; von dort gelangt er zu einer metaphysischen Philosophie und sucht sein Heil dann in der Kunst; schließlich landet er beim Glauben an Naturwissenschaft und Historie (ebd., 224f.). Ein Leben verbindet konkurrierende Weltdeutungen, alte und neue, so dass der Kampf der Generationen auch im Inneren stattfindet (ebd., 222). Damit geht jenes Gefühl der Beschleunigung einher, das schon aus der Moderne des späten 18. Jahrhunderts bezeugt ist: Es ist, „als ob die Jahreszeiten zu rasch aufeinander folgten" (ebd., 232.). Für diese mentalen Veränderungen werden historische Ursachen benannt. Dazu zählt die gestiegene Mobilität durch Handel, Industrie und Verkehr. Räume und Grenzen bieten jetzt weniger Orientierung (ebd., 309). Mit der Urbanisierung gehen „feste, ruhige Linien" der Natur verloren (ebd., 234), mit denen man lebte. Auf politischem Gebiet sieht Nietzsche überraschend präzise die langsame, aber mächtige Demokratisierung des 19. Jahrhunderts. Sie führt zu einem Abbau von Hierarchien, von Oben und Unten, von normierenden Größen (ebd., 292). Stattdessen herrscht die „Concurrenz" von Menschen und Parteien, die sich rasch ablösen, denen die „Bürgschaft ihrer Dauer" fehlt -
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der Konkurrenzsituation ist die Verpflichtung zum Gewaltverzicht verbunden (ebd., 359). So ändern sich die Formen des Zusammenlebens, vor allem aber die Basis des Staates. Die demokratische Regierung als „Function des alleinigen Souverains, des Volkes", kann, wenn das Volk „mannichfach über religiöse Dinge denkt", keine glaubensähnlichen Vorgaben mehr formulieren (ebd., 303). Der Staat bildet keine mythologische Einheit mehr ab, er ruht nicht mehr auf einem gemeinsamen mentalen Fundament. Damit wird die Sphäre des Politischen vom „unbedingten Gefühle" gelöst (KSA, M, 3, 148). Sie erfüllt Funktionen, organisiert Konflikte, vermittelt aber keine Wahrheit. Deshalb kann Nietzsche zuletzt die „Entfesselung der Privatperson" als „Consequenz des demokratischen Staatsbegriffes" ansehen (KSA, MA I, 2, 305). Natürlich lebt auch diese Privatperson noch in Zusammenhängen, in denen man Aufgaben wahrnimmt, aus denen man sein Selbstverständnis bezieht. Aber diese Zusammenhänge werden nicht mehr als natürlich erfahren, sie entstammen nicht mehr einer großen, im wesentlichen als gegeben angesehenen Ordnung. Der alteuropäische Glaube an Vorherbestimmung geht verloren: „Stände, Zünfte, erbliche Gewerbs-Vorrechte haben mit Hülfe dieses Glaubens es zu Stande gebracht, jene Ungeheuer von breiten Gesellschafts-Thürmen aufzurichten", deren Qualität in ihrer Schutzfunktion und Dauer besteht. Dagegen entdeckt man in den neueren, „eigentlich demokratischen" Zeitaltern das „Willkürliche" aller Zusammenhänge, ihren Konstruktcharakter. Das wirkt zurück auf den Lebensweg, der nicht mehr vorgezeichnet ist, „wo der Einzelne überzeugt ist, ungefähr Alles zu können, ungefähr jeder Rolle gewachsen zu sein, wo Jeder mit sich versucht, improvisirt, neu versucht, mit Lust versucht, wo alle Natur aufhört und Kunst wird". Nietzsche sieht, dass es sich bei dieser Freisetzung des Individuellen um einen Zug zur Verwestlichung handelt.13 Der „Amerikaner-Glaube" wird immer mehr auch „Europäer-Glaube", und die alten europäischen Türme zerfallen: „Wir Alle sind kein Material mehr für eine Gesellschaft" (KSA, FW, 3, 595ff.). Eine derartige Auseinandersetzung mit den Bedingungen der Moderne ist in der deutschen Literatur und Philosophie schon vor Nietzsche geführt worden; hier gab es Punkte, an die er anknüpfen konnte. Ein ungehörter Ton ergibt sich aber aus der Emphase, mit der Nietzsche die Freisetzung des Individuums betreibt. In den genannten Werken der mittleren Phase setzt sich Nietzsche deutlich von jener Zivilisationskritik ab, die Modernisierung als Verfall ansieht, die intensiv vor den Gefahren zu großer Freiheit gewarnt, aber selten Angst vor zu wenig Freiheit geäußert hat. Gegen deren Bewertungen wendet er sich, dagegen, Zeiten, in denen es „schon viele Individuen und Lust am Individuellen giebt", als Zeiten des Niedergangs, der „Corruption" zu bezeichnen. Er sieht, dass starke Kollektiv-Identitäten der Entwicklung neuer Ideen hinderlich sind. Wo die eine Leidenschaft der Groß-Gemeinschaft in viele Leidenschaften zerfallt, steigt die Gesamtmenge der „verbrauchten Energie eines Volkes", und das Individuum gibt „so verschwenderisch" Energie aus, „wie es ehedem nicht konnte". Während die
(ebd., 305). Mit
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Die Geschichtswissenschaft hat erst neuerdings diese Perspektive eingenommen: Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, München 2000. Die Darstellung konzentriert sich auf die Politik; eine Mentalitätsgeschichte der Aneignung des Westens und der Auseinandersetzung mit ihm steht noch aus.
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Verteidiger des sozialen Bandes von „Erschlaffung" sprechen, schlägt „die Flamme der Erkenntniss lichterloh zum Himmel" (ebd., 395f). Dabei setzt er Individualisierung nicht mit Beziehungslosigkeit oder Gesellschaftsferne gleich. Auch die „ungebundneren" und „unsichereren" Individuen (KSA, MA I, 2, 187), die den Boden des Allgemeinen lockern, leben noch in Zusammenhängen. Diese gestalten sich aber anders. Interessanterweise findet man schon die Vorstellung einer differenzierten Gesellschaft, die aus verschieden organisierten Teilbereichen besteht. In der Moderne muss ein Individuum „überaus vielartigen Ansprüchen der Cultur angepasst werden, ohne dass diese es beunruhigen und seine Einartigkeit zersplittern" (ebd., 203). Hier wird Heterogenität festgestellt, ohne Identität für obsolet zu erklären. An einem einheitlichen, kontinuierlichen Selbstbezug wird festgehalten, dieser aber als Integrationsleistung bestimmt, als Fähigkeit, verschiedene Welten und ihre Ideen zu verbinden. Das moderne Ich ist nicht losgelöst, sondern in den „Contrapunct der privaten und öffentlichen Cultur eingereiht". Es ist weiter Teil einer Ordnung, aber weil es sich um eine bewegliche Ordnung handelt, gestaltet es diese auch mit. Im Bild der Musik: Man soll „als Melodie begleiten" und „die Melodie führen" (ebd., 203). Dabei kann es, weil die Moderne aus schwer zu vereinbarenden Gegensätzen besteht und der Mensch in sich „heterogene Mächte waltend findet", zu heftigen Spannungen im Inneren kommen. Auch hier flüchtet sich Nietzsche nicht in einfache, extreme Lösungen, sondern skizziert ein Modell: Das Innenleben sei als Gebäude zu gestalten, in dem wi-
derstrebende Ideen, „wenn auch an verschiedenen Enden", wohnen können, „während zwischen ihnen versöhnende Mittelmächte" angesiedelt werden, um gegebenenfalls Streit zu schlichten. Das Modell des heterogenen Hauses dürfte der Lebenspraxis vieler gegenwärtiger Menschen nahe kommen (ebd., 227f.).14
Nietzsches Ironie Wenn
14
Nietzsches Ironie die Rede sein soll,15 dann muss gezeigt werden, dass seinen Überlegungen zu den Grenzen der Erkenntnis und aus seinen Beob-
nun von
sie sich
aus
Überlegungen zur parallelen Organisation des modernen Ich und der modernen Gesellschaft finden sich auch in den Nachlassnotizen (u. a. KSA 9). Aus grundsätzlichen Überlegungen, das Verhältnis
veröffentlichten Texten und Notizen betreffend, und im Hinblick auf die Rezeption beschränke ich mich auf die von Nietzsche zur Veröffentlichung gegebenen Schriften. Grundsätzlich sollte man den Unterschied zwischen Werken, die von einem Verfasser zu einem bestimmten Zeitpunkt als abgeschlossen, als formal und gedanklich durchgearbeitet angesehen und deshalb für die Öffentlichkeit freigegeben werden, und Aufzeichnungen, die den Charakter von Notizen, Überlegungen, auszubauenden Ideen und Lesefrüchten tragen, nicht nivellieren. Den Begriff der Ironie benutzt Nietzsche in uneinheitlicher Bedeutung und Bewertung. Die romantische Theorie war zu seiner Zeit editorisch nicht leicht fassbar und nicht rekonstruiert. Er kannte die lyrische Umsetzung der Ironie bei Heinrich Heine und hat auf ihre „göttliche Bosheit" hingewiesen (KSA, EH, 6, 286). Entscheidend sind aber nicht Einflüsse und Begriffe, sondern eine Haltung, die auf Bedingungen der Moderne reagiert und deshalb periodisch wiederkehrt. Dazu Bernd Bräutigam, „Verwegene Kunststücke. Nietzsches ironischer Perspektivismus als schriftstellerisches Verfahren", in: Nietzsche-Studien, Bd. 6 (1977), 45-63; Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosoph von
15
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zur Struktur der modernen Gesellschaft ergibt. Der Zusammenhang wird deutlich in der Vorrede zum ersten Band von Menschliches, Allzumenschliches; dabei handelt es sich um ein zentrales und ästhetisch eindrucksvolles Stück von Nietzsches Werk. Er geht von der Begrenztheit jeder Behauptung aus: „Du solltest das Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen die Verschiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte." Aus der Einsicht in die „intellektuelle Einbusse, mit der sich jedes Für, jedes Wider bezahlt macht" (ebd., 20), zieht er den Schluss, dass es besser und wahrer ist, die Perspektive wiederholt zu wechseln. So wird man zu einem vollständigeren Menschen, reichert sich an, wird Einschränkungen los: „Überallhin dringend, fast ohne Furcht, nichts verschmähend, nichts verlierend, alles auskostend, alles vom Zufälligen reinigend und gleichsam aussiebend" (ebd., 21). Das ist der Positionswechsel des Ironikers. Ihm liegt ein starker Freiheitswille zugrunde: „Man lebt, nicht mehr in den Fesseln von Liebe und Hass, ohne Ja, ohne Nein, freiwillig nahe, freiwillig ferne, am liebsten entschlüpfend, ausweichend, fortflatternd, wieder weg, wieder empor fliegend" (ebd., 18). Festlegungen gelten als Abhängigkeiten, als Bindung an etwas, das selber nur bedingt ist, an ein Teilsystem, eine Teilwahrheit oder einen Götzen. Dagegen richtet sich die Neubeschreibung der Identität: „In vielen Ländern des Geistes zu Hause, mindestens zu Gaste gewesen; den dumpfen angenehmen Winkeln immer wieder entschlüpft, in die uns Vorliebe und Vorhass, Jugend, Abkunft, der Zufall von Menschen und Büchern, oder selbst die Ermüdungen der Wanderschaft zu bannen schienen; voller Bosheit gegen die Lockmittel der Abhängigkeit, welche in Ehren, oder Geld, oder Ämtern, oder Begeisterungen der Sinne versteckt liegen; dankbar sogar gegen Noth und wechselreiche Krankheit, weil sie uns immer von irgend einer Regel und ihrem ,Vorurtheil' losmachte, dankbar gegen Gott, Teufel, Schaf und Wurm in uns" (KSA, JGB, 5, 62). Ausdrücklich wird diese Haltung auf die vorhergehende historische Diagnose bezogen. Man lebt in einem Zustand, in dem es „keinen Vergelter, keinen Verbesserer letzter Hand mehr" gibt, man geht nicht mehr von einer letzten Weisheit, letzten Macht aus, glaubt nicht mehr, dass die Geschichte von einer großen Vernunft gesteuert wird (KSA, FW, 3, 527). Diesen Zustand kann man beklagen und Ironiker als zynische Menschen ansehen, die nicht mehr bereit sind, sich für irgend etwas zu engagieren und alles von oben herab belächeln. Mit Nietzsche kann man aber die Perspektive umdrehen und die Humanität gerade in der Ironie finden. Gegen die Vertreter des Unbedingten, die dekretieren: „Es giebt Etwas, über das absolut nicht mehr gelacht werden darf!", setzen die Freunde der Ironie den heiteren Zweifel, vertrauen dem „corrigirenden Lachen" (ebd., 372).16 Dieses Lachen resultiert aus der Erfahrung eines Menschen, der „durch verschiedene Ueberzeugungen hindurchgegangen ist" (KSA, MA I, 2, 358) und mit dem
achtungen
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Psychologe -Antichrist, Darmstadt, 2. Auflage 1988, 455ff.; Ernst Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1921, 5. Auflage, 177ff; Ernst Behler, Ironie und literarische Moderne, Pa-
derborn u. a. 1997, 250ff. So hat auch Bernd Bräutigam die Ironie verstanden: als „Konstellation von sich ausschließenden perspektivischen Betrachtungsweisen, die verhindern soll, daß die Einzelaussagen, selbst bei ihrer dogmatischen Artikulation, als fixe Wahrheiten rezipiert werden können" {Verwegene Kunststücke,
59).
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Nebeneinander konkurrierender Wahrheitsansprüche lebt. Deshalb ist die Ironie auch der Skepsis verwandt, die Odo Marquard als „Sinn für Gewaltenteilung" definiert hat.17 Deshalb kann Nietzsche sie als Waffe gegen die Ideologen des späten 19. Jahrhunderts ansehen: „Sollten wir, die geistigeren Menschen eines Zeitalters, welches ersichtlich immer mehr in Brand geräth, nicht nach allen löschenden und kühlenden Mitteln, die es giebt, greifen müssen" (ebd., 62). Auch dem 20. Jahrhundert hätte eine größere Zahl von Ironikern nicht geschadet. Das eine ist es, Ironie zu postulieren. Das andere ist die Fähigkeit, tatsächlich einen „Feldzug" gegen sich selbst zu führen (KSA, M, 3, 244). Nietzsche war dazu in der Lage, wie sich mühelos zeigen lässt. In vielen Teilen seines Werkes greift er auf Muster zurück, die aus der Tradition des Materialismus stammen. Beispielhaft kann das sechste Stück von Menschliches, Allzumenschliches stehen, wo zwischenmenschliches Verhalten auf versteckte Motive zurückgeführt wird, wo es um die Enthüllung von Absichten geht, die dem Einzelnen Nutzen oder Lustgewinn verschaffen, die er aber maskiert. Im Spätwerk wird dieser Materialismus immer stärker. Gleichzeitig kann Nietzsche noch in der Genealogie der Moral fragen, was bestimmte Denker, besonders die Psychologen, dazu treibt, die Antriebe des Menschen „in einer blinden und zufälligen IdeenVerhäkelung und -Mechanik oder in irgendetwas Rein-Passivem, Automatischem, Reflexmässigem, Molekularem und Gründlich-Stupidem zu suchen" (KSA, GM, 5, 257). Wo der einfache Materialist überall Triebe und versteckte Motive sieht, erkenntnistheoretisch naiv von der Wahrheit seiner Perspektive ausgeht, fragt der Ironiker nach dem Motiv, das den Menschen dazu bringt, überall nur Motive zu sehen: „Ist es ein heimlicher, hämischer, gemeiner, seiner selbst vielleicht uneingeständücher Instinkt der Verkleinerung des Menschen? Oder etwa ein pessimistischer Argwohn, das Misstrauen von enttäuschten, verdüsterten, giftig und grün gewordenen Idealisten? Oder eine kleine unterirdische Feindschaft und Rancune gegen das Christenthum (und Plato), die vielleicht nicht einmal über die Schwelle des Bewusstseins gelangt ist? Oder gar ein lüsterner Geschmack am Befremdlichen, am Schmerzhaft-Paradoxen, am Fragwürdigen und Unsinnigen des Daseins?" (ebd., 257f). Der Materialist hintergeht den Menschen, der ironische Materialist hintergeht auch sich selbst. Zur letzten Konsequenz wird die Ironie dort getrieben, wo sie ihre eigene Gültigkeit befragt. Wer sich gegen den Willen zum Unbedingten, nicht Bezweifelbaren wendet, muss auch die Bedingtheit der Ironie mitbedenken, die womöglich die beste, aber nicht die im alten Sinn wahre Haltung ist. Wer nicht an der falschen Hypostasierung von Vorläufigkeiten hängen bleiben will, darf auch „nicht an seiner eignen Loslösung hängen bleiben, an jener wollüstigen Ferne und Fremde des Vogels, der immer weiter in die Höhe flieht, um immer mehr unter sich zu sehn" (KSA, JGB, 5, 59). „Ironie der Ironie" nannten das die Romantiker18 und meinten damit die Fähigkeit, bei Gelegenheit auch von der Pflicht zur Skepsis, von der Haltung des distanzierten Lächelns absehen können. Der intellektuellen Selbstüberwindung entspricht eine lebenspraktische Ironie, die sich gegen die eigene Person, ihre Struktur und ihre Merkmale richtet. So hat Nietzsche,
zu
Odo Marquard, Skepsis und Zustimmung. Philosophische Studien, Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. II, 369.
Stuttgart 1994,
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Scherze über sich selbst in seine PhilosoBilder ihm von sieht, fällt natürlich der große und stark phie eingestreut. ins stellt sich eine Situation Bart Er vor, in der sich Menschen kennen geformte Auge. lernen und zunächst nicht als Persönlichkeit wahrnehmen, sondern über eine in die Augen springende Einzelheit: „So kann der sanftmüthigste und billigste Mensch, wenn er nur einen grossen Schnurrbart hat, gleichsam im Schatten desselben sitzen, und ruhig sitzen, die gewöhnlichen Augen sehen in ihm den Zubehör zu einem grossen Schnurrbart" (KSA, M, 3, 247f). Der Ironiker sitzt sich gegenüber und betrachtet sich von außen. Eine gewisse Gefahr für ihn lag in seiner Neigung, sich als Zerstörer einer Welt, als Erahner neuer, ganz unbekannter Lebensformen zu verstehen, prophetische Aussagen zu treffen und über alles und jeden Urteile zu fallen. Manche von Nietzsches Verehrern blenden solche Schwächen noch heute aus, aber der Meister schrieb dazu: „Das Mittel, um der Prophet und Wundermann seiner Zeit zu werden, gilt heute noch wie vor Alters: man lebe abseits, mit wenig Kenntnissen, einigen Gedanken und sehr viel Dünkel, endlich stellt sich der Glaube bei uns ein, dass die Menschheit ohne uns nicht fortkommen könne" (ebd., 231). Besonders überzeugt war Nietzsche bekanntlich von der Lehre der ewigen Wiederkunft, die er nicht nur als Weltgesetz präsentierte, sondern auch in ihrer Entstehung propheten-gerecht stilisierte. „6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit" (KSA, EH, 6, 335) sei sie ihm zuteil geworden. Vorzeichen hätten dies angekündigt. Verknüpft wird sie mit der Figur des Weisheitslehrers Zarathustra, präsentiert mit rhetorischem Zauber. Doch ebenso kann er schreiben: „Aber ich bekenne, dass der tiefste Einwand gegen die ,ewige Wiederkunft', mein eigentlich abgründlicher Gedanke, immer Mutter und Schwester sind" (ebd., 268.) und so zerreißt der Zauber. Das Hohe ist mit dem Niederen verbunden, das Weltgesetz mit der Familien-Bataille. Auch der Prophet hat unter den Frauen der Familie zu leiden. Immer wieder ist es der Wille zur Größe, der belächelt wird, dem die skeptische Gegenrede gilt. So kann Nietzsche im Rückblick schreiben: „Freilich, es gab einmal .schönere' Zeiten, wo man sich noch mit jedem einigermaassen neuen Gedanken so unentbehrlich fühlen konnte, um mit ihm auf die Strasse zu treten und Jedermann zuzurufen: ,Siehe! Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!" (KSA, FW, 3, 547). Wieder trifft der Spott einen wunden Punkt der Moderne, die Fortsetzung einer religiösen Rhetorik („Siehe") und religiöser Ansprüche („das Himmelreich") bei Intellektuellen, die sich selbst für säkularisiert halten. Noch in den letzten Briefen kann unvermutet das ironische Selbstverhältnis durchschlagen. Der mit Götternamen signiert, kann gleichzeitig Jacob Burckhardt klagen, dass er dazu verurteilt sei, „die nächste Ewigkeit durch schlechte Witze zu unterhalten" (KSB, 8, 577). Die Ironie schlägt sich nicht nur in der Strukturierung der Gedanken nieder, sondern auch in der Formung der Sprache. Dem Prinzip der ironischen Fluktuation entspricht ein Wechsel der Diskurse. Nietzsche praktiziert eine große Sprechnähe, verwendet aber ebenso das Vokabular von Fachsprachen; er schreibt Verse und polemisiert; übt den vorsichtig-fragenden Stil, aber auch eine dekretierende Prosa. Diese Weite der Sprache hat Thomas Mann herausgestellt. Er spricht von den verschiedenen Tönen in Nietzsches Philosophie und nennt einen davon altfränkisch-gelehrtenhaft, einen anderen deutschum
der Gefahr der
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humanistisch. Er sieht einen „unheimlich mondänen und hektisch heiteren, zuletzt mit der Schellenkappe des Weltenspaßmachers sich schmückenden Über-Feuilletonismus."19 Interessant ist die so konstatierte Verbindung von Tradition und Moderne: Man lebt mit der Herkunft und dem Alten, das in uns „fortdichtet, fortliebt, forthasst" (KSA, FW, 3, 417), weicht aber vor der Sprache der Gegenwart, selbst vor dem viel geschmähten Journalismus nicht zurück. Dabei wird der Witz des Narren mit dem Ernst verbunden. So steht Nietzsche in der Tradition ironischen Philosophierens, das sich schon in seiner romantischen Form durch die Integration verschiedener Haltungen und Stillagen auszeichnete. Neben der Form der Sprachstrukturierung sind es bestimmte Bildfelder, die sich zum Ausdruck eines ironischen Selbstgefühls eignen. Dazu zählen traditionell Bilder der Bewegung, der Höhe und Leichtigkeit, die für das Abstreifen von Festlegungen, Auflösung von Ordnungen stehen. Nietzsche verwendet an mehreren Stellen die Metaphorik des Tanzes, die er mit der Moderne-Diagnose verbindet. Die Tanzbewegung entsteht, weil der moderne Mensch in seiner Lebensführung den Ansprüchen verschiedener Welten gerecht werden muss und sich dabei mit schnellen Schritten zwischen ihnen hin und her bewegt. Wer wissenschaftlich erkennt, aber auch Religion und Poesie treibt und zwischen diesen Ansprüchen nicht nur hin- und hertaumeln, sondern seine Identität ausbilden will, der tanzt: „Die hohe Cultur wird einem kühnen Tanze ähnlich sehen" (KSA, MA I, 2, 228f.). Wer den Deutungen der Welt jeweils nur ein begrenztes Recht gibt, befreit sich aus ihren Verengungen und sieht ihre Kämpfe aus der Distanz an. Oft ist bei Nietzsche von einer solchen distanzierten Haltung des „Nicht-Liebens, NichtHassens, Ueberschauens" die Rede (ebd., 105). Als Vergleich dient der Blick vom Gebirge: „Wie ruhig alle Dinge im Lichte liegen! wie frei man athmet! wie Viel man unter sich fühlt" (KSA, EH, 6, 258). Schon die Romantiker hatten, wo sie das ironische Selbstgefühl beschrieben, auf die Metapher des Schwebens zurückgegriffen. So schreibt Schlegel, dass die poetische Reflexion, die sich von Interessen und begrenzten Absichten gelöst habe, „auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben" werde.20 Im Anschluss an Johann Gottlieb Fichtes Subjektphilosophie bezeichnet Novalis das „Freyseyn" als „Schweben zwischen Extremen".21 In diesem Zusammenhang fragt Nietzsche, ob eine Philosophie, die von dem Wandel aller Vokabulare überzeugt ist, nicht eigentlich zur Tragödie werden müsse. Denn der Loslösung von Moral und Religion werden keine neuen verbindlichen Wahrheiten entgegengestellt, so dass nur die Skepsis bleibt, die beständige Frage 19
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Thomas Mann, Essays. Band 6. Meine Zeit. ¡945-1955, hg. von Hermann Kurzke, Stephan Stachorski, Frankfurt/M. 1997, 66 {Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung"). Zum Wechsel der Sprachebenen: Hans-Martin Gauger, Nietzsches Stil am Beispiel von .Ecce homo', in: Nietzsche-Studien, Bd. 13 (1984), 332-355, der eine der wenigen wirklichen Analysen von Nietzsches Sprache liefert. Interessant im Hinblick auf ironisches Sprechen ist die so genannte „Technik des fortschreitenden, sich korrigierenden Durchstoßens", das der ironischen Forderung nach dem Wechsel von Setzung und Vernichtung entspricht (345). Friedrich Schlegel, Kritische Ausgabe, Bd. II, 182. Novalis. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. von Hans-Joachim Mahl, Richard Samuel, München, Wien 1978, Bd. 2, 177.
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nach erkenntnisleitenden Motiven, die uns überreden wollen, etwas als wahr anzusehen. Motive des Handelns geraten unter Verdacht, Leidenschaften, die zur Zukunft drängen, werden bezweifelt. Nietzsche will die darin liegende Befreiung lehren: Man wird von Affekten frei, weil man ihre Begrenztheit verstanden hat. Man verliert Furcht und Zorn, und manche Fragen stellt man einfach nicht mehr. Dem Menschen, der immer vollständiger erkennt und deshalb auf vieles Einzelne verzichtet, wird „als der wünschenswertheste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge" erscheinen (KSA, MA, 2, 53ff.).
Fazit: Die Ironie als periodisch wiederkehrende Antwort auf die Bedingungen der Moderne Das Verhältnis Nietzsches zur romantischen Ironie lässt sich abschließend genauer bestimmen. Gefragt wurde nicht nach einem Einfluss, der aus einer Lektüre hervorgeht. Selbst wenn man hier fündig wird, muss man noch erklären, warum eine bestimmte Lektüre einen so starken Eindruck hinterlässt, dass sie die eigene Denk- und Schreibweise beeinflusst, während andere intellektuelle Bekanntschaften spurlos vorübergehen.22 Das aber lässt sich nur systematisch verstehen, und so wurde hier auch gefragt. Es ging um die Situation, auf die Nietzsche und die Romantiker mit der Ironie antworten; es sollte gezeigt werden, dass diese Situation nicht die gleiche, aber eine vergleichbare ist. Diese Vergleichbarkeit ergibt sich aus dem Zweifel an den Möglichkeiten menschlicher Erkenntnis und aus der Erfahrung einer Gesellschaft, in der verschiedene Wahrheiten und Lebensformen nebeneinander bestehen, koexistieren. In der deutschen Literatur und Philosophie wird diese Situation seit dem späten 18. Jahrhundert reflektiert, in jener Zeit, die heute als Beginn der Moderne angesehen wird.23 Im 19. und 20. Jahrhundert besteht die Herausforderung durch die Erkenntnis- und nachfolgend die Sprachkritik sowie durch Individualisierungsprozesse, die alle Bereiche der Gesellschaft erfassen, fort. Deshalb tritt periodisch in dieser Zeit immer wieder die Ironie hervor, als eine mögliche Art des Umgangs mit diesen Bedingungen. Wollte man auf dieser Ebene nach der Beziehung Nietzsches zur romantischen Ironie fragen, mussder Weg über Heine laufen, dem ersten Autor, der das Konzept der Ironie, das die Frühromantik entwickelte, wirklich in Literatur umsetzte. Zu Heine gibt es aussagekräftige Bemerkungen Nietzsches. Am bekanntesten ist der Lobpreis in Ecce homo: Hier wird die ironische Struktur von Heines Denken benannt. Heine kann, so Nietzsche, den Gott nicht ohne den Sartyr denken (KSA, EH, 6, 268) und entspricht damit dem Schlegelschen Prinzip von Setzung und Aufhebung. Von höchsten Wahrheiten ist die Rede, aber wenn sie vorbeiziehen, muss der Scherz ihnen auf dem Fuß folgen, damit keiner vergisst, dass es sich um Abbilder, um vorläufige Manifestationen des höchsten Wahren handelt, die von anderen Abbildern eingeschränkt und abgelöst werden. Das Göttliche zeigt sich in der Bewegung, dem beständigen Zug von Göttern und Sartyrn; es ist der Stachel, der die Suche antreibt. Zum Begriff der Moderne als Makroepoche, zu deren konstitutiven Merkmalen und Untergliederung in Mikroepochen vgl. Silvio Vietta/Dirk Kemper (Hg.), Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik, München 1998.
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Dirk von Petersdorff
Wenn sich solche Gemeinsamkeiten über relativ große Zeitabstände hinweg feststellen lassen, dürfen zugleich die Differenzen innerhalb des Rahmens der Moderne, die sich aus dem historischen Wandel ergeben, nicht übersehen werden. Am Beispiel der Voraussetzungen der Ironie ließe sich sagen, dass Nietzsche die Erkenntniskritik, die um 1800 entwickelt wurde, verschärft und die bei Kant vorhandenen Sicherungen gegen einen bodenlosen Zweifel, die regulativen Ideen und die praktischen Postulate, kappt. Dadurch wird auch die Ironie eine andere. In der auf Kant folgenden Romantik war sie relativ fraglos auf ein denkbares Absolutes bezogen, das den Negationen eine endgültige, durchschlagende Schärfe nahm. Auch bei Nietzsche gibt es Versuche, die Ironie religiös aufzuladen, aber daraus wird keine dauerhafte Vorstellung, keine Linie, die das Werk durchzieht. Seine Ironie ist daher ebenso anfällig für einen alles zersetzenden Zweifel wie für dezisionistische Befreiungsversuche aus dem Zweifel, in denen plötzlich ein neuer Wahrheitsbesitz behauptet, eine alle Probleme lösende Großtheorie
postuliert wird. Fragt man nach der Gesellschaftsdiagnose, so sieht man, dass Nietzsche über präzisere Beschreibungen einer säkularisierten, in Bewegung geratenen, sich auseinander entwickelnden Gesellschaft verfügt, als dies um 1800 möglich war. Mit dem Fortgang der Geschichte erhöht sich die Möglichkeit, entsprechende Erfahrungen zu machen, wo die Frühromantiker mehr von der politischen Theorie und den revolutionären Entwicklungen in Frankreich als von den erst anfänglichen gesellschaftlichen Modernisierungsprozessen in Deutschland ausgehen mussten. Dadurch ist für Nietzsche die Vorstellung einer mentalen Einheit der Gesellschaft, wie sie im romantischen Konzept einer .Neuen Mythologie' postuliert wurde, kaum noch von Bedeutung; jedenfalls gilt dies für die Zeit nach der Trennung von Richard Wagner, der noch an der romantischen Kunstreligion partizipierte. Das ironische Widerspiel heterogener gesellschaftlicher Positionen wird dadurch bei Nietzsche sehr viel schärfer dargestellt als in der Romantik, wo es durch die Vorstellung eines idealen und in der Zukunft wieder möglichen Konsenses eingehegt wurde. Wiederum erhöht sich dadurch die Gefahr einer Verführung durch neue Großtheorien, die eine Neuformierung und schließlich eine Aufhebung des Pluralismus versprechen. Derartige Differenzen zwischen der romantischen Ironie und Nietzsches Ironie sind zu benennen, die Gemeinsamkeiten jedoch sind stärker. Sie treten in einer verwandten Schreibweise auf, deren Verwendung auf vergleichbare Erfahrungen und gemeinsame Schlussfolgerungen zurückgeführt werden konnte. Nietzsche gehört zu jener Linie ironischer Literatur, die in der Romantik mit Schlegel, Brentano und Heine beginnt und zu
der nach ihm in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Thomas Mann, in der zweiten Hälfte etwa Hans Magnus Enzensberger gehören. Diese Linie ist innerhalb der deutschen Literatur und Philosophie nicht dominant und wird von einer dauerhaften IronieKritik begleitet. Aber sie stellt eine der Möglichkeiten dar, mit den Bedingungen der Moderne umzugehen, statt sie zu negieren, das Subjekt zu erhalten, seine Komplexität nicht zu reduzieren. Die Ironie gehört deshalb auch zu jenen literarischen Traditionen, die fortsetzungsfähig scheinen. Dies gilt auch im Blick auf Nietzsche: Wer mit der Kunstreligion des Frühwerks Schwierigkeiten hat, das Spätwerk von einem intellektuellen Reduktionismus bedroht sieht, dem bleibt jene große heitere Ebene in der Mitte des
Nietzsche und die romantische Ironie
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Werkes. Wiederholt findet man hier das Bild eines Menschen, der am Meer sitzt, das Spiel der Wellen verfolgt und in diesem undurchschaubaren, aber schönen Spiel Bewegungsgesetze der Psyche wie der Gesellschaft abgebildet sieht. Hier gibt es keinen Furor und Deutungszwang, sondern ein gelassenes Betrachten der Antagonismen, die studiert werden, um zuletzt ihre Zusammengehörigkeit verstehen zu können.
VlOLETTA L. WAIBEL
Hölderlin und Nietzsche über Philistertum und wahre Bildung
Das
„Andenken eines wahren und ächten Nicht-Philisters", der
an
den Philistern
zugrunde ging, gilt es zu bewahren; eine der „unbewaffneten Seelen, [...] der Werther Griechenlands, ein hoffnungslos Verliebter; [...] ein Leben voll Weichheit und Sehnsucht, aber auch Kraft und Inhalt [...] in seinem Willen und Grosse, Fülle und Leben in seinem Stil" (KSA, DS, 1, 171f.). In diesen bekannten Worten verdichtet Friedrich Nietzsche sein Hölderlin-Bild, ein Widerhall des Bildes des Lieblingsdichters und des geistigen Lehrers aus den Tagen des 17-jährigen Nietzsche in Pforta.1 Gemessen an der überragenden Bedeutung Friedrich Hölderlins für den intellektuellen Bildungsgang Nietzsches erweisen sich die expliziten Bezugnahmen auf Hölderlin und sein Werk als marginal. Dennoch, sowohl die Rezeption Hölderlins durch Nietzsche als auch die nachfolgende Rezeption Hölderlins durch Nietzsches bildende Prägung ist philologisch gut erforscht und dokumentiert.2 So will ich mich in meiner Untersuchung auf systemaThomas H. Brobjer zeigt in: „A discussion and source of Hölderlin's influence on Nietzsche. Nietzsches use of William Neumann's Hölderlin", in: Nietzsche Studien, 30 (2001), ~i91—4\2, dass Nietzsches Bekenntnis zu Hölderlin in seinem Schulaufsatz ein Plagiat ist. Weite Teile habe er aus Neumanns Biographie und Textauswahl Moderne Klassiker. Deutsche Literaturgeschichte der neueren Zeit in Biographien, Kritiken und Proben: Friedrich Hölderlin. Cassel 1853 (1859) abgeschrieben oder kompiliert. Vgl. auch Nietzsches Schulaufsatz in KGB 1, 338-341. Ein weiteres Anliegen Brobjers ist es, so zentrale Motive wie Nietzsches Apollinisches und Dionysisches, die Wiederkehr des Ewiggleichen oder den Übermenschen also Motive Hölderlins auszuweisen, die in Neumanns Ausgabe zu finden gewesen seien. Die von Brobjer aufgedeckten Motivparallelen lassen sich tatsächlich aufweisen, doch versäumt es Brobjer, die systematischen Differenzen auch nur anzudeuten, die mit diesen Motiven bei den beiden Denkern einhergehen. Differenziert und umsichtig ist die Untersuchung von Gunter Martens, „Hölderlin-Rezeption in der Nachfolge Nietzsches Stationen der Aneignung eines Dichters", in: Hölderlin-Jahrbuch 23 (1983), 54—78. Vgl. ferner Henning Bothe, .Ein Zeichen sind wir, deutungslos'. Die Rezeption Hölderlins von ihren Anfängen bis zu Stefan George, Stuttgart 1992 (zu Hölderlin und Nietzsche, 50-54. Eine von Anfang an bestehende, durchgängige Ambivalenz von Nietzsches Hölderlin-Bild, das zunehmend negativere Züge annehme, arbeitet Matthias Politycki in: Umwertung aller Werte? Deutsche Literatur im Urteil Nietzsches, Berlin/New York 1989, 410-430, heraus. Vgl. auch ders., -
ViolettaL. Waïbel
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tische Fragen dieser beiden sich geistig eben so nahen wie einander auch fremden Denker konzentrieren. Da sich meine Fragestellung in den Rahmen Nietzsche und die Romantik einschreibt, ist näherhin zu fragen, gibt es einen Begriff romantischer Bildung, ist das Bildungsgeschäft nicht vielmehr ein klassisches Anliegen? Und überdies, ist Hölderlin ein Romantiker, ist es Nietzsche? Was überhaupt ist Romantik? Eine berühmte Antwort lautet: „Der Romantiker studirt das Leben, wie der Mahler, Musiker und Mechaniker Farbe, Ton und Kraft. Sorgfältiges Studium des Lebens macht den Romantiker, wie sorgfältiges Studium von Farbe, Gestaltung, Ton und Kraft den Mahler, Musiker und Mechaniker."3 Friedrich von Hardenberg (Novalis) notiert diese Bestimmung des Romantikers im Allgemeinen Brouillon von 1798/99 unter der Nummer 1073. Stellvertretend für die vielen Versuche, Romantik zu bestimmen, ist die Bestimmung so einfach, wie bestechend und trifft in einer ersten Annäherung sowohl das Suchen des Dichters und Denkers Hölderlin als das des Philosophen, Philologen und scharfsinnigen Psychologen Nietzsche. Beide erforschen sie das Leben, die Seele der menschlichen Individualität als Grenzgänger zwischen der bekannten und der unerforschten Welt, stellen ewige Wahrheiten zur Disposition, um sie in der Vergänglichkeit des Werdens, dem ewigen Abfließen des gerade eben Erfassten neu zu suchen und manchmal auch zu finden. Der Bildungsbegriff, dem sich beide Denker verschreiben, ist romantisch auch dann, so meine These, wenn ihre Bildungsgüter kanonisch klassisch zu nennen sind. Beide lassen sie nichts als wahre Bildung gelten, das nicht aus der Lebendigkeit echter individueller Erfahrung und Beobachtung des Lebens hervorgeht. So ist es kein Zufall, wenn sich Nietzsche Hölderlins Vers aus dem Gedicht Sokrates und Alcibiades notiert: „Wer das Tiefste gedacht, liebt das Lebendigste" (KSA, NF, 7, 711). Eine Durchsicht der wenigen direkten Bezugnahmen Nietzsches auf Hölderlin lässt4 dessen Bild durch und durch als das eines Romantikers erscheinen. Im folgenden sollen drei Momente des Begriffs der wahren Bildung herausgearbeitet werden, die zugleich Berührungspunkte des Denkens von Hölderlin und Nietzsche darDer frühe Nietzsche und die Deutsche Klassik. Studien zu Problemen literarischer Wertung, Straubing/München 1981, 175-190. Friedrich von Hardenberg (Novalis), Novalis Schriften. Die Werke von Friedrich von Hardenberg,
hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage, sechs in sieben Bänden, Stuttgart, Berlin, Köln 1960-1999, 3, 466. Nietzsches Begriff der Romantik bedenkend liest Karl Heinz Bohrer in seiner Untersuchung Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne. Frankfurt/M. 1989, 84—94, die Unzeitgemäßen Betrachtungen als Zeugnisse eines romantischen Denkens gegen den positivistischen Wirklichkeitsbegriff der Hegelianer, dem die Erfahrung des Augenblicks, des Plötzlichen, des Rätsels entgegengehalten werde und mit dem Nietzsche bereits das philosophische durch das ästhetische Paradigma ersetze. Eine gute Einführung in die Vielfältigkeit romantischen Denkens bietet Gerhard Hoffmeister, Deutsche und europäische Romantik, Stuttgart 1990. Zur grundsätzlichen Orientierung, wenn auch nicht im direkten Zugriff auf Nietzsche, auch: Karl Heinz Bohrer, Der romantische Brief. Die Entstehung ästhetischer Subjektivität, Frankfurt/M. 1989 und Manfred Frank, Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen, Frankfurt/M. 1989. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe in drei Bänden, hg. von Michael Knaupp, Darmstadt 1998 (im folgenden Knaupp) 1, 196. -
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Hölderlin und Nietzsche über Philistertum und wahre Bildung
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stellen. Gelegentlich spielen dabei nachgelassene Texte Hölderlins eine Rolle, die Nietzsche zwar nicht gekannt haben konnte, die aber systematisch relevante Grundgedanken Hölderlins in prägnanter Weise zum Ausdruck bringen. Gerechtfertigt ist der Griff zu Nachlassschriften, weil in ihnen philosophische Probleme explizit gemacht sind, die den Werken Hölderlins implizit eigen sind, und die beiden Denkern durch die intime Kenntnis der griechischen Quellentexte grundsätzlich vertraut sind. So gilt es erstens, den Begriff einer wahren Bildung auf den Authentizitätssinn hin zu untersuchen. Zweitens ist der Bildungsbegriff in seiner Zeitlichkeit zu betrachten. Bildung schöpft immer aus vergangener Größe, die für beide Denker besonders in der griechischen Antike gegeben ist. Das Vergangene als das Nichtgegenwärtige ist aber immer auch das nicht mehr Lebendige. So hat Bildung ein besonderes Augenmerk auf die Verlebendigung des Vergangenen für die jeweilige Gegenwart zu richten. Drittens ist die Aufmerksamkeit darauf zu richten, dass sich das Wort Bildung von Bild herleitet. Bildung verdankt sich gleichermaßen ihrer Bildlichkeit wie ihrer Begrifflichkeit. Ihre Bildlichkeit geht einher mit Mythenbildung in Vergangenheit und Gegenwart. Die mythische Gestalt ,Dionysos' ist für beide Denker von eminenter Bedeutung, wenn auch in recht unterschiedlicher Weise. Auch darauf soll schließlich ein Blick geworfen werden.
1.1. Die Authentizität künstlerischen Schaffens: Hölderlin Dem Dichter fällt nach Hölderlins
Vorstellung eine überragende und verantwortliche Rolle in der Gesellschaft zu, von der es scheinen mag, dass sie Hölderlin nie auszufüllen vermochte. Viermal in seinem Leben hat er als Hofmeister einen Bildungsauftrag übernommen, um die ihm anvertrauten jungen Menschen an seiner reichen Bildung teilnehmen zu lassen. Dafür fand er sich in untergeordneten, demütigenden Stellungen wieder, die schon deshalb nicht von Dauer sein konnten; zweimal (1795 und 1801) scheiterte er bei dem Versuch, wenigstens eine Dozentur in Jena, wenn schon nicht eine Professur zu erlangen, die ihn ernähren sollte; sein großes Bildungsprojekt einer eigenen Zeitschrift namens Iduna (1799) sollte ebenso wenig Wirklichkeit werden und in der Konkurrenz zu anderen bedeutenden Instituten der Zeit sich bewähren müssen. Gewiss, Hölderlins Wirkung als Lehrer, als Gelehrter, als Verantwortlicher einer Bildungsinstitution ist marginal. Dennoch ist ihm der Dichter der Erzieher schlechthin eines Volkes, einer Sprachgemeinschaft. Dies reflektiert er nicht nur in theoretischen Schriften, sondern thematisiert es subtil in der Dichtung selbst. Die Vorrede von Hölderlins Roman Hyperion oder der Eremit in Griechenland beginnt mit folgenden Worten: „Ich verspräche gerne diesem Buche die Liebe der Deutschen. Aber ich fürchte, die einen werden es lesen, wie ein Compendium, um Aas fabula docet sich zu sehr bekümmern, indeß die andern gar zu leicht es nehmen, und beede Theile verstehen es nicht. Wer blos an meiner Pflanze riecht, der kennt sie nicht, und wer sie pflükt, blos um daran zu lernen, kennt sie auch nicht."5 In diesen wenigen Worten verbirgt sich ein ganzer Kosmos an Gedanken. Die bildende Kraft des Dichters und seiner Dichtung Knaupp 1, 611.
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besteht darin, auf den ganzen Menschen wirken zu wollen. Er soll weder bloß als rationales Wesen angesprochen sein, das aus einer Geschichte lernt, oder zum Zweck des Botanisierens Lebendiges tötet, noch bloß als sinnliches Wesen, das an einer Pflanze riecht, sich betören lässt. Solchen Vereinseitigungen stellt Hölderlin das Ideal vom ganzen Menschen entgegen, der allein der wahre Mensch ist. Dies spiegelt sich auch in der Nietzsche wohl bekannten berühmten Deutschenschelte im drittletzten Brief des Hyperions, wo Hölderlin seinen Protagonisten klagen läßt: ,,[I]ch kann kein Volk mir denken, das zerrißner wäre, wie die Deutschen. Handwerker sieht du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen, Priester, aber keine Menschen, Herrn und Knechte, Jungen und gesetzte Leute, aber keine Menschen ist das nicht, wie ein Schlachtfeld, wo Hände und Arme und alle Glieder zerstükelt untereinander liegen, indessen das vergoßne Lebensblut im Sande zerrinnt?"6 Dem entgegen wirkend, will das Werk des Dichters mehr sein als bloß die merologische Summe, die man zusammenmischt aus Elementen der Sinnen- und der Verstandeswelt, um irgendein oberflächliches Vergnügen zu befriedigen. Wie das echte Kunstwerk zu konzipieren ist, reflektiert Hölderlin in zahlreichen Kontexten. In einer überlieferten, aber in den endgültigen Druck nicht aufgenommenen Vorrede zum Hyperion, macht Hölderlin deutlich, dass es ihm mit seinem Werk um Originalität gehe, eine Originalität, die jedoch nichts mit Neuheit, mit Sensationslust oder dem Tagesgeschäft der Zeitungsschreiber zu tun hat: „Mir ist Originalität Innigkeit, Tiefe des Herzens und des Geistes. Aber davon scheint man jezt gerade, wenigstens in der Kunst sehr wenig wissen zu wollen; und wenn nicht andere siegen, so wird es neuester Geschmak werden, von der Natur zu sprechen, wie eine spröde Schöne von den Männern, und seinen Stoff zu behandeln wie ein geschworner Berichterstatter."7 Die negative Abgrenzung des Originalen vom Ephemeren und Vorübergehenden zufälliger Sensationen und Tagesereignisse sagt noch nichts über die positive Bestimmung der Ganzheit und Echtheit aus, die Hölderlin im Blick hat. Ausdrücklich reflektiert er dies in seiner Nietzsche nicht zugänglichen poetologischen Hauptschrift Verfahrungsweise des poetischen Geistes. Das authentische Kunstwerk der Dichtkunst erfordert, so Hölderlin, eine sorgfältige Wahl des geeigneten Stoffes. Für den Stoff zu den drei Hauptgartungen der Dichtung, dem Epischen, Tragischen und Lyrischen, muss ein „ächter Grund zu den Begebenheiten, zu den Anschauungen die erzählt, beschrieben, oder zu den Gedanken und Leidenschaften, welche gezeichnet, oder zu den Phantasien, welche gebildet werden sollen, vorhanden [sein], wenn die Begebenheiten oder Anschauungen hervorgehn aus rechten Bestrebungen, die Gedanken und Leidenschaften aus einer rechten Sache, die Phantasien aus schöner Empfindung."8 Der ,,ächte[...] Grund", von dem Hölderlin spricht, bezeichnet die Bedingung für die idealische, also philosophische Durchdringung des Stoffes. An ihm liegt es, dass die epische Behandlung „aus rechten Bestrebungen" entspringen kann, dass die dramatische Behandlung der „Gedanken und Leidenschaften aus einer rechten Sache" darzustellen sei und dass schließlich die lyrische Behandlung „aus schöner Empfindung" hervorgehe. Das Maß an aufrichtigem Interesse -
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Ebd., 754f Ebd., 557. Knaupp 2, 80.
Hölderlin und Nietzsche über Philistertum und wahre Bildung
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und Wahrheitssinn, das den Dichter bei der Wahl seines Stoffes für die dichterische Intention leitet, ist nach Hölderlin notwendige, wenn auch nicht hinreichende Voraussetzung für ein echtes Kunstwerk. Das Gespür für den rechten Stoff kann ebenso wenig von einem Kompendium für Dichter ersetzt werden, wie Kant deutlich gemacht hat, wie dass das Urteil von dem, was als ,schön' gelten darf, nicht durch begriffliche Festlegungen, durch Kriterien der Vollkommenheit oder Ähnlichem bestimmt werden kann. So spricht Hölderlin von einem Totaleindruck, der das ideelle Ganze eines wahren Kunstwerks imaginieren lässt, um anschließend in einer sukzessiven Gedankenarbeit und durch eine geeignete Verfahrungsart des Dichters auseinandergelegt zu werden, an dessen Ende das echte Kunstwerk steht. Nur einem so entstandenen Kunstwerk aus echter Gesinnung wächst auch die Wirksamkeit zu, die sich Hölderlin erhoffte, und die sich, wenn auch sehr spät, wenigstens bei einem bestimmten Kreis von Lesern eingestellt hat. Die Authentizität der Gesinnung dessen, was der Dichter oder Philosoph mitzuteilen hat, wird von Hölderlin weit höher angesetzt als einzelne Irrtümer, die entweder unterlaufen, oder aber gezielt zur Belehrung eingesetzt werden. In der verworfenen Vorrede zum Hyperion schreibt er: „Auch wird man manches Unverständliche, Halbwahre, Falsche in diesen Briefen finden. Man wird vieleicht sich ärgern an diesem Hyperion, an seinen Widersprüchen, seinen Verirrungen, seiner Stärke, wie an seiner Schwachheit, an seinem Zorn, wie an seiner Liebe. Aber es muß ja Aergerniß kom-
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Gibt dies Raum für Beliebigkeit, Hauptsache, die Gesinnung ist aufrichtig? Um es hart auf den Punkt zu bringen: Hatten die Nationalsozialisten Hölderlin doch zurecht als einen der ihren erkannt? Keineswegs. Ganz Immanuel Kant verpflichtet, holt Hölderlin gegen Ende seiner poetologischen Schrift über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes noch einmal aus, um den Grundton der Stimmung des Dichters als eine schöne, heilige, göttliche Empfindung zu bezeichnen, die er ausdrücklich und wörtlich in Anlehnung an Kant als „transcendental" bezeichnet.10 Der Grundton der Dichtung muss getragen sein von einer Einstellung, die verallgemeinerbar in dem Sinne ist, wie das Urteil über das Schöne, zwar unbegrifflich, daher subjektiv, aber dennoch subjektiv allgemeingültig beurteilt werden können muss. Die Echtheit der Dichtung erwächst nach Hölderlins Vorstellung aus dem ungeteilten Engagement des Dichters und aus seiner Fähigkeit, die Mannigfaltigkeit sprachlicher Ausdrucksformen und Parameter in der Weise zusammenzuführen, dass das Nachdenken, die Empfindung, die Musikalität, der Schönheitssinn in gelungener Komposition zusammenstimmen. ,Aber es muß ja Aergerniß kommen', so Hölderlin, wenn derart Unzeitgemäße Betrachtungen angestellt werden, ein kalkuliertes Ärgernis, auf das es Hölderlin ebenso anlegte, wie nach ihm Nietzsche, dessen Authentizitätsforderung nun in Augenschein zu nehmen ist.
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Knaupp 1, 558. Knaupp 2, 95.
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1.2. Die Authentizität des künstlerischen Schaffens: Nietzsche
Forderung nach Echtheit wahrer Kunst steht Nietzsches Bild des Bildungsphilisters entgegen, für den er in der Ersten Unzeitgemässen Betrachtung folgende Worterklärung bietet: „Das Wort Philister ist bekanntlich dem Studentenleben entnommen und bezeichnet in seinem weiteren, doch ganz populären Sinne den Gegensatz des Musensohnes, des Künstlers, des ächten Kulturmenschen. Der Bildungsphilister aber dessen Typus zu studiren, dessen Bekenntnisse, wenn er sie macht, anzuhören jetzt zur leidigen Pflicht wird unterscheidet sich von der allgemeinen Idee der Gattung Philister' durch Einen Aberglauben: er wähnt selber Musensohn und Kulturmensch zu sein; ein unbegreiflicher Wahn, aus dem hervorgeht, dass er gar nicht weiss, was der Philister und was sein Gegensatz ist" (KSA, DS, 1, 165).11 Die scheinhafte Existenz der Bildungsphilister und der Kultur der Zeit und der Gegensatz zum „ächten KulturmenHölderlins
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schen" ist das, was den besonderen Zorn Nietzsches erregt und ihn erbitterte Wortfehden führen lässt. Der Philister, der umgangssprachlich als ein engstirniger, ängstlicher und beschränkter Mensch des Bürgertums gilt, hat Einzug gefunden in die Kulturwelt, besser in das, was sich Kultur nennt, es in Wahrheit aber gar nicht ist. An der vermeintlichen Kultur geißelt Nietzsche die selbstsatte Zufriedenheit, die sich gesund nennt, um jeden „unbequemen Störenfried" krank und überspannt zu nennen (ebd., 171), er geißelt deren „Rückenkrümmung vor den deutschen Zuständen", den ,,schamlose[n] PhilisterOptimismus" (ebd., 191), den „Mangel an Charakter und Kraft bei dem Anschein von Kraft und Charakter, [...] Defekt an Weisheit bei aller Affeetation der Ueberlegenheit und Reife der Erfahrung" (ebd., 200). Statt anpasserischer Rückenkrümmung und falschem kalkuliertem Optimismus steht Nietzsche das Idealbild des Künstlers vor Augen, der zur Anpassung nicht bereit ist, die Dinge sieht, wie sie sind und vor allem bereit ist, dies auch mit Aufrichtigkeit namhaft zu machen. Dies aber bedeutet, auch Leid zu sehen und zu ertragen, selbst Leid und Schmerzen zu erfahren durch den Widerstand derer, die die Wahrheit nicht zu ertragen und nicht zu sehen bereit sind. Die überragende Bedeutung, die Nietzsche der Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit zumisst, und die er vom ernstzunehmenden Philosophen ebenso erwartet wie vom echten Künstler, hat er zurecht in den Werken Hölderlins, in dessen Selbstverständnis als Dichter und Künder eines wahren Wortes gefunden. Während aber die Erste Unzeitgemäße Betrachtung die Scheinhaftigkeit des Bildungsphilistertums geißelt, ist ihr positives Im Altertum waren die Philister ein Volk, das kurz nach 1200 v. Chr. in die südwestliche Küstenebene Palästinas eingedrungen war. Zunächst siegreich gegen israelitisch besiedelte Gebirgsgegenden vorstoßend, erlahmte ihre eigenständige kulturelle Kraft und sie paßten sich den sie umgebenden Semiten an. In der Bibel sind sie die schlimmsten Feinde des auserwählten Volkes, der Israeliten. In der Studentensprache ist der Philister der Nichtakademiker, der Bürger, aber auch der, der vom Studentenleben in das bürgerliche Leben eintritt. Allgemein bedeutet Philister engstirniger Mensch mit ängstlicher, beschränkter Lebensauffassung (vgl. Duden. Das Herkunftswörterbuch, Mannheim 1963, 508 ). Eine ausführliche Untersuchung von Nietzsches Bildungsbegriff findet sich bei Timo Hoyer in: Nietzsche und die Pädagogik. Werk, Biografié und Rezeption, Würzburg 2002. Hoyer kontrastiert die publizierten Schriften mit entsprechenden Nachlasstexten und zeigt Verwerfungen, Widersprüche und Selbstrevisionen in Nietzsches Denken auf.
Hölderlin und Nietzsche über Philistertum und wahre Bildung
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Pendant, die Ehrlichkeit, Thema der Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung. Wie bekannt, ist sie gerade nicht an Nietzsches Wegweiser und Lehrer Hölderlin adressiert, sondern
Schopenhauer als Erzieher. Arthur Schopenhauer ist für den Nietzsche der frühen Schriften die Philosophengestalt, die „nie scheinen will: denn er schreibt für sich, und niemand will gern betrogen werden, am wenigsten ein Philosoph, der sich sogar zum Gesetze macht: betrüge niemanden, nicht einmal dich selbst!" (KSA, SE, 1, 346). Diesem Urteil setzt er überdies hinzu: „Ich weiss nur einen Schriftsteller, den ich in Betreff der Ehrlichkeit Schopenhauer gleich, ja noch höher stelle: das ist Montaigne" (ebd., 348). Wieder ist es nicht Hölderlin, sondern ein anderer, Michel Montaigne, der mit der Ehrlichkeit Schopenhauers Schritt zu halten vermag, während Hölderlin und Heinrich von Kleist genau in diesem Kontext zwar Ungewöhnlichkeit bescheinigt wird, die aber, so Nietzsche, dem „Clima der sogenannten deutschen Bildung" im Gegensatz zu „Naturen von Erz wie Beethoven, Goethe, Schopenhauer und Wagner" (ebd., 352) nicht standhielten. Sie gaben zwar ihre geistige Unabhängigkeit nicht auf, aber sie zerbrachen an den unausgesetzten Widerständen, jeder auf seine Weise. Zwar gibt es bei Hölderlin ein Gedicht auf Die scheinheiligen Dichter, denen er zuruft: „Ihr kalten Heuchler, sprecht von den Göttern nicht!"12 und an Alabanda muss Hyperion entdecken, dass er, der Freund, sich einem zweifelhaften Bund falscher Menschenfreunde verschrieben hat. Die Scheinhaftigkeit ist ein Thema Hölderlins, aber, Nietzsche hat richtig gesehen, sie ist nicht sein großes Thema. Hölderlin ist gedanklich häufig schon dort, wo dem Schein durch die dichterischen Gestalten ein Korrektiv entgegengestellt wird. Seine Dichtung ist aufrichtig und ehrlich, er ist weniger der mit lauter Stimme Anklagende, denn der in stiller Verzweiflung Trauernde. Er ist dem Tragischen der Griechen, besonders des Sophokles sehr nahe. Auch Nietzsche ist dies, doch mit einem entschieden anderen Gestus. Es sei nochmals zu Nietzsches vernichtendem Urteil der ersten Unzeitgemäßen Betrachtung gegen den ,Bekenner und Schriftsteller' David Friedrich Strauss als Bildungsphilister par excellence zurückgekehrt. Auffälligerweise verknüpft Nietzsche wie Hölderlin die Frage der Authentizität eines Schriftstellers mit der Fähigkeit zur Schau eines Ganzen. Er schreibt: „Gewöhnlich lässt sich schon nach dem ersten schriftlichen Entwurf erkennen, ob der Verfasser ein Ganzes geschaut und diesem Geschauten gemäss den allgemeinen Gang und die richtigen Maasse gefunden hat." Er fährt mit der Bemerkung fort: „Das Gegentheil hiervon ist bekanntlich, ein Buch aus Stücken zusammenzusetzen, wie dies die Art der Gelehrten ist. Sie vertrauen darauf, dass diese Stücke einen Zusammenhang unter sich haben und verwechseln hierbei den logischen Zusammenhang und den künstlerischen" (KSA, DS, 1, 209f). Nur der Künstler oder Philosoph, der sich und seinem Künstlertum eine echte Aufgabe ohne Parteinahme zu stellen vermag, der eine Vision und einen Bildungsauftrag gefunden hat, hat auch etwas Authentisches mitzuteilen. Dieser Idee oder Vision ordnen sich dann andere Momente wie von selbst unter. Der Bekenner, wie ihn Nietzsche zeichnet, spricht aus sehr subjektiven Gründen, will gefallen, krümmt sich gemäß denen, die mächtig sind oder scheinen, so dass die Rücksichtnahme auf viele Stimmen nichts anderes als ein Stückwerk zustande kommen lässt. Allerdings bemerkt Nietzsche, an
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Knaupp 1,
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Kopf und Herz sich mitunter mit einem kleinen Herzen vertrage Die Schau eines Ganzen gilt allerdings als unromantisch, ist es der Romantik doch um ein Kontingenzbewusstsein, ein Bewusstsein von Zerfall und Zufall zu tun. Die Schau eines, sei es auch begrenzten Ganzen, wie die Idee des ganzen Menschen stehen Hölderlin wie Nietzsche trotz allem Wissen um die Kontingenz des Lebens vor Augen. Beider Werke tragen Züge romantischen Denkens und sind ihm doch nicht schlechthin zuzurechnen. dass die Einheit
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(vgl. ebd., 182).
2.1. Das Kulturerbe als
Verpflichtung und Bürde: Hölderlin
Hölderlin hat für sein Zeitschriftenprojekt Iduna einen Text verfasst, den er überschrieb: Der Gesichtspunct aus dem wir das Altertum anzusehen haben. Nietzsche hatte keinen Zugang zu diesem Text, da er erstmals in der Ausgabe der Gesammelten Werke Hölderlins von Wilhelm Böhm von 1911 veröffentlicht wurde.13 Die Ideen zu diesem Aufsatz teilt Hölderlin in einem Brief an den Bruder vom 4. Juni 1799 mit, der Nietzsche sehr wohl bekannt war, denn er schrieb eine längere Passage aus ihm ab, die sich unter seinen Fragmenten vom Sommer oder Herbst 1873 findet.14 Hölderlins theoretische Reflexionen haben zudem im Athenerbrief vom Ende des ersten Bandes des Hyperion ein Pendant, das Nietzsche sicher gekannt hat. In der Schrift Der Gesichtspunct aus dem wir das Altertum anzusehen haben verknüpft Hölderlin die bereits behandelte Frage der Originalität von Kunstwerken mit dem Blick auf das Altertum. Er spricht nicht nur vom Vorbildcharakter der antiken, klassisch kanonischen Werke; er spürt auch deren erdrückende Last für die Nachgeborenen. Er beginnt seine Betrachtung mit einem resignierten, aber auch zeitkritischen Ton: „Wir träumen von Bildung, Frömmigkeit pp. und haben gar keine, sie ist angewir träumen von Originalität und Selbstständigkeit, wir glauben lauter Neues nommen zu sagen, und alles diß ist doch Reaction, eine milde Rache gegen die Knechtschaft, womit wir uns verhalten gegen das Altertum."15 Hölderlin sieht sich in eine Tradition hineingestellt, die ihren Bildungskanon aus den Schätzen des Altertums schöpft, die ebenso sehr bereichert, wie sie den Geist der Menschen an vergangene Zeiten fesselt und der Gegenwart das Lebendige nimmt. So wichtig und wertvoll es ist, das erworbene Bildungsgut zu bewahren, so geschieht es um den Preis wahrhaft neuer Schöpfungen. Gleichwohl sieht Hölderlin im Menschen einen Bildungstrieb, den es vorzüglich zu beachten gilt, und „der darauf geht, das Ungebildete zu bilden, das Ursprüngliche Natürliche zu vervollkommnen, so daß der zur Kunst geborene Mensch natürlicher weise und überall sich lieber mehr das Rohe, Ungelehrte, Kindliche, holt, als einen gebildeten Stoff, wo ihm, der bilden will, schon vorgearbeitet ist".16 Hölderlin trifft keinesfalls eine Entscheidung zugunsten der Bildertreue oder dem Bildersturm, der Tradition oder dem radikal Neuen, sondern plädiert für die kreative Nutzung beider, da das Alte das Neue -
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Vgl. Friedrich Hölderlin, Sämtliche Werke. Frankfurter Ausgabe, hg. von Dietrich Eberhard Sattler. Frankfurt/M./Basel, 1975ff. (FA), Bd. 14, 83. Vgl. KSA, NF, 7, 680f Der Brief in seiner vollen Länge findet sich in Knaupp 2, 767-772. Knaupp 2, 62.
Hölderlin und Nietzsche über Philistertum und wahre Bildung
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begreiflich macht, und umgekehrt. Doch eben so nötig ist es, kritische Distanz zu schaffen, das Lastende der großen Werke vergangener Zeiten zu reflektieren und Raum für ganz anderes zu gewähren. In dieser zugleich positiven und negativen Haltung spiegelt sich die Denkfigur der Wechselbestimmung, die Hölderlin durch Johann Gottlieb Fichte in eindrücklicher Weise kennengelernt hat und die zeitlebens sein Denken bestimmen sollte.17 Der mit reichem Bildungsgut ausgestattete Künstler wird zu seiner Eigentlichkeit erst dann dringen, wenn er neben dem klassisch zu nennenden Vorbildhaften auch den Zugang zu dem radikalen Gegenteil sucht, das Hölderlin mit knappen Worten als das „Rohe, Ungelehrte, Kindliche" bezeichnet. Dies nämlich ist der Lehrmeister der radikalen Ursprünglichkeit, dasjenige der Natur oder des Natürlichen, das der Kunst gegenüber steht und das Nietzsche das Dionysische nennen wird.18 So zeigt sich, dass das klassische Bildungsgut, das überwältigende Gewicht der Vergangenheit, nur dann wirklich begriffen wird, wenn es auch aus dem ungestalteten Leben heraus, aus der ungestalten, alle bekannte Form negierenden Gegenwärtigkeit und Spontaneität heraus, in seiner Gestalthaftigkeit und Absichtlichkeit verstanden wird. Dieser bewusste Akt der Negation bedeutet, sich in den Ursprung alles Ausdruckwillens, aller Gestaltgebung zurückzuversetzen, und sei dies auch nur in der Künstlichkeit eines gelungenen Augenblicks. Es gilt,
alles,
so
was vor
Hölderlin, den Bildungstrieb recht eigentlich zu begreifen, so „daß wir und um uns aus jenem Triebe hervorgegangen ist, betrachten als aus dem
gemeinschaftlichen ursprünglichen Grunde hervorgegangen, [...], daß wir die wesentlichsten Richtungen, die er vor und um uns nahm, auch seine Verirrungen um uns her erkennen, und nun, aus demselben Grunde, den wir lebendig, und überall gleich, als den Ursprung alles Bildungstriebs annehmen, unsere eigene Richtung uns vorsezen, die bestimmt wird, durch die vorhergegangenen reinen und unreinen Richtungen."19 Mit dieser Auffassung des Bildungstriebes, dem genuin Poietischen aller Bildung, sucht Hölderlin mit den Klassikern im Kopf den Klassikern zu entkommen, um einen wirklich neuen Beginn zu finden, der freilich noch immer die alten und mächtigen Vorbilder im Blick hält. Dies weniger als Muster denn als Maß. Aus ihnen soll nicht ein Kanon, sondern eine Richtung gewonnen werden, um das spezifisch Individuelle des Kunstwerks und der Bildungsarbeit gemäß der jeweiligen Zeitbedürfnisse ans Licht zu bringen. Die kreatürliche Kraft, die der Konfrontation vergangener Größe mit ihrer Demontage in der Gegenwart innewohnt, demonstriert Hölderlin in der berühmten Rede des Hyperion über die Griechen, deren Größe und Schönheit in Literatur und Kunst und 17 1
Dazu: Violetta L. Waibel, Hölderlin und Fichte, 1794-1800. Paderborn 2000, 117-197. Vivetta Vivarelli sucht in ihrer Untersuchung „Metaphern des Dionysischen bei Nietzsche", in: Nietzsche und die antike Philosophie, hg. von Daniel W. Conway und Rudolf Rehn, Trier 1992, 153-171, auf, die sich mit ähnlichen Metaphern bei Hölderlin vergleichen lassen. Eine systematisch sehr fruchtbare Untersuchung liegt in der Arbeit von Bernhard Böschenstein, .Frucht des Gewitters'. Zu Hölderlins Dionysos als Gott der Revolution. Frankfurt/M. 1989, vor. Er entdeckt in scheinbar abgelegenen Motiven und Metaphern Hölderlins weitreichende Verarbeitung des Diony-
19
sos-Mythos. Knaupp 2, 63.
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ViolettaL. Waibel
über deren Schönheitsideal. Die philosophische Betrachtung dieser großen Vergangenheit findet bei einem Besuch der Protagonisten in den Trümmernfeldern Athens am Ende des ersten Bandes (1797) des Hyperion-Romans statt. Dabei wird im Text eine vierfache interne Aufstufung vergangener Zeiten und erlebter Gegenwart inszeniert, ergänzt durch eine fünfte externe. Die älteste Zeitschicht bildet die Präsenz, fast möchte man sagen, Omnipräsenz und verewigte Allgegenwart der griechischen Literatur und Philosophie in ihren großen Gestalten, auch wenn lediglich Heraklit ausdrücklich genannt wird. Die großen Namen sind unausgesprochen einbegriffen in die Rangordnung, die der Dichtung den höchsten Platz unter den Ausdruckform des Menschen zuweist, und die zuerst die Religion und dann die Philosophie aus sich gebiert. Die physisch dauernde Präsenz der Vergangenheit in den architektonischen Resten der Trümmer Athens ist als zweite Schicht zu lesen. Die „Ruinen des Parthenon, die Stelle des alten Bacchustheaters, den Theseustempel, die sechzehn Säulen, die noch übrig stehn vom göttlichen Olymp; [...] das alte Thor"20 nennt Hyperion ausdrücklich als diejenigen Zeichen der Alten, die ihn bewegen und ergreifen. Diese Zeichen der alten Zeiten bestimmen die Erlebnisschicht des Romans, in der Hyperion im Gespräch mit Diotima der zwar als Lebensganzes versunkenen, aber dennoch fragmentarisch präsenten Zeit nachsinnt, und wodurch die einstige Größe vor das geistige Auge tritt. In dieser Konfrontation der Zeiten und Zeichen fordert Diotima, die Sinnbild der naiven, unberührten Natur ist, Hyperion auf, nicht nur über die einstige Größe zu trauern, sondern die Trauer produktiv umzuwandeln: „Du wirst Erzieher unsers Volks, du wirst ein großer Mensch seyn, hoff ich."21 Hyperion nimmt die Aufforderung an: „Ich stand nun über den Trümmern von Athen, wie der Akersmann auf dem Brachfeld. Liege nur ruhig, dacht' ich, [...], liege nur ruhig, schlummerndes Land! Bald grünt das junge Leben aus dir, und wächst den Seegnungen des Himmels entgegen."22 Die Vergänglichkeit ist somit nicht mehr nur Schmerz, sondern auch Urgrund für ein künftiges Projekt, das Projekt der Erziehung und Bildung des gegenwärtigen Menschen. Doch die Erfahrung des Hyperion, der diese Geburt seiner Lebensaufgabe am Ursprung der maßstabgebenden Hochkultur Athens erleben darf, deren Trümmer von der Vergangenheit zeugen und die zugleich in die Zukunft weisen, ist nicht die letzte Schicht der Zeitenstufung. Der Erzieher in Hölderlins Vorstellungskosmos ist der Dichter, der textimmanent präsent ist als derjenige, der seine Briefe zu einem Roman zusammenfasst und sie aus dem zeitlichen Abstand zu ihren Erlebnissen, der Liebe zu Diotima, ihrem Verlust und zahlreichen Irrwegen, kommentierend noch einmal durchlebt. Das Vermächtnis des fiktiven Dichters Hyperion und des wirklichen Autors Hölderlin an den Leser ist nicht nur die große Sentenz vom Ende des Romans, die mannigfach zitiert wird: „Wie der Zwist der Liebenden, sind die Dissonanzen der Welt. Versöhnung ist mitten im Streit und alles Getrennte findet sich wieder. Es scheiden und kehren im Herzen die Adern und einiges, ewiges, glühendes Leben ist Alles." Mit dem allerletzten Wort ist auch der Leser in den produktiven Prozeß der zeitlichen Schichtung lebendigen geistigen Lebens einbezogen:
Knaupp 1,689. Ebd., 693. Ebd., 693.
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„So dacht' ich. Nächstens mehr."23 Der hier denkt, ist zuerst der Schriftsteller Hyperion,
ist zudem der Schriftsteller Hölderlin, der eine Fortsetzung insinuiert, wohl wissend, daß sie als neuer Band des Hyperion niemals intendiert, aber dennoch erwartet wird. Schließlich ist es der Leser, der aufgefordert ist, den Imperativ des kreativen Prozesses der Zeitschichtung aufzunehmen, ihrer Richtung zu folgen, die Verirrungen zu erkennen und im Sinne der Gegenwart zu korrigieren.
es
2.2. Das Kulturerbe als
Verpflichtung und Bürde: Nietzsche
Worauf die „Zeit mit Recht stolz ist, ihre historische Bildung", will Nietzsche in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung mit dem Titel Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben einmal anders, „als Schaden, Gebreste und Mangel der Zeit" zu verstehen suchen (KSA, HL, 1, 246). Er tut dies in einer gewissen Nähe zu Hölderlins Überlegungen, doch mit entscheidend anderer Nuancierung, zumal es ihm nicht allein
das klassische Altertum geht, vor dem sich der moderne Dichter zu bewähren hat, sondern um die Historizität der Bildungsbürger allgemein. Der Historizität setzt er die Gegenwart als Leben im emphatischen Sinne des Begriffes ,Leben' entgegen.24 Sich der Überfülle des Historischen auszusetzen, heißt für ihn, untätig zu werden, weil das Vergangene, sei es durch seine Macht als normative Größe, durch seine Vorbildhaftigkeit und Verehrungswürdigkeit, sei es durch die bloße quantitative Fülle, die Tatkraft und den Mut zum Wagnis lähmt und ängstlich macht. Dies bedeutet für Nietzsche, dass der Mensch Verwalter der Vergangenheit ist und dadurch aufhört, Mensch im eigentlichen Sinne zu sein. Die Geschichte täuscht überdies Analogien vor, die keine sind, sie verführt zur Bildung oberflächlicher Begriffe, zur enzyklopädischen Sammlung von Wissen, das nicht wirklich begriffen und verarbeitet ist. An die Thematik der Ersten Unzeitgemäßen Betrachtung anschließend, bedauert Nietzsche, dass die Geschichte, statt die Menschen durch ihre Beispiele ehrlich zu machen, sie nur drücke und ängstlich mache (vgl. ebd., 281). Doch während Hölderlin den Maßstab der Größe des Altertums als ein generelles Problem für die Nachgeborenen ansieht, besteht Nietzsches Gestus, wie kaum anders zu erwarten, darin, das Bedrohliche der geschichtlichen Größe nur als Schaden für die Ohnmächtigen, Untätigen und geschwächten Persönlichkeiten sehen zu können. Die plastische, bildende Kraft des Lebens erfordere, dass man in bestimmtem Grade unhistorisch empfinde, sich also zur rechten Zeit zu befreien weiß davon, und diese Fähigkeit als die wichtigere und ursprünglichere anzusehen sei, als die Fähigkeit zur historischen Bildung (vgl. ebd., 252). Doch Nietzsche greift auch den Punkt direkt auf, der Hölderlins Hauptanliegen darstellt, wenn er sich einen Griechen vorstellt, der am modernen Menschen mit Erstaunen feststellen müsste, dass ihm „gebildet" sein und „historisch gebildet" sein offenkundig eines sei (ebd., 273), während es in Wahrheit nur darum gehen könne, mit dem geeigenten „Mittel, Urteilskraft zu pflanzen" (ebd., 287).
um
Ebd., 760. Hierzu Volker Gerhardt, „Leben und Geschichte. Menschliches Handeln und historischer Sinn in Nietzsches zweiter ,Unzeitgemäßer Betrachtung'" in: Volker Gerhardt, Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, 133-162. ,
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In großer zeitlicher Nähe zur Entstehung der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung, im Herbst 1873 bis Anfang des Jahres 1874, schreibt Nietzsche wenige Zeit vorher, im Sommer oder Herbst 1873, die Textpassage aus Hölderlins Brief an den Bruder vom 4. Juni 1799 ab, die inhaltlich dem fragmentarischen Text Der Gesichtspunct aus dem wir das Altertum anzusehen haben verwandt ist. Die Passage aus dem sehr langen Brief lautet: „du wirst durchaus finden, dass jetzt die menschlichen Organisationen, Gemüther, welche die Natur zur Humanität am bestimmtesten gebildet zu haben scheint, dass diese jetzt überall die unglücklicheren sind, eben weil sie seltener sind als sonst in anderen Zeiten und Gegenden. Die Barbaren um uns her zerreissen unsre besten Kräfte, ehe sie zur Bildung kommen können, und nur die feste tiefe Einsicht dieses Schicksals kann uns retten, dass wir wenigstens nicht in Unwürdigkeit vergehen. Wir müssen das Treffliche aufsuchen, zusammenhalten mit ihm, so viel wir können, uns im Gefühle desselben stärken und heilen und so Kraft gewinnen; das Rohe, Schiefe, Ungestalte nicht nur im Schmerz, sondern als das, was es ist, was seinen Character, seinen eigenthümlichen Mangel ausmacht, zu erkennen" (KSA, NF, 7, 680f.).25 Zwar geht es in dieser von Nietzsche notierten Passage nicht um die Bewährung des modernen Künstlers vor der mächtigen Vergangenheit, sondern vielmehr um seine Behauptung gegen das, was den Bildungstrieb zu untergraben droht. Das in Aussicht genommene Heilmittel ist hier wie dort der Zugriff auf das Urtümliche, das Rohe und Ungestaltete, weil es offenkundig eine Kraft aus sich herauszusetzen verspricht, die dem Geformten nicht mehr zu eigen ist. So ist nicht verwunderlich, dass Nietzsche in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung fragt, ob es „ewig unsere Bestimmung sein müsse, Zöglinge des sinkenden Alterthums zu sein", der alexandrinisch-römischen Zeit, und er schlägt vor, den Blick auf die altgriechische Urwelt zu richten: ,JJort aber finden wir auch die Wirklichkeit einer wesentlich unhistorischen Bildung und einer trotzdem oder vielmehr deswegen unsäglich reichen und lebensvollen Bildung" (KSA, HL, 1, 306f). Nietzsche fordert daher, weniger die Köpfe „mit einer ungeheuren Anzahl von Begriffen [anzufüllen], die aus der höchst mittelbaren Kenntniss vergangner Zeiten und Völker, nicht aus der unmittelbaren Anschauung des Lebens abgezogen sind", als vielmehr die jungen Künstler in die „Werkstätte eines Meisters und vor allem in die einzige Werkstätte der einzigen Meisterin Natur" zu führen (ebd., 327). Diese Natur findet sich aber auch und gerade in der griechischen Urwelt, die keine andere als die Dionysische ist, die nach Nietzsches Verständnis die Tragödie als eine Mitte zwischen dionysischem Empfinden der Urzeit und apollinischem Denken der Neuzeit aus sich erzeugte. So sei nun auf das Dionysos-Bild Hölderlins und Nietzsches ein Blick geworfen.
3.1. Der Dionysos-Mythos: Hölderlin Hölderlin mythisiert zunehmend den Dichter und Volkserzieher als den Mittler zwischen den Göttern und den Menschen, zwischen dem Himmlischen, Heiligen und der Natur, dem kreatürlich Naiven. Das Himmlische ist Repräsentant der idealischen
Vgl. geringfügige Abweichungen in Knaupp 2, 768.
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Schönheit, die Natur ist Repräsentantin der naiven, unberührten, daher auch unschuldi-
gen Schönheit. In dieser Mittlerfunktion besteht der zentrale Bildungsauftrag, den der Dichter sich selbst zur Aufgabe gemacht hat. Dionysos ist die mythische Gestalt, die Hölderlin als Mittlerfigur und daher als Symbol des Dichters in einigen seiner bedeutendsten Gedichte beschwört. In Brot und Wein ist Dionysos der kommende Gott nach der langen Nacht der Jetztzeit, in Dichterberuf'ist er der, der vom Indus kommend die Völker weckt, in der Friedensfeier schließlich werden Dionysos, Herakles, Christus und Napoleon im Bild des Fürsten des Festes übereinandergeschichtet. Im vorliegenden Kontext ist es angebracht, zunächst auf die Hymne Wie wenn am Feiertage einzugehen, die mit großer Emphase die hymnische Dichtung Hölderlins im Blick auf den Gott Dionysos/Bacchus einleitet und das Selbstbild des Dichters zeichnet. Sodann wird auf die Hymne Der Rhein eingegangen, aus der sich Nietzsche einige Verse aufgezeichnet hat, um sie in sein Bild ...
vom
Dionysischen einzuschreiben.
steht die Geburt des Dionysos als Sinnbild In der Hymne Wie wenn am Feiertage der Geburt des dichterischen Gesangs im Zentrum und bildet ein selbstreferentielles Gedicht, eine Hymne auf die Hymne. Das Gedicht ist im Sommer 1800 in einer Prosafassung niedergeschrieben und dann in die vorliegende metrische Fassung gebracht worden. In seinen letzten beiden Strophen ist es Fragment geblieben.26 Die von Hölderlin häufig thematisierte Rolle des Dichters als Mittler zwischen Gott und Mensch steht in diesem Gedicht im wahrsten Sinne des Wortes in der Mitte der Dichtung, und zwar in der mittleren Triade. Der Hauptgedanke der mittleren, fünften Strophe, der in die sechste Strophe hinüberreicht, spricht davon, dass der Geist der Allebendigen, oder der Götter, im Lied gegenwärtig sei, in ihm wehe, dass dieser Geist ferner ein Gemeinsames an Gedanken sei, ein Gemeinsames „zwischen Himmel und Erd" (V. 42), ein Gemeinsames „unter den Völkern" (V. 42). Der Dichter ist derjenige, in dessen Seele dieser Geist ,,[s]till endend" (V.44) Gestalt gewinnt, und zwar „von heiigem Stral entzündet" (V. 47). Der Gesang ist eine „Frucht in Liebe geboren" (V. 48), er ist der „Götter und Menschen Werk" (V. 48), er zeugt von der gelungenen Vermittlung. Die Zeugung des Gesangs aus göttlichen und menschlichen Kräften setzt Hölderlin in eine vieldeutige Parallele zum Mythos von der Geburt des Dionysos (Bacchus). Die Königstochter Semele (gelegentlich auch als Erdgöttin verstanden) begehrt den Gott Zeus unmittelbar und mit eigenen Augen zu schauen. Ein solches Begehren entspringt menschlicher Anmaßung und zieht unabweislich Verderben und Vernichtung nach sich, wie der Mythos der von Zeus in der Gestalt des Blitzes tödlich getroffenen Semele zeigt.27 Gleichwohl bedeutet die Begegnung Semeies mit dem Gott, mit Zeus, nicht nur Tod und Untergang, zeugt sie doch die „Frucht des Gewitters, den heiligen Bacchus" (V. 53). Dieses mythische Ereignis steht sowohl für die Möglichkeit einer gelingenden ...
Unregelmäßigkeiten, die Bedeutung des Gedichts im Hinblick auf Hölderlins Pindar-Beschäftigung und Pindar-Übersetzungen, den Zusammenhang mit Hölderlins Übersetzung aus Euripides Bacchantinnen kann nicht näher eingegangen werden. Im folgenden Versangaben nach Knaupp 1,262-264. Vgl. Herbert Hunger, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, Reinbek bei Hamburg Auf metrische
1985,373.
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Vermittlung zwischen den Extremen Gott und Mensch, als für die Auslotung der Möglichkeiten diesseits und jenseits dieser Grenzen. Das Bild vom Gesang als Mitte und Vermittlung in der mittleren Triade ist daher
auch Grenze gegen die erste und die dritte Triade. In der ersten Triade wird der Dichter in Analogie zum Landmann gesetzt, der den Acker bebaut, der den Gesetzen der Natur ebenso gehorcht, wie er dank menschlicher Vernunft nach Freiheitsgesetzen handelt und beide Arten von Gesetzen koordinieren muss. Während jedoch der Landmann und Dichter in hohem Maße der Natur zugeneigt ist, die es mit den Möglichkeiten freier, spontaner Gesetzgebung in Einklang zu halten gilt, dominieren in der dritten Triade die Freiheitsgesetze menschlicher Vernunft, die sich diesseits der von Gott gezeichneten Grenzen halten oder in hybrider Selbstüberhebung diese Grenzen missachten und die Stimme des Schicksals durch Grenzüberschreitung der Vernunft herausfordern. Die dionysischen Zeichen der ersten Triade gehören vorwiegend der Natur an. Die erste Strophe hebt mit der Witterungsbeschreibung eines überstandenen Gewitters an, das in seiner wohltuenden Wirkung gezeichnet wird: „Aus heißer Nacht die kühlenden Blize fielen/ [...] und glänzend/ In stiller Sonne stehn die Bäume des Haines" (V. 3, 8, 9). Ferner ist es der „Weinstok" (V. 1), das Zeichen des Bacchus, der unter den kühlenden Blitzen in heißer Nacht und unter dem erfreuenden Regen „trauft". Die zweite und dritte Strophe machen deutlich, dass allein das Erwachen der Natur ein Erwachen der schöpferischen, allerschaffenden Begeisterung sein kann. Alle menschliche Schöpferkraft verdankt sich einer höheren Kraft, der der göttlichen Natur. Der Ackerbau des Landmanns hängt von der Gunst der Natur ebenso ab, wie der Erbauer von Wortgebilden, der Dichter: „im Liede wehet ihr Geist" (V. 37). Der Weinstock selbst ist es, der der dunklen Erde entwächst, genährt vom Licht der Sonne, einer Repräsentantin des himmlischen Feuers. Die Begeisterung, nicht im Sinne einer überschwenglichen Ekstase, sondern als belebendes Gefühl, als Gefühl am „Feiertage" (V. 1 ), ist nicht nur Gegenstand der Dichtung, sondern auch unmittelbarer Ausdruck des Gedichts, des hymnischen Gesangs. Die „Begeisterung" als „Allerschaffende" (V. 26-27) ist in sublimierter Form als Feuer des Himmels zu verstehen, so dass in der vierten Strophe die Rede davon sein kann, „wie im Aug' ein Feuer dem Manne glänzt/ Wenn hohes er entwarf; so ist/ Von neuem an den Zeichen, den Thaten der Welt jezt/ Ein Feuer angezündet in Seelen der Dichter" (V. 28-31). Die Kraft der Natur ist es, die die menschliche Freiheit zu einer schöpferischen, lebendigen Kraft erwachsen lässt. Gemäß der dritten Triade trinken die Erdensöhne dank der gelungenen Geburt von Bacchus, dem gelungen Werk von Gott und Mensch im wörtlichen und im übertragenen Sinne „himmlisches Feuer jezt/ [...] ohne Gefahr" (V. 54/55). Der gelungene Gesang ist das Medium, in dem der eigentliche Bildungsauftrag des Dichters sich ausspricht, der nach der Maßgabe Hölderlins der Priester der Moderne ist. Ihm ist die Mittlerfunktion zwischen dem Gegensatz von Geist und sinnlichem Stoff, Göttlichen und Menschlichen in ihrem Auseinandersein und in ihrem Zusammenwirken zugewiesen. Der Geist als das Unendliche ist in seiner Unfasslichkeit und Fasslichkeit zugleich bezeichnet. Die Erdensöhne trinken das himmliche Feuer in Gestalt des Weines, der Begeisterung, des Gesangs des Dichters jedoch nur solange gefahrlos, solange die nötige Selbstbescheidung vor dem Göttlichen bewahrt bleibt: „Doch uns gebührt es, unter Gottes Gewittern/
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Ihr Dichter! mit entblößtem Haupte zu stehen/ [...] Denn sind nur reinen Herzens/ Wie Kinder, wir, sind schuldlos unsere Hände" (V. 56-57 und 61-62). Die Bedingung der Selbstbescheidung droht durch emphatische Freiheitserfahrung jedoch in Hybris umzuschlagen. Diesem Gedanken ist die zweite Hälfte der dritten, Fragment gebliebenen, Triade gewidmet. Der Dichter, der trotz des warnenden Beispiels der Semele, das Göttliche unmittelbar schauen will, findet sich, wie das letzte Strophenfragment andeutet, als falscher Priester tief unter den Lebenden wieder. Seine Frucht dort ist einzig, ,,[d]as warnende Lied den Gelehrigen [zu] singe[n]". (V. 72) In dieser Gefahr der dem Menschen zueigenen Hybris hebt sich Freiheit selbst auf und schlägt um in Naturnotwendigkeit, in das Fatum tragischen Geschicks. Die Grenzen menschlicher Freiheit nicht anerkennen zu wollen, ihre Grenzen zu sprengen und damit Freiheit durch Freiheit zu vernichten, ist auch das tragische Verhängnis des Empedokles, wie Hölderlin ihn deuten wird. Trotz der großen Bedeutung von Hölderlins Trauerspiel Empedokles für Nietzsche kann hierauf nicht näher eingegangen werden. Stattdessen ist Hölderlins Vaterländischer Gesang Der Rhein in Augenschein zu nehmen.28 Im Zuge der mythisierenden Selbstinszenierung des Dichters spielen in seinen Gedichten Flüsse eine herausragende Rolle. Nicht nur ist Hölderlin mit ihnen groß geworden, wie dem Neckar in Lauffen, Nürtigen und Tübingen, später in Stuttgart und Heidelberg, ist ihnen begegnet, wie der Saale in Jena, dem Main in Frankfurt, dem Rhein in Mainz und andernorts, der Garonne und Dordogne in Bordeaux in Frankreich. Flüsse sind für Hölderlin Zeichen des Himmels und Ursprung des Lebens, sie durchziehen das ohne sie trockene Land, machen fruchtbar, urbar, lassen Pflanzen wachsen, Tiere daran tränken, Menschen an ihren Ufern bauen. Hinzu kommt, dass der Gebirgsbach im ausgehenden 18. Jahrhundert als Sinnbild des Genies, des Künstlers, der ausgezeichneten Persönlichkeit galt. Das Genie schafft sich im stürmenden Drang, im Bewusstsein der eigenen Freiheit seine Bahn. All dies ist mitgedacht in der Personifizierung des jungen Rheins, der als Halbgott geboren, aufbegehrt gegen die ,,Wikelbande[]" (V. 63) der Neugeborenen, der, indem er den Felsen durchsticht, Felsen und ganze Wälder mit in den Abgrund reißt: „wie der Bliz, muß er/ Die Erde spalten, und wie Bezauberte fliehn/ Die Wälder ihm nach und zusammensinkend die Berge" (V.73-75), um in der Ebene als „Vater Rhein" (V. 88) besänftigt seine Bahn zu ziehen und das Land zu bestellen. Der Name des Rheins erlaubt, ihm das Epitheton des „Reinentsprunge[n]" (V. 46), das heißt, des „freigeborenen" (V. 33) Göttersohnes beizulegen. Daher ist von seiner „königlichen Seele" (V. 38) die Rede, die es, anders als Tessin und Rhodanus, also Rhône, zuerst nach Osten drängt, bis sie die vorgezeichnete Bahn des ihm zugemessenen Schicksals einschlägt, zuerst nach Westen, dann nach Norden zu fließen. Was aber treibt den Rhein in den Osten nach Asia? Aus Asien, vom Indus im heutigen Pakistan kommt der Weingott Dionysos oder Bacchus mit seinem Gefolge von Frauen, den Mänaden oder Bacchen ins griechische Theben, um dort den dionysischen Kult einzuführen. Asien, genauer Kleinasien ist auch von großer Bedeutung als Ort des Ursprungs des geschriebenen Wortes, das eine wesentliche Zäsur in der Entfaltung der Kultur darstellt, zunächst in der asiatischen, Verse zit. nach
Knaupp 1, 342-348.
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dann der ägyptischen und griechischen, schließlich der westlichen Kultur Zentraleuropas. Zwei Strophen der Rhein-Hymne beschäftigen sich mit Jean Jacques Rousseau, dem Künder eines neuen Naturverständnisses, der auf Hölderlin einen bedeutenden Einfluss hatte. Er rede so, „Wie der Weingott [also Dionysos V. L. W.], thörig göttlich/ Und gesezlos sie die Sprache der Reinesten giebt/ Verständlich den Guten, aber mit Recht/ Die Achtungslosen mit Blindheit schlägt" (V. 145-148). Wie Rousseau das Eigentliche der menschlichen Seele durch das Studium der Natur zu erkunden sucht, so sucht Hölderlin die Zeichen der Erde, den Lauf der Flüsse, die Stellung der Berge, Tag und Nacht einerseits in seiner physischen Sinnlichkeit darzustellen, andererseits als Zeichen der Nähe oder Ferne des Göttlichen zu deuten. Das Lesen dieser Zeichen heißt, zu erkennen, dass der Baumeister des Alls und der Erde zuweilen „auch ruht", dass er, wie es weiter im Gedicht heißt, sich „Versöhnend zu der Braut/ Der Bildner sich/ Der Tagsgott zu unserer Erde sich neiget" (V. 177-179). Wenn der Tagsgott, die Sonne zur Erde sich neigt, so ist dies der Augenblick, in dem der Abend hereinbricht, bis er in das Dunkel der Nacht, Hölderlins Bild der Jetztzeit, übergeht. Das Dunkel der Nacht ist aber nicht bloß Nichts. In Hölderlins Denken ist es ausdrücklich der werdende Urgrund des kommenden Tages, in dem das Vermittlungsgeschehen von Gott und Mensch vorbereitet wird. Es bedarf des ersten unter den Weisen, Sokrates, um die lange Nacht durchzuwachen und den kommenden Tag zu begrüßen: „Denn schwer ist zu tragen/ Das Unglük, aber schwerer das Glük/ Ein Weiser aber vermocht es/ Vom Mittag bis in die Mitternacht/ Und bis der Morgen erglänzte/ Beim Gastmahl helle zu bleiben" (V. 204-209). Das Gastmahl, Piatons Symposion, ist eine Weise, in der Jetztnacht den künftigen Tag vorzubereiten. Der zur Natur sich wendende Philosoph Rousseau repräsentiert in dem Gedicht die Züge des Dionysos, die in ihm ein ursprüngliches Naturwesen erkennen lassen, während Sokrates die Rolle zufallt, das dionysische Feuer des Himmels in der Nacht im Zuspruch zum Wein und im philosophischen Gespräch über die Liebe zu bewahren. Nietzsche könnte in diesem Gedicht eine Trennung der Sphären des Dionysischen und Appolinischen entdeckt haben, die von Hölderlin freilich anders intendiert -
war
3.2. Der Dionysos-Mythos: Nietzsche Von den 221 Versen der 15 Strophen umfassenden Hölderlinschen Hymne Der Rhein sind die ersten acht Verse der 4. Strophe Nietzsche gewichtig genug, sie abzuschreiben. Diese Verse lauten: „Ein Räsel ist Reinentsprungenes. Auch/ Der Gesang kaum darf es enthüllen. Denn/ Wie du anflengst, wirst du bleiben/ So viel auch wirket die Noth/ Und die Zucht, das Meiste nemlich/ Vermag die Geburt/ Und der Lichtstral, der/ Dem Neugebornen begegnet."29 Die Abschrift wird auf Sommer oder Herbst 1873 datiert. Zu dieser Zeit ist Nietzsches Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik bereits gedruckt. Wie immer Nietzsche die Verse gelesen haben mag, ein Kommentar
Knaupp I, 343; KSA, NF, 7, 711; in Nietzsches Abschrift finden sich wenige Abweichungen Rechtschreibung und Interpunktion.
in
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ist nicht überliefert, lässt sich in ihnen gleichwohl eine Nähe zum Geist des Dionysischen in Nietzsches früher Tragödienschrift erkennen. Dies nicht nur deshalb, weil, wie besprochen, in anderen Versen der Rhein-Hymne, die Nietzsche übergeht, vom Weingott, also Dionysos die Rede ist, dem Rousseau gleiche, und der „thörig göttlich/ Und gesezlos sie die Sprache der Reinesten" spreche (V. 145-146). Dichtung, von Hölderlin ausdrücklich als Gesang verstanden, ist ihrem Wesen nach der Musik als Ausdrucksform menschlichen Dasein sehr nahe. Dies trifft den Kern von Nietzsches Schrift. Im Dionysischen, das Nietzsche der apollinisch-sokratischen Welt des Rationalen, Abgeklärten, Gebändigten gegenübersetzt, findet er ein Empfindungs- und Ausdrucksvermögen der menschlichen Natur am Werk, die er vermutlich auch in dem Ausdruck des „Reinentsprungenen" und seiner Rätselhaftigkeit am Werke sieht. Schon in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung war von „der einzigen Meisterin Natur" zu lesen (KSA, HL, 1, 327) und von der Urwelt der Griechen. Die Uranfänglichkeit spricht Hölderlin mit bedeutender Geste in seinen Versen aus. Während die Dionysos-Gestalt für Hölderlin eine Mittlerfigur darstellt zwischen dem Irdischen und Göttlichen, der Wildnis und dem Heiligen, dem Ungebändigten der Kindheit und der abgeklärten Reife des Alters, der gegenwärtigen Abwesenheit und dem erwarteten Kommen, das der Dichter besingt und beschwört, ist für Nietzsche das Dionysische nicht einmal eigentlich mythische Gestalt, sondern Mythisches an sich. Deshalb spricht er auch vom Dionysischen und Appolinischen eher denn von Dionysos und Apollo. Es ist ein Teil der menschlichen Natur, der durch ein Übermaß an Kultur, durch Vereinseitigung der Rationalität, durch philiströses Bildungsbürgertum hinweggedacht wurde. Vielmehr als Hölderlin bemüht Nietzsche für das Dionysische eine Sprache der Exaltation. Er zeichnet es als Metapher einer Urgewalt des Lebendigen, das Titanisches und Prometheisches in sich schließt (vgl. KSA, GT, 1, 71), es ist höchste Form des Pathos und des Rausches (vgl. ebd., 85, 95), ist kreatives Urchaos, dem Nietzsche das Wort des Anaxagoras leiht: „im Anfang war alles beisammen; da kam der Verstand und schuf Ordnung" (ebd., 87). Schließlich weiß Nietzsche drei Tugenden des Optimismus aufzuzählen, die den Tod der Tragödie und damit des letzten Dionysischen bedeuteten: „Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der Tugendhafte ist der glückliche" (ebd., 94). Dem modernen, der Tragödie entfremdeten Menschen bescheinigt Nietzsche einen Mangel an Empfindungsfähigkeit und ein unaufrichtiges Hinwegtäuschen über das Leid und kurzsichtige Meiden von Schmerz, ein Glücklichseinwollen um jeden Preis, das den Menschen von sich selbst entfremdet. Nietzsche geht es keineswegs um eine masochistische Glorifizierung von Leid und Schmerz. Es geht ihm darum, dass sie auf eine unhintergehbare Weise zum Leben des Menschen gehören, denn wo Menschen miteinander umgehen, wird es immer zu Interessenskonflikten, zu anmaßenden Machtansprüchen, zu Neid und dergleichen kommen. Die überlieferten Tragödien des Aischylos oder Sophokles haben den unvermeidlichen Abgründen, die dem menschlichen Leben innewohnen, einen künstlerischen Ausdruck und eine bewusste Gegenwärtigkeit im Leben verliehen.30 Nietzsche kann es nicht hinin diesem Sinne spricht Babette E. Babich in: „Between Hölderlin and Heidegger: Nietzsches Transfiguration of Philosophy", in: Nietzsche-Studien, 29, (2000), 267-301, von der notwendigen Transfiguration der Philosophie Nietzsches, der sich vom bloßen Wissenwollen abwendet, um dem
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nehmen, dass die Menschen sich über die unhintergehbaren Abgründe des menschlichen Daseins mit einem heiteren, zweckoptimistischen Lächeln hinwegtäuschen. Es gilt
zu schützen vor den zweifelhaften kognitiven Erruneinen Teil der Emotionen aus falschem Optimismus hinweg zu rationaligenschaften, sieren. Damit wird die in der Emotionalität geborgene Lebendigkeit des Menschen als Ganzes untergraben. Nur wenn beide Wurzeln des menschlichen Geistes, Emotion und Kognition den ihnen je zugehörenden Ort im Leben der Menschen und in der Gesellschaft zugewiesen bekommen, ist das Wesen Mensch ein lebendiges Wesen. Wahre Bildung ist bei Hölderlin und Nietzsche bestimmt durch ein hohes Maß an Authentizität, die nach Hölderlin allererst aus der Ganzheitlichkeit des künstlerischen Wollens und des Wollens des Künstlers erwächst; nach Nietzsche ist vom Künstler und Philosophen tiefe Aufrichtigkeit gefordert. Die Wahrhaftigkeit im Wollen und Hinsehen ist eine gute Voraussetzung für ein Kunstwerk als einem ganzheitlichen, lässt aber den Weg offen, die Brüchigkeit des menschlichen Lebens nicht nur zu sehen, sondern im Sinne des romantischen Denkens in die Form des Kunstwerks einfließen zu lassen. Beide Denker lieben, kennen und schätzen ihre Griechen im Überfluß und suchen, sich vor dem Überwältigtwerden durch sie zu schützen. Hölderlins Weg ist mehr der einer dialektischen Reflexion und vorsichtigen Versöhnung des Alten und des Neuen, während Nietzsche zufolge die starke Persönlichkeit sich vor der Überwältigung durch andere Größe zu bewahren weiß. Schließlich ist Hölderlins Dionysos die Mittler- und Bildnerfigur schlechthin zwischen den Extremen, während Nietzsches Dionysos die große Gegenkraft zum sokratischen Zeitalter, das echte Gefühl, das Musikalische schlechthin neben und in Ergänzung zum Rationalen darstellt. Das Leben darstellen zu wollen, der unerbittliche Blick des Lebens selbst und des Lebendigen ist es vor allem, das beide Denker zur Romantik zurechnen lässt. So besteht wahre Bildung wesentlich darin, die gesamte Natur des Menschen erkennen zu wollen, zu respektieren und in ihrem Geist zu handeln. Hölderlin und Nietzsche sind Dichter und Denker, die diese Dimension erkannt haben, als die Frage nach der Relation von Emotion und Kognition noch nicht die Breite heutiger Diskussion erreicht hat.
die Emotionalität des Menschen
Leben als Ganzem Raum zu schaffen. Hinsichtlich der Bestimmung des Tragischen in der Antike ist der These Günther Patzigs zuzustimmen, der in seiner Untersuchung „Antike Tragödienphilosophie: Piaton und Aristoteles", in: Die Tragödie. Eine Leitgattung der europäischen Literatur, hg. von Werner Frick in Zusammenarbeit mit Gesa von Essen und Fabian Lampart, Göttingen 2003, 74-94, zur These gelangt, den Tragödiendichtern könne es kaum in erster Linie um Katharsis, um Abfuhr von Furcht und Schrecken, als vielmehr um das Erlebbarmachen von Emotionalität zu tun gewesen sein. -
Justus H. Ulbricht
Neuromantik Ein Rettungsversuch der Moderne mit Nietzsche -
Am 15. Oktober 2003 eröffnete die Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen in den unteren Räumen des ehemaligen Friedrich Nietzsche-Archivs in Weimar eine kleine
Ausstellung unter dem Titel Klingers Nietzsche. Dahinter verbarg sich der Versuch, mit einigen Dutzend sprechender Exponate aufzuzeigen, wie sich das Bild Friedrich Nietzsches, wörtlich genommen, die plastischen Arbeiten am Porträtkopf des Philosophen, die der Leipziger Künstler Max Klinger vorgenommen hat, vom ersten Entwurf 1902 bis zur Gestaltung der heute im Archiv zu sehenden Porträt-Herme des Philosophen (1905)
verändert hat. Dies ist nur auf den ersten Blick ein rein kunsthistorisch oder ästhetisch relevantes Thema. Klingers Bearbeitungen in Marmor, Bronze oder Gips parallel lief eine ganz andere Arbeit an Nietzsches Texten, auch und gerade im Weimarer Archiv,1 das seit seinem Umzug von Naumburg nach Weimar im Jahre 1896 daran gegangen war, Nietzsche „ins Naumburgische" zu übersetzen, ihn ,,[d]eutschzusprechen" (Franz Pfemfert) und damit für diejenigen geistigen Strömungen nutzbar zu machen, denen es dezidiert um eine „deutsche Renaissance"2 in Zeiten beschleunigter Modernität zu tun war. Die Wiedereröffnung des durch Henry van de Velde umgebauten Nietzsche-Archivs am 15. Oktober 1903, an die die erwähnte Ausstellung exakt einhundert Jahre später erinnern sollte, gehörte einst zum Auftakt der kulturellen Regenerationsperiode, für die sich in der Forschung der Begriff „neues Weimar" eingebürgert hat.3 Dessen wichtigster Protagonist Harry Graf Kessler begann sein Wirken als führender Kurator des
1
'
Zur Geschichte des Nietzsche-Archivs: Frank Simon-Ritz/Justus H. Ulbricht, „Heimatstätte des Zarathustrawerkes. Personen, Gremien und Aktivitäten des Nietzsche-Archivs in Weimar 18961945", in: Wege nach Weimar. Auf der Suche nach der Einheit von Kunst und Politik, hg. von Hans Wilderotter/Michael Dorrmann, Berlin 1999, 155-176. Justus H. Ulbricht, „Deutsche Renaissance. Weimar und die Hoffnung auf die kulturelle Regeneration Deutschlands zwischen 1900 und 1933", in: Jürgen John/Volker Wahl (Hg.), Zwischen Konvention und Avantgarde, Jena/Weimar/Köln/Wien 1995, 191-208. Zu den kulturhistorischen Zusammenhängen in Jena und Weimar: Hansdieter Erbsmehl/Conny Dietrich, Klingers Nietzsche. Wandlungen eines Porträts 1902-1914, hg. von Justus H. Ulbricht im Auftrag der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen, Jena 2004; dort weiterführende Literaturangaben zum .neuen Weimar'.
Justus H. Ulbricht
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Großherzoglichen Kunstmuseums im Juni 1903 mit einer Klinger-Ausstellung; im Oktober jenen Jahres wurde das umgebaute Nietzsche-Archiv eröffnet, das sich damals als Keimzelle und Zentralpunkt des ,neuen Weimar' verstand. Im Dezember 1903 entstand an der Um der Deutsche Künstlerbund als Zusammenschluss derjenigen modernen, avantgardistischen Künstler, die mit der Kunstpolitik Wilhelms II. überkreuz lagen und ihre Hoffnungen auf eine Förderung moderner Kunst lieber auf den Weimarer Großherzog Wilhelm Ernst und dessen Frau Pauline richteten. Ebenfalls im Dezember vor 100 Jahren gründete sich in Jena der Kunstverein und im Februar 1904 die Gesellschaft der Kunstfreunde in Jena und Weimar. In den folgenden Jahren bis zum Ersten Weltkrieg sorgten diese organisierten, aber auch mancher unorganisierte ,Kunstfreund' dafür, dass die Avantgarde in der Provinz ankam und wirkte. Die kulturelle Anstrengung, von der im folgenden unter dem Titel ,Neuromantik' die Rede sein soll, gehört in den, hier nur angedeuteten, Kontext kultureller Regenerationsbewegungen um 1900, die sämtlich ohne Nietzsche und dessen Wirkung nicht zu
denken wären.4 Zudem verweist die so genannte ,Neuromantik' unmittelbar auf die Gegend um Jena, Naumburg und Weimar. Hier liegen die Orte, auf die sie sich bezog und sind die Personen im wahrsten Wortsinn wie im übertragenen Sinne zu Hause gewesen, die die neuromantische Bewegung befordert und recht eigentlich erfunden haben. Überdies hält die Region das gesamte Ensemble historischer Ereignisse und Persönlichkeiten bereit, auf die man sich als ,Neuromantiker' beziehen konnte und die mit dem Syndrom ,Doktor Faustus' die Chiffre ,Kaisersaschern' erfunden hat.5
Auftakt Im Januar 1900 verbreitete ein kulturell
engagierter Leipziger Verlag das
Manifest Zur
Jahrhundertwende, mit dem er zwischen einigen seiner Neuerscheinungen einen ganz bestimmten, der eigenen Ansicht nach zwingenden geistigen Zusammenhang konstruie-
und so deren Absatz steigern wollte. Zugleich versuchte der Verleger, sein Unternehmen in den ästhetischen und weltanschaulichen Debatten des Fin de siècle eindeutig zu positionieren: „Als führender Verlag der Neuromantik möchte ich betonen, dass diese nicht mit der Dekadenzrichtung in der Literatur zu verwechseln ist. Nicht das Primitive, nicht weltfremde Träumerei bevorzugt diese neue Geistesrichtung, sondern nach dem Zeitalter des Spezialistentums, der einseitigen Verstandeskultur, will sie die Welt als etwas Ganzes genießen und betrachten. Indem sie das Weltbild wieder intuitiv erfaßt, überwindet sie die aus der Verstandeskultur hervorgegangenen Erscheinungen des Materen
4
Der vorliegende Beitrag fußt auf Justus H. Ulbricht, Auf der Suche nach der verzauberten Zeit, in: Imagination Romantik. Botho-Graef-Kunstpreis der Stadt Jena 2001, hg. von Kulturamt der Stadt
Jena, Jena 2001, 174-187.
Dazu Justus H. Ulbricht, „,Deutsche Mitte' Thüringen als Sehnsuchtslandschaft", in: Expressionismus in Thüringen. Facetten eines kulturellen Aufbruchs, hg. von Cornelia Nowak/Kai Uwe Schierz/Justus H. Ulbricht, Jena 1999, 218-223; Justus H. Ulbricht, „Wo liegt Kaisersaschern? Mitteldeutsche Mythen und Symbolorte. Eine Spurensuche .deutschen Wesens'", in: Jürgen John (Hg.), „Mitteldeutschland". Begriff- Geschichte Konstrukt, Rudolstadt, Jena 2001, 135-158. -
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Neuromantik Ein Rettungsversuch der Moderne mit Nietzsche
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rialismus und Naturalismus [...] Die Altromantiker strebten nach viel Wissen, nach Universalmenschentum und indem sie ihre Ideale nicht bloß zu denken sondern auch zu leben trachteten, beseelten sie ihre Kenntnisse. Auf gleichem Weg wird auch die Neuromantik wandeln, wenn sie wieder an die Natürlichkeit, Ursprünglichkeit, Kunst und Daseinsfreude der Menschen aus dem Zeitalter des Paracelsus und Dürer anknüpft. Sie wird den von Nietzsche mit Recht gebrandmarkten Bildungsphilister, der sich nur mit den Lappen der Kultur behängt hat, überwinden und zur künstlerischen Kultur des 20. Jahrhunderts erziehen. Die Sehnsucht der Seele nach etwas, das dem Leben Sinn und Inhalt giebt, führt zuerst zur innerlichen Vertiefung. Aus dieser heraus entwickelt sich der Mensch nach Goethe's Beispiel zum Einklang mit der Umgebung; denn das mit Bewußtsein-Leben führt zur Ausbildung vorhandener Kräfte und Anlagen, zu dem gesunden, fröhlichen Menschen, dessen eigenes Leben ein unbewußtes Kunstwerk ist. Kein totes Wissen mehr, sondern es soll die Kunst werden, des Menschen Seele und Empfinden umzuformen und ihn zur praktischen Betätigung zu führen [...]."* Mit diesen Worten war sich der Autor des Manifests treu geblieben, der erst vier Jahre zuvor sein Verlagsunternehmen gegründet hatte. Einem ebenfalls kulturreformerisch engagierten Freund, dem Dresdner Publizisten und Herausgeber der Zeitschrift Kunstwart, Ferdinand Avenarius, schrieb er 1896: „Ich habe den kühnen Plan, ich möchte einen Versammlungsort moderner Geister haben [...] Parole: Entwicklungsethik, Sozialaristokratie, gegen den Materialismus zur Romantik und zu neuer Renaissance. Auch für Mystik habe ich sehr viel übrig."7 Wiederum vier Jahre nach der Proklamation Zur Jahrhundertwende, im Jahre 1904, beschloss der Verleger, seinen Betrieb in die Stadt zu verlagern, die für ihn das kulturelle Erbe von Antike, Klassik und Romantik, zugleich, mit den Zeiss-Betrieben, eine faszinierende Modernität verkörperte: „Ich siedele am 1. April nach Jena über und möchte dann mit den Hauptvertretern der Romantiker in Einzelschriften erscheinen. [...] Es ist eine Lieblingsidee von mir, so etwas wie ein hundertjähriges Jubiläum der Romantiker damit zu dokumentieren und vor allem den Namen Jena' dann wieder in den Vordergrund zu bringen [...]."* Ende März 1904 rollten etwa zwanzig Güterwaggons von Leipzig an die Saale, in denen sich der komplette betriebliche und private Besitz von Eugen Diederichs, geboren auf dem Rittergut Löbitz bei Naumburg, und seiner Familie befand9: „Hier wo die 6
Original Peer
im Deutschen Literaturarchiv
Marbach, Nachlass Eugen Diederichs. Reproduktion bei Der Eugen Diederichs Verlag ein Verlag der
Kösling, „.Universalität der Welterfassung.'
Neuromantik?", in: Justus H. Ulbricht/Meike G. Werner (Hg.), Romantik, Revolution und Reform. Der Eugen Diederichs Verlag im Epochenkontext 1900-1949, Göttingen 1999, 82; Kursivierung im -
Original.
Zit. nach Eugen Diederichs Leben und Werk. Ausgewählte Briefe und Aufzeichnungen, hg. von Lulu von Strauß und Torney-Diederichs, Jena 1936, 40. Eugen Diederichs an Martin Rade, 26. Oktober 1903, in: Leben und Werk. Ausgewählte Briefe und Aufzeichnungen, hg. von Lulu von Strauß und Torney-Diederichs, Jena 1936, 88, Hervorhebung im
Original. Dazu: Gangolf Hübinger (Hg.), Versammlungsort moderner Geister. Der Eugen Diederichs Verlag. Aujbruch ins Jahrhundert der Extreme, München 1996; Versammlungsort moderner Geister. Der Kulturverleger Eugen Diederichs und seine Anfänge in Jena [Katalogbuch zur gleichnamigen Aus-
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Justus H. Ulbricht
Romantik blühte, wo Schiller, Goethe, Hölderlin und Fichte lebten, in der Nähe Weischien es leichter, das Erbe ihres Geistes zu wahren, weil die Vergangenheit tatsächlich durch Natur und Bauten in die Gegenwart sich fortsetzte."10 Somit wurde die alte Heimat der Frühromantik zum neuen Standort des ,führenden Verlags' moderner Spätromantik. Was aber war und zu welchem Ende blühte die ,blaue Blume' des vorletzten Jahrhundertendes?
mars
Ortsbestimmungen Ein literaturgeschichtliches Nachschlagewerk der 1950er Jahre nennt ,Neuromantik' eine „oberflächliche und behelfsmäßige, daher auch sehr umstrittene Bezeichnung für eine durchaus ernstzunehmende Erscheinung der dt. Lit. im ausgehenden 19. Jahrhundert."11 Schon zur Entstehungszeit des Wortes sei ,Neuromantik', wie eine jüngere Untersuchung konstatiert, gemeinsam mit der Wortprägung ,Moderne' zu einem „Passepartout-Begriff geworden. Mittels solcher Begriffe versuche „ein an seinen vielfältigen Neuerungen beinahe selbst irre gewordenes Zeitalter seine eigene epochale Identität ohne Aussicht aufbleibenden Erfolg zu bestimmen".12 Andere belehren darüber, dass die ursprüngliche Romantik um 1800 selbst sich als ,neuromantisch', im Gegensatz zum ,altromantischen' deutschen Mittelalter, begriffen habe, dass Wort und Sache über die französische Literatur der Mitte des 19. Jahrhunderts um 1900 nach Deutschland zurückgekommen seien.13 „Unübersehbar war der Bewegungs-, ja Mode-Charakter der Neuromantik", urteilt ein weiterer Autor über die Zeit des Fin de siècle und versucht, sich und andere im Dschungel der Begrifflichkeit zu orientieren.14 An einzelnen Ideen, Phantasien und Träumen der kulturkritischen Bewegungen der 1980er Jahre hat man explizite Rückbezüge auf die alte Romantik festgestellt und sie mit dem Epitheton ,neu-
10
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13
14
stellung], München 1996; Irmgard Heidler, Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt (18961930), Wiesbaden 1998. Eugen Diederichs, „Lebensaufbau. Skizze zu einer Selbstbiographie", geschrieben Juni 1920 bis März 1921, 276 [unveröff. Typoskript], in: Deutsches Literaturarchiv Marbach, Nachlass Eugen Diederichs. Helmut Prang, „Neuromantik", in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Zweite Auflage, hg. von Werner Kohlschmidt/Wolfgang Mohr, Berlin 1959, 2. Band, 678-680, Zitat 678, Abkürzung im Original; Anne Kimmich, Kritische Auseinandersetzung mit dem Begriff „Neuromantik" in der Literaturgeschichtsschreibung, Tübingen 1936; Reinhild Schwede, Wilhelminische Neuromantik. Flucht oder Zuflucht?, Frankfurt/M. 1987. Klaus Lichtblau, „Der Eugen Diederichs Verlag und die neuromantische Bewegung der Jahrhundertwende", in: Ulbricht/Werner, Romantik, Revolution und Reform, 60-77, Zitat 66. Zahlreiche Belege in Reinhold Grimm, „Zur Vorgeschichte des Begriffs ,Neuromantik'", in: Das Nachleben der Romantik in der modernen deutschen Literatur, hg. von Wolfgang Paulsen, Heidelberg 1969, 32-50; Jürgen Viering, „Neuromantik", in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, hg. von Harald Fricke, Berlin/New York 2000, 707-709. Peter Sprengel, „Neuromantik", in: Moderne Literatur in Grundbegriffen, hg. von Dieter Borchmeyer/Victor Zmegac, Tübingen 1994, 335-339, Zitat 337.
Neuromantik Ein
Rettungsversuch der Moderne mit Nietzsche
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romantisch' klassifiziert, ohne
einzugehen.15
jedoch auf
die
,Neuromantik' der Jahrhundertwende
Bei soviel terminologischer Unklarheit, die lexikographisch bis heute nicht vollkommen behebbar scheint, ist es nützlich, den Begriff mit Hilfe von Gewährsleuten des Fin de siècle zu definieren. „Der Naturalismus unserer Tage hat sich schnell überlebt" verkündete triumphierend beispielsweise der Literaturwissenschaftler und Publizist Ludwig Coellen, dessen Sammlung älterer Aufsätze zur damaligen Gegenwartsliteratur unter dem Titel Neuromantik 1906 im Verlag von Eugen Diederichs erschienen ist.16 Dort wird die „Entwicklung der Neuromantik" skizziert und eingangs ,,[d]as Recht des Mystizismus" beschworen. Die alte wie die neue Romantik verstand Coellen als notwendige Erscheinungen allgemeiner „Kulturschwankungen", als generelle, immer wieder auftauchende Bestrebungen nach einer Wiederverzauberung der Welt.17 In seinen Kritische[n] Studien zur Neuromantik äußerte er sich weiterhin über „Ästheten, Dekadenten und Mystiker", verfolgte den Weg „von Schiller zu Ibsen" und subsumierte heterogene Dichter-Persönlichkeiten wie Henrik Ibsen, Maurice Maeterlinck, Richard Dehmel oder die gesamte „impressionistische Malerei" unter die Kategorie, die seinem Buch den Namen gegeben hatte. Schließlich endete er bei Auguste Rodin, dessen Ehrenpromotion 1905 in Jena gerade für erregte Debatten gesorgt hatte, indem er diesen zum „Neuromantiker der Plastik" stilisierte, zu dem der „modern-klassische" Klinger den Gegensatz darstelle.18 So sehr der direkte, von Coellen eingeschlagene Weg von der ,Neuromantik' zur Mystik erstaunen mag, Diederichs eigenes neuromantisches Engagement hatte sich seit 1903 im Verlegen alter und neuer „mystischer" Autoren manifestiert.19 Der Verlagsalmanach Zur Kultur der Seele nennt weitere Stichworte: „Im allgemeinen geht durch meine Verlagswerke ein stark pantheistischer Zug und die Ziele meiner Verlagstätigkeit decken sich mit den Idealen der alten Romantik. Als Grundlage der Persönlichkeitsentwicklung also ein Wurzeln in Natur und Volkstum. Die Welt empfinden als Einheit, 15
16
17
18 9
Uwe Schimank, Neuromantischer Protest im Spätkapitalismus. Der Widerstand gegen die Stadtund Landschaftsverödung, Bielefeld 1983; Johannes Weiß, „Wiederverzauberung der Welt? Bemerkungen zur Wiederkehr der Romantik in der gegenwärtigen Kulturkritik", in: Kultur und Gesellschaft, hg. von Friedhelm Neidhard/Rainer Lepsius u. a. ( Sonderheft 22 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Festschriftfür René König), Opladen 1986, 286-301. Ludwig Coellen, Neuromantik, Jena ¡906; die folgenden Zitate geben Kapitelüberschriften der Monographie wieder. Dazu Heinz Dieter Kittsteiner, „Romantisches Denken in der entzauberten Welt", in: Hübinger, Versammlungsort moderner Geister, 486-507.
Coellen, Neuromantik, 125. Dazu Justus H. Ulbricht, „Durch .deutsche Religion' zu .neuer Renaissance'. Die Rückkehr der Mystiker im Verlagsprogramm von Eugen Diederichs", in: Moritz Baßler/Hildegard Châtellier, (Hg.), Mystique, mysticisme et modernité en Allemagne autour de 1900/Mystik, Mystizismus und Moderne in Deutschland um 1900, Strasbourg 1998, 165-186; ders.: „.Theologia deutsch'. Der Diederichs-Verlag und die Suche nach einer modernen Religion für Deutsche", in: ders./Werner, Romantik, Revolution und Reform, 156-174. Zum Kontext: Uwe Spörl, Gottlose Mystik in der deutschen Literatur um die Jahrhundertwende, Paderborn 1997, bes. 13-27; die Arbeit verweist vielfach auf die kaum
zu
überschätzende Rolle Nietzsches.
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denn Materie und Geist sind die beiden Erscheinungsformen einer Kraft. Kunst und Religion als schöpferische Kräfte befinden sich in engster Verwandtschaft."20 Die Verlagskultur aus Jena begriff sich als ein Beitrag zur Regeneration der „deutschen Seele", ein Rettungswerk, dem der Verleger im Zeichen des Löwen zeitlebens verschrieben war.21 Seine Bemühungen um ,Deutsches Wesen' beziehen sich im wichtigen Verlagskatalog Wege zu deutscher Kultur von 1908 explizit auf die Romantik und deren eigene Suche nach den „poetischen Schätze[n] unseres Volkes", auf die „Kunst des Mittelalters" und die „germanische Gefühlswelt".22 Soviel scheint klar zu sein und wurde bereits in Diederichs' Manifest Zur Jahrhundertwende unterstrichen: ,Neuromantik' war und ist eine Sammelbezeichnung für nichtund gegennaturalistische Strömungen um 1900, die, in des Verlegers Worten, „Materialismus und Naturalismus" und „einseitige Verstandeskultur" überwinden wollten. Sie ist verwandt mit Stilbewegungen wie dem Impressionismus, dem Symbolismus, dem Jugendstil, dem Ästhetizismus und der Décadence. Manche Zeitgenossen des Wilhelminismus setzten die neue „Romantik der Moderne" allerdings zu umstandslos mit der „Decadence"-Literarur ihrer Zeit23 gleich, was Diederichs immer wieder zur Konkretisierung seines eigenen Verständnisses von ,Neuromantik' veranlasst hat, zumal er mit jeder Form gewöhnlicher Dekadenz nichts zu tun haben wollte. Dabei verkannte er, obwohl einer der frühen Verehrer Nietzsches, dass dieser Modephilosoph des Wilhelminismus sich selbst emphatisch als ,decadent' bezeichnet hatte, ohne damit ausschließlich Assoziationen an Krankheit, Devianz, Sittenverwahrlosung und kulturellen Verfall wecken zu wollen, die andere in seiner Zeit mit dem Namen ,Dekadenz' belegten.24 Dass Nietzsche unbestritten „der Philosoph der Neuromantik" sei, war bereits 1900 zum Thema einer Zeitstudie geworden25, dem gleichnamigen Werk von Georg Tantzscher. Samuel Lublinski pries in seiner Bilanz der Moderne des Jahres 1904 den Zarathustra als „höchstefs] Kunstwerk der modernen Romantik".26 Und auch Coellens Ar-
21
3
24
Zur Kultur der Seele 1896-1906, Verlagsbericht von Eugen Diederichs Jena, unpag. Zu den sich wandelnden politischen und kulturellen Optionen von Diederichs vgl. Justus H. Ulbricht, „,Meine Seele sehnt sich nach Sichtbarkeit deutschen Wesens' Weltanschauung und Verlagsprogramm von Eugen Diederichs im Spannungsfeld zwischen Neuromantik und .Konservativer Revolution'", in: Hübinger, Versammlungsort moderner Geister, 335-374; Stefan Breuer, „Kulturpessimist, Antimodernist, konservativer Revolutionär? Zur Position von Eugen Diederichs im Ideologienspektrum der wilhelminischen Ära", in: Ulbricht/Werner, Romantik, Revolution und Reform, 36-59. Vgl. Wege zu deutscher Kultur. Eine Einführung in die Bücher des Eugen Diederichs Verlages, Jena 1908, 69. Vgl. Leo Berg, „Die Romantik der Moderne" [1891], in: Die literarische Moderne. Dokumente zum Selbstverständnis der Literatur um die Jahrhundertwende, ausgew. u. mit einem Nachwort hg. von Gotthart Wunberg, Frankfurt/M. 1971, 77-82. Zur Décadence vgl. Wolfdietrich Rasch, Die literarische Décadence um 1900, München 1986. Vgl. Elisabeth Kuhn, „décadence", in: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben Werk- Wirkung, Stuttgart, Weimar 2000, 213-215. Georg Tantzscher, Friedrich Nietzsche und die Neuromantik. Eine Zeitstudie, Dorpat 1900. Samuel Lublinski, Die Bilanz der Moderne, Berlin 1904, 130; dort auch zahlreiche Bemerkungen zur Nietzsche-Mode und den neuromantischen Tendenzen der Epoche.
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5 26
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beit apostrophierte den Philosophen als „Vater der Neuromantik".27 Später veranlassten diese Einschätzungen Karl Joël zu seiner großen, ebenfalls von Diederichs verlegten Studie Nietzsche und die Romantik1*, wobei Joël einräumte, dass die Wortkombination den Philosophen aus Naumburg selbst wohl empört hätte.29
Konturen Doch nicht allein Coellen oder Joël, sondern auch deren Verleger selbst legte eine, in Augen, atemberaubende Fähigkeit zu ästhetischer und intellektueller Kombinatorik an den Tag, wenn es galt, den Sehnsuchtsbegriff ,Neuromantik' mit Leben zu füllen. Im Jahre 1898 versammelte Diederichs unter dem Motto Zu einer Neuromantik erstmals vier Titel in einem gemeinsamen Werbeprospekt: Eine dreibändige NovalisAusgabe, zu der der Friedrichshagener Dichter Bruno Wille ein Vorwort beigesteuert hatte,30 ein Buch Karl Müller-Rastatts über den damals langsam wiederentdeckten Friedrich Hölderlin mit dem Titel In die Nacht! Ein Dichterleben, Maurice Maeterlincks Essay-Sammlung Schatz der Armen31 und die Musikalischen Streifzüge des Musikkritikers Richard Batka, den der Verleger aus dem Kunstwart-Kieis seines Freundes Avenarius kannte. Jahrzehnte später rechnete Diederichs außerdem Julius Harts Werk Der neue Gott (1899) zur gleichen Richtung: „Neuromantik in erster Linie als Anschauung des Universums gefaßt."32 Auch die von Friedrich von Oppeln-Bronikowski, dem Maeterlinck-Übersetzer des Verlags, besorgte Anthologie Die Blaue Blume ( 1900), Hermann Hesses Erzählung Eine Stunde hinter Mitternacht (1899) und Leopold Webers Traumgestalten (1900) zählten nach Diederichs eigenen Worten ebenfalls zum Profil seines Hauses, mit dem er sich „als führender Verlag einer Neuromantik fühlte, zu der für mein Denken im Sinne eines Wackemoder der Sinn für deutsche Vergangenheit, und im modernen Sinne künstlerische Kultur und religiöse Weltanschauung gehörte".33 unseren
Vgl. Coellen, Neuromantik,
119. Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, Jena/Leipzig 1905. Vgl. Joël, Nietzsche und die Romantik, 6. Zu Joëls Nietzsche- und Romantik-Verständnis siehe den Beitrag von Steffen Dietzsch in diesem Band. Zur engen Beziehung zwischen dem Friedrichshagener Dichterkreis und Diederichs: Heidler, Der Verleger Eugen Diederichs und seine Zeit, 456-467. Zum Kreis selbst, Gertrude Cepl-Kauffnann/Rolf Kauffeldt, Berlin-Friedrichshagen. Literaturhauptstadt der Jahrhundertwende. Der Friedrichshagener Dichterkreis, Berlin 1994. Maeterlinck war der bedeutendste .neuromantische' Autor jener Jahre nicht nur für Diederichs, sondern in Deutschland insgesamt, und galt als Künder neuer, mystischer Religiosität. Dazu zeitgenössisch: Heinrich Meyer-Benfey, Moderne Religion. Schleiermacher Maeterlinck, Leipzig 1902 [verlegt bei Diederichs]; Spörl, Gottlose Mystik, 142-158; Maeterlinck bei Diederichs, dazu: Heidler, Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt, 467^78. Sämtliche in diesem Aufsatz zitierten Lexikon-Artikel zur .Neuromantik' erwähnen Maeterlinck an prominenter Stelle. Leben und Werk. Ausgewählte Briefe und Aufzeichnungen, hg. von Lulu von Strauß und TorneyDiederichs, Jena 1936, 44. Jens Peter Jacobsen, dessen Gesammelte Werke ab 1898 im Verlag erschienen sind, war ein weiterer, von Diederichs ins Spiel gebrachter, .neuromantischer' Autor. Ebd., 50. -
Justus H. Ulbricht
70 Für letztere Tendenzen standen die Werke des
englischen ,Arts
&
Crafts'-Propheten
John Ruskin34 sowie die frühen kulturkritischen Arbeiten des deutschen Malers und Architekten Paul Schultze-Naumburg.35 Hermann Hesse war es auch, mit dem sich um die Jahreswende 1899/1900 ein kleiner Briefwechsel entspann, in dem der junge Autor mit Diederichs einige seiner eigenen Vorstellungen über den Begriff ,Neuromantik' austauschte. Bereits anlässlich der Publikation seiner Erzählung Eine Stunde hinter Mitternacht hatte Hesse geschrieben: „Ich hoffe auf eine Zeit, wo wir über manches, z. B. über den Proteus ,Romantik' einander verstehen werden [...] Das ist das Hauptstück meiner Romantik: Liebevolle Pflege der Sprache, die mir wie eine rare alte Geige erscheint, bei der eine lange Geschichte und Ausbildung mit der treuesten Pflege und der geübtesten Hand zusammenwirken muß, um Leben und Wohllaut zu haben."36 Im November 1899 schließlich schickte Hesse einige programmatische Äußerungen über „Neuromantik" an den Verleger, in denen er behauptete, dass die „neuromantische Dichtung" vor allem an Novalis anknüpfe: „Die Geschichte der wahren Romantik, die mit dem Tode des Novalis abgebrochen [ist], will wieder beginnen. Das Wort, das durch ein populäres Mißverständnis zum Spottruf geworden war, hat eine neue Jugend gereinigt und will es zu allen Ehren bringen, von denen ihre unglücklichen Vorgänger in ihren begeisterten Seelen geträumt haben."37 Diederichs selbst war zur gleichen Zeit seiner eigenen Parole allerdings unsicher geworden, „Das Wort Neuromantik war bereits abgegriffen"38, so dass er begann, manche Akzente anders und stärker auf das zweite Schlagwort seines Gründungsmottos zu setzen, auf die ,neue Renaissance'. Sein ,Sendschreiben' des Jahres 1900 Zu neuer Renaissance enthielt jedoch weiterhin die Sparten ,Romantik und Neuromantik'. Unbestritten deutlich blieb vor allem die Stoßrichtung seiner kultur- und literaturreformerischen Intentionen: „Der Verlag vertritt in erster Linie die den Naturalismus ablösende Neuromantikf...]."39 Aber selbst eine andere programmatische Grundlinie der damaligen Literatur, die so genannte ,Heimatkunst', werde „erst dann zu wirklicher Kunst, wenn sie über das Heimatgefühl hinaus sich zu der Darstellung des um das Letzte ringenden menschlichen Geistes auswächst, darum muss auch in ihr ein Stück Romantik leben, das Dazu Wolfgang Kemp, John Ruskin 1819-1900. Leben und Werk, Frankfurt/M. 1987. Das genaue ,neuromantische' Profil des Verlags skizziert Kösling, Universalität der Welterfassung", 78ff.; Heidler, Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt, 146-150, 478—484, 512— 521. Zu ,Künstlerische Kultur und Reformbewegungen': Heidler, Der Verleger Eugen Diederichs, 249-267. Hermann Hesse an Eugen Diederichs, 6. April 1899, in: Eugen Diederichs, Selbstzeugnisse und Briefe von Zeitgenossen, hg. von Ulf Diederichs, Düsseldorf/Köln 1967, 103. Hermann Hesse an Eugen Diederichs, 5. November 1899; Beiblatt Neuromantik, in: Selbstzeugnisse und Briefe, 106-109, Zitat 109. Damit belegt Hesse jedoch wenig mehr als seine eigene Liebe zu Novalis. Seine Notizen zum Jahr 1900 in Eugen Diederichs, „Lebensaufbau. Skizze zu einer Selbstbiographie", geschrieben Juni 1920 bis März 1921, 73 [unveröff. Typoskript], in: Nachlass Eugen Diederichs, Deutsches Literaturarchiv Marbach. So im Publikumsprospekt von 1900 Tendenz des Verlages, zit. n. Heidler, Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt, 453. „
Neuromantik Ein Rettungsversuch der Moderne mit Nietzsche
11
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sich
zum
Symbol gestaltet".40 Auch den Pantheismus und Monismus der Friedrichshage-
Freunde, die Diederichs neben dem Kunstwart-Kieis als „Standbein"41 des Verlages galten, subsumierte er unter das Rubrum ,Neuromantik', etwa dadurch, dass er Bruno
ner
Willes Offenbarungen des Wacholderbaumes (1901) als ,,erste[n] neuromantische[n] Roman" in Deutschland bezeichnete.42 Zwei Jahrzehnte später urteilte er rückblickend: „Aus dem Zusammenwachsen der neuromantischen Bewegung mit dem realistischen Idealismus des Kunstwartkreises erwuchsen sämtliche Linien des Verlages, deren Mittelpunkt aber war die religiöse. Bereits 1902 prägte ich das Schlagwort ,religiöse Kultur', wie überhaupt das Wort ,Kultur' durch die Bücher meines Verlages neues Leben empfing und so zum modernen Schlagwort wurde. Es war von entscheidender Bedeutung, dass ich bereits 1903 Meister Eckehart neu herausbrachte [...]."43 Die Jahre 1901 bis 1903 bezeichnen eine Periode der langsamen Umorientierung des Verlegers, der sein Bestreben nach „Universalität der Welterfassung" und die Suche nach „etwas, was dem Leben Sinn und Inhalt gibt", durch die direktere Hinwendung zum Religiösen und zur Mystik zu befriedigen suchte.44 An seinen wichtigsten religiösen Verlagsautor, den protestantischen Dissidenten Arthur Bonus, schrieb er zum 31. Oktober 1901, dem Reformationstag: „Glauben Sie nicht, dass ich Neuromantik als das Ziel aller Entwicklung ansehe, ich glaube, wir sind uns darin sehr einig. Aber warum sollte sie nicht mit zum Aufbauen des heutigen Menschen gehören? Ebenso wie die Mystik."45 Einem Theologen, der bei ihm veröffentlichen wollte, gestand er ein Jahr später: „Ich habe Bedenken, dass ich damit in ein zu rein religiöses Fahrwasser mit meinem Verlag komme. Ich möchte nicht wie die Romantiker mit meinem Verlag als Stürmer und Dränger beginnen und dann mit der Kirche enden. Bei dem Wort Christus werde ich eigentlich immer etwas nervös [...] Nun bringe ich jetzt soviel Mystiker in Neuausgaben, dass ich etwas Scheu davor habe, mein Verlagsschifflein mit den kirchlichen Begriffen ,Gott' und ,Christus' noch mehr zu überlasten [...] Und dann kommen wieder die Bedenken, dass ich mit meinem Verlag zu sehr ins Spekulative hineinkomme und mich zu sehr vom wirklichen Leben entferne. Deshalb darf ich auf keinen Fall zu ausschließlich in religiöses Fahrwasser geraten."46
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Eugen Diederichs, „Lebensaufbau. Skizze zu einer Selbstbiographie", 103. Vgl. Eugen Diederichs, „Lebensaufbau. Skizze zu einer Selbstbiographie", 48b. Eugen Diederichs an Arthur Bonus, 18. August 1900, in: Leben und Werk. Ausgewählte Briefe und Aufzeichnungen, hg. von Lulu von Strauß und Torney-Diederichs, 54. Vgl. den Almanach Wille und Gestaltung, Jena 1921, 159. Zu Diederichs' religiösen Überzeugungen: Friedrich Wilhelm Graf, „Das Laboratorium der religiösen Moderne. Zur .Verlagsreligion' des Eugen Diederichs Verlag", in: Hübinger, Versammlungsort moderner Geister, 243-298; Justus H. Ulbricht, „Wider das ,Katzenjammergefühl der Entwurzelung'. Intellektuellen-Religion im Eugen Diederichs Verlag", in: Buchhandelsgeschichte (1996), H. 3, B 111-B 120; das religiöse Verlagsprogramm: Heidler, Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt, 267-320. Eugen Diederichs an Arthur Bonus, 31. Oktober 1901, in: Leben und Werk. Ausgewählte Briefe und Aufzeichnungen, hg. von Lulu von Strauß und Torney-Diederichs, 59f. Eugen Diederichs an einen Theologen, 12. Februar 1903, in: Leben und Werk. Ausgewählte Briefe und Aufzeichnungen, ebd., 73f.
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Justus H. Ulbricht
Zwischen beiden Briefen lag bei Diederichs die Lektüre von Ricarda Huchs Werk zur Romantik, vor allem die des zweiten Bandes über den ,Verfall' jener literarischen Bewegung. Über dieses Leseerlebnis schrieb er seinem ,neuromantischen' Spitzenautor Maurice Maeterlinck, „es ersetzt beinahe, dass man unsere Romantiker selbst liest. Meine eigene innere Entwicklung ist durch das Buch sehr beeinflußt worden".47 Dies gilt auch für die Selbstzweifel am bis dahin für ihn maßgeblichen Neuromantikverständnis, der durch die zeitgenössische, nahezu inflationäre Verwendung des Begriffs weiter gesteigert worden sein dürfte: „Ich meine, es ist noch eine große Frage, welche Entdeckung die größere ist, die des Entwicklungsgesetzes oder die von der Kraft des Unbewußten, wie sie den Romantikern zuerst aufging. Die Romantiker wurden mit dieser Entdeckung nicht fertig, sie gingen daran unter, weil sie sich vom Unbewußten zu sehr treiben ließen, statt es eben erkenntnismäßig zu beherrschen und zu werten. Und ich meine: alles Gerede über Religion und Gottschauen hilft nichts, wenn es nicht das Problem behandelt: in welchem Verhältnis steht unsere Willensfreiheit zum Unbewußten und wie können wir durch einen auf Erkenntnis beruhenden Willen das Unbewußte so leiten, dass dadurch Gott zu immer mehr sichtbarem Ausdruck kommt."48 Diederichs begann schon vor dem Umzug nach Jena, in Distanz zur neuromantischen Modeliteratur zu gehen, seine eigene Idee des Romantischen zu klären und durch das Konzept des ,Klassischen' zu erweitern. „Schiller und die Romantiker sind die eigentlichen Väter einer künstlerischen Kultur" schrieb er später und deutete damit die Ideenund Autorenkonstellation an, die er seit 1904 in Jena bewusst propagierte.49 Sein Engagement für die zeitgenössische Neuromantik endete in diesen Jahren auch auf andere Weise: Er machte die alten Romantiker durch neue Ausgaben bekannter. Drei Jahre nach dem Novalis-Jahr 2001 sei daran erinnert, dass dazu auch eine seinerzeit „definitive"50 Ausgabe der Werke dieses Frühromantikers gehört hat. Will man das gesamte, hier nur in Auszügen skizzierte Engagement des Verlegers für Romantik und Neuromantik einschätzen, so drängt sich ein Aphorismus Friedrich Schlegels aus dem Jahre 1800 geradezu auf: „Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden. Viele Werke der Neuern sind es gleich bei ihrer Entstehung."51
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Eugen Diederichs an Maurice Maeterlinck, 28. Oktober 1903, in: Leben und Werk. Ausgewählte Briefe und Aufzeichnungen, ebd., 89. Eugen Diederichs an Julius Konstantin von Hoeßlin, 23. November 1903, in: Leben und Werk. Ausgewählte Briefe und Aufzeichnungen, ebd., 93. Dazu Ulf Diederichs, „Jena und Weimar als verlegerisches Programm. Über die Anfange des Eugen Diederichs Verlages in Jena", in: Jürgen John/Volker Wahl, (Hg.), Zwischen Konvention und Avantgarde, 51-80. Zeitgenössische Kritik, zit. bei Heidler, Der Verleger Eugen Diederichs und seine Welt, 519. Friedrich Schlegel, Werke in zwei Bänden, Berlin/Weimar 1988, Bd. 1, 192.
IL
„[...] gegen die Verlogenheit
Jahrtausenden"? Friedrich Nietzsche und seine Interpreten von
VIII. Internationales Dortmunder Nietzsche-Kolloquium 6.-8. August 2003
Andreas Urs Sommer
Jesus gegen seine Interpreten oder Die Hermeneutik der Urteilsenthaltung Pilatus und der „Typus des Erlösers"
„Ecce homo!" soll der römische Statthalter Pilatus nach dem Passionsbericht des Johannes ausgerufen haben, als er den gegeißelten, mit Dornenkrone und Purpurkleid angetanen Jesus von Nazareth dem aufgebrachten Volk vorführen ließ (Johannes 19,5).
Ecce homo lautet bekanntlich auch der Titel von Friedrich Nietzsches ironischer (?) Autohagiographie, jenem Werk, das die Welt vorbereiten sollte auf den „zerschmetternden Blitzschlag der Umwerthung, der die Erde in Convulsionen versetzen wird" (KSA, EH, 6, 363f). In dieser „Umwerthung aller Werthe" nun, in Nietzsches Antichrist nämlich,' kehrt die ,Ecce homo'-Situation des Johannesevangeliums wieder, wenn auch eigentümlich transformiert. Zwar steht nicht Jesu Leidensweg im Zentrum, wohl aber, ziemlich genau in der arithmetischen Mitte des Textes, „der psychologische Typus des Erlösers" (KSA, AC, 6,199). Nietzsche führt uns einen ganz neuen Jesus vor, einen, der bis dahin weder von der kirchlichen Tradition, noch von Nietzsche selber so gesehen worden ist. Dieses Zeigen, dieses Vorführen des „Typus Jesus" (ebd.) entbindet Nietzsche von einer konventionellen wissenschaftlichen Annäherung an den rätselhaften Mann aus Nazareth, wie sie die historisch-kritische Exegese etabliert hatte. Die ,Ecce homo'-Situation der johanneischen Leidensgeschichte ist in der von Nietzsche verwerteten Fachliteratur zwiespältig beurteilt worden. In Daniel Schenkels Charakterbild Jesu, das Nietzsche schon in seinen Bonner Studententagen durchgearbeitet hatte,2 heißt es zu Johannes 19,5, Pilatus habe versucht, „das Mitgefühl der jüdischen Gegner Jesu in Anspruch zu nehmen, [...] und liess Jesus aufs grausamste misshandeln, um das Mitleid seiner Feinde zu wecken; ein Verfahren, welches allerdings von keiner besonders tiefen Kenntniss des menschlichen Herzens zeugte."3 Bei Ernest Renan, des-
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Den Briefen an Georg Brandes vom 20. November 1888 (KSB 8, 482) und an Paul Deussen vom 26. November 1888 (ebd., 492) ist zu entnehmen, dass Nietzsche gegen Ende 1888 im Antichrist die ganze „Umwerthung aller Werthe" vollendet sah. Zu den Einzelheiten der Schenkel-Rezeption: Andreas Urs Sommer, Friedrich Nietzsches „Der Antichrist" Ein philosophisch-historischer Kommentar, Basel 2000, 271f, 279, 284f und 322. Daniel Schenkel, Das Charakterbild Jesu. Ein biblischer Versuch, Wiesbaden2 1864, 300. Unter Nietzsches Büchern hat sich die dritte Auflage des Werkes (1864) erhalten (Max Oehler, Nietzsches Bibliothek. Vierzehnte Jahresgabe der Freunde des Nietzsche-Archivs, Weimar 1942, 23). .
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Andreas Urs Sommer
sen Vie de Jésus von 1863 trotz aller Polemik eine entscheidende Quelle für das JesusKonstrukt im Antichrist gewesen ist,4 wird die Geißelung, Dornenkrönung, Verspottung und Vorführung Jesu zum letzten Akt im Bestreben des Statthalters, Jesus vor dem Blutdurst des Mobs zu retten: „il voulut tourner la chose en comédie."5 Die für Jesus vermutlich erniedrigende Szene als blutige Komödie, ausgerichtet zu seinem eigenen Besten? Dieser Quellenbefund und der Kontext, in dem der ,Ecce homo'-Ausspruch im Johannesevangelium steht, raten zur Vorsicht bei der Deutung der ,Ecce homo'Situation im Antichrist und des Titels von Nietzsches Autohagiographie.6 Nur isoliert betrachtet oder ,übercodiert' durch die christologische Deutungsgeschichte, klingt die Pilatus zugeschriebene Äußerung bewundernd, ja ehrfurchtsvoll, zumal in der Übersetzung Luthers: „Sehet, welch ein Mensch!"7 Der Zusammenhang des Passionsberichts macht ein solches Bewundertwerden Jesu durch Pilatus allerdings wenig wahrscheinlich, ist es der Statthalter doch selbst, der Jesus quälen und verhöhnen lässt. Er führt die königlichen und messianischen Interpretationen Jesu durch die Dornenkrönung ad absurdum. So bekommt der Ausspruch einen anderen Klang: Sehet, nur ein Mensch, kein König der Juden, kein Messias! Das von Pilatus angewandte Verfahren hat den Zweck, das zu widerrufen, was die Anhänger ebenso wie die Gegner von Jesus zu wissen glaubten. Das Verfahren widerruft das messianische Selbstverständnis des johanneischen Jesus, nach der Lesart des Evangelisten in der immerhin achtenswerten Absicht, den Menschen Jesus vor dem mordlüsternen Pöbel zu bewahren. Indem Pilatus die Vorführung Jesu als blutige Komödie, als monströse Travestie inszeniert, werden die landläufigen Jesus-Deutungen gleichzeitig unterlaufen und überboten. Das, was Jesus von sich selbst zu wissen glaubt, soll ebenso entplausibilisiert werden wie die Erwartungen der Anhänger und Gegner Jesu: Nur ein Mensch, nicht mehr, nicht weniger.
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Dazu: Sommer, Friedrich Nietzsches „Der Antichrist", passim. Ernest Renan, Vie de Jésus, Paris 1864, 420. Es wäre zu erwägen, ob die Titelinspiration für Nietzsches Ecce homo auf das weitverbreitete, zur liberalen Leben-Jesu-Forschung gehörende, gleichnamige Buch von John R. Seeley zurückgeht. Es erschien erstmals 1866 in London und 1867 in deutscher Übersetzung (John R. Seeley, Ecce homo. A Survey of the Life and Work ofJesus Christ, London8 1867). In der vom Dortmunder Vortrag angeregten Diskussion machte Hermann Josef Schmidt auf die ,Ecce'-Feiern zum Gedenken an die verstorbenen Pfortenser Schüler aufmerksam, die Nietzsche während der Internatszeit miterlebt hat, und fragte, ob Nietzsche mit dem Titel auf die entchristianisierten Totengedächtnisfeiern anspielt (Hermann Josef Schmidt, Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. II. Jugend, Teilband 1858-1861, Berlin/Aschaffenburg 1993, 188-191). Die Schrift Ecce homo wäre dann der eigene, vorweggenommene Nachruf, mit dem Nietzsche Verunstaltern seines Denkens (wie Piaton Sokrates und Paulus Jesus verunstaltet hat) zuvorkommen wollte (zum Titel auch der Brief an Meta von Salis, 14. November 1888, KSB 8, 471). Allerdings bezog sich der Name der Pfortenser Feier nicht direkt auf Johannes 19,5, sondern auf den Chorgesang Ecce quomodo moritur iustus et nemo percipit corde nach Jesaja 57,1. Der bestimmte Artikel im griechischen Original von Johannes 19,5 legt eine solche Übersetzung nahe (löou o avOcoicoç). Meine Bemerkungen zu Pilatus im Anschluss an Nietzsche erheben nicht den Anspruch auf eine authentische Deutung des biblischen Pilatus. Zur die Deutung von Nietzsches ,Ecce-homo'-Adaption: Rüdiger Görner, Nietzsches Kunst. Annäherungen an einen Denkartisten, Frankfiirt/M./Leipzig 2000, 298f.
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Es ist kein Zufall, dass Nietzsches Antichrist zufolge, der Pilatus des johanneischen Passionsberichts die „einzige Figur" „im ganzen neuen Testament" ist, „die man ehren muss": „Einen Judenhandel ernst zu nehmen dazu überredet er sich nicht." (KSA, AC, 6, 225). „Der vornehme Hohn eines Römers" (ebd.) sei es, der aus der skeptischen Frage nach der Wahrheit spreche, die Jesus unverschämt für sich in Anspruch nimmt. Diese Frage „Was ist Wahrheit?" (Johannes 18,38) zersetzt die göttlichen Aspirationen, die zumindest der Evangelist seinem Heiland zuschreibt und erweist sich als integraler Bestandteil der Desillusionierungs- und Abwiegelungsstrategie, mit der der Statthalter das Problem Jesus zu lösen hofft, vielleicht weniger, wie Schenkel und Renan glaubten, aus dem mitmenschlichen Empfinden, Jesus retten zu wollen, denn aus Staatsräson, aus dem Willen, das unruhige Palästina endlich zu pazifizieren. Von Sentimentalität oder Mitleid wird der Pilatus des Antichrist kaum angefochten: „Ein Jude mehr oder weniger was liegt daran?" (KSA, AC, 6, 225). Eine Nachlassnotiz vom Frühjahr 1884 macht deutlich, welche Welten da aufeinanderprallen: „Es wird erzählt daß der berühmte Stifter des Christenthums vor Pilatus sagte ,ich bin die Wahrheit'; die Antwort des Römers daraufist Roms würdig: als die größte Urbanität aller Zeiten" (KSA, NF, 11, 100).8 Der Typus des Pilatus wird auf ähnliche Weise dem Neuen Testament extrahiert wie der „psychologische Typus des Erlösers", von dem es heißt, er „könnte ja in den Evangelien enthalten sein trotz den Evangelien" (KSA, AC, 6, 199): Das Neue Testament muss gegen die durchsichtigen Parteiinteressen seiner Verfasser gelesen werden; der unerbittliche Leser Nietzsche kehrt die Autorenintentionen um: „erster Eindruck des neuen Testaments. Man nimmt Partei für Pilatus und dann, beinahe, für die Schriftgelehrten und Pharisäer" (KSA, NF, 12, 207). Pilatus verkörpert, neben Zarathustra! (KSA, AC, 6, 236), im Antichrist jene Skepsis der Stärke, auf die der 54. Abschnitt des Werkes ein Hohelied anstimmt. Skepsis heißt im Falle des Pilatus, sich gegen die Bedeutungszumutungen zu verwahren, mit denen man einem Phänomen, Jesus von Nazareth, zu Leibe rückt. Dabei spielt es erst gar keine Rolle, ob es sich um die Bedeutungszumutungen wohl- und übelwollender Dritter handelt, oder um die Bedeutungszumutung der Selbstdeutung. Stellt Pilatus gar ,J£phexis in der Interpretation",9 „die Kunst, gut zu lesen", „Thatsachen ablesen [zu] können, ohne sie durch Interpretation zu falschen" (ebd., 233), unter Beweis? Der Statthalter beschränkt sich auf den deiktischen Gestus, das Hinweisen, das Zeigen: „Sehet, ein Mensch!" Nichts mehr, nichts weniger. Doch genug, um die allseitigen Bedeutungszumutungen zu neutralisieren und in die Privatheit der jeweils Urteilenden abzudrängen: Für das Römische Reich und für den Inhaber der Blutgerichtsbarkeit sind die Projektionen, was Jesus ,in Wahrheit' sein könnte, Gottessohn, Messias, König der Juden, Auf-
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Auch KSA, NF, 12, 381: „Pilatus die einzige honnête Person, sein dédain vor diesem JudenGeschwätz von .Wahrheit', als ob solch Volk mitreden dürfte, wenn es sich um Wahrheit handelt, sein a yeypacpa, sein wohlwollender Versuch, diesen absurden Attentäter los zu geben, in dem er schwerlich etwas anderes sehen konnte als einen Narren...sein Ekel in Hinsicht auf jenes nie genug zu verurtheilende Wort ,ich bin die Wahrheit'". Zur Ephexis als skeptischer Urteilsenthaltung: Sommer, Friedrich Nietzsches „Der Antichrist", 510-512.
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rührer, Gotteslästerer, ohne Belang. Ein Mensch „mehr oder weniger an?" (ebd., 6, 225).
was
liegt dar-
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Nietzsches antichristliche Lesart des Phänomens Jesus eifert dem pilateischen Zeigen, der ,Ecce homo'-Vorführung nach. Allerdings reichert der Philosoph seine Lesart um Elemente an, die das Spezifische, die Individualität, aber auch die Typenhaftigkeit Jesu profilieren sollen. Freilich unterläge man einem Irrtum, hielte man dieses Demonstrationsverfahren, das sich gegen die Interpretationsangebote der Kirche ebenso abgrenzt wie gegen die der moralisch interessierten, historisch-kritischen Exegese, für einen Selbstzweck. Nur eine oberflächliche Lektüre der Antichrist-Abschnitte 28 bis 35 kann zur Ansicht verleiten, Nietzsche wolle (s)eine persönliche Jesus-Frömmigkeit gegen den kirchlichen oder moralisch-exgetischen Überbau in Schutz nehmen. Gewiss räumt er die fortdauernde Möglichkeit eines Lebens nach der Vorgabe Jesu ein: „bloss die christliche Praktik, ein Leben so wie der, der am Kreuze starb, es lebte, ist christlich Heute noch ist ein solches Leben möglich, für gewisse Menschen sogar nothwendig: das echte, das ursprüngliche Christenthum wird zu allen Zeiten möglich sein" (ebd., 211). Wer jedoch einen solchen Passus als Bekenntnis zu einer jesuanischen praxis pietatis oder praxis vitae abbucht, überliest geflissentlich, dass mitnichten das im Antichrist mit herrischer Gebärde immer wieder das Wort an sich reißende ,Ich' man wird streiten, inwiefern es mit dem Autoren-Ich identisch ist hier davon redet, es empfehle oder lebe diese jesuanische Existenzform.10 Bislang ist in der Forschung das (vermutlich auf spezifischen Wertungsinteressen der Interpreten) gründende Vorurteil nicht auszurotten, Nietzsche ,identifiziere' sich mit seinem Erlösertypus11, auch wenn es ein mystisches Rätsel bleibt, was Jdentifikation' bedeutet. Das vulgärpsychologische Gerede von der Jdentifikation' kann der Kühnheit, mit der Nietzsche den ,Erlöser' psychologisch traktiert, in keinem mir bekannten Fall das Wasser reichen. Jesus ist in der divinatorischen „Psychologie des Erlösers" eine exemplarische décadence-Figur: Auf übergroßer „Leid- und Reizfähigkeit" gründeten bei Jesus der ,Jnstinkt-Hass gegen die Realität" und die ,Jnstinkt-Ausschliessung aller Abneigung, aller Feindschaft, aller Grenzen und Distanzen im Gefühl" (ebd., 200f.). Die krankhafte Disposition, alles von außen und innen Widerfahrende als unerträglich zu empfinden, be...
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Ulrich Willers, Friedrich Nietzsches antichristliche Christologie. Eine theologische Rekonstruktion, Innsbruck 1988, 275, hat klargemacht, dass sich für eine solche Lesart kaum Evidenzen dingfest machen lassen. Neuerdings Eva Marsal, „Wer löst Dionysos ab? Der .Gekreuzigte' im Facettenreichtum der männlichen Nietzsche-Dynastie: Friedrich August Ludwig Nietzsche, Carl Ludwig Nietzsche und Friedrich Nietzsche", in: Nietzscheforschung, Bd. 9 (2002), 131-146, 144; Hans Otto Seitschek, „Aspekte der nietzscheanischen Sicht von Jesus Christus", in: Beatrix Vogel (Hg.), Von der Unmöglichkeit oder Möglichkeit, ein Christ zu sein, Symposion 1996 des Nietzsche-Kreises München. Vorträge aus den Jahren 1996-2001, München 2001, 313 („Nietzsche wechselt also zwischen Identifikation mit Jesus und Ablehnung von ihm hin und her"); Giles Fraser, Redeeming Nietzsche. On the Piety ofUnbelief, London/New York 2002, 84 („Nietzsche is keen to find in Jesus a kindred spirit"). Äußerungen im Brief von 3. Januar 1889 an Cosima Wagner: „Ich habe auch am Kreuze gehangen" (KSB 8, 572) scheinen die Rede von der ,,pathologische[n] Identifikation mit Christus" offenbar zu erzwingen (Johann Figl, „,Dionysos und der Gekreuzigte'. Nietzsches Identifikation und Konfrontation mit zentralen religiösen ,Figuren'", in: Nietzscheforschung, Bd. 9 (2002), 149).
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wältigt der sonderbar kindliche Mann aus Nazareth laut Antichrist nicht dadurch, dass er sich und seiner Welt moralische, metaphysische oder religiöse Lehren vorschreibt, sondern mit Hilfe einer neuen, ganz einfach gelebten „Praktik" (ebd., 205). Die „Praktik", alle Distanz zur Welt, zu sich und den Mitmenschen aufzugeben, stellt das noch immer ,mögliche' Christ-, das heißt Jesuanisch-Sein dar, welches den dazu Disponierten zu allen Zeiten möglich sei. Antichrist-Sein heißt jedoch Partei- und Distanznehmen, heißt Kriegführen. Was der angeführte Passus konzediert, ist mitnichten die gläubige Versenkung in Leben und Sterben des Erlösers, sondern eine Praxis der Selbsterlösung, die unter gewissen Dekadenzbedingungen, wie die Leidensverwindungspraxis Buddhas12, angezeigt scheint, ohne freilich eine vom ,Ich' des Antichrist privilegierte Praxis zu sein. Wer Christsein als Selbsterlösung mittels Aufgeben aller Distanz begreift und verwirklicht, dem werden Christsein und Existenzberechtigung zugestanden. Das heißt, Nietzsches Lesart unterläuft oder überbietet die herkömmlichen Interpretationen Jesu, indem es ihn aus der jüdisch-christlichen Heilsgeschichte herausoperiert, eine Heilsgeschichte, die Der Antichrist als erschreckend gradlinige Abfolge des Unheils ans Licht stellen will. Man folgte bei Pilatus wie bei Nietzsche freilich einer fal-
schen Fährte, wollte man vermuten, das Hinweisen auf den von allen Schlacken interessierter Interpretationen gereinigten Jesus sei ganz interesselos und ausschließlich dem Bestreben geschuldet, ein bestimmtes historisches Phänomen vor den Zumutungen seiner Fehldeutungen zu retten. Bei Pilatus ist das darf man aus der Darstellung in Antichrist 46 ableiten vielmehr das Interesse wirksam, das alte, vorsklavische Wertgefüge, die Ordnung der antiken, römischen Zivilisation gegen die Angriffe aus der Ecke des antirömischen Traditionsjudentums als auch aus der Ecke der anarchistischen Jesuaner-Sekte zu sichern. Die Strategie des Pilatus besteht zunächst darin, Jesus als Narren zu verharmlosen, der als solcher die Todesstrafe nicht verdient. Das ,Ecce homo'-Wort degradiert den vorgeblichen Erlöser oder Blasphemisten zu einem Menschen unter Menschen; seine Individualität wird unter der verallgemeinernden, im Hinblick auf die Heilandsprojektionen verächtlichen Gattungsbezeichnung ,Mensch' weggekürzt. Die Skepsis des Pilatus dient der Renormalisierung Jesu. Als er scheitert und seine eigene Autorität ins Wanken gerät, muss der Statthalter dem aufrührerischen Volk doch willfahren, um seine eigenen Ordnungsinteressen zu schützen. Nietzsches Erlösertypologie gibt Jesus demgegenüber seine radikale Individualität zurück, um den verallgemeinernden Eingemeindungen, die ihm von Seiten der apostolischen und paulinischen, später kirchlichen Deutungspraxis widerfahren sind, den Lebensnerv durchzuschneiden. Der von der ,Psychologie des Erlösers' vorgestellte Mensch ist ein ,Typus', aber als solcher im Vergleich zu (fast) allen anderen Menschen singular. Die antichristliche Skepsis stellt diese Singularität heraus und macht die durch die Gattungsbezeichnung ,Mensch' herbeigeführte Komplexitätsnivellierung rückgängig, weil ihre Interessen situativ anders gelagert sind als die des Pilatus: Während dieser -
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Der Antichrist, 20-23. Dazu: Andreas Urs Sommer, „Ex oriente lux? Zur vermeintlichen .Ostorientierung' in Nietzsches Antichrist", in: Nietzsche-Studien, Bd. 28 (1999), 194-214; Michael Skowron, „Nietzsches weltliche Religiosität und ihre Paradoxien", in: Nietzsche-Studien, Bd. 31 (2002), 1-39.
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Andreas Urs Sommer
eine bestehende Ordnung erhalten will, will das antichristliche ,Ich' eine bestehende Ordnung, die als widernatürliche gebrandmarkte Ordnung der christlichen Moral, mit allen Mitteln destabilisieren. Ein solches Mittel ist die radikale Individualisierung Jesu, von dem gezeigt werden soll, dass er mit keinem der kruden Begriffe gefasst werden kann, die bislang auf ihn angewendet worden sind. Hier wäre die Luther-Übersetzung des Pilatus-Wortes angebracht: „Sehet, welch ein Mensch!" ,,[D]ie Geschichte des Christenthums und zwar vom Tode am Kreuze an ist die Geschichte des schrittweise immer gröberen Missverstehns eines ursprünglichen Symbolismus" (KSA, AC, 6, 209). Hier kommt ein neues Element ins Spiel: nicht mehr Jesus als Phänomen, als deutungsbedürftiges Zeichen, sondern Jesus als zeichensetzendes Individuum,13 dessen Zeichen freilich tragischen Missdeutungen, Überzeichnungen ausgesetzt waren: „die ersten Jünger in Sonderheit übersetzten ein ganz in Symbolen und Unfasslichkeiten schwimmendes Sein erst in die eigne Crudität, um überhaupt Etfür sie war der Typus [des Erlösers] erst nach einer Einforwas davon zu verstehn, mung in bekanntere Formen vorhanden" (ebd., 202). Die exzessiv bemühte Übersetzungsmetaphorik spricht Bände; da sieht das antichristliche ,Ich' den theologischen Instinkt walten, welcher sich mit keinem So-Sein des Phänomens abfinden kann, sondern Hinterwelten und Hintersinn dazu dichten muss, die das So-Sein entwerten und verneinen. Aufgabe des antichristlichen Philologen ist deshalb die Rückübersetzung ins So-Sein, ein mit beträchtlichen Anstrengungen verbundenes Unternehmen, zu dem „liebevollef...] und vorsichtige [...] Neutralität" sowie „Zucht des Geistes" (ebd., 208) die bislang bei allen Jesus-Deutungen fehlende Voraussetzung bilden sollen. Die neutralisierende Funktion der Skepsis scheint auf in dem nur für den „Typus des Erlösers", nicht für das nachfolgende Christentum adäquaten Neutralitätsrekurs. Neutralität und keine Identifikation! Wie ist es um Jesu eigene ,Zeichensetzungskompetenz' bestellt? Wiewohl „der Zufall der Umgebung, der Sprache, der Vorbildung einen gewissen Kreis von Begriffen" (ebd., 203) hervorgebracht habe, seien diese Begriffe im Munde Jesu, als umweltbedingt kontingente Prägungen, nicht wörtlich, nicht verbindlich zu nehmen. Sie bedeuteten ihm nicht „mehr als eine Zeichenrede, eine Semiotik, eine Gelegenheit zu Gleichnissen". „Man könnte, mit einiger Toleranz im Ausdruck, Jesus einen ,freien Geist' er macht sich aus allem Festen nichts" (ebd., 204). Mit einem Symbolismus, nennen der nichts Vorgefundenes für real, wesentlich und fest hält, stehe Jesus „ausserhalb aller Religion, aller Cult-Begriffe, aller Historie, aller Naturwissenschaft, aller WeltErfahrung, aller Bücher, aller Kunst" (ebd.). Wie sieht es, zum Beispiel, mit Jesu Glauben aus? Jesus habe den Glauben nicht erkämpft, sondern der Glaube sei einfach da; er sei nicht zornig oder tadelnd, noch bringe er ,„das Schwert'" (ebd., 203); er beweise sich nicht „durch Wunder, noch durch Lohn und Verheissung, noch gar ,durch die Schrift'", sondern er selber sei Jeden Augenblick sein Wunder, sein Lohn, sein Beweis, sein ,Reich Gottes'" (ebd.). Weil er sich gegen alle Festschreibung sperrt, bleiben die Bestimmungen bestenfalls approximativ. „Dieser Glaube formuliert sich auch nicht er -
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Dazu Werner Stegmaier, „Nietzsches Zeichen", in: Nietzsche-Studien, Bd. 29 (2000), 57f„ der die Zeichengebungskraft Jesu in stärkerer Analogie zu Nietzsches eigener Zeichengebungskompetenz
stehen
sieht, als mir das ratsam scheint.
Jesus gegen seine Interpreten oder Die Hermeneutik der
81 Urteilsenthaltung lebt, er wehrt sich gegen Formeln." Glaubensvoraussetzung scheint die ,„gute Botschaft'" zu sein, „dass es keine Gegensätze mehr giebt; das Himmelreich gehört den Kindern" (ebd.). Die Botschaft fallt mit dem Glauben zusammen; es gibt kein zeitliches oder logisches Folgeverhältnis zwischen ,guter Botschaft' und ,Glaube'. Beide stehen in keiner kausalen Abhängigkeit voneinander wie das spätestens von Paulus an der Fall
sein wird: Dort ist zuerst die Botschaft da, als Informationseinheit, die übermittelt werden muss. Angekommen ist sie, wenn die Empfänger sie nicht nur gehört, sondern verinnerlicht haben. In ein derartiges Absender-Information-Adressaten-Schema lassen sich weder ,Glaube' noch ,Botschaft' Jesu, wie sie Nietzsches Antichrist wiedergibt, einordnen. Jesus ist mit seiner Botschaft und seinem Glauben identisch. Der Glaube wird im Text nie direkt als ,sein Glaube', als etwas Jesus Gehörendes und Verfügbares charakterisiert. Es handelt sich um einen Glauben, in dem alle Gegensätze aufgehoben sind, auch die zwischen Subjekt und Objekt, Empfindendem und Empfundenem, Glaubendem und Geglaubtem. Jesus als ,freier Geist' ist auf keine feststehenden Realitäten angewiesen; seine „Symbolik" hat mit den Symbolen der Dogmatik nur insofern etwas zu tun, als letztere die verfälschende Festschreibung dessen ist, was sich nicht festschreiben lässt. Die Parabeln Jesu verbergen, wie bereits Bruno Bauer erkannt hat, viel mehr als sie verdeutlichen14, und Jesus lehrte nach evangelistischem Zeugnis ausschließlich in Parabeln. Schon die Form der ,Lehre' Jesu steht in Widerspruch zu dem, was man daraus meinte codifizieren zu können. Es fehlt, so die antichristliche Analyse, jede Eindeutigkeit einer Lehre. Jesu ,Symbolik' ist jenseits von Religion und Kult, Wissenschaft und Politik, Kunst und Literatur angesiedelt, liegt außerhalb der Welt „sein ,Wissen' ist eben die reine Thorheit darüber, dass es Etwas dergleichen giebt" Von Weltverneinung, wie sie sich das Christentum später auf die Fahne schreiben sollte, könne bei Jesus noch keine Rede sein, „er hat den kirchlichen Begriff ,Welt' nie geahnt" (ebd., 204). Allen Dingen dieser Welt, dem Staat, der Gesellschaft, der Arbeit, dem Kriege steht Nietzsches Erlöser' indifferent gegenüber; er nimmt kein Umwertungs- oder Umfälschungswerk vor, wie es im antichristlichen Geschichtsbild das Judentum eingeleitet und Paulus vollendet hat. Was der Mann aus Nazareth anbietet, ist nicht eine neue Bewertungsweise des Daseins und der Realität, sondern schlicht eine ,Praktik', mit der sich leben lässt, ohne dass man aus Überempfindlichkeit an der Welt zugrunde geht. So hat Jesus auch nichts zu beweisen, jedenfalls keine „,Wahrheit' durch Gründe". Er spricht bloß in Bildern Innersten: ,Leben' oder ,Wahrheit' oder ,Licht' ist sein Wort für das Innerste". „vom Wie aber ist für denjenigen, der sich nicht in die Begriffslosigkeit flüchtet, das Begriffslose zu fassen? Das antichristliche ,Ich' bringt das auf Begriffe, wofür Jesus die Begriffe fehlen. Jesus wird ein uneigentlicher Begriffsgebrauch attestiert, der nichts so meine, wie es klinge. Der Text spricht, dies mag erstaunen, nicht von Wörtern oder Worten, die Jesus verwende, sondern mehrfach von „Begriffen" (ebd., 203), die ganz zufällig seien: -
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Siehe Albert Schweitzer, „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" (1906/1913), in: ders., Gesammelte Werke in fünf Bänden, Bd. 3, Zürich 1974, 247. Zu Nietzsches Beziehung zu Bauer: Andreas Urs Sommer, „Philosophie und Theologie des 19. Jahrhunderts", in: Henning Ottmann (Hg.), Nietzsche-Handbuch. Leben Werk- Wirkung, StuttgartAVeimar 2000, 413. -
Andreas Urs Sommer
82
„Unter Indern würde bedient haben"
er
Sankhyam-Begriffe, unter Chinesen der des Begriffe begreifen nichts, sie weisen nur hin.
sich der
(ebd., 204).
Jesu
Laotse
Bis hierher haben wir uns mit den Interpretationen beschäftigt, die Jesus als einer Figur im christlich-antichristlichen Weltdrama im Laufe der Geschichte zuteil wurden. Markante Stationen waren die skeptische Interpretation durch Pilatus, die Interpretationen der unmittelbaren Herrenjünger sowie des paulinischen und nachpaulinischen Christentums, schließlich die Interpretation in Nietzsches Antichrist, die sich von den JesusBildern in früheren Werken Nietzsches unterscheidet15 und zu insinuieren scheint, in „liebevoller und vorsichtiger Neutralität" die (mögliche) Selbstdeutung Jesu wiederzugeben. Mit Max Weber zu reden,16 es bestehe in der ,Psychologie des Erlösers' zwar eine ,Wertbeziehung' des antichristlichen ,Ichs', im Hinblick auf die Auswahl des Gegenstandes und dessen angenommene ,Kulturbedeutung'; es unterbleibe aber im Hinblick auf das Seinsollen dieses Gegenstandes ein Werturteil: ,Identifikation' oder Verurteilung findet gerade nicht statt. Die im Titel des Beitrages genannte Hermeneutik der Urteilsenthaltung, die ich als skeptische Strategie in der antichristlichen ,Psychologie des Erlösers' zu finden glaube, bedeutet nicht Wertbindungsfreiheit, aber doch Werturteilsenthaltung im Hinblick auf das Seinsollen des untersuchten Gegenstandes. Solche Werturteilsenthaltung ist sonst nicht das Kennzeichen der Streitschrift Der Antichrist, die bei der Erörterung des nachjesuanischen Christentums auf jeder Seite allerentschiedenste Werurteile fallt. Als Polemik will Der Antichrist schwerlich ein Beispiel geben für die später beschworene „Philologie als Ephexis in der Interpretation", als Tatsachenablesekunst (ebd., 233). Die .Psychologie des Erlösers' ist im Gesamtgefüge des Antichrist die große unpolemische Ausnahme, die bei aller Kühnheit der Konjekturen in der Rekonstruktion des Erlösertypus jene wissenschaftlich-philologische Urteilsenthaltung exemplifiziert, die ansonsten in dem mit viel Bedacht komponierten Werk fehlt und wohl auch fehlen soll. Was allerdings nicht heißt, dass sich die Erlöserpsychologie nicht in übergeordnete polemische Zusammenhänge einfügen ließe. Sie ist, ihrer intrinsischen Neutralität wegen, für derlei Instrumentalisierungen vielmehr ausgesprochen anfällig. Mit einem Jesus, wie ihn die ,Psychologie des Erlösers' zeichnet, bricht einem sich auf diesen Jesus berufenden Christentum als Glaubensgemeinschaft und Heilsanstalt der Boden unter den Füßen weg. Nun wirft das Tagungsthema nicht die Frage nach Jesus und seinen Interpreten, sondern nach Nietzsche und dessen Interpreten auf. Mit solchen habe ich mich in den bisherigen Ausführungen erst da und dort herumgeschlagen, auch meine Divergenzen zum Interpretationskanon deutlich gemacht. Ich will etwas weiter bohren, unter dem Gesichtspunkt, ob es, wie man im Geist ,poststrukturalistischer' Lektüren ohne weiteres annehmen könnte, nicht angebracht sei, Nietzsches Antichrist im Ganzen als ironisch, uneigentlich, nicht als begriffliche Sedimentierung einer Umwertungstätigkeit zu verstehen. Will man das vertreten, scheint sich der Rekurs auf das laut der ,Psychologie 16
Dazu Willers, Friedrich Nietzsches antichristliche Christologie, 5 Iff. Max Weber, „Der Sinn der .Wertfreiheit' der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften", in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen7 1988, 489-540.
Jesus gegen seine Interpreten oder Die Hermeneutik der
Urteilsenthaltung
83
des Erlösers' unmögliche Unternehmen einer begrifflichen Fassung des Unbegrifflichen bei Jesus vorzüglich als Beweisstück zu eignen. Hier, so würde der ,Poststrukturalist' sagen, entlarve sich die ganze festschreibende, zupackende, despotische Wertsetzung, mit der der Text Der Antichrist sonst hausiert, selber als paradox. Gipfel des inszenierten, begrifflichen Zuschreibungswahns wäre die Rückführung der jesuanischen Unbegrifflichkeit auf pathologische Begriffe der Physiologie: auf einen „Fall der verzögerten und im Organismus unausgebildeten Pubertät" (ebd., 203). Die terminologische Inbesitznahme Jesu unterscheide sich strukturell in keiner Weise von dessen immerfort angeklagter Inbesitznahme durch das paulinisch institutionalisierte Christentum, das Jesus auf ein paar Begriffe festschreibt und ihn wörtlich nimmt. Jesus, wie im Antichrist dargestellt, durchkreuze, würde der ,Poststrukturalist' weiter sagen, sowohl die christlichen als auch die antichristlichen Bestrebungen, ihn dingfest zu machen. Da Nietzsche bei seiner (Re-)Konstruktion des Erlösertypus die Paradoxien durchschaut haben müsse, sei sein terminologischer Zugriff auf Jesus ironisch zu verstehen, als Inszenierung ,als-ob' In dieser Lesart ist Jesus ein nihilistischer Relativist, der nichts ernst nimmt, sich aller Konkretion verweigert und in der vorbegrifflichen Unbestimmtheit verharrt, lässig darauf verzichtet, seine Existenz zu realisieren. Nietzsche wäre auf derselben Hochebene anzutreffen, ein Spieler mit unzähligen Möglichkeiten, ohne einer einzigen, konkreten die Präferenz zu geben. Wenn er, aus einer Laune heraus, den Part des ,Antichrist' übernehme, spiele er seine Rolle zweifellos gut, ohne aber dem, was er als ,Antichrist' skandiere, selber Glauben zu schenken. Nietzsche führe die Sache durch, um die Absurdität beider Positionen, aller Positionen seinen Zuschauern zu demonstrieren. Selbst bleibe er dem Multiperspektivismus treu, wie Jesus, der keine Perspektive bevorzuge und sich im permanenten Nichtentscheiden übe. Jesus sei das Alter ego Nietzsches, der in der Psychopathologie des Erlösers seine eigene Psychopathologie aus der Perspektive der physiologischen Monoperspektivisten bewusst vorwegnehme. So leicht lässt sich die Dekonstruktion von Nietzsches Antichristentum anhand der ,Psychologie des Erlösers', wie ich sie als advocatus deconstructivismi probehalber exponiert habe, nicht bewerkstelligen. Jesus selber, wiewohl décadent, redet im Antichrist mit seinem uneigentlichen, nicht wörtlich gemeinten Sprechen keiner Beliebigkeit das Wort; er ist kein Nihilist, dem es auf gar nichts mehr ankäme. Seine Sprache ist nicht die des Wortes, das ohne Übertragungsstörungen ausdrücken könnte, was Sache ist. Tatsächlich kehrt im ,freien Geist' Jesus Nietzsches eigene Sprachskepsis wieder, die beim Erlöser nicht durch Reflexion auf die (fehlende) Erkenntniskraft der Sprache bedingt ist. Der Mann aus Nazareth denkt nicht über die Sprache nach und kommt dann zum Schluss, dass sie als Ausdruck dessen, was er zu sagen habe, inadäquat sei. Er verwendet, wie Nietzsche, diese Sprache, aber sie hat, wie „die ganze Realität, die ganze Natur [...] für ihn bloss den Werth eines Zeichens, eines Gleichnisses". „Der Begriff, die Erfahrung ,Leben' widerstrebt bei ihm jeder Art Wort, Formel, Gesetz, Glaube, Dogma" (ebd., 204).17 Also leitet ihn auch im traditionellen Sinn kein ,Glaube' mehr, .
17
Das schließt an Leo Tolstoi, Ma religion, Paris 1885, 221, an; vgl. Andrea Orsucci, Orient Okzident. Nietzsches Versuch einer Loslösung vom europäischen Weltbild, Berlin/New York 1996, 335, und, unter Berufung auf Ernst Benz, Georges Goedert, Nietzsche. Disciple de Dionysos. Une introduction à son œuvre, Bruxelles 2001, 206. -
84
Andreas Urs Sommer
sein eigener .Glaube', sein Zustand ist etwas Grundverschiedenes. Und um jene „Erfah.Leben'" (ebd.) geht es Jesus; sie ist nicht durch Lehre, sondern nur durch Praktik zu vermitteln. Sein Beispiel muss wirken, nicht sein Wort. Dass es nicht gewirkt hat, ist den interessegeleiteten Fehldeutungen anzulasten. Nietzsches Jesus, obgleich „mit einiger Toleranz im Ausdruck" ein Freigeist,18 geht es um das Geschehenlassen, die Auflösung aller Gegensätze in seinem praktizierten Nicht-Wollen. Nietzsche hingegen, soweit wir seinen Aussagen im Spätwerk trauen und nicht über alles den Schleier der Uneigentlichkeit breiten, will Machtwillen realisieren, will wollen, will die Realität, die von Jesus, „diesem Anti-Realisten" (ebd., 203), nicht gesehen und von Paulus weggelogen wurde. Diesen Realitätsbezug erhält sich der Antichrist, indem er sprechend zupackt, nicht uneigentlich spricht, sondern in seinem Sprechen neue Werte setzt. Mit bloßem Passivismus des Alles-Zulassens begnügt er sich ebenso wenig wie mit einem Perspektivismus der Unverbindlichkeit. Das Zeichen .Jesus' ist ein extremer Gegentypus zum Zeichen ,Antichrist', aber kein selbstwidersprüchlicher wie Paulus, der die Welt zu erobern trachtet, indem er sie negiert.19 Jesus fehlt im Antichrist jeder Wille zur Macht.20 rung
Lassen Sie mich zur abschließenden Markierung der Differenz vom ,Typus des Erlösers' und antichristlichem .Ich' ein paar Bemerkungen zum .Pathos der Distanz' anbringen. Mit dieser Formel wird in Antichrist 43 und 57 zunächst das Selbstbewusstsein der vornehmen Menschen, von andern Menschen geschieden zu sein, zum Ausdruck gebracht. Das Sich-Unterscheiden ist als notwendig anzuerkennen. Die Vornehmen (und die Philosophen) werden wer sie sein sollen, indem sie sich von ihresgleichen und den Unvornehmen unterscheiden und unterschieden wissen: „Man übertreibt nicht, wenn man das .Pathos der Distanz' als die básale ethische Grundregel für den von Nietzsche geforderten .souveränen Menschen' versteht."21 Identität, so prekär und schwankend sie sein mag, beruht auf Abgrenzung. Abgrenzung bedeutet Leiden so gut wie Leidenschaft. Der Skeptiker im Sinne von Antichrist 54 dürfte das ,Pathos der Distanz' auf idealtypische Weise verkörpern. Vielleicht tut es Pilatus auch. Den ,Typus des Erlösers' zeichnet demgegenüber die vollständige Abwesenheit vom .Pathos der Distanz' aus. Nach antichristlicher, dezidiert distanzierter Lesart verzichtet Jesus auf die Entfaltung von Individualität durch Abgrenzung, auf alle „Grenzen und Distanzen im Gefühl" (ebd., 200f.). Dem dadurch unvermeidlichen Leiden wäre er nicht gewachsen: Die von ihm geübte „Liebe ohne Abzug und Ausschluss, ohne Distanz" (ebd.) gründet
19
Schenkel, Charakterbild, 22f. spricht von Jesu „Geistesfreiheit" Dazu: Daniel Havemann, „Evangelische Polemik. Nietzsches Paulusdeutung", in: Nietzsche-Studien, Bd. 30 (2001), 175-186. Noch immer unübertroffen: Jörg Salaquarda, „Dionysos gegen den Gekreuzigten. Nietzsches Verständnis des Apostels Paulus [1974]", in: ders., (Hg.), Nietzsche, Darmstadt .
1996,288-322.
21
Gerd-Günter Grau, Ideologie und Wille zur Macht. Zeitgemässe Betrachtungen über Nietzsche, Berlin/New York 1984, 199-201, 317-321; Werner Stegmaier, „Nietzsches Kritik der Vernunft seines Lebens. Zur Deutung von Der Antichrist und Ecce homo", in: Nietzsche-Studien, Bd. 21 (1992), 172f. Volker Gerhardt, Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, 6.
Jesus gegen seine Interpreten oder Die Hermeneutik der
Urteilsenthaltung
85
auf dem Unvermögen zum Widerstand. Jesus bleibt Kind und daher distanzunfähig.22 So erscheint er aus antichristlicher Sicht als Inbegriff des Unvornehmen. 1887/88 denkt Nietzsche in einer Nachlassnotiz über das von ihm wieder ans Tageslicht geförderte jesuanische Ideal nach und fragt nach seinem Wert:23 „Welche Werthe werden durch dasselbe negirt: was enthält das Gegensatz-Ideal? Stolz, Pathos der Distanz, die grosse Verantwortung, den Übermuth, die prachtvolle Animalität, die kriegerischen und eroberungslustigen Instinkte, die Vergöttlichung der Leidenschaft, der Rache, der List, des Zorns, der Wollust, des Abenteuers, der Erkennmiss...: das vornehme Ideal wird negirt" (KSA, NF, 13, 159).24 Diesem vornehmen ,Gegensatz-Ideal' huldigt das antichristliche ,Ich' (ungeachtet der Frage, wie das ,Ich' zum historischen Autorsubjekt Nietzsche stehen mag); dieses ,Ich' ist leidenschaftlich distanznehmend und wird dadurch, dass es leidenschaftlich Distanz nimmt, das, was es ist. ,Pathos der Distanz' dürfte zwar den Abschied von metaphysisch-substantialistischen Subjektkonzeptionen implizieren, gibt aber das Postulat einer nicht-substantialistischen Individualität und Subjektivität keineswegs auf: Das Subjekt kann sich, wird man gegen poststrukturalistische NietzscheInterpreten in Erinnerung rufen, allein generieren, indem es Distanz herstellt, sowohl gegen außen wie gegen innen. Zu solcher Subjektivität fehlt dem ,Typus des Erlösers', mit Fjodor Dostojewskij ein „Idiot" (KSA, AC, 6, 200), schon die Anlage, von einem zur subjektiven Selbstkonstitution erforderlichen Willen ganz zu schweigen. Jesu Zeichen schaffen nach antichristlicher Deutung gerade keine Distanz, selber ist er kein distanznehmendes Wesen. „Die Cultur ist ihm nicht einmal vom Hörensagen bekannt" (ebd., 204); sie kann ihm nicht bekannt sein, stellt Distanz doch eine Möglichkeitsbedingung für Kultur25 dar und für den programmatischen, trotz skeptischer Gegenreden kaum geschmälerten Realismus in Nietzsches Spätwerk. Dies suggeriert, wenigstens auf der rhetorischen Oberfläche, dass man über die Zeichen hinaus zu irgendeiner Realität vorstoßen könne. Die in der ,Psychologie des Erlösers' durchgespielte ,Ecce homo'Situation ist der Versuch der klinisch-wissenschaftlichen Distanzierung, somit die Kontrafaktur der absoluten Distanzaufgabe, der sich Jesus aus existenzieller Not befleißige. Das Zeichen ,Jesus' ist der im Antichrist vorgenommenen Selbstdeutung des Zeichens ,Nietzsche' genau entgegengesetzt. Dazu ohne Bezug auf Nietzsches .Typus des Erlösers', Hans Blumenberg, Begriffe in Geschichten, Frankfurt/M. 1998, 34: „Wie ein Mensch .erwachsen' wird und dabei so etwas wie ,eine Welt' bekommt, lässt sich zwar nicht erklären, doch beschreiben mit dem Begriff der Distanz. Was ,den Erwachsenen' mit Wehmut im Rückblick auf die Kindheit erfüllt und ihm als das Unwiederbringliche an ihr erscheint, ist die verlorene Nähe zu den Dingen, bis zur Körperwärme im Wort- wie im Übertragungssinn. Doch wem es gelänge, Kind zu bleiben und damit kindisch zu werden, der bekäme nie eine Welt." Man beachte, in Weberscher Terminologie, die Trennung von werturteilsfreier, .wissenschaftlicher' Exposition des Ideals und von außerwissenschaftlicher (vielleicht philosophischer) Erörterung seines
Wertes.
Das
Gegenbekenntnis zum jesuanischen Christentum folgt bald darauf: „Ein tüchtiger Soldat hat umgekehrt keine Freude außer in einem rechtschaffenen Kriegfuhren und Feindseinwollen" (KSA,
NF, 13, 163).
Dazu: Odo Marquards Bestimmung von „Kultur als Arbeit an der Distanz" in einer Würdigung Hans Blumenbergs (Odo Marquard, Philosophie des Stattdessen. Studien, Stuttgart 2000, 112).
86
Andreas Urs Sommer
Freilich könnte man auf, dies zum Schluss, Nietzsches Distanzversessenheit auch als ein, den genannten, plakativen Realismus konterkarierendes und hintertreibendes Unternehmen deuten. Man könnte sogar mutmaßen, Nietzsches Postulat der Distanznahme sei
eigentlich ein zeichenphilosophischer Pyrrhonismus,
insofern
es
die
Hoffnung ver-
abschiedet, in irgendetwas hinter dem Erscheinenden, dem zeichenhaft Gegebenen und zeichenhaft Erschaffenen einzudringen. Auch für den, der laut der ,Psychologie des Erlösers' alle Distanz aufgibt, gibt es nur Zeichen, keine Dinge, keine Welt dahinter. Fallen so absolute Distanznahme und absolute Distanzlosigkeit am Ende in eins? „Ecce homo"!
JOHANN FlGL
Nietzsche und die
Religionsstifter
Der Titel des Referats hängt eng mit der Themenstellung des Kolloquiums zusammen: in dem Abschnitt von Ecce homo, in dem sich Friedrich Nietzsche „gegen die Verlo-
genheit von Jahrtausenden" wendet, sagt er auch, dass in ihm ,,[n]ichts [...] von einem Religionsstifter [ist]" (KGW, EH, VI 3, 363). Der Kontext der Aussagen verdeutlicht, warum die dezidierte Abgrenzung gegenüber den Religionsstiftern erforderlich ist: es ist die Religionsstiftern vergleichbare weltgeschichtliche Bedeutung, sein ,Schicksal', die seiner Selbstdeutung, die sich einmal an seinen Namen und seine Botschaft (er versteht sich als ,froher Botschafter", ebd., 364; vgl. ebd., 393) anknüpfen wird: „an eine Entscheidung heraufbeschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war", und er fügt hinzu: „Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit." (ebd., 363). Genau an dieser Stelle betont er, dass mit alledem nichts von einem Religionsstifter in ihm sei. Von diesen
grenzt er sich schon im ,Vorwort' der späten Schrift ab, wenn über seinen Zarathustra sagt, dass „hier kein .Prophet', keiner jener schauerlichen Zwitter von Krankheit und Willen zur Macht [redet], die man Religionsstifter nennt" (ebd., 257). Es ist zudem die in Nietzsches Selbstverständnis gegebene „Grundconception" dieses Werkes, der ,£wige-Wiederkunfts-Gedanke" (vgl. ebd., 333), der eine Deutung in Parallele zu religiösen Grundaussagen nahe legen könnte. Nietzsche nennt diesen Gedanken im Spätnachlass selbst „Religion der Religionen" (KGW, NF, VII 3, 208), die eine Abgrenzung bzw. Präzisierung des Begriffs ,Religion' verlangt. Ausgehend von dieser Problemstellung möchte ich im folgenden auf zwei Aspekte von Nietzsches Verhältnis zu Religionsstiftern eingehen: der erste zielt auf Nietzsches Analyse und Kritik dieser geschichtlich bedeutsamen Persönlichkeiten; der andere versucht seinen Wiederkunftsgedanken darzustellen, sowohl in den Aspekten, wo er als Gegensatz zu einer religiösen Daseinsdeutung profiliert ist, als auch in dem von Nietzsche explizierten Aspekt, ob und inwiefern diese ,Lehre' selbst ,Religion' genannt werden kann. Antwort auf diese Frage will ich in Form einer Interpretation dafür besonders einschlägiger Texte Nietzsches geben. Zwei Textgruppen sind dies: einerseits aus Ecce homo jene, in denen auf Zarathustra und dessen ,Grundconception', den Wiederkunftsgedanken, Bezug genommen wird, andererseits Nachgelassene Fragmente aus dem er
Johann Figl
88
Umfeld der Gleichen im
1.
erstmaligen Nennung Spätsommer 1881.
von
Zarathustra und der
Ewigen
Wiederkunft des
Analyse und Kritik der Religionsstifter
1.1 Nietzsches Verständnis des
.Religionsstifters'
Mit den Religionsstiftern hat sich Nietzsche mehrfach befasst: In Menschliches, Allzumenschliches beschreibt er sie als Betrüger, die aber „aus diesem Zustande der Selbsttäuschung nicht herauskommen", und er meint: „Selbstbetrug muss da sein, damit diese und jene großartig wirken. Denn die Menschen glauben an die Wahrheit dessen, was ersichtlich stark geglaubt wird" (KGW, MA I, IV 2, 70f.).In der Fröhlichen Wissenschaft wird das Motiv des Selbstbetrugs in Richtung der seine eigenen Erlebnisse missverstehenden Auslegung weitergeführt. Im Aphorismus Als Interpreten unserer Erlebnisse stellt Nietzsche fest: „Eine Art von Redlichkeit ist allen Religionsstiftern und Ihresgleichen fremd gewesen sie haben nie aus ihren Erlebnissen eine Gewissenssache der Erkenntnis gemacht" (KGW, FW, V 2, 230f). Der Gedanke der fälschenden Interpretation wird später von ihm noch vertieft1. Im 5. Buch der Fröhlichen Wissenschaft (Aph. Vom Ursprung der Religionen) ist es die „eigentliche Erfindung von Religionsstiftern", dass sie zuerst „eine bestimmte Art Leben und Alltag der Sitte", eine disciplina voluntatis ansetzen, da sie „gerade diesem Leben eine Interpretation" geben, die ihm höchsten Wert zu verleihen scheint, was die „wesentlichere" von „diesen beiden Erfindungen" sei (ebd., 271); Jesus, Paulus und Buddha werden als solche Interpreten' exemplarisch vorgestellt: „Die Bedeutung, die Originalität des Religionsstifters kommt gewöhnlich darin zu Tage, dass er sie sieht, dass er sie auswählt, dass er zum ersten Male erräth, wozu sie gebraucht, wie sie interpretiert werden kann. Jesus (oder Paulus) zum Beispiel fand das Leben der kleinen Leute in der römischen Provinz vor, ein bescheidenes tugendhaftes gedrücktes Leben: er legte es aus, er legte den höchsten Sinn und Werth hinein und damit den Muth, jede andre Art Leben zu verachten [...] Buddha insgleichen fand jene Art Menschen vor, und zwar zerstreut unter alle Stände und gesellschaftliche Stufen seines Volks, welche aus Trägheit gut und gütig (vor Allem inoffensiv) sind, die, ebenfalls aus Trägheit, abstinent, beinahe bedürfnislos leben: er verstand, wie eine solche Art Menschen mit Unvermeidlichkeit, mit der ganzen vis inertiae, in einen Glauben hineinrollen müsse, der die Wiederkehr der irdischen Mühsal (das heisst der Arbeit, des Handelns überhaupt) zu verhüten verspricht, dies .Verstehen' war sein Genie" (ebd. 271 f.). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass stets das Motiv vorherrscht, dass eine bestimmte Interpretation den Religionsstifter kennzeichnet, die eigentlich eine ,Erfindung' ist, die in anderen Kontexten eine Täuschung, eine Falschheit, eine Verlo-
-
-
Dazu: Johann Figl, Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theorie der Auslegung im späten Nachlass, Berlin/New York 1982; zur religionsspezifischen Thematik: ders., Dialektik der Gewalt. Nietzsches hermeneutische Religionsphilosophie. Mit Berücksichtigung unveröffentlichter Manuskripte, Düsseldorf 1984, 30 Iff, 355.
Nietzsche und die Religionsstifter
89
genheit genannt wird. Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, wenn Nietzsche in dem Buch, in dem er .gegen die Verlogenheit von Jahrtrausenden' auftritt, den Religionsstifter als entschieden negative Gegenfigur kennzeichnen muss, der Erlebnisse selektiv und tendenziell interpretiert. 1.2
Spezifische Motive für die Abgrenzung vom Religionsstifter
Was wehrt Nietzsche näherhin ab, wenn er in Ecce homo formuliert: ist Nichts in mir von einem Religionsstifter [...]" (KGW, EH, VI 3,
„Und mit Alledem
363). Es wird eine Aussage unDeutung zurückgewiesen, die sich aus die, der Selbstbeschreibung mittelbar vorhergehenden Sätzen ergeben könnte. Es sind die Einleitungssätze des Abdieser
schnitts Warum ich ein Schicksal bin: „Ich kenne mein Loos. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab [...]" (ebd.), und die mit den Worten fortgeführt werden, die einleitend zitiert wurden. Der in Nietzsches Selbstinterpretation radikale Umbruch und die dadurch angezielte Umwertung darf nach seinem Urteil nicht in Analogie zum Beginn einer neuen Religion gedeutet werden, auch wenn in seinen Augen Religionen in ihrem Anfang, wie das Christentum, Umwertungen waren2. Anders formuliert: obwohl nach Nietzsches Selbstverständnis eine in der Weltgeschichte unvergleichliche ungeheure Veränderung des geistigen Bewusstseins sich ereignet, gebe es dennoch in jener Person, die sich als Urheber dieser neuen Vision betrachtet, nichts, das für einen Religionsstifter charakteristisch sei. Gegen eine solche nahe legende formale Parallelisierung führt Nietzsche inhaltliche Gründe an, von denen er einige im einzelnen aufzählt, wie: (1) „Religionen sind Pöbel-Affairen", etwas Unreines, er müsse sich nach der Berührung mit religiösen Menschen die Hände waschen; (2) er „will keine .Gläubigen'", dies fuhrt (3) zur Aussage: „Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst" (ebd.). Im Vorwort tax Ecce homo klingen diesselben Motive mehrfach an, besonders dort, wo er von seinem Zarathustra spricht: ( 1 ) es ist ein elitäres Buch, „nicht nur das höchste Buch", sondern „das eigentliche Höhenluft-Buch" (gegen den ,Pöbel' gerichtet); (2) „Hier redet kein Fanatiker, hier wird nicht ,gepredigt', hier wird nicht Glauben verlangt", er will keine Gläubigen; und (3) Zarathustra ist in dem, was er sagt, „genau das Gegentheil von dem, was irgend ein .Weiser', .Heiliger' und .Welt-Erlöser' und andrer décadent in einem solchen Falle sagen würde" (ebd., 257f). In diesem Zusammenhang lesen wir eine Art ,Definition' des Religionsstifters: „Hier redet kein ,Prophet', keiner jener schauerlichen Zwitter von Krankheit und Willen zur Macht, die man Religionsstifter nennt" (ebd.): .Wille zur Macht' meint in diesem Zusammenhang Herrschaft über viele zu erlangen, .Krankheit' ist jenes Kennzeichen des religiösen Menschen, das von Nietzsche besonders im Spätwerk hervorgehoben wird3. -
3
Dazu Johann Figl, Dialektik der Dazu: ebd., 298ff, 302ff.
Gewalt, 354ff.
90
Johann Figl
1.3 Weiterer Kontext der
,Heiligen'
Zurückweisung des .Religionsstifters'
und des
Nietzsches Antithesen, die in der Zurückweisung jener Begriffe, die alle in einer Linie liegen, ,Weiser', ,Heiliger', ,Erlöser', ,Prophet' und schließlich ,Religionsstifter', zum Ausdruck kommen, sind im Kontext eines anderen offenkundigen Anliegens von Ecce homo zu lesen: Nietzsche will darin sagen, wer er ist; signifikant dafür sind seine Worte: „Verwechselt mich vor Allem nicht!" (ebd., 255). Auch hier sagt er unmittelbar anschließend, was er nicht ist, „zum Beispiel durchaus kein Popanz, kein MoralUngeheuer"; er versteht sich als „eine Gegensatz-Natur zu der Art Mensch, die man bisher als tugendhaft verehrt hat"; als solcher ist er „ein Jünger des Philosophen Dionysos", er zöge es vor, „eher noch ein Satyr zu sein als ein Heiliger" (ebd., 256), wodurch ebenfalls die Abgrenzung zum Heiligen betont wird. Ideale bzw. Götzen will er umwerfen, der erlogenen Welt wird die Realität gegenüber gestellt (ebd.); den Gegensatz zur Figur des Heiligen will er in seiner Schrift zum Ausdruck bringen, „denn es gab bisher nichts Verlogneres als Heilige" (Warum ich ein Schicksal bin, ebd., 363). Eine sich durchhaltende Tendenz der zitierten Stellen dürfte im folgendem Grundanliegen liegen: um die Identität zu gewinnen, um „der und der" zu sein (vgl. ebd., 255), ist es für Nietzsche notwendig, den Gegensatz zu einer präsentativen Gestalt des religiösen Lebens, zum ,Heiligen', hervorzuheben. In diesem Kontext dient die Zurückweisung des Begriffs ,Religionsstifter' dazu, das Eigene zu profilieren; sie wendet sich gegen eine Zentralgestalt der traditionellen gestifteten Religionen. Wichtig ist es, dass Nietzsche die Abgrenzung im Vorwort zu Ecce homo ausdrücklich im Zusammenhang mit dem Zarathustra vornimmt. Damit ist zugleich die Grenzziehung zwischen den Religionen und dem Gedanken der Ewigen Wiederkunft ausgesprochen, denn die „Grundconception des Werkes" ist „der Ewige-Wiederkunfts-Gedanke" (ebd., 333); es ist der „Grundgedanke[...] des Zarathustra" (ebd., 334). Aus dieser Perspektive ist die Wiederkunftslehre die radikale Alternative zu den Religionen, ihren Verfälschungen, Verneinungen und Jenseitsorientierungen. Nietzsche nennt ihn, schon in Ecce homo unter Anführungszeichen, ,„den abgründlichsten Gedanken'" (ebd., 343).4 Er ist für ihn die „höchste Formel der Bejahung" (ebd., 333), es geht ihm darum, „das ewige Ja zu allen Dingen selbst zu sein" (ebd., 343). Es mag offen bleiben, wie Nietzsche zur Ewigen Wiederkunftslehre als einer Art philosophisches Axiom in den letzten Jahren seines Lebens tatsächlich gestanden ist; doch es dürfte deutlich sein, dass er von der lebensbestimmenden Kraft dieses .Gedankens' von dem Jahr an, wo dieser gleichsam wie eine ,Inspiration' über ihn gekommen ist, überzeugt war, und er noch in den letzten Monaten seines bewussten geistigen Schaffens die überragende Bedeutung dieses ,Gedankens' im Zusammenhang mit dem Zarathustra betont hat.
An anderer Stelle
spricht er davon im biographisch(-polemischen) Kontext: „Aber ich bekenne, dass der tiefste Einwand gegen die .ewige Wiederkunft', mein eigentlich abgründlicher Gedanke, immer Mutter und Schwester sind" (KGW, EH, VI 3, 266).
Nietzsche und die Religionsstifter
91
Wiederkunftslehre als Alternative zu den jenseitsorientierten
2.
Religionen
Nachdem die traditionelle Form von Religion im Zusammenhang mit den Religionsstiftern dargestellt worden ist, geht es darum, Nietzsches eigene Grundkonzeption zu skizzieren. Welche Funktion und Sinnintentionen hinsichtlich der Lebensgestaltung verbindet er mit der Wiederkunftslehre? Dazu ist es nützlich, die erstmalige Nennung dieser zentralen Vorstellungen zu analysieren.
2.1
Nennung ,Zarathustras'
und der Wiederkunftslehre im Kontext einer
,neuen Art zu leben'
Der Text, in dem zum ersten Mal der Name des Religionsstifters (!) Zarathustras im Nachlass auftaucht, worauf Nietzsche im Ecce homo selbst hinweist (vgl. ebd., 332), ist genau datiert: Sils Maria, 26. August 1881 (KGW, NF, V 2, 417f.).5 Er steht im Zusammenhang mit dem Titel eines geplanten Werkes: Mittag und Ewigkeit, mit dem Untertitel Fingerzeige zu einem neuen Leben. Der Text, bildet dem Inhalt nach die ersten Sätze von Also sprach Zarathustra (vgl. KGW, ZA, VI 1, 5), die im wesentlichen identisch sind mit dem Anfang des schon in der Fröhlichen Wissenschaft veröffentlichten Aphorismus 342 (KGW, FW, V 2, 251); er lautet in der Aufzeichnung vom August 1881: „Zarathustra, geboren am See Urmi, verliess im dreissigsten Jahre seine Heimat, gieng in die Provinz Aria und verfasste in den zehn Jahren seiner Einsamkeit im Gebirge den ZendAvesta" (KGW. NF, V 2, 417)6. Daran anschließend heißt es: „Die Sonne der Erkenntniß steht wieder einmal im Mittag: und geringelt liegt die Schlange der Ewigkeit in ihrem Lichte es ist eure Zeit, ihr Mittagsbrüder!" (ebd.). Wie hängen Mittag und Ewigkeit und die „Fingerzeige zu einem neuen Leben", oder wie es im folgenden Fragment heißt, mit dem „Entwurf einer neuen Art zu leben" (ebd.) zusammen? Ist in der Symbolik des Mittags, der zugleich die ,Ewigkeit' meint, eine neue Art des Lebens impliziert? Die Sinnaussage des Entwurfs tritt deutlicher hervor, wenn man ihn mit dem vergleicht, den Nietzsche „Anfang August 1881", ebenfalls in Sils Maria notierte und den er selbst datiert hat. Er hat die Überschrift ,JDie Wiederkunft des Gleichen. Entwurf (ebd., 392). Im folgenden geht es bei der Interpretation der Wiederkunft um die Auswirkungen auf das individuelle Selbstverständnis der verkündeten Lehre. Neben anderen zentralen Inhalten, wie dem einer kosmologischen Sicht, die mit der Wiederkunftslehre verbun-
gebundenen Heft M III 1 (= Fragmentengruppe 7, Frühjahr bis Herbst 1881, Band V 2, 339^174). Vgl. Mazzino Montinari, Nietzsche lesen, Berlin/New York 1982, 81. Während Mazzino Montinari 1982 noch feststellte, dass „die genaue Quelle, aus der Nietzsche diesen Namen übernahm, auch heute noch als unbekannt gelten (muß)" (ebd. 81), kann inzwischen dank überzeugender Quellenstudien dieses Problem als gelöst gelten. Paolo D'Iorio teilte diese wichtige Stelle mit: sie ist Friedrich Anton von Hellwalds Kulturgeschichte in ihrer natürlichen Entwicklung bis zur Gegenwart' (Augsburg 1875) entnommen. Nietzsche hatte sich dieses Werk von Overbeck nach Sils Maria schicken lassen. Dazu: P. D'Lorio, „Beiträge zur Quellenforschung", in: Nietzsche-Studien 22, 1993, 395; Dazu:. KSA 15 (Chronik zu Nietzsches Leben), 117. In dem
6
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Johann Figl
den ist, scheint die Bedeutung, die die Lehre für die Lebensgestaltung, für eine neue existenzielle Schwerpunktsetzung der Menschen hat, in den Augen Nietzsches grundlegend zu sein. In der ersten Zusammenstellung unter dem Titel Die Wiederkunft des Gleichen in dem Entwurf schreibt er unter Punkt 5: „Das neue Schwergewicht: die ewige Wiederkunft des Gleichen. Unendliche Wichtigkeit unseres Wissen's, Irren's, unsrer Gewohnheiten, Lebensweisen für alles Kommende. Was machen wir mit dem Reste unseres Lebens wir, die wir den grössten Theil desselben in der wesentlichsten Unwissenheit verbracht haben?" (ebd.). Diese Lehre ist eine, die das Leben verändert und die Biographie in zwei Teile trennt. Nietzsche sagt später des öfteren, dass mit seinem Leben und seiner Verkündigung die Geschichte der Menschheit in zwei Teile geteilt wird7; hier aber geht es darum, dass das individuelle Leben sich notwendig ändern muss, wenn man die Einsicht in die Wiederkunftslehre gewonnen hat. Die Frage ist, was man mit dem Rest des Lebens tut, nachdem im Horizont dieser Einsicht, des neuen Wissens, das vorhergehende Leben als wesentlichste Unwissenheit' erscheint. Aus dem Schwergewicht, das die Lehre bedeutet8, ergibt sich für Nietzsche die unendliche Wichtigkeit dessen, was Menschen in Hinkunft tun. Die Einsicht und Anerkennung der neuen Lehre der ewigen Wiederkunft des Gleichen fordert eine Änderung des Selbstverständnisses, das zu einer extrem hohen Bedeutung des individuellen Lebens führt: „Drücken wir das Abbild der Ewigkeit auf unser Leben!" fordert er (ebd., 401). Die Konsequenz daraus ist die Einsicht: ,JDiess Leben dein ewiges Leben!" (ebd., 410).9 -
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2.2
Überbietung der traditionellen Religionen und ihrer Jenseitsorientierung
Mit dieser Auffassung wendet sich Nietzsche von den Religionen schlechthin ab, er meint, dass der Gedanke, „das Abbild der Ewigkeit auf unser Leben" zu drücken, „mehr als alle Religionen (enthält)", weil die Religionen das gegenwärtige Leben als ein flüchtiges verachten und „nach einem unbestimmten anderen Leben hinblicken lehrten" (ebd., 401). Von hieraus kritisiert er nicht nur das Christentum, sondern auch die alexandrinische Kultur. Als Motiv für ihr Zugrundegehen gibt er an: „Sie vermochte mit all ihren nützlichen Entdeckungen und der Lust an der Erkenntniß dieser Welt doch dieser Welt, diesem Leben nicht die letzte Wichtigkeit zu geben, das Jenseits blieb wichtigen Hierin umzulehren jetzt immer noch die Hauptsache vielleicht wenn die Meta-
Dazu: Die Fröhliche Wissenschaft (Aph. 125 Der tolle Mensch): „Es gab nie eine grössere That, und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war!" (KGW, FW, V 2, 159); Ecce homo (Warum ich ein Schicksal bin): der, der über die christliche Moral aufklärt, ist, „eine force majeure, ein Schicksal, er bricht die Geschichte der Menschheit in zwei Stücke. Man lebt vor ihm, man lebt nach ihm" (KGW, EH, VI
-
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3,371). Vgl. Die fröhliche Wissenschaft, Aph.
341: Das grösste Schwergewicht, wo Nietzsche erstmals im veröffentlichten Werk die Wiederkunftslehre thematisiert (KGW V 2, 250). Dazu näher: J. Figl, „Religionen in der Moderne. Nietzsches Diagnose, ihre Probleme und Perspektiven", in: Zeitenwende Wertewende. Internationaler Kongress der Nietzsche-Gesellschaft zum 100. Todestag Friedrich Nietzsches vom 24.-27. August 2000 in Naumburg, hg. von Renate Reschke, 65-76. -
Nietzsche und die ReligionsStifter
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physik eben dies Leben mit dem schwersten Accent trifft 413).
nach meiner Lehre!"
(ebd.,
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aus der Zeit der erstmaligen Nennung des Wiederkunft-Gedankens ein ist es also Aspekt, ein zentrales Anliegen der Philosophie Nietzsches, zu einer im Verhältnis zu den jenseitsorientierten Religionen neuen Einstellung dem Leben gegenüber zu kommen. Diese Lehre hat Auswirkungen auf das konkrete Leben: „Nicht nach fernen unbekannten Seligkeiten und Segnungen und Begnadigungen ausschauen, sondern so leben, dass wir nochmals leben wollen und in Ewigkeit so leben wollen. Unsere Aufgabe tritt in jedem Augenblick an uns heran" (ebd., 401). Aus der Einsicht in den ,Ewigkeitswert' des Lebens wird die Bedeutung des Augenblicks auch dadurch erhöht, weil die Grundaufgabe in jeder Situation neu geleistet werden kann. Sie soll so geleistet werden, dass sie ,ewigen' Bestand in dem Sinn hat, dass der Mensch sie immer wieder leben will und bejahen kann.
In diesen Notizen
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2.3
Neubestimmung der Individualität (des ,Ich') in kritischer Auseinandersetzung mit Religionsstiftern
Aus der Betonung des diesseitigen Lebens, ein jenseitiges gibt es nach Nietzsches Urteil nicht, erfolgt die Hervorhebung der Individualität; als Haupttendenz gilt, „die Liebe zum Leben, zum eigenen Leben auf alle Weise pflanzen!" (ebd., 410). Die geforderte Lebenspraxis ist ein Weg zur Individualisierung und Individualität, bei gleichzeitiger Anerkennung und Betonung der Eigenheit des anderen, die ebenso geschützt und gestützt werden muss. Jeder wird den anderen gelten lassen; gefordert ist eine „neue große
Toleranz" für diese Einsicht: „so sehr es oft wider seinen Geschmack geht, wenn der Einzelne wirklich die Freude am eigenen Leben mehrt!" (ebd.). Vor dieser neuen Betonung der Individualität und der Ichbezogenheit wird das Problem des Verhältnisses zu den von Nietzsche genannten Herden-Gefühlen, die mächtiger und älter seien, deutlich sichtbar. Sogar im „erwachten Individuum" sei dieser Urbestand der HerdenGefühle noch übermächtig (vgl. ebd., 412). Ein Ego ist deswegen heute noch sehr selten10, einer der Gründe ist die religiöse Erziehung, das Verlangen nach staatlichsozialen Bindungen; die Nationen sind ebenfalls zu nennen (ebd.). Eine Folge daraus ist die Unsicherheit hinsichtlich des eigenen Ego: „Der Egoismus ist noch unendlich schwach! [...] Man frage nur einmal, wie Wenige gründlich prüfen: warum lebst du hier? warum geht du mit dem um? Wie kamst du zu dieser Religion? Welchen Einfluß übt diese und jene Diät auf dich? Ist dies Haus für dich gebaut? Usw. Nichts ist seltener als die Feststellung des ego vor uns selber. Es herrscht das Vorurtheil, man kenne das ego, es verfehle nicht, sich fortwährend zu regen: aber es wird fast gar keine Arbeit und Intelligenz darauf verwandt als ob wir für die Selbsterkenntniß durch eine intuition der Forschung überhoben wären!" (ebd., 426). Im Zusammenhang mit der Suche nach dem ,Ego' macht Nietzsche eine interessante Feststellung, bei der er auch Religionsstifter einschließt, nämlich, dass in den früheren Kulturen gerade jene, die den Egoismus verurteilt haben, ihn selbst praktiziert hätten: -
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Vgl. dazu auch das Fragment
12
[213] (Herbst 1881), a. a. O.
511.
Johann Figl
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„Der Egoism ist verketzert worden, von denen die ihn übten (Gemeinden Fürsten Parteiführern Religionsstiftern Philosophen wie Plato); sie brauchten die entgegengesetzte Gesinnung bei den Menschen, die ihnen Funktion leisten sollten" (ebd., 455). So betrachtet gab es in der Geschichte immer schon zwei Arten von Menschen, „die Heer-
den-Menschen und die selbsteignen Menschen: letztere zuerst als Hirten" (ebd., 414). Vor diesem Hintergrund wird die isolierte Notiz verständlich: „Jesus war ein großer Egoist" (ebd., 48811). Religionsstifter haben demnach Züge, die Nietzsche für jedes Individuum einfordert, wodurch die Bedeutung dessen, was Ich-Bewusstsein heißt, eine neue, eine nicht-religiöse Bedeutung bekommt. Nietzsche geht es um Individualität, um den Sinn des ,Eigenen'. Dieser kann nicht von anderen Autoritäten bestimmt werden, weder von dem ,Man' der Masse, der ,Herde', wie er es nennt, noch von deren ,Führern'; Religionen sind ,Herdenbildungen'. Religionsstifter vermitteln ein für Viele geltendes Lebensmodell, Nietzsches Konzept ist eines für das jeweilige Individuum, auch darum muss er den Vergleich mit Religionsstiftern trotz deren historischer Bedeutung, ihrer ,Vorläufer'-Funktion für die Ausbildung eines Selbst, ablehnen. Das trifft selbst dann noch zu, wenn er seine eigene Lehre, wie es im Nachlass der Fall ist, als ,Religion' bezeichnet.
2.4 Die Wiederkunft als
.Religion der Religionen'
Nietzsche bezeichnet in isolierten Notizen den Gedanken der ,ewigen Wiederkunft' als eine Art ,Religion' und ist überzeugt, dass man an diesen Gedanken ,glauben' kann: die „nicht daran Glaubenden müssen ihrer Natur nach endlich aussterben!" (ebd., 471). In diesem Kontext nennt er ihn „meinen Gedanken" und schreibt: „Er soll die Religion der freiesten heitersten und erhabensten Seelen sein ein lieblicher Wiesengrund zwischen vergoldetem Eise und reinem Himmel!" (ebd., 471)." In der Umschreibung klingt die biographisch konnotierte Formulierung in Ecce homo an, in der er seine Philosophie „das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge" nennt (KGW, EH, VI 3, 256). Im April-Juni 1885 versteht er in einem Plan, wo Zarathustras Abschied konzipiert wird, „die Wiederkunft als Religion der Religionen" (KGW, NF, VII 3, 208; vgl. ebd., 188ff; KGW, NF, IX 1, 57). Die nähere Bedeutung dieser isoliert vorkommenden Formulierung ist nicht ohne weiteres ersichtlich. Vielleicht kommt in ihr der tröstliche Aspekt der Wiederkunftslehre zum Ausdruck, wofür eine andere Nachlassformulierung, die zur ,Abschieds'-Thematik gehört, zu sprechen scheint.12 Ohne auf diesen speziellen Aspekt weiter einzugehen, sei auf das Grundsätzliche der Formulierung verwiesen: In sprachlich-formaler Hinsicht bringt die Formulierung ,Religion der Religionen' eine Überbietung der traditionellen Religionen zum Ausdruck; von der ersten Inspiration an -
11 12
Die Fragmente sind später, nach dem Februar 1882, entstanden (Datum, ebd. 410). In einem von Nietzsche als Plan zu Zarathustra bezeichneten Notiz heißt es: „10. letzter Abschied von der Höhle (das Tröstliche der ewigen Wiederkunft zeigt zum ersten Mal sein Gesicht)" (KGW, NF, VII 3, 76; ebd. 50): „Ewige Wiederkehr jedes guten Dings"); es ist nicht nur eine erschreckende Botschaft, sondern auch eine tröstliche, weil das Gute auf ewig bewahrt ist. In Ecce homo sagt er, rückblickend auf den Tag, wo er sein 44. Lebensjahr vollendet hat, dass er es „begraben [durfte], was in ihm Leben war, ist gerettet, ist unsterblich" (KGW, EH, VI 3, 261).
Nietzsche und die Religionsstifter
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davon überzeugt, dass sein Gedanke „mehr als alle Religionen (enthält)", und zwar wegen der Diesseitsorientiertheit (KGW, NF, V 2, 401). Der WiederkunftsGedanke verlangt im Verhältnis zu den Religionen eine neue Lebensart, die sich als realistischere und diesseitige Sinnantwort versteht. Sie gibt keine allgemeine Antwort wie die traditionellen Religionen, sondern fordert auf, die jeweils eigene zu finden, insofern sie sich am ,Ego' (im beschriebenen Sinn) orientiert. Nietzsche möchte seine Lehre nicht wie eine „plötzliche Religion" lehren, denn „für den mächtigsten Gedanken bedarf es vieler Jahrtausende" bevor er sich durchsetzen wird; im Vergleich dazu sind „die Paar Jahrtausende, in denen sich das Christentum erhalten hat", nicht bedeutsam (ebd.). Es ist auffallend, dass er die Umschreibung mit den Jahrtausenden' auch für Also sprach Zarathustra und dessen Botschaft verwendet: in Ecce homo sagt er, dass das Buch Zarathustra „mit einer Stimme über Jahrtausende hinweg" spricht (KGW, EH VI 3, 257); er beschreibt das Außergewöhnliche der diesem Werk zugrunde liegenden Inspiration, die er auch als „Offenbarung" (vgl. ebd., 337) bezeichnet, in folgender Art: „Dies ist meine Erfahrung von Inspiration; ich zweifle nicht, dass man Jahrtausende zurückgehen muss, um Jemanden zu finden, der mir sagen darf, ,es ist auch die meine'" (KGW, ZA, VI 3, 338). Vor diesem Hintergrund ist sein Wort, dass er sich „gegen die Verlogenheit von Jahrtausenden im Gegensatz weiss" (KGW, EH, VI 3, 363) besser einzuordnen: es geht dabei um die Gegensatzbegriffe .Wahrheit' und .Lüge', aber in einem neuen Sinn, im Kontext einer menschheitsgeschichtlich bedeutsamen „Umwerthung der Werthe" (vgl., ebd., 363f); es geht um die Auseinandersetzung mit der durch die traditionellen Religionen geprägten Moral. Von hier interpretiert Nietzsche in den anschließenden Abschnitten (Warum ich ein Schicksal bin) auch den Namen Zarathustra, wo er sich als den „ersten Immoralisten" bezeichnet: Für ihn ist das, „was die ungeheure Einzigkeit jener Person ausmacht [...] gerade dazu das Gegentheü", diese habe die Moral ins Metaphysische übersetzt; „Zarathustra schuf diesen verhängnisvollen Irrthum, die Moral: folglich muss er auch der Erste sein, der ihn erkennt"; der Name jenes Religionsstifters besagt in Nietzsches (Selbst-)Deutung „die Selbstüberwindung des Moralisten in seinem Gegensatz in mich" (ebd., 365). Aus der Anti-Position gegenüber den traditionellen Religionen und den Religionsstiftern ergibt sich, dass Nietzsches eigene Lehre nicht als eine Religion im ,substanziellen' Sinn des Begriffs bezeichnet werden kann, auch wenn er selbst gelegentlich das Substantiv ,Religion' dafür verwendet. Eine andere Frage ist, ob dem Gedanken der ewigen Wiederkunft' und der von Zarathustra verkündeten Botschaft, Nietzsche bezeichnet sich in Ecce homo als „froher Botschafter" (ebd., 364), ein religiöser Charakter im funktionalen Sinn zugesprochen werden kann; ob sie Funktionen hat, die auch die traditionellen Religionen erfüllten, wie z. B. eine Antwort auf den Sinn des Kosmos oder auf die Frage des Todes zu geben und eine Orientierung für ein erfülltes Leben anzubieten; dies bedarf einer weiteren Analyse. Dabei ist es wichtig, die beiden Grundverständnisse von Religion in der heutigen Religionswissenschaft vor Augen zu haben, um Missverständnisse auszuschließen: beim materialen oder auch substantialistischen Religionsbegriff geht es um zentrale Inhalte (Gott, Ewiges Leben, religiöse Gebote); der funktionale hingegen hat keine inhaltliche Begrenzung, er ist sehr weit, kann praktisch alle ist
er
-
-
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Johann
Figl
anthropologischen Bereiche umfassen (existenzielle Grunderfahrungen, auch Sport, Kunst, Werbung); es wird gesagt, dass dadurch religiöse Funktionen erfüllt werden können (Sinnfrage, Gemeinschaftsgefühl) oder Züge anzutreffen sind, die religionsanalog sind (z. B. Rituale). Im ersteren Begriff geht es um Religionen im herkömmlichen Sinn, im letzteren um Religiosität und ,Religion' in einem allgemein-anthropologischen Sinn; in diesem funktionalen Kontext kann religionssoziologisch bei Weltanschauungen (Atheismus, Agnostizismus etc.) oder politischen Systemen ein ,religiöser' Charakter konstatiert werden.13 Die Frage in diesem Zusammenhang lautet: inwiefern ist es legitim, bei Nietzsches neuer ,Inspiration' der ,Ewigen Wiederkunft' von ,Religiosität' oder ,Religion' zu sprechen? Es gibt für eine solche Redeweise wichtige und begründete Ansätze14, aber angesichts der Tatsache, dass der Begriff funktionaler Religiosität selbst stark diskutiert wird, ist an diese Diskussion anzuschießen, um eine stringente Deutung geben zu können. Eine solche ist wesentlich davon abhängig, in welcher Weise funktionale Religiosität definiert wird; es ist eine Frage, ob z. B. die Formulierung ,weltliche Religiosität' weiterführt15, da zuvor das Verhältnis von .Welt(lichkeit)' und .Religiosität' geklärt sein müsste. Es bedarf einer religionswissenschaftlich fundierten Begriffsbestimmung, die sowohl dem spezifisch philosophischen Gebrauch religiöser Termini bei Nietzsche gerecht wird, als auch seiner entschiedenen Kritik an Vorstellungen und Praktiken, die er ausdrücklich in einem religiösen Kontext sieht und als solche zurückweist.16 Gewiss aber ist Nietzsches Wiederkunftslehre keine Religion im substantiellen Sinn, wie es die traditionellen Religionen sind; dies unterscheidet ihn wesentlich von den Religionsstiftern, die allesamt zwar auch Religionskritiker (darin ist Nietzsche mit ihnen vergleichbar) waren; aber anstelle der traditionellen Religion (Buddha: vedisch-brahmanische Religion; Jesus: jüdische Religion; Mohammed: arabische Stammesreligion) haben sie eine neue Religion mit teils anderen Inhalten, jedenfalls in einer neuen Gesamtdarstellung, gebracht bzw. gaben den Anstoß dazu. Die Abgrenzung trifft auch und gerade, wie aufgezeigt wurde, für Zarathustra als Religionsstifter zu.
13
14
Dazu: Johann Figl, „Einleitung", in: Handbuch Religionswissenschaft, hg. von dems., Innsbruck/Göttingen 2003, bes. 65-68. Dazu: J. Lippitt/J. Urpeth (Hg.), Nietzsche and the Divine, Manchester 2000; R. Okochi, Wie man
was man ist: Gedanken zu Nietzsche aus östlicher Sicht, Darmstadt 1995, bes. 65ff. Dazu: M. Skowron, „Nietzsches weltliche Religiosität und ihre Paradoxien", in: Nietzsche-Studien 31 (2001) 1-39, bes. 37f. Ein Versuch in dieser Richtung wird in meiner in Ausarbeitung befindlichen Studie Nietzsche und die Religionswissenschaft (Arbeitstitel) vorgelegt werden (voraussichtlich 2005).
wird, 15
16
Hans-Martin Gerlach
Nietzsche im linken und rechten Zerrspiegel
„Das eine bin ich, das Andere sind meine Schriften"
so bemerkt Friedrich Nietzsche im ersten Satz jenes Abschnittes seines Ecce homo, welcher mit der uns eigenartig anmutenden Überschrift Warum ich so gute Bücher schreibe gekennzeichnet ist (KSA, EH, 6, 298). Er setzt, selbsterkennend und hoffend, aber selbsterkennend mit den inneren seelischen Nadelstichen, fort: „Ich selbst bin noch nicht an der Zeit. Einige werden posthum geboren" (ebd.). Jedoch, so seine Überzeugung, „irgendwann wird man Institutionen nötig haben, in denen man lebt und lehrt, wie ich leben und lehren verstehe: vielleicht selbst, daß man dann auch einige Lehrstühle zur Interpretation des Zarathustra errichtet" (ebd.), denn nach seiner Überzeugung wäre es im vollkommenen Widerspruch zu ihm stehend, wenn man heute, das war 1888, bereits Ohren und Hände für seine Wahrheiten erwarten würde. Aber er sieht dabei auch die .Wirkungslosigkeit' und das Nichtverstehen seiner Wahrheiten wohl ausnehmlich auf Deutschland, „Europas Flachland", wie er bemerkt, beschränkt, denn im Ausland vermeint er seine Leser, ausgesuchte Intelligenzen, „wirkliche Genies", schon zu erkennen: „In Wien, in St. Petersburg, in Stockholm, in Kopenhagen, in Paris und New York", überall sei er schon „entdeckt", nur nicht in der „flachen" Heimat (ebd., 301). Nietzsche hatte zweifelsohne recht, wenn er diese Feststellung traf; er hatte auf seine Weise recht, wenn er die Vision von Institutionen hatte, die einmal auf Lehrstühlen den Zarathustra interpretieren würden. Aber zugleich war damit in ihm jene bohrende Unruhe, die sich bis zur „erschrecklichen Angst" steigerte, dass man auf diese Art ihn „eines Tages heilig" sprechen könnte, um mit ihm „Unfug" (ebd. 365) zu treiben. Es gäbe nichts Verlogeneres als jenes Heiliggesprochen werden. Dann wollte er schon lieber ,Hanswurst' sein. Nietzsche schien in seinen Spätwerken all das vorauszuahnen, was dann wirklich geschah, in der Philosophie als auch in der Kunst, der Literatur und allgemein in der Politik. Er wurde entweder heilig gesprochen oder verteufelt; die wenigsten sahen ihn als .Hanswurst', d. h. als jenen ,Narren' (eventuell im Shakespeareschen Sinne), der den Mächtigen dieser Welt (als großen Individuen oder als alles bestimmende Masse) die Wahrheiten frei und offen sagte, die keine verkappten Lügen mehr waren. Seine Formel -
Hans-Martin Gerlach
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dabei:
,Umwertung aller Werte', es war eine Formel für einen Akt höchster Selbstder besinnung Menschheit, wie er meinte. Der große Prozess der Nietzsche-Rezeption, der bis auf den heutigen Tag nicht aufgehört hat zu wirken, von dem ich befürchte, er erhält durch jedwede Jubiläen, wie wir sie verschiedentlich begehen, neues Futter, setzte auf den angedeuteten Gebieten kurz vor und nach dem geistigen Ende des Meisters ein. Eigentlich genau auf die Art und Weise, wie er es befürchtet hatte. Nach den ersten wüsten Beschimpfungen gegen den anstößigen und anstoßenden Philosophen, der angeblich jegliches Rauben und Morden in seinem Werke rechtfertigte und der die Bestie im Menschen hochleben ließ, so Hermann Türck in seiner in den 90er Jahren sehr verbreiteten Arbeit Nietzsches philosophische Irrwege^ und der intellektuell vornehmer gehaltenen Zurückweisung seiner philosophischen Denkkonstruktion durch die offizielle ,Philosophenzunft' (Eduard von Hartmann charakterisiert z. B. sein Denken als „wahnsinnige Selbstvergötterung"2 und Wilhelm Windelband bezeichnet ihn als einen „nervösen Professor, der gern ein wüster Tyrann sein möchte"3) begannen sich jedoch auch erste zarte Pflänzchen einer Nietzsche-Verehrung und einer sachbezogenen Rezeption abzuzeichnen, die teilweise schon zu Nietzsches Lebzeiten vor seiner geistigen Umnachtung vollzogen wurden, von denen er wohl auch persönlich nicht unbeeindruckt blieb, wenn wir an seine Reaktion auf Georg Brandes' hochherzige Einschätzung der Nietzscheschen Philosophie als eines aristokratischen Radikalismus' denken. Es sei, so Nietzsche in einem Antwortbrief an Brandes, das „gescheuteste Wort, das ich bisher über mich gelesen habe" (Brief vom 04. 01. 1889, KSB, 8, 573). Es gab darüber hinaus auch erste ernstzunehmende Anzeichen für den Versuch einer wirklich analytisch-kritischen Bewertung seines Denkens aus seinen historischen Quellen, seinen inneren Problementwicklungen und dem Zeitgeist heraus, wie sie sich in Georg Simmeis Aufsatz Friedrich Nietzsche. Eine moralphilosophische Silhouette in der Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 1895 abzeichnete. Anhängern wie Gegnern von Nietzsches Denken wirft Simmel vor, dass sie ihn ob seiner „kopernikanischen Tat" auf moralphilosophischem Gebiet, (das Individuum erhält seine Würde nicht über den Umweg des Allgemeinen, sondern besitzt sie durch sich selbst), nicht wirklich verstanden haben, weil sie ihn in jeder Hinsicht „von der Kontinuität des menschlichen Geisteslebens" abgetrennt und aus ihm eine „intellektuelle Causa sui" gemacht hätten, die jenseits aller historischen Bezüge läge, während er hingegen „erst in der Einordnung in diese den Platz findet, den er behalten wird, wenn er überhaupt einen behält".4 Was den letzten nachdenklichen Halbsatz Simmeis bezüglich Nietzsches Platzhalterschaft und Nachwirkung anbetrifft, so hat das 20. Jahrhundert gezeigt, dass er der deutsche Denker und Philosoph der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war, der neben Immanuel Kant, Johann Wolfgang von Goethe, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und war
4
Dazu: Hermann Türck, Nietzsches philosophische Irrwege, Dresden 1891. Dazu: Eduard von Hartmann, „Nietzsches ,neue Moral'", in: Preußische Jahrbücher, 67. Jg., Bd.5, Berlin 1899. Wilhelm Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, Tübingen 1921, 566. Georg Simmel, „Friedrich Nietzsche: Eine moralphilosophische Silhouette", in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, 107. Bd., 1. Heft, Leipzig 1895, 202.
Nietzsche im linken und rechten Zerrspiegel
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Karl Marx auf das Nachhaltigste das philosophische, geistige, kulturelle und politischideologische Leben und Werden nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa, ja der ganzen Welt wesentlich mitbestimmen sollte. Entsprechend war die sprunghaft zunehmende Rezeption seiner Gedanken durch Philosophen, Wissenschaftler, Literaten, Musiker, Künstler jeglichen Genres sowie vor allem auch von Politikern, die ,ihren' Nietzsche zu ,entdecken' und sogleich auch zu ,verraten' begannen. Waren es in der Frühzeit (zwischen den ausgehenden 80er und in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum Ende des I. Weltkrieges) vornehmlich einzelne philosophische Positionen und Teilstücke seines Denkens, denen sich philosophische und sonstige Anhänger oder Gegner zugewendet haben und heftig darüber stritten, (man solle in diesem Zusammenhang auch auf das stürmische Auf und Ab der Editionsgeschichte blicken, denn Rezeptions- und Editionsgeschichte weisen gerade im ,Fall Nietzsche' äußerst enge Beziehungen auf), so begann in den 20er Jahren eine zweite Etappe der Nietzsche-Rezeption, die auf philosophisch-theoretischem Gebiet stark dadurch charakterisiert ist, dass Denker wie Karl Jaspers, Martin Heidegger, Walter Kaufmann, Karl Löwith, aber auch Alfred Baeumler oder Georg Lukács von ihren philosophischen und weltanschaulichen Positionen aus eine Interpretation des Nietzscheschen Gesamtschaffens vorzunehmen suchten. Parallel dazu lief aber noch etwas anderes, ein Prozess politisch-ideologischer .Instrumentalisierung', und als Gegenstück dazu, der einer Verteufelung des deutschen Denkers auf dem Boden politischer Weltanschauungsbildung und Ideologie, der nur funktionieren konnte, weil vorgeprägte Idole und Masken, an deren Zustandekommen das Nietzsche-Archiv (mit Elisabeth Förster-Nietzsche) wesentlich beteiligt war, vorhanden waren, die sich in den ideologischen Meinungsbildungsprozess hervorragend einbringen ließen. Erst seit den 60er Jahren, editorisch gestützt vornehmlich durch die Kritische Gesamtausgabe Giorgio Collis und Mazzino Montinaris sowie ihrer Mitstreiter, war eine neue und, wie wir jetzt schon bemerken können, wohl nicht die letzte Epoche einer ungeheuer vielfältigen Welle einer Nietzsche-Rezeption angebrochen, die sich einerseits durch eine akribische Nietzsche-Philologie auszeichnet und in immer feinere Kapillaren des Denkkosmos des ,Meisters' vordringen lässt, die andererseits aber auch einen sehr freien Umgang mit seinem Denken zeigt, bei welchem man teilweise mit Versatzstücken arbeitet und so eigene theoretische Positionen fundiert bzw. beliebig auslegt und erweitert. Man denke nur an die verschiedenen Richtungen der Existenzphilosophie, an die Hermeneutik, die Kritische Theorie oder die breite und oft recht diffuse Bewegung der Postmoderne. Im Folgenden soll aber nicht so sehr diese Linie einer mehr oder weniger akademisch angelegten Nietzsche-Rezeption eine Rolle spielen, sondern mit Blick auf die Thematik gegen die Verlogenheit von Jahrtausenden", will ich mich den Versuchen einer Verarbeitung bzw. Zurückweisung Nietzscheschen Gedankenguts in den wesentlichen politischen Ideologien des ausgehenden 19. und des 20. Jahrhunderts zuwenden. Dies wird notgedrungen fragmentarisch sein. Zunächst muss man den .Meister' selbst befragen, was er für ein Verhältnis zur Politik hatte. Ich weiss nicht, ob man sich auf den Kyniker Anthistenes von Athen berufen kann, der auf die Frage, wie er sich zur Politik verhalte, antwortet: „Wie zum Feuer: nicht zu nahe heranstellen, damit man nicht anbrennt; nicht zu ferne bleiben, um nicht „
...
100
Hans-Martin Gerlach
frieren."5 Nietzsches Verhältnis zur Politik ist gleichfalls ein zwiespältiges, ambivalentes; einerseits behauptet er „der letzte antipolitische Deutsche zu sein" (KSA, 14,
zu
472); andererseits ist uns jener überhoben klingende Satz aus Ecce homo im Ohr, mit dem er behauptet, dass es erst von ihm an „auf Erden große Politik"( KSA, EH, 6, 366) gäbe und es das nächste Jahrhundert, das zwanzigste, sei, welches den Kampf um die Endherrschaft, den Zwang zur großen Politik hervorbringe, wie er die offenbar von ihm erkannten imperialen Züge seines Zeitalters in die politische Wirklichkeit eines neuen Jahrhunderts hinein projizierte. Dieses furchtbare Jahrhundert mit seinen verheerenden
Weltkriegen, den Jahrhundertkatastophen des Holocausts und der Atombombenabwürfe, welches sich darüber hinaus zweimal am Kern der Dinge vergriff, dem Atomkern und dem Zellkern, welches in der Überleitung in ein neues Jahrhundert noch viel größere Katastrophen anzudeuten vermag, hat in seiner Realität jene Haltung Nietzsches in seiner späten Schaffensphase bezüglich des Blicks auf das Politische auf grausamste Weise bestätigt. Die Zeit für .kleine Politik' in jeglicher Form europäischer .Kleinstaaterei' scheint endgültig durch diesen Gang der Weltgeschichte vorbei zu sein. Dennoch hatte er persönlich zum politisch-praktischen Geschehen seiner Zeit ein eher distanziertes Verhältnis. Sein überzogener Individualismus und seine Ablehnung des Massenhaften (Politik in ihrer durchgreifenden Wirksamkeit beginnt aber dort, wo Massen bewegt werden) ließen ihn diese Haltung einnehmen. Erst die Aktivitäten des Nietzsche-Archivs, besonders die Elisabeth Förster-Nietzsches, sollten die Weichen zum doppelgleisigen Missbrauch stellen. Doppelgleisig insofern, als mit ihrer eigenen rechtsorientierten, nationalistischen, antidemokratischen und antisemitischen Deutung
des Schaffens ihres Bruders und der darauf aufbauenden hemmungslosen Ausbeutung des Nietzscheschen aphoristischen Denkens durch politische Bewegungen, die von deutschnationaler bis zu nationalsozialistischer und faschistischer Programmatik reichte, sich zugleich die Gegenposition vornehmlich linksorientierter, von linksliberalen über sozialdemokratisch-sozialistischen bis zu kommunistischen Bewegungen reichenden Abwehrfront gegen Nietzsche herausbildete, die gleichfalls über weite Strecken einen Zerrspiegel Nietzeschen Schaffens darstellte, den insofern die deutsche und internationale Rechte von ihren Standorten aus mit produzierte, weil man die selbst fabrizierte Maske des Denkers für dessen geistige Realität ausgab. Dabei war die FörsterNietzsche selbst bemüht, ihren Bruder zeitweise aus konkretem parteipolitischem Gezänk' herauszuhalten. Das zeigt ihr Vorwort zu dem von ihr 1922 herausgegebenen Sammelband Nietzsche Worte über Staaten und Völker: „Hier und da wird sich der Parteimann freuen, denn er findet Bemerkungen, die ganz nach seinem Herzen sind aber, aber einige Seiten später findet er, dass Nietzsche dieselbe Sache auch von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus betrachtet. Nicht umsonst hat mein Bruder oft gesagt, daß jede Sache, jedes Erlebnis nicht nur zwei, sondern vier bis fünf verschiedene Seiten habe. Nein, er war kein Parteimann, oder, wenn er eine Partei hätte gründen können, so wäre es die der unabhängigen vornehmen Seelen gewesen, die er in allen Ständen gefunden hat [...] Aber die vornehmen, unabhängigen Seelen bilden keine Parteien, denn diese sind immer Einzelne, die das Fürsichsein lieben."6 Diese betonte Unschuld der -
-
5
6
Wilhelm Nestle, Die Sokratiker, Jena 1922, 89. Elisabeth Förster-Nietzsche, Nietzsche Worte über Staaten und Völker, -
Leipzig 1922, 7f.
Nietzsche im linken und rechten Zerrspiegel
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Parteilosigkeit Nietzsches hinderte sie jedoch nicht daran, mit ihrer Editionspolitik und ihrem Streben, das Archiv zum geistigen Zentrum einer ,dritten Weimarer Klassik' und eines Nukleus für die konservative Wiedergeburt der deutschen Nation aus dem Geiste eines von ihr in einem rechten Zerrspiegel zurecht gestutzten Nietzsche werden zu lassen. Als das freilich nur äußere Zeichen einer solchen Haltung gelten immer noch jener Handschlag, mit welchem sie Adolf Hitler bei dessen Besuch in der Villa Silberblick begrüßte und ihm als Geschenkgabe den Spazierstock ihres Bruders überreichte oder jenes Telegramm des Archivs anläßlich des 50. Geburtstages Benito Mussolinis 1933, in welchem das Archiv, sprich Förster-Nietzsche, hervorhebt, dass er der „geniale Wie-
dererwecker aristokratischer Werte in Nietzsches Geist"7 sei. Es waren aber nicht nur diese äußeren Zeichen eines Anpassungsversuches des Archivs mit einem zurechtgestutzten Nietzsche an die faschistische bzw. nationalsozialistische Bewegung. FörsterNietzsche hatte sich schon nach dem Untergang des deutschen Kaiserreiches auf die Seite nationalistisch-konservativer Kreise gestellt. In seiner Tagebucheintragung vom 20. Juli 1922 bemerkt Harry Graf Kessler: „Sehr unerquickliches politisches Gespräch, das sie herbeiführte, indem sie sagte, sie fürchte für mein Leben von Seiten der Bolschewiki, die ja auch Rathenau hätten ermorden lassen", was für Kessler ein „absurder Unsinn" sei, der von Erich Ludendorff käme. Für Förster-Nietzsche steht die Behauptung aber als Tatsache fest, auch wenn Kessler feststellt: „Man schämt sich, solche Absurditäten widerlegen zu müssen. Die gute alte Dame spricht von den Rechtsradikalen nur als ,Wir'"8. In einer Eintragung vom 15. Mai 1925 verweist er darauf, wie Förster-Nietzsche davon überzeugt ist, dass nur ein Paul von Hindenburg die Verhältnisse in Deutschland zu konsolidieren' vermöge: „Der widerwärtige Eindruck, den die Verbindung von ,Garten-Lauben-Militarismus' mit engstirnigem Generalstäblertum bei Frau Förster-Nietzsche heute nachmittag machte, dauert fort."9 Es ist eine lange politischideologische Kontinuitätslinie, die durch den Geist Förster-Nietzsche und den des Archivs geht, der als rechts-konservative Interpretationsmaschinerie bezüglich des Nietzscheschen Werkes gilt und der mehr und mehr in faschistisches und nationalsozialistisches Fahrwasser gleitet. Andererseits gibt es auch außerhalb des Archivs ein entsprechendes Interesse rechter Kreise, sich direkt des Nietzscheschen Denkens zu bedienen, um entsprechende politische Strategien weltanschaulich-ideologisch mit Versatzstücken aus Nietzsches ,Gedankensteinbruch' zu fündamentieren. Typisch ist dafür das Verhalten Mussolinis, denn ehe die deutschen Nationalsozialisten Nietzsche als einen ihrer angeblichen .Ahnherren' zu entdecken begannen, hatte dies schon die italienische faschistische Bewegung mit Mussolini an der Spitze getan. Mussolini, vor dem I. Weltkrieg Sozialist und Direktor des Zentralorgans der PSI Avanti, dessen politisches und geistiges Vorbild Marx war, versuchte, besonders unter dem Eindruck der Fronterlebnisse im Krieg, eine geistige Symbiose zwischen Marx' Klassenkampf und Nietzsches Übermenschen herzustellen. In seinem wesentlich anarchosyntikalistischvoluntaristisch fundierten Konzept eines Kampfes gegen den Reformismus der II. Internationale und damit seiner eigenen sozialistischen Partei erhoffte er sich, dass auf dieser
Krummel, Nietzsche und der deutsche Geist, Bd. Ill, Berlin/New York 1998, 472. Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918-1937, Frankfurt/M. 1961, 331.
Dazu: Richard F. 8 9
Ebd., 443.
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Basis eine proletarische Elite heraufkommen sollte, die in ihrer Dynamik wesentlich über eine nur statische Masse hinauszugreifen in der Lage war. Hier sind Ähnlichkeiten bezüglich der Diskussion des Verhältnisses bestimmter Kreise der deutschen Sozialdemokratie zu Nietzsches Denken in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts festzustellen. Kurt Eisner, der spätere Führer der bayerischen Räterepublik nach Kriegsende 1918, hat schon 1892 in seinem Buch Psychopathia spiritualis. Friedrich Nietzsche und die Apostel der Zukunft diesen Einfluss festgestellt: „Der Einfluß Nietzsches hat nicht nur eine Anzahl literarischer Anhänger der Sozialdemokratie dieser Fahne abwendig und zu poetischen Anarchisten gemacht, er hat auch [...] jene eigenartige Gruppe der Jungen' geschaffen, die unter Führung Bruno Willes den Zorn und die Macht Bebeis unlängst zu kosten hatten."10 Es war dies der so genannte Friedrichshagener Kreis in der Berliner Sozialdemokratie, die jungen Wilden, die eine neue Partei gründen wollten, eine Partei der ,Sozialindividualisten', die eine Individualisierung des Arbeiters' forderten, die in Nietzsches Individualethik ihr Vorbild fanden. Man wollte mit Nietzsche über den Sozialismus der deutschen Sozialdemokratie als führender Kraft der II. Internationale hinausgehen in einen „Anarchismus der Auserwählten".11 Den aber konnte sich die Sozialdemokratische Partei nicht bieten lassen und also wurden die ,Jungen' aus der Partei ausgeschlossen. Franz Servaes, ein von Nietzsche überzeugter Berliner Universitätsprofessor, der diesem Kreis zugeneigt war, formulierte in der von Otto Brahm 1890 in Berlin gegründeten Freien Bühne für modernes Leben, dass diese Gruppierung sich zu einem „revolutionären Individualismus" bekannte und sich strikt gegen politische Strukturen wandte, die eine Selbständigkeit des Geistes verhinderten. Jugendlichkeit, Eroberungslust und Hoffnungsfreudigkeit im Kampf gegen Verzagtheit und gegen die alte morsche Gesellschaft sei ihr Programm einer echten sozialistischen Aufbruchsstimmung. Und hier sieht Servaes, wie später Mussolini, Berührungspunkte zwischen Nietzsches Denken und einem solchen Programm der Sozialisten. Hier müsse nun „der Nietzscheanismus in den Sozialismus" einschlagen. „Nietzsche und der Sozialismus", obwohl Ströme, die von einem jeweils anderen Ende kommen und sich nur mit „widerwilligem Zischen" vereinigen, „beide sind sie revolutionär und zukunftsträchtig".12 Ähnliches schien Mussolini (unter dem Eindruck der Schlachten des I. Weltkrieges) auch zu sehen und strebte zunächst eine Vereinigung beider Prinzipien an, ehe er sich von dem einen, dem marxistischen verabschiedete und das andere in seine politisch-ideologische Programmatik einzuarbeiten begann. In seinem Aufsatz Mussolini und Nietzsche. Ein Beitrag zur Ethik des Faschismus schreibt Max Oehler Ende der 20er Jahre13, Mussolini zitierend, dass dieser von „dem Nietzscheschen Grundton" in dessen Schriften ausgehe, da diese einen „tiefen Eindruck" auf ihn gemacht haben und ihn „vom Sozialismus kuriert" hätten. Positiv Kurt 11 12
13
Eisner, Psychopathia spiritualis. Friedrich Nietzsche und die Apostel der Zukunft, Leipzig
1892,87. Ebd., 88. Franz Servaes, „Nietzsche und der Sozialismus. Subjektive Betrachtungen", in: Freie Bühne 3. Jg., Berlin 1892,88. Die Datierung entnehme ich einer Aussage Ursula te Elisabeth Förster-Nietzsches.
Sigismunds, der Tochter Max Oehlers und Nich-
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aber habe auf ihn Nietzsches Position des ,Lebe gefährlich' gewirkt, denn, so Mussolini: „Ich habe damals gehandelt."14 In der Doktrin des Faschismus von 1932 betont er, dass die „geistige[ ] Grundhaltung" der Faschisten ein eigenbrötlerisches Leben unterdrücken soll und auf ein „höheres Leben in Freiheit" setzt, „das alle räumlichen und zeitlichen Gebundenheiten überwindet: ein Leben, in dem das Einzelwesen durch Selbstverleugnung, durch den Verzicht auf seine Sonderinteressen, ja selbst durch den Tod, jene reine geistige Existenz verwirklicht, in der die wahre Menschenwürde beruht".15 Dies sieht Mussolini als „Lebenskampf, zu dem er auch von Nietzsche angeregt worden ist, denn er „faßt das Leben als Kampf auf, da es nach seiner (des Faschismus HMG) Ansicht die Sache des Menschen ist, sich selbst zu erobern, wenn er sich seiner würdig erweisen will. Zunächst hat er in sich selbst das physische, moralische und geistige Werkzeug zu erschaffen, mit dem er sein Leben einrichtet."16 Darauf zielt auch jenes Telegramm des Nietzsche-Archivs anlässlich des 50. Geburtstages des Duce 1933, in dem er als genialer Wiedererwecker der aristokratischen Werte in Nietzsches Geist gefeiert wird und er in seiner Antwort die Förster-Nietzsche lobt, „den Geist Ihres des Nationalgroßen Friedrich" zu hüten.17 Im Vergleich zu Mussolini war den Führern sozialismus Nietzsche „so gut wie fremd", wie Montinari bemerkt. 18 Zwar war man äußerlich bemüht, mit Nietzsche zu poussieren (Archivbesuch, Gedenkhalle) und bemühte sich, ihn nominell in die Ahnengalerie des Nationalsozialismus einzuordnen, so wenn Alfred Rosenberg, der als Weltanschauungsbildner' des Nationalsozialismus galt, in seiner Rede zum 100. Geburtstag Nietzsches am 15. Oktober 1944 in Weimar auf den angeblich engen Bezug zwischen dem Nationalsozialismus und den Philosophen zu verweisen sucht, weil beide gegen den übrigen Teil der Welt ankämpfen müssen: „In einem wahrhaft geschichtlichen Sinne steht die nationalsozialistische Bewegung als ganzes heute vor der übrigen Welt, wie Nietzsche als einzelner einst vor den Gewalten seiner Zeit."19 Diese waren Liberalismus, Plutokratie, Parlamentarismus, Demokratie und Marxismus. An Stelle der marxistischen Idee des Klassenkampfes „führte er das Verhältnis zwischen Soldaten und Führer an, das immer noch anständiger und besser sei als das damalige Verhältnis von Arbeitgeber und Arbeitnehmer."20 Selbst die Vorahnung marxistischer Diktatur, „die wir als Todfeind aus Moskau gegen uns anmarschieren sehen", war für Rosenberg schon bei Nietzsche „eindeutig geweissagt", wenn er diesen angeblich zitiert: „Der Marxismus braucht die alleruntertänigste Niederwerfung aller Bürger vor dem unbedingten Staat, wie niemals etwas gleiches existiert hat."21 Merkwürdig oder eher typisch für eine solche gewaltsame, alles verzerrende -
,
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15 16 17 18 19
20 21
Max Oehler, „Mussolini und Nietzsche. Ein Beitrag zur Ethik des Faschismus", Goethe-SchillerArchiv, (GSA) 100/ 1187, 1. Benito Mussolini, Schriften und Reden 1932-1933, Zürich 1935, 62. Ebd., 63. Dazu: Richard F. Krummel, Nietzsche und der deutsche Geist III, 472. Mazzino Montinari, Nietzsche lesen, Berlin/New York 1982, 169. Alfred Rosenberg, „Friedrich Nietzsche. Ansprache des Reichsleiters und Reichsministers A. R. bei der Nietzsche-Gedenkstunde zu seinem 100. Geburtstag am 15. Oktober", GSA/ZAS/ S 1944, 28. Ebd., 18f. Ebd., 19.
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Interpretation ist, dass in einem angeblich wörtlichen Zitat Nietzsche vom Marxismus spricht, den er als solchen nicht kannte und wohl auch nie in den Mund nahm.22 Es kam
nie auf das Wort und dessen Sinn an, es kam auch nicht darauf an, ob es diese Stelle bei Nietzsche überhaupt gibt; Nietzsche wurde zurechtgebogen, wo man ihn brauchte und verschwiegen dort, wo er unpassend war, z. B. hinsichtlich seiner Kritik am Antisemitismus. Man bediente sich seines Antisozialismus genauso wie man seine Kritik am Nationalismus des Bürgertums des 19. Jahrhunderts aufgriff, um über beide hinweg die Nietzschesche Idee des ,guten Europäers' zu beschwören, die im nationalsozialistischen Kampf gegen alle Feinde Europas kulminiert, weil allein „das nationalsozialistische Deutschland dieses alte Europa"23 noch verteidigt. Auf dieser Basis wird in den Schlusssätzen der Rede die Ahnherrschaft Nietzsches für den Nationalsozialismus betont; Rosenberg behauptet dort: „Nach Abstreifung alles Zeitbedingten und auch allzu Menschlichen steht diese Gestalt heute geistig neben uns, und wir grüßen ihn über die Zeiten hinweg als einen Nahe-Verwandten, als einen geistigen Bruder im Kampf um die Wiedergeburt einer großen deutschen Geistigkeit, um die Gestaltung eines großräumigen Denkens und als Verkünder einer europäischen Einheit, als Notwendigkeit für schöpferisches Leben unseres alten, sich heute in einer großen Revolution verjüngenden
Kontinents."24
Soviel hatte Rosenberg in seiner Weltanschauungsschrift Der Mythos des 20. Jahrhunderts nicht über Nietzsche geschrieben wie in dieser ,Geburtstagsrede' kurz vor dem militärischen und politischen Ende der NS-Diktatur. Hier wurde Nietzsches Werk in einer Kampfideologie vermarktet, in der Nietzsche-Zitate und biographische Begebenheiten wie Bebilderungen in einen vorgestanzten ideologisch-politischen Rahmen eingepreßt wurden. Im Mythos des 20. Jahrhunderts war ihm sogar Nietzsches Individualitätsdenken fremd: „Die stärkste Persönlichkeit ruft heute nicht mehr nach Persönlichkeit, sondern nach Typus."25 Dem Rosenbergschen Klassizismus-Kult müsste auch das Diogenes-Konzept des jungen Nietzsche als „etwas rassisch und seelisch Fremdes" erscheinen, weil dieser Kult aus dem Osten des Mittelmeerraumes stammte. Nietzsche war, hier bestand für den nationalsozialistischen Zerrspiegel das Problem, nicht ohne weiteres passgerecht in die ,Ahnengalerie' des Nationalsozialismus einzuordnen, da in ihr auch ,Bilder' jener hingen, die eingeschworene Gegner Nietzsches waren: Paul de Lagarde, Richard Wagner, Houston St. Chamberlain. Aber das war nicht das vordergründige Problem. Bedeutsamer waren inhaltlichen Probleme, die die Differenzen wesentlicher aufscheinen ließen, die darauf aus waren, beim Herausheben der Gemeinsamkeiten auch die Differenzen scharf zu betonen, wie es z. B. ein Ideologe des Nationalsozialismus, Heimich Härtle in seinem Buch Nietzsche und der Nationalsozialismus tat, das 1937 im Parteiverlag der NSDAP erschien und geradezu ein ,Kathechismus' dafür war, wie im Nationalsozialismus Nietzsche zu lesen sei; es war nach Aussaes im Index-Band der Nietzsche-Ausgabe von Karl Schlechts nur einen Adolf Bernhard sich mit Ludwig van Beethovens Leben und Werk beschäftige. der Marx, Alfred Rosenberg, „Friedrich Nietzsche. Ansprache des Reichsleiters und Reichsministers A. R. bei der Nietzsche-Gedenkstunde zu seinem 100. Geburtstag am 15. Oktober", 27. Ebd., 30. Alfred Rosenberg, Der Mythos des 20. Jahrhunderts, München 1935, 22.
So
gibt
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gen des Autors notwendig, „Nietzsches politische Gedankenwelt und den Nationalsozialismus scharf abzugrenzen, Verwandtschaft und Gegensatz klarzustellen."26 Das betrifft vor allem den Nietzscheschen ,Anti-Antisemitismus' oder die Sozialismuskritik, da man im eigenen Programm auf einen nationalen Sozialismus setzte, der auch im Gegensatz zum Individualismus Nietzsches stand. Dieser Individualismus sei nur die unterste Lebensform, die höchste sei die Rangordnung, und die sah man wiederum besonders im Schaffen des späten Nietzsche verwirklicht. Eine solche vordergründige politisch-ideologische Vermarktung kann man sich nicht generell leisten, zumindest nicht im universitären Bereich. Hier lieferte der Lehrstuhlinhaber des Lehrstuhls für .politische Pädagogik' und Amtsleiter im Amt Rosenberg, der zweifelsohne ein bedeutsamer Kant-Forscher in den 20er Jahren und ein guter Bekannter Thomas Manns war, Alfred Baeumler, die entsprechende intellektuelle Lesart. Mit seiner Edition der Kröner-Ausgabe27 schuf er eine massenwirksame Basisvoraussetzung für eine ,gehobenere' Nietzsche-Rezeption im Nationalsozialismus, die er in seinem schon 1931 erschienenen Buch Nietzsche der Philosoph und Politiker entwickelte und in späteren Arbeiten, so in seinem richtungweisenden Artikel: Nietzsche und der Nationalsozialismus aus dem Jahre 1934 ausbaute. Grundlegend sind dabei die Positionen des .heroischen Realismus', der nach Baeumlers Meinung den Philosophen Nietzsche charakterisiert, und der alle starre Seinsmetaphysik zugunsten einer Welt des dynamischen Werdens aufhebt und der seinen ,Heraklitismus' ausmacht. Jeglichen Logizismus verpönend, kritisiert Baeumler die .Hinter-Weltler' (Christentum und Piatonismus) und setzt erkenntnistheoretisch auf die Macht der Sinne. Der .Politiker' Nietzsche wird charakterisiert in seiner Gegnerschaft zum modernen Nationalstaat in Form von bürgerlichen Demokratien oder auf die Gleichheit setzenden sozialistischen Staaten. Für Nietzsche wird in Baeumlers Sicht das .Germanische' bedeutsam, was eine weitere nationalsozialistische Lesart des ,guten Europäers' ist. Während die bürgerliche Gesellschaft auf das Bedürfnis nach Frieden und Sicherheit setzt, was zu einer „matten Menschheit" führe, die „zeitweiliger Rückfalle in die Barbarei"28 bedarf, setzt die neue rechte Nietzsche-Interpretation auf dessen ,große Politik', die als ihr vorantreibendes Moment „das Bedürfnis des Machtgefühls" besetzt und gegen das Mittelmäßige in der Politik nur „die Gefahr und den Krieg"29 kennt. Während Baeumler noch im 1931er Nietzsche-Buch darauf wartet, dass ein „neues Europa" bald „einen großen Staatsmann hervorbringen" möge, der als „der große Realist gefeiert wird"30, so hatte er ihn 1934 in seinem Grundsatzartikel Nietzsche und der Nationalsozialismus nominell festgehalten Adolf Hitler: „Übertragen wir diese Stellung Hitlers gegenüber der Republik von Wei-
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Heinrich Härtle, Nietzsche und der Nationalsozialismus, München 1937, 5. Sie, die weiland in enger Zusammenarbeit mit dem Nietzsche-Archiv und seiner Leiterin entstanden ist, hat bis heute ungebrochen alle Zeitereignisse und Ergebnisse der Nietzsche-Forschung überstanden. Alfred Baeumler, Nietzsche Ebd., 172. Ebd., 173.
der Philosoph und Politiker, -
Leipzig 1931,
171.
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auf den einsamen Denker des 19. Jahrhunderts, dann haben wir Nietzsche."31 Es ist für ihn klar, dass, wenn wir der „Jugend zurufen: Heil Hitler! so grüßen wir mit diesem Rufe zugleich Friedrich Nietzsche".32 Damit war der Höhepunkt der nationalsozialistischen Verzerrung von Nietzsches Gedankengut erreicht, die nicht nur das Machwerk machtgieriger NS-Führer oder verblendeter Parteiideologen mittlerer Ebene waren; auch bedeutende Theoretiker (Baeumler war auf Grund seiner theoretischen Vergangenheit zweifelsohne ein solcher) hatten ohne intellektuelle Redlichkeit ihr Schärflein zur politisch-ideologischen Weltanschauungsvermarktung Friedrich Nietzsches geleistet. Gegen diese und gegen die sich in aller intellektuellen Unschuld wiegenden Repräsentanten der deutschen bürgerlichen Intelligenz, vornehmlich im philosophischgeistigen Raum, wendet sich nach 1945 ein Großteil der deutschen (und nicht nur der deutschen) Linken, die sich dezidiert gegen den so kompromitierten und sich offenbar selbst kompromitiert habenden Nietzsche vehement wendeten. Lukács Zerstörung der Vernunft ist das Gegenstück in der linken Ablehnungsfront gegen die weltanschaulichideologische Vermarktung im rechten Zerrspiegel. Man macht es sich zu einfach, wenn man, getreu dem Heideggerschen Satz, den er in seinem Humanismusbrief gegen JeanPaul Sartres Philosophie geschrieben hat, dass auch die Umkehr eines metaphysischen Satzes ein metaphysischer Satz bleibe, nunmehr in Lukács nur das linke ideologische Zerrbild eines rechten sehen würde, wenngleich dieser Bezug nicht ausgeschlossen ist und Lukács sogar selbst darauf insistiert. Seine Arbeit ist tatsächlich ein Abschluss einer bestimmten linken Nietzsche-Rezeption, die innerhalb der deutschen Sozialdemokratie mit Franz Mehrings historisch-materialistischer Kritik an Nietzsche beginnt, die ein ziemlich einseitig klassenideologisches verankertes Fundament hat und Nietzsche vornehmlich als „Philosophen des Kapitalismus" sieht, der für ihn aber „nicht nur der Herold sondern auch das Opfer des Großkapitals" ist, dessen „fein und reich angelegter Geist" mit „Abscheu und Grauen das grenzenlose Elend" empfand, welches „der Kapitalismus schafft".33 Dies war auch die Linie führender Theoretiker der II. Internationale der Sozialdemokratie, wie Karl Kautsky und G. W. Plechanow sowie linker Intellektueller wie Julius Duboc, Franz Tönnies oder der junge Paul Ernst. Dass diese Linie weitgehende Differenzierungen aufweist, habe ich schon angedeutet (die Jungen' in der SPD um Bruno Wille oder Eisner); sie erlebt besonders während und nach dem II. Weltkrieg eine weitere Auffächerung in Richtung auf eine differenziertere Einschätzung Nietzsches und seiner rechten Rezeptionsmechanismen sowie seiner Bezüge zu einer Geistes- und Gesellschaftskritik, die ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen will in seiner Auseinandersetzung mit Entfremdungserscheinungen der modernen Welt des 19. Jahrhunderts und die sich mehr oder weniger vehement gegen den rechten faschistischen oder nationalistischen Zerrspiegel wendet (Ernst Bloch, Hans Günther) oder die uns selbst wieder nur einen entstellenden und verfälschenden Zerrspiegel anderer Art liefert. Das auszuführen ist aber hier nicht mehr der Ort.
mar
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Ders., „Nietzsche und der Nationalsozialismus", in: ders., Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1937, 283. Ebd., 294. Franz Mehring, Gesammelte Schriften, Bd. 9, Berlin 1963, 364.
Volker Caysa
Nietzsches Kritik der Macht und die Macht der Kritik nach Nietzsche
Kritik ist Wille
zur
(Selbst-)Macht
In welchem Sinne ist dem Willen zur Kritik bei Nietzsche der Wille zur Macht eigen? In dem Sinne, dass der Wille zur Kritik wesentlich als Wille zur Selbstmächtigkeit, zur Selbstbeherrschung gedeutet werden muss. In diesem Sinne ist der Wille zur Macht als Übergang von einem Zustand in einen anderen zu bestimmen. Grundlegend für ihn ist der Übergang zur Selbstmächtigkeit. Im Mittelpunkt der Kritik steht nicht, andere zu beherrschen in dem Sinne, staatlich institutionalisisierte Macht über andere und gegen andere auszuüben, sondern seiner selbst mächtig zu werden, sich selbst zu beherrschen, was oftmals für die Existenz des einzelnen gerade ausschließt, im politischtechnizistischen Sinne herrschen zu wollen. Kritisch ist nicht nur der, der sich nicht abfindet mit dem, was er vorfindet, der, der sich erfindet, der sich formt, der sich transformiert, sondern auch der, der sich selbst zu beherrschen vermag, der sich selbst regiert und sich nicht willkürlich und wenn, möglichst nach eigenen Maßen von anderen regieren lässt. Kritik ist auch bei Nietzsche „die Kunst nicht dermaßen regiert zu werden".1 Der „Wille, nicht regiert zu werden", ist der „Wille nicht dermaßen, nicht von denen da, nicht um diesen Preis regiert zu werden".2 Der Wille zur Machtnegation enthält eine Ablehnung von Fremdregierung, nicht aber die Negation jeglicher Regierung. Kritik ist nicht der anarchistische Wille, überhaupt nicht zu regieren. Die Ablehnung der Fremdregierung ist weder bei Michel Foucault noch bei Nietzsche mit der Ablehnung jeglicher Regierung gleichzusetzen, sondern die Kritik der Fremdregierung zielt auf eine andere Form von Regierung und in diesem Sinne auf eine andere Form der Macht. Kritik ist so gedacht Kritik der Macht, die herrscht, durch Selbstbeherrschung und deshalb Grund der Selbstachtung und Wahrung der Würde der einzelnen wie ganzer Kulturen. Das schließt ein, zu analysieren, warum wir selbst nicht mündig sind, warum wir uns dermaßen von anderen regieren lassen, welches Beziehungsgeflecht uns zwingt, uns regieren zu lassen, warum wir nicht das Können haben, uns selbst zu regieren, es 1
2
Michel Foucault, Was ist Kritik?, Berlin 1992, 12.
Ebd., 52.
Volker
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Caysa
schließt ein, die herrschende Sprache und Moral (und die mit ihr verbundene Gewalt) genealogisch zu kritisieren. Wer eine neue Sprache schafft, der schafft die Geschichte neu. Wer sich selbst regieren will und sich nicht durch die Sprache der staatlichen Macht beherrschen lassen will, muss sich selbst eine Sprache für seine Lebensform schaffen. Kritik in diesem Sinne ist die Bewegung, in welcher sich das Subjekt nicht nur das „Recht herausnimmt, die Wahrheit auf ihre Machteffekte" und „die Macht auf ihre Wahrheitsdiskurse" hin zu befragen, sondern auch die Bewegung, in der es die Fähigkeit erlangt, selbst Herrschaft auszuüben, die damit beginnt, sich selbst zu beherrschen. Kritik ist dann „die Kunst der freiwilligen Unknechtschaft, der reflektierten Unfügsamkeit. In dem Spiel, das man die Politik der Wahrheit nennen könnte, hätte die Kritik die Funktion der Entunterwerfung"3 und der Konstituierung von Autonomie. Die Macht der Kritik stiftet sich in der Selbstregierung des Individuums. Dieser Standpunkt der Selbstregierung ist der eines innerweltlichen Außen, einer immanenten Transzendenz, eines alternativen diesseitigen Jenseits. Der Wille zur (Selbst-)Macht als wirkende Kraft ist die Macht der Kritik, der die Kritik der Macht innerweltlich ermöglicht. Kritik als Selbstregierung und als Selbstbeherrschung scheint den Freiraum des anders-sein-Könnens diesseitig zu ermöglichen. Wenn es diesen Freiraum, die Möglichkeit des Unterschlupfes, des Asyls, einer anderen Existenzweise nicht mehr gibt, andere Lebensformen nach einem Lebensmodell gleichgeschaltet werden, dann beginnt eine Welt totalitär zu werden und sich durch absolute Selbstreflexivität, durch ,Inzucht' selbst zugrunde zu richten. Dies nicht nur moralisch zu kritisieren, sondern durch die eigene Existenzweise zu verhindern, ist das Ethos der Kritik. Eine solche Kritik scheint stark genug zur ,großen Politik', weil sie selbst im kleinen schon große Politik macht. Die Gefahr dieser Politik ist, dass sie das Privateste politisiert. Indem die Politisierung eine Ästhetisierung meint, die auf ein schönes, bejahenswertes und einfaches Leben zielt, ist eine Moralisierung des Privaten ausgeschlossen. Daher ist die ästhetisierte Kritik das Ende der Moral, wie es das Ende der Wahrheit ist. Die Wahrheit' und .Moral' dieses Kritiktypes werden durch die Art und Weise der selbstgestalteten Existenz bezeugt, nach diesem Maß hat sich Kritik in ihrer Positivität und Negativität zu richten. Sie braucht nicht mehr Begriffe wie ,Wahrheit', ,Gut' und ,Böse', weil sie existenziell glaubwürdig ist, sich existenziell selbstbezüglich verhält, weil sie in ihrem Amoralismus wahrhaftig ist. Dass Kritik nur glaubwürdig ist, wenn sie selbstbezüglich angewandt wird, ist trivial, muss aber erinnert werden in einer Zeit, in der das Auseinanderfallen von Denken und Existenz, Moral und Ethos, Wahrheit und Ethik per wissenschaftlicher Kritik legitimiert werden. Der Künstler-Philosoph vermag diesen wissenschaftlichen Normalfall positiv zu kritisieren, nicht aber der abstrakt rationalistische Philosoph. Das bedeutet, dass nach Nietzsche das Problem der Wahrheit und der Moral, theoretischer und praktischer Vernunft durch die eigene, künstlerische Existenz gelöst wird und uns anders, als wir es bisher kannten, aufgegeben wird. An die Stelle einer sich selbst betrügenden kritischen Moralität und Wahrheit muss ein Ethos der Kritik treten, damit Kritik nicht mehr in der alten Manier den Ankläger anklagt, sondern damit der Neinsagende ein Jasagender ,
3
Ebd., 15.
Nietzsches Kritik der Macht und die Macht der Kritik nach Nietzsche werden kann und jeder das Seinige nicht nur tun kann, sondern wäre ,gut' und ,wahr', weil sie ,schön' ist.
Kritik als
es
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auch hat. Diese Kritik
Selbstregierung
Die existenzialistische Deutung des Willens zur Macht (in Einheit mit der Wiederkunftslehre und der Lehre vom Übermenschen) zeigt, dass selbst die Zentralidee der Philosophie Nietzsches, die Lehre vom Willen zur Macht, die immer als wesentlicher Ausdruck der imperial-faschistoiden Tendenz in Nietzsches Denken bewertet wurde, de facto nicht nur antifaschistisch, sondern auch antitotalitär zu deuten ist, da sie den gelebten Anti-Nationalsozialismus in der Lebensführung des einzelnen verankert. Eine grundsätzlichere antitotalitäre Aufklärungsbewegung als die, die in der Lebensführung des einzelnen sich gründet und die Individuen nicht über ihr geführtes Leben hinweg bevormundet und belehrt und den Antifundamentalismus nicht von außen verordnet, ist nicht denkbar, weil sie dann in der Lebensform der einzelnen tatsächlich praktiziert wird, was Georg Lukács, Ernst Bloch, Herbert Marcuse, Max Horkheimer, Theodor W. Adorno immer wollten und auch Jürgen Habermas immer noch will. Nietzsches neue Aufklärung ist nicht nur antitotalitär, sondern ein antitotalitärer, weil indivdualistisch verankerter Antitotalitarismus. Wille zur Macht bedeutet, sich selbst zu führen und nicht von anderen führen zu lassen. Nur wenn man in diesem Sinne frei ist, ist man seiner selbst mächtig und keiner fremden Macht unterworfen. Insofern ist Nietzsches Philosophie der Kritik nicht nur eine Philosophie der Autonomie, der Selbstregierung und der Selbstgesetzgebung, sondern eine Philosophie der Selbstbefreiung. Im Willen zur Macht erhält das Aufklärungsideal der Kantschen Philosophie eine individuell existenzielle Fundierung. Kritik ist nicht mehr nur eine rein intellektuelle Basisoperation, auf die der Intellektuelle allein spezialisiert ist, weshalb er in modernen Gesellschaften als Kritiker an sich wahrgenommen und ihm die Funktion des Kulturkritikers zugewiesen wird, was die Ghettoisierung der Kritik als Lebensform zur Folge hat, sondern Kritik als Selbstmächtigkeit, als Selbstregierungsfähigkeit ist ein flexibler Habitus, ein Ethos der Selbstbewegung, das in der Lebensführung eines jeden sich gründen kann. Kritik ist ein Existenzial, dem zugleich ein utopisches Potential eigen ist, insofern das Autonomie- und Kritikideal Nietzsches zwar durch den heroischen einzelnen verwirklicht werden kann, aber keine gesamtgesellschaftliche Wirklichkeit hat und gesamtgesellschaftlich gesehen ein Novum, ein ,Noch-nicht' darstellt. Autonomie aber als ,auf freiem Grund, mit freiem Volke stehen', das selbst wiederum aus selbstbestimmten, freien einzelnen besteht, wäre die Zurückgewinnung des utopischen Potentials mit Johann Wolfgang Goethe und Nietzsche und im Sinne von Karl Marx, freilich eine Zurückgewinnnung auch gegen Nietzsche, insofern er zur Verwirklichung dieses Autonomieideals von seinem antidemokratischen und antisozialistischen Ressentiment befreit werden müsste. Was einschließt, dass sich die philosophischen Demokraten und Ökologen von ihrem antinietzscheanischen Ressentiment frei machen. Auf freiem Grund mit sich selbstbestimmenden und gemeinschaftlich handelnden Individuen zu stehen, wäre nicht nur die
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Volker
Caysa
Verwirklichung
der konkreten Identität von Aufklärung und Kritik, Philosophie und Denken und Politik, Leben, sondern auch der von Traum und Existenz. Was ist gegen Träume zu sagen, wenn sie helfen, unsere Existenz zu humanisieren, freier und fairer zu
gestalten?
Die Idee der Selbstregierung im Anschluss an Nietzsche meint einerseits Kritik an der Regierung, die uns regiert und die, obwohl wir sie gewählt haben, nicht das hält, was wir uns von ihr versprechen, dass wir mit ihr an der Macht sind. Andererseits ist die Idee der Selbstregierung als Selbstkritik zu verstehen in dem Sinne, dass wir uns von der Macht haben verführen und von ihr fremdbestimmen ließen. Die Idee der Selbstregierung ist Kritik an uns selbst, insofern wir, wenn auch aus .guten' Gründen, uns haben regieren lassen. Nietzsches Idee der Selbstregierung ist Kritik eines jeglichen Paternalismus, einschließlich dem, den wir verinnerlicht haben. Je mehr wir uns selbst zu regieren vermögen, je kritischer verhalten wir uns zu unserem eigenen, unbewusst verinnerlichten Paternalismus. Selbstregierungsfähigkeit und Selbstkritik begründen sich wechselseitig. Die Idee der Selbstregierung wendet sich folglich nicht nur gegen den Faschismus als politisches System, sondern gegen den Faschismus in uns, der uns die Unterwerfung unter eine Führerschaft, der uns die Fremdbeherrschung durch andere, der uns die Ausbeutung anderer lieben lässt. Autonomes Leben ist ein Leben, das sich selbst Normen setzt. Souverän ist, wer sich selbst (und dadurch anderen) ein Gesetz gibt. Das ist der ,Adel des Geistes', ist die ,Armut im Geiste' der ,Vornehmen' und ,Starken', der ,Einfachen'. Ihr Leben ist ein Leben, das sich durch sich selbst rechtfertigt und keiner anderen Rechtfertigung bedarf. Legitimität und Legalität dieses Lebens ist durch es selbst in seiner existenziellen Haltung begründet. Kritik als Ethos besteht hier darin, aus eigener Urteilkraft heraus sich zu entscheiden, sich selbst zu regieren. Der apollinische Kern dieser existenziellen Idee der Selbstregierung ist das Können, sein Leben selbst zu führen, es per Stil zu einem Kunstwerk zu gestalten. Der Wille, nicht fremdregiert zu werden, und eine Philosophie der Lebenskunst sind keine sich auschließenden Gegensätze, sondern sie bedingen sich wechselseitig. Man muß wohl sagen: Das politische Ideal einer kritischen Philosophie der Lebenskunst ist das der Selbstregierungsfähigkeit des einzelnen, die die Würde des Menschen, seinen ,Adel', seine Selbstachtung begründet. Im Mittelpunkt dieser politischen Philosophie der Autonomie steht, sich selbst eine Verfassung zu geben und sich keine von außen auferlegen zu lassen. Das hat zur Bedingung, in Freiheit sich selbst entwerfen zu können und sich keine Entwürfe für das eigene Selbst aufzwingen zu lassen. Selbstregierung zielt auf Selbstbehauptung, und die gründet in dem Vermögen, einen Zustand von selbst anfangen zu können, in der Kraft, Ursache seiner Verhältnisse zu sein, in den Praktiken autonomer Handlungsfähigkeit. Eine solche auf Autonomie zielende Lebenskunstphilosophie erweist sich nicht nur als Säkularisierung der Künstlerreligion des Gesamtkunstwerkes, sondern sie ist als kritische Philosophie zugleich eine neue, säkularisierte Existenzphilosophie, in der sich die Würde des Menschen radikal neu stiftet. Die Macht der Kritik, die Selbstregierung ist im Kern Selbstbestimmung, Freiheit, die sich in einer radikalen Entscheidung stiftet. Kritikfähigkeit beweist man dadurch, dass man sich selbst entscheidet auf der Basis von leibhaftigem Selbstdenken. Durch
Nietzsches Kritik der Macht und die Macht der Kritik nach Nietzsche
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die damit verbundene Einheit von Selbstbestimmung und Selbstdenken in der Selbstregierung ist das Individuum causa sui, in der sich Denken und Existenz gegenseitig begründen und miteinander konkret identisch sind. Durch die Tathandlung meines Denkens begründet sich die Tatsache meiner Existenz. Vernünftig ist diese Tatsache, sofern sie Autonomie begründet, die Maßstab vernünftigen Denkens und Handelns von Individuen wie von Gemeinschaften ist. Autonomie von Gemeinschaften kann es aber nicht geben, wenn es anfänglich keine wertsetzenden, selbstbestimmt handelnden Individuen
gibt.
Kritik als
Existenzialutopie
Kritik als Selbstregierungsfähigkeit ist Bedingung der Möglichkeit nicht für die letzte Utopie, die uns geblieben ist, sondern für die, die endlich realisierbar ist, die der ökologisch-sozialen Selbstgestaltung. Kritik hat nicht nur eine Experimentalpolitik zur Folge, sondern bedeutet auch ein Experiment mit sich selbst als machbarer Utopie. So ermöglicht das Politikum der Kritik, der Gummizelle der Utopielosigkeit zu entkommen. Ist die Hoffnung der Selbstgestaltung gestorben, ist man wirklich tot; damit wäre jede Kritik am Ende. Nietzsches Traum der Kritik ist nicht das Ende der Utopie, sondern der Anfang. 1989 hat nur die Verkehrung einer Utopie aufgehoben und die Möglichkeit geschaffen, Utopien neu zu stiften. Die aber gründen sich nicht im Jenseits oder in Parteiungen, die alle und immer Recht haben wollen, sondern allererst in der Existenz von Individuen und durch die Existenzformen der Individuen; dies galt schon immer und für alle Klassiker utopischen Denkens. Man hat als Kern der Utopien die Art und Weise, anders als bisher zu existieren, zutreffend benannt. Alle Utopien stiften sich in der Vorstellung einer grundlegend anderen Lebensführung, sind daher in ihrem Wesen Existenzialutopien. Existenzialutopien sind experimentelle Lebensformen und als solche Experimentalutopien. In den Experimenten mit sich wird die Umwertung der Werte in der Lebensform der einzelnen vollzogen. Sie sind daher nicht nur Werte negierend, sondern Werte schaffend. In der Kritik als Existenzialutopie beweist sich, dass Kritik nicht nur Werte negierend, sondern Werte schaffend sein kann, weil Kritik nicht nur eine theoretische Praktik ist, die ein Denken durchkreuzt, sondern eine exemplarische existenzielle Praktik, die neue Werte durch autonome Tathandlungen setzt. In der existenziellen Wertsetzung sind die gesetzten Normen eigene, sind uns nicht äußerlich auferlegt, sondern durch uns selbst bestimmt. In der Existenzialutopie der Kritik ist Souveränität keine eingebildete, sondern eine in der Selbstregierung der Subjekte existierende. Geistig sind Existenzialutopien „überall dort beheimatet, wo auf Missionierung aller verzichtet wird, wo Zugehörigkeit also nicht mehr auf Zwang oder Propaganda beruht, sondern auf wirklicher Kommunikation und freier Zustimmung. Historisch war sie immer dort beheimatet, wo die Gemeinschaften noch klein waren aber wesentlich alternativ lebten, deshalb oft mit Verfolgungen zu rechnen hatten und in ihrer Schwäche sich in die Verborgenheit zurückzogen. Situativ sind sie heute in den demokratischen Ländern dort beheimatet, wo die Methoden der demokratischen Veränderung einfach zu
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Volker
Caysa
langsam funktionieren. Dann sagt man sich: Wir können nicht darauf warten, bis die Mehrheit zustimmt, sondern wir ziehen es vor, heute schon anders zu leben, weil dies ja schließlich unseres einziges Leben ist."4 In den Existenzialutopien macht man mit sich selbst einen Anfang, man macht Selbstpolitik, indem man seine Kritikfähigkeit als Selbstbestimmungsfähigkeit verwirklicht. Die Weltveränderung fängt mit der Selbstveränderung an, die ,große Politik' stiftet sich in der kleinen, in der Existenzialkritik als der Kritik, die Kritik als leiblich-sinnliche Existenzform grundlegend versteht. Dieses kritische Leben stiftet sich nach Nietzsche im Ethos existenzieller Selbstregierung. Nietzsches Traum der Kritik gibt uns den Traum von einem Leben, nach dem sich auch die vielen, die Nietzsche verachtete, sehnen, von dem sie aber nicht wissen, wie sie es leben sollen, weil sie Nietzsche nicht zu lesen verstehen. Insofern bleibt die Lesekunst ein Vademécum für die Lebenskunst. Zur notwendigen Voraussetzung einer philosophischen Lebenskunst gehört es, kritisch zu denken, um bejahenswert leben zu können und nicht bloß zu überleben, dahin zu leben. In Nietzsches Existenzialkritik geht es darum, mit sich den Versuch der Selbstregierung zu wagen, und insofern kritisiert man sich nicht nur um sein Leben, sondern man kritisiert sich, um (intensiver) zu leben. Kritik ist in diesem Sinne Versuch und Versuchung, Gefahr und Rettung in der Gefahr; Kritik als Existenzial ist gelebter Essayismus. Das Leben ist eine Versuchsanordnung und muss als solche selbstbewusst wahrgenommen werden, soll es von uns gelebt werden, soll es uns nicht nur leben. Dazu braucht es das Ethos der Kritik. Das bedeutet eine Wende im Kritikverständnis nach Kant, nicht nur im ästhetischen Sinne. Bei Nietzsche finden wir nicht nur die Geburt der Kritik aus dem Geist der Kunst. Insofern von Nietzsche die Kunst selbst existenziell verstanden wird, weil das Leben als Kunstwerk begriffen wird, wird die Kritik nicht nur ästhetisiert, sondern existenzialisiert. Sie wird zur Existenzform selbstbestimmten Lebens. Auch hier ist Kritik nicht von ihrem Gegenstand zu trennen. Sie entwickelt sich, indem sie den Gegenstand der Kritik, das Leben, als Kunstwerk entwickelt. Das Resultat der Kritik ist nicht nur eine neue Kunstform, sondern eine neue Lebensform. Dadurch wird nicht nur eine neue Politik der Wahrheit, sondern eine neue Politik der Ästhetik eröffnet. Wahrheit und Schönheit sind nicht mehr subjektunabhängige Metawerte, sondern in der Existenz des einzelnen anwesende Güter. Wahrheit und Schönheit werden dadurch konstituiert, wie der einzelne sein Leben führt. Wahrheit und Schönheit begründen sich darin, ob eine Idee taugt, sein Leben bejahenswert zu führen, ob sie taugt, seiner Selbst mächtig zu werden. Das Kriterium der Kritik ist, ob sie der Verwirklichung des Willens zur Macht, der Selbstmächtigkeit der Subjekte dient. Selbstmächtigkeit ist in diesem Kontext nicht auf Selbsterhaltung eingeschränkt, sie zielt vor allem auf Selbststeigerung der Subjekte, die die Selbsterhaltung als untergeordnet oder nichtig erscheinen lassen kann. Die existenzielle Steigerung der Kritik ist deshalb höher zu schätzen als das Überleben der Kritiker. Eine radikale Kritik zu wagen, heißt einen radikalen Versuch mit dem eigenen Leben zu wagen. Existenzielle Kritik zielt auf ein radikales Experiment in und mit der eigenen Existenz. Durch dieses existenzielle Experiment macht das Individuum durch die Gestaltung seiner Selbstverhältnisse Politik. Kritik erscheint auf existenzieller Ebene mit radikaler Selbstpolitik identisch, deren Kern die existenzielle Selbststeigerung 4
Hans
Saner, „Gespräch über die Utopie", in: Kunstforum international, 143 (1999) 77-78.
Nietzsches Kritik der Macht und die Macht der Kritik nach Nietzsche
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des Individuums in der Gemeinschaft mit anderen ist und die in der gemeinschaftlichen
Selbstinszenierung gipfelt. Selbstmächtigkeit, Selbstregierungsfähigkeit und nicht nur reines Selbstdenken, der praktische Selbst-Einsatz, nicht nur der theoretische Denk-Einsatz sind der Grund der Kritik, der einen vernünftigen Umgang mit sich und den anderen einschließt. Diese Art von Kritik hat nicht nur einen politischen Aspekt, sie ist ein Politikum als Existenzform, die sich in autonomer Lebensführung gründet: Kritik ist Lebensführung und Lebensführung ist Politik. In der Lebensführung der einzelnen zeigt sich nicht nur der existenziel-
le Charakter der Kritik, sondern auch der existenzielle Charakter des Politischen.5 Das Politische des Lebens beginnt in der Selbstregierungsfähigkeit der Subjekte. Diese Art von Kritikfähigkeit ist der Grund der Politikfähigkeit, das Politische stiftet sich existenziell im Ethos der Kritik. Die Kritik wird nicht nur aus dem Geist der Lebenskunst geboren, sondern die Geburt der Politik erfolgt aus dem Geiste der Kritik. Die Macht der Kritik besteht in der Selbstregierungsfähigkeit der Subjekte, sie begründet Selbstpolitik und ist immer auch ein Selbstentwurf meiner selbst in der Gemeinschaft mit anderen. Wie die Selbstsorge nicht von der Sorge um andere zu trennen ist, so zielt Selbstkritik als Selbstpolitik nicht bloß auf Entwürfe gelungener Privatheit, sondern auf Entwürfe gelingender Gemeinschaftlichkeit. Auch in diesem Sinne ist das Private immer politisch.
Dazu: Volker (2000), 3.
Gerhardt, „Politik ist mehr als die Summe
aus
Moral und
Recht", in: Merkur 54
Kurt Jauslin
Ordnung schaffen Lesarten zu Nietzsches
1. Von fern
Genealogie der Moral
gesehen
Wie nähert man sich einer Schrift, die sich deutlich erkennbar als zentraler Text zu verstehen gibt: Schließlich präsentiert sich die Genealogie der Moral als ein großes, zusammenhängendes Denkgebäude, eines der wenigen Friedrich Nietzsches und sein letztes. Wie nähert man sich einem Text, der verstellt ist von Interpretationen bis zur Ausbeutung als faschistische Handlungsanweisung, die Unterscheidung des Herrenmenschen vom Untermenschen betreffend, Begriffe, die es bei Nietzsche gar nicht gibt, geschweige denn deren Verwirklichung im staatlich verordneten Massenmord. Solchermaßen missbraucht muss das Textgebäude sich verschließen bis zum Betretungsverbot. Gilles Deleuze und Michel Foucault haben wieder einen Schlüssel gefunden, nicht unbedingt denselben; vermutlich haben sie sogar getrennte Türen benützt. Jedenfalls sind sie dem Text ohne Umschweife nahe getreten, indem sie in Nietzsches Textkörper ihre eigenen wieder erkannt haben. Das ist ein verbreitetes Rezeptionsmodell, zugleich aber ein höchst gefährliches Unterfangen. Damit ist die Differenz aufgehoben, auf der sich Deleuze folgend, die Philosophie gründet. Die ursprüngliche Fremdheit, die Nietzsches Text konstituiert, ist eingeebnet. Das macht, dass der Text sich noch weiter zurückzieht. Die Annäherung führt nur zu einer simulierten Nähe. Diese simulierte Nähe bewirkt, dass Nietzsches Text vollkommen einsehbar, damit konsumierbar und bewohnbar wird, wie ein Zeltlager in der Wüste. Das „Nomadendenken", das Deleuze für ihn reklamiert1, nähert sich verdächtig den Verständigungstexten einer alternativen Wohngemeinschaft. Nietzsche ist aber alle Nestwärme fremd, und sei es die von Philosophiekongressen. Sein Text ist agressiv und will es bleiben gegenüber jeder Form von Lektüre. Von fern gesehen, erscheint die Fragestellung nach Herkunft der Moral befremdlich. Gott zum Beispiel würde die Frage nicht verstehen, da seine Urheberschaft auch diesen Spezialfall einschließen müsste, er könnte auf Immanuel Kant als anerkannte philosophische Referenz für seine Überzeugung verweisen. Kant ist deshalb vielleicht der einGilles Deleuze, „Nomadendenken", in: Ders., Nietzsche, ein Lesebuch, Berlin 1979, 105-121.
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Kurt Jauslin
der die Frage versteht und gewillt ist, sie zu beantworten, so unbefriedigend die Antwort ausgefallen sein mag. Georg Wilhelm Friedrich Hegel dagegen würde sie auch nicht verstehen. Hegel ist selbst Gott, seine unwillige Antwort müsste lauten: Von mir. Nietzsche ist nichts dergleichen. Er kennt weder die Gewissheiten noch die Eindeutigkeiten, die aus so genannten Überzeugungen erwachsen. Die Frage nach dem Woher verwandelt sich ihm alsbald in die Frage nach dem Wozu, die sich bei Licht besehen als die interessantere und bedeutend folgenreichere erweist. Vor allem aber lässt seine Argumentation den fast marxistischen Schluss zu, dass die Erklärung des Wozu immer schon die Antwort auf das Woher enthält. Moral entsteht aus dem Bedürfnis, Ordnung zu schaffen in einer ihrem Wesen nach kontingenten Wirklichkeit. Das heißt, sie ist ein Instrument zur Disziplinierung der Körper, da der Körper, darin stimmt Nietzsche mit Michel de Montaigne überein, die einzige uns unmittelbar zugängliche Wirklichkeit ist. Anders als für Montaigne, dem die Erfahrung des Körpers etwas Selbstverständliches ist, bleibt er für Nietzsche ein Gelände äußerster Befremdung. Darin liegt die Differenz zu Deleuze, der das Denken und den Körper als einheitlichen Text begreift. Für Nietzsche gilt, mit Blick auf die Differenz von Leben und Werk, die Einsicht Gottfried Benns: „Das, was lebt, ist etwas anderes als das, was denkt."2 Der Körper bleibt das Raubtier, das ihm nicht, wie Montaigne, durch die allgemeine Zugehörigkeit zu einem in stillem Fatalismus akzeptierten Naturzustand vertraut ist. Der Körper ist ihm ein fremdes Tier. Moral als Herrschaftsinstrument dient nicht wie bei Karl Marx der Befestigung der ökonomischen Macht, sondern dem Herrschaftsanspruch der Religion, die sich der Körper bemächtigen will, weil sie insgeheim, nur verdeckt durch metaphysische Referenzen, im Anspruch des Körpers eine konkurrierende Wirklichkeit erkannt hat, die, wenn sie akzeptiert würde, das Regiment der Religion über den Menschen beenden müsste. Letzteres verhindert die „Priesterkaste", die sich als Perversion des „hohen Menschen" (KGW, JGB, VI,2, 86) zu erkennen gibt. Wie alle Vorstellungen, die wir uns von der Wirklichkeit der Körper machen, ist auch diese Erklärung Fiktion. Unmittelbar wirklich sind uns nur die Bedürfnisse des Körpers, sein unüberwindlicher Trieb zur Selbsterhaltung, die elementaren Ereignisse von Lust und Schmerz. Fiktion sind alle Ordnungen, die wie die Moral oder die Wissenschaft durch Reduktion der kontingenten Welt auf Begriffe entstehen. Sie bestätigen nur die Distanz, die das Denken von der Wirklichkeit der Körper trennt. Wahrnehmung besteht, wie in Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn erläutert, darin, sich ein Bild zu machen aus den Analogien einer metaphorischen Ordnung. Weil diese metaphorische Ordnung nicht der moralischen Wertung, der ,Lüge' unterliegt, ist sie auch wirklich; sie tritt gleichberechtigt zur Wirklichkeit des unfassbaren Körpers auf, dem sie verpflichtet bleibt, weil sie ihn nicht durch die Unterordnung unter ein System beherrschen will, das durch Reduktion seiner Wirklichkeit entsteht. Die wahrnehmbare und wahrgenommene Wirklichkeit ist ästhetisch und der Begriff erweist sich als Residuum einer Metapher" (KGW, WL, 111,2, 376). Selbstverständlich wird damit der Begriff als Instrument der Philosophie nicht abgeschafft, wie es die Nietzsche-Rezeption, je nach den von ihr anvisierten Zielen, entwe-
zige,
:
Gottfried Benn, „Pallas", in: Ders., Gesammelte Werke in vier Bänden, Bd. 1, Wiesbaden 1959, 365.
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der befürchtet oder erhofft hat. Nietzsches „Artisten-Metaphysik" (KGW, GT, III, 1, 7) ist eine epistemologische Maschine zur Reinigung der Begriffe von ihrem angemaßten Anspruch auf Wahrheit. Die nämlich wäre, wenn überhaupt, nur in der begrifflich wie metaphorisch unfassbaren Unmittelbarkeit des Körpers zu finden. Der Begriff ist nicht mehr, wie von Hegel postuliert wurde, das Ordnungsprinzip, das alle metaphorischen Ordnungen als ephemer zurückweist, sondern die ästhetische Ordnung der ,ArtistenMetaphysik' ist der Prüfstein, an dem alle aus der metaphorischen Ordnung abgeleiteten Begriffe zu messen sind. Eine Philosophie, die jeden Begriff nach seiner metaphorischen Haltbarkeit beurteilt und umgekehrt die Metapher nach ihren begrifflichen .Residuen' befragt, stellt sich erkenntnistheoretisch als Paradoxon dar: sie will sowohl die größtmögliche Eindeutigkeit des Begriffes, wie die größtmögliche Mehrdeutigkeit der Metapher erhalten. Das führt zu epistemologischen Zwittern, die für Nietzsches Argumentation charakteristisch sind. Deleuze hat versucht, dieses philosophische Zwitterwesen unter dem Bild des ,Nomadendenkens' zu fassen, das sich in der Bewegung zwischen Bild und Begriff entfalte und wesentlich aus dieser Bewegung bestehe. Wie jede Metapher saugt auch diese die Wirklichkeit des Modells, das sie beschreiben will, vollständig auf, dass Nietzsche darin erst wieder sichtbar wird, wenn man die Differenzen herausarbeitet. ,Nomadendenken' beruft sich auf einen fundamentalen Einklang mit der Welt, der für den Nomaden eine Frage des Überlebens ist. Es produziert aus diesem Grund zwar keine Moral im Sinne Nietzsches, aber ein rigides Ordnungssystem, das sich als natürliche Ordnung im weitesten Sinne ausgibt. Eine derartige Übereinstimmung von Leben und Denken ist für Nietzsche nur im utopischen Horizont der ewigen Wiederkehr denkbar. Seine zwitterhafte Epistemologie bekräftigt den Anspruch der Philosophie, nicht Beschreibung sondern Schöpfung von Welt zu sein, ein globaler Ordnungsentwurf. Er ist kein Wüstensohn, der in der Gemeinschaft seines Stammes wurzelt, sondern ein evangelischer Pfarrerssohn, ein Stamm, der wie kein anderer der Moral ergeben ist. Sie ist seine erste Heimat oder wie es in der Vorrede zur Genealogie der Moral heißt sein ,A priori", mit dessen Herkunft er seit seinem dreizehnten Lebensjahr befasst gewesen sei (KGW, GM, VI,2, 261). Er verleugnet die Herkunft keineswegs, sondern macht sich in der Nachfolge Christi daran, die alte Ordnung, die für die Welterlöser immer in „der Verlogenheit von Jahrtausenden" (KGW, EH, VI,3, 363) bestanden hat, zu entmachten. Wie Christus den Tempel von den Geldwechslern säubert, so er den Tempel der Begriffe von den falschen Priestern, der erste Schritt in der Lieblingsbeschäftigung aller Religionsstifter: wieder Ordnung zu schaffen.
2. Herr und Knecht
,tolle Mensch' Nietzsches hat den Ausgang aus Piatos Höhle gefunden und entdeckt, dass die Schatten an der Wand nicht von höheren Ideen stammen, nicht einmal von toten Sternen. Das Schattenspiel ist schon seine Welt, neben der es eine andere nicht geben kann. Der Versuch, diesem Spiel eine Ordnung zu finden, führt von der Der
Kurt Jauslin
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Woher zu der Frage nach dem Warum. Das ist, wie die Philosophie erklärt hat, eine Kinderfrage, die Frage, die Nietzsche unentwegt stellt, und er lässt sich nicht beruhigen von quietistischen Ausweichmanövern der Philosophie und von Erlösungsphantasien der Religion. Erlöst werden wir nur vom Leben selbst, ein Heilsversprechen, das erkennbar die äußerste Zumutung darstellt. Die Moral, die das Miteinander und den Zusammenhang der Spieler regulieren will, tritt als Ordnungsmacht des Schattenspiels auf. Während der kategorische Imperativ Kants sich stets an ein autonomes Individuum richtet, das kraft seines apriorisch verfügbaren Wissens über gut und böse selbst entscheidet, ist Moral ein radikal egalitäres Prinzip, das von außen alle Entscheidungen festlegt, den Unterschied von Recht und Unrecht definiert, richtet und straft und aus Sanktionen ein für alle geltendes Rechtssystem errichtet. Ethos differenziert und wägt ab, Moral schert über einen Kamm. Nietzsches Vernichtung der Moral geht deshalb einher mit der Zurückweisung des egalitären Prinzips, die in der Genealogie der Moral durch die Rekonstruktion der Hegeischen Antinomie zwischen Herr und Knecht geleistet wird. Die hierarchische Ordnung von Herr und Knecht ist durch ihre Herkunft aus dem Naturzustand der Stachel im Fleisch der Moral, ihr Ansporn, die Quelle der Anarchie durch Reglementierung auszutrocknen. Moral ist im Verständnis Nietzsches die von Thomas Hobbes konstruierte leviathanische Ordnung, die gewaltsam den Naturzustand bereinigt. Sie ist die Ordnung der Knechte, die Deleuze in Nietzsches Beschreibung des „reaktiven Menschen"3 gefunden hat. Die Moral ist selbst der Motor des verwerflichen Handelns, der still zu stellen ist. Vorzugsweise geschieht dies in Philosophie und Religion durch Auflösung der grundlegenden Antinomie. Hegel hat in der Phänomenologie des Geistes die divergierenden Aktivitäten der Bewußtseine von Herr und Knecht im dialektischen Prozess des Denkens zum Ausgleich gezwungen. Die christliche Religion hat die Antinomien des Alten Testaments durch das Erlösungswerk des Neuen aufzuheben versucht. Nietzsche weist beide Problemlösungen zurück. Die von der Moral gesetzte Antinomie von ,gut' und ,schlecht' wird als Folge aus dem Verhältnis von Herr und Knecht nicht abgeschafft, sondern neu begründet. Die Moral als Motor des Handelns ersetzt er durch ein Ordnungsprinzip, das direkt der natürlichen Ordnung von Herr und Knecht entspringt, den Willen zur Macht, der die Definitionsgewalt über ,gut' und ,schlecht' an sich zieht. Der Prozess, den die Genealogie der Moral entwirft, zielt auf eine gesellschaftliche Ordnung, die den Naturzustand nicht entwertet, sondern als wirkliche Wirklichkeit einholt, die allerdings zu einem neuen Widerspruch führt: Die den Instinkten, die den Naturzustand regieren, entnommene Ordnung, erweist sich als Versuch, ,den Tiger zu reiten'. Die Definitionsgewalt über das Gute wird dem Herrn zugewiesen, das der Natur entsprechende Verhältnis von Herr und Knecht der Hegeischen Dialektik entzogen. Das führt zu inkommensurablen und auf Dauer kontingenten Machtverhältnissen, die der ursprünglichem Absicht, von der Herrschaft der Moral zu befreien, zuwider laufen. Der niedere Mensch, der Knecht oder Sklave, ist, Nietzsches Konstrukt folgend, durch das ,Ressentiment' gezeichnet, das sich immer zuerst „den bösen Feind" konstruieren müsse, um sich auf dieser Folie einen Guten denken zu können, „sich selbst".
Frage nach dem
1
Gilles
Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Frankfurt/M. 1985, 96.
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dagegen gingen vom „Grundbegriff gut" aus; schlecht sei für sie eine „Komplementärfarbe" zu einem ursprünglich als gut Gedachten. Die „Sklavenmoral" müsse deshalb das Gute für das Böse halten (KGW, GM, VI,2, 274). Das ist eine epistemologisch interessante Differenzierung. Die Situation der beiden konkurrierenden Die Vornehmen
Typen betreffend, stellt sie fest, dass die niederen Menschen sich offensichtlich in einer Notlage befinden, die sie zwingt, die Ursache ihres Übels zu ergründen, eine Absicht, die man nicht für unberechtigt erklären und deshalb nicht schlicht dem Ressentiment zuschreiben kann. Die Knechte, um die ursprüngliche, von Hegel ererbte Terminologie wieder aufzugreifen, liegen nicht falsch mit der Annahme, dass diese Notlage mit der Überzeugung der .Vornehmen' zusammenhängt, sie allein verfugten über die Definitionsgewalt des Guten. Die Knechte haben in Nietzsches Konstruktion gute Gründe für den Verdacht, sie seien als ,Komplementärfarbe' ausersehen. Indem Nietzsche der von Hegel übernommenen Antinomie ihren dialektischen Zusammenhang entzieht, negiert er die von Hegel eröffnete Möglichkeit der Verständigung zwischen Herr und Knecht. Ihre einzige Gemeinsamkeit besteht in der Überzeugung, schlecht sei nie das Eigene,
sondern immer nur das Andere. So treffen sie sich wieder im Ressentiment. Die Differenzierung zwischen ,gut' und .schlecht' gehe auf das .Herrenrecht' zurück, d. h. auf eine Definitionsgewalt, die aus der Distanz zwischen ,oben' und ,unten' entsteht. Güte sei nicht Ausdruck des Altruismus, sondern Ausdruck von Stärke, Ausübung von Macht. Die Erkenntnis von ,gut' und ,böse', die sich der Gott des Alten Testaments als seine eigene, unteilbare Macht vorbehalten hatte, und deren Anmaßung durch den Menschen als Sündenfall registriert und mit der Austreibung aus dem Paradies bestraft hat, diese Einsicht oder Erfahrung entstehe aus dem ,Pathos der Vornehmheit'. Gemäß Nietzsches etymologischer Erklärung von ,gut' und .schlecht', enthalten beide Begriffe ursprünglich kein moralisches Urteil, da sich ,gut' vom Vornehmen und Edlen, schlecht' aber von „schlicht" ableite und den „gemeinen Mann" beschreibe, „noch ohne verdächtigen Seitenblick" (ebd., 275). Die Austauschbarkeit von ,schlecht' und ,schlicht' ist sprachgeschichtlich bis ins frühe 19. Jahrhundert belegt. Beim ,Guten' ist die etymologische Konstruktion weniger klar. Das hängt damit zusammen, dass der moralische Gegensatz des ,Guten' weniger das ,Schlechte' als vielmehr das ,Böse' war und ist. ,Schlecht' ist ein Alltagsbegriff, ein Urteil, das selbst der kontingenten Wirklichkeit angehört; ,böse' enthält ein metaphysisches Urteil, das immer auf ein höheres als nur menschliches Gesetz verweist. Man kann von gutem oder schlechtem Essen reden, niemals von gutem oder bösem Essen. Ein schlechter Mensch ist nicht unbedingt ein böser Mensch. Auch im Fall des Guten scheitert Nietzsches Etymologie am Übergang des Begriffes in ein moralisches Urteil: ,gut' und ,edel' sind nicht synonym wie ,schlecht' und ,schlicht', die zudem etymologisch ein Wort sind; der Zusammenhang zwischen beiden funktioniert nur in eine Richtung: das ,Gute' ist auch das .Edle', das ,Edle' aber keinesfalls stets das ,Gute'. Es gibt keinen Zweifel, dass auch das Gute, das aus der Ausübung von Macht entsteht, nichts anderes ist als eine moralische Kategorie, wie das Mitleid, das den schlichten Menschen vorbehalten bleibt, weil ihnen die moralische Kategorie des ,Guten' nicht verfügbar ist, aus ursprünglichem Mangel an jenem Edelmenschen,
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es nichts als ein Zeichen von Schwäche sein kann. Nietzsche entwickelt der aus Etymologie eine Klassenhierarchie und aus dieser eine Rassenhierarchie. Man feststellen muss (dürfen!), dass seine aus mythologischen, etymologischen, ethnologischen und evolutionshistorischen Brocken montierte Konstruktion die epistemologische Qualität Oswald Spenglers nicht wesentlich übertrifft.
turn, für das
3. Das fiktionale Tier
Gegen das epistemologische Urteil lässt sich gewiss einwenden, es entstamme einer Philosophie, die Nietzsche ,der Verlogenheit von Jahrtausenden' zurechnet. Es gehe ihm, anders als Hegel, nicht um das richtige Denken, sondern um das richtige Leben, das erst das wirkliche Leben werden soll. Das bisherige wirkliche Leben werde von Gethsemane bis zu seiner Zeitgenossenschaft durch die ,Lüge' christlicher Moral bestimmt, ein .uneigentliches' nach der Terminologie Martin Heideggers, das durch seine Existenz die Entfaltung des »eigentlichen' verhindert. Das richtige Leben beruft sich nicht auf Gesetze des Denkens, sondern auf die menschliche Natur, die stets die Negativfolie gegenüber den Ordnungen der Moral gewesen ist. Moral entwickelt sich stets im Widerspruch zum status naturalis. Aufgabe des Denkens wäre es demnach, das falsche wirkliche Leben in das richtige zu
verwandeln, in dem die Natur des Menschentieres zu ihrem Recht kommt. In der Tat
wird damit der Anspruch der Philosophie aufgegeben, Ordnungen des Denkens zu ermitteln und zu erproben, da es keine Ordnungen gibt, die der kontingenten Natur komplementär wären. Nicht das Denken, sondern die Welt soll in Ordnung gebracht werden, das heißt: Natur soll nicht als Vorstellung des Denkens erscheinen, sondern sie soll den Weg des Denkens bestimmen. Die ,Umwertung aller Werte' reflektiert auf die Umkehrung des von der Philosophie erklärten Verhältnisses von Kopf und Bauch, nach Michael Bachtin, auf die „Karnevalisierung" der Begriffe.4 An die Stelle der diskursiven Ordnungen, die machtlos sind gegenüber der kontingenten Natur, tritt die unendliche Folge der Analogieschlüsse, in denen das Denken im Einklang ist mit seinem Gegenstand. Damit aber ist nur die mythologische Ordnung der Natur rekonstruiert, die Nietzsche in der griechischen Welt zu erkennen glaubte. Die Wirklichkeit der Natur verschwindet erneut in der Fiktion. Nietzsches Raubtier ist ein flktionales Tier, das in der Natur nicht vorkommt: Es ist der Mensch, das ,nicht festgestellte Tier'. Die Analogie zwischen den hohen Menschen als den Raubvögeln und ihrem niederen Gefolge als den Lämmern (ebd.,2, 293), demonstriert das Scheitern der Analogie an der natürlichen Welt. Selbstverständlich weiß Nietzsche, dass an sich der Raubvogel weder edel noch böse, das Lamm weder gut noch schlecht, nicht einmal schlicht ist. In der natürlichen Welt des Fressens und Gefressenwerdens gibt es weder gut noch schlecht und schon gar nichts Böses. Dem würde Nietzsche problemlos zustimmen. Seine Metapher funktioniert nur unter der Voraussetzung, dass es eine Naturwirklichkeit gibt, die den aus der Metapher entwickelten Begriffen des Denkens unmittelbar kongruent ist. Michail M. Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, Frankftirt/M. 1990.
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Die Metapher ist aber, obwohl sie aus der Naturwirklichkeit entnommen ist, auch die Metapher vom Lamm Gottes, nicht rückbezüglich auf die Naturwirklichkeit anwendbar. Die Lämmer sind den Raubvögeln nicht ,gram' Sie versuchen, ihnen aus dem Weg zu gehen. Die Frage nach dem ,Sein hinter dem Thun, Wirken, Werden', das es laut Nietzsche nicht gibt, berührt die alte philosophische Frage nach der Differenz oder Identität zwischen einer wirklichen Welt und einer als wirklich gedachten Welt, dem kantischen ,Ding an sich' und dem ,als ob' der Vernunft, der Differenz zwischen dem Menschen als Naturwesen und als Vernunftwesen, das man mit Hobbes oder JeanJacques Rousseau jeweils für schlecht oder gut halten kann. Vom status naturalis her wird man zwingend feststellen müssen, dass es keine Möglichkeit gibt, sich zwischen Raubvogel und Lamm zu entscheiden. In der Natur wird man immer, was man ist oder .
isst. Nietzsches Satz käme der Sache bedeutend näher mit der Formulierung, dass es in der Natur die Differenz von Sein und Handeln nicht gibt, es ist im Grunde obsolet, ob man das Ergebnis als Sein oder Handeln bezeichnet, weil es kein Bewusstsein gibt, das sich mit Kant oder Hegel das Sein konstruieren oder mit Marx durch das Sein bestimmt sein könnte. Nietzsche redet nach alter Mythenweise metaphorisch, damit menschlich von der Natur, die weder edel noch niedrig gesinnt, sondern einfach vorhanden ist. Es gibt in der Natur nicht Starke und Schwache, sondern nur Stärken und Schwächen: Das Lamm in seiner Herde ist stark, der Raubvogel schwach, sobald er am Boden angelangt ist. Alles andere ist Projektion. Das Zerbrechen der Analogie lässt sich detailliert am Verhältnis von Mitleid und Grausamkeit verfolgen, Begriffen, die in Nietzsches Verständnis unvereinbare menschliche Verhaltensweisen beschreiben. Beide kommen in der natürlichen Welt, auf die sich die Analogie der Metapher bezieht, nicht vor. Gleichwohl rechnet Nietzsche die Grausamkeit zu den natürlichen Instinkten, die immer im Recht seien. Das Mitleid dagegen wird, im ausdrücklichen Widerspruch zu Arthur Schopenhauers Mitleidsethik, dem Herrschaftsbereich der Instinkte entzogen. Das Mitleid ist das wichtigste Merkmal der Dekadenz des niederen Menschen, der sich unter der Herrschaft der Moral seiner Instinkte schämt. Die Freude an der Grausamkeit dagegen sei als „Eigentum einer älteren Menschheit" (ebd., 319) dem moralischen Urteil entzogen, aufgrund der unbegründeten Annahme, diese habe im Einklang mit der Natur gelebt. Der Analogieschluss vom grausamen zum natürlichen Verhalten scheitert in der Analogie, die Nietzsche im Bild der griechischen Götterwelt und ihrem Ursprung aus den Naturgewalten entwirft: Die Götter kennen keine Grausamkeit, weil sie Bilder der Naturgewalten sind und wie die Tiere handeln. Das beste Vorbild für die Übung der Grausamkeit ist durchaus der Gott des Alten Testaments, der mit ihrer Hilfe das auf seinem eigenen Gesetz gegründete Herrenrecht über seine Knechte ausübt. Die Grausamkeit bleibt, im Gegensatz zum Mitleid, dem moralischen Urteil entzogen, weil sie zu Nietzsches Herrenrechten gehört. Ihre Übung erweist nicht nur die Überlegenheit des Herrn über den Knecht, sondern sie ist das Indiz dafür, dass die Begründung der Gesellschaft im Recht auf Kants transzendentale Fiktion des kategorischen Imperativs so wenig angewiesen ist, wie auf die christliche Fiktion vom ewigen Gesetzgeber und höchsten Weltenrichter. Der transzendentale Zusammenhang von was man
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Schuld und Strafe wird in einen immanenten Zusammenhang von Gläubiger und Schuldner verwandelt. Auf den ersten Blick entspricht das in erstaunlicher Weise dem heutigen pragmatischen Rechtsverständnis, erstaunlich deshalb, weil Nietzsche in den egalitären Voraussetzungen dieses Systems den Gipfel der Dekadenz erreicht sah. Nietzsche war nicht pragmatisch. Der Interessenausgleich, in dem Schuld und Strafe vollständig in die materielle Gegenleistung zu Lasten der Ökonomie oder des Körpers verlegt sind, müsste den Antagonismus von Herr und Knecht ausgleichen. Das aber ist für Nietzsche nichts als der Sündenfall der Moral. Der Ausgleich entsteht aus dem Prozess, in dem das Bewußtsein des hohen Menschen sich bildet. Wie Hegel rekonstruiert Nietzsche die Entstehung der sozialen Verhältnisse als Denkbewegung des Bewusstseins, allerdings ohne dessen dialektische Struktur. Der Ausgleich geht auf die einseitige Setzung des Herrenrechts zurück. .Gerechtigkeit' sei nur auf Grund der Herrenmoral möglich: Gerechtigkeit könne nicht aus dem .Ressentiment' hervorgehen, nicht aus dem ,reaktiven' Handeln gegenüber der Tat, nicht aus der ,Rancune', die das Recht auf Rache und Sühne gründen will, sondern nur aus der aktiven „Aufrichtung des Gesetzes", das „Willkürakte" als Verstoß ahndet. Weil das Gesetz etwas Selbsthandelndes, Aktives ist, könne es nur aus der „Sphäre der Aktiven, Starken, Spontanen, Agressiven" entstehen (ebd., 327). Nur durch dieses, aus einer Position der Stärke entwickelte Gesetz sei es möglich, Recht und Unrecht zu unterscheiden, die ohne den durch den Antagonismus von Herr und Knecht ausgelösten Prozess der Bewusstseinsbildung nicht wahrnehmbar wären. Ihre Bestimmung, die Selbstbestimmung der ,Herrenmoral' gegenüber der ,Sklavenmoral' ist Ergebnis des sich in der Geschichte verwirklichenden Selbstbewußtseins der .Vornehmen'. Die entscheidende Differenz gegenüber Hegel besteht darin, dass Nietzsche diese Bewegung nicht als Selbstverwirklichung des Geistes in der wirklichen Welt versteht, sondern als Fiktion, die ein ,Als ob' gegenüber dem ,An Sich' der natürlichen Wirklichkeit produziert. An sich könne man von Recht und Unrecht nicht reden, könne das Verletzen und Vergewaltigen kein Umecht sein, weil das Leben selbst „essentiell [...] verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungiert" (ebd., 328). Durch die Fiktion des Rechts wird eine biologische Funktion des Lebenswillens zwar nicht ausser Kraft gesetzt, aber auf Zeit ausgesetzt. Die Installation des Rechts führt, wie Nietzsche mit Missfallen registiert, zu „Restriktionen des eigentlichen Lebenswillens" (ebd.). Deshalb mussten ,Rechtszustände' stets ,Ausnahmezustände' bleiben. Das Recht ist reduziert darauf, den Kampf aller gegen alle, der zur Aporie des status naturalis wird, einzudämmen. Nietzsches Umwertung kehrt das egalitäre demokratische Rechtssystem um: Nicht der Zustand der Rechtlosigkeit ist der Ausnahmezustand, sondern die ,Rechtszustände' selbst.
4. Das
richtige Leben
Die Vorherrschaft der ,Rechtszustände' müsste das ,Wesen des Lebens' ruinieren, weil dadurch der ,Wille zur Macht', der die höchste gestaltende Kraft des Lebens sei, „in
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seinem eigentümlichen freien Gang" (Friedrich Schiller) behindert wird. Es gibt demnach so etwas wie ein richtiges Leben jenseits von ,gut' und ,böse', das nicht durch das Recht geregelt ist, sondern dessen Ordnung durch die „herrschaftliche Rolle der höchsten Funktionäre" (ebd., 332) bestimmt wird, durch die natürlichen Konstanten der menschlichen Instinkte, die nicht moralisch domestiziert werden dürfen, aber ästhetisch sublimiert werden müssen. Gegenüber der Fiktion des Rechts erweist sich das richtige Leben als ,An sich', funktional darin, dass es sich an der Funktion des Lebenswillens' definiert. Die Moral ist das Signum des falschen Lebens, das fallen muss. Nietzsche teilt mit Theodor W. Adorno die Überzeugung, es gebe kein richtiges Leben im falschen. Es geht Nietzsche darum, eine Wirklichkeit zu konstruieren, die eine andere gegenüber der vermuteten Naturwirklichkeit und eine andere als die Wirklichkeit des Denkens ist, eine, in der die Kontingenz der natürlichen Welt und die Ordnungen des Denkens übereinstimmen, in der Hegels Idee irdisch geworden und tatsächlich das Vernünftige das Wirkliche und das Wirkliche das Vernünftige ist. Die Ordnung, die keine Moral braucht, kann nur eine ästhetische sein. Sie verwirklicht sich ästhetisch in Nietzsches Vorstellung vom Spiel für die Götter, in der Allegorie des großen Welttheaters, der Stage-Allegorie. Sein Konzeption des Welttheaters ist, trotz griechischer Drapierung, unverkennbar dem christlichen Theatermodell verpflichtet. Das himmlische Tier, das auf der Bühne zur Erbauung Gottes oder der Götter agiert, leidet am schlechten Gewissen, das seinen Ursprung im Wesen der Allegorie selbst hat, die, wegen ihrer doppelten Bindung, immer ein himmlisches und ein irdisches Gesicht vorweisen muss. Die Fehlbarkeit gegenüber den Ansprüchen des Himmels und die wirkliche Wirklichkeit des Leidens sind nicht in Einklang zu bringen. Zur Befriedung des Gewissens und zur Linderung des Leidens müssen die nach außen gerichteten Instinkte nach innen gewendet werden. Sie richten sich damit „gegen den Menschen selbst", (ebd., 338f), der das Menschentier in sich abtöten muss, ohne dass es ihm gelingt, dadurch zum Gott zu werden. Die Theatermetapher verdeutlicht als ästhetisches Konstrukt vor allem, dass das neue ,An sich' eines richtigen Lebens nur aus einer neuen Fiktionalisierung der Instinkte entstehen kann, die allerdings ohne den hilfreichen moralischen Kanon auskommen muss. Die Fiktionalisierung der ursprünglich nur dem Lebenswillen entsprungenen und darüber hinaus vollkommen kontingenten Instinkte muss zu Kausalitäten und zur Automatisierung des Denkens hinsichtlich seiner Zielsetzungen führen. Nietzsche versucht die Automatisierung zu vermeiden, indem er die Konkretion des Zieles in die Zukunft verlegt, in der das richtige Leben als „ein großes Versprechen" (ebd., 340) wartet, als irdisches Paradies. Der utopische Horizont, vor dem sich das richtige Leben auf der Weltbühne abspielt, muss zur ,ewigen Wiederkehr' des schlechten Gewissens führen. Es resultiert, dem Wesen der Utopie gemäß, aus der Unerreichbarkeit des Zieles, das ein nicht eingelöstes Versprechen bleibt. Will man die Kontingenz der natürlichen Wirklichkeit in Demut anerkennen, wie es unabweislich scheint, und zugleich festhalten, dass ein anderes Ordnungsprinzip als das ästhetische nicht zur Verfügung steht, so wird man sich von der Theatermetapher verabschieden müssen, weil es den höheren Zuschauer nicht gibt, den
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das 19. Jahrhundert zunehmend verzweifelt zu finden suchte: vom transzendentalen A priori Kants bis zu Hegels Weltgeist und Sigmund Freuds Traumtheater. Die Entzauberung der Theatermetapher hat nicht Nietzsche geleistet, auch kein anderer Philosoph, sondern William Shakespeare auf dem Höhepunkt ihrer Entfaltung. Im Macbeth erklärt der irdische Schauspieler, auf dessen Kosten das Spiel für die Götter inszeniert wird, seinen Austritt aus der Truppe: Vom Welttheater bleibe nur eine Geschichte voll Schall und Wahn, die Nichts bedeutet, von einem Idioten erfunden, gespielt von einem armen Komödianten, der sich für eine Stunde auf der Bühne spreizen darf und auf Nimmerwiedersehen verschwindet. Nietzsche kann die Stage-Allegorie nicht aufgeben, weil sie eine Begründung für den Aufgang des richtigen Lebens als ästhetisches Konstrukt enthält, die ohne Kants Prinzip der Interessenlosigkeit auskommt. Kants Fundierung des Ästhetischen tritt in Nietzsches Lesart als Verkörperung des asketischen Ideals auf, dem der 3. Teil der Genealogie der Moral einen prominenten Part im Siegeszug der Moral zuschreibt. In der Interessenlosigkeit erkennt Nietzsche den Vorwand für Triebverzicht und Askese, damit für den verbotenen Eingriff der Moral in die Selbstbestimmung des Ästhetischen, in dem sich das Selbstbewusstsein am entschiedensten von den egalitären Tendenzen der Moral absetzt. Das hatte Kant nicht gemeint, der mit dem Begriff die Selbständigkeit des Ästhetischen hervorheben wollte. Erst bei Schopenhauer findet Nietzsche die Definition der Interessenlosigkeit als asketisches Ideal, in dem sich nur das Interesse des Philosophen nach .Erlösung vom Willen', d. h. von der Sexualität spiegele (ebd., 366). Dem hält Nietzsche entgegen, dass die „Sinnlichkeit beim Eintritt des ästhetischen Zustandes nicht aufgehoben wird, wie Schopenhauer glaubte, sondern sich nur transfiguriert" (ebd., 374). Die in der Genealogie der Moral postulierte ,Physiologie der Ästhetik' beruht mit dem Hinweis auf Transfigurierung nicht mehr auf Triebverzicht, sondern auf Triebsublimierung. Der Trieb tritt nicht mehr nackt auf, im Naturzustand, sondern verkleidet als Schauspiel für Götter oder Übermenschen. Nietzsches Transfiguration der Sinnlichkeit in der Äage-Allegorie gelingt vor dem Hintergrund der Resignation Shakespeares nur als grandiose Projektion auf Freuds Traumtheorie. In der Traumdeutung hat Freud das wirkliche Leben als Transfiguration der Triebwelt in eine ästhetische Bilderwelt erklärt, in der die Moral nur mehr durch die Bildstörungen des Über-Ich erkennbar ist. Die Konstruktion des Unbewussten ist auf Nietzsches Spuren mit der Absetzung jenes Über-Ich beschäftigt, dessen Wirken das richtige Leben verhindert. Im Grunde ist auch das Unbewusste der Psychoanalyse nicht mehr als eine Scheininstanz, die ihre Existenz nur der Herrschaft der Moral verdankt und die mit ihrer Absetzung verschwinden muss. Verschwinden muss das Über-Ich, das unter den psychischen Instanzen Freuds den Nährboden der Moral bildet. In der Genealogie der Moral tritt es in der Gestalt des asketischen Ideals auf, das als besonders gefährlich erkannt wird, weil es das Regelwerk der Fremdbestimmung in die körperliche Wirklichkeit internalisiert. Nietzsche ist es nicht entgangen, dass die Kritik des asketischen Ideals vor der Existenz des Philosophen selbst nicht Halt machen kann: Sie muss zu der Einsicht führen, dass die Philosophie das Leben des Philosophen aufzehrt. Das richtige Leben, das die Askese in die Nichtigkeit verbannt, muss auch die Philosophie ins Zwielicht der ,Lüge' rücken. Einerseits
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soll die Philosophie zur Wirklichkeit dieses Lebens vorstoßen, andererseits räumt Nietzsche ein, dass auch das Leben des Philosophen nur eine Form von Askese ist. Der Triebverzicht des asketischen Ideals erweist sich als ambivalente Forderung, die das Janus-Gesicht der Stage-Allegorie spiegelt. Auch der Philosoph fordert sexuelle Enthaltsamkeit, weil der Trieb das Denken behindere. Der Begriff des asketischen Ideals entwickelt eine negative Dialektik, deren Prozess mühsam zu stoppen ist. Das asketische Ideal ist unverzichtbar für den Fortgang der Vernunft, führt aber mit seinem Eindringen in das wirkliche Leben zu iher „Selbstverhöhnung" (ebd., 382). Reduziert man die Dialektik auf das interessenlose, von den Affekten gereinigte ästhetische Subjekt Kants, kehrt das asketische Ideal wieder, das die perspektivische Sicht der Vernunft zunichte machen will, um „den Intellekt zu castrieren" (ebd., 383). Der Asket ist die Inkarnation des falschen Lebens, nicht weil er bescheiden oder selbstgenügsam wäre, sondern wegen seiner Überheblichkeit, die das Krankhafte zum Gesunden, Gerechten und Guten erklärt und sich zum Richter ernennt über „Gesundheit, Wohlgeratenheit, Stärke, Stolz, Machtgefühl", die er verurteilt, „wie als ob" die Eigenschaften „an sich schon lasterhafte Dinge seien". Wie der römische Aufklärer Celsus in seiner Polemik gegen die Christen, erkennt Nietzsche den absoluten Machtanspruch der Asketen: „wie sie im Grunde dazu bereit sind, büssen zu machen, wie sie darnach dürsten, Henker zu sein!" Mit einem Wort: „Sie haben die Tugend jetzt ganz und gar für sich in Pacht genommen" (ebd., 386). Die überhebliche Bescheidenheit ist ein tief destruktives Ordnungsprinzip; der Asket ist, um es in einem an Nietzsche angelehnten Bild auszudrücken, das moralische Tier, das durch eine falsche Interpretation der Instinkte entsteht und damit die Moral und die Instinkte vernichtet. Dieses asketische Ideal schlägt bei Nietzsche in seiner höchsten Verkörperung auf beinahe dialektische Weise ins Gegenteil um. Der „asketische Priester, dieser anscheinende Feind des Lebens, dieser Verneinende, er gerade gehört zu den ganz grossen conservirenden und Ja-schaffenden Gewalten des Lebens" (ebd., 384). Mit seiner Verhöhnung der ausgleichenden Vernunft weist er auf die andere Wirklichkeit des Lebens, auf Schmerz und Tod hin, auf das „kranke Tier", das der Mensch als „nicht festgestelltes Tier" ist. Der asketische Priester verfolgt ein philosophisches Projekt, das man die Erkenntnis des Schmerzes nennen könnte. Der Schmerz und die Wunde des Daseins sind seine Wirklichkeit. Der „asketische Priester" ist der Stachel im Fleisch der Zufriedenheit, das entschiedene Urteil, dass das wirkliche Leben noch nicht erreicht, nicht einmal richtig gedacht, geschweige denn gelebt sei. Das macht ihn zu einem „ewig Zukünftigen" (ebd.,2, 385). Die Denkfigur des ,asketischen Priesters' verdeutlicht, warum Nietzsche dem asketischen Ideal einen derart prominenten Platz in der Genealogie der Moral einräumt. Das asketische Ideal ist nicht zu denken, sondern nur zu leben. Es beschäftigt zuerst den Körper, den es der schmerzlichen Wirklichkeit ausliefert, bevor das Denken zu seinen ersten Folgerungen gelangen kann. Die Erkenntnis des Schmerzes ist ihm die bewusstseinsbildende Kraft, und der Körper ist dem Asketen, wie für Montaigne, die Quelle aller Empirie, aus der sich das wirkliche Leben nährt. Es ist aber nicht das richtige Leben. Der ,asketische Priester' gehört, ohne seine Verdienste um die Erkenntnis zu schmälern, zu den Standpunkten, die überwunden werden müssen. Die Erkenntnis des -
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Schmerzes beschreibt in der Figur des asketischen Priesters nicht nur die körperliche Empirie des Denkens, sondern auch den Eingriff des Denkens in den Körper des Philosophen. Die Genealogie der Moral entwickelt sich unmittelbar aus dem wirklichen Leben des Philosophen, in dem das Denken den Körper aufzehrt. Ein gefräßiges Großhirn ist am Werk, das sämtliche Instinkte für seine Ziele instrumentalisiert und jede sinnliche Erfahrung auf der Stelle in eine Metapher verwandelt. Der Philosoph opfert die Bedürfnisse seines Körpers auf dem Altar des Denkens wie ein asketischer Priester, nicht mehr aus der Gewissheit jenseitigen richtigen Lebens, sondern aus der Überzeugung, dass das Denken selbst sich nach dem Prinzip der ewigen Wiederkehr einen neuen Körper schafft, der seiner nicht mehr bedarf und endlich im wirklichen und richtigen
Leben ankommt. Weil es für Nietzsche kein richtiges Leben im falschen geben kann, auch keine jenseitige Instanz, die den Begriff des richtigen Lebens feststellt, muss die neue Ordnung, die stets in Bewegung auf ein Zukünftiges ist, wie bei Hegel, aus der Selbstentfaltung des Bewusstseins entstehen. Die Wirklichkeit der Instinkte, die tritt in dieser Ordnung nicht in ihrem ,An sich' hervor, das nichts als die natürliche Kontingenz wäre, sie erscheint nicht ,für sich' und unzugänglich für das Denken, sondern als eine Ordnung an und für sich, als eine vom Denken zugerichtete, wieder in Ordnung gebrachte Wirklichkeit. Ordnung schaffen heißt, das ,nicht festgestellte Tier' fest zu stellen. Die Ordnung, wie sie Nietzsche entwickelt, ist nur als ästhetische zu begründen, will man nicht Kants transzendentales Prinzip oder Schopenhauers Mitleidsethik bemühen und, wie Nietzsche überzeugt ist, in die von Kant bemängelte selbstverschuldete Unmündigkeit' zurückfallen. Das Referenzmodell für eine nicht moralisch begründete Ordnung ist Schillers Ästhetik des Schreckens, die Nietzsches Spiel für Götter als eine von der Moral befreite ästhetische Ordnung erklärt, die „in der bedenklichen Anarchie der moralischen Welt, die Quelle eines ganz eigenen Vergnügens" entdeckt.5 Schiller ist weit davon entfernt, die moralische Ordnung abzuschaffen. Er hat das nicht nötig, weil er die ästhetische als eine von ihr unabhängige rekonstruiert, die auch die überlegene ist: „Wenn keine Moral mehr gelehrt wird, keine Religion mehr Glauben findet, wenn kein Gesez mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch anschauern, wenn sie die Treppen des Pallastes herunter wankt, und der Kindermord jezt geschehen ist."6 Nietzsches ,Bestie', sein ,hoher Mensch', der in der Gewalttätigkeit die Freiheit seines Handelns erweist, wird von Schiller ästhetisch gerechtfertigt, weil er jenseits von ,gut' und ,böse' die Jndependenz' der Imagination bezeugt, „aus jedem Furchtbaren ein Erhabenes zu erzeugen".7 Der Begriff des »Erhabenen', den Schiller von Edmund Burke übernimmt, setzt das „moralische Urteil" außer Kraft und bewirkt, daß wir „den Schreckbildern der Einbildungskraft", weil nur dem „ästhetischen Urteil" verpflichtet, „furchtlos und mit schauerlicher Lust" begegnen.8 Das Janus-Gesicht der Allegorie des
Schiller, „Über das Erhabene", in: Schillers Werke Nationalausgabe, Bd. 21, Weimar 1963,41. Ders., „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?", in: ebd., Bd. 20, 92. Ders., „Über das Pathetische", ebd., 210. Ders., „Über das Erhabene", 47.
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Welttheaters kehrt wieder im Oxymoron, mit dem Schiller die neue Freiheit von der Moral in der Figur des pathetischen' und des .Erhabenen' als Ordnung letzter Hand beschreibt, „weil wir uns bei ästhetischen Urteilen erweitert, bei moralischen hingegen eingeengt und gebunden fühlen".9 Ohne die Präferenz des ästhetischen Urteils müsste, wäre mit Nietzsche zu sagen, das moralische Urteil als einziges Ordnungsprinzip übrig bleiben, und der Wille müsste sich entweder mit Rousseau selbst disziplinieren oder mit Hobbes durch die Gewalteinwirkung der staatlichen Organisation diszipliniert werden. Folgerichtig hat Bernard Mandeville 150 Jahre vor Nietzsche in der Inquiry into the Origin of Moral Virtue seiner Bienenfabel die Moral als Instrument zur Befestigung der Herrschaft der wenigen über die vielen identifiziert, der Tugend das Verdienst abgesprochen und das Mitleid als Mittel zur Selbstbestätigung erklärt.10
5. Zurück zum
Anfang
Die Genealogie der Moral lässt sich als Versuch lesen, den Ursprung der Moral in einer falschen Vorstellung von der Herkunft des Guten zu finden. Damit wird das Grundproblem jeder philosophischen Ethik berührt, das weniger darin besteht, das Gute zu definieren, als darin, es zu begründen. Das Gute, seine Existenz vorausgesetzt, kann gar nicht zu einer bestimmten und unbedingten Ordnung führen, wie es die Moral vorsieht. Vielmehr scheint es so zu sein, dass die Festlegung des Guten auf einen moralischen Kodex regelmäßig zu seinem Verschwinden führt. Offensichtlich ist das so genannte Böse wesentlich einfacher zu kodifizieren. Das hängt damit zusammen, dass die christliche Religion das Böse in der Wirklichkeit der natürlichen Instinkte gefunden hat und sich das Sündenregister der Moral so von selbst fort schreibt. Man gelangt zu Wilhelm Buschs zynischer Feststellung, das Gute sei stets das Böse, das man lässt. Nietzsches Begründung einer Ordnung jenseits von ,gut' und ,böse' muss den Sündenfall revidieren, der nach der Bibel darin bestand, zwischen ,gut' und ,böse' zu differenzieren und aus dieser Differenz ein moralisches System von Verdienst und Strafe entwickelt zu haben, das sich gegen sämtliche natürlichen Instinkte richtet. Die Grundlage der neuen Ordnung bildet jene Umwertung, die das so genannte Böse als das Gute erkennt, womit die Differenz gegenstandslos wird. So weit so schlecht, könnte man sagen, wenn sich nicht das Problem ergäbe, dass Güte als Übung des Guten, so grundlos und nebulös sie sein mag, entgegen aller Wahrscheinlichkeit, existiert. Weil Nietzsche sich der Lösung Schopenhauers verweigert, der die Güte als einen natürlichen Instinkt identifiziert hat, kann er sie nur als autonome Setzung aus dem Willen zur Macht erklären. Womit er sie zum Verschwinden bringt. Wenigstens das scheint festzustehen, dass Güte zwar Starke und Schwache unterscheidet, sich aber weder hierarchisch begründen noch moralisch kodifizieren lässt. Oder mit Nietzsche: Wenn es kein Sein hinter dem Handeln gibt, kann es auch keine hohen guten und niederen 9 10
Ders., „Über das Pathetische", 216. Bernard de Mandeville, „An Enquiry into the Origin of Moral Virtue", in: Ders., The Fable of the Bees, Oxford 1924, Bd. 2, 47.
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sondern nur gute und schlechte Taten. Güte erscheint als dessen Existenz sich nicht begründen lässt, als das eigentliche etwas Widernatürliches, Problem ethischer Ordnungen. In seinem Gedicht Menschen getroffen zählt Benn eine Reihe von Leistungen der menschlichen Natur auf, die man alle dem unbestimmten Begriff der Güte zurechnen könnte, und endet mit der Formulierung des Problems jeder Ethik: „Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden/ woher das Sanfte und das Gute kommt/ weiß es auch heute nicht und muß nun gehn."11 schlechten Menschen
11
geben,
Gottfried Benn, „Menschen
getroffen", in: Ders., Gesammelte
Werke in vier Bänden, Bd. 3, 321.
Volker Ebersbach
„Denn zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit giebt es
keinen nothwendigen Gegensatz"
Friedrich Nietzsche und die Verleumdungen des Erotischen in der Liebe
Denn zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit giebt es keinen nothwendigen Gegensatz; jede gute Ehe, jede eigentliche Herzensliebschaft ist über diesen Gegensatz hinaus. (Friedrich Nietzsche, Genealogie der Moral)
Zwischen Sinnlichkeit und Keuschheit giebt es keinen
nothwendigen Gegensatz; jede gute Ehe, jede eigentliche Herzensliebschaft ist über diesen Gegensatz hinaus. (Friedrich Nietzsche, Nietzsche contra Wagner)
Der vergiftete
Eros:,Asketische Ideale'
Auf welche Weise .Sinnlichkeit' zur ,Hündin' verkommen kann, hat Friedrich Nietzsche an seinen Zeitgenossen und nicht zuletzt an sich selbst mit psychologischem Scharfsinn beobachtet. Den Grund dafür sucht und findet er dort, wo man die ,Keuschheit' gleichsam gepachtet hat: in den kirchlichen Ausprägungen der christlichen Religion. In einem Kapitel der Götzendämmerung, dem Bekenntnis Was ich den Alten verdanke, verweist der reife Nietzsche darauf, dass den Griechen „das geschlechtliche Symbol das ehrwürdige Symbol an sich" war, „der eigentliche Tiefsinn innerhalb der ganzen antiken Frömmigkeit". Aber das „Christenthum [...] warf Koth auf den Anfang, auf die Voraussetzung unseres Lebens" (KSA, GD, 6, 159f). Es ist schwierig zu ermitteln, wie weit die Sympathie dafür, „dass die Menschen in dem aphrodisischen Triebe eine Gottheit sahen" (KSA, MA I, 2, 174), in seine Zeit als Lernender, in seine Pubertät, zurückreicht. Ein Wissen darüber, dass die bekanntesten Heiligen, die Kirchenväter, zu den „Brünstigen" (KSA, ZA, 4, 69) gehörten, also auch die Mönche, verdankt er, wenn er es nicht schon hatte, dem Kirchengeschichtler Franz Overbeck, dem Freund: „Die sinnlichsten Männer sind es, welche vor den Frauen fliehen und den Leib martern müssen." (KSA, M, 3, 220); „Bekanntlich wird die sinnliche Phantasie durch die Regelmässigkeit des geschlechtlichen Verkehrs gemässigt, ja fast
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unterdrückt, umgekehrt, durch Enthaltsamkeit oder Unordnung im Verkehre entfesselt
und wüst. Die Phantasie vieler christlichen Heiligen war in ungewöhnlichem Maasse schmutzig." Ihre ,Begierden' wurden zu ,Dämonen', und die priesterliche ,Absicht' hinter allen Forderungen nach Enthaltsamkeit war nicht, dass der Mensch „moralischer werde, sondern dass er sich möglichst sündhaft fühle" (KSA, MA I, 2, 134ff). Nietzsches Hauptanklage lautet deshalb: „Das Christenthum gab dem Eros Gift zu trinken er starb zwar nicht daran, aber er entartete, zum Laster" (KSA, JGB, 5, 102). Doch der Vorwurf trifft das „Christenthum" nicht allein: „In allen pessimistischen Religionen wird der Zeugungsact als schlecht an sich empfunden [...]" (KSA, MA I, 2, 135).1 ,Asketische Ideale'2 sind Instrumente der Verleumdung des Erotischen in der Liebe. Mit dieser Verleumdung wird aus der Liebe die altruistische, karitative, unegoistische ,Nächstenliebe' herausgespalten und das erotische Begehren, die Sexualität, herabgewürdigt. Die „Liebe zu Gott und den Menschen um Gotteswillen" (KSA, JGB, 5, 118; vgl. ebd., 79, 213) soll eine „allgemeine Menschenliebe" erzeugen, die sich allerdings als „Utopie" (KSA, M, 3, 138f.) erweist: „Zuletzt ist die ,Liebe zum Nächsten' immer etwas Nebensächliches, zum Theil Conventionelles und Willkürlich-Scheinbares im Verhältnis zur Furcht vor dem Nächsten" (KSA, JGB, 5, 122). Zarathustra korrigiert den verlogenen Altruismus der Kirche: „Liebt immerhin euren Nächsten gleich euch, aber seid mir erst Solche, die sich selber lieben" (KSA, ZA, 4, 216). Auch Christus verlangt nur, man solle seinen Nächsten lieben wie sich selbst, nicht mehr als sich selbst. Und „höher noch als die Liebe zu Menschen", stellt Zarathustra fest, „ist die Liebe zu Sachen und Gespenstern". Er rät zur „Nächsten-Flucht und zur FernstenLiebe" (ebd., 77). Die Verleumdung des Eros hat, weil sie ihm „Gift zu trinken" gibt, üble Folgen, die ihren Zielen zuwiderlaufen: „[...] nicht wenige, die ihren Teufel austreiben wollten, fuhren dabei selber in die Säue" (ebd., 70). In seiner Lust, denen, die ihn gequält haben, möglichst viel Unangenehmes zu sagen, geht Nietzsche sehr weit: Die „Kunst der rechtschaffenen' Verleumdung" des Eros durch die „Missrathenen", durch die „Schwachen", „Leidenden" und „Kranken", die „Heillos-Krankhaften", „die zu Richtern verkleideten Rachsüchtigen", die „Eitlen", „die verlogenen Missgeburten", die „Species der moralischen Onanisten und ,Selbstbefriediger'" ist ein „Giftgewächs" und zugleich die „grösste Gefahr für die Gesunden". (KSA, GM, 5, 367ff.) Die Vorwürfe „Schuld" und „schlechtes Gewissen" (ebd., 331) bleiben nicht ohne verheerende Folgen: ,J3öse denken heisst böse machen. Die Leidenschaften werden böse und tückisch, wenn sie böse und tückisch betrachtet werden" (KSA, M, 3, 73). Nietzsche erlebt die „Moral als Widernatur", „die Praxis der Kirche" als „lebensfeindlich", als -
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„Castratismus" (KSA, GD, 6, 82ff.) 1
Den Akt der Geburt bei Tieren beobachtet zu haben, schildert Nietzsche seinem Freund Carl von Gersdorff am 24. 7. 1874 fast ehrfürchtig als bedeutendes Erlebnis: „[...] auf dem Rückwege warf eine Ziege vor meinen Augen ein Zicklein, das erste lebendige Wesen, welches ich gebären sah. Das Junge war viel behender als ein kleines Kind und sah auch besser aus, die Mutter leckte es und benahm sich wie mir schien sehr vernünftig, während Romundt und ich furchtbar dumm dabeistanden" (KSB 4, 247). Ihnen widmet Nietzsche in der Genealogie der Moral ein entlarvendes Kapitel, die Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale? (KSA, GM, 5, 339ff).
„Denn zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit..."
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Nietzsche ist weder der erste große Leidende noch der erste Ankläger. Wilhelm Heinse (1746-1803) entwarf in dem seinerzeit Aufsehen erregenden Roman Ardinghello und die glückseligen Inseln eine utopische Sezession aus moralischer Enge in erotische Freizügigkeit. Er war es wohl, der während Friedrich Hölderlins Aufenthalt mit Susette Gontard 1796 in Bad Driburg, im selben Haus wohnend, das heimlich leidende Liebespaar dazu ermunterte, einander Erfüllung zu gewähren.3 Der junge Johann Wolfgang Goethe verteidigt in seiner Farce Götter, Helden und Wieland die Antike gegen verunglimpfende Vorwürfe des „Lasters" durch ein „aberweises Jahrhundert", das die Griechen noch mit den Illusionen Johann Joachim Winckelmanns betrachtet.4 In seinem Dramolett Satyros oder Der vergötterte Waldteufel entkommt ein Einsiedler knapp dem ländlichen Volk, das sein Kruzifix verspottet und sich einem Satyr zugewandt hat.5 Die Verleumdung des Erotischen in der Liebe ist Gretchens Schicksal im Ersten Teil des Faust, und in den Wahlverwandtschaften müssen die Beteiligten einer Dreiecksgeschichte dafür büßen, dass sie dem Erotischen in ihrer Liebe entsagen wollten. Aber „während der Christ, der jenem Rathschlage folgt und seine Sinnlichkeit ertödtet zu haben glaubt", sich täuscht, lebt sie nicht nur „auf eine unheimliche vampyrische Art fort und quält ihn in widerlichen Vermummungen" (KSA, WS, 2, 590). Das erotische Begehren schleicht zurück in die „Religion der Liebe" (KSA, AC, 6, 201). Das führt zur „Vergeistigung der Liebe", insgeheim „ein großer Triumph über das Christenthum" (KSA, GD, 6, 84), zur ,Jiebe als Passion" (KSA, JGB, 5, 212), zur vornehmen, abendländisch ritterlichen Liebe, in der „unter dem Druck christlicher Werthurtheile der Geschlechtstrieb sich bis zur Liebe (amour-passion) sublimirt hat" (ebd., 111), so dass heute „die Liebesgeschichte das einzige wirkliche Interesse wurde, das allen Kreisen gemein ist, in einer dem Alterthum unbegreiflichen Übertreibung" (KSA, M, 3, 74). Erst in diesem Klima kann die Liebe zu einem Zustand zurückfinden, in dem sich der ,Gegensatz' zwischen ,Keuschheit' und Sinnlichkeit' wieder auflöst: „Die Liebe vergiebt dem Geliebten sogar die Begierde" (KSA, FW, 3, 425). Diese „neue Liebe, die tiefste und sublimste aller Arten Liebe" (KSA, GM, 5, 268), dieser „feinste Kunstgriff, welchen das Christenthum vor den übrigen Religionen voraus hat", der aus ihm „eine lyrische Religion" gemacht hat, ist eine Gefahr für den „décadent" Nietzsche, aber auch eine Chance für „dessen Gegensatz" (KSA, EH, 6, 266). -
Das
ungehorsame Spiegelbild: Lou
Jene
vornehme, abendländisch ritterliche Liebe, aus der ein notwendiges Entsagen das Begehren nicht vertreibt, mag Nietzsche für Cosima Wagner empfunden ha-
erotische 3 4
Pierre Bertaux, Friedrich Hölderlin, Frankfurt/M. 1978, 465ff. Johann Wolfgang Goethe, Poetische Werke, Berliner Ausgabe, Bd. 5, 182-195. Ders., ebd., 165ff.; 168: „Es tut mir in den Augen weh/ Wenn ich dem Narren seinen Herrgott seh
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ben.6 Sie passte in die Tribschener Villa und hätte auch in die Villa Wahnfried gepasst.
Richard Wagner hatte nichts zu befürchten, wenn er seine Frau allein in Begleitung seines Bewunderers nach Mannheim reisen ließ. Nietzsche ist auch ihr Bewunderer. Sonst schweigt er sich vollkommen aus. Erst Wahnzettel bringen es Anfang Januar 1889 an den Tag: „Ariadne, ich liebe Dich" (KSB, 8, 572).7 Im März 1882 machen Malwida von Meysenbug und Paul Rée in Rom ihren Freund mit Louise von Salomé bekannt. Ausgerechnet in der weihrauchdunstigen Peterskirche trifft man sich, wo Rée in einem Beichtstuhl mit ,Arbeitsnotizen' beschäftigt ist. „Von welchen Sternen sind wir uns hier einander zugefallen?"8 soll Nietzsche bei ihrem Anblick ausgerufen haben. Ein besonderes Erkennen, dem mystischen Wiedererkennen einer Liebe auf den ersten Blick nicht unverwandt, liegt über der Begegnung. Der geistige Reiz ihrer Vaterstadt Sankt Petersburg ist Nietzsche bekannt durch seinen Freund Overbeck, der dort aufgewachsen ist, und in den Romanen Fjodor Dostojewskijs, die er 1887 entdeckt, wird er ihm wiederbegegnen. ,Ljola' lief als kleines Mädchen durch die Straßen, in denen Dostojewskijs Romane spielen, und sie hat Geschichten wie er in ihrem Kopf. Sie ist, abgesehen von der Staatsbürgerschaft, keine ,Russin', sondern vom Vater her hugenottischer und baltisch-deutscher, von der Mutter her hamburgischhanseatischer Herkunft. Unter fünf Brüdern müsste sie sich behaupten. Sie weiß also die Männer zu nehmen. Den Kosenamen ,Lou' hat sie von ihrem Lehrer Hendrik (Henri) Gillot, der sich in seine Schülerin so verliebte, dass er Frau und Kind verlassen hätte, wäre sie zu haben gewesen. Sie kennt es, einem Mann den Kopf verdreht zu haben und ihn enttäuschen zu müssen. Sie kennt auch ein „Verschen", das Nietzsche, dem Verehrer alles Raubtierhaften (KSA, JGB, 5, 117) gefallen muss: „Die Welt, sie wird dich schlecht begaben, glaube mir's! Sofern du willst ein Leben haben: raube dir's!"9 Sie hat den protestantisch reformierten Kirchenglauben abgelegt und ist bereit, in den „sogenannten ,unübersteiglichen Schranken', die die Welt zieht", nur „harmlose Kreidestriche" zu erblicken.10 Sie weiß wie Nietzsche vom Egoismus der Liebe" (KSA, M, 3, 137), von der „Gottlosigkeit, Gottverlassenheit der Liebe" (KSA, FW, 3, 527f). Eine Schönheit für die Liebe auf den ersten Blick ist Lou nicht, und Nietzsche traut sich selbst zu wenig, um sich so zu verlieben. Er meint: „Auch die Liebe muß man lernen" (ebd., 560). Über die bürgerliche Ehe, auf die es hinausläuft, wenn man einen Heiratsantrag macht, denkt er ohne Illusionen. Sie ist die „erlaubte Form der Ge6
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Dazu: Hermann-Peter Eberlein, Flamme bin ich sicherlich. Friedrich Nietzsche, Franz Overbeck und ihre Freunde, Köln 1999, 85f; Joachim Köhler, Friedrich Nietzsche und Cosima Wagner, Berlin 1998. Die Jenaer Krankengeschichte (Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinisch-biographische Untersuchung, Würzburg 1990, 397) verzeichnet für den 27. März 1889 Nietzsches Aussage: „Meine Frau Cosima hat mich hierher gebracht." Da bei der Ankunft in Jena seine Mutter die Begleiterin war, scheint sich ein Hauch von Respekt vor mütterlicher Autorität, mit allen Widerständen dagegen, in Nietzsches Liebe zur ,hohen Frau' Cosima Wagner geschlichen zu haben. Lou Anderas-Salomé, Lebensrückblick, aus dem Nachlass hg. von Ernst Pfeiffer, Frankfurt/M., 80. Dies., ebd., 56f. Dies., ebd., 78.
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schlechtsbefriedigung" (KSA, NF, 10, 18). Trotzdem macht er der klugen, herben Studentin einen förmlichen Antrag, täppisch genug, auf dem Umweg über Rée, der sich selber Hoffnungen hingibt. Schon bei Mathilde Trampedach hat er den Musiker Hugo von Senger als Fürsprecher benutzt, ohne zu ahnen, dass der selbst um das Fräulein warb, das er dann auch heiratete. Lou lehnt mit der Begründung ab, sie hege eine „grundsätzliche Abneigung gegen alle Ehe überhaupt"", hoffend, darin mit dem unverhofften Brautwerber übereinzustimmen. Man einigt sich auf ein allein den Studien gewidmetes Leben zu Dreien, eine ,Dreieinigkeit', und will entweder nach Wien oder Paris gehen. Doch Nietzsche hält sich nicht daran. Er glaubt, in der „Abneigung gegen alle Ehe" keinen Einwand gegen ein Liebesverhältnis sehen
zu
müssen, und Lou entmu-
tigt ihn nicht völlig. Die Gedanken über ,Liebe' und ,Weib', die er bis zur gerade abgeschlossenen Fröhlichen Wissenschaft niedergeschrieben hat, sind für ihn selbst schwer auszuhalten. Wie willkommen wäre ihm eine junge vorurteilsfreie Frau, die ihm zeigte, dass er sich täuscht oder es wenigstens eine Ausnahme gibt. Wenn er ihr die Heirat anträgt, um sie vor moralischem Argwohn der Gesellschaft gegen ihr Sonderverhältnis zu schützen, hofft er vielleicht, gegenüber Rée in einen Vorteil zu kommen und eine Nähe zu schaffen, in der schließlich doch ein erotischer Funke überspringt. Dass Lou nicht frigid, sondern nur noch nicht erweckt war, zeigt später ihre heftige Liebesbeziehung zu Rainer Maria Rilke. So hält er sich in einer Falschmünzerei der eigenen Gefühle selbst nicht an das, was er längst weiß. Bei einem Reiseaufenthalt am Orta-See besteigen sie allein den Monte sacro und haben auf dem Gipfel eine Szene, die stürmisch genug ist, dass beide einen Schleier der Diskretion darüberlegen. „Ob ich Nietzsche auf dem Monte sacro geküßt habe ich weiß es nicht mehr",12 äußert Lou in einem späten Gespräch. Womöglich hat dieser Kuss sie ebenso abgekühlt wie Nietzsches Versuche, Rée vor ihr herabzusetzen. „Die Menschen der tiefen Traurigkeit verrathen sich, wenn sie glücklich sind," gesteht Nietzsche später, „sie haben eine Art, das Glück zu fassen, als ob sie es erdrü-
cken und ersticken möchten, aus Eifersucht, ach, sie wissen zu gut, daß es ihnen davonläuft!" (KSA, JGB, 5, 229). In einem Brief an Lou fleht er: „Ja, ich glaube an Sie: helfen Sie mir, daß ich immer an mich selber glaube" (KSB, 6, 197). Lou wirkt belebend und gesundend auf ihn. Nach Plänen, sich in märkischen Kiefernwäldern nahe Berlin zu treffen, trifft man sich in Tautenburg, unweit von Jena, durchstreift drei Wochen die Forste in unentwegtem Gespräch. Nietzsche führt eigens ein Heft mit Aufzeichnungen für Lou von Salomé (KSA, NF, 10, 9^42), von denen einige als Sprüche und Zwischenspiele in Jenseits von Gut und Böse auftauchen. ,JJie Ehe als langes Gespräch" (KSA, MA, 2, 279) scheint Wirklichkeit zu werden. Nietzsche ist fest überzeugt, dass Lou sich im Irrtum befindet, wenn sie ihn nicht wiederliebt. Er versucht es mit Freundschaft, obgleich er Freundschaft zwischen Mann und Frau nicht für möglich hält. Als Freund und Lehrer glaubt er, sie von diesem Irrtum zu befreien. Sie stimmen so sehr überein, dass ein Zuhörer geglaubt hätte, „zwei Teufel unterhielten sich".13 Sätze Zur Lehre vom Stil tragen den -
11 12 13
Dies., ebd., 80. Dies., ebd., 236, Anm. zu 80. Dies, ebd., 84.
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Vermerk: „Einen guten Morgen, meine liebe Lou!" (KSA, NF, 10, 39). Er lässt sich ausbeuten. „Wer von Grund aus Lehrer ist, nimmt alle Dinge nur in Bezug auf seine Schüler ernst, sogar sich selbst" (KSA, JGB, 5, 85). Lou beutet ihn mit gutem Gewissen aus, gehört doch das Recht auf Ausbeutung zu den Grundpfeilern seiner Philoso-
phie.
Die Sitte der Zeit erfordert eine Anstandsdame. Während Nietzsche in einem anderen Haus allein wohnt, logiert Lou mit Nietzsches Schwester Elisabeth beim Pfarrer. Lisbeth ist nicht bereit, ihren ,Herzens-Fritz' herzugeben. Er braucht nur den Begriff „wilde Ehe" in den Mund zu nehmen, und sie schreit hysterisch und übergibt sich.14 Die nicht unerotische Bindung an den Bruder hat das ,Lama' noch immer nicht heiraten lassen. Seine Ehefrau kann und darf sie nicht werden. Sie begnügt sich damit, seine geistige Partnerin zu sein, und gerade das nimmt Lou ihr nun auch weg. Elisabeths Eifersucht ist ein Indiz dafür, dass es zwischen Nietzsche und Lou erotisch knisterte. Der unüberwindliche Besitzanspruch der Liebe, der sich als Treueanspruch tarnt, den die Gesellschaft der Güterverteilung ummünzt in ein Treuegebot, macht sich im Verhältnis der Schwester zum Bruder geltend. Mit einem richtigen Instinkt schließt sie auch darauf, dass ihr ,Herzens-Fritz' sich etwas vormacht. Sie unterlässt nichts, ihn bei Lou, Lou bei ihm und beide bei der Mutter hinterrücks schlechtzumachen. Die Verleumdung des Erotischen in der Liebe nimmt für Nietzsche die Gestalt seiner Schwester und dahinter die seiner Mutter an. Das Tragikomische daran ist, dass Lisbeth überhaupt nicht zu intrigieren brauchte. Lou will ihr den Bruder keineswegs wegnehmen. Nietzsche wird für eine Affäre gescholten, die er mit Lou gern gehabt hätte. Sehenden Auges ist er in eine unglückliche Liebe gestolpert. Dass er sein weibliches Spiegelbild erblickte, hat ihn entflammt und zutraulich gemacht. Aber Lou, das Spiegelbild, in das er sich verliebt hat, ist ungehorsam. Es liebt ihn nicht. Es ,folgt' ihm nicht, wie er es vom ,Weibe' erwartet. Nietzsche lernt auch die bis dahin in Unterwerfung gehüllte Schwester kennen. Ein aus dem Gehorsam ausbrechendes Spiegelbild ist auch sie. Wenn er es noch nicht wusste, dann weiß er es jetzt: „In der Rache und in der Liebe ist das Weib barbarischer als der Mann" (KSA, JGB, 5, 97). 14
Dies., ebd., 240, Anm. zu 83. Zu Elisabeths Beunruhigung bei Heiratsplänen ihres Bruders vgl. KSB 4, 250: „Meine Bemerkung über Fr. R[ohr] sollte Dich nicht aufregen, ich theilte sie als Curiosum mit. Übrigens sind Deine Bedenken meine Bedenken." Am 21. 4. 1883, Nietzsche vertraut in einem Brief (KSB 6, 365) Heinrich Köselitz an, „es war nur eine Consequenz davon, daß meine Mutter mich voriges Jahr einen ,Schimpf der Familie' und ,eine Schande für das Grab meines Vaters' nannte. Meine Schwester schrieb mir einmal, wenn sie katholisch wäre, so würde sie in ein Kloster gehn, um den Schaden wieder gut zu machen, den ich durch meine Denkweise schaffe." Diese „Naumburger ,Tugend'" ( 9. 9. 1882 an Franz Overbeck, KSB 6, 256), hatte für ihn etwas Barbarisches: „die Stimme meiner Schwester zu hören macht mir Mißvergnügen: ich bin immer krank, wenn ich mit ihr zusammen war" (ebd., 256). 1885 klagt der Vereinsamte in einer Notiz: „Eigentlich sollte ich einen Kreis von tiefen und zarten Menschen um mich haben, welche mich etwas vor mir selber schützten und mich auch zu erheitern wüßten: denn für einen, der solche Dinge denkt, wie ich sie denken muß, ist die Gefahr immer ganz in der Nähe, daß er sich selber zerstört" (KSA, NF, 12, 9). Er fühlt sich in der Nähe von Menschen wie ein „müder Wanderer, den das harte Gebell eines Hundes empfangt" (KSA, NF, 13, 21).
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Lou zieht sich irritiert zurück und lebt, bis sie heiratet, an der Seite von Paul Rée, der sie nicht bestürmt, der sich auf Abstand halten lässt. Nietzsche verfallt in narzißtische Wut und Männerhysterie. Er sieht in seiner Enttäuschung über die vermeintliche Ausnahme eine einzige Bestätigung seiner Vorurteile über „das Weib", seiner „Verachtung für das weibliche Geschlecht" (KSA, NF, 10, 23).15 Das empört ihn: „Eine Seele, die sich geliebt weiss, aber selbst nicht liebt, verräth ihren Bodensatz: ihr Unterstes kommt herauf (KSA, JGB, 5, 88). Er trägt sich mit Selbstmordgedanken. Vielleicht hegt er auch den Wunsch, „den Gegenstand seiner Liebe zu tödten, damit er ein für alle Mal dem frevelhaften Spiele des Wechsels entrückt sei" (KSA, MA II, 2, 496). Die Hysterie klingt ab. Eine Versöhnung hält er nicht mehr für möglich, weil er einsieht, dass er selbst zu weit gegangen ist und sie ihm das, was er wollte, auch nicht bringen würde.16 „Man liebt zuletzt seine Begierde, und nicht das Begehrte" (KSA, JGB, 5, 103). Der Selbstbeobachter hat die sadomasochistische Grausamkeit und Zerstörungswut des dionysischen Eros geschmeckt. So wird ihm die erotische Liebe zum ,Fatum', zur Fatalität, cynisch, unschuldig, grausam und eben darin Natur! Die Liebe, die in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhass der Geschlechter ist!" (KSA WA, 6, 15).17 In Georges Bizets Oper Carmen entdeckt er das alles wieder. In einem Brief an August Strindberg wiederholt er diese Formel kurz vor dem Zusammenbruch -
-
,
(KSB, 8, 493).
Selbst wenn Lou ihn wiedergeliebt hätte, wäre Nietzsches Liebe zu ihr zum Scheitern verurteilt gewesen. Der August in Tautenburg war ein Rückfall in die Bezauberung durch etwas, das er durchschaut zu haben glaubte. Zarathustra war in Sils, das er dies eine Mal ausließ, schon vorbeigegangen. In E. T. A. Hoffmanns Märchen Der goldene Topf verfehlt und versäumt der Student Anseimus seine Geliebte, weil er schon, bevor er um sie wirbt, mit einem Bein im Geisterreich der Poesie gefangen ist. Im Haus Wagner verglich man Nietzsche gern mit ihm.18 Er richtete sich wieder ein in seiner Einsamkeit, nachdem er mit Mutter und Schwester gebrochen hatte. Vorbei alle Gespräche: „Man liebt seine Erkenntniss nicht genug mehr, sobald man sie mittheilt", (KSA, JGB, 5, 100) vermerkt er bitter. Er vertont Lous Hymnus auf das Leben, seine einzige zu Lebzeiten veröffentlichte Komposition. „Der Schmerz gilt nicht als Einwand gegen das Leben", reflektiert er noch in Ecce homo über das Jasagende Pathos par excellence" (KSA, EH, 6, 336). Seine „Liebe zum Leben" ist fortan wie die „Liebe zu einem Weibe, das uns Zweifel macht" (KSA, FW, 3, 350, Vorrede, 1886). Lou, die Psychoanalytikerin, spricht in ihrem Buch Friedrich Nietzsche in seinen Werken nicht wie über einen Mann, der sie geliebt und begehrt hat, sondern, und das ist besser, wie über ihren ver-
16
„Was weiß der von Liebe, der nicht gerade das verachten mußte, was er liebte!" (KSA, NF, 10, 57). Lou Andreas-Salomé, Lebensrückblick, 86: „Nietzsche antwortete kopfschüttelnd: Was ich getan, ,
nicht verzeihen."' Nietzsche nennt den Mann das „unfruchtbare Thier" (KSA, JGB, 5, 98). Er stellt fest, ein Mann könne „über das Weib immer nur orientalisch denken" (ebd., 175). Er bestreitet sogar die Möglichkeit eines Verständnisses der Menschen untereinander: „Nur durch Mißverständnisse befindet sich alle Welt im Einklang. Wenn man, unglücklicherweise, sich begriffe, so würde man sich nie mehr mit einander verstehen" (KSA, NF, 13, 85). Joachim Köhler, Friedrich Nietzsche und Cosima Wagner, 66. das kann
17
18
man
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Patienten. Zarathustra weiß: „Es ist immer etwas Wahnsinn in der Liebe. Es ist aber immer auch etwas Vernunft im Wahnsinn" (KSA, ZA, 4, 49).
trautesten
Ein Ethos der
,Vornehmheit'
Nietzsche vergleicht die ,Wahrheit' gern mit einem ,Weib': „Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist -, wie? ist der Verdacht nicht gegründet, dass alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf Weiber verstanden?" (KSA, JGB, 5, 12, Vorrede, 1885; vgl. KSA, FW, 3, 352, Vorrede, 1886). Lou ist bei der ersten Begegnung an Nietzsche ein „feierliches Wesen"19 aufgefallen. Es kommt aus dem schon vorbereiteten Gebiet, in das sich der Verletzte umgehend zurückzieht: aus der Welt des Zarathustra, fernab von den „Fliegen des Marktes" (KSA, ZA, 4, 66). „Niemals noch hängte sich die Wahrheit an den Arm eines Unbedingten" (ebd.), heißt es dort. Hat die Wahrheit Lous Gesicht angenommen? Als Liebender ist er gescheitert. Die AusnahmeFrau hat sich ihm mit ihrer geistigen wie erotischen Ausstrahlung unauslöschlich eingeprägt und sich ihm dann doch entzogen. Aber es ist Ausstrahlung, nichts Wirkliches: „Die Liebe ist der Zustand, wo der Mensch die Dinge am meisten so sieht, wie sie nicht sind. Die illusorische Kraft ist da auf ihrer Höhe, ebenso die versüssende, die verklärende Kraft. Man erträgt in der Liebe mehr als sonst, man duldet Alles" (KSA, AC, 6, 191). Durch die Reintegration des Eros in die Liebe wird die Liebe nicht zuverlässiger, weil Eros selber flüchtig ist. Der Asket entsagt, weil er sich nicht verführen lassen will, vom ,Teufel', zum ,Teufel'. Ein Erkennender von der Art Nietzsches entsagt, weil er sich nicht täuschen lassen will. Der Asket entsagt aus moralischen Gründen, der Immoralist als Zergliederer. Über die Nichtigkeit des Gegenstandes der Entsagung könnten sie sich einigen. Bis zum Zarathustra ist alles bohrender, pessimistischer' Verdacht. Dem Dichter des Zarathustra bestätigt sich jeder Verdacht. Aber die Befunde werden fortan anders bewertet. Die neue Bewertung bekommt den Rang einer „Offenbarung" (KSA, EH, 6, 339). Die „Umwerthung aller Werthe" nimmt ihren Lauf. Aus der skeptischen Sicht auf das Menschliche, Allzumenschliche wird die Feststellung, der Mensch sei „Etwas, das überwunden werden soll" (KSA, ZA, 4, 14), nicht etwa aus Verachtung, die empfindet der ,Heilige', sondern Zarathustra bekennt: „Ich liebe den Menschen" (ebd., 13). Nietzsches Aristokratismus, der versucht, „neue Tafeln" an die Stelle der „alten Tafeln" zu setzen, (ebd., 246ff.) kommt aus einer Menschenliebe, die an den Menschen, wie er sie kennt, sich selbst inbegriffen, kein Genügen findet, die allenfalls die Ausnahmen gelten lässt. Wie er der christlichen Offenbarung eine eigene, zarathustrische entgegensetzt, überträgt er die überkommene allgemeine Menschenliebe in eine neue um des ,Übermenschen' willen: „Und Zarathustra sprach also zum Volke: Ich lehre euch den Übermenschen" (ebd., 14). Dieser neuen Menschenliebe verleibt er nun den in der christlichen Nächstenliebe vergifteten Eros, den er herausgenommen hat, um ihn zu entgiften, in einem Akt der „unbefleckten Erkenntnis" wieder ein: „Wo ist Unschuld? Lou
Andreas-Salomé, Lebensrückblick, 80.
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Wo der Wille zur Zeugung ist. Und wer über sich hinaus schaffen will, der hat mir den reichsten Willen" (ebd., 157). Dem christlich verleumdeten, beschmutzten Eros gibt er dieselbe Unschuld zurück wie dem als „Erbsünde" verleumdeten „Triebleben": Es ist „Willezur Macht [...] und nichts ausserdem" (KSA, JGB, 5, 55). Nennen wir Nietzsches zarathustrische Offenbarung eine Offenbarung in der zweiten Ableitung und die daraus hervorgehende, „Fernstenliebe" genannte Menschenliebe eine Menschenliebe der zweiten Ableitung, so finden wir in allem, was Zarathustra über die Liebe zwischen Mann und Frau, über Ehe und Zeugung sagt, vor allem was er in dem Kapitel Von alten und jungen Weiblein (KSA, ZA, 4, 84ff.) mit einem alten „Weiblein" verhandelt, einen sexualethischen Konservatismus in der zweiten Ableitung oder, um der gegenwärtigen Meta-Mode zu folgen, einen Meta-Konservatismus. Es ist wie mit seiner Ästhetik: Als Auflöser des Überkommenen scheint er modern zu sein, aber er ist kein Vertreter der ,Moderne'. Sein Meta-Konservatismus des Durchschauens kann weder für eine ästhetische noch für eine sexuelle, sexistische Anarchie in Anspruch genommen werden. Das „laisser aller" des „Sichgehen-lassens" (KSA, JGB, 5, 108), Ausfluss einer heuchlerisch zur ,reinen', karitativen, christlichen Nächstenliebe entstellten ,Liebe', erzeugt kranke, elende, ekelhafte Menschen und „den grossen Ekel am Menschen" (KSA, GM, 5, 372). „Der Ekel am Menschen, am ,Gesindel'", bekennt Nietzsche, „war immer meine grösste Gefahr" (KSA, EH, 6, 276) Hier wurzelt sein Ethos der „Vornehmheit", das aus der Ehe ein Instrument zur Züchtung „eines neuen Adels" (KSA, ZA, 204, 254) macht: „Nicht nur fort, sollst du dich pflanzen, sondern hinauf!" (Ebd., 90). Der ,¿ufall der Ehen" (KSA, M, 3, 142) müsste, so erwägt Nietzsche schon vor diesem Imperativ, ärztlicherseits korrigiert werden, zur Zukunft des Arztes" gehöre es, „Ehestifter und Eheverhinderer" (KSA, MA I, 2, 203f.)21 zu werden. Zu allem, was wir Nietzsche über „Zucht", „Züchtung" und Zeugungsverbot sagen hören, müssen wir bedenken, dass er sich selbst dem Typus zurechnet, dem er keine genetische Nachkommenschaft erlaubt.22 Nicht nur, dass er „die Erde" sich „in einen Garten des
~
21
22
Dazu: „vermittelst der Zeugung ein noch siegreicheres Leben vorbereiten" (KSA, M, 3, 142). Dazu Nietzsches späte Notizen zu „Fällen, wo ein Kind ein Verbrechen sein würde": „Der Syphilitiker, der ein Kind macht, giebt die Ursache zu einer ganzen Kette verfehlter Leben ab, er schafft einen Einwand gegen das Leben, er ist ein Pessimist der That: wirklich wird durch ihn der Werth des Lebens aufs Unbestimmte hin verringert" (KSA, NF, 13, 401f). Der .Pessimismus der That' ist bereits überholt. Ein Rückgriff in diesem Zusammenhang lässt Assoziationen ahnen, die sich in früherem Denken mit dem Pessimismus Arthur Schopenhauers verbanden. Der späte Nietzsche übertrumpft hinsichtlich der ,décadents\ zu denen er sich selber zählt, bis er sich auch als deren „Gegensatz" (KSA, EH, 6, 266) versteht, das „Bibelverbot ,du sollst nicht tödten!'" mit dem Verdikt „ihr sollt nicht zeugen!" (KSA, NF, 13, 594, 600, 611). Der Gedanke ist früh vorbereitet (KSA, MA I, 2, 266): „In der Reife des Lebens und des Verstandes überkommt den Menschen das Gefühl, dass sein Vater Unrecht hatte, ihn zu zeugen." Dazu: „Bei den Kindern der großen Genie's bricht der Wahnsinn heraus" (KSA, M, 3, 204). Nach dem Zeugnis Resa von Schirnhofers (Sander Gilman, [Hg.] unter Mitwirkung von Ingeborg Reichenbach, Begegnungen mit Nietzsche, Bonn 1981, 497f.) schätzte Nietzsche die Eugenik des britischen Vererbungsforschers Sir Francis Galton (1822-1911 ), Inquiries into Human Faculty and its Development. Anfang 1887 waren die Aufzeichnungen aus dem Untergrund, Monologe des Selbsthasses, in einer französischen Übersetzung (l'esprit souterrain) in Nizza für Nietzsche die Schlüssel zu den Werken Fjo-
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Glücks" verwandeln sähe, wenn man als „eine practische Philosophie für das weibliche Geschlecht" einfach „den Unzufriedenen, Schwarzgalligen und Murrköpfen die Fortpflanzung verwehrte" (KSA, MA II, 2, 496), er sieht auch eine „Oekonomie der Menschheit" darin, dass „Spitzen der Menschheit [...] nicht weiter in Spitzchen auslaufen" (KSA, WS, 2, 640). Nietzsche gibt mit der Reintegration des Erotischen in die Liebe den Anspruch, sie sei mehr als Befriedigung der Wollust, den das Christentum hineinlegte, so dass aus der Leidenschaft jene höhere „amour-Passion" wurde, keineswegs preis. Auch für ihn hat der Zeugungsakt einen höheren Zweck. Aber er nennt es „eine verfluchte Lüge", wenn man „von der Kinderzeugung als der eigentlichen Absicht der Wollust redet" (ebd., 541). Eine Erotik um ihrer selbst willen setzt den alten Monogamie-Anspruch der Ehe außer Kraft: „Die Güte einer Ehe bewährt sich dadurch, dass sie einmal eine Ausnahme' verträgt" (ebd., 269). Die „Geschlechtsgenossenschaft", die Polygamie, war ohnehin „Jahrtausende lang viel mächtiger [...] als die Gewalt der Familie" (ebd., 306). Der Monogamie-Anspruch schließt sich dem Freund der antiken Götterwelt mit dem Monotheismus kurz: „Die Liebe zu Einem ist eine Barbarei: denn sie wird auf Unkosten aller Übrigen ausgeübt. Auch die Liebe zu Gott" (KSA, JGB, 5, 86). Eine Ehe auf Zeit, an die Nietzsche auch dachte, als er Lou jene ,wilde Ehe' anbot, in der er sich bemüht hätte, Rée als Teilhaber zu dulden, findet vielfach seine Fürsprache und in den ,neuen Tafeln' des Zarathustra ihre Stilisierung: „Euer Eheschliessen: seht zu, dass es nicht ein schlechtes Schliessen sei! Ihr schlösset zu schnell: so folgt daraus Ehebrechen! [...] ,Gebt uns eine Frist und kleine Ehe, dass wir zusehn, ob wir zur grossen Ehe taugen! Es ist ein grosses Ding, immer zu Zwein zu sein!" (KSA, ZA, 4, 264). Solch eine Ehe versteht er als die „gute Ehe", in der es zwischen „Keuschheit und Sinnlichkeit" keinen „nothwendigen Gegensatz" mehr gibt. Der Immoralist bricht auch in seiner Sicht auf die Liebe mit den überkommenen Werten: „Was aus Liebe gethan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse" (KSA, JGB, 5, 99). Es ist nicht schamlos: Das Schamgefühl behält für Nietzsche, auch dies ein Teil seines Meta-Konservatismus, den Rang eines hohen und raren Gutes: „Genuss und Unschuld nämlich sind die schamhaftesten Dinge: Beide wollen nicht gesucht sein" (KSA, ZA, 4, 250). Eine umgewertete Scham, die gerade schöne Menschen vor dem Zugriff schützt23, die es vermeidet, verbietet, jemanden zu beschämen (KSA, FW, 3, 519), also den einen .Willen zur Macht' gegen den anderen sichert, gehört zu seinem neuen Ethos der Vornehmheit. -
dor M. Dostojewskijs, von denen er einige in rascher Folge las (KSB, 8, 27f). Im Zusammenhang mit Dostojewskijs Dämonen bestätigt Nietzsche den untergründigen Selbsthaß: „Ich weiß, daß ich mich tödten sollte, daß ich die Erde von mir reinigen sollte, wie von einem miserablen Insekt"
KSA, NF, 13, 142). „Mit der Schönheit der Frauen nimmt im Allgemeinen ihre Schamhaftigkeit zu" (KSA, MA II,
269).
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Eine Erotik der ,Ewigkeit' Es geht Nietzsche letztlich nicht so sehr darum, ein neuer Gesetzgeber für Liebe und Ehe zu werden. Zarathustra ist unbeweibt. Er liebt keine Frau: „Nie noch fand ich das Weib, von dem ich Kinder mochte, es sei denn dieses Weib, das ich liebe: denn ich liebe dich, oh Ewigkeit!" (KSA, ZA, 4, 287f). Nietzsche kennt die Geschwisterlichkeit von ,Liebe und Tod'. Er meint, wenn er die Wahrheit ein ,Weib' nennt, eigentlich das unerreichbare Weib, als das sich Lou seiner liebenden Seele eingebrannt hat. Er wusste, bevor er sie kannte: In Bezug auf die „Erkenntniss [...] sind wir auch unglücklich Liebende!" (KSA, M, 3, 265f). Wie seine Erkenntnistheorie, seine Ästhetik, hat auch seine Erotik etwas Tragisches. Sie ist auf den schönen Schein und das Ja zum schönen Schein angewiesen. Mit der Reintegration eines entgifteten Eros in die Liebe baut er an seiner tragischen Anthropologie. Eine Rückkehr zu ursprünglicher, vorchristlicher Erotik, zur Erotik der Satyrn und Nymphen, der Göttinnen und Götter, wäre utopisch. ,Neue Tafeln' für eine künftige, den Adel der Zukunft hervorbringende Sexualethik bleiben so unsicher wie alle „Erkenntniss", auf die sie sich stützen wollte. „Die Psychologie des Orgiasmus" wird Nietzsche schließlich selbst der „Schlüssel zum Begriff des tragischen Gefühls" (KSA, GD, 6, 160). Nach dem Mitternachtslied, das zu den letzten Glockenschlägen alles „Weh" ein „Vergeh!" sprechen lässt, denn „alle Lust will Ewigkeit -, [...]- will tiefe, tiefe Ewigkeit" (KSA, ZA, 4, 286)24, wiederholen ,,[d]ie sieben Siegel" in einem Ja- und Amen-Lied siebenmal den Ruf: ,JDenn ich liebe dich, oh Ewigkeit"
(ebd., 287ff).
„Alle grosse Liebe will nicht Liebe: die will mehr" (ebd., 365). Gemeint ist diese ,Ewigkeit'. Sie entspricht Nietzsches Bild vom Universum: „In jedem Nu beginnt das Sein; um jedes Hier rollt sich die Kugel Dort. Die Mitte ist überall. Krumm ist der Pfad der Ewigkeit" (ebd., 273). Es ist ein Universum Continuum, eine Genesis Perpetua, ein ewig fortdauerndes Universum, in dem die Schöpfung gleichsam ständig stattfindet, in dem aber auch alles ewig wiederkehrt: „Alles geht, Alles kommt zurück: ewig rollt das Rad des Seins [...] ewig bleibt sich treu der Ring des Seins" (ebd., 272). Eine Dialektik von Augenblick und Ewigkeit scheint bei Goethe am Ende des Faust vorgeprägt. Nietzsches Gedanke einer ,ewigen Wiederkunft', bereits im August 1881 am See von Silvaplana bei Surlej, an dem inzwischen legendären Pyramidalstein gefasst, ist ein Ausbruch aus der fatalen Einmaligkeit jeder Lust und jedes Scherzes in die tragische Ewigkeit des so lustvollen wie schmerzhaften dionysischen Eros. „Nicht die Stärke, sondern die Dauer der hohen Empfindung macht die hohen Menschen" (KSA, JGB, 5, 86). Das Allerschönste, Allerhöchste, Allerwichtigste, der Schauer des Zeugungsaktes selbst, der Orgasmus in seiner allerflüchtigsten Natur wird durch sein ewiges Wiederkehren dauerhaft. Ihn ewig wiederzuwollen um den Preis, auch den Schmerz wiederzuwollen, dieses Ja zum Leben, das „jasagende Pathos par excellence" (KSA, EH, 6, 336), ist das tragische Pathos des Adels, den Nietzsche meint. Den tiefen Eindruck, den der Gedanke der ,ewigen Wiederkunft' auf Nietzsche selbst -
machte, schildert Resa von Schirnhofer: „[...] als wir bei der Türe standen, veränderten Lust will aller Dinge Ewigkeit, will tiefe, tiefe Ewigkeit]" (KSA, ZA, 4, 402f).
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sich plötzlich seine Züge. Mit einem starren Ausdruck im Gesicht, scheue Blicke um sich werfend als würde eine entsetzliche Gefahr drohen, wenn ein Horcher seine Worte hörte, die Hand am Munde den Laut dämpfend, verkündete er mir flüsternd das Geheimnis', das Zarathustra dem Leben ins Ohr gesagt."25 Es ist ein durchaus eschatologisches Geheimnis. Himmel und Hölle werden in der ,ewigen Wiederkunft' zusammengelegt, nicht als eine Jenseitsvorstellung, sondern diesseitig, als ewige Wiederholung des Gleichen, des Himmels und der Hölle im irdischen Leben, auch in der Liebe, im Eros. Nietzsche entwickelt nach der Trennung von Lou, nachdem sich ihm die Flüchtigkeit, die Täuschbarkeit und Unbeständigkeit des Erotischen in der Liebe wie auch des Weiblichen bestätigt zu haben scheint, eine ,Erotik der Ewigkeit'. Die ,Ewigkeit' und in ihr die ,ewige Wiederkunft' ist, endlich, das gehorsame Spiegelbild, das vielfache Spiegelbild des Spiegelbildes, hinter dem sich ohne den, der hineinschaut, das Nichts auftäte.
Ein Klima des Unverschämten Wo zwischen Sinnlichkeit und Keuschheit ein Gegensatz entsteht, leidet die Liebesfäbis zu ihrer völligen Zerstörung. Den Gegensatz, den ,Christenthum' und ,asketische Ideale' errichtet haben, löst Nietzsche auf, indem er das Erotische aus dem überkommenen Liebesbegriff isoliert, es entgiftet und einem neuen Begriff von ,Liebe' reintegriert. Darf sich nun aber die moderne erotische, pornographische und sexuelle Libertinage auf Nietzsche berufen? Nietzsche war im Umgang mit Menschen ein verschämter, ein schamhafter Mensch. Die Überwindung der Scham war bei ihm eine Denkleistang; was er vom Erotischen hält, hängt eng zusammen mit seinen erkenntnistheoretischen Überlegungen: „Der Reiz der Erkenntnis wäre gering, wenn nicht auf dem Wege zu ihr so viel Scham zu überwinden wäre" (KSA, JGB, 5, 85). Nietzsches Wertschätzungen in Sachen Liebe und Leidenschaft, Erotik und Sexus wären, freilich nur äußerlich, weil aus anderen, meist entgegengesetzten Gründen kommend, mit konservativen Anschauungen kompatibel. Nimmt man hinzu, welchen Rang das Schamgefühl in Nietzsches entgifteter Erotik behält, so schlägt einem aus unserer Gegenwart ein Klima des Unverschämten entgegen, das sich keinesfalls auf Nietzsche berufen dürfte. Sondern die Verleumdung des Erotischen in der Liebe wird einfach fortgeschrieben im Geschäft mit der ,Liebe', dem ,Eros', dem ,Sex', in der Anonymisierung der ,Lust'. Der moderne Sexismus, die Anonymisierung der ,Wollust', beutet eine sozial bedingte Enttäuschung über ,Partnerbeziehungen' aus und arbeitet nicht anders als die asketische Propaganda der Kirchen, indem sie es isoliert, mit einer Verleumdung des Erotischen in der Liebe. In der bürgerlichen Ehe war die ,Keuschheit', die Jungfräulichkeit, eine Ware, die der Ehemann durch die Heirat erwarb. Als Gegenwert erwarb die Frau, indem sie sich der Sinnlichkeit' des Mannes preisgab, eine lebenslängliche Versorgung, wie es Esther Vilar in aller Deutlichkeit darlegte.26 Diese Ehe unterschied sich nur durch das im Treueanspruch verankerte Monopol von der Prostitution, die man nach Nietzsches
higkeit
Sander Gilman, Begegnungen mit Nietzsche, 484. Esther Vilar, Der dressierte Mann, Das Polygame Geschlecht, Das Ende der Dressur, München 1987.
„Denn zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit..."
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nicht abschaffen, sondern „ennobliren" sollte (KSA, NF, 13, 402).27 Der GeKeuschheit und Sinnlichkeit war nur darum ein ,nothwendiger', weil zwischen gensatz er mit Geld und Besitz aufgerechnet werden konnte. Daran hat sich im Kern nichts geändert. Die „Verlogenheit von Jahrtausenden" (KSA, EH, 6, 365f.) setzt sich fort. In den Erscheinungsformen marktwirtschaftlicher Demokratie hat sich die Lage sogar zugespitzt. Das Klima des Unverschämten, in dem die Kassen klingeln, profitiert von einer Zerstörung der Liebesfähigkeit, die es selbst fortgesetzt betreibt. Es erstreckt sich inzwischen auf alle Lebensbereiche. Es gibt dem Eros ein anderes, ein neues ,Gift' zu trinken. Auch der unverschämte Markt verleumdet, beschmutzt, vergiftet das Erotische in der Liebe. Das Klima des Unverschämten gehört in die Welt der „letzten Menschen" (KSA, ZA, 4, 19), die „das Glück erfunden" haben und „blinzeln", es gehört zum „grossen Jahrmarkts-Bumbum" (KSA, FW, 3, 351), es gehört zur „Lust der Menge" und ihrem „Geschrei": „Gieb uns diesen letzten Menschen, [...] mache uns zu diesen letzten Menschen! So schenken wir dir den Übermenschen!" (KSA, ZA, 4, 20).
Meinung
,Ehe' bezeichnet Nietzsche „im Christenthum [...] als eine Concession an die menschliche Schwachheit und als pis (frz. das Schlimmste V. E.) aller der Hurerei" (KSA, NF, 13, 419). -
Jason M. Wirth
Nietzsches Fröhlichkeit Gibt
es
etwas, über das absolut nicht mehr gelacht werden darf?
Das leidendste Tier auf Erden erfand sich
das Lachen.
(Friedrich Nietzsche, Nachlassfragmente, 1880) -
Und falsch heisse uns jede Wahrheit, bei der es nicht Ein Gelächter gab!
.Nicht durch Zorn, sondern durch Lachen tötet man' so sprachst du einst. O Zarathustra, du Verborgener, du Vernichter ohne Zorn, du gefährlicher Heiliger,
-
du bist ein Schelm!
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Am schlechtesten wurde ich bisher von den Gelehrtesten gehört. (Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra)
Überzeugung, dass eine gewisse Kategorienverwechslung die Entwicklung großer Teile der westlichen philosophischen Tradition beeinflusst hat, dass diese Kategorienverwechslung das Auswahlprinzip stellt, nach dem man festlegt, was rechtmäßig zu dieser Tradition gehört, und darüber hinaus die Art und Weise bestimmt, wie Texte innerhalb dieser Tradition organisiert werden. Der Aufsatz basiert zudem auf der Gewissheit, dass Friedrich Nietzsche zu den scharfsinnigsten Kritikern dieser Verwechslung gehört. Und schließlich geht er davon aus, dass die Praktiken, mit deren Hilfe man sich heute an Nietzsche erinnert und ihn interpretiert, zumindest innerhalb bestimmter dominanter Stränge der angloamerikanischen philosophischen Tradition, selbst dieser Kategorienverwechslung unterliegen. So meine drei Behauptungen. Kurz gesagt: die amerikanische so genannte analytische Tradition kann nichts mit Nietzsche anfangen; das ist ein Verlust für die analytische Philosophie und für die Philosophie selbst. Analytische Philosophie verkürzt die Der Aufsatz1 basiert auf der
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Ich möchte Christine Gerhardt und Jeanne Cortiel für ihre ausführliche und hervorragende Hilfe bei der Übersetzung danken.
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Analytik. Das heißt, dass sie ,Ressentiment' vor den weiteren Möglichkeiten der Analytik hat. Nietzsches Lachen als Thema fehlt überhaupt in dieser Rezeption. Lachen, eine tiefe Art des Jasagens, ist immer „gegen die Verlogenheit von Jahrtausenden" (KSA, EH, 6, 365f). Dass Nietzsche ein beharrlicher Kritiker von Mechanismen der Erinnerung war, ist bereits anerkannt. Er argumentierte, dass das, was das Gedächtnis speichert und nicht auslöschen kann, von Mechanismen der Erniedrigung, Entwürdigung, Impotenz, der Unfähigkeit zu leiden, bestimmt ist. Demnach ist das Selbst, das sich selbst erinnert, sich selbst wahrnimmt, das gelernt hat, sich in der Fiktion seiner Integrität zu kennen und zu schätzen, der Komplize seiner eigenen Versklavung und seines eigenen Schwachsinns. Solche Kreaturen werden herangezogen, um die Verantwortung zu internalisieren, sich selbst ,treu'
sein, und müssen als solche zuallererst, wie Nietzsche eindringlich Genealogie der Moral formuliert hat, „berechenbar, regelmäßig, notwendig" geworden sein, „sich selbst für [ihre] eigene Vorstellung" und um damit „für sich als Zukunft gut sagen zu können" (KSA, GM, 5, 292). Die reaktive und verantwortliche' Erinnerung kann sich auf keine, wie immer geartete, Weise von der bedrückenden Last ihres Inhalts befreien, man ist demzufolge nicht frei, etwas anderes zu werden als das, was man schon ist, und das ist, unter dem Druck der grundsätzlichen Verantwortung der Erinnerung, man selbst zu sein. Die Erinnerung, die automatisch treu und der Identität des denkenden Subjekts verantwortlich bleibt, ist eine traumatisierte, daher wehleidige, todernste Erinnerung. Dies ist eine Erinnerung, die vom Geist der Schwere beseelt ist; das ist ironischerweise der Geist, in dem man sich größtenteils es
zu
in der
Nietzsche erinnert. Die Kategorienverwechslung ist die Verwechslung von ,harter Arbeit' mit dem ,sichselbst-Ernst-Nehmen' der Philosophie; die Produktion philosophischer Gedanken ist weder leicht noch ungetrübt. Dies bedeutet nicht nur, dass man hart arbeitet, sondern dass die von der schweren Arbeit der Philosophie hervorgerufene Qual jenen Geist aufwertet, der das philosophische Unternehmen motiviert und bestätigt. Der Erzfeind des Geistes der Schwere, der Geist der Schwere wird von Zarathustra als sein „alter Erzfeind" (KSA, ZA, 4, 387) verstanden, ist das Lachen. Das Wort ,Schwere' ist doppeldeutig: es enthält die Bedeutung von ,Schwerkraft', die Kraft, mit der Dinge an der Erde gehalten werden und die Bedeutung von Schwierigkeit', als ob ein profunder philosophisch verdienstvoller Gedanke ein schwerer Gedanke sei, ein rechtmäßig gewichtiger und daher ernsthafter Gedanke. Die kleinste Spur von Lachen, und wir Philosophen, die wir uns durch die unaufhörliche Glorifizierung des Schmerzes, den unsere Arbeit verursacht, ernsthaft als Philosophen erkennen und erinnern, schließen daraus, dass solche Leichtfertigkeit und Frohsinn nicht ernsthaft sei, nicht gewichtig genug und daher oberflächlich, absonderlich, unterhaltsam, keine ernst zu nehmende Philosophie, keine echte Philosophie. Dieses Vorurteil, diese Kategorienverwechslung stehen dahinter, wenn Nietzsche von den vielen bürokratischen Wächtern der Wahrheit an die Literatur oder Mythologie oder irgendeine andere Disziplin abgeschoben wird, nur nicht in die Philosophie! Sicher bedroht Nietzsches Leichtfertigkeit, seine aggressive Ablehnung der Nüchternheit, die wir ernsthaften und echten Philosophen dringend erbitten, was wir automatisch als die an
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Stimmung oder den ,Geist' dessen erinnern, was wir als Philosophen sind. Man hört in angloamerikanischen Diskussion nicht selten, dass die so genannte kontinentale Philosophie im allgemeinen und bei Nietzsche im besonderen (im ganz besonderen), im Grunde keine echte Philosophien sind. Dies scheint proportional zu Nietzsches scheinbarem Schwulst, seiner Trunkenheit, seinem Übermut der Fall zu sein. Wo bleiben die asketische Agonie der distanzierten Objektivität des Logikers oder Georg Wilhelm Friedrich Hegels ,Ernst des Begriffes'? Falls Nietzsche doch Einlass gewährt wird in die erhabene Kategorie dessen, was als .Philosophie' gilt, muss er zuerst den engen Begrenzungen dieser Kategorie angepasst werden: er muss erhaben und dadurch potentiell philosophisch' gemacht werden. Der Nietzsche, den man so verstehen kann, als hätte er eine Epistemologie, der, der sich, wenn man ein bisschen nachhilft, trotz seiner Grobheit und Leichtigkeit als ein wirklicher Philosoph offenbaren kann, ist der, den wir ernst nehmen sollten. Nietzsche, der Perspektiviker. Nietzsche der Nihilist. Nietzsche der Epistemologe. Nietzsche der Ader
theist. Nietzsche, ein weiterer Ismenkrämer. Wenn man ihn nicht als jemanden rettet, der ohnehin schon immer ein ernster Philosoph war, erscheint Nietzsche oberflächlich und entweder leichtfertig oder gefährlich. Von einigen, die ihn als Philosophen nicht ernst nehmen, wird er manchmal als Prophet des kulturellen Relativismus abgetan; wenn Gott tot und nichts wahr ist, ist alles möglich. Anything goes! Wir können masturbieren, Gras rauchen, ohne Schuldgefühle die Kirche ignorieren, und Nietzsche wird zum Geist, der kulturelle Dekadenz, Rock- und Rapmusik beseelt. Andere, sowohl die, die ihn als ernsthaften Philosophen fröhlich annehmen, als auch jene, die ihn als solchen verwerfen, fühlen sich gezwungen, beständig Nietzsches Diskurs über die Oberfläche, über die Oberflächlichkeit des Denkens hervorzuheben. Da das Denken niemals in Regionen jenseits der Höhle vordringt, da es seinen Weg niemals aus den dunklen Kammern der Unwissenheit in das Licht der wahren Welt findet, ist alles purer Schein, alles Oberfläche, wird eine wild hervorbrechende Orgie von doxa, Bevorzugungen, kapriziös-emotional produzierten Weltsichten. Nichts ist wahr, folglich ist alles wahr, der Gedanke ist kein ernsthafter Gedanke. Solche Karikaturen demonstrieren paradoxerweise, dass man nicht nur den Frohsinn seines Gelächters, sondern die Lektüre seiner Werke nicht ernst genommen hat.2 Zarathustra schalt ,Leser', jene, die ihm sagen wollten, dass „das Leben [...] schwer zu tragen" (ebd., 49) sei: „Noch ein Jahrhundert Leser und der Geist selber wird stinken" (ebd., 48). Im Vorwort zur Genealogie der Moral klagt Nietzsche, dass dem ,modernen Menschen' die notwendige Eigenschaft für die ,Lesbarkeit' von Nietzsches Schriften fehlt, die Fähigkeit, Gelesenes „wiederzukäuen" (KSA, GM, 5, 256). Wenn man nicht zum Wiederkäuen fähig ist, wird das Futter, das zum Nährstoff bestimmt war, zu Gift. Der gesündeste Diskurs macht, nicht wiedergekäut, die Kranken kränker; sie werden in -
sich des paradoxen Charakters, der janusgesichtigen Duplizität, einer solchen Forbewusst. Weil man die Leichtfertigkeit nicht ernst genug nimmt, kann man den Ernst nicht aus sich selbst heraus überwinden. Nietzsche argumentiert in der Genealogie der Moral, dass, während sich einige an seinem aphoristischen Stil und „an dem halkyonischen Element, aus dem jenes Werk geboren ist" ergötzen, die aphoristische Form für andere eine „Schwierigkeit" darstellt: „sie liegt darin, dass man diese Form heute nicht schwer genug nimmt" (KSA, GM, 5, 255). Nietzsche
mulierung
war
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den bitteren Kreislauf, in dem alles todernst ist, absorbiert. Die Fähigkeit, wiederzukäuen, fehlt dem modernen/postmodernen Menschen. Ein ernstes Ja verbirgt tödliche Negationen, hasserfüllte Gedankengänge, die sich als ihr Gegenteil verkleiden. Wenn man sich lediglich den Beginn und das Ende von Nietzsches Werk ansieht, merkt man, dass Nietzsche schon in der Geburt der Tragödie 1871 behauptet hat, dass die Griechen oberflächlich aus Tiefsinn waren; in der scharfsinnigen Geschichte eines Irrtums in der Götzen-Dämmerung 1888 kam er zu folgendem Schluss: „Die wahre Welt haben wir abgeschafft: welche Welt blieb übrig? Die scheinbare vielleicht? [...] Aber nein! mit der wahren Welt haben wir auch die scheinbare abgeschafft!" (KSA, GD, 6, 81). In dieser Abschaffung, am „Ende des längsten Irrtums", sah Nietzsche den „Höhepunkt der Menschheit", was wiederum nicht das Ziel selbst war, sondern eine Gelegenheit. Es war der Beginn der Überwindung der Schwere der Menschheit selbst. Es war die Möglichkeit des Übermenschen, des nicht mehr nur Menschlichen.
JNCIPITZARATHUSTRA" (ebd.). Der andere
Anfang fängt nicht durch eine Umkehr bestehender Werte an,
in der das
,Gute' abgewertet und das ,Böse' aufgewertet und, analog dazu, die ,Schwere' abge-
»Leichtigkeit' aufgewertet wird. Die traurige menschliche Kreatur ist intellektuell selbst nicht davon überzeugt, dass sie ihre Traurigkeit in dem Vorsatz, öfter zu lachen, auflösen kann. Sie überwindet die Schwere aus der Schwere selbst heraus und setzt jene ,Macht' frei, die sich umgekehrt hat, indem sie sich gegen sich selbst richtet, anstatt sich zu befreien und auszudrücken. Schwere ist die Perversion von Leichtigkeit, in der die Leichtigkeit versucht zu fliegen, indem sie sich selbst konstant niederdrückt. Dieses sich-selbst-Überwinden der Perversion der Schwere aus ihrer eigenen Perversion heraus ist die Aktivierung des Willens zur Macht. Man geht genealogisch vor und bestätigt und meistert dadurch, was man überwinden möchte. Das ist der Grund, warum Nietzsche die Leichtigkeit paradoxerweise so ernst nimmt. Man wird ernster, aber nicht todernst, in Anbetracht der Leichtfertigkeit. Die Schwere käut wieder und grübelt über die ursprüngliche Perversion der Leichtigkeit, die immer schon ihr anderer Ausgangspunkt war. In der Genealogie der Moral hat Nietzsche behauptet, dass heute „Schmerz mehr wehtat", dass der Schmerz, der in manchen Fällen auf der Seite des Lebens war, inzwischen für Gift gehalten wird, was unter allen Umständen vermieden werden sollte. Genau jene Bewegungen, die die Aktivität des Lebens versinnbildlichen, werden nun gemieden, als Inbegriff der Reaktivität des Lebens. Die Not des Lebens wird das Elend, ,die Not' das, was vermieden werden muss, um sich selbst treu zu sein. Die Anführungszeichen um ,die Not' zielen darauf, die ansteckende Krankheit unter Kontrolle zu halten, die das ernsthafte Selbst nicht absorbieren kann. Der barbarische Rest, die Aussagen, die die Integrität des ernsthaften, denkenden Subjekts angreifen würden, werden als Feinde des menschlichen Lebens eingepfercht und verunglimpft. ,Die Not' ist die sorgfältig im Zaum gehaltene Bewegung einer Reaktion, der Zurückweisung dessen, was die ernsthafte Arbeit meiner eigenen Selbstkonstitation auflösen würde. Folglich findet Nietzsche in der Fröhlichen Wissenschaft, einem Buch, das ernsthaft dem Bestreben gewidmet ist, sich selbst nicht ernst zu nehmen, einen Fluchtweg für den ernsten Schmerz des modernen Menschen: „Das Recept gegen ,die Not' lautet: Not" wertet und die
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Der Fluchtweg entfesselt die Not, die innerhalb der Parameter der ,Not' enthalten ist. Er setzt die Freude über die Affirmation des Schmerzes jenseits der
(KSA, FW, 3, 414).
ernsthaft aufrechterhaltenen Unterscheidung zwischen Schmerz und Lust frei. Diese ,Übernot' ist der Ausbruch der Affirmation, der Liebe, in ihrer maximalen Ausdrucksstärke als Lachen. Lachen verweigert sich der abschließenden Eingrenzung des Denkens in einem wie immer gearteten Endprodukt, durch Anführungszeichen in sicheres Gewahrsam gebracht, bzw. dem Sich-Bequem-Machen in einem Ismus. Es verweigert sich nicht durch eine oberflächliche Reaktion, selbstgefällige Gleichgültigkeit oder kapriziöse Zurückweisung, sondern durch eine uneingeschränkte Affirmation dessen, was das Endprodukt des Denkens immer zurückgewiesen hat. Lachen ist die Liebe für den Neuanfang, für den verloren gegangenen Anfang in jeder Schlussfolgerung. Dieser Weg zur Leichtfertigkeit liegt in der Aktivierung des Willens zur Macht als der heiligen Affirmation jeder einzelnen seiner Handlungen, als Ausdruck der vollkommenen Fülle des Lebens, seines nie endenden „Tanzbodens für göttliche Zufalle" (KSA, ZA, 4, 209). „War das das Leben? Wohlan! Noch Einmal!" (ebd., 199). „Denn ich liebe dich, oh
Ewigkeit!" (ebd., 291).
Nietzsches Lachen und Leichtigkeit sind keine Symptome seiner Krankheit, keine irrelevanten oder zufälligen Launen, die sich leichtfertig, willkürlich oder verrückt an das vermeintliche äußerste Ende seines Denkens anhängen. Sie sind die Bewegungen der Wahrheit selbst, im Akt der Aktivierung, im Akt seines geliebt- und bestätigt-Werdens, in der Freundschaft des Lachens mit dem dunklen Vorgänger im Herzen aller Notwendigkeit des Lichts. Im vierten Buch von Zarathustra, was erwartungsgemäß das Buch ist, bei dem die meisten Philosophen die größten Schwierigkeiten haben3, es ernst zu nehmen, wird Zarathustra weder nur eine Art ironischer Prophet, noch ist er symptomatisch für irgendeinen nichtigen Ausflug ins, philosophisch gesehen, leichtfertige Land der Lyrik. In aller Ernsthaftigkeit ringt er der Ernsthaftigkeit selbst das Heilige ab. Er krönt sich selbst mit der aktivierten Liebe zur Wahrheit, während sie sich unaufhörlich entladend hervorlacht: „Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone: ich selber setzte mir diese Krone auf, ich selber sprach heilig mein Gelächter" (ebd., 366). In der geadelten Entladung des Lachens nennt er sich, der sich ernsthaft nicht so ernst nimmt: „Zarathustra der Wahrsager, Zarathustra der Wahrlacher" (ebd.). Das ist eine entscheidende Formulierung. Zarathustra ist der Wahrsager, der, der die Wahrheit spricht, aber Wahrheit ist nicht mehr die Entsprechung zwischen Ding und Intellekt. Der Wahrsager ist der Wahrlacher, der, der die Wahrheit lacht, der lacht als die wahrste Dazu: Bernd Magnus/Kathleen M. Higgens, Cambridge Companion to Nietzsche, Cambridge 1996, 45. Sie führen an, dass die meisten Kritiker/innen die Meinung vertreten, der Zarathustra wäre ohne das vierte Buch erfolgreicher gewesen, räumen aber ein, dass in jüngerer Zeit einige Kritiker/innen dessen Bedeutung neu in den Blick genommen haben: „These readings, that Nietzsche had a more ironic perspective on Zarathustra's prophetic stance than traditional readings have appreciated." („Diese Interpretationen legen nahe, dass Nietzsche eine ironischere Perspektive auf Zarathustras prophetischen Standpunkt hatte, als von traditionellen Lesarten gewürdigt wurde"). Obwohl die Einschätzung zutrifft, unterschätzt sie die Bedeutung des vierten Buches. Es ist nicht einfach nur ironisch. Es ist die Explosion der Wahrheit im Lachkrampf und als solches Nietzsches am meisten philosophisches, wenn auch am wenigsten .philosophisches', Werk.
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Art, die Wahrheit zu sagen. Zarathustra ist nicht einfach der, der wahrhaftig lacht, dern der, der die Komödie der Wahrheit selbst auslöst.4
son-
Nietzsches Humor ist nichts Unbeabsichtigtes, kein Nebenelement. Sein Lachen gehört untrennbar zur Materie seines Denkens, als der Zufall und als das Spiel, die Leichtigkeit, der Spaß im Herzen des Schmerzes der Arbeit. Das heißt aber ausdrücklich nicht, dass Nietzsche die Philosophie auf die launigen Spasmen und die lässige Willkür von Cocktailpartygesprächen reduziert hat. Das in der Philosophie aktivierte Spiel ist nicht mein Spiel. Es ist das Spiel, das mich hat, so wie die vedische Tradition den bewundernswerten Mut hatte, zu verkünden, das alles Schicksal selbst lila, das Spiel der Götter, sei. Das Lachen ist die Bewegung der Liebe als Umarmung des Anderen, nicht seine Erdrosselung dadurch, es auf mein Anderes zu reduzieren, jenes Andere, das mit dem übereinstimmt oder zum Übereinstimmen gebracht werden muss, als das wir uns selbst erinnern müssen. Das Lachen ist Liebe, die das immerwährende Leben der Wahrheit ist. „Welches war hier auf Erden bisher die größte Sünde? War es nicht das Wort Dessen, der sprach: ,Wehe Denen, die hier lachen!'" (ebd., 365). Zarathustra kommt zu dem Schluss, dieser Eine „liebte nicht genug: sonst hätte er auch uns geliebt, die Lachenden! Aber er hasste und höhnte uns, Heulen und Zähneklappern verhiess er uns" (ebd.). Der Geist der Schwere ist Ressentiment vor der Macht des Lachens. Weil wir das Lachen in seiner störenden Unvereinbarkeit mit unseren Identitätsprojekten nicht bejahen können, reagieren wir negativ, stigmatisieren es als Krankbeit und Unverantwortlichkeit. Dabei wird mein Unvermögen, meine Fähigkeit zu lachen, zu bejahen, zum Mangel an Ernsthaftigkeit des Anderen, und ich geißele ein solches Lachen und mache es verantwortlich dafür, dass ich nicht ich bin, und versuche, es dazu zu veranlassen, ähnlich reaktiv zu werden: Ich werden zu müssen, oder sich selbst als krankhaft, Überwachung und Strafung bedürfend, zu bejahen. Mein Verlangen, den Anderen von der Krankheit seinen Lachens zu heilen, vom Elend seiner Unverantwortlichkeit, hat seine ,Herkunft' in der Widersinnigkeit des Lachens, in seiner Fähigkeit, ein Spiegel zu werden, in dem ich mich als traurig und unfähig zu lachen und zu bejahen sehe. Folglich bemerkt Nietzsche, dass Denker wie Thomas Hobbes symptomatisch für den Drang sind, die Relevanz des Lachens als „ein arges Gebreste der menschlichen Natur, welches jeder denkende Kopf zu überwinden bestrebt sein wird" (KSA, JGB, 5, 236), abzutan. Ich kann das nicht lieben, was ich nicht selbst bin; hier findet sich die Herkunft dessen, worüber wir sprechen, wenn wir über Liebe sprechen: Wir sprechen über uns 4
Gary Shapiro, einer der wenigen von Nietzsche-Kommentatoren, der die Bedeutung von Nietzsches
Gelächter anerkennt, der Nietzsches Gelächter ernst nimmt, bemerkt: „We misunderstand Zarathustra's laughter so long as we fail to understand his conception of the self and the dissolving tendency of eternal recurrence. Philosophers who themselves exemplify the spirit of seriousness, like Hobbes, will presuppose the separation of individuals and the singleness of the laughing selves in their accounts of laughter." („Wir missverstehen Zarathustras Gelächter so lange, so lange wir sein Konzept des Ich und die Tendenz der ewigen Wiederkehr sich aufzulösen nicht verstehen. Philosoph/innen, die, wie Hobbes, selbst den Geist der Ernsthaftigkeit veranschaulichen, werden in ihren Darstellungen des Lachens die Trennung der Individuen sowie die Einmaligkeit der lachenden Individuen voraussetzen.") Nietzschean Narratives, Bloomington 1989, 103.
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selbst: „Was alles Liebe genannt wird", ist in Wirklichkeit Habsucht, Konsumsucht,
hysterischer Konsumrausch, der im Kern „unsere Lust an uns selber" ist und dadurch „ein Drang nach neuem Eigenthum" (KSA, FW, 3, 386). Was wir Liebe nennen ist tatsächlich Hass, was als Leichtfertigkeit abgetan wird, ist schwere Arbeit. Es ist die
Unschwere des Leidens des Anderen, die Liebe ist und Freundschaft mit der Erde. Lachen hat einen Sinn für das Fremde, für die Äußerlichkeit, was nicht ich oder meine Welt ist. Es ist daher nicht verwunderlich, dass im ernsten Gewerbe der westlichen Philosophie das Lachen verunglimpft wurde und wird. Wo sind die großen Abhandlungen zu den Lachkrämpfen? Warum ist die Frage nach den Grundlagen und Grenzen des Wissens schwerwiegend genug, um eine kleine industrielle Produktion von Büchern zu rechtfertigen, während die Grundlagen und Grenzen des Lachens nicht als ernst zu nehmende Fragen gewertet werden? Es wird allenfalls in den Dienst eines geistreichen Stils gestellt, der die Vermittlung von ernsten Inhalten schmackhaft macht. Am aufschlussreichsten ist die Gruppe von Darstellungen, die Lachen als Akt der Herablassung beschreiben. Nietzsche identifiziert das selbstverherrlichende Mitleidsgefühl in Hobbes' Darstellung der „sudden glory [plötzlichen Herrlichkeit]", die ich finde, indem ich mich selbst über andere und über mich selbst, aus einem erhabenen, gereiften Blickwinkel betrachtet, stelle. Ich lache über die Kleinen, die es zu nichts gebracht haben, die Schwachen, die Pechvögel; alles, um mein eigenes Überlegenheitsgefühl zu stärken. Wie Hobbes in Human Nature (1640) argumentierte, lachen Menschen „über die Gebrechlichkeiten anderer, durch welchen Vergleich ihre eigenen Fähigkeiten hervorgehoben und veranschaulicht werden. Menschen lachen auch über Witze, deren Witz immer aus der eleganten Enthüllung und Übermittlung irgendeiner Absurdität eines Anderen an unseren Geist besteht."5 Folglich, schloss er, entstammt das Lachen der „plötzlichen Herrlichkeit, die aus der plötzlichen Vorstellung einer Erhöhung, im Vergleich mit der Gebrechlichkeit von anderen, in uns entsteht".6 Krüppel lachen nicht über Krüppel, Idioten nicht über Idioten. Dumme finden den Film Dumm und Dümmer nicht lustig. Ich lache vielmehr über einen Menschen, der gehandikapt oder behindert ist, deswegen, weil ich mich für etwas Besseres halten muss. Die ,plötzliche Herrlichkeit' eines solchen Lachens, die Herrlichkeit des Falschlachers, ist untrennbar mit Nietzsches kritischem Diskurs über den sich selbst stützenden Mechanismus des Mitleidsgefiihls verbunden. In solchem Lachen, dem die Herkunft des Wahrlachers, dessen, der die Wahrheit lacht, fehlt, lache nur ich, und dabei sichere ich mir verantwortungsbewusst meine Erinnerung an mich selbst. Andererseits besteht in Bezug auf die Wahrlacher nicht nur ein Unterschied in der Art, sondern ein Unterschied im Grad. Sie haben das olympische „Also men laugh at the infirmities of others, by comparison wherewith their own abilities are set off and illustrated. Also men laugh at jests, the wit whereof always consisteth in the elegant discovering and conveying to our minds some absurdity oí another." Zit. n. Walter Kaufmanns Fußnote zu Aph. 294 in: Friedrich Nietzsche, Beyond Good and Evil, New York 1966), 231 (übers, von Chris6
tine Gerhardt und Jeanne Cortiel). „fSJudden glory arising from some sudden conception of some eminency in ourselves, son with the infirmity of others" (übers, von Christine Gerhardt und Jeanne Cortiel).
by compari-
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Lachens, sind „des goldnen Gelächters fähig" (KSA, JGB, 5, 236). Solch ein olympisches Laster lacht sogar während heiliger Zeremonien (ebd.). Zarathustra ist, wie er einräumt, ein bösartiger Heiliger. Es sind nicht die heiligen Zeremonien, die wirklich ernsten Momente des Lebens, die heilig sind. Vielmehr wird das Lachen heilig gesproLaster des
chen. Deshalb reflektierte Nietzsche darüber kraftvoll und vernichtend am Anfang der Fröhlichen Wissenschaft. Die frohe und heitere Art zu wissen, das Wissen, das in seiner Wahrheit mit Lachen erschallt, ist in der Änderung der Tonlage unterschieden von den frühen Werken. Im späten Nachwort zur Geburt der Tragödie gab Nietzsche später zu: „Sie hätte singen sollen, diese ,neue Seele' und nicht reden!" (KSA, GT, 1,15) Nietzsche stellt fest: „Der Mensch ist allmählich zu einem phantastischen Thiere geworden, welches eine Existenz-Bedingung mehr, als jede andere Thier, zu erfüllen: der Mensch muss von Zeit zu Zeit glauben, zu wissen, warum er existirt [...] Und immer wieder wird von Zeit zu Zeit das menschliche Geschlecht decretiren: ,es gibt Etwas, über das absolut nicht mehr gelacht werden darf!" (KSA, FW, 3, 372). Deshalb lacht der Schafhirte, als er der Erschaffung von immer neuen, ernsthaften Schafherden entsagt und auf Zarathustras Drängen den Kopf der Schlange abbeißt und damit den Kopf der Schwere der ewigen Wiederkehr des Gleichen beißt. Damit bejaht er die endlose Erschaffung von Identitäten aus der dunklen Nacht der Differenz und sein Lachen, die großartige Explosion, ist nicht mehr das Lachen eines menschlichen Wesens. „Ich hörte ein Lachen, das keines Menschen Lachen war" (KSA, ZA, 4, 202). Nietzsche macht wenig Gebrauch von jener anderen Theorie des Lachens, die besagt, dass man über das Widersinnige lacht, denn das bedeutet wiederum nur, falsch zu lachen, indem man sich vom Fremden abschirmt, Zuflucht im Normalen sucht. Solches Lachen geht fälschlicherweise vom Primat der Ordnung aus, setzt das Chaos, die Alterität und das Fremde außer Kraft. Das ist ein Lachen, das das Widersinnige neutralisiert, die Ordnung aufrecht erhält, als ob das Folgerichtige das Ursprüngliche wäre und das Widersinnige eine nebensächliche Invasion, die abgewehrt werden muss, trotz der Lust, die solchen Abwehrmanövern eigen ist. Trotz der Brillanz von Immanuel Kants dritter Kritik ist das Lachen am Ende eine Sache des Ausflugs ins Chaotische, eine stillschweigende Bestätigung der Ordnung, von der es die Ausnahme ist. Nietzsche behauptete, als er über das Zeitalter sprach, in dem die verschiedenen Masken der Moral dem „Karneval großen Stils", dem „geistigsten Fasching-Gelächter und Übermut", der „transzendentalen Höhe des höchsten Blödsinns", der „aristophanischen WeltVerspottung" ausgesetzt sind: „Vielleicht, dass wir hier gerade das Reich unsrer Erfindung noch entdecken, jenes Reich, wo auch wir noch original sein können, etwa als Parodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes, vielleicht dass, wenn nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser Lachen noch Zukunft hat!" (KSA, JGB, -
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Der göttliche Possenreißer ist ein Hanswurst. Seit dem 16 Jahrhundert war dies, mit einem gehörigen Maß an Spott, zunächst ein Name für dicke Menschen, ein Hans, der dick ist wie eine Wurst. Für Martin Luther hatte ein Hanswurst etwas von einem ungeschickten Tölpel, der später zum ungeschickten Bauern wurde und dann die Bedeutung eines Narren im Lustspiel annahm. Der Hanswurst, ob als plumper Dicker oder unge-
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schickter Bauer, gehört nicht in das ernste Leben der schönen Menschen der großen Bewegungen der Geschichte. Der göttliche Hanswurst ist nicht einfach nur lustig, er ist ein Vertreter des Unzeitgemäßen, des Lachens, das die Liebe der Ewigkeit ist und den scheinbar sinnvollen Abschluss der Geschichte untergräbt. Wie Clément Rosset argumentiert hat, ist „Freude die notwendige Bedingung, wenn nicht des Lebens im allgemeinen, so doch zumindest des Lebens, das man bewußt und mit voller Kenntnis lebt. Sie besteht in einer Tollheit, die einem paradoxerweise erlaubt und nur sie kann solch eine Erlaubnis geben alle anderen Formen des Wahnsinns zu vermeiden, was einen vor einem neurotischen Dasein und permanenter Unwahrheit bewahrt."7 Das ist eine Erfahrung von Wahrheit, der komische Ausdruck des tragischen, das Zurückfallen des Verstehens an den dunklen Vorgänger, der sein Ursprung war, die Nietzsche begleitet hat, bis er die Menschheit im Januar 1889 in Turin verließ. Im Zusammenbruch wurde die Liebe zu einem verschmähten Pferd, das zum Abfall in der wachsenden Industriegesellschaft geworden war, wie Pierre Klossowski es ausgedrückt hat, „eine Flut aus Lachen das Lachen, aus dem die Wahrheit hervorgeht, das Lachen, in dem alle Identitäten explodieren, einschließlich derer Nietzsches."8 -
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Toward a Philosophy of the Real, hg. und übers, von David F. Bell, New York/Oxford 1993, 18. Pierre Klossowski, Nietzsche and the Vicious Circle (1969), übers, von Daniel W. Smith, Chicago 1997,251-252.
Joyful Cruelty.
Erwin Hufnagel
Déformation professionelle Zur Rezeption Friedrich Nietzsches in der Phänomenologie Max Schelers
1. Nietzsche und seine
Interpreten
Die stellvertretende Interpretation ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Selbstverständlichkeiten sperren sich gegen die Frage nach ihrer Herkunft und Legitimation. Soziales Handeln bedarf einiger Selbstverständlichkeiten. Eine totale externe Reflexion würde es funktional aufheben. Anders verhält es sich auf theoretisch-wissenschaftlichem Gebiet. Da wird stellvertretende Interpretation zum Problem: Sie muss sich rechtfertigen, ihre Voraussetzungen und Interessen freilegen. Sie bleibt prinzipiell kritisierbar, steht im Kontext konkurrierender Auslegungen. Eine stellvertretende Theorie bedarf der Metatheorie ihrer selbst. Sonst wird sie ideologisch und dogmatisch. Die Geschichte der Nietzsche-Interpretationen dokumentiert das in erschreckender Weise. Nietzsches Werk wurde interessegeleitet vereinseitigt, simplifiziert, missbraucht. Dabei sind die Instrumentarien der integrativen Verformung und eigenwilligen Nutzung qualitativ unterschiedlich. Auch akribische Philologisierung kann solche interpretativen Pathologien begünstigen. Philologisierung ist ein resignatives Syndrom. So lösen sich philosophische Unruhe und Fragesensibilität in Vorläufigkeiten auf. Zwischen der mehr oder minder augenfälligen Gewaltsamkeit der stellvertretenden Interpretation und der sinnvoll-bescheidenen Philologisierung des müde gewordenen philosophischen Denkens oszillieren die Nietzsche-Interpretationen in irritierender, Wirkungsgeschichte zersplitternder Weise. Strenggenommen bestehen nur noch marginale Möglichkeiten des Miteinander-Sprechens. Solche interpretativen Fragmentarisierungen sind Gefahr und Chance zugleich. Auf dem Felde der Nietzsche-Interpretation verschärfen sich die für jede Interpretation eines abgründigen Werkes gegebenen exegetischen Positionalitäten. Das liegt an der unbestimmten, Fixierungen spielerischversucherisch in Frage stellenden Bestimmtheit des Werks, das dennoch nicht im arbiträr-universalen Perspektivismus aufgeht.1 Dazu: Peter Pütz, Friedrich 1992.
Nietzsche, Stuttgart 1967; Volker Gerhard, Friedrich Nietzsche, München
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Erwin Hufnagel
Vielleicht wurde zu sehr an den Rand geschoben, dass Nietzsches Werk auch oder gar in erster Linie als Manifestation eines einzigartigen geistig-leiblichen Habitus2 gewürdigt werden könnte. Dem Philologen und Philosophen liegt eine solche Sichtung ferner als dem Kultur- und Sozialwissenschaftler. Jedenfalls scheint es belangvoll und folgenreich zu sein, ob man in den Nietzsche-Interpretationen auf einen Text oder einen Habitus verweist. Anders als Immanuel Kant wollte Nietzsche nicht als Text verstanden werden. Mit eingeschliffenen Mustern philologischer oder den weitmaschigen Netzen kommunikativ-applikativer Hermeneutik lässt er sich nicht adäquat begreifen und begrenzen. Das offenkundig hilflose Suchen nach den verschlungenen Beziehungen zwischen Person und Werk zielt auf die theoretisch zentrale Einheit des Habitus als monadisches geschichtlich-leibhaftiges Apriori, in dem diese Momente aufgehoben sind. Mit den Kategorien der Texthermeneutik lässt sich kein Habitus in seiner genetischstrategischen Dynamik verstehen.3 Jean-Jacques Rousseaus Rêveries* z. B. erheben sich über die konstruktiven Dichotomisierungen und Relationierungen von Person und Werk in der Enthüllung des zugrunde liegenden Habitus, dessen Logik er, begrifflicher Reflexion misstrauend, träumend vergegenwärtigen will. Die stellvertretende Interpretation eines Textes oder die eines Habitus sind methodologisch nicht identisch. Die Grenzen der Erkenntnis verlaufen anders. Es gibt ein aufklärerisches Ethos, auf stellvertretende Interpretationen zu verzichten.5 Darf Nietzsche als Text und als Habitus stellvertretend interpretiert werden? Was geht in solcher Interpretation verloren? Worin liegen die Beschränktheiten einer nicht-stellvertretenden (monadischen) Interpretation? Wie immer man darüber denken mag, der institutionellgesellschaftlich festgezurrte Zwang zur Produktion und Rezeption massenhaft angehäufter, bewerteter, geförderter, dogmatisierter stellvertretender Interpretationen widerstreitet den aufklärerischen Hoffnungen auf einen nicht-entfremdeten, vorurteilsfreien, aus authentischen Erfahrungen lebenden Menschen.
Die
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interpretationstheoretische Klärung des Begriffs steht aus. Er fungiert als regulatives Konstrukt. Methodologisch bedeutsam sind folgende Momente: die Theorie reflektierender Urteilskraft (Kant), die wissenssoziologische Typologisierung der Metaphysik (Scheler), Modelle strategischer individualer und sozialer Vernunft jenseits der Vertextlichung (Alfred Adlers Theorie des Lebensplans resp. Lebensstils). Der habitustheoretische Ansatz begreift .Nietzsche' als gewordenes prinzipielles Gefüge, das auf eine eigentümliche Typik von Handlungen, Schöpfungen verweist, ohne deterministisch zu sein. Narrationen sind passé. Regulative, riskante Konstruktionen müssen anvisiert werden. Das vermag nur der große synthetische prinzipiensichtige Geist. Das ist eine Chance für neue interpretative Wertungen. Die Möglichkeiten des Habitus-Begriffs sind nicht ausgereizt. Integrierbar wäre auch die Luhmannsche Stiltheorie mit ihren systematischen und historischen Dimensionen. Neue, komplexe und offene Kategorialitäten zeichnen sich ab. Dazu: Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt/M. 1987.
4
Jean-Jacques Rousseau, Träumereien eines einsamen Spaziergängers; in: Henning Ritter (Hg.), Rousseau. Schriften, Bd. 2, München/Wien 1978, 637-760. Dazu: Ders., Emile oder Über die Erziehung, hg. von Martin Rang, Stuttgart 1998, 545ff. (Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars).
Déformation professionelle 2. Schelers frühe Annäherung
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Nietzsche
Als Max Scheler sich 1913 entschloss, seine kritische Würdigung der Nietzscheschen Philosophie zu veröffentlichen, konnte er schon auf deren immense, qualitativ différente und kontroverse Rezeptionsgeschichte zurückblicken, die bis 1890 präzise rekonstruiert werden kann.6 Es überwiegen literarisch-weltanschauliche Adaptionen und Zurückweisungen, in denen Orientierungen am Aufbruch und an der Erhaltung traditionaler Vorgaben unschwer zu erkennen sind. Nietzsches Schriften werden in den schwelenden Generationenkonflikt hineingezogen und für die Sehnsucht nach neuen Werten und nichtentfremdeten Lebensformen, daher rührt die Zara/7zz«fra-Begeisterung, beim Wort genommen. Eine erste existentielle Transformation, die von Natur eine Fülle von Deformationen, Vereinfachungen und Vereinseitigungen in sich birgt, vollzog sich in den kritischen Köpfen junger bürgerlicher Intellektueller, häufig mit dem geheimen Verständnis der Elterngeneration, deren ironische Distanzierung zu Nietzsche zwiespältig blieb. Ernst zu nehmende philosophische Auseinandersetzungen mit seiner Philosophie sind dagegen äußerst rar. Georg Brandes machte mit seiner These vom „aristokratischen Radikalismus", der Nietzsche zugestimmt haben soll, den Anfang.7 Es folgten Eduard von Hartmanns8 Auseinandersetzung mit Nietzsches vermeintlich individualistisch-gewalttätiger Ethik, der auch Wilhelm Diltheys und Wilhelm Windelbands Ablehnung galt, und Alois Riehls9 feinsinnige, das vielfach geschmähte und marginalisierte Frühwerk systematisch in den Mittelpunkt rückende, bildungstheoretische Würdigung der ästhetisch-kulturphilosophischen Leistung Nietzsches, aus der das Ideal des Übermenschen schon herausgelesen wird. Hans Vaihinger10, Neukantianer mit Nähe zur lebensphilosophischen Bewegung, entdeckt in Nietzsches früher dionysischer Distanzierung vom Schopenhauerischen pessimistisch-resignativen Voluntarismus Einflüsse Darwinscher Evolutionstheorie. Während Raoul Richter" nicht zögert, evolutionstheoretische Einflüsse in rassistisch-naturalistische Projekte zu übersetzen, insistiert Georg Simmel12, sich selbst in der Nietzsche-Deutung vergewissernd, auf einer nobilistischen, den großen, vornehmen, einsamen einzelnen verheißenden und fordernden Interpretation des Übermenschen. Der Genius rückt ins Zentrum; die Aufklärung mit ihren demokratisch-egalitären, arbeits- und leistungszentrierten Postulaten erhält den Status eines Mediokritäten feiernden, beruhigenden Widersachers. Simmel ist es auch, der Nietzsche aus dem fragwürdigen Dunstkreis des prophetischen, kulturkritischen Künders, an dessen Rockschöße sich
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Nietzsche, 58ff. Georg Brandes, .Aristokratischer Radicalismus. Dazu: Peter Pütz, Friedrich
Eine Abhandlung über Friedrich Nietzsche"; in: Die Rundschau I, 1890, H. 2, 52-89. Eduard von Hartmann, „Nietzsches neue Moral", in: Preußische Jahrbücher 67, 1891, 504—521. Alois Riehl, Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker [ 1897], Stuttgart 1920. Hans Vaihinger, Nietzsche als Philosoph, Berlin 1902. Kantische, nietzscheanische, lebensphilosophische Momente hat er in Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche [1911], Leipzig 1918, miteinander verbunden. Raoul Richter, Friedrich Nietzsche. Sein Leben und sein Werk [1903], Leipzig 1922. Georg Simmel, Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus [1907], München, Leipzig 1923.
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konfus-fragiles, dumpf-egoistisches, an sich selbst und der Zeit leidendes Geschöpf klammerte, durch eine metaphysische Rekonstruktion der Nietzscheschen vieldeutigen Wiederkunftslehre befreite. Sein Denken wurde in die Tradition der europäischen Philosophie als herausfordernde Leistung integriert. Karl Joël13 schließlich, der einem dialektisch-organologischen Universalismus huldigte, stellte Nietzsches Person und (frühes) Werk in den Kontext abgründiger, archaischer Romantik, deren Wurzeln in die griechischen Mythen und Tragödien reichen. Scheler, lebenslang ein kritischer Bewunderer Diltheys, sieht zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen neuen, geradezu revolutionären Typus des philosophischen Denkens Einfluss und Gehalt gewinnen, den vorbegrifflich-intaitiver Unmittelbarkeit des Erlebens in seiner oszillierenden, interimistische objektivierende Konstruktionen zerschlagenden Fertilität. Die großen Begriffsmetaphysiken, der Neukantianismus dient als bevorzugter Bezugspunkt der polemischen Kritik, haben sich in hypertropher Reflexivität ausgespielt.14 Sie sind für die empirischen Wissenschaften wie für das alltägliche Denken und Handeln funktionslos geworden. Die Philosophie hat sich aus der gesellschaftlichkulturellen Wirklichkeit verabschiedet. Die übersteigerte Selbstbezüglichkeit der Metaphysik hat dem Positivismus in die Hände gearbeitet. Auch aus dem verlöschenden philosophischen Historismus kann keine Hoffnung keimen. Während Dilthey die Philosophie des Lebens als Rettung preist, setzt Scheler auf integrative, die szientistischen Vergegenständlichungen der Welt systematisch einbeziehende metaphysische Phänomenologie. Affinitäten zur Lebensphilosophie werden deutlich herausgestellt. Nicht minder klar rückt er begründungstheoretische Schwachstellen des lebensphilosophischen Historismus ins Licht.15 Durch Scheler erfahren wir von der verzehrenden, ganz Europa in seinen Bildungsschichten befallenden Sehnsucht nach Erlösung von begrifflichszientistischer Weltdeutang und -bemeisterung. Eine rauschhafte Gier nach unmittelbarschöpferischer, beseligender und entgrenzender Weltbegegnung flackert unerfüllt in den Menschenseelen. Erleben und Begegnung werden zu Losungsworten am Ende einer artifiziellen, konstruktiv-begrifflichen, unübersteigbar partikularen Weltbestimmung, wie sie die neuzeitliche Wissenschaft kodifizierte. Max Weber entzauberte dieses zügellose Drängen nach der Fülle des Erlebens als Erpichtsein auf Sensationen.16 Nietzsche gab, wie Scheler zeigt, dieser aufquellenden Sehnsucht nach ungeschmä-
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lertem, unkontrolliertem, der verformenden Reflexion entzogenem Leben ihren faszinierenden poetisch-emphatischen Ausdruck. Seine Sprache wirkte wie ein verdichtender, verklärender Zauberstab. Endlich konnte sich das Ursprungswollen in mythischen Ge14
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Karl Joël, Nietzsche und die Romantik, Jena/Leipzig 1905. Dazu: Wilhelm Dilthey, „Leben und Erkennen. Ein Entwurf zur erkenntnistheoretischen Logik und Kategorienlehre" (ca. 1892/93); in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 19, hg. von Helmut Johach/Frithjof Rodi, Göttingen 1982, 333-388. Dazu auch die Auseinandersetzung Edmund Husserls mit Dilthey in: Edmund Husserl, Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, in: Husserliana, Bd. 6, hg. von Walter Biemel, Haag 1962; Heinrich Rickert, Die Philosophie des Lebens, Tübingen 1920. Dazu: Max Weber, Wissenschaft als Beruf, Stuttgart 1995; Hans Blumenberg, Begriffe in Geschichten, Frankfurt/M. 1998, 51 f.
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stalten klären und wiederfinden. Nietzsche konnte zum Propheten einer neuen, noch gärenden Zeit aufsteigen. Nicht der Philosoph, sondern der Dichter, der Künstler, der magische Seher vollzieht die exemplarische Deutung der Welt. Große, wesentliche Geschichten werden wieder in unvergesslichen, vertraut-unvertrauten Bildern erzählt, deren Fülle und Gegensätzlichkeit zugleich Distanzierung erheischt. Über diese Brüchigkeit sagt Scheler nichts. Vielleicht hat er sie als Kind der Zeit gar nicht wahrgenommen. Nietzsches Begriff, besser: schillerndes Bild vom Leben fesselt Schelers Blick. Hier ahnt er tiefe Gemeinsamkeiten. Sein eigenes philosophisches Wollen kreist um eine neue Sichtung und Wertung des Lebens. Seine Phänomenologie ruht auf einem lebensphilosophischen Fundament. Aber sein Blick auf Nietzsches Bild des Lebens ist selektiv. Nietzsche, Dilthey und Henri Bergson sollen in die unstete, zerrissene, suchende und besonders durch Edmund Husserls transzendentalphilosophische Wendung in den Ideen11 in verfeindete Richtungen gespaltene phänomenologische Bewegung als Anreger integriert und von ihren jeweiligen theoretischen Insuffizienzen befreit werden.18 Der in rationalistisch-technologischen Mechanismen seit Jahrhunderten leidende, sich perspektivisch borniert unterdrückende, gott- und weltvergessene Mensch harrt seiner Erlösung. Scheler ist davon überzeugt, dass allein die Phänomenologie in ihrer geläuterten Gestalt diesen heilsgeschichtlichen Wunsch, der sich im zeitgenössischen lebensphilosophischen Begehren ungeduldig-mannigfaltig äußert, zu erfüllen vermag. Aus der heilsgeschichtlichen Selbstinterpretation wird Nietzsches philosophisches Werk gesichtet. Alle progressionsorientierten, schöpferischen, Werte kühn entwerfenden, sich überschreitenden Perspektiven des Nietzscheschen Lebensbegriffs werden ins Zentrum gerückt. Offensichtlich hat er Die Geburt der Tragödie gelesen und Bergsons élan vital dort präformiert gefunden.19 In den Versuchen wird Nietzsche in den Kontext mit der Diltheyschen und Bergsonschen Lebensphilosophie gestellt, dessen systematische Krönung Schelers metaphysische Phänomenologie sein soll. In dieser Kontextualisierung liegt eine unmissverständliche Wertung. Nietzsche wird zum heraklitischen Künder des Lebens, das als Metapher des universalen, vom Kosmischen und Biologischen ins Psychisch-Geistige reichenden Wandels, des unendlichen Gestaltens und Durchbrechens gewonnener Formen gedeutet wird. Den Zarathustra und die Geburt der Tragödie nimmt Scheler als geistige Einheit. In ihnen vollzog Nietzsche die metaphysische Universalisierung der Lebensmetapher. Die ironische naturalistisch-kosmologische Regionalisierung des Lebens auf einem winzigen Planeten, in Ueber Wahrheit und Lüge im auss ermoralischen Sinne (KSA, WL, 1, 875f.) unvergesslich ins Bild gefasst, hat Nietzsche metaphysisch überwunden. Als Metaphysiker des Lebens will Scheler ihn würdigen, ohne freilich in die Diskussion um Rang und Status der Geburt der Tragödie einzugreifen. Versteckt nur bezieht er sich in nietzscheanischen Reformulierungen auf jenen missverstanden skandalösen Erstling, den er
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Edmund Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Bd. 1, Halle 1913. Dazu: Max Scheler, Versuche einer Philosophie des Lebens, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 3: Vom Umsturz der Werte. Abhandlungen und Aufsätze, Bern/München 1972, 339. (Im folgenden: Versu-
che).
Siehe: Max Scheler, Versuche, 315.
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gründlicher kennt und für sich wichtiger erachtet als den Zarathustra. Hier spürt er großen, geschichtsmächtigen metaphysischen Geist, der auch ihn, den kritischen, eigene Wege suchenden Gefolgsmann der (Husserlschen) Phänomenologie unwiderstehlich
anzieht. Schelers Rekurs auf Nietzsche dient primär der Klärung des eigenen philosophischen Wollens. Eine umfassende Würdigung von Nietzsches Werk liegt ihm fern. In seinen Augen ist Nietzsche in erster Linie der kritisch-genetische Theoretiker der moralischen und religiösen Werturteile resp. Vorurteile,20 von aufklärerisch-ideologiekritischem, destruktivem Pathos beseelt.21 Als leidenschaftlicher Zerstörer moralischer und religiöser Überzeugungen stieß Nietzsche, wenn wir Scheler folgen, auf die Metaphysik des Lebens. In ihr konnte er seine genetischen Entlarvungen und Überwindungen einer universalen Dynamik einordnen und einem gesteigerten Leben zuweisen. Mit dem für sein eigenes axiologisches Unterfangen gefährlichen moralistischen Entlarver wird sich er in seiner Ressentiment-AhhanAlung22 subtil streiten. Über die Gewagtheit seiner motivischen Hierarchisierung verliert er kein Wort. Immerhin wird verständlich, warum Scheler, selbst im Kern seines Denkens ein Philosoph des Wertens in seiner kulturellbiographischen Geschichtlichkeit, die am Horizont des Jahrhunderts heraufziehende metaphysische (Nietzsche, Bergson) und antimetaphysische Philosophie des Lebens (Dilthey) emphatisch begrüßt. Wertungen und Umwertungen stehen, wie bei Nietzsche, im Mittelpunkt seines Denkens und Fühlens. Dass Scheler, prima facie anders als Nietzsche, Wertungen in ihrer eigentümlichen, nicht objektivistisch zu verstehenden Apriorität im Rahmen einer umgreifenden Axiologie23, die Fragment geblieben ist, systematisch bedenket, ist ein trotziges Aufbäumen gegen Nietzsches zermalmende Kritik. Deren latente axiologische Positivität blieb ihm trotz der geahnten Verwandtschaft fremd. Nietzsche ist für Scheler Intaitionist des Lebens, dessen moralkritische Leistung in den Versuchen noch nicht gewürdigt wird. Das geschieht zeitgleich in der Abhandlung über das Ressentiment im Aufbau der Moralen. Im Grunde war Nietzsche für Scheler ein zwitterhaftes Philosoph-Künstler-Wesen, dem es an systematischer Potenz gebrach, eine Gestalt des Übergangs, deren Intentionen zu klären und für eine neue, lebensphilosophisch grundierte Phänomenologie zu nutzen waren. Scheler war auf der Suche nach einer Begrenzung der Reflexivität, die vom europäischen Rationalismus als Vernunfthandlung normativ ausgezeichnet wurde. Rousseaus Vernunftkritik widersetzte sich
Ebd., 316. Jenseits von Gut und Böse und Genealogie der Moral hat Scheler offensichtlich kursorisch gelesen. Von diesen als destruktiv gedeuteten späten Schriften her, die eine fundamentale Herausforderung an den Axiologen Scheler darstellen, deutet er Nietzsches Metaphysik des Lebens. Dass die Genealogie der Moral auch anders interpretiert werden kann, hat Volker Gerhard im Nachwort zu dieser Schrift (Stuttgart 1997) gezeigt; dazu auch Werner Stegmaier, Nietzsches „Genealogie der Moral", Darmstadt 1994. Max Scheler, „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen", in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 3, 33147. (im folgenden: Ressentiment). Dazu: Max Scheler, „Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus", in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 2, hg. von Maria Scheler, Bern/München 1966, 18, 83, 99. ,
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dieser Monopolisierung.24 In romantischen Grundüberzeugungen wirkte der Protest bis tief in das 19. Jahrhundert. Atmosphärisch war sie Scheler, der die rationalistischtechnologischen Reduktionismen der Aufklärung beim Entwurf seiner Phänomenologie vor Augen hatte, sehr vertraut. Nietzsches lebensphilosophische Fragmente sollten in dieser reflexionskritischen Orientierung genutzt werden. Er wurde zum Bundesgenossen bei der Suche nach dem präreflexiven Grund des Erlebens, dessen eigentümliche Selbstbeziehung Scheler mit der Theorie mitschwebender innerer Wahrnehmung, die sich von begrifflichen Fixierungen frei hielt, zu klären gedachte. Hier sah Scheler den erkenntnistheoretisch entscheidenden Beitrag der Lebensphilosophie zur phänomenologischen
Gesamtsystematik. Über diese wegweisenden erkenntniskritischen
Einsichten verfügte Nietzsche nach Schelers Überzeugung nicht in voller Klarheit. Er war vorrangig der Mystiker des Lebens, nicht der Phänomenologe des Erlebens. Große Ahnungen ersetzen keine Erkenntnisse. Aber glaubte Nietzsche noch an Wahrheit und Erkenntnis? Müsste sich die Wahrheit nicht angesichts des Lebens rechtfertigen, war sie dann nicht zum Scheitern verurteilt? Unter der Perspektive phänomenologisch-erkenntnistheoretischer Verwertung wird Nietzsches Philosophieren in seiner spielerischen selbstgesetzlichen Prozessualität nicht einmal dunkel erfühlt. Als legitimen monadischen Typus modernen, nachmetaphysischen artistischen Philosophierens, der sich am blitzenden Wandel der Perspektiven in ihrer Inkomparabilität erfreut, nimmt Scheler Nietzsches gedankliches, von schön präsentierten Oberflächlichkeiten blitzschnell in erschreckende, beglückende Tiefen vorstoßendes Experimentieren, Erfahrungen machen, überhaupt nicht wahr. Zwar spricht er von Nietzsches dichterischer Gewalt, aber er begreift sie nur als „sprachschöpferische"25, als formale Mächtigkeit, von der die Aussage strikt zu trennen sei. Dass der Dualismus von Form und Inhalt die Qualität des Nietzscheschen Philosophierens verfehlen muss, kommt ihm nicht in den Sinn. Die seit der Renaissance geschichtlich erwogenen und durchgespielten Möglichkeiten der Kunst des Philosophierens, von der schon Piaton wusste und die Erasmus26 und Johann Gottfried Herder27 vor fast leerem Hause inszenierten, ersticken in Schelers phänomenologischem Zugriff. Er glaubt an die Differenz von Sein und Schein, von der sich Nietzsche verabschiedet hatte. Nicht von ungefähr nahmen sich die Dichter des Nietzscheschen Erbes, mit egozentrisch-dilettantischen Gewalttätigkeiten, geflissentlich an. Offenbar dominierte ein Philosophiebegriff, der mehr oder minder versteckt, die große Welträtsellöser-Tradition in sich birgt. Husserl als schulbildender Exponent superwissenschaftlicher Phänomenologie hat sich ausdrücklich dazu bekannt.28 Kunst und Philosophie werden erkenntnisgläubig rigide geschieden.
Jean-Jacques Rousseau, Emile oder Über die Erziehung (Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars), 1998; Ders., Träumereien eines einsamen Spaziergängers, 1978.
Dazu:
Max Scheler, Versuche, 314. Erasmus von Rotterdam, Lob der Torheit, übersetzt und hg. von Anton J. Gail, Stuttgart 1999. Johann Gottfried Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769, hg. von Katharina Mommsen, Stuttgart 1992. Edmund Husserl, „Philosophie als strenge Wissenschaft"; in: Logos 1 (1910/11), 289-341. Dazu: Antonio Aguirre, „Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
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Scheler trennt Leben und Spiel. Das Leben als Spiel kommt ihm nicht in den Sinn. Dass selbst der Moralist Nietzsche sich spielerisch von aller Moral befreit, dass das Spiel wie das Leben einer gänzlich außermoralischen Logik folgt, in der Chaos und Ordnung spezifisch gebannt und gegenwärtig sind, bleibt für ihn ein undenkbarer Gedanke. Die Übersetzung des vieldeutigen, mit sich selbst spielenden, sich überraschend anderen Spielen zuwendenden Spiels ins Prokrustes-Bett theoretischer Bestimmtheiten muss arbiträre Verstümmelungen zeitigen. Betrachten wir sie näher. Scheler tilgt aus dem Nietzscheschen Lebensbegriff das zerstörerisch Sinnlose, das zirkuläre Gebären und Vernichten, das jeder Teleologie und Heilslehre spottet. Dass der von Piaton und seinen europäischen Gefolgsleuten unterschlagene tragische Mythos29 der
ephemeren Vergänglichkeit, essentiellen Uneindeutigkeit, konstitutionellen Fragilität und unaufhebbaren Sinnlosigkeit alles Menschlichen Nietzsche schon in der Geburt der Tragödie umtreibt und in der Genealogie der Moral zum ästhetischen Fiktionalismus30 als letztem
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sich selbst erlösendem Wort führt, dass die Wissenschaft als methodolo-
gische Selbstdisziplinierung ein verdeckter Abkömmling des ambivalenten asketischen Ideals ist, von dem es einigen vergönnt ist, halkyonisch spielend Abschied zu nehmen, bleibt Scheler und den phänomenologischen Zunftgenossen verborgen. Die tragischkomödiantische Kultur des Abschieds haben der Wille zum Aufbruch und der trügerische Glaube an Wahrheit und Wissenschaft für sie unsichtbar und bedeutungslos werden lassen. Sie glauben an das Absolute; sie haben, in welcher Variante auch immer, Mono-
theismus im Blut. Nietzsches Liebe zum Vornehmheit bekundenden, Gestaltwandel und Widersprüchlichkeit als Befreiung von der Unterwerfung unter eine einzige Geschichte nutzenden Polytheismus (der griechischen Götterwelt) bleibt ihnen fremd.31 Sie wissen als Letztgültigkeitsbesessene nichts vom homerischen Gelächter. In aller Wissenschaftskritik bleiben sie dem asketischen Ideal der letztheitlichen Wahrheit, der Wissenschaft treu. Der Wille zur Wahrheit wird keinem zum Problem. Nietzsche wird durch Scheler zum universalistischen, die alte metaphysische Trias von Gott, Mensch und Welt umgreifenden Lebensphilosophen neutralisiert. Dass alle Instanzen dieser Metaphysik von Nietzsche destruiert wurden, nimmt er nicht wahr. Da er selbst Gott und den Kosmos mit Geschichtlichkeit durchtränken und auf den sich selbst deifizierenden Menschen unlösbar beziehen will, sieht er in Nietzsche den ahnungsvollen Wegbereiter seines eigenen Philosophierens. Über den tragischen Aspekt des ephemeren Lebens, das in der Unendlichkeit der Planeten kaum sichtbar aufblüht und auf ewig in kaltem Schweigen versinkt,32 kann Scheler durch solche universale Perspektive rasch hinweghuschen. Er nimmt ihn einfach nicht ernst.33 Sein Blick ist auf den in: Interpretationen. Hauptwerke der Philosophie. 20. Jahrhundert, Stuttgart 43-73. 1992, Dazu: Eugen Fink, Metaphysik der Erziehung im Weltverständnis von Plato und Aristoteles, Frankfurt/M. 1970. Dazu: Novalis, Heinrich von Ofterdingen, hg. von Jochen Hörisch, Frankfurt/M. 1982. Dazu: Odo Marquard, „Lob des Polytheismus. Über Monomythie und Polymythie"; in: ders., Abschied vom Prinzipiellen. Philosophische Studien, Stuttgart 1995, 9Iff. Dazu: Friedrich Nietzsche, KSA, WL, 1, 875. Max Scheler, Versuche, 314.
Philosophie" (1913); 29
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Leitfaden des Willens zur Macht, der steigenden, sich selbst übersteigenden Selbstmächtigkeit des Menschen gedeuteten Zarathustra gerichtet. Das andere Tanzlied wird mit wenig Vertrauen suggerierenden Eingangsworten zitiert.34 Das jenseits von Gut und Böse', das Zarathustra (Mensch) und Leben im werdenden, verwesenden Sein und Handeln bestimmt und als Wesensverwandte aneinander schmiedet, zum trügerischen wechselseitigen Gutsein, zur axiologisch-teleologischen Projektion ,der Mensch hat Sinn, das Leben hat Sinn' verlockt, dem das Leben nicht widerspricht, vermag Scheler nicht zu irritieren. Ihn fasziniert die anfangliche anthropomorphe Ansprache ans Leben, die wie ein Liebesgedicht klingt, um sogleich jedoch ins Dämonische zu kippen. Der fiktionale Anthropomorphismus, der sinnloses Gebären, Vernichten und Verschlingen in die Vertrautheit des Dialogs, der keiner sein kann, ästhetisch-libidinös transformiert, bannt scheinhaft die Angst, die allgegenwärtig bleibt. Das Leben wird wie bei den Frühromantikern (Friedrich Schlegel, Novalis) poetisiert. Die dialogisch vorgetäuschte Liebe ist Ausdruck der Verzweiflung, Fremdheit und Einsicht in die schicksalhafte Kontingenz. Der Urgrund fragt nicht nach dem Menschen, in dem er seiner blitzhaft-vergessend ansichtig wird. Nietzsche verweist in der von Scheler nicht vordergründig-abgründig, tänzerischspielend verstandenen liedhaft-ästhetisierenden Passage auf motivische Oszillationen, die den Lebensbegriff, der nur eine unumgängliche, Leben ermöglichende künstlichkünstlerische, privat-perspektivische Anschauung ist, in all seinen Erscheinungsformen durchzucken. Im strikten Sinne hebt Nietzsche damit den latenten Dogmatismus der Lebensphilosophie auf, den Scheler in der Konzeption seines Textes unterstellt. Das Leben bleibt für Nietzsche das überwältigende Fremde, mit dem Zarathustra einen tänzerischen Dialog versucht, dessen Scheitern im kaum kaschierten gewaltsamen Duktus der Rede für jedes feinere Ohr hörbar ist. Zur Scheinhaftigkeit zwingt das unergründliche Leben, dessen Teil wir geworden sind. So modeln wir uns einen ,Begriff, der nichts begreifen kann. In diesem Sinne ist der Begriff des Lebens wahnhaft. Den Wahn können wir nicht überschreiten. Aber wir können auf ihm Systeme errichten, die ihn vergessen machen sollen. Wenn Scheler behauptet, dass Nietzsche die ,Philosophie des Lebens' nicht als systematisches Ganzes vor Augen hatte, sie dennoch als „verborgener Schutzgeist"35 ihrer Ausgestaltung wirke, so spinnt er den Faden einer Letztbegründungsphilosophie fort, den Nietzsche in den von Scheler berücksichtigten Texten durchschnitten hatte. Selbst Nietzsches Äußerungen über das Leben müssen in ästhetisch-fiktionaler, kompensatorischprojektiver Form in die spielerische Schwebe gebracht werden, in der das Erkennenwollen über sich selbst zu lachen vermag. Deshalb ist es aufs Ganze gesehen nicht zutreffend, dass Nietzsche sich zu naturalistischen oder biologistischen Borniertheiten verstiegen habe.36 Mehr als ein metaphorisches Spiel, in dem die wirbelnden Metaphern sich von ihren Bestimmtheiten lösen, liegt ihm nicht im Sinn. Metaphorischer Polytheismus am
„In dein Auge schaute ich jüngst, oh Leben [...]", KSA, ZA, 4, 282. Versuche, 314. Dazu: Karl Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, 3., unveränderte Aufl., Berlin 1950; Rüdiger Safranski, Nietzsche (ausgew. von R. S.), München 1999, 40ff
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hält das Spiel offen. Um das wirklich zu begreifen, muss man als Spieler, als Meister der Masken geboren sein. Wenn wir dem ,anderen Tanzlied' folgen, zerstiebt der Glaube an Urgründe, an Letztheiten jedweder Art. Selbst der dionysische Grund des Lebens verdankt sich metaphorischen Fiktionen, in denen der Mensch haust und seine Verzweiflung bändigt. Alles verweist, wie in der Monadologie oder in einem Spinnennetz, auf alles. Gewaltsam zerschneidet Scheler das trügerisch-schöne Gefüge, dessen melancholischer Schönheit er nicht ansichtig geworden ist. Zwar zögert er, bei Nietzsche von einem ,Begriff des Lebens zu sprechen, dennoch folgt er begrifflichen Orientierungen. Zunächst wird Nietzsches oszillierende Metaphorik des Lebens im Geiste der Lebensphilosophie, die mit Herder, Johann Georg Hamann und Friedrich Heinrich Jacobi ihre folgenreiche Ausgestaltung fand,37 genetisch formalisiert. Leben wird zur gesetzmäßigen Abfolge von Aktionen des Strömens, der Werterhöhung in der Abfolge von Gestaltungen, der Niedergang indizierenden Verkrustung, die sich in Gesetzlichkeiten fassen lässt. Strömen, Werterhöhung und Verkrustung sind nicht die Kategorien, mit denen sich Nietzsches dionysischapollinischer Lebensbegriff, in dem sich kein Funken von Normativität, aber die sinnlose Prozessualität des Gestaltens und Entstaltens regt, die wir euphemistisch ,Geschichte' nennen, zu verstehen wäre. Von Diltheys vermeintlich unmetaphysischer Teleologie und Bergsons metaphysischer Hermeneutik her nähert sich Scheler, alte normative Verklärungen des Naturbegriffs aufnehmend, der sinnlosen Dynamik des Lebens, die in Natar und Geschichte sich zeigt. Unbemerkt werden zudem aristotelische Form-MaterieTeleologien dem Nietzscheschen Lebensbegriff eingehaucht. Scheler modelt Nietzsche zum anregenden Metaphysiker, der sich im Kampf gegen den Terrain gewinnenden Evolutionismus (Herbert Spencer, Charles Darwin) nutzen lässt. Leben bedeutet ursprüngliche, spielerische, unberechenbare, überraschende Aktivität. Es ist ein Spiel, das sich selbst genießen und steigern will. Zeitgenössische reaktive Bestimmungen des Lebens entstammen irrigen Voraussetzungen, der reaktiv-konformistischen Mentalität des Bourgeois. In der Bestimmung des Lebensbegriffs verrät sich nach Scheler die unbedachte Grundhaltung zur Welt. Nietzsches Gesellschafts- und Kulturkritik entstammt dem Willen zum spielerischen, neue Formen und Selbsterfahrungen suchenden Wagnis. Im Lebensbegriff hat Nietzsche diesen Willen zum Ausdruck gebracht. Er ist das kategoriale Zentrum seines Denkens und Empfindens. Diesen interpretativen Weg deutet Scheler nur an. In einer habituellen Interpretation Nietzsches könnte auf ihm vorangeschritten werden. Jedenfalls macht Scheler klar, dass die Semantik der wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Fundamentalbegriffe in präreflexiven Haltungen, Stilen der Weltöffnung und -begegnung verankert ist. Eine Sprachanalyse, das ist ein Affront gegen die Hermeneutik, verheddert sich in Oberflächlichkeiten, weil sie nicht zur Analyse von Haltungen in ihrer individualen und traditionalen Genese vordringt. Auf Nietzsches Schultern wagt er diesen verlockenden, wissenssoziologische Horizonte ahnenden Ausblick.38 Nietzsches Lebensbegriff ist willkommen, weil er mit mechanistischreaktiven und utilitistisch-berechnenden Vorurteilen bricht. Seine systematische ExplikaDazu: Otto Friedrich Bollnow, Die Lebensphilosophie, Berlin 1958. Dazu: Max Scheler, Versuche, 316f.
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philosophische Adelung erfahrt dieser Begriff freilich erst, wenn wir Scheler glauben, in der Phänomenologie. Neben die teleologisch-formale Sichtweise des Nietzscheschen Lebensbegriffs tritt die historistische, die zur existentiellen drängt. Ihren Abschluss findet Schelers NietzscheInterpretation in der kategorialanalytischen resp. ideologiekritischen Applikation des Lebensbegriffs, die Scheler sich zurechnet. Nietzsches dekuvrierende Leistung bleibt de facto ungewürdigt. Als ideologiekritischen Bundesgenossen feiert er ihn nicht. Nietzsches Denken wird Durchgangsstadium für das eigene phänomenologische System, mit dem er sich von Husserls transzendentaler Phänomenologie abgrenzen möchte. In diesem System walten vernachlässigte Beziehungen zum Geist des Historismus. So nimmt es nicht wunder, dass er in vager Anlehnung an die Geburt der Tragödie^ Werden und Vergehen geschichtlicher Welten mit ihren axiologischen Gliederungen und Beziehungen als Aktionen des unergründlichen Lebens versteht, von der vitalistischen zur historistischen Semantik des Lebensbegriffs aufsteigt. Über die Problematik dieses perspektivischen Wechsels in die Welt der geistigen Schöpfungen erfahren wir nichts. Da Scheler den Historismus in seiner eigenen Phänomenologie metaphysisch relationiert, schwinden im Ausblick auf letztheitliche regulative Sicherungen die in ihm lauernden Gefahren der Resignation und Verzweiflung. Hinter allem Werden und Verwesen stehen feste, prinzipiell erschlossene, gefühlte Gliederungen des Seins. Den Glauben daran hat Nietzsche längst verloren. tion und
Das Ideal des
Übermenschen steht Schelers phänomenologisch-existenzphiloso-
am nächsten. Die Nachtseiten des Lebensbegriffs können darin vergessen werden. Von diesem Ideal her interpretiert er Nietzsches Lebensbegriff formal und historistisch. Die triadische Struktur des Lebensbegriffs wird als teleologisches Gefüge gedeutet: Dynamik, Geschichte, Übermensch. Tragische Einsichten werden im Keim erstickt. Dass jede Lebensbestimmtheit den Tod, den Mord des anderen zur Voraussetzung hat, in jedem Ja ein vernichtendes Nein tobt, Leben unabweislich Töten in sich schließt, nimmt Scheler nicht wahr. Es gibt Wahrheiten, die dem Leben, die den Lebenden verborgen bleiben müssen. Bis in die Sprache hinein spürt man Schelers fiktionales Interesse. Strömen, Rauschen und Trinken kaschieren die grässliche Wahrheit sinnlosen Tötens und Leidens in lyrischen Euphemismen, in anthropomorpher Sinneinbettung.40 So lassen sich Ängste bewältigen. Richtungsvokabeln dienen der Flucht in den Schein, dessen das Leben bedarf. Prometheisch-apollinische Einäugigkeit lässt Leben als unendlichen Prozess der Gestaltung, des formalen Bewältigens des Ungestalten erscheinen, in dem die ideologisierende Gewalttätigkeit nicht zu Bewusstsein kommen darf.41 Biologie und Historismus werden kategorial identisch: Aktivität, Innovation, progressive Formung, universale ideologische Bestimmtheit. Die Polysemantik des Nietzscheschen Lebensbegriffs verführt zur organologischen Generalisierung. Selbst das Vernichten sieht Scheler als weiter schreitende, sinnvolle Formung im vitalen und humanen Bereich gesehen: Vernichtung als Steigerung. Nietzsches ,Wille zur Macht' erscheint als teleolo-
phischen Hoffnungen
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gisches Glaubensbekenntnis, in dem jegliches Bewusstsein der Ambivalenz tröstlich getilgt ist. Scheler liest Nietzsche primär vom Zarathustra her. Übermensch und Wille zur Macht sind Formeln seines eigenen philosophischen Wollens. Bürgerlich-kalkula-
torischer Konformismus und Verrat der Geschichtlichkeit, des Aufbruchs, der Risikobereitschaft sind ihm zuwider. Neuzeitlicher Mechanismus, der sich in Lebensformen und Wertungen niederschlägt, soll vitalistisch überwunden werden. Der Mensch soll sich im Entwurf neuer Seinsmöglichkeiten riskieren. Leben bedeutet Entwerfen und Übersteigen von Entwürfen. Leben ist unablässiges sich-selbst-Transzendieren aus unergründlichem Grund. Die Person als vorgegenständliches Aktzentrum taucht auf. Scheler assimiliert Nietzsches Lebensbegriff als Synonym für das Vorgegenständliche, in dem Gegenständliches jeglicher Art entworfen wird. Nietzsches Philosophie fordert ihn zur existentiellwagenden, Geschichtlichkeit im emphatischen Sinne erzeugenden und bewährenden Wendung seiner Phänomenologie heraus. Dadurch erhalten auch seine häufig verkannten Kriegsschriften einen neuen interpretativen Horizont. Dionysos und der tragische Mythos werden in dieser metaphysisch-existenzphilosophischen Transformation übergangen. Als .romantisch' wertet Scheler die Geburt der Tragödie, das heißt: Sie bedarf als dichterische Schöpfung keiner philosophischen Würdigung.42 Für den ideologiekritischen Moralphilosophen, der Nietzsche für Scheler ist, hat sie keine Bedeutung. Auch das ,positivistische' (aufklärerische) Zwischenstadium seines Schaffens verdient keine philosophische Beachtung. Selbst Nietzsche war dem pathologischen Zeitgeist vorübergehend verfallen. Erst mit dem Zarathustra und den moralphilosophischen Schriften fand er, nach Scheler, zu sich selbst. Scheler kommt nicht auf die Idee, Nietzsche im Kontext seiner Schriften zu interpretieren. Dadurch wird der interpretative Dogmatismus, den er praktiziert, unüberwindbar. Wenige Theoreme werden wie unerschütterliche Grundüberzeugungen aus dem relationierenden Kontext herausgelöst und den eigenen philosophischen Intentionen einverleibt. Die spielerische Relativierung, die selbst in den einzelnen Werken und im Zarathustra unübersehbar zutage tritt, kann bei solchem willkürlichen Procederé nicht erfasst werden. Aus experimentellem Philosophieren wird dogmatische Philosophie. Dass der überkommene Typus des Philosophierens von Nietzsche spielerischartistisch verabschiedet wird, sieht Scheler nicht. Er glaubt an die Einheit von Erkennen und Leben und strebt deren phänomenologische Potenzierung an. Hinter dieser existenzphilosophischen Deutung steht ein metaphysischer Optimismus, der den von Nietzsche gesehenen, erlittenen tödlichen Konflikt zwischen Leben und Erkennen nicht ahnt. Nietzsches neue, nicht-mechanistische Semantik des Lebens wird existenzphilosophisch und wissenssoziologisch (ideologiekritisch) in das eigene philosophische Wollen integriert. Es wird anerkannt, dass er den Horizont der Wissenschaftstheorie zur Wissenschaftsphilosophie durchbrochen hat, was für Scheler zu den Grundaufgaben der Phä-
nomenologie gehört.
Wissenschaftliche Kategorien werden durch solche Transzendierung kritisierbar. Sie sind nichts apriorisch Endgültiges, sie wurzeln in vortheoretischen Welt- und Selbstdeutungen. Kategorien haben eine rekonstruierbare Genese. Den Geist des Historismus apEbd., 316.
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pliziert Scheler auf die Analyse wissenschaftlicher und alltagssprachlicher Kategorien. Er historisiert das Bewusstsein durch den Rekurs auf geschichtliche Welthaltungen und Wertungen, die ihrer eigenen Geschichtlichkeit nicht ansichtig werden. Spezifische kategoriale Horizonte gründen in zu Selbstverständlichkeiten herabgesunkenen Lebensformen, in denen eine personale und gemeinschaftliche Identität aufgebaut wird, die sich allgemeingültig wähnt. Die historische Rekonstruktion vermag diesen Wahn zu zerstören. Nietzsches Philosophie des Lebens sucht, wie Scheler meint, den habituellen Ursprung, das latente Wollensgefüge des modernen mechanistischen Denkens und utilitisti-
schen Wertens bewusst zu machen und durch eine andere Wollensbestimmtheit zu ersetzen. Theoretische und axiologische Bestimmtheiten sollen transparent werden, auf ihre vorbewussten Stellungnahmen befragt werden. Schelers kühne, in hohem Maße selektive Vergegenwärtigung einiger NietzscheTheoreme unterscheidet sich wohltuend von peinlich-begriffslosen affirmativen und zurückweisenden oder narzißtisch-narrativen Annäherungen, denen Nietzsches Philosophieren ausgeliefert war und ist. Weil Scheler ein rastlos suchender Denker ist, will er durch Nietzsche Anregungen für die eigene philosophische Systematik, hinter der die Hoffnung auf ein universales phänomenologisches System lebendig ist, erhalten. Die Historisierung des Denkens, seines kategorialen Gefüges, scheint Nietzsches Lebensbegriff zu versprechen. Kategorien haben ihre jahrhundertelange Geschichte, die prinzipiell rekonstruierbar und durch soziologische Rekonstruktion transzendierbar ist. Im Schlussteil dieser kleinen Schelerschen Skizze zeigt sich, welches erkenntnistheoretische Interesse bei der semantischen Dimensionierung des Nietzscheschen Lebensbegriffs am Werk ist. Der Habitus des modernen, instrumenteller und strategischer Rationalität und dem Ethos rigider Selbstsicherung folgenden Menschen in seiner Alltäglichkeit und wissenschaftlichen Künstlichkeit soll als vorkategoriales Zentrum aller Kategorien freigelegt werden. Nietzsche ahnt für Scheler, dass vermeintlich opake Kategorien durch genetische Analyse transparent werden können. Sprachphilosophische Möglichkeiten, denen Nietzsche schon früh nachging, fasst Scheler nicht ins Auge.43 Nietzsches neue Semantik des Begriffs des Lebens bedeutet nach seinem Verständnis die Verabschiedung des rationalistisch-technologischen Habitus, der sich allgemeingültig dünkt, aber nur eine spezifische vorreflexive Selbstbezüglichkeit des Menschen und eine damit verknüpfte eigentümliche Weltselektion darstellt. Wir haben die Welt nur in habituellen Perspektivitäten, die unserer Reflexion, unserem Wollen weitgehend entzogen sind, weil sie Ingrediens unserer nicht ganz transzendierbaren Geschichte sind. In der wissenssoziologisch konkretisierten Phänomenologie sieht Scheler die einzige Möglichkeit der Kritik. Nietzsches lebensphilosophische Destruktion der tradierten utilitistischen Moral des Bourgeois soll dieser genetisch-axiologischen Phänomenologie zugeführt werden. Nietzsche soll gegen den cartesischen Dualismus, der nicht nur eine Wissenschaftsphilosophie, sondern eine außerwissenschaftliche Lebensform und Wertungswirklichkeit geworden ist, ins Feld geführt werden. Die Dichotomisierung von res cogitans und res extensa hebt Nietzsches Lebensbegriff, wie Scheler zeigen will, durch eine universalisti-
-
Dazu: Christian Bermes 879ff.
(Hg.), Sprachphilosophie, Freiburg 1999; Friedrich Nietzsche, KSA, WL, 1,
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Konzeptaalisierung auf.44 Wissenschaftlich umgemünzt wird der Lebensbegriff im Projekt kategorialer und habitueller Historisierung, die Nietzsche für Scheler bloß angedeutet hat. In der Durchführung des Projekts sollen die unhistorische aufklärerische Anthropologie und deren Fetischisierung des homo faber fallen. Nietzsche hat, wie Scheler andeutet, in seiner genealogischen Sichtung von Wertungen und Haltungen den tradierten Begriff der Philosophie in Frage gestellt. Die Beziehungen zwischen der Philosophie und den durch Rationalismus und Aufklärung inthronisierten, sich differenzierenden sehe
Einzelwissenschaften müssen neu bestimmt werden. Scheler stellt Nietzsche in die Philosophie und in das nicht-philosophische Intuieren und Schaffen, aus dem sich Fragen an die empirischen Wissenschaften vom Menschen ergeben, die er präzisieren und systematisieren will. Nietzsche erscheint als somnambuler Grenzgänger, aber nicht als zu sanktionierender Grenzverletzer. Die Bestimmtheit der Philosophie steht für Scheler und Nietzsche in nicht gekanntem Ausmaße zur Disposition. Dies ist für Scheler so selbstverständlich, dass er kein Wort darüber verliert. Nietzsche bestärkt ihn in der Entgrenzung des bisherigen philosophischen Fragens. Eine neue Typik des philosophischen Denkens deutet sich an, die sich den geschichtlichen Phänomenen in unendlicher Offenheit anschmiegt und deduktive Vergewaltigungen ebenso von sich weist wie aufklärerische Mystifizierungen anthropologischer Konstanten. Die sich strukturell-funktional differenzierenden Wissenschaften fordern die Philosophie zur Neubestimmung heraus.45 Dies nehmen Nietzsche und Scheler als reflexive Herausforderung an. In der oszillierenden Semantik des Lebensbegriffs spiegeln sich die Differenzierungen der die Philosophie umgebenden wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen kulturell-geschichtlichen Subsysteme, in denen sich die Wirklichkeit der Gesellschaft zeigt. Nietzsches und Schelers Orientierung am Lebensbegriff und dessen Polysemantik müsste als Symptom für eine neu aufbrechende Relationsproblematik der Philosophie gelesen werden. Kategoriale Genealogie und diverse Kultursysteme umgreifende Relationstheorie bilden für sie einen wissenschaftsphilosophisch-postalatorischen Zusammenhang, in dem der Historismus einer neuen Gestalt zugeführt wird. Das Versanden der Philosophie in philosophischer Geschichtsschreibung ist für beide Ausdruck eines defizitären, sich von wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Differenzierungsprozessen abkoppelnden Selbstverständnisses der Philosophie, das einer Selbstverstümmelung
gleichkommt.
Durch Nietzsches philosophischen Neuansatz werden nach Überzeugung Schelers Kategorien und Lebensformen genetisch rekonstruierbar. Über den sprachgebundenen hermeneutischen Ansatz wird dabei hinausgegangen. Lebensformen sind Kristallisationen des aufsteigenden und niedergehenden Lebens, normativ interpretierte vorreflexive Typen der Selbst- und Weltdeutang, in denen Nuancierungen des allbezüglichen Hasses und der Liebe sich sedimentieren. Nietzsche erscheint in Schelers Deutung als wertender Theoretiker des Ethos, der präreflexiven Haltung als einer Konfiguration, die sich in allen wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Vollzügen als virulent erweist. Während der von Scheler befehdete Herbert Spencer von der Naturphilosophie zu einer
45
Scheler bezweifelt nicht, dass es sich um eine Dichotomie handelt. Eine artikulatorische kommt zu einer anderen Sichtung. Sie wird selten versucht. Dazu: Nikias Luhmann. Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1999.
Interpretation
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konformistisch-evolutionistischen Theorie der Moral vorstößt und dem szientistischen Paradigma folgt, das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich monopolisiert, schaut Nietzsche hinter die zeitgenössische positivistische Bestimmung von Wissen-
schaft und entlarvt deren ideologischen Charakter. Dieser sich absolut setzende, allgemeingültig verstehende Typus von Wissenschaft wird als Ausdruck einer verborgenen Grundhaltung zum Leben durchschaut und historisch relativiert. Scheler weiß: Die Philosophie wird durch kulturelle Entwicklungen gezwungen, ihr Verhältnis zur sich unaufhörlich spezifizierenden dominanten Naturwissenschaft neu zu bestimmen. Nietzsches ideologiekritische Sichtung der modernen mechanistischen Naturwissenschaft eröffnet, wie Scheler hofft, neue Möglichkeiten philosophischer Reflexion. Nietzsche umreißt ein neues Arbeitsfeld für die fundamental bedrohte, durch die Kinder aus ihrem eigenen Schoß entthronte, ins gesellschaftliche Abseits gedrängte Philosophie. Durch den wissenschaftlichen und philosophischen Dilettanten Nietzsche sieht Scheler die Chance, der marginalisierten Philosophie neue gesellschaftlich-geschichtlich relevante Funktionen zuzuweisen. Sie muss sich als Philosophie des kategorialen Urgrundes, des Lebens und des vorreflexiven Ethos geschichtlich neu inszenieren. So allein vermag sie ihrem Anspruch auf fundamentale Einsichten gerecht zu werden, ihre theoretische Eigenbestimmtheit gegen die zermalmenden Einzelwissenschaften zu sichern, die sich im Herzen der zeitgenössischen Philosophie als kategoriale Vorentscheidungen festgesetzt haben. Für Scheler hat Nietzsche die neuen Leitideen Leben, Existenz und Ethos der in Selbstbegründungsnot geratenen Philosophie zugespielt. Weil Nietzsche außerhalb der wissenschaftlichen und philosophischen Professionalität stand, wurden ihm diese innovatorischen Ideen geschenkt. Scheler kann sich des Erstaunens ob dieser Kontingenz nicht erwehren.46 Durch jene Leitideen wird aufklärerische, an übergeschichtliche Konstanten glaubende, den Begriff der Natur fetischisierende Anthropologie als obsolet erwiesen. Scheler erkennt durch Nietzsche zuvor nicht geahnte Historisierungsmöglichkeiten des Menschen resp. des Denkens. Der Begriff des transzendentalen Subjekts, des Transzendentalismus bedarf einschneidender Kritik. Dadurch sieht sich Scheler gezwungen, seine phänomenologische Metaphysik von den bisherigen Formen metaphysischen Denkens abzugrenzen. Trotz Nietzsches moralphilosophischer Destruktion hält Scheler an einem spannungsreichen, historistische Perspektiven integrierenden Projekt der Metaphysik fest. Nietzsches typologisches Modell der historischen Rekonstruktion findet dabei Berücksichtigung. In den Typen des Ethos findet Scheler ein vorbewusstes regionales Apriori, in dem sich eine Geschichte konsolidiert, das eine spezifische Geschichte eröffnet. Nur in Kooperation mit den am Ende des 19. Jahrhunderts ausdifferenzierten psychologischen und soziologischen Einzelwissenschaften kann Zugang zu solchen apriorischen Regionalitäten gefunden werden. Die sich ausgrenzenden Wissenschaften vom Menschen werden so in die Philosophie hineingenommen. Letztlich fasziniert Nietzsche Scheler durch seinen künstlerisch-spielerischen methodologischen Wagemut, fixierte Lebensäußerungen in Moral und Wissenschaften in den Reflexionshorizont der Philosophie nicht einfach (metaphysisch) einzuschmelzen, sondern begrifflich-analytisch als Aufgabendimensionen einzubringen. Arbeitswissen, Leistungsgesellschaft und Dazu: Max
Scheler, Versuche, 316: „Das ist das Merkwürdigste [...].'
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Aer seine Voraussetzungen und Geschichtlichkeit nicht ahnende Typus des homo faber werden analytisch-rekonstruktiv transzendierbar. Das Spektrum geschichtlicher Möglichkeiten wird wieder sichtbar. Auswege aus der Sackgasse der Moderne können nur so gefunden werden. Die vita activa in der engen bürgerlich-technologischen Semantik des homo faber ist nicht das letzte Wort.47 So schaffen sich Nietzsche und Scheler Zugang zu verschütteten (Antike, Renaissance) und erst zu entwerfenden Lebensmöglichkeiten. Scheler sieht in Nietzsche den Kritiker des modernen Menschen, der aus uneingestandener Angst, aus Ressentiment gegen das verschwenderische, nicht antizipierbare, tödliche Risiken bergende Leben die Welt und den Menschen in artifiziell-hermetischen Systemen, in denen das mythische Gesetz der Wiederholung als Optimum der Logizität gilt,48 berechenbar zu machen trachtet und dadurch seine Geschichtlichkeit, seine existentiellen Möglichkeiten des Opfers, der Selbstlosigkeit und des Aufschwungs verrät. Niedergehendes Leben sucht rational-instrumentelle Sicherungssysteme und folgt im Sozialen der strategischen Vernunft. Anpassung und Daseinserhaltung avancieren zu zentralen Kategorien. Der Bourgeois resp. der Pöbeltypus begründet mit ihnen eine Scheinwelt der wissenschaftlichen, gegen Kritik immunisierten Objektivität.49 Nietzsche hat nach Einschätzung Schelers die bürgerliche Wissenschaft als defizienten Modus des Denkens entlarvt. Es müssen die jeweils fundierenden Ethos-Typen historisch rekonstruiert werden. Ohne Skrupel übernimmt Scheler die normativen Implikationen, die er in Nietzsches Philosophie des Lebens findet. Möglicherweise wirkt sich der normative Horizont, den Scheler von Nietzsche übernimmt, hinderlich aus. Über den Erkenntniswert der Aufstiegs- und Niedergangsvokabeln lässt sich streiten. Dass Arbeit, Leistung, Vorsicht, Klugheit, Selbstkontrolle, ökonomische Vernünftigkeit und kausalanalytische wissenschaftliche Konstruktivität für die Selbstbestimmung und Lebensgestaltang des modernen Menschen bestimmend wurden, lässt sich mit vager affektbesetzter Lebensmetaphorik nicht begründen. Scheler folgt Nietzsche bis ins Pathos verschwenderischer Lebensentwürfe ausspähender Eigentlichkeit. Selbstüberschreitung vermählt sich am Vorabend des Ersten Weltkrieges mit den Gedanken berauschender Opfer und unbedingter Liebe. Das Pathos kippt leicht ins Pathologische. Durch die ideologiekritisch-wissenssoziologische Forschungsperspektive kommt wohltuende Linderung. Doch bleibt die fundamentale Insuffizienz der normativ-deskriptiv oszillierenden Lebensmetaphorik sichtbar. Dass lebensweltliche und wissenschaftliche Rationalität, dass jegliche Bestimmung der eigenen Identität um den Preis radikaler Reduktion gewonnen werden kann, bleibt undiskutiert. Schelers, Nietzsche entlehntes, Ethos der Unverfügbarkeit und Wahrung der Komplexität des Lebens bzw. der Geschichte unterschlägt den lebensnotwendigen Zwang zur Vereinfachung, zur artifiziellen Konstruktion. Der Zwang wird als niedergehendes, letztlich totes Leben stigmatisiert und dem analytischen Zugriff, dem das Wort geredet wird,
Comenius, De rerum humanarum Consultatio Catholica, hg. von Otokar Chlup, Prag 1966.; Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München, Zürich 1983. Dazu: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Dazu: Johann Arnos
Frankfurt/M. 2003. Dazu: Max Scheler,
Versuche, 316f.
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partiell entzogen. Versuchung.
So wird
aus
3. Das Ressentiment als
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dem Versuch der
Lebensphilosophie eine antagonistische
eigentümliches Apriori
Zwischen 1913 und 1919, zeitgleich mit der Ausarbeitung des ethischen Teils50 seiner unvollendet gebliebenen Axiologie, entwickelt Scheler, von Nietzsche inspiriert und verunsichert, Kants Transzendentalismus und Husserls Phänomenologie hatten ihn an Letztgültigkeiten gegen psychologistische Aufweichungen glauben lassen,51 eine historisch konkretisierte Typologie ressentimentverhafteter und ressentimentfreier Welthaltung. Das Ethos wird als Forschungsgegenstand der Psychologie, Soziologie, Geschichtswissenschaft und Phänomenologie überantwortet. Nietzsches Intuitionen sollen durch die aus der Philosophie sich herauslösenden Wissenschaften vom Menschen kontrolliert und axiologisch bestimmt werden. Die in der Philosophie des Lebens versuchte Marginalisierung des Nietzscheschen Ahnens und Schauens erweist sich als aus tiefer Irritation erwachsene Abwehr. In der Ressentimentabhandlung gibt Scheler diesen interessegeleiteten Reduktionismus auf. Er weiss, dass durch Nietzsche der tradierte Modus der Philosophie radikal in Frage gestellt ist. Sein Lebensplan einer umfänglichen phänomenologischen Axiologie, in die philosophische Anthropologie zu integrieren ist, muss Husserl von Grund überdacht werden. Die Bezugstrias hat sich neu formiert: Kant Nietzsche. Scheler, zum Katholizismus konvertiert und dabei, christliche Überzeugungen in einer Ethik der Noblesse zu perennieren, spürt, dass Nietzsche eine nicht gekannte Herausforderung für Philosophie und Menschheitsgeschichte bedeutet. Die Lektüre Vaihingers52 und Riehls53 bereiteten solche epochale Korrektur kaum vor. Wie die Vorbemerkung zeigt, fasziniert ihn die psychologische Grundlagendiskussion, die in Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts mit Wilhelm Wundt und Dilthey der pragmatistischen resp. differentiell-integrativen angelsächsischen Diskussion mit einigen Jahrzehnten Verspätung folgte. Gestaltpsychologie und verstehend-deskriptive Psychologie schienen zukunftsträchtig und als perspektivische Subsysteme für die Phänomenologie befruchtend zu sein. Sie halfen, psychisch-ethische Pathologien, zu beschreiben und begrifflich zu klären. Durch Diltheys nicht unumstrittene Arbeiten54 fühlte er sich in seiner Ablehnung der -
51
52 53 54
-
Ders., Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 1966. Dazu: Ders., Frühe Schriften, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 1, hg. von Maria Scheler/Manfred S.
Frings, Bern/München 1971. Hans Vaihinger, Nietzsche als Philosoph,
1918. Alois Riehl, Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker, 1920. Dazu die vernichtende Kritik, die Hermann Ebbinghaus an Diltheys Akademieabhandlung Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894) geübt hat: „Über erklärende und beschreibende Psychologie", in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Bd. 9, 161— 205.
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Elementen- und Assoziationspsychologie bestärkt. Von Sinn- und Erlebniseinheiten müsste ausgegangen werden.55 Nietzsche hatte Scheler durch die in der Genealogie der Moral56 entfaltete Ressentimentlehre auf eine dem Bewusstsein entzogene, zum funktionalen Habitus in der Tiefenschicht der Person herabgesunkene, das Erleben prägende psychisch-axiologische Instanz verwiesen, durch die ein fundamentales, in Bestätigungen sich zirkulär konsolidierendes Selbstbild und Weltbild erzeugt wird. Abwehr und Machtwille verbünden sich in ihm mit entlarvender Hellsichtigkeit zu einer großen, dem Leben, dem Überleben in Selbstachtung dienlichen Vereinfachung. Selektive emotionale Zirkularität, das auf vorgängiges leidvolles Fühlen zurückbezogene aversive, rancunegeladene Wieder-Fühlen der uneingestandenen Inferiorität steckt den Rahmen des bewussten Wertens und Handelns ab. Für Scheler hat Nietzsche in der Beschreibung des Ressentiments ein emotional-kognitiv-voluntatives Apriori entdeckt, das zur Erhellung der funktional-habituellen Tiefenschichten der Person dienlich und unerlässlich ist. Die grundstürzende systematisch-explikative Mächtigkeit des Ressentimentbegriffs als Spezifikation des HabitusBegriffs57 fasziniert ihn so sehr, dass er über die Herkunft dieses Denkens in vorbewussten figurativen Erlebenseinheiten, in denen Sinn aufgenommen, produziert und deformiert wird, kein Wort verliert. Die Einflüsse französischer Moralisten und Arthur Schopenhauers in dieser Vertiefung des Persongefüges sieht er durch den rein konstruktivsystematischen Zugriff auf Nietzsches Schriften nicht. Das Argumentieren der zeitgenössischen verstehenden Psychologie mit Sinn- und Erlebensganzheiten wird nach seiner Meinung durch Nietzsche bis in den Bereich des Unbewussten getrieben und dadurch vollendet. Es besteht, wie Nietzsches Ressentimentlehre demonstriert, die Möglichkeit, das Unbewusste durch sich erhaltende und verstärkende, Erfahrungen bewahrende und eröffnende Systeme des Wertfühlens resp. der Weltsichtang zu gliedern. Das Ressentiment erweist sich als zur Gewohnheit herabgesunkenes mehrfaches geschichtliches Apriori: Erschließung der Welt im Modus des Grolls, der auf Übermächtigung und Herabsetzung lauert. Fühlen, Erkennen und Wollen lassen sich in diesem habituellen Modus nur konstruktiv trennen. Neue Aufgaben der menschenwissenschaftlichen Forschung zeichnen sich ab. Habituelle Modi sind durch Nietzsche ins Blickfeld der Phänomenologie gerückt. Scheler will die Nietzschesche Fixierung auf einen feindseligen, aversiv-leidgebundenen Modus vorbewusster Systeme der Selbst- und Welterschließung durchbrechen und das von Dilthey für die geistig-geschichtlich-gesellschaftlichen Wissenschaften umrissene typologische Orientierungs- resp. Vereinfachungskonzept zur Strukturierung „präreflexiver"58 („prälogischer") Dimensionen nutzen. Aus dem Typus soll der Habitus als unbewusste Max Scheler, Ressentiment, 35f. Dazu: Werner Stegmaier, Nietzsches „Genealogie der Moral", 117-130. Scheler verwendet den Terminus nicht, er spricht in Termini seiner
fühls(lebens).
Phänomenologie des
Ge-
impliziert geschichtlich-unbewußte, sich zunehmend sichernde und verfestigende Zurückbezogenheit (Zirkularität) des psychischen Grundgefüges auf sich selbst. Zwischen dieser Zirkularität und Reflexion im Sinne der philosophischen Tradition muss unterschieden Diese Schelersche Präreflexivität
werden.
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emotionale Konfiguration werden, in dem die schematische Trennung von Wollen, Fühlen und Erkennen eingeschmolzen wird. Nietzsche hat für Scheler die Typologie Diltheys entscheidend vorangetrieben. Geschichtlich-lebensgeschichtliche abgesunkene apriorische Gefüge, aus Erfahrungen des Handelns hervorgegangen und Handlungen vorzeichnend, werden erstmals in ihrer Komplexität erhellt. Die bewusste Geschichte entstammt unbewussten Artikulationseinheiten mit eigener zirkulärer Geschichtlichkeit. Schelers Phänomenologie des Gefühlslebens erhält durch Nietzsches Systematisierung des Ressentimentbegriffs den verbindlichen methodologischen Zuschnitt, in dem Andeutungen und Hoffnungen Diltheys sich zu einer neuen, vorsprachliche Konfigurationen einbeziehenden Theorie der Auslegung fügen. Zwischen 1912 und 1915 hat sich Scheler, wie die veränderte Druckfassung belegt, mit den Partien I, 8; I, 10 und I, 14 der Genealogie der Moral intensiv auseinandergesetzt.59 Im ersten Teil seiner Abhandlung wendet er sich der „Phänomenologie und Soziologie des Ressentiment" zu.60 Er fasst eine fundamentalpsychologische, historisch-soziologische Theorie des Ressentiments und anderer Habitusformen ins Auge. Die Beziehungen zwischen Phänomenologie und Psychologie werden nicht eigens erörtert.61 Er geht davon aus, dass die Phänomenologie im Gegensatz zur, in kontroversen Konzeptionen vorliegenden einzelwissenschaftlichen Psychologie, sich als Möglichkeiten der Kritik sichernde kategorialanalytische Reflexion konstituiert. Nietzsches Intuition der ethosfundierten Genese moralischer Urteile soll in den Kontext zeitgenössischen wissenschaftlichen und phänomenologischen Denkens eingefügt werden und dadurch eine neue theoretisch-hypothetische Valenz erhalten. Geniale Einfalle bedürfen methodologischer Klärung; so können sie geschichtsmächtig werden. Es wäre verhängnisvoll, im Intuitionismus zu verharren. Scheler glaubt an die psychologisch-soziologische Übersetzbarkeit von Nietzsches abgründigem Ressentiment-Gedanken, der die moralistische Tradition in den Schatten stellt. Er ist überzeugt, dass niemand vor Nietzsche die formend-verformende Dynamik der Psyche tiefer erkannt hat als der umstrittene, alle Traditionen lachend aus den Angeln hebende Außenseiter der akademischen Philosophie. Die rücksichtslose, auf jegliche Sicherungen verzichtende, den eigenen Untergang und Übergang nicht scheuende Wahrhaftigkeit schlägt Scheler in ihren Bann. Die Psychologie wandelt sich zur Tiefen-Psychologie, in der eine genetische Analyse aller für einzelne Menschen und Epochen typischen moralischen Urteile geleistet werden muss. Zugleich soll die Fixierung auf das Ressentimentphänomen durch eine Typologie sedimentierter psychischer Einstellungen überwunden werden. Nietzsche erliegt nach Schelers Einschätzung der Gefahr, das Ethos des Ressentiments kritizistisch zu universalisieren. Die christliche Moral und Liebesidee werden in solcher Universalisierung verkannt. Sie sind idealiter gesehen ressentimentfreie Welthaltungen, an deren axiologisch-geschichtlicher Bedeutsamkeit Scheler gegen Nietzsche wie gegen christliche Wirklichkeiten in Vergangenheit und Gegenwart festhalten möchte. Nietzsches, von Scheler weitgehend geteilte Kritik des Christentums, trifft nicht das regulative, geschichtlich noch nicht eingelöste Potential des christlichen Ethos, das für Scheler zur humanen Vornehmheit weltanschaulich entgrenzt wird. -
Scheler, Ressentiment, 37f. Ebd., 37-68. Dazu: Ders., „Die Idole der Selbsterkenntnis", in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 3, 246ff. Max
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Weil Nietzsche die verborgensten Winkel des Ressentiments aufgespürt hat, kann, so hofft Scheler, die Idee der humanitas, die Idee des spielerisch-sorglosen, selbstlosliebenden, ungekannte Werte schaffenden und genießenden, naiv-egoistischen, alles Reaktive verschmähenden, aus einer ungebrochenen, unverletzten, unbedachten Mitte handelnden Menschens der Noblesse, der selbst noch für den aus Irritationen und Reflexionen erwachsenen Stolz zu stolz ist, in neuem, glanzvollem Lichte gesehen werden. Scheler konfrontiert den von Nietzsche gezeichneten Menschen des Ressentiments mit dem angstfreien, ritterlich-schenkenden, bislang ungedachte Möglichkeiten suchenden, liebenden homo ludens, dessen Spiel auch kämpferisch sein darf. Dass der Typus des achtenden Selbstbezugs, der aus ganzem Leibe liebenden Welthaltung, in der Renaissance und Aufklärung sich überzeitlich ineinanderfügen, im Zentrum der Selbstvergewisserung Nietzsches und geschichtlicher Hoffnungen steht und den Gedanken des Übermenschen konkretisiert, bleibt von Scheler nicht unerwähnt, aber im Hintergrund und in bezug zu anderen Autoren aus Geschichte und Gegenwart entwickelt.62 Scheler beansprucht einen axiologischen Primat, den er nicht gefährden will. Nietzsche bleibt der in seine Grenzen zu weisende rhapsodische Alleszermalmer, dessen provokatorische Mächtigkeit methodologisch geklärt und durch die eigene Wertlehre ins Positive gewendet werden soll. Nietzsches tiefenpsychologische Destruktion wirkt bei ihm als Stachel im Fleisch. Der Begriff der Ethik wird fragwürdig. Seine tradierte Semantik ist obsolet. Scheler weitet Nietzsches Psychologie des Ressentiments zur verstehend-beschreibenden Phänomenologie von Ethosformen, erhöht dadurch den grundlagentheoretischen Anspruch an eine Axiologie. Die lebensphilosophisch-diltheysche Bescheidung auf eine Pluralität von inkommensurablen Ethosformen mag er nicht akzeptieren. Er hält an einer metaphysischen Axiologie fest, deren Argumentationsmuster sich von denen der tradierten Metaphysik unterscheiden. In der Ressentiment-AbhmAhxng fügt er die Pluralität geschichtlich-monadischer Moralen, die er als spezifische Wertvorzugsregeln, als Variation des Grundwertes und nicht einfach der jeweiligen Einbettung eines vermeintlich konstanten Grundwertes in diverse geschichtliche Kontexte bestimmt, einer „absoluten Ethik"63 ein; im zweiten Teil der Formalismus-Schriñ64 betont er den urteilsgebundenen, nachrangigen Status des Begriffs der Ethik und grenzt ihn von der vorgeordneten Phänomenologie der axiologischen Präferenz ab. Nietzsches vorsprachlich-unbewußte Semantik des Ressentiment-Begriffs zwang er die urteilshaft-bewusste Fassung des Begriffs der Ethik durch eine Phänomenologie der absolut gültigen Präferenz- resp. Wertrangordnung zu überbieten. Welt erschließt sich vorurteilshaft in wertenden Wollungen. Das bewusste Urteil ist ein Kind der Reflexion, das sich im System einer Ethik verwandtschaftliche Beziehungen konstruiert. Schelers Phänomenologie bricht mit dem Primat von Urteilssystemen. Die Konfrontation mit Nietzsches Ressentiment-Lehre ist das Schlüsselerlebnis. Das Ressentiment ist ein Modus des habituell gewordenen Vorurteils, in dem sich Wirklichkeiten und Urteilshorizonte erschließen. An die Stelle des überindividuell-übergeFriedrich Nietzsche, KSA, JGB, 5, 205-240; KSA, GM 5, 270-277; Max Scheler, Ressentiment, 46ff. Max Scheler, Ressentiment, 68f. (er spricht von einer „ewiggültigen Ethik"). Ders, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 300ff.
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schichtlichen transzendentalen
synthetisierenden (urteilenden) Bewusstseins tritt eine geschichtlich-übergeschichtliche ,moralische' monadisch-figurative Fundamentalinstanz der Welterschließung.65 Die Welt gibt es nur in moralisch fundierten Abschattungen. Zu dieser grundstürzenden Erkenntnis weitet Scheler Nietzsches intuitive Psychologie des Ressentiments. Schelers Abhandlung enthält eine systematisch-intentionalitätstheoretische Reformulierung des Nietzscheschen Ressentiment-Typus und eine Typographie des vornehmen Menschen, der als Leitideal über den axiologischen Differenzierungen schwebt. Beide Typen begegnen ihm in asymmetrischer Artikulation bei Nietzsche. Er fühlt sich zur phänomenologisch-wissenschaftlichen Ausgestaltung der Nietzsche-Entwürfe herausgefordert. Betroffenheits-Polemik wird forschungsprogrammatisch neutralisiert. Instinkthaft-bestialische Momente werden getilgt. Subtypen des Ressentiments gewinnen erste Konturen.66 Cartesisch-kantische Traditionsbestände und Husserlsche phänomenologische Richtungsentscheidungen erfahren eine dezidierte Kritik. Scheler gewinnt in der Auseinandersetzung seine philosophische Identität. Das christliche Ethos, um dessen Destruktion Nietzsche kämpfte, erstrahlt in neuem Glanz. Alle Implikationen der Vornehmheit finden sich mit übergeschichtlichem Rang in ihm vereint. Die vermeintlich konstante Sorgestruktur des Daseins, die Angst vor dem Tode und jede egologische Selbstfixierung ist gebannt. Nietzsche und Jesus verschmelzen im ekstatischen Ideal ,,schenkende[r] Tugend", das Zarathustra verkündet (KSA, ZA, 4, 23 8).67 Als homme ouvert wird Scheler das Ideal preisen und semantisch präzisieren. Bis in Einzelheiten ist neue
Nietzsches Ethos der Vornehmheit infiziert. Noch im Sünder sieht er den esprit fort, den angstfreien, mutigen, unangepassten Denker unerhörter Möglichkeiten.68 Mit Nietzsche verachtet er den reaktiven Typus des Handelns. Gegen Nietzsche deutet er das Ideal christlicher Liebe als aristokratischhierarchisierende, allumfassend-solidarische, agonal-kriegerische Momente in sich schließende Welthaltung des differenzierenden Blicks, der um seine Fülle und Wertigkeit weiß. Ressentimentgebundene Egalisierungen gehören nicht zum christlichen Ethos, wie es Scheler als überzeitliches Ideal zeichnet. Über die systematische Fügbarkeit dieses Spannungsreichtums ist zu streiten, aber er übt in solchem Entwurf eines unzeitgemäßen christlich-aristokratisch, liebend-kämpferischen ressentimentfreien Ethos Kritik an Nietzsches moralkritischen Suppositionen.69 Die im Ressentiment wurzelnde bürgerliche Moral darf nicht mit der Dimension des christlichen Ethos identifiziert werden, auf deren Umsetzung die Geschichte harrt und die ohne Selbstwiderspruch nicht gewollt werden kann. er von
Dazu: Ders.,
173ff.
Ressentiment, 68ff; Ders., Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik,
Ders., Ressentiment, 47. Dazu: ebd., 77. Ebd., 83ff. Dazu: ebd., 70.
Pia Daniela Volz
Wahrsinn oder Wahnsinn? Nietzsche als Objekt belletristischer Begierde
„Begreift ihr es, wesshalb es der Wahnsinn sein müsste? Etwas in Stimme und Gebärde so Grausenhaftes und Unberechenbares wie die dämonischen Launen des Wetters und des Meeres und deshalb einer ähnlichen Scheu und
Beobachtung Würdiges?"
(Friedrich Nietzsche, Morgenröte, Aph. 14) Friedrich Nietzsches Wahnsinn, ein Faszinosum-Numinosum ist oft Gegenstand fiktiver Ausgestaltung geworden. Einige der vorzustellenden belletristischen Werke tragen den Duktus gierig-lüsternen Begrapschens des Kranken und verdanken sich einem allzumenschlichen Voyeurismus und Exhibitionismus der jeweiligen Autoren. Eine Rezeptionsgeschichte Nietzsches bei Literaten und Dichtern (wie Gottfried Benn, Thomas und Heimich Mann, Robert Musil, Hugo von Hofmannstahl, Rainer Maria Rilke, Stefan George) ist von Bruno Hillebrand zusammengetragen und 2000 von ihm nochmals zusammengefasst worden.' Verdienstvollerweise hat sich Hans-Rüdiger Schwab der Mühe unterzogen, weniger bekannte Nietzsche-Reminiszenzen in der Literatur der letzten 20 Jahre (Eimar Schleefs Nietzsche-Trilogie: Lange Nacht, bei Peter Handke oder Rolf Hochhuth) aufzuspüren.2 Mediziner interessieren mehr die Fakten von Nietzsches Weg in den Wahnsinn und sollen in aller gebotenen Kürze und Fraglichkeit in Erinnerung gerufen werden, um dann das Motiv des Wahns in zehn Gestaltungen zur Sprache kommen zu lassen.
1
2
Bruno Hillebrand, Nietzsche und die deutsche Literatur, Tübingen 1978 wie ihn die Dichter sahen, Göttingen 2000. Vortrag vor dem Nietzsche-Forum München, 2003 (unpubliziert).
(2 Bde.); ders., Nietzsche -
Pia Daniela Volz
176
Klinische Rekonstruktionen
psychischer Zusammenbruch erfolgte um die Jahreswende 1888/89 in Turin: hochgradiger Erregungszustand mit Größenwahn zeigte sich, symptomatisch gesprochen, eine manische Psychose. In den letzten Dezembertagen 1888 hatte Nietzsche, so die örtliche Überlieferung, Tag und Nacht überlaut wagnersche Musik auf dem Klavier gespielt und nackt wie ein Satyr in höchster Erregung durchs Zimmer getanzt, Unmengen Wasser getrunken, Geldscheine zerrissen, auf der Straße Passanten umarmt. Um den 3. Januar 1889 fällt auch die legendäre Umarmung des misshandelten Droschkengauls. Nietzsche fühlte sich als Courier du grand monde, sandte Freunden wie Unbekannten Botschaften auf Büttenpapier, die so genannten Wahnsinnsbriefe. Die Identität des Philosophen Nietzsche, der von der umfänglichsten Seele' geträumt und den traditionellen Subjekt-Begriff relativiert und destruiert hatte, löste sich auf in ein FigurenKaleidoskop, ideenflüchtigen Selbstbildern, die mit dem Material spielen, das den zuvor getragenen Masken des poetischen Ichs gleicht. So im berühmten Brief an die „Prinzeß Ariadne, meine Geliebte" (3. Januar 1889): „Es ist ein Vorurtheil, daß ich ein Mensch bin. Aber ich habe schon oft unter den Menschen gelebt und kenne Alles, was Menschen erleben können, vom Niedrigsten bis zum Höchsten. Ich bin unter Indern Budha, in Griechenland Dionysos gewesen, Alexander und Caesar sind meine Inkarnationen, insgleichen der Dichter des Shakespeare Lord Bakon. Zuletzt war ich [...] Voltaire und Napoleon, vielleicht auch Richard Wagner [...] dies Mal aber komme ich als der siegreiche Dionysos, der die Erde zu einem Festtag machen wird" (KSB 8, 572f). Die Realien der Turiner Umgebung (Festumzüge, Konzerte) werden in diesen Schreiben wahnhaft umgedeutet. Sie lebensgeschichtlich sorgfältig zu deuten, in ihren Linien und Motiven in die Philosophie Nietzsches einzuordnen, würde eine sorgfältige Analyse und genaue Kenntnis der örtlichen Gegebenheiten und historisch-politischen Ereignisse erfordern. Nur ein Beispiel aus dem Brief an Jakob Burkhardt vom 6. Januar 1889: „In diesem Herbst war ich [...] zwei Mal bei meinem Begräbnisse zugegen, zuerst als conte Robilant (- nein, das ist mein Sohn, insofern ich Carlo Alberto bin, meine Natur unten) aber Antonelli war ich selbst" (ebd., 578f). Die Inkarnationen und Identifikationen wechseln in rascher Abfolge: die Sprache ist bedeutungsschwer und anspielungsreich zugleich. Wir kennen die historischen Personen: den italienischen König Carlo Alberto (1798-1849), Nietzsche wohnte in Turin in der gleichnamigen Straße, seinen Sohn Vittorio Emmanuele II (1820-1878) seit 1861 König von Italien. Der uneheliche Sohn Carlo Albertos war Graf Carlo Robilant ( 18261888). Er war wie Alessandro Antonelli (1798-1888), der Erbauer der Mole Antonelli, mit düsterem Pomp im Turiner Herbst beerdigt worden.3 Was ist damit für die Interpretation gewonnen? Was ist das: „meine Natur unten"? Die Sexualität, die Zeugungskraft? Will Nietzsche sagen, wenn er auf seiner eigenen Beerdigung anwesend ist, dass die Zeit, Söhne zu zeugen, unwiderruflich vorbei ist? Eine düstere Vorahnung, dass
Nietzsches ein
-
Pia Daniela
Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit.
suchung, Würzburg 1990, 263 ff.
Eine
medizinisch-biographische
Unter-
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seine Identität sich auflöst? Spürt er, dass es mit dem bewussten Leben zu Ende geht? Eine umfangreiche Interpretation der ,Wahnsinnsbriefe' steht immer noch aus. Zurück zu den Fakten: In der Basler Psychiatrischen Klinik Friedmatt wurde bei Nietzsche im Januar 1889 die Diagnose progressive Paralyse' gestellt, die auf dem klinisch-neurologischen Befund fußte, da Laboruntersuchungen wie die WassermannReaktion (Syphilis-Nachweis 1906) noch nicht existierten. Wichtiges Indiz für eine venerische Infektion war die Augenuntersuchung: die rechte Pupille zeigte die reflektorische Pupillenstarre, sie verengte sich bei Lichteinfall nicht.4 Schon 1877 war bei Nietzsche eine chronische Ader- und Regenbogenhautentzündung (Chorio-Retinitis centralis) im rechten Auge konstatiert worden, welche das Lesen zeitweise unmöglich machte. Die erst einseitig, dann beidseitig über mehr als 25 Jahre chronisch verlaufende Uveitis, ist mit viel Plausibilität als Indiz für eine syphilitische Infektion gedeutet worden. Die Infektion selbst? Manche mutmaßen, sie sei bei einem Bordellbesuch während der Studentenzeit in Leipzig (1866) erfolgt, die Begegnung Adrians mit der Hetäre Esmeralda in Thomas Manns Doktor Faustus vor Augen. Nietzsche selbst meinte, sich mit Gonorrhoe zweimal spezifisch' angesteckt zu haben. Von seiner Schwester zum asexuellen Heiligen stilisiert, war er vielmehr, wie Joachim Köhler gezeigt hat, ein „passionierter Erotiker", der unter seiner Neigung zur latenten Homosexualität litt.5 Abgesehen von gelegentlichen Kontakten zu Prostituierten hatte er keine dauernden intimen Liebesbeziehungen, weder zu einem Mann noch zu einer Frau, wobei er seine schizoid-narzißtische Beziehungsstörung zur heroischen Einsamkeit stilisierte und sich seinen ,Sohn' Zarathustra als Alter ego schuf. Nach der Frühpensionierung wurde er von 1880 an sehr erschreckt von der Intensität seiner Gefühle, die zwischen starken depressiven Verstimmungen und rauschhaften Glücks- und Inspirationszuständen schwankten und sich klinisch als schwere Migräne-Anfälle manifestierten: „Ein Gefühl von Welt-Fremdheit, Vorüber-Eilendem, Wanderer-haftem sitzt sehr tief in mir drin [...] mein Gefühl, sei es des Angenehmen oder des Unangenehmen, hat so heftige Explosionen, daß ein Augenblick [...] hinreicht [...] mich vollkommen krank zu machen (etwa 12 Standen später ist es entschieden, es dauert 2-3 Tage)", heißt es in einem Brief vom 9. Juli 1883 (KSB 6, 393ff). In diesen Jahren verschlimmerte sich die neurologische Symptomatik mit stundenlangen Krampferscheinungen sowie einem „der Seekrankheit eng verwandtem Gefühl einer Halb-Lähmung, wo mir das Reden schwer wird" sowie „längeren Bewußtlosigkeiten" (ebd., 3ff). Differentialdiagnostisch ist am ehesten an eine Migraine accompagné tax denken, die wohl durch den meningo-encephalitischen (syphilitischen) Hirnprozess überlagert wurde, der zu dem hypomanischen Schaffensrausch 1888 führte. Nietzsche konstatierte eine „extreme Irritabilität" als Teil einer nervösen „Gesammt-Erschöpfung", hereditär vom Vater erworben, der „an Folgeerscheinungen des Gesammt-Mangels an Lebenskraft gestorben" sei (KSB 8, 347). 4
Leonard Sax, „What was the cause of Nietzsche's dementia?", in: Journal of medical biography, 11 47-54. Der amerikanische Psychiater bestreitet, dass dies ein spezifisch syphilitisches Zeichen sei, da bei Nietzsche schon als Kind eine Pupillenungleichheit aufgefallen sei. Joachim Köhler, Zarathustras Geheimnis. Friedrich Nietzsche und seine verschlüsselte Botschaft,
(1) (2003),
Nördlingen
1989.
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Nietzsches Werke wurden mit der Krankheit in Verbindung gebracht: schon die Tragödienschrift wurde als ,verrückt' und größenwahnsinnig' apostrophiert, erst recht die Werke seit 1881, so bei Max Nordau, der 1892/93 in seiner Schrift Entartung Nietzsche als ,Tobsüchtigen' auftreten ließ, seine Schriften als Ausgeburten ,maniakalischer Exaltation' brandmarkte. Der Nervenarzt Paul J. Möbius nahm den Zarathustra Teil IV als Beweis dafür, inwieweit die Geisteskrankheit progrediert sei: „Die Zerstörung der Hemmungen ist fortgeschritten, das Zartgefühl mehr geschädigt: zum ersten Mal bemerken wir Gemeinheit und Lüsternheit."6 Mittlerweile herrscht hinsichtlich der Konstatierung pathologischer Texte Einigkeit in der Nietzsche-Forschung, dass von einem Einfluss der Geisteskrankheit allenfalls im Turiner Herbst 1888 im Sinne einer Aggressivierung und Auflockerung bei hohen Stilgefühl die Rede sein kann. Wie ging es mit Nietzsches Zustand nach dem Basler Klinikaufenthalt weiter? Die Geistes-Lähmung schritt während des dreivierteljährigen Aufenthaltes in der Jenaer Klinik voran mit Denkinkohärenz, Merkfähigkeitsstörungen, zeitlicher und örtlicher Desorientiertheit, Apathien, abwechselnd mit aggressiven Durchbrüchen. Nach einem Jahr wurde er 1890, als in ,Remission' befindlich, in die Obhut der Mutter entlassen. Lesen, Klavierspielen, Spazierengehen waren eingeschränkt möglich, doch nahmen das unerwartete Aufschreien, Gangstörungen und Demenz zu. 1893 und 1895 traten motorische Reizerscheinungen (stundenlanges Reiben der Brust) auf. In den letzten drei Lebensjahren erlitt er zwei Schlaganfalle; ein letzter Schlaganfall des 54jährigen im August 1900 führte zu einer Pneumonie und zum Tod.
Die
pathographische Diskussion
Nach dem Krankheitsausbruch und verstärkt nach seinem Tod im 1900 flammte eine breite, kontrovers geführte pathographische Diskussion auf, an der sich renommierte Psychiater (Paul Möbius, Kurt Hildebrandt, Karl Jaspers, Wilhelm Lange-Eichbaum) beteiligten.7 Nietzsches Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche konnte die Diagnose ,Paralyse' mit venerischem Ursprung aus moralischen Gründen nicht akzeptieren und postulierte einen Schlaganfall sowie eine Chloralhydrat-Vergiftung als Ursache der geistigen Lähmung ihres Bruders. Weitere Diagnosen, über die spekuliert wurden, waren Haschisch-Paralyse, Paranoia, Hysterie, Zyklothymie, Borrelien-Infektion (Lyme disease), Epilepsie und Schizophrenie, so die These des französischen Forschers Louis Corman (1982).8 Zur Zeit tritt die Schizophrenie-Diagnose des amerikanischen Psychiaters Richard Schain9 (2001) ihren Siegeszug durch die angloamerikanische Welt an. Die 6
9
Vgl. Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, 13ff Paul J. Möbius, Über das Pathologische bei Nietzsche, Wiesbaden 1904;
Kurt Hildebrandt, Gesundheit und Krankheit in Nietzsches Leben und Werk, Berlin 1926; Karl Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, Berlin 1936; Wilhelm Lange-Eichbaum, Nietzsche. Krankheit und Wirkung, Hamburg 1947; Wilhelm Lange-Eichbaum/Wolfgang Kurth, Genie, Irrsinn und Ruhm, München 1989, Bd. 7. Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, 7. Richard Schain, The legend of Nietzsches syphilis, Westport 2001.
Wahrsinn oder Wahnsinn?
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Europäer, so Schain, hielten aus historischen Gründen an der Annahme einer progressiven Paralyse' und damit einer exogenen Psychose fest, an einer Krankheit, die so gut wie jede andere psychisch-neurologische Störung nachahmen könne, worin ihr die Schizophrenie als endogene Psychose (im historischen Sinne der ,Dementia preacox' Emil Kraepelins) in keiner Weise nachstehe. Worin die spezifische Vulnerabilität Nietzsches, die 1888 zum Ausbruch der Schizophrenie geführt haben soll, bestanden haben mag, vermag Schain nicht zu sagen. Gino Gschwend hält der SchizophrenieDiagnose entgegen, Nietzsches Wahnphänomene seien viel flüchtiger und in ihren Inhalten rasch wechselnder gewesen als die viel stabileren Wahngebilde bei einer schizophrenen Psychose.10 Zum hundertsten Todestag Nietzsches kamen neue Mutmaßungen zum Vorschein: So attestiert die amerikanische Psychiaterin Eva Cybulska", welche die Syphilis ebenfalls für eine Fehldiagnose hält, Nietzsche eine zyklothyme Persönlichkeitsstörung (572) mit einer manisch-depressiven Erkrankung, gefolgt nach 1889 von einer Multiinfarkt-Denemez (571). Sie zieht einen dienzephalischen Hirntumor in Betracht. Auch Leonard Sax12 findet die Diagnose eines rechtsseitigen retroorbitalen Menigeoms plausibler als die Paralyse-Diagnose (50). Es gibt keine neuen Dokumente, keine neuen Fakten: die klinischen Spekulationen werden nie verstummen, da harte Fakten (Serologie, Computertomographie des Gehirns) nicht vorliegen. Viele erklären daher die Krankheitsdiskussion für irrelevant, da sie für das Verständnis von Nietzsches Werken nichts beitrage. Andere würden eine Exhumierung von Nietzsches Gebeinen begrüßen, um posthum nach Syphilis-Nachweisen zu suchen, um der verwirrenden Fülle der Spekulationen13 ein Ende zu bereiten.
'
11
12
13
Gino Gschwend, „Pathogramm von Nietzsche aus neurologischer Sicht", in: Schweizerische Ärztezeitung, 81 (1) (2000), 45^18. Eva M Cybulska, „The madness of Nietzsche: a misdiagnosis of the millenium? ", in: Hospital Medicine, 61 (2000) 571-575. Leonard Sax, „What was the cause of Nietzsche's dementia?", 47-54. Aus der Fülle der pathographischen Sekundärliteratur weniger bekannte Arbeiten: Didier Cressy, Nietzsche: schizoidie, génie et paralysie générale. Contribution a l'étude de la maladie mentale et de la personalite d'un philosophe, Diss. med., Rouen 1986; Klemens Dieckhöfer, „Friedrich Nietzsche. Zur Variblität der Krankheit eines Genies", in: extractapsychiatrica, 3 (1992), 322-343; J. F. Donnot, „La folie de Nietzsche", Thèse med., Dijon 1980; Lutz Gentsch, Wahnsinn oder Philosophie Friedrich Nietzsche? Eine meistens methodologische Analyse, Frankfurt/M. 1995; Ulrike Hoffmann-Richter, „,lieber Basler Professor als Gott'. Nietzsches Basler Krankengeschichte", in: Psychiatrische Praxis, 27 (2000), 151-153; A. Raab, Nietzsche et la psychiatrie, Thèse med., Paris 1940; Pia Daniela Schmücker, „Wider den ,Geist der Schwere'. Nietzsches Leiden in ihrem psycho-physischen Zusammenhang", in: Schweizerische Rundschau für Medizin, 29/30 (2001), 12451256; Günter Schulte, „,Ich impfe euch mit dem Wahnsinn'. Nietzsches Philosophie der verdräng-
Mannes", Frankfurt/M. 1992; Christoph Türcke, Der tolle Mensch. Nietzsche und der Wahnsinn der Vernunft, Frankfurt/M. 1991; Johannes Wilkes, „Friedrich Nietzsche: Die Geschichte seiner Krankengeschichte zum 100. Geburtstag des Dichterphilosophen", in: Psychiatrische Praxis, 27 (2000), 147-150; Jochen Zwick, Nietzsches Leben als Werk: ein systematischer Versuch über die Symbolik der Biographie bei Nietzsche, Stuttgart 1994.
ten Weiblichkeit des
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Symbolisch überhöhte Krankheitsdeutungen wie von Thomas Mann in Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung1*, fokussierten darauf, dass der Dichterphilosoph Nietzsche als radikaler Denker seine auf dionysische Selbstzerstörung angelegte Lebenstragödie selbst inszeniert und zeitlebens an der Grenze zum Wahnsinn hin gedacht habe. So erscheint der wahnsinnige Nietzsche Karl Heinz Bohrer15 auch kein psychopathologischer Fall, sondern ein deutscher Hamlet zu sein, der mit PossenreißerGebärden in genialer Simulation seine Umwelt in die Irre führt. Getreu dem Motto: Ist's denn Wahnsinn, hat es doch Methode. Auch Pierre Klossowski16 sieht wie George Bataille17 infolge einer ,Rückkehr des Verdrängten' einen ,Anti-Nietzsche' auftauchen, der zu einer vollen Apotheose seiner Lebensthematiken in letzter Bündelung und Aufgipfelung seines Geistes in der Turiner Inszenierung gelangt sei. Werner Ross sieht ebenfalls als Lebens-Leitlinie dieses ungemein höflichen Menschen und disziplinierten Schriftstellers den Durchbruch zur eruptiven Befreiung von falschen Häuten unter dem Motto
zum Wahn."18 Der Wahn als willkommenes Stimulanz, als zum Vorschein-Kommen des wahren Selbst. Thomas Mann hat im Doktor Faustus ( 1947) die Geschichte des Komponisten Adrian Leverkühn19 als Fall eines hochprekären Künstlerlebens gestaltet, das von Frigidität und Sterilität bedroht, der Enthemmung bedurfte. Adrian ist in Mannscher Collagetechnik nach dem Vorbild Nietzsches gestaltet (wir finden nicht nur Zitate aus Nietzsches Lebensbeschreibungen, sondern auch aus der syphilidolgischen Spezialliteratur seiner Zeit). 1943 heißt es in einem Brief an den Bruder Heimich, er verfolge einen sehr alten Plan einer „modernen Teufelsverschreibungsgeschichte aus der Schicksalsgegend Maupassant, Nietzsche, Hugo Wolf etc., kurzum das Thema der schlimmen Inspiration und Genialisierung, die mit dem Vom Teufel geholt Werden, d. h. mit der Paralyse endet. Es ist aber die Idee des Rausches überhaupt und der Anti-Vernunft, damit verquickt auch das politische, faschistische und damit das traurige Schicksal Deutschlands."20
„Alle Wege führen
14
15
16 17
18
19
20
Thomas Mann, Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung (1947), in: ders., Gesammelte Werke, Frankfurt/M. 1990, 675-712. Karl Heinz Bohrer, Plötzlichkeit, Frankfurt/M. 1981, 139-160. Pierre Klossowski, Nietzsche und der Circulus vitiosus, München 1986. Georges Bataille, „Nietzsches Wahnsinn", in: Acéphale Nr.5, Folie, guerre et mort, Juni 1939. Wiederabgedruckt u. übersetzt in: Zur Kritik der palavernden Aufklärung, hg. von Gerd Bergfleth u.a., München 1984, 27-33. Darin: „Nietzsche", 155-161. Vgl. George Bataille, Wiedergutmachung an Nietzsche. Das Nietzsche-Memorandum und andere Texte, München 1999. Werner Ross, Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben, München 1984; ders., Der wilde Nietzsche oder die Rückkehr des Dionysos, Stuttgart 1994. Liisa Saariluoma, Nietzsche als Roman: über die Sinnkonstituierung in Thomas Manns .Doktor Faustus', Tübingen 1996. Auch: K. Heinrich/Ch. Walter, „Zur Psychopathologie von Thomas Manns Doktor Faustus: pathographischer Versuch über Adrian Leverkühn", in: Persönlichkeit und psychische Erkrankung (Festschrift für Prof. Peters zum 60. Geburtstag), hg. von A. Marneros.
Springer 1992, Zit.
n.
10-17.
Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, 192.
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Sigmund Freud21 war in analoger Weise der Meinung, die Paralyse habe im Leben Nietzsches eine wichtige Rolle gespielt, insofern der durch sie bewirkte „Auflockerungsprozeß" dessen geniale Fähigkeit der „endopsychischen Wahrnehmung", der Introspektion gesteigert habe. Carl Gustav Jung war anderer Meinung: „Die Neurose macht keine Kunst. Sie ist unschöpferisch und lebensfeindlich. Nietzsches syphilitische Infektion hatte zweifellos einen stark neurotisierenden Einfluss auf sein Leben. Man könnte sich aber einen gesunden Nietzsche denken mit Schöpferkraft ohne Überspanntheit etwa wie Goethe."22 Heutige Psychoanalytiker wie Léon Wurmser betonen die, neben der syphilitischen Infektion, ausgeprägte Konflikthaftigkeit von Nietzsches Innenleben im Sinne von Über-Ich-Konflikten mit starker Autoaggressivität23, die sich in psychosomatischen Beschwerden manifestierte (Magen- und Darmstörungen, Migräne mit funktioneilen Sehstörungen, Schlafstörungen, Schwindel), Ausdruck eines ungelösten Konfliktpotentials, das zugleich Impuls seines Schaffens gewesen sei. Denken und Schreiben als Selbsttherapie? Als Überlebensstrategie, würde Hermann-Josef Schmidt24 sagen.
Meines Erachtens ist Nietzsches vielgestaltige und wechselnde Symptomatik Ausdruck eines Krankheitskomplexes, bei dem sich organische Faktoren (Migräne, Myopie, Paralyse) und psychische Faktoren (neurotische Depression mit hypomanischer Depressionsabwehr auf dem Boden narzißtischer Persönlichkeitsstörung) überlagerten. Die narzißtische Problematik, die Selbstwertstörung, das Leiden an Sinnlosigkeit und Liebesleere im Verbund mit organischen Faktoren waren mit massivem Leidensdruck ein hinreichend produktionsförderndes Stimulanz. Nietzsche, vielfältig begabt, ein genialer Stilist, der die innere Not in Sprache zu kleiden wusste, hätte der Paralyse als Auflockerungs- und Kreativitätsschub nicht bedurft. Sie war es, die ihm letztlich die Sprache nahm.
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22 23
24
Das Freud-Bild Nietzsches ist umfassend gewürdigt von Reinhard Gasser, Nietzsche und Freud, Berlin/New York 1997 (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung; 38). Ebd., 47. Léon Wurmser, Das Rätsel des Masochismus: psychoanalytische Untersuchungen von Über-IchKonflikten und Masochismus, Berlin 1993. Weitere Arbeiten: Gaetano Benedetti, „Die neurotische Lebensproblematik Nietzsches als eine Wirkkraft und Grenze seiner Philosophie", in: Gesnerus, 41 (1984), 111-132; ders., Die „narzißtische Problematik bei Friedrich Nietzsche", in: Narzißmus beim Einzelnen und in der Gruppe: Psychotherapie und Literatur, hg. von Raymond Battegay, Bern 1989, 11-20; Christian Niemeyer, Nietzsches andere Vernunft. Psychologische Aspekte in Biographie und Werk, Darmstadt 1998; Bernd Nitzschke, „Lebenslanges Leiden und der Wille zur Macht über das Leiden. Neue Literatur von und über Nietzsche", in: Psyche, 42 (1988), 439-447; Hubertus Teilenbach, „Nietzsches Aufgerieben-Werden durch unauflösbare existentielle Antinomien", in: Daseinsanalyse. Phänomenologische Anthropologie und Psychotherapie, 1 (1993), 3852. Hermann Josef Schmidt, „,Jeder tiefe Geist braucht die Maske'. N.s Kindheit als Schlüssel zum Rätsel Nietzsche?", in: Nietzscheforschung Bd. 1 (1994), 137-160; ders., Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. I Kindheit T.l/2, Berlin/Aschaffenburg 1991; Kindheit T. 3, 1991, //. Jugend. 1. Tbd 1858-1861, 1993; //. Jugend. 2. Tbd 1862-1864, 1994; Wider weitere Entnietzschung Nietzsches. Eine Streitschrift, Aschaffenburg 2000.
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Die Verleugnung der Realität der Geisteskrankheit durch Idealisierung ist ein Weg. Elisabeth hat ihn beschritten und mit ihr viele Fotographen, Möchte-gern-Literaten, illustre Besucher, die in einer sich selbst aufwertenden Projektion den Kranken als Spiegel eigener Phantasien missbrauchten: Nietzsche wurde zum goetheähnlichen Bild des verstummten Weisen verklärt, so von Karl Böttcher: „Nicht wie Lenau, der erregt tobte, nein wie einst Hölderlin wird Friedrich Nietzsche von einer Art elegischen Wahnsinns umnachtet; er ist ruhig, mild, sanft, aber freud- und leidlos."25 Auserlesenen Besuchern wurde in der Villa Silberblick der Kranke, in weiße Gewänder gehüllt, auf einem Diwan aufgebahrt, wie in einem Mausoleum vorgeführt. Dem Pathos der Inszenierung entspricht das kitschige Pathos der Besucher und ihrer Berichte, mögen sie Philo vom Walde oder Stanislaw Przybyszewski heißen, der polnische Schriftsteller, der sich dazu verstieg, die Krankheit zum eigentlichen Wesen Nietzsches zu verklären. Wenn jemand sich in die Unzugänglichkeit der Demenz, der geistigen Umnachtung verabschiedet, so reizt nichts mehr als diese Lücke der Unmitteilbarkeit aufzufüllen, durch Legendenbildung oder durch Erfindungen. -
Fiktionen
Visionen -
Den
nun vorzustellenden belletristischen Werken ist eines gemeinsam: sie operieren mit einem reichen Fundus an Originalzitaten aus Nietzsches Werken und Briefen, mehr oder weniger adaptiert, umformuliert oder nachempfunden im Kontext einer neuen
Rahmenhandlung.
Die französische Philosophin Isabelle Prêtre hat 1990 einen (dt. 1993) NietzscheRoman mit dem allessagenden Titel Mein Wahnsinn ist meine Insel26 verfasst, der die Krankheitsjahre in Monolog-Form lebendig werden lässt. Die Tagebucheintragungen des Kranken beginnen am 11. Mai 1890 und enden einen Tag vor dem Tod am 24. August 1900. Wir erhalten die einzigartige Chance, am Denken des Patienten Nietzsche Anteil zu nehmen und seiner letzten Worte gewahr zu werden: „Was ich der zukünftigen Menschheit zurief, verhallte in der Nacht. Daher werde ich auch meine letzten Gedanken für mich behalten. Ich habe es satt Perlen vor die Säue zu werfen! Man hält mich für eingemauert, schizophren. Dabei bin ich erst jetzt wirklich glücklich"(7). Obwohl der kranke Nietzsche dies zu Beginn des Romans ausruft, wird er uns weitere 284 Seiten an seinen sexuell-freizügigen Assoziationen teilhaben lassen. Der Wortreichtum eines Sprachlosen ist stupend: „Du, Mütterchen, bist ein Lamm in der Herde. Ich ein Adler oder ein Hirte [...] Weißt Du warum ich schreie? Damit sie abhauen [...] Der Schrei des Primaten, das Schreien des Säuglings, der Schrei des Wahnsinnigen. Alles dasselbe. Ich stehe jenseits der Worte. Ich brauche sie nicht mehr" (2. Juni 1890). „Ich kämpfe nicht mehr gegen die Dummheit jener, die ihren Leib ,Tempel Gottes' nennen und ihn mit Eifer massakrieren. Kommt, ihr luziferischen Eunuchen, impotente Menschheitsverderber, aseptische Denker, kriminelle Moralisten, kommt und betrachtet die Lust eines Gottes [...] Ich bin Gott und halte Beischlaf mit dem gesamten UniverZit. n. Pia Daniela Volz Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit, 254. Isabelle Prêtre, Mein Wahnsinn ist meine Insel. Ein Nietzsche-Roman, München 1993. ,
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(26. Juli 1890). Natürlich erfasst der Kranke was in der Villa Silberblick mit ihm geschieht: „Ich lebe in einem Mausoleum [...]. An den Wänden meine Portraits und
sum"
meine Bücher. Tapeziert mit Nietzsche. Rund um die Uhr bin ich von mir umringt, lebe in mir selbst [...] Und ich, ungerührt, eingemauert in mein beglückendes Schweigen, sehe sie mir an, wie sie da defilieren" (3. Mai 1898). Das Versinken ins Schweigen wird als Zaubergarten, als vergoldeter Käfig vorgestellt. Sprachlich ist der ,Roman' auf der Höhe dessen, was uns aus My sister and l21, ein angeblich von Osacar Levy überliefertes, aus der Jenaer Klinik herausgeschmuggeltes Tagebuch Nietzsches, auf abenteuerlichen Wegen nach New York gelangt (251 Seiten) und 1951 erschienen. Hier beklagt sich der Kranke in autobiographischen Ergüssen, dass von bornierten Klinikärzten sein dionysischer Wahnsinn falsch als Satyriasis und Erotomanie verstanden und er als abschreckendes Beispiel eines Genies verkannt werde, das als Strafe für den hybriden Atheismus in die Umnachtung gestürzt wurde: „Nun in der Gewalt jener schleichenden Lähmung, die aus jedem Absatz, den ich schreibe, einen Kalvarienberg der Seele, eine apokalyptische Pein macht, sehe ich mehr denn je ein, daß mein Kreuzzug gegen Sokrates in Wirklichkeit ein Krieg gegen mich selbst war."(303). Ludwig Marcuse wies auf die Ungeheuerlichkeit der Publikation hin, er wies nach, dieser Nietzsche wisse zuviel von sich: „Kann die Syphilis aus einer Jahrhunderterscheinung (und wenn sie außerdem noch Nietzsche heißt) nicht einen Idioten, sondern einen öde pornographisierenden, Nietzsche zitierenden und variierenden Kaffer machen? Sieht man von dem Gepfefferten ab, das übrigens nur hineingestreut ist, dann ist das Auffallendste dieses amerikanischen Nietzsche aus der zweiten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts: der Zeigefinger des pedantischen Schullehrers, der die ganze Nietzsche-Literatur von Alois Riehl bis Jaspers intus hat." (296). Ein weiterer Versuch, ins Hirn des Geisteskranken hineinzuschauen, stammt aus Deutschland. Otto A. Böhmer28 stellt seinem geistreich-witzig-sein-wollenden Buch Der Hammer des Herrn das Wahnsinns-Motto (Morgenröte, Aph. 14) voran und legitimiert so, den erfundenen inneren Monolog Nietzsches mit selbstgefällig stilistischer Brillanz und antiidealistischem Impetus freien Lauf zu lassen. Der Roman setzt ein mit dem Zusammenbruch in Turin, der als großartige Simulation dargestellt wird: die Grenzen zwischen Vernunft und Wahn, Realität und Wachtraum werden verwischt. Die Etappe der letzten zehn Lebensjahre wird durch luzide und verworrene Rückerinnerungen ans frühere Leben konterkariert (so mit der angedichteten Liebe zu Eleonor Louise Wiel, der momentweise mit Lou Salomé verschmelzenden Tochter des einst in Steinabad konsultierten Magendoktors). Warum nimmt gerade der Kuraufenthalt im Steinabad so viel Raum im Roman ein? Vermutlich aus philologischen Gründen: handelt es sich doch um den am besten dokumentierten Kuraufenthalt Nietzsches, aus dem reichhaltig zitiert werden kann, das Schwarzwäldlerische gibt einen feinen Stoff ab für lächerliche Kurgäste. -
Pia Daniela Volz, „Der unbekannte Erotiker. Nietzsches fiktive Autobiographie ,My sister and I'", in: Gefälscht! Betrug in Politik, Literatur, Wissenschaft, Kunst und Musik, hg. von Karl Corino, Grneo 1988,287-304. Otto A. Böhmer, Der Hammer des Herrn, Frankfurt/M. 1994.
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Zwischen den Lebensetappen und eingestreuten fiktiven Episoden springend, durch Zitatcollagen, in gleißnerischem Stil, Geistigkeit simulierend, stellt das Opus einen Akademiker im Vorruhestand als ,Wahnsinnsprofessor' vor: alles ist möglich, alles ist erlaubt. In der Welt des Irrenhauses ist alles denkbar: ein k. o.-Sieg Nietzsches über den Wärter Pommerenke wird erfunden und kommentiert: „während Pommerenke brüllte, fing Nietzsche an zu lachen; er lachte, berserkerte, schlug weiter zu; ein Leben in Wut, und irgendwann muß sie raus die Wut." Vor unseren Augen entsteht ein unbekannter Anti-Nietzsche: unflätig, derb, burlesk, schweinisch. Die ganze Welt ein Tollhaus. Innenansichten aus der Psychiatrie für literarisch interessierte Psychiater? Vielleicht braucht es den richtigen Humor für diese Slapstick-Tragikkomik, ist er für NietzscheKenner erfrischend despektierlich, notwendig pietätlos: „Ihr meine Freunde", ruft Nietzsche seinen Mitpatienten zum Abschied zu: „Ihr Wurstmacher, Bettnässer, ihr Schalengeschöpfe, ihr feinen verletzlichen Menschen, was hätte nur aus euch werden können und was hat man aus euch gemacht [...].Wer soll der Erde Herr sein? Diese da, diese sogenannten höheren selbsternannt-besseren Menschen wahrhaftig nicht; eher zerschlüge ich sie mit meinem Hammer, denn ich selbst bin der Hammer, der Hammer des Herrn" (128). Das Motiv der Simulation des Wahnsinns darf nicht fehlen; alles ist nur Spaß: Nach dem Tod der Mutter saß Friedrich „zumeist eingefallen im Stuhle, rührte sich nicht, redete kaum, den Speichel ließ er, das machte Spaß, ungehemmt vom Munde abtropfen, dazu zuckten, wenn er wollte, die Glieder, auch konnte er sich, dem eigenen Nachdenken gemäß, aufs gemütlichste totstellen" (258). Der Totstell-Reflex ist auch der Ausgangspunkt für die erfundene Handlung im Roman Joachim Köhlers Nietzsches letzter Traum.29 Hier die Rahmenhandlung: An seinem Todestag hat der kranke Nietzsche seine aufgesparten Opiumtropfen auf einmal eingenommen, denn das „Spiel vom kranken Genie" beginnt ihn zu langweilen, er fühlt sich, als lebe er eingesperrt auf Arnold Böcklins Toteninsel. So macht er dem Fotographen Olde nicht das Vergnügen, bei den Porträtliegungen totenstill dazuliegen. Durch das Opium gerät er in seinen letzten Traum, der führt ihn zunächst zurück nach Turin, dann in die Basler Irrenanstalt Friedmatt. Deren Leiter Professor Ludwig Wille, „klassischer Irrenarzt und auch Seelentherapeut modernen Zuschnitts" (48), ist vernarrt in das Toteninsel-Gemälde seines Freundes Böcklin. In seinem Sprechzimmer finden sich kuriose Patienten ein: die Frauenrechtlerin Helene von Druskowitz, die sich von Nietzsche düpiert fühlte (und sich als Gespenst Rosalie Nielsen outet); sie nimmt auf Willes therapeutischem Diwan Platz, um ihn als Verführerin zu sich herabzuziehen und unter lautem Protest vergewohltätigt zu werden. Auch Dr. Möbius, glühender NietzscheVerehrer, benötigt Willes therapeutische Hilfe. Die Klinik trägt Züge eines Zauberberges, nur dass Settembrini und Madame Chauchat anders aussehen. Als Nietzsche in der Hälfte des Buches in Basel eintrifft, vertieft er sich gleich mit Wille in ein Gespräch über die Toteninsel und gibt sich bei der nächtlichen Untersuchung, den CognacSchwenker in der Hand, geistreich parlierend: ,„Nun denn', begann Wille, [...] ,Die Untersuchung hat zweifelsfrei ergeben, daß Sie krank sind, Herr Nietzsche, sehr krank.' Joachim Köhler, Nietzsches letzter Traum, München 2000. Nach seiner Promotion 1977 über die Fröhliche Wissenschaft hatte Köhler mit seinen Thesen über Nietzsches Homosexualität in seinem Bestseller Zarathustras Geheimnis ( 1989) Aufsehen erregt.
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Angesprochene trank seinen Cognac mit einem Schluck leer und wischte sich die Tropfen vom Bart. ,Ich verstehe recht gut', sagte er nach einer Weile des Nachdenkens, Der
Sie Ihr Glas gegen das Licht kreisen ließen. Der Schliff bündelt das matte, einförmige Licht der Lampe, läßt es in den Farben des Regenbogens erglühen und, mit jeder Drehung, kaleidoskopisch tanzen, wirbeln, in immer neue Konstellationen rücken. Sie verstehen, was ich meine? Hier das Leben, dort die Kunst. Und ohne Krankheit gibt es keine Kunst. Im Kristallschliff liegt, metaphorisch gesprochen, die Krankheit des Glases. Es zeigt die Scharte, die das Leben ihm geschlagen hat. Und nur dort, an den scharfen Kanten, blitzt es verführerisch auf, das Leben'" (187). Im nächtlichen Gang durch das Irrenhaus, wo Nietzsche sich unter das Personal mischt, kann er diesem seine Vorstellung von der Welt als Labyrinth erläutern. Derweil versammeln sich Böcklin, Wille, die Druskowitz und Möbius im Böcklin'schen Atelier, um sich über Nietzsche auszutauschen. Der Geruch des Fin de siecle liegt in der Luft. Köhler greift mit Vergnügen in die Mottenkiste des Theaterfundus. Das Irrenhaus als theatrum mundi, so kommt es dem nächtlich sich schlaflos wälzenden Wille vor: „Geplagt von absurden Traumfetzen, schreckte er immer wieder aus dem Schlummer hoch. Die Friedmatt spukte ihm im Kopf herum. Erlebte er sie nicht täglich wie einen Traum, der nicht enden wollte. Mit jedem Zimmer öffnete sich ihm eine Tür ins Unbegreifliche, immer neue Kulissen schoben sich in sein Blickfeld, in denen unbekannte Stücke aufgeführt wurden. Entpuppte sich nicht jeder Patient irgendwann als Schauspieler, der ahnungslos einer bizarren Rolle folgte? [...] hatte er nicht alle Stücke mit Eifer erforscht, die teils komischen, teils erschütternden Szenarien beschrieben und klassifiziert? War er nicht mit wissenschaftlichem Erkenntnisdrang, der tausendköpfigen Hydra der Krankheit zu Leibe gerückt? [...] Tausend Bühnen waren es, die vor ihm, mit gleichsam obszöner Geste, ihren Vorhang hoben und ihn als einzigen Zuschauer teilnehmen ließen an den Verfolgungstücken der Paranoiker, den Melodramen der Hysterikerinnen, den Verwechselungskomödien der Schizophrenen, den Trauerspielen der Depressiven und schließlich, als Höhepunkt des Spielplans, den Heldenstücken der größenwahnsinnigen ,warum
Paralytiker" (187).
Die dramatische Zuschürzung geschieht, als Möbius Nietzsche aus dem Irrenhaus entführt und mit seinem einstigen Schüler Ludwig Scheffler zusammenbringt. Nachdem einst die Annäherung zwischen Lehrer und Schüler gescheitert war, gestehen sich nun beide, Wunder später Wunscherfüllung, ihre Zuneigung und steigen in den GotthardZug, der sie nach Italien bringt. Köhler kann sein Lieblingsthema unterbringen: Nietzsche alias Ariadne im homosexuellen Duo als der weibliche Part. Im Nachspiel des Romans versammeln sich Wille, Franz Overbeck und die Druskowitz bei Elisabeth Förster-Nietzsche: als sie dem kranken Nietzsche ihre Aufwartung machen wollen, ist dieser soeben an seiner Überdosis Opium gestorben. Ein diabolisches Gekicher, so meint der Leser zu hören, liegt über der Szenerie. Im Unterschied zu Böhmers Roman wird Nietzsche aber nicht der Lächerlichkeit preisgegeben, auch wenn Pomp, Künstlichkeit und Schwüle der Theaterwelt in- und außerhalb der Klinik beschworen und karikiert werden. In der Böcklinschen Toteninsel ist zudem ein eindringliches Symbol für Nietzsches Nachtfahrt gefunden.
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Nicht um Tod, sondern um Mord geht es bei Jens-Fietje Dwars30, Publizist in Jena, Philosoph wie Köhler. Nachdem er sich in der Ausstellung Nietzsche in Jena (2000) mit biographischen Hintergründen der Aufenthalte Nietzsches in Jena beschäftigt hatte, reizte es ihn, auch literarisch ein Schärflein zum hundertsten Todestag beizutragen. Die
Notiz am Ende von Zarathustras letzte Wiederkehr überlässt es den Germanisten, ob es sich um eine „Kriminalerzählung, eine Novelle oder gar einen philosophischen Mikroroman" handelt (104). Die fiktive Rahmenhandlung der ,Kriminalnovelle': N. N., Redakteur beim Heimatblatt einer mitteldeutschen Kleinstadt, ist an den Folgen eines Verkehrsunfalles gestorben. Dwars findet auf dem PC seines Onkels dessen ZarathustraText mit „Anlehnungen an Nietzsche, Ernst Bertram und Hesse" und publiziert ihn unverändert. N. N. selbst erklärt im Vorwort seines Manuskriptes, er gebe textgetreu das Heft mit dem Titel Aus den Papieren von Johann Friedrich Querkopf wieder, das bei dem auf dem Friedhof ermordeten Alten gefunden worden sei. Er hätte den Neunzigjährigen er am folgenden Tag interviewen wollen. Der Ich-Erzähler, der Alte, nähert sich zu Beginn dem Ort N. „fatal vertraut", besichtigt den Dom (Naumburg und das Nietzsche-Haus sind gegenwärtig). Bei einem Vortrag erlebt er eine Vision: „Durch die halb offene Tür sah ich Teppiche ausrollen, Möbel aus der Wand treten, ein schweres Bett mit tiefen Kissen. Langsam, unendlich langsam kam eine schwarze Gestalt aus dem Dunkeln auf mich zu. Ich wollte aufstehn, ihr ausweichen, das Licht anzünden. Doch etwas hielt mich gefesselt. Ich sah ihr hoch geschlossenes Kleid, das streng gescheitelte Haar, gütige Augen, die immer größer wurden, einen riesigen Mund, aus dem es scholl: ,Fritz mein Kind [...].' Da brach der Stuhl unter mir zusammen" (49). In einer Klinik trifft Friedrich Querkopf auf Kattrin, ein 13jähriges Mädchen, seit sechs Jahren und elf Monaten im autistischen Rückzug, seitdem auf dem Friedhof ein Mann ermordet worden war. Im Erzähler erkennt sie den Fremden von einst. Sieben Jahre zuvor war sie fasziniert gewesen, wie jener „Alte vom Berg", von den Erwachsenen für senil und verrückt erklärt, jeden Tag auf der Parkbank seine Reden gehalten hatte, die anhüben: „Wohlan, meine Freunde"; ein Zarathustra redivivus. Wie ein Rattenfänger von N. wusste er vor allem Kinder für sich zu interessieren. Kattrin, eine Art Sonambule, ein Käthchen von N., wohnt in der Nähe des Friedhofs. Sie wird eines Nachts Zeuge, wie ihr Zarathustra, ausgestattet mit Adler und Schlange, ausgespannt in Kreuzform auf einem Grabstein Opfer eines satanischen Ritualmordes wird. Als sie sieben Jahre später in Friedrich Querkopf Zarathustra zu erkennen meint, beginnt sie zu reden; der Psychiater Rezelopp freut sich über die neue Zugänglichkeit. Doch er warnt Friedrich vor der Radikalität der Kur, dem zu schnellen Erinnern: „Geben Sie ihr das Gefühl, durch Sie ihr Gedächtnis wiederzugewinnen. Je mehr sie selbst in die Rolle des Therapeuten wächst, desto weniger wird sie bemerken, therapiert zu werden und um so schneller kommen wir an unser Ziel" (66). Friedrich mimt den Vergesslichen, damit Kattrin sich erinnert. In der Tat, sie erinnert sich, wie ihr Zarathustra, nachdem ihm die Polizei öffentliches Reden verboten hatte, sein ,Geheimnis' geschenkt hatte: „Alles kehrt wieder. Und doch immer neu. Kein Tag gleicht dem anderen. Und aller Geist ist Lüge. Doch wir können nicht leben, ohne seine Wahrheit." (83). -
Jens-Fietje Dwars, Zarathustras letzte Wiederkehr, Bucha bei Jena 2000.
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Rezelopp warnt vor der Wucht der Wiederkehr des Verdrängten; in einer Verdichtung von Anspielungen auf Novalis Friedrich Hölderlin Nietzsche bekennt der Psychiater: „Das sind die wahren Kelche des Leids. Friedrich, Sie lieben das Pathos, hier könnten Sie Hymnen schreiben, schwarze Hymnen, die alles je Geschriebene in den Schatten stellen" (99). Hier werden Wiedergänger-Phanatasien ins Werk gesetzt. Wer kehrt wieder? Nietzsche? Zarathustra? Zwischen den Zeilen blitzen Züge des alten Ernst Ortlepp in der Gestalt des Alten auf.31 Oder verwechseln wir den Friedhof mit dem Straßengraben? Dwars' Text changiert in Mehrdeutigkeit, auch was die ,Wiederkehr des Gleichen' Dr.
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betrifft: als Friedrich und Kattrin den Ort des Geschehens aufsuchen, wird auch er ermordet, von vier rechtrsradikalen Jugendlichen, Kattrin bleibt verschwunden. Eine Politfabel? Die Täter bleiben unerkannt, unbestraft, Zarathustra wird in jeder deutschen Kleinstadt immer von neuem ermordet. Es liegt an uns, wenn wir den Reden eines Penners nicht die Bedeutung schenken, die ihnen zukommt: „Nur hier und da werdet einen Schein ihr erhaschen, einen Zettel aus Papier mit den Nullen, die das große Glück euch lügen [...] Und Ihr werdet noch mehr Nullen jagen. Immer mehr, weil ihr seht, wie das Unbill dennoch wächst" (80). So werden wir nicht nur mit weiteren Reden Zarathustras beglückt, sondern auch mit bis dato unbekannten Aphorismen Nietzsches: „Sprachschwämme. Von Kindheit an saugen wir uns mit Worten voll. Sobald etwas drückt, tröpfeln Sätze heraus. Zuweilen fliessen sie auch -je nach Druck und Vorrat" (52). Halten wir einen Augenblick inne, fragen uns, was Motive für das Schreiben von Meiz.se/7e-R0manen sein mögen? Voyeurismus und Sensationslust (sind nicht alle Nietzsche-Forscher, Literaten, Psychoanalytiker, mehr oder weniger sublimiert, Voyeuristen?). Es könnte auch die Begierde antreiben, sich etwas von der verstörenden Produktivkraft des Wahns zu eigen zu machen (Böhmer und Köhler berauschen sich an der eigenen Ausdruckskraft). Sich einen Namen machen, selbst ,berühmt' werden, indem man sich eines berühmten Wahnsinnigen annimmt und auf die Absatzmärkte eines Jubiläumsjahres hofft, sind sicher Antriebe für das Schreiben. Fahren wir fort im Revue-passieren-Lassen belletristischer Wahn-Gestaltungen. Der mit Dwars gleichaltrige Autor Bernhard Setzwein32, hat in seinem Roman Nicht kalt genug (2000) sieben Rhapsodien über Nietzsches sieben Silser Sommer gestaltet. Der Titel spielt darauf an, dass da einer ,nicht kalt genug' ist für das Ideal seiner eisigen Geistigkeit. Basiert die Textcollage auf Briefstellen und Lebensreminiszenzen, besteht die dichterische Freiheit darin, dass das Ereignis Turin bereits im ersten Silser Sommer seine Schatten vorauswirft: „Ab und zu hatte der Professor so seltsame Anwandlungen. Da fing er plötzlich das Tanzen an in seiner Kammer (Manchmal auch ganz nackt)" (16). Dem Nesthäkchen Adrienne erklärt Nietzsche im Durisch'schen Hause warum er aus Schmerz und Verzweiflung die Wände anschreit. Die Eltern halten die Kleine fern, als im siebten Sommer der Professor wiederum in sexueller Ekstase durchs Zimmer tanzt. Während dieser Sils selbst tags als eine „Hölle aus Eis und Schnee" erlebt, sieht er sich nachts in Cloralträumen als Skelett im Eis, im Iglu überwinternd oder auf einem „weißen Wal reitend" (89). Die gekonnte Prosa wechselt zwischen Realien und fiktiven 31 32
Hermann Josef Schmidt, Der alte Ortlepp war 's wohl doch, Bernhard Setzwein, Nicht kalt genug, Innsbruck 2000.
Aschaffenburg 2001.
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Einsprengseln, entgeht weitgehend der Peinlichkeit, das Nicht-Gewusste fiktiv aufzufüllen. Der Wahn imponiert als warme Wohn-Höhle. Über den Zustand des Kranken in Naumburg, wenn er „Laute größten Wohnbefindens" von sich gab, heißt es: „An was er dabei dachte, konnte kein Mensch erraten. Vielleicht an das Ufer des Silser Sees, an die Halbinsel Chasté, sein Lieblingsplatz [...] vielleicht an die alte Mühle im Fextal oder an Gian, wenn er beim Abendessen den Brotlaib vor die Brust gepreßt jedem in der Familie eine Scheibe herunterschnitt, zuerst der Durischin, dann dem Buben, zuletzt Adrienne. Adrienne? Vielleicht dachte er auch manchmal an Adrienne?" (156). Es ist kein Nietzsche-Brevier für Gestresste oder Eilige; Zielgruppe sind wohl die Sils-Touristen. Ein bisschen Einführung, Erinnerung, Verführung zum Einstieg in Nietzsches Philoso-
phie?
Der Turiner Rubikon Nietzsches Abschied vom Oberengadin und der Übergang zum Wahnsinn im Turiner Herbst sind Thema dreier Prosaarbeiten. Hartmut Lange bekennt sich im Tagebuch eines Melancholikers33 zu der eigentümlichen Geistesverfassung, deren Schwebezustand er im Aphorismus anzudeutet: „Melancholie ist ein Ausruhen zwischen zwei Hoffnungen, Depression Hoffungslosigkeit" (122). Sie, die die Not der Schreibhemmung einschließt, macht schwanken zwischen Lachen und Selbstmord. In den philosophischen Reflexionen sind mehrere Passagen dem reflektierenden Poeten' Nietzsche gewidmet. Der Circulus vitiosus (28/29), der zum Wahnsinn führen müsste, ist die Kränkung durch Nicht-Anerkennung. Möglicherweise projiziert Lange in seinen berühmten Vorfahren eigene Befürchtungen, vom Literaturbetrieb übergangen zu werden. Hintergrund zu Langes Geschichten ist der Einbruch des Unerklärlichen in unsere Vorstellung von der Welt; der Wahn ist ein Spezialfall des Unerklärlichen. Dieser Leitgedanke taucht auch in der Novelle Über die Alpen (1984)34 auf, einem inneren Monolog, in dem sich das Kompensatorische von Nietzsches Größenwahns artikuliert: „Er war nun gesichert. Er war in der Zuversicht, Gott zu sein, Ursprung und Einheit aller Dinge. Nun brauchte er keine Bewunderung mehr, er war die Bewunderung selbst" (14). Höhepunkt der alltäglichen Erlebnisse Nietzsches ist der Augenblick der Selbst-Spaltung: Nietzsche tritt ein Alter ego gegenüber, das sich ausdrücklich weigert, Zarathustra zu sein. Die Diktion, die an Kafkas Prosa gemahnt, erzeugt einen unheimlichen Sog: ,„Ich muß mich halten' rief er und gegen den Fremden gerichtet: ,Du hast nicht das Recht, mir Vorwürfe zu machen, weil ich mir das Unmögliche abverlangt habe'" (28). Die Visionen des krank werdenden Nietzsche, über einen See gerudert zu werden, sind in der Charon-Acheron-Allusion Todesvisionen, regressive Auflösungsphantasien. Die Schlusspassage spielt subtil auf Jakob Michael Reinhold Lenz und seinen Gang in den Wahnsinn an, ohne diesen zu idealisieren: „Als er das Gebirge sah, war es ihm, als näherte er sich einer Wand, hinter der es nichts mehr gab, um dessentwillen es sich lohnte, Hartmut Lange, Tagebuch eines Melancholikers. Aufzeichnungen der Monate Dezember 1981 bis November 1982, Zürich 1987. In: ders.,£>;e Waldsteinsonate. Novellen, Zürich 1987, 11-36.
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übermäßig besorgt zu sein. Er wurde ruhiger. Aber es war der Beginn jener Ruhe, in der die Gedanken sterben" (37). Nietzsche in Turin35, die erste literarische Veröffentlichung des Literaturwissenschaftlers Jürgen Kleist, entstand acht Jahre nach Langes Novelle. Die sieben Kapitel, in dem Alltagsskurrilitäten des Turiner Nietzsches gemischt werden mit erfundenden Alp-, Opium- oder Chloralträumen, leiden an einer Art Überkonkretismus. Der Text trägt dick auf, aber er geht nicht unter die Haut. Da spaziert Nietzsche in einem Stadtpark, trinkt Wasser aus dem Springbrunnen, versucht über seinen Ekel hinwegzukommen: „Einfach ekelhaft. Nietzsche nahm eine Handvoll Steine auf und schleuderte sie ins Laub. Ein paar schwarze Vögel flatterten kreischend auf. Er rief ihnen hinterher, sie sollten sich zum Teufel scheren. Haß stieg in ihm auf, Haß auf diese verfluchte Welt" (61). Im Vorwärtstorkeln klammert er sich an einen Baum, reibt seine Hände an der Rinde wund: „Alles Wahn. Die Menschheit war einem Wahne verfallen [...] Nietzsche hielt mit einem Mal inne: der Schmerz war in ein heisses Brennen übergegangen. Er ließ den Baum los und trat einen Schritt zurück. Seine Handflächen waren blutig: er begann, sie langsam abzulecken" (62). Die Erzählung endet mit einer Rede Zarathustras, die Nietzsche auf dem Turiner Marktplatz hält, bevor er sich von der Menge angewidert abwendet und auf den misshandelten Droschkengaul trifft: „Mit einem gewaltigen Aufschrei stürzte er sich auf den Kutscher, schleuderte ihn zur Seite, entriß ihm die Peitsche und zog sie ihm einmal quer durchs Gesicht" (92). Wie immer die legendäre Umarmung des Pferdes sich abgespielt haben mag, die Drastik der Ausgestaltung verstört und verstimmt, weil Nietzsche in ihr verschwindet. Während Langes Novelle auf den Augenblick des Übergangs zielt, ihre Eindrücklichkeit dem Ausgesparten und Angedeuteten verdankt, gestaltet Volker Ebersbach36 das Manisch-Gedrängte und Entfesselte des Turiner Nietzsche entlang erfundener Träume. Die sind Reisen in Nietzsches Seelenabgründe: gelehrt und originell zugleich, wie der vom Bienenschwarm im Garten Epikurs, der vom Weg ins Paradies bis zur Ermordung der Magna Mater oder der vom Antiquariat, die Wiederkehr des Ewig Gleichen' repräsentierend (104/05). Der innere Monolog mit Verzicht auf die Ich-Form tritt in Gestalt eines Götterreigens auf: ein homerisches Sartyrspiel mit Schalk und Ernst. Die Sprache taucht in den primärprozesshaft wirkenden Reichtum der Traumund Unterwelt lustvoll ein. Wie in einem Vexierspiegel mischen sich Wahrnehmung und Denken, wie im großen Traum der Zertrümmerung der Götterbilder im Auftrage des Papstes. Der Traum ist der Verwandte des Wahnsinns; so erfolgt der Übergang allmählich aus der Welt der Traumgespinste, der „subcerbralen Trugbilder" (70) in die Welt der zerütteten Psyche. In der alchemistischen Sprachwerkstatt werden viele Zutaten amalgamisiert (Mythen, Nietzschezitate). Die Prosa strahlt jenseits rhetorischer Kunstgriffe Magie aus: „Und dann der See, milchgrün gekräuselter Spiegel eines wolkenlosen Morgenhimmels [...] Stille Stillstand Glanz. Starke, trockene, kalte Luft" (14). Der Turiner Herbst Nietzsches sprüht als Fest von Gleichzeitigkeiten; antike und italienische Gegenwart halten heilige Hochzeit. Der Wahnsinn ist eine große gnädige so
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Jürgen Kleist, Nietzsche in Turin, Karlsruhe
1992. Volker Ebersbach, Nietzsche in Turin, Weimar 1994.
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fühlte keinen Willen mehr. Die Sonne sank. Eine große Kühle kam über ihn. Warm atmete noch der Fels. Ein Irrer wird sein Sterben nicht erleben. Wo der Vulkan hatte aufbrechen wollen, öffnete sich eine Bucht. Das Meer kräuselte sich blau unter zerfliessender Abendsonne. Silbern, leicht, wie ein Fisch schwamm sein Nachen hinaus" (121). Diese mit sich selbst spielende Sprache sagt aber auch, bildhaft-symbolisch eingekleidet, es könnte auch andres gewesen sein. Es sind unsere Phantasien. Während Prêtre und Böhmer sich anmaßen, eine Fiktionalität zu errichten, die den Anschein von Wahrscheinlichkeit versucht, ist hier der Bildwelt dichterische Eigengesetzlichkeit zugestanden. Vorbild des Schlusskapitels (vor dem Eintreffen Overbecks in Turin) ist nicht eine Turiner ,Himmelfahrt' (à la Werner Ross), sondern eine Höllenfahrt, eine, die weniger an Dantesche Höllenkreise gemahnt denn an die Sprachwucht der Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab bei Jean Paul. Grandios auch, wie die Zeit des geistigen Untergangs Nietzsches von der Basler Klinik bis zum Tod, elf Jahre auf zwei Seiten zusammengedrängt werden: ein stimmiges Kargerwerden der Sprache. Der Wahn ist nicht mehr produktiv: er wird perseverativ-tautologisch. So lauten die Schlusssätze in Variation der wenigen, aus der Weimarer Zeit überlieferten Originalsätze, als drehe sich eine Schallplatte im Kreise: „Ich bin tot, weil ich dumm bin, nein ich bin dumm, weil ich tot bin, nein ich bin tot, weil ich dumm bin, nein ich bin dumm, weil ich tot bin, ich bin" (139). Eberbachs Monolog ist ein eindrucksvolles Beispiel der Darstellung ästhetischer Wahrhaftigkeit' des Wahns. Das letzte Beispiel ist das vielgelesenste und populärste. Es stellt die therapeutische Situation in den Mittelpunkt, als fruchtbare intime menschliche Begegnung, die nicht folgenlos bleibt. So verlockend wie der Blick durch das Schlüsselloch der Schlafzimmertür ist der verbotene Blick in das doppelt abgeschirmte Sprechzimmer. Therapeut mit Leib und Seele ist Irvin D. Yalom37, der in mehreren Büchern einem breiten Leserkreis vor Augen führte, was in einer Psychotherapie passiert. So im Krimi Rote Couch (München 1998), in dem der Lehranalytiker Marshai Streider und die Rechtsanwältin Carol Astrid ihre Plätze als Patient und Therapeut tauschen. Der Platztausch interessiert Yalom als behandlungstechnisches Problem. Yalom entwickelte das Konzept der vier existentiellen ,Grundtatsachen', an denen Menschen verzweifeln, weswegen sie Hilfe suchen: 1. unsere essentielle Isolation, 2. die Unausweichlichkeit des Todes, 3. die Freiheit unser Leben selbst gestalten zu müssen und 4. das Fehlen eines erkennbaren Lebenssinnes. Das Motiv des Rollentauschs und die vier Grundtatsachen spielen auch im Nietzsche-Roman, der When Nietzsche wept: a novel of obsession (1990; dt. Und Nietzsche weinte) eine tragende Rolle. Der Roman spielt Ende 1882 in Wien. Es geht nicht um den Wahnsinn des geistigen Zusammenbruchs, sondern um den Wahnsinn der obsessiven Liebe mit folgendem Plot: Lou Salomé bittet den angesehenen Wiener Arzt Josef Breuer den suizidgefährdeten Nietzsche in seine Kur zu nehmen, ohne dass dieser von ihrer Intervention erfahrt. Breuer38, ein von reichen Privatpatienten geschätzter Arzt, Forscher, Vater und Ehemann, befindet sich selbst in einer Krise wegen der Liebe zu
Regression: „Er
Irvin D. Yalom, Und Nietzsche weinte, Hamburg 1994. Dazu: Albrecht Hirschmüller, Physiologie und Psychoanalyse in Leben und Werk Bern 1978, (Jahrbuch der Psychoanalyse, Beih. 4).
Josef Breuers,
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seiner hysterischen Patientin Anna O. Zu einem Höhepunkt geraten die Gespräche zwischen Breuer, dem vierzigjährigen Internisten und Erfinder der Redekur und dem jungen 27jährigen Sigmund Freud über den schwierigen casus: Bertha und Nietzsche. Immer schon war die Frage spannend: Wäre Nietzsche durch eine psychotherapeutische Kur zu helfen gewesen? Der Roman schildert die Schwierigkeiten eines solchen Therapieversuchs glaubwürdig: Nietzsche zeigt massiven Widerstand, ist zu stolz, Hilfe anzunehmen, gleicht einer intelligenten Mauer'. Doch Breuer gelingt die geniale Vertauschung der Rollen von Arzt und Patient: er bringt ihn, um ihm physisch bei seinen schweren Migräneanfällen beizustehen, in einer Klinik unter und gibt sich in den gemeinsamen Gesprächen dem ,Menschenkenner' preis, indem er ihm seine quälende Liebe zu Anna O. anvertraut. Nietzsche deutet ihm dies als Kaschierung einer tiefer liegenden Existenzangst. Breuer erhält philosophischen Nachhilfe-Unterricht in einer Art sokratischen Frage-Antwort-Kur. Besonders gelungen sind die Parallel-Aufzeichnungen von Breuer und Nietzsche über den Gesprächsverlauf, eine Art praktizierter Perspektivismus. Doch trotz Nietzsches Traumdeutungskunst als Tiefenhermeneutik geschieht die Heilung Breuers von den seine Ehe und seinen Seelenfrieden gefährdenden Zwangssymptomen und die Befreiung zum ,wahren Selbst' erst in einer Art hypnoider Trance. Schließlich gesteht auch Nietzsche die Interna seiner Lou-Affäre: es kommt zur kathartischen Affektabftihr im Tränenstrom, indem Nietzsche sich von Lou innerlich verabschiedet (darauf spielt der Titel an). Die eigentümliche Dialektik, die Gesprächspartner sind zugleich offen und strategisch-verhüllend, erzeugt Spannung. So geschieht die Heilung vom Liebeswahn. Breuer arbeitet erleichtert weiter; der Philosoph geht wieder auf Wanderschaft, er bleibt der Retter der anderen, aber der unkurable Prophet, der die Wirkkraft seiner Philosophie im Vorfeld der Psychoanalyse unter Beweis gestellt hat. Kenner der historischen Hintergründe wissen, dass es die Herausforderung durch Anna O. war, die Breuer nach der Veröffentlichung der mit Freud gemeinsam erarbeiteten Studien über die Hysterie (1895) von der Arbeit mit dem Unbewussten sich abwenden ließ. Das Gelungene an der ungewöhnlichen fiktiven Konsultation ist, wie Yalom Nietzsche im Kern interpretiert, dass die erfundenen Nietzsche-Aufzeichnungen etwas Kongeniales haben. Nehmen wir alle literarischen Beispiele zusammen, so wird auf über 1000 Seiten versucht, einen kranken, wahnsinnigen Nietzsche zum Sprechen zu bringen. Im besten Falle (Lange oder Ebersbach) erhalten wir eine Ahnung von der Inkommensurabilität des Wahns: „Jemand schlug ihm mit flacher Hand gegen die Stirn. Er schaute geradeaus und um sich her. Niemand war da außer ihm. Sein Schatten hatte ihm an den Kopf geschlagen. Der Schatten des Wanderers. Der Schatten Zarathustras. So schlägt Apollon mit Wahnsinn."39
Volker Ebersbach, Nietzsche in Turin, 61.
Karen Joisten
Wie viel Nietzsche verträgt der Interpret? oder Der Weg vom Verstehen über das Verstehen hinaus
Wie der Philosoph in Piatons ,Höhlengleichnis' nach der Schau der Ideen und der Idee des Guten von der wahren Welt in die sinnenhafte Welt der Höhle hinabsteigt, um dem Nicht-Wissenden seine Einsichten zu vermitteln, so steigt auch Zarathustra ,in die Tiefe' hinab, um seine Weisheit, die er im Laufe von 10 Jahren in der Einsamkeit des Gebirges gesammelt hat, unter den Menschen zu verteilen. Natürlich ist das Geschenk des Wissens, das der Philosoph den Höhlenbewohnern in Piatons Gleichnis bringt, ein anderes als dasjenige, das Zarathustra verteilen will. Beide haben aber, strukturell betrachtet, das gleiche Anliegen: sie wollen einen Verstehensprozess in Gang setzen, in dessen Verlauf entweder, wie bei Piaton, einer der bisher Gefesselten gewaltsam ans Licht der Ideen hinaufgeführt wird, oder, wie bei Friedrich Nietzsche im Zarathustra, „die Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer Thorheit und die Armen wieder einmal ihres Reichthums froh geworden sind" (KSA, ZA, 4, 11). Die Legitimation bzw. Rechtfertigung für die Initiation und Durchführung des jeweiligen Bildungsganges liegt in dem Mehr-an-Kompetenz, die der Philosoph (Piaton) bzw. Zarathustra (Nietzsche) repräsentieren. Sie wird ihnen nicht von außen, von ihren Mitmenschen zugebilligt oder zugesprochen, sondern sie wird durch sie selbst gesetzt. Das meint, dass sowohl der Philosoph als auch Zarathustra eigenmächtig ihre höhere Kompetenz im Unterschied zum Volk vorgreifend behaupten, die sie eigenwillig in den Bildungsprozessen durchzusetzen versuchen. Die Theorie, die dem inneren Seelenauge entspringt, wird so in eine Praxis hineingeholt, in der sich das zuvor Geschaute zu bewähren und zu bewahrheiten hat. Beide schwingen sich zu (Er)Ziehern auf, die die anderen, im pädagogischen Sinne, zu sich hinaufziehen wollen. Die Fremdbestimmung des Menschen, der an die sinnenhaft gewohnte oder an die moralische Kandare gelegt wurde, wird so von einer Fremdbestimmung durch den Philosophen bzw. durch Zarathustra abgelöst, die sich nach einer gewissen Bildungs- und Erziehungszeit in Autonomie verwandeln soll. Dem Schüler Piatons gelingt es dann, selbst die höchsten Ideen zu schauen, dem ,Erben' Zarathustras, sich selbst als ein ,Sein-im-Übergang' zum Übermenschen zu verwirklichen und die ewige Wiederkehr des Gleichen zu bejahen.
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Karen Joisten
Nietzsches Zarathustra aus der hier gezeichneten Perspektive, kann man Differenzen die strukturelle Nähe Nietzsches zu Piaton aufweisen, die sich, in der Erweiterung der Perspektive, auch bei anderen geistesgeschichtlichen Bezugsgrößen Nietzsches feststellen ließ. Allerdings könnte die Gefahr bestehen, das Spezifische von Nietzsches Denken einzuebenen und die außergewöhnliche Radikalität seiner Forderungen zu entschärfen. Um dieser Gefahr möglichst zu entgehen, will ich eine andere Lesart vornehmen und Also sprach Zarathustra, das reifste Werk Nietzsches, ins Zentrum rücken. Die These, die den Gedankengang leitet, lautet: Zarathustra geht den Weg vom Verstehen über das Verstehen hinaus. Die These lässt sich auch so formulieren: Der Zarathustra ist eine Schrift, die in eine Trans-Hermeneutik einmündet. Dies zu verdeutlichen, gehe ich in drei Schritten vor: Ich zeichne Zarathustras Weg von der Weisheit zum Verstehen, seinen Weg über das Verstehen hinaus und frage Wie viel Nietzsche verträgt der Interpret? Liest
man
trotz inhaltlicher
1. Zarathustras
Weg von der Weisheit zum Verstehen
Die Vorrede Zarathustras lässt sich als der Teil der Schrift lesen, in dem sich Nietzsche mit Hilfe der Gestalt Zarathustras in den traditionellen Bahnen des Verstehens bewegt, sie auslotet, seine Grenzen erkennt und die Dringlichkeit eines anderen Weges einsieht, der über das Verstehen hinaus führt. Die Situation, die am Anfang des Verstehensprozesses steht, wurde bereits erwähnt. Zarathustra, der seine Heimat und den See seiner Heimat verlassen hat, zog sich 10 Jahre in die Einsamkeit des Gebirges zurück. Die Abkehr vom Gewohnt-Gewöhnlichen, die Hand in Hand mit einem Ein- und Rückgang zum eigenen Selbst geht, ist die Bedingung der Möglichkeit für die Verwandlung seines Herzens. So kann sich Zarathustra zwar dazu entscheiden, der Menge buchstäblich den Rücken zuzukehren, um abseits in der Höhe eigene Einsichten reifen zu lassen, er hat es allerdings nicht in der Hand, ob überhaupt und wann sie entstehen. Denn, so wird im gesamten Zarathustra sichtbar, Zarathustra ist das Medium, der Mittler, durch den der Wille zur Macht wirksam ist, das meint, in und durch den je nach Grad der Mächtigkeit und Stufe der Selbstüberwindung, die ihm gelungen ist, eine neue Weisheit wachsen kann. Daher schreibt Nietzsche nicht, dass Zarathustra sein Herz bzw. seine Einstellung verändert hat, sondern: „Endlich aber verwandelte sich sein Herz" (ebd., 11). Die neue Herzensangelegenheit, für die Zarathustra gleichsam mit Haut und Haaren eintritt, teilt er bekanntlich der Sonne mit, da er sie als diejenige ansieht, die mit ihm verglichen werden kann. So sagt er zu ihr: „Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest! Zehn Jahre kamst du hier herauf zu meiner Höhle: du würdest deines Lichtes und dieses Weges satt geworden sein, ohne mich, meinen Adler und meine Schlange. Aber wir warteten deiner an jedem Morgen, nahmen dir deinen Überfluss ab und segneten dich dafür" (ebd., 11). Diese Sätze, auf die sich Zarathustra auch in seiner letzten Rede Das Zeichen bezieht, machen zunächst in indirekter Weise, im Hinblick auf die Sonne deutlich, dass das Glück und der Überfluss nicht für sich allein stehen können. Sie sind als „Über-
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Fülle" und, wie es in der Rede Von der grossen Sehnsucht heißt, als „Über-Reichthum", auf denjenigen angewiesen, der sich beschenken lässt, benötigen zwangsläufig einen Adressaten, der das Geschenk zu erfassen vermag. Dazu ist es notwendig, dass der Adressat, wie es Zarathustra getan hat, bereits wach ist, wenn die Sonne aufgeht (vgl., ebd., 279), eine Haltung und Einsicht hat, die ein Sehen- und Empfangenkönnen überhaupt möglich machen. Das Beschenktwerdenkönnen durch die Sonne geschieht nicht durch Zwang oder eine andere Art von Repression, es geschieht als Angebot und Chance, die eigentätig und aus freiem Entschluss ergriffen werden muss. In diesem Sinne deutet sich auch Zarathustra selber. Seine Weisheit hat für ihn keinen Selbstzweck, den er in der Einsamkeit bewahren will, ist sie doch von einer derartigen Fülle und Kraft, dass sie buchstäblich der Hände bedarf, die sich nach ihr ausstrecken und sie ergreifen wollen. Zarathustra geht mit der schenkenden Weisheit in die Tiefe hinab, nimmt den schwierigen Prozess des permanenten Hinunter- und Hinübergehens auf sich. Nachdem er in den Wäldern zunächst einem Heiligen begegnet ist, gelangt er in die nächste Stadt, und hier zu dem Inbegriff der öffentlichen Meinung, dem Forum, dem Markt. Wichtig ist, dass Zarathustra dem Volk, das auf dem Markt versammelt ist, sofort mit ungeheurer Intensität seine Lehre vom Übermenschen verkündet. Ohne es darauf vorzubereiten und für diese zu öffnen, fällt er mit der Tür ins Haus und bringt in einer prophetischen Rede die Lehre zu Gehör, für die er selbst 10 Jahre lang reifen müsste: „Ich lehre Euch den Übermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll" (ebd., 14). Das Scheitern der abrupten und eindringlichen Mitteilung ist, aus dieser Perspektive, vorprogrammiert. Es verwundert nicht, dass Zarathustras Äußerungen, bewusst oder unbewusst, von einem aus dem Volk missverstanden („,Wir hörten nun genug von dem Seiltänzer; nun lasst uns ihn auch sehen!'" ebd., 16) und von allen verlacht wird. Zarathustras erster eigener Versuch, seine Weisheit der Lehre des Übermenschen verschenken und verstanden sein zu wollen, misslingt rettungslos. Nach diesem Scheitern der Kommunikation versucht Zarathustra ein Stück weit der Auffassungsgabe des Volkes entgegenzukommen. Die Lehre des Übermenschen, die für sie zu weit entfernt ist, rückt er nicht mehr ins Zentrum seines Redens. Stattdessen nimmt er einen neuen Anlauf, nennt nun seine anthropologische Grundthese, wie ich es nennen möchte, sagt ihnen, was der Mensch seiner Möglichkeit nach ist: „Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, ein Seil über einem Abgrunde. Ein gefährliches Hinüber, ein gefährliches Auf-dem-Wege, ein gefährliches Zurückblicken, ein gefährliches Schaudern und Stehenbleiben. Was gross ist am Menschen, das ist, dass er eine Brücke und kein Zweck ist: was geliebt werden kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang und ein Untergang ist" (ebd., 16f). Aus dieser Sicht ist der Übermensch nicht etwas Fremdes und Anderes, dem man rat- und verständnislos gegenübersteht, sondern das Ziel, auf das der Mensch sich als ein Sein-im-Übergang ausrichten kann. Die anthropologische Grundthese verstärkt Zarathustra, indem er den Einzelnen, der dieses Mensch-Sein einzulösen versucht, durch seine Liebe zu ihm auszeichnet, die er schließlich auf viele ausdehnt: „Ich liebe alle Die, welche wie schwere Tropfen sind, einzeln fallend aus der dunklen Wolke, die über den Menschen hängt: sie verkündigen, dass der Blitz kommt und gehn als Verkündiger zu Grunde" (ebd., 18). -
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Allerdings misslingt auch der zweite Versuch Zarathustras, für seine Über-Fülle und seinen Über-Reichthum die ausgestreckten Arme zu finden, die empfangen wollen. Während er nach dem ersten Fehlversuch lediglich das Volk ansah und sich wunderte, dann aber sofort seine anthropologische Grundthese verkündete, benötigt er eine längere Bedenkzeit, in der er das Scheitern der Kommunikation selbst zum Thema macht: „,Da stehen sie', sprach er zu seinem Herzen, ,da lachen sie: sie verstehen mich nicht, ich bin nicht der Mund für diese Ohren. Muss man ihnen erst die Ohren zerschlagen, dass sie lernen, mit den Augen hören? Muss man rasseln gleich Pauken und Busspredigern? Oder glauben sie nur den Stammelnden?" (ebd., 18). Zarathustra erfahrt, dass seinem Reden kein Gehör geschenkt wird, er nur Unverständnis erntet. Fragend entwirft er drei erfolgversprechendere Alternativen, die letztlich um die Notwendigkeit radikaler Abkehr von der bisherigen Weise des Verstehens kreisen und Alternativen, sei es ein lauteres, sei es ein vorsichtigeres Reden, in den Blick nehmen. Allerdings zieht er die Alternativen nicht ernsthaft in Erwägung. Vielmehr entscheidet er sich, zu dem Stolze des Volkes zu reden: „Sie haben Etwas, worauf sie stolz sind. Wie nennen sie es doch, was sie stolz macht? Bildung nennen sie's, es zeichnet sie aus vor den Ziegenhirten. Drum hören sie ungern von sich das Wort ,Verachtung'. So will ich denn zu ihrem Stolze reden. So will ich ihnen vom Verächtlichsten sprechen. Das aber ist der letzte Mensch" (ebd., 19). Glaubt Zarathustra das Volk mit drastischen Schilderungen der verächtlichsten Haltung, die der Mensch einnehmen wird, wenn er seinen bisherigen moralischen Fehlweg bis zum tiefsten Punkt weiter hinabsteigt, ansprechen zu können, dann hat er sich dabei gründlich getäuscht. Der letzte Mensch als Inbegriff jeglicher Stagnation, Verkümmerung, Gleichmacherei und größten Schwäche menschlichen Seins, der Mahnung und Aufforderung sein sollte, einen anderen Weg einzuschlagen, bevor es zu spät ist, wird von der Menge emphatisch gefeiert: „Gieb uns diesen letzten Menschen, oh Zarathustra, so riefen sie mache uns zu diesem letzten Menschen! So schenken wir dir den Übermenschen!" Zarathustras Reaktion ist eindeutig. Sie bringt, wie im Anschluss an die misslungene Verkündigung seiner anthropologischen Grundthese, das Scheitern der Rede vom letzten Menschen zum Ausdruck: „Zarathustra aber wurde traurig und sagte zu seinem Herzen: Sie verstehen mich nicht: ich bin nicht der Mund für diese Ohren" (ebd., 20). Überblickt man das Gesagte, steigt Zarathustra Stufe um Stufe auf der Leiter seiner Weisheit hinab. Nachdem er zunächst auf der höchsten transanthropologischen Stufe die Lehre des Übermenschen verkündet hat und am Gelächter des Volkes unmittelbar erfasst, dass er nicht verstanden wird, begibt er sich auf die anthropologische Stufe. Auf ihr stehend, führt er ihnen die Möglichkeiten des Menschen vor Augen, stellt den inneren Zusammenhang zwischen Mensch und Übermensch her, um das zuvor Gesagte näher an ihren Horizont heranzurücken. Als auch dieser Versuch der Verständigung misslingt, begibt er sich auf die unterste Stufe des mit seinem inneren Seelenauge Geschauten, d. i. die des letzten Menschen. In gewisser Weise haben wir es mit dem Scheitern Zarathustras zur Verständigung mit einer Überwindung der hermeneutischen Grundsituation zu tun. In ihr ist ein Verstehenwollender gegeben, der sich das Fremde (den Text, die Lebensäußerungen) im Rahmen seines Vorverständnisses anzueignen sucht, um das eigene Verstehen zu -
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erweitern und zu vertiefen. In der Vorrede ist die Dichotomie zwischen Eigenem und Fremden, Zuverstehendem und Verstehenwollendem nicht gegeben. Genau genommen, bleibt für Zarathustra der Hörer/Leser, der Rezipient eine Leerstelle, die nicht gefüllt wird. Sein Wunsch, Weisheit zu verschenken, scheitert und damit die Möglichkeit, im Verstehen unterwegs sein zu können. Zarathustras Einsicht, die er daraus gewinnt, „lebendige Gefährten brauche ich, die mir folgen, weil sie sich selber folgen wollen und dorthin, wo ich will" (ebd., 25), wird, wie im Laufe der Schrift deutlich wird, ein bloßer Wunsch bleiben, der sich angesichts der faktischen Verfasstheit des Menschen nicht zu erfüllen vermag. So schreitet Zarathustra allein, auf sich bezogen, zu sich selbst hinauf und begibt sich darin auf dem Weg vom Verstehen über das Verstehen hinaus. -
2. Zarathustras
Weg über das Verstehen hinaus
Nietzsches Zarathustra lässt sich als ,Psychokartographie' eines einzelnen lesen, der den mühsamen Weg seiner Genesung auf sich nimmt. Um den schwierigen Gesundungsprozess bewältigen zu können, hat Zarathustra die ihn niederdrückenden, kranken Seiten seiner selbst zu besiegen, das heißt, er hat sich demjenigen, was sich als Lasten der Tradition in die Winkel seiner Seele festgesetzt hat und ihn belastet und schwächt, zu stellen und sich im Kampf gegen es zu behaupten. Zarathustra ringt nicht mit einem ganz Fremden, das als ein äußeres Problem an ihn herangetragen wird; auch ringt er nicht mit einem anderen Mitmenschen, der mit einer anderen Haltung an ihn herantritt und sich über das, was jenseits des Horizonts Zarathustras liegt, mit ihm auseinandersetzen will. Stattdessen streitet sich Zarathustra mit dem Anderen als dem Fremdenseiner-Selbst, das durch die lange Geschichte der Moral in ihn hineingelangt ist und nun Stück für Stück mit Hilfe von Mut, Redlichkeit, Härte und Geduld bewältigt werden muss. Das Ziel dieses Hinaus- und Hineingehens zu sich selber ist die Heimkehr der Seele, der es gelingen soll, sich ausschließlich auf das Über-Andere-ihrer-Selbst als dem Eigenen-ihrer-Selbst auszurichten, um das Höchste (und Tiefste) zu erreichen. Liest man den Zarathustra in diesem Sinne als eine ,Psychokartographie' Zarathustras, wird in ihr die Seelenlandkarte eines einzelnen entfaltet, mit ihren unterschiedlichen Höhen und Tiefen, Gebirgen und Wäldern, Abgründen, Verstecken und Winkeln und ihrem Städtischen. Jeder der Orte steht für einen gewissen Seelenraum, für einen spezifisch gestimmten und mit spezifischen Raumcharakteren behafteten Bezug zur Welt. Die Tiere und Menschen, auf die Zarathustra während seines gefahrlichen Unterwegsseins in diesen Räumen trifft, sind keine konkreten, leiblich erfahr- und erfassbaren Lebewesen, sie sind Personifikationen spezifischer Wesenszüge bzw. Wesensseiten der bisherigen Moral. Sie geben dem Fremden-seiner-Selbst Ausdruck, stellen solches dar, das der kamelgleiche Geist gehorsam auf sich geladen hat. Will Zarathustra die bisherige Moral in Richtung auf einen Immoralismus überschreiten, darf er in keinem der Seeleninnenräume stehen bleiben; er muss Stufe um Stufe, Wegabschnitt für Wegabschnitt, den Konflikt mit dem jeweiligen Fremden-seiner-Selbst austragen, ihn bestehen und zum Eigen-seiner-Selbst weiter ausschreiten und voran- und hinaufkommen.
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Hintergrund betrachtet, versucht Zarathustra sich selbst als ein Sein-imeinzulösen, das heißt, er versucht in unerbittlicher Härte und Aufrichtigkeit
Vor diesem
Übergang
gegen sich selbst eine ,Selbstseelsorge' zu vollziehen. Die Einsicht in den bisherigen des Menschen, der in seiner bittersten Konsequenz den ,letzten Menschen' mahnend vor Augen hat, geht bei Zarathustra Hand in Hand mit der Absicht, neue Wege zu durchschreiten, um derjenige zu werden, der er ist. Die uralte Forderung und Mahnung ,Werde, der du bist!' bedeutet für ihn, der zu werden, der er angesichts dessen, dass der Wille zur Macht durch ihn hindurch wirksam ist, werden kann. Der Logos der Seele, der bei Nietzsche durch den Willen zur Macht gedeutet wird, macht es erforderlich, dass der einzelne diesem auch entspricht, willentlich und wissentlich das Selbsterkennen und Selbsterschaffen auf sich nimmt, gemäß der Struktur, die (veranschaulicht als Kreis) das Sich-selber-Wollen und die (veranschaulicht als Spirale) das Über-sich-hinaus-Wollen in sich vereinigt. Im Sich-selber-Schaffen reinigt sich der Geist von allem Äußeren, Fremden und Anderen, das er bisher mit sich herumgetragen hatte und schreitet stetig zu sich selbst und zu sich hinauf voran. In der Rede Die Heimkehr wird dieser Ort, an dem Zarathustra in unverstellter Weise bei sich eingekehrt ist und ihm eine den nächsten Dingen angemessene Art des In-Beziehung-Seins möglich ist, als ,Heimat Einsamkeit" bezeichnet: ,„Hier aber bist du bei dir zu Heim und Hause; hier kannst du Alles hinausreden und alle Gründe ausschütten, Nichts schämt sich hier versteckter, verstockter Gefühle. ,Hier kommen alle Dinge liebkosend zu deiner Rede und schmeicheln dir: denn sie wollen auf deinem Rücken reiten. Auf jedem Gleichniss reitest du hier zu jeder Wahrheit. Aufrecht und aufrichtig darfst du hier zu allen Dingen reden: und wahrlich, wie Lob klingt es ihren Ohren, dass Einer mit allen Dingen gerade redet!" (ebd., 23 lf). Die Heimat Einsamkeit ist der Ort, an dem sich Zarathustra von den fremden Dingen, den fremden, ihn auferlegten Haltungen und Einstellungen, Gefühlen und Ansichten, von jeglicher Fremdbestimmung und -bestimmtheit befreien kann. Sie ist sein reicher (und gereinigter) Seeleninnenraum, seine weitläufige Höhle, zu der er, nachdem er zu lange ,wild in wilder Fremde' gelebt hat, heimgekehrt ist. Mit jedem mühsamen Schritt, mit dem er die bisherigen Verächter des Leibes, die Hinterweiter, das Gesindel oder die Taranteln hinter sich lassen konnte, das heißt, gegen ihre das Leben schwächenden krankhaften Arten der Selbstsucht Kriege führte und sie gewann, konnte Zarathustra zum Schöpfer, originären Urheber und zur Quelle eigenen Denkens, Fühlens und Wollens werden. Seine Erlebnisse bzw. Erleibnisse sind mit ihm identisch und, in Abwandlung des in der Genealogie der Moral Gesagten, ist er sich selbst als Erkennender nicht unbekannt. In der Rede Der Wanderer nimmt er daher folgende Selbsteinschätzung vor: „Ich bin ein Wanderer und ein Bergsteiger, [...] ich liebe die Ebenen nicht und es scheint, ich kann nicht lange still sitzen. Und was mir nun auch noch als Schicksal und Erlebniss komme, ein Wandern wird darin sein und ein Bergsteigen: man erlebt endlich nur noch sich selber. Die Zeit ist abgeflossen, wo mir noch Zufalle begegnen durften; und was könnte jetzt noch zu mir fallen, was nicht schon mein Eigen wäre! Es kehrt mein eigen Selbst, und was von ihm lange in nur zurück, es kommt mir endlich heim der Fremde war und zerstreut unter alle Dinge und Zufalle" (ebd., 193). Seine Genesung hat sich vollzogen, indem er sich von jeglichem Fremden befreite und sich dadurch entschieden reinigte.
Fehlweg
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Fragt man danach, wie Zarathustra dasjenige an- und ausspricht, was in der Überwindung des Fremden-seiner-Selbst zugunsten des Eigenen-seiner-Selbst als sein Eigenes sichtbar wird, kann sein Verweis auf seine Kinder herausgehoben werden. An zentralen Stellen im Zarathustra lässt sich zeigen, dass er in seine Kinder die höchste Hoffnung setzt, wobei ich diese als die ihm eigenen geistig-emotionalen Samen, seine logoi spermatikoi, deuten möchte. Die Kinder Zarathustras sind die von ihm gepflanzten und die durch ihn hindurch gewachsenen Eigenarten seiner selbst, es sind die gesunden Lebensbäume seines starken Willens, die in die Tiefe und in die Höhe gewachsen sind. In der Rede Die Begrüssung spricht sich Zarathustra gegen die höheren Menschen zugunsten seiner eigenen Kinder aus: „,Nein! Nein! Drei Mal nein! Auf Andere warte ich hier in diesen Bergen und will meinen Fuss nicht ohne sie von dannen heben, auf Höhere, Stärkere, Sieghaftere, Wohlgemuthere, solche, die rechtwinklig gebaut sind an Leib und Seele: lachende Löwen müssen kommen! Oh, meine Gast-
ihr Wunderlichen, hörtet ihr noch Nichts von meinen Kindern? Und dass sie mir unterwegs sind? [...] Diess Gastgeschenk erbitte ich mir von eurer Liebe, dass ihr mir von meinen Kindern sprecht. Hierzu bin ich reich, hierzu ward ich arm: was gab ich nicht hin, was gäbe ich nicht hin, dass ich Eins hätte: diese Kinder, diese lebendige Pflanzung, diese Lebensbäume meines Willens und meiner höchsten Hoffnung!'"
freunde,
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zu
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(ebd., 351).
Insbesondere am Ende des letzen Satzes „diese Kinder, diese lebendige Pflanzung, diese Lebensbäume meines Willens und meiner höchsten Hoffnung" wird deutlich, dass Zarathustra seine so genannten Kinder als lebendige Sprösslinge seines eigenen Selbst sieht. Sie werden von ihm selbst schaffend hervorgebracht, sind sie die größte Möglichkeit und die höchste Hoffnung gelingenden Selbstwerdens. Wie bei Piaton sind die wahren Logoi keine toten Mittel, sondern Kinder, die allein ein echtes und lebendiges Philosophieren gewähren. Die erhoffte Ankunft der Kinder im Zarathustra ist daher keine Nebensache, sondern von zentraler Bedeutung: sie steht für das Vollbringen und das Vollenden des Lebens bzw. des Erlebens Zarathustras, durch das sich der Kreis seiner Selbstwerdung in der Über-Fülle und im Über-Reichtum schließt. Zarathustra vermag nun für sich und für die aus ihm erwachsenen Lebensbäume einzustehen und, allein auf sich gestellt, von Stärke und Glut durchdrungen seine Werke' aus sich heraus zu vollziehen. Sein Tun verwirklicht er nun als einen ganzheitlichen Selbstvollzug, der den Menschen als Leib-sein und große Vernunft, die nicht ,Ich' sagt, aber ,Ich' tut, gerecht zu werden vermag (vgl. ebd., 39). In der letzten Rede Das Zeichen wird das Gelingen des Selbstwerdens Zarathustras und seine endgültige Genesung mit dem Verweis auf das Sich-Nähern der Kinder angezeigt. Zarathustra sagt angesichts des lachenden Löwen und der Taube als Ausdruck dessen, dass das Zeichen kommt, „nur ein Wort: ,meine Kinder sind nahe, meine Kinder' -, dann wurde er ganz stumm [...] Und noch ein Mal versank Zarathustra in sich und setzte sich wieder auf den grossen Stein nieder und sann nach. Plötzlich sprang er empor ,[...] Mein Leid und mein Mitleiden was liegt daran! Trachte ich denn nach Glücke! Ich trachte nach meinem Werkel Wohlan! Der Löwe kam, meine Kinder sind nahe, Zarathustra ward reife, meine Stunde kam: Dies ist mein Morgen, mein Tag hebt an: herauf nun, herauf, du grosser Mittag!'" (ebd., 406ff.) ,
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Vor dem Hintergrund kann die Überschrift dieses Abschnittes erläutert werden: Prinzipiell lassen sich mit Blick auf Nietzsches Zarathustra drei Arten der Alterität voneinander abheben. Die erste Art betrifft den oder das Andere, (der) das grundsätzlich Zarathustra außen gegenübersteht. Diese Weise, die der Heilige im Walde repräsentiert, weckt in ihm kein Interesse: Zarathustra geht vorüber oder vorbei, ohne ihm größere Beachtung zu schenken. Die zweite Art der Alterität macht das Andere als das Fremdeseiner-Selbst sichtbar. Hier ist das Fremde in den Seeleninnenraum verlegt, damit er
sich mit ihm auseinandersetzen kann. Zarathustra führt mit dieser Alterität permanent seine erbitterten Kämpfe und Kriege. Dabei versucht er sie in Richtung auf das ÜberAndere-seiner-Selbst zu überwinden und durch eine neue, eine ihm gemäße Alterität zu erlösen. Diese höhere Art der Alterität ist die dritte Art, in der das Fremde-seiner-Selbst in das Eigene-seiner-Selbst schaffend hervorgebracht wurde. Zarathustra setzt sich mit dem Fremden-seiner-Selbst auseinander, das er im Anzielen auf das Über-Andereseiner-Selbst in das Eigene-seiner-Selbst verwandelt. Die Kategorie des Anderen als des Anderen ist (nach der Vorrede) verschwunden und mit ihr verschwindet die Spannung bzw. Differenz zwischen Eigenem und Anderem, Eigenem und Fremden, die für ein Verstehen konsumtiv ist. So wird in dem unermüdlichen Prozess der Selbstüberwindungen Zarathustras das Verstehen als Vermittlung zwischen Eigenem und Fremden/Anderen überwunden und mit ihm das Wohnen im eigenen „Heim-und-Hause" (ebd., 348) der Seele selbst ermöglicht. Die anderen Ausdrucksformen Zarathustras, wie das Tanzen, das Lachen, das Singen, das Fliegen, sollen nicht der Verständigung und dem Verstehen dienen, sondern der Fülle seiner selbst Ausdruck verleihen. Zarathustra, dem es gelungen ist, seinen eigenen Geschmack zu entfalten, ihn schaffend hervorzubringen, bewegt sich ausschließlich in der Selbstbezogenheit seines Mutmaßens, Erlebens, Meinens und Schmeckens: „Auf vielerlei Weg und Weise kam ich zu meiner Wahrheit; nicht auf Einer Leiter stieg ich zur Höhe, wo mein Auge in meine Ferne schweift. Und ungern nur fragte ich stets nach Wegen, das gieng mir immer wider den Geschmack! Lieber fragte und versuchte ich die Wege selber. Ein Versuchen und Fragen war all mein Gehen: und wahrlich, auch antworten muss man lernen auf solches Fragen! Das aber ist mein Geschmack: kein guter, kein schlechter, aber mein Geschmack, dessen ich weder Scham noch Hehl mehr habe. ,Das aber ist nun mein Weg, wo ist der eure?' so antwortete ich Denen, welche mich ,nach dem Wege' fragten. Den Weg nämlich den giebt es nicht!" (ebd., 245). Die wilde Weisheit der höchsten Seele Zarathustras, die in Schmerzen gewachsen ist, ist zugleich eine „Vogel-Weisheit" (ebd., 291). Sie macht es ihm möglich, sich ausschließlich mit sich selbst zu unterreden, es gibt nichts mehr, was er nicht durchlebt und durchleibt hat. Die Frage nach dem rechten Geschmack, nach der Mutmaßung und der Wahrscheinlichkeit, die spätestens durch die geistesgeschichtliche Entscheidung für die Wirkung René Descartes und nicht für die von Giambattista Vico getroffen wurde, erfahrt mit Zarathustra eine Rehabilitation, die zugleich in ihrer äußersten Zuspitzung ihr Ende ankündigt. Sie soll den Weg nicht für ein echtes Verstehen als echtes Gespräch eröffnen, sondern radikal zum Selbstgespräch auffordern, das jeder für sich und ausschließlich auf sich bezogen führt. Die Verständigung in der Sache wird von Zarathus-
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Wie viel Nietzsche verträgt der Interpret? tra durch eine
Verständigung mit dem Fremden-seiner-Selbst sich schrittweise über das Verstehen hinaus bewegt. 3. Wie viel Nietzsche
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verwirklicht, durch das er
verträgt der Interpret?
man den Zarathustra als einen Text, in dem der Autor (Nietzsche) seine Verstehenskonzeption darlegt, dann tritt Nietzsche für eine jenseits des üblichen Verstehens angesiedelte Weise schaffender Selbstauslegung ein. Wie gezeigt, wird das Verstehen nicht als ein Vermittlungsprozess gedeutet, für den die Relata auslegender Geist, fremder Geist und sinnhaltige Formen konstitutiv sind, bei dem es darauf ankommt, dass der auslegende Geist in seinem Sinnverstehen der Objektivationen und Manifestationen des
Liest
anderen Geistes die ,hermeneutische Differenz' zu überwinden versucht. Stattdessen sprengt Nietzsche einerseits diesen fremden Geist in eine Vielzahl traditioneller geistiger Fehlhaltungen und verkrusteter, verkümmerter Vereinseitigungen auf, die in dieser oder jener Gestalt, als Verächter des Leibes, Hinterweltler und Lehrstuhlinhaber oder als Zwerg, Papst oder Könige auftreten. Andererseits verlegt er die vermeintlich fremden Geister in den auslegenden Geist Zarathustras selbst, lässt in ihm, in der Höhle seines Seeleninnenraums, die hermeneutische Differenz stattfinden. Der auslegende Geist Zarathustras und der fremde Geist bzw. die fremden Geister, denen er antwortet, werden von Nietzsche in der Gestalt Zarathustras zusammengedacht. Das bedeutet, Text und Interpretation, Sinnschaffüng und Sinnvermittlung (als Sinnstiftung), Versprechen und Anspruch, werden in ihrer Differenz in der Einheit Zarathustra spannungsreich aufeinander bezogen. In gewisser Weise legt Nietzsche im Zarathustra damit seine Antwort auf die von ihm konstatierte „Selbstzerteilung des Menschen" vor, die in der Moral stattgefunden hat. In der Moral, so Nietzsches These, wie er sie in Menschliches, Allzumenschliches formuliert, „zertheilt der Mensch sein Wesen", bringt „dem einen Theil den anderen zum Opfer". So lebt der Mensch in der Moral etwas von sich, sei es einen Gedanken, ein Verlangen oder ein Erzeugnis mehr als etwas anderes und verzichtet aufgrund seiner größeren Liebe zu diesem auf das andere. Daher behandelt sich in der Moral „der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum" (KSA, MA I, 2, 76), das heißt, er lässt ein größeres Verlangen über ein schwächeres siegen. Diese dem Menschen eigene Differenzstruktur ist auch im Zarathustra aufweisbar, in der gezeigten neuen Weise. Sie ist nicht, wie in der bisherigen Moral, der Motor des unaufhörlichen Prozesses der Entselbstung, sondern der der schöpferischen Selbstwerdung, im Zuge derer der einzelne seine nur ihm eigenen Sinnformen hervorbringt, die jenseits des Verstehens und jenseits eines intersubjektiv mitteilbaren Horizontes situiert sind. Gehen Text und Interpretation, Sinnerschaffung und S inn Vermittlung, Versprechen und Anspruch in einer einzelnen Person Hand in Hand, hat dies Konsequenzen für den Interpreten, der von außen an das Buch herantritt. Versucht er der Intuition, die Nietzsche mit dem Zarathustra als einem Buch, das über das Verstehen hinaus führen will, gerecht zu werden, muss er sich selbst umdeuten oder das Buch weglegen. Der Interpret soll nicht mehr der fremde Geist des Verstehenwollenden sein, er soll nicht mehr ein
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auf die Botschaft eines anderen Geistes antwortender Geist sein und nicht mehr seine Selbsterkenntnis vorantreiben. Der Interpret soll den Zarathustra tu ertragen versuchen. Nietzsche fordert den Leser auf, selbst Zarathustra zu werden, mit einem Sprung in die Schrift hineinzugelangen. Ist er im Buch, soll es ihm nicht um einen intellektuellen Verstehensprozess gehen, er soll in der ihm eigenen Weise während seines gefahrlichen Unterwegsseins eigene Erlebnisse durchleiben. Die hermeneutische Differenz, die üblicherweise zwischen dem auslegenden und dem fremden Geist angesetzt wird, ist nicht mehr relevant, denn, es geht nicht um eine Verstehens-, sondern um eine Geschmacksfrage, die jeder in der Konfrontation und Auseinandersetzung mit dem ihm Eigenen zu bewältigen hat. Die hermeneutische Frage nach dem Verstehen des Textes wird zu der Frage nach dem Vertragen- und Ertragenkönnen seines Denkens. Anders gesagt: Zarathustra, dieser Einzelne, will auf seinem gefährlichen Unterwegssein nicht verstanden werden, sondern er will für sich einstehen. Er will „glühend und stark, wie eine Morgensonne" leuchten, allerdings ohne jede pädagogische Absicht. Er will in seiner Kraft und Intensität wohnen, ohne dabei den Blick auf etwaige Mitmenschen zu richten. Er ist der geworden, der er sein konnte. Der Interpret wird auf diesem Hintergrund so viel Nietzsche vertragen, wie er bereit ist, sich als Verstehenden, der in Differenz zu dem Zu-Verstehenden tritt, aufzugeben. Erst wenn er sich als Verstehenden aufhebt, versucht ein lebendiger Gefährte zu sein, der Zarathustra folgt, weil er sich selber folgen will, wird er dem Anspruch Nietzsches gerecht werden. So ist der Zarathustra zwar ein Buch, das ,Alle' und damit jeden Einzelnen anspricht, das aber letztlich ,Keinen' zu finden scheint, der die Verantwortung für seine Gedanken im Tun zu ertragen bereit ist. Geht der Leser dergestalt in den Zarathustra hinein und in ihm auf, versucht er sich selbst auf den Weg in Richtung auf den Übermenschen zu begeben und der Erbe Zarathustras zu sein, dann mündet das Buch, konzeptionell betrachtet, in eine TransHermeneutik ein, und es wird das erreicht, was Nietzsche vielleicht intendierte: Der Leser vermag über das Verstehen hinaus in seiner Selbstseelsorge ein Sich-selberschaffen und zugleich ein sich-selber-Auslegen zu leisten. In der Trans-Hermeneutik geht es nicht mehr um eine Theorie zugunsten einer Praxis, sondern um einen leibhaftschöpferisch-interpretatorischen Selbstvollzug, in dem sich das Wort, das ist das goldene Wort des Übermenschen, bewahrheitet und bewährt.
III. Friedrich Nietzsche und die Griechen
Schulpforta,
11. Nietzsche-Werkstatt 10.-13. September 2003
Matthew H. Meyer
Die Einheit der Gegensätze als
I.
tragisches Prinzip
Einleitung
In Ecce homo bezeichnet Nietzsche sich als den ersten
tragischen Philosophen (KSA,
EH, 6, 312) und verspricht das Kommen eines tragischen Zeitalters (ebd, 313). Damit
unterstreicht er die Bedeutung seines ersten Werkes Die Geburt der Tragödie und verweist auf eine Beziehung zwischen seinem frühen Studium griechischer Kultur und den späten Werken. Bisher sind diese Hinweise größtenteils im Dunklen geblieben; obwohl einige Forscher die Tragödie und das tragische Denken in den Werken Nietzsches für wichtig erachtet haben, waren es nur wenige, die sich mit dem Wesen des tragischen Denkens bei Nietzsche auseinandergesetzt haben.1 In diesem Aufsatz wird ein kleiner Beitrag zu dieser Problematik geleistet, wobei gezeigt werden soll, dass Nietzsche trotz seiner Abkehr von der Metaphysik in der Geburt der Tragödie seinem tragischen Denken immer treu geblieben ist. Kurz nach seinem ersten Versuch, die tragische Weltanschauung der alten Griechen in der metaphysischen Sprache Immanuel Kants und Arthur Schopenhauers darzustellen, erforscht er das vorsokratische Denken in der Schrift Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen und entdeckt sein tragisches, aber auch anti-metaphysisches Prinzip in Heraklits Lehre der Einheit der Gegensätze. Diese Wende in seinem Denken ist insofern wichtig, als sie zeigt, dass Nietzsche einerseits die Metaphysik 1873 schon preisgegeben hat und anderseits, dass sowohl Menschliches, Allzumenschliches als auch Jenseits von Gut und Böse, wo die Lehre Heraklits in den ersten Aphorismen auftaucht, eine Fortsetzung des tragischen Denkens Nietzsches ist. Bevor dieser Wandel deutlich gemacht werden kann, muss man sich zunächst darüber im Klaren sein, was tragisches Denken überhaupt heißt. Daher gilt es im ersten Abschnitt, ein besonderes Augenmerk auf Die Geburt der
Tragödie zu legen. 1
Köster, „Die Renaissance des Tragischen", in: Nietzsche-Studien Bd. 1 (1972), 185209; Thomas Heilke, Nietzsche 's Tragic Regime, Dekalb 1998; Gilles Deleuze, Nietzsche et la PhiDazu: Peter
losophie, Paris
1962.
Matthew H.
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II. Die Geburt der
Meyer
Tragödie und die tragische Weltanschauung
Die Geburt der Tragödie läßt sich als der erste Versuch Nietzsches ansehen, die tragische Weltanschauung zu skizzieren. Obgleich seine Ableitung der griechischen Kultur aus den dionysischen und apollinischen Kräften wichtig ist, sollte man doch nicht die Hauptthese von Nietzsches Erstlingswerk übersehen: Das tragische Kunstwerk trägt eine ganze Weltanschauung in sich, sein blühendes Leben und sein plötzlicher Tod sind mit deren Schicksal eng verbunden. Sowie es eine christliche, stoische oder buddhistische Weltanschauung gibt, gibt es auch eine Weltanschauung, die man tragisch nennen könnte, und Nietzsche widmet sein erstes Werk der Frage, wie diese Weltanschauung sich im alten Griechenland entwickelt hat und ruft die Deutschen zu einer Erneuerung des tragischen Zeitalters Griechenlands auf (KSA, GT, 1, 132). Man kann tragische Philosophie als eine Art des Denkens definieren, in welcher die tragische Kunst verankert ist. In Die Geburt der Tragödie bezeichnet Nietzsche diese Art des Denkens als dionysische Weisheit und legt sie dem mythischen Silen in den Mund. Die Frage des König Midas, was das Allerbeste und Allervorzüglichste sei, beantwortet der Silen: „Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das ersprießlichste ist? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar: nicht geboren zu sein, nichts zu sein, nicht zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich bald zu sterben" (ebd., 35). Der Gedanke ist hier, dass das menschliche Leben ohne die lebensbejahende Kraft der tragischen Kunst vergänglich, bedeutungslos und ekelhaft sei. Tragische Philosophie ist eine Umkehrung des platonischen Höhlengleichnisses, und der Silen bietet einen Schnellkurs in der Ethik Arthur Schopenhauers an: Das Leben ist Leiden, daher solle man es verneinen. Obwohl Nietzsche argumentiert, dass die apollinische Schönheit und die dionysische Musik fähig seien, ein sonst elendes Dasein zu verklären, geht es hier um die Frage nach dem tragischen Denken Nietzsches, und man kann kaum ein besseres Bild davon gewinnen als durch den Vergleich dieses Denkens mit dem seines Gegners, des sokratischen Optimismus. Nach Nietzsche hat Sokrates sowohl die Tragödie als auch die tragische Weltanschauung zerstört, weil er die Weisheit Silens durch sein optimistisches Denken, ein völlig anderes Verständnis des Daseins, ersetzt hat. Während tragisches Denkens die unvermeidliche Natur des Leidens betont, behauptet Sokrates, dass „das Denken, das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu corrigiren im Stande sei" (ebd., 99). Im Vergleich zu Ödipus, dessen Geschichte gezeigt hat, dass Weisheit und Leiden zusammengehören (ebd., 67), hat Sokrates die Wahrheitssuche mit der Tugend und auch mit dem Glück verbunden (ebd., 94). Im Gegensatz zur griechischen Mythologie, wo die Stabilität der olympischen Welt aus einem frevelhaften Krieg mit den Titanen stammt, benützt der platonische Sokrates den Begriff Nous, um einen rational geordneten Kosmos aufzubauen. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Optimismus des Sokrates die Tragödie bedeutungslos, wenn nicht barbarisch erscheinen ließ und dadurch eine große Rolle in der historischen Transformation der Tragödie von einem religiösen, lebensbejahenden Fest zum bürgerlichen Unterhaltungsstück in Form der ,Neuen Komödie' Menanders gespielt hat. -
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Gegensätze als tragisches Prinzip
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Verlassen wir nun die Altgriechen und wenden uns der Philosophie der Zeit Nietzsches zu. Hier entdeckt Nietzsche eine neue Art der tragischen Erkenntnis in der Philosophie Immanuel Kants und Schopenhauers. Sowie der Mythos Silens die Griechen die tragische Natur des menschlichen Daseins gelehrt hat, so behauptet Nietzsche, dass diese zwei Denker die dionysische Weisheit nun „in Begriffe" wieder offenbart haben (ebd., 120). Ausdrücklich lobt er Kant, weil er „das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu benützen gewusst, um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke entscheidend zu leugnen" (ebd., 118). Als nächster hätte Schopenhauer den traumgleichen Charakter unseres Lebens nachgewiesen und die tragische Natur der menschlichen Existenz mit dem Spruch, dass alles Leben wesentlich Leiden sei, geschildert.2 Diese zwei Wahrheiten sieht Nietzsche als Grundsteine für eine Erneuerung der tragischen Weltanschauung an und auf Grund dessen hofft er auf eine entsprechende Wiedergeburt der Tragödie in den Opern Richard Wagners. Nietzsches Versuch, seinen apollinischen und dionysischen Prinzipien eine metaphysische Deutung zu geben, zeigt die bedeutende Rolle, die Kant und Schopenhauer in Die Geburt der Tragödie spielen. Auf den ersten Blick scheint Nietzsches Rede von dem Willen einerseits und der Erscheinungswelt, in der das Principium Individuationis herrscht, anderseits die Metaphysik Schopenhauers abzubilden. Eine nähere Analyse aber zeigt, dass es einen wichtigen Unterschied zwischen der Philosophie Schopenhauers und der Nietzsches gibt. Während Schopenhauers Verständnis des Willens ein einheitliches Urprinzip darstellt, erfasst Nietzsche das Ur-eine selbst als widersprüchlichen und leidenden Urgrund des Daseins (KSA, NF, 7, 166).3 Das bedeutet, dass hinter dem Kampf des Daseins in der Welt des Individuums noch ein Kampf des Daseins liegt, weil das Ur-eine in sich selbst zerrissen ist. Wenn der Schleier der Maja weggerissen wird, erfahrt man nicht die Ruhe eines buddhistischen Aufklärungserlebnisses, sondern die stürmische Macht des wilden Eros, die sich in dem dionysischen Kunstfest äußert. Es ist nicht überraschend, dass Nietzsche mit dieser Willensauffassung sich bald zu dem Philosophen, der behauptet hat, dass der Krieg der Vater aller Dinge sei, hingezogen fühlt. In der Geburt der Tragödie ist aber Heraklit mit seiner Philosophie noch im Hintergrund. Nichtsdestoweniger ist ein Einfluss des griechischen Philosophen auf Nietzsches Erstlingswerk zu finden. Im vorletzten Abschnitt erscheint das Prinzip der Einheit der Gegensätze und der Name Heraklits in Bezug auf die Hauptlehre der Geburt der Tragödie, „dass nur als ein ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerechtfertigt erscheint" (KSA, GT, 1, 152). Nietzsche behauptet, diese Lehre könne nur durch die musikalische Dissonanz begriffen werden. Musikalische Dissonanz beweist vor allem, dass der Schmerz eine gewisse Lust im Menschen erzeugen kann. Die Einheit von scheinbaren Gegensätzen (Schmerz und Lust) ist auch in der Tragödie zu finden und nach Nietzsche bietet sie eine Lösung zum Problem der tragischen Wirkung an. :
Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd, I, in: ders., Sämtliche Werke, Stuttgart, Frankfurt/M. 1986, 426. Dazu: Friedhelm Decher, „Nietzsches Metaphysik in der ,Geburt der Tragödie'", in: NietzscheStudien Bd. 13 (1984), 110-125; Barbara von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche ,JJie Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik", Stuttgart 1992, 142f.
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genießen die Tragödie, weil jeder Träne ein wenig Freude beigemengt ist. Obwohl die Einheit des Schmerzes und der Lust als auch die Einheit der Trauer und der Freude den Reiz, den man in der Tragödie empfindet, erklärt, versucht Nietzsche eine noch tiefere, mystische Deutung der Tragödie aufzuweisen. Wie die dionysische Tragödie „das spielende Aufbauen und Zertrümmern der Individualwelt" darstellt, lehrt Heraklit, dass die Welt wie ein spielendes Kind, die das „Steine hin und her setzt und Sandhaufen aufbaut und wieder einwirft" sei (ebd., 153). Der Tragödie geht es um Schaffen und Zerstören, Werden und Vergehen, Leben und Sterben, sie strebt an, dieses kindliche Verhältnis zu der Welt im Chor bzw. den Zuschauern zu erzeugen. Nach dem Leid und der möglichen Vernichtung des Helden, d. h. Dionysos Zagreus (ebd., 72f), gab es immer ein Satyrspiel, und nach Nietzsche waren diese ewigen, zauberhaften Satyrn ein Beweis dafür, dass die Hauptlehre der Tragödie nicht die Vergänglichkeit des menschlichen Daseins, sondern das ewige Leben und der fortwährende Schöpfungsprozess der Natur war (ebd., 108). So gesehen könnte man das Wesen der Tragödie in der Sprache der Einheit der Gegensätze mit dem Spruch, ,durch den Tod des Individuums erfahrt man das ewige Leben der Natur', zusammenfassen. In Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen wird diese Lehre Heraklits in einem sonst verborgenen Prinzip der Tragödien-Theorie Nietzsches zu dem Grundstein seiner ganKurz gesagt, wir
zen
tragischen Weltanschauung.
III. Die Einheit der Gegensätze und das tragische Zeitalter der Griechen
Frage nach der Wende Nietzsches von einer Artisten-Metaphysik zu der antimetaphysischen Lehre des Spätwerks ist die unveröffentlichte Abhandlung Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen nicht zu unterschätzen. Was wie eine bloße Untersuchung der Philosophie in einem Zeitalter, wo die tragische Kunst geblüht hat, scheint, ist tatsächlich eine Darstellung des Aufstiegs und Untergangs des tragischen Denkens. Hier erklärt Nietzsche Heraklit zum König der tragischen Philosophen und klagt Parmenides an, weil er die Lehre von der Einheit der Gegensätze abgelehnt, den Begriff des Seins in die Philosophie eingeführt und letztendlich das tragische Denken untergraben hat. Mit dieser Abhandlung hat Nietzsche sein tragisches Denken als antimetaphysisches Denken neu formuliert und die Umformung suggeriert, dass seine Angriffe auf die abendländische Metaphysik in seinen späten Werken von seinem Bekenntnis zu einer Erneuerung der tragischen Philosophie getrieben werden. In seinem Aufsatz macht Nietzsche die Beziehung zwischen Heraklit und der tragischen Kunst explizit. Als der Philosoph des Werdens hat Heraklit die Welt als ein Spiel des Zeus gedeutet (KSA, PHG, 1, 828). Nach ihm gebe es keinen Substanzbegriff, sonFür die
dern nur ein Wirken, aus dem die ganze Wirklichkeit besteht (ebd., 824). Die Welt ist ein ewiger Wechsel von streitenden Gegensätzen, „in jedem Augenblick Licht und Dunkel, Bitter und Süß bei einander und an einander geheftet, wie zwei Ringende, von denen bald der Eine bald der Andre die Obmacht bekommt" (ebd., 825). Nach Nietz-
nur
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Gegensätze als tragisches Prinzip
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sehe hat Heraklit mit seiner Lehre vom Gesetz im Werden und vom Spiel in der Not„von diesem größten Schauspiel den Vorhang aufgezogen" (ebd., 835). Also schreibt Nietzsche über die Philosophie Heraklits: „Ein Werden und Vergehen, ein Bauen und Zerstören, ohne jede moralische Zurechnung, in ewig gleicher Unschuld, hat in dieser Welt allein das Spiel des Künstlers und des Kindes. Und so, wie das Kind und der Künstler spielt, spielt das ewig lebendige Feuer, baut auf und zerstört, in Unschuld und dieses Spiel spielt der Aeon mit sich" (ebd., 830). Wie im vorhergehenden Absatz angedeutet, gehören Heraklits Philosophie des Werdens und seine Lehre von der Einheit der Gegensätze zusammen. Um die Einheit der Gegensätze einzuführen, setzt Nietzsche „die höchste Kraft der intuitiven Vorstellung", das königliche Besitztum Heraklits dem logischen und begrifflichen Denken des Aristoteles entgegen (ebd., 823). Erwartungsgemäß lobt Nietzsche die intuitive Methode Heraklits und spottet Aristoteles, weil er Heraklit und seine Lehre, wonach alles jederzeit das Entgegengesetzte an sich habe, verurteilt hat. Er bezieht sich auf Aristoteles' Metaphysik r, wo dieser den Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch (A ist nicht non A) gegen Denker wie Heraklit und Kratylus verteidigt. Nach Aristoteles lautet der Satz, „dass nämlich dasselbe demselben in derselben Beziehung [...] unmöglich zugleich zukommen und nicht zukommen kann" (1005b 20) und obwohl er ihn „das sicherste unter allen Prinzipien" bezeichnet (1005b 21), glaubt Nietzsche, dass Heraklits Lehre von der Einheit der Gegensätze (A ist nicht A) richtig sei. Besonders behauptet er, Aristoteles habe nicht anerkannt, dass die Logik nie eine Welt des Werdens erfassen kann. Weil es keine Substanz gibt, führt das logische Denken in die Irre. Nur durch die Intuition lernt man, dass stets A nicht A zugleich ist, dass das Wesen der Welt Veränderung ist. Auf die Kritik Nietzsches könnte Aristoteles erwidern, dass die Logik der wahren Welt entspricht, weil es Substanzen (ein festes A) gibt. Die Frage nach der Logik als ein gültiges Mittel der Wahrheitssuche dreht sich darum, ob die Welt eine ontologische Grundlage hat. Um die Einheit der Gegensätze aufrechtzuerhalten, muss Nietzsche die Substanzlehre Aristoteles' widerlegen. Er argumentiert auf zwei Ebenen. Zunächst deutet er an, dass nur das Volk „etwas Starres, Fertiges, Beharrendes" zu erkennen meint (KSA, PHG, 1, 825). Auf der zweite Ebene führt seine Ablehnung des Substanzbegriffs zur Kritik der metaphysischen Philosophie des Parmenides. Nach Nietzsche basiert dessen Denken auf dem Glauben, dass die Regeln des Denkens dem Wesen des Daseins notwendigerweise entsprechen würden. Es gibt eine „Identität von Denken und Sein" (ebd., 850). Weil wir nicht fähig sind, etwas zu denken, das gleichzeitig ist und nicht ist, meinte Parmenides, dass die Wirklichkeit dem logischen Gesetz, wonach was ist, ist, und was nicht ist, nicht ist (A ist A), entsprechen müsse. Daher muss es unveränderliche Substanzen, d. h. eine metaphysische Welt, geben, und der Wechsel und die Veränderung der Welt muss ein illusorisches Produkt der menschlichen Wahrnehmung sein. Nietzsche findet die metaphysische Philosophie des Parmenides höchstens amüsant. Hätte dieser das Verhältnis zwischen Denken und Sein hinterfragt,4 hätte er er-
wendigkeit,
-
4
1888 radikalisiert Nietzsche seine Kritik der parmenidischen Philosophie durch eine Widerlegung der Identität zwischen Denken und Sein: „Parmenides hat gesagt, ,man denkt das nicht, was nicht
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kannt, dass, obwohl Sätze, wie „das was ist, ist" und „was nicht ist, ist nicht", als Regeln des Denkens gültig sind, es „keine einzige Wirklichkeit, die nach jenem Gegensatze streng geartet wäre", gibt (ebd., 846). Anders gesagt: Hätte Parmenides von Kant die
kritische Philosophie gelernt, hätte er seine metaphysische Welt erst gar nicht entworfen. Allerdings findet Nietzsche die Philosophie des Parmenides nicht nur zum Lächeln. Ein Moment der „völlig blutlosen" Abstraktion im Denken Parmenides', ungriechisch wie kein anderes in den zwei Jahrhunderten des tragischen Zeitalters zuvor, hat die Geschichte der vorsokratischen Philosophie in zwei Hälften gespalten. Es markierte den Anfang vom Ende des tragischen Denkens, den Start eines metaphysischen Projekts, das in der Vertreibung der tragischen Dichter aus dem Staat Piatons kulminierte (ebd.,
812).
IV. Die Einheit der Gegensätze in den
Spätwerken Nietzsches
Als Hauptargument der ersten beiden Abschnitte könnte man zusammenfassen: Die Abkehr Nietzsches von der Metaphysik bedeutet keine zwangsläufige Abkehr von seinem tragischen Denken, da die Einheit der Gegensätze, mit der er die Metaphysik zu vernichten glaubt, den Grundstein der neuen tragischen Philosophie Nietzsches bildet. Wenn die Lehre Heraklits im Spätwerk auftaucht, scheint es offensichtlich, dass es sich um eine Fortsetzung des Projekts der Geburt der Tragödie, d. h. der Wiederbelebung tragischer Weltanschauung, handelt. Menschliches, Allzumenschliches und Jenseits von Gut und Böse können als Exempel des anti-metaphysischen, aber auch tragischen Denkens Nietzsches aufgefasst werden. In Menschliches, Allzumenschliches eröffnet Nietzsche seine wissenschaftlichen Untersuchungen mit der Frage: „Wie kann Etwas aus seinem Gegensatz entstehen?" (KSA, MA I, 2, 22). Die Fragestellung setzt voraus, dass die Dinge tatsächlich aus ihren Gegensätzen entstehen, und Nietzsche benutzt die Lehre von der Einheit der Gegensätze, um eine neue, historische Philosophie zu begründen (ebd., 25)5: „Alles, was wir brauchen und was erst bei der gegenwärtigen Höhe der einzelnen Wissenschaften uns gegeben werden kann, ist eine Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfindungen ebenso aller jener Regungen, welche wir im Gross- und Kleinverkehr der Cultur und Gesellschaft, ja in der Einsamkeit an uns erleben" (KSA, MA, 2, 24). Diese Chemie der Begriffe und Empfindungen ist in den folgenden Büchern von Menschliches, Allzumenschliches zu finden. So gesehen lässt sich hier der Versuch Nietzsches finden, die Auswirkungen der Lehre Heraklits in den oben genannist' wir sind am anderen Ende und sagen ,was gedacht werden kann, muß sicherlich eine Fiktion sein'" (KSA, NF, 13,332). In einer wertvollen Studie zu dieser Problematik bietet Britta Glatzeder eine andere Auslegung dieses Aphorismus an (Perspectiven der Wünschbarkeit: Nietzsches frühe Metaphysikkritik, Berlin 2000, 33ff.). Im Gegensatz zu meiner Interpretation sieht sie die Frage, „Wie kann Etwas aus seinem Gegensatz entstehen", als ein Problem, welches die Philosophie lösen soll. Dagegen wird hier behauptet, dass diese Frage Nietzsches Philosophie enthält. Sie ist die Einheit der Gegensätze, die Nietzsches „dionysische Welt" im Fluss hält ( dazu KSA, NF, 11, 61 Of.). -
Die Einheit der
Gegensätze als tragisches Prinzip
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nachzuvollziehen; in diesem Sinn ist Menschliches, Allzumenschliches „Vorbereitung zu einer tragischen Philosophie" zu verstehen (KSA 14, 125).
ten Bereichen
als
In Jenseits von Gut und Böse findet man ein ähnliches Szenario. Nietzsche beruft sich auf die Einheit der Gegensätze, um dem platonischen Dogmatismus den Krieg zu erklären. Nach ihm ist ein Dogmatiker derjenige, der nicht über das Verhältnis zwischen den Regeln des Denkens und der Wirklichkeit kritisch reflektiert hat. So wie Parmenides vor ihm, hat Piaton vorausgesetzt, dass es ein Identität zwischen Denken und Sein gibt. Folglich hat Piaton seine dogmatische Philosophie in dem Grundglauben aller Metaphysiker, im „Glauben an die Gegensätze der Werthe" (KSA, JGB, 5, 16), verankert. Nach Nietzsche blieb dieser Fehler Piatons nicht ohne Konsequenzen. Er hat letztendlich zu dem schlimmsten, langwierigsten und gefährlichsten aller bisherigen Irrtümer geführt. Mit der Ablehnung der Einheit der Gegensätze hat er den reinen Geist und das Gute an sich erfunden (KSA, JGB, 5, 12). Wären die Aphorismen einfache Gedankenexperimente, unabhängig von den Texten, in denen sie erscheinen, wäre der Befund fast ohne Bedeutung. Aber sie sind es nicht. Wenn man die Einheit der Gegensätze als Grundsatz einer Philosophie annimmt, folgt eine Reihe von philosophischen Positionen, die man für wahr halten muss. In der oben genannten Stelle aus der Metaphysik listet Aristoteles einige auf: (1) Man müsse die Begriffe Substanz und Essenz preisgeben (1007a); (2) Es gäbe keinen wesentlichen Unterschied zwischen Dingen wie Sokrates und einem Schiff (1007b); (3) Praktische Urteile über das Gute und das Böse wären unmöglich (1008b). Solche Überlegungen finden sich auch in Nietzsches Werken, besonders in den ersten Abschnitten von Menschliches, Allzumenschliches und Jenseits von Gut und Böse. Obwohl eine genauere Analyse hier nicht möglich ist, kann man sagen, dass sowohl die Sprachkritik Nietzsches als auch sein Versuch, die Substanzlehre und den Subjektbegriff zu vernichten, in der Einheit der Gegensätze verwurzelt ist. Mit dieser Lehre verabschiedet sich Nietzsche von der abendländischen philosophischen Tradition und begründet seine tragische Weltanschauung.6
V. Die Einheit der Gegensätze und die
dionysische Kunst Nietzsches
Am Anfang dieses Aufsatzes wurde die tragische Philosophie als eine Art des Denkens, in welcher das tragische Kunstwerk verankert ist, definiert. Wenn Menschliches, Allzumenschliches und Jenseits von Gut und Böse Beispiele der tragischen Philosophie Nietzsches sind, so haben sie auch einen Bezug zur Wiederbelebung der Kunst. Ich habe schon argumentiert, dass die Einheit der Gegensätze der erste Aphorismus in einer Reihe von Aphorismen in den Bücher des „freien Geistes", die in der Wiedergeburt der Tragödie in Also Sprach Zarathustra kulminieren, ist.7 Wenn dies der Fall ist, so stellt 6
Dazu: „Was uns ebenso von Kant, wie von Plato und Leibniz trennt: wir glauben an das Werden allein auch im Geistigen, wir sind historisch durch und durch [...] Die Denkweise Heraklit's und Empedokles ist wieder erstanden" (KSA, NF, 11, 442). Matthew H. Meyer, „The Tragic Nature of Zarathustra", in: Nietzscheforschung Bd. 9 (2001), 209218; ders., „,Menschliches, Allzumenschliches' und der musiktreibende Sokrates", in: NietzscheforschungBd. 10(2002), 129-137. '
Matthew H.
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Meyer
sich die Frage, warum die Einheit der Gegensätze in Jenseits von Gut und Böse wieder auftaucht? Warum muss Nietzsche die tragische Philosophie von Menschliches, Allzumenschliches in Jenseits von Gut und Böse wiederholen? Hier ist nur die folgende Hypothese anzubieten: Mit Jenseits von Gut und Böse beginnt eine Reihe von Abhandlungen, die nicht in einer Tragödie, sondern in einer Komödie kulminieren.8 Die Komödie Nietzsches findet sich dann in den Werken von 1888 und sie besteht aus zwei Elementen des aristophanischen Kunstwerks. Schriften wie Der Fall Wagner, GötzenDämmerung, Nietzsche contra Wagner und Der Antichrist beinhalten den Agon Nietzsches, in dem er aller Dekadenz den Krieg erklärt, während Ecce homo eine Parábase voll des Selbstlobs Nietzsches darstellt. In seinen Spätwerken vervollständigt Nietzsche seine Hoffnung auf eine Wiedergeburt der griechischen Kultur. Tragisches Denken verlangt nicht nur die Tragödie, wie es in der Geburt der Tragödie beschrieben ist, sondern auch das heilige Lachen des Dionysos (KSA, JGB, 5, 236; KSA, GT, 1, 22). Wie Piaton schon im Philebos andeutet, ist das Leben in einer Welt, die in einem ewigen Wechsel von Lust und Unlust, Schaffen und Zerstören, Leben und Tod steht, sowohl eine Tragödie als auch eine Komödie.9 Als der anti-metaphysische Denker par excellence könnte Nietzsche ein tragischer und komischer Dichter zugleich sein „der letzte Jünger des Philosophen Dionysos" (KSA, GD, 6, 160).10 -
Martin
9 10
Kornberger zeigt
die
Verbindungen zwischen Jenseits
von
Gut und Böse und Ecce homo:
„Zur Genealogie des ,Ecce homo'", in: Nietzsche-Studien Bd. 27 (1998), 319-338. Hier könnte man sagen, Ecce homo stelle die Philosophie der Zukunft dar, wo er als komische Dichter das Christentum zu Tode lacht (KSA, JGB 5, 157; KSA 14, 346). Piaton, Philebos, 50b. Vielen Dank an Martin Liebscher für seine Hilfe bei der Übersetzung.
Enrico Müller
Politik, Sophistik und Philosophie im Zeitalter der athenischen Demokratie nach Nietzsche
Die Zeit des ausgehenden fünften und vierten vorchristlichen lahrhunderts lässt sich als Epoche einer auf den Logos gegründeten Welterschließung fassen. In ihr wird ein Begriff von Philosophie hervorgebracht und ausdifferenziert, der sich durch die gesamte europäische Geistesgeschichte hinweg durchhalten wird und auch das gegenwärtige Denken noch maßgeblich bestimmt. Der Logos als vernunftgeleitetes Sprechen tritt im Rahmen der zwischen Sokrates und Aristoteles anzusetzenden Fundierung des philosophischen Feldes mehr und mehr als Medium zu Tage, welches die Vielfalt und Veränderlichkeit der lebensweltlichen Phänomene auf eine ihnen zu Grunde liegende Einheit befragt. Piaton hat seinen Protagonisten Sokrates im siebenten Buch der Politeia diese Ausrichtung des Denkens emphatisch als Eintritt in eine neues Leben kennzeichnen lassen: Die denkende „Umwendung (ustaaxpocpTi) vom Werden zur Wahrheit und zum Sein" sei als „Erlösung (Xúaiq) von den Ketten" auch eine „Umwendung von den Schatten zu den Formen und zum Licht und ein Aufstieg vom unterirdischen Ort zur Sonne
hin".1
Nietzsches Denken ist demgegenüber spätestens seit der Geburt der Tragödie von einer besonderen Sensibilität für die Grenzen theoretischer Selbstdisziplinierung geprägt. Die dem Logos eigentümliche Distanzierungsleistung hat er seinerseits distanziert betrachtet. Dies belegen seine Analysen zur Entstehung der Philosophie in Athen. Gerade in dieser Polis hat sich die Fähigkeit des Logos, in versachlichter Form Phänomene des Lebens zu kategorialisieren und zu subordinieren, auch als Machtanspruch, als Wille zur Beherrschung und Unterwerfung, zu erkennen gegeben. Nietzsche hat den Zusammenhang nicht nur gesehen, er hat ihn vielmehr zugrunde gelegt, um von ihm aus die Entstehung der klassischen Philosophie auch als eine Geburt des Logos aus dem Geist der Politik zu entfalten. Bereits eine frühe genealogisch orientierte Nachlassnotiz konstatiert in diesem Sinn: „Wissenschaft aus der Redekunst, Redekunst aus dem politischen Trieb" (KSA, NF, 7, 148). Nietzsches kaum thematisiertes Diktum, die Griechen seien „schon a priori als die .politischen Menschen an sich' zu construiren" (KSA, VC/ GS, 1, 771), ist in seinem Piaton, Politeia VII, 525c und 532b.
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prinzipiellen Gehalt bis heute unterschätzt. Es bietet die Möglichkeit, vermeintlich überzeitliche Sinnstiftangen und ästhetische Leistungen der griechischen Klassik in einen spezifischen kulturellen Kontext zurückzunehmen. Der philosophische Logos ist keine quasi-autonome selbstentfaltete Sinnstiftang mehr, sondern eine bestimmte Form der Reflexion unter den Bedingungen des politischen Aprioris. Die öffentliche Rede war in Griechenland immer auch ein Politikum; unter den Bedingungen expansiv orientierter Demokratie wuchsen ihr neue Möglichkeiten zu. Nietzsche notiert in seiner Vorlesung zur Geschichte der griechischen Beredsamkeit: „Aber erst mit der politischen Form der Démocratie beginnt die ganze excessive Schätzung der Rede, sie ist jetzt das größte Machtmittel inter pares geworden" (KGW, II, 4, 3669). Die demokratische Zeit Athens bietet somit nicht den bloßen Hintergrund für das Entstehen und Sich-Etablieren der Philosophie. Für Nietzsche ist es vielmehr die sich wandelnde politische Praxis selbst, in der Philosophie sich ereignet, indem sie Dimensionen des Politischen an-, auf- und übernimmt, sie entpolitisiert und damit zu ihrer ,Sache' macht. Einer Erhellung dieser Zusammenhänge dienen die folgenden Ausführungen. Während Teil I Nietzsches Stellung zu Grenzen und Möglichkeiten der attischen Demokratie skizziert, siedelt Teil II seine Beobachtungen zum Kampf zwischen Sophistik und Philosophie im zuvor eröffneten Horizont
1.
an.
„jeder Rolle gewachsen"? Nietzsches Verortung der attischen Demokratie zwischen Machtpolitik und Vergegenwärtigungsdruck
Politik als die Fähigkeit, EntScheidungsprozesse in der Öffentlichkeit in kompromisslos zugespitzter und agonaler Manier auszutragen, die Entscheidungen für die Gesamtheit der Bürger als bindend gelten zu lassen und die aus ihnen resultierenden Konsequenzen gemeinsam annehmen, umsetzen und aushalten zu können: Politik dieser Form ist niemals mehr so intensiv praktiziert, gelebt worden wie in der attischen Demokratie. In der Anerkennung der Totalität des Politischen und in der Fähigkeit, sie zum Ausgangspunkt der Reflexion auf jede im fünften Jahrhundert auftretende Erscheinung zu machen, steht Nietzsche, mit Ausnahme von Jacob Burckhardt, weitgehend allein. Zu einer einheitlichen Problematisierung bzw. Bewertung derselben konnte er sich indessen nicht durchringen. Die radiakaldemokratischen Praktiken, besonders die Intensität, in der nach der Entmachtung des Adelsrates 462/461 v. Chr. Politik ausschließlich über die Volksversammlung und den Rat gemacht wird, findet sich als ein von den Perserkriegen ausgehender „politischer Furor" (KSA, NF, 8, 112) bestimmt. Die wenig unzeitgemäße, antidemokratische Grundperspektive, von denen die diesbezüglich relevanten Texte Homers Wettkampf unA Der griechische Staat geprägt sind, ist jedoch nur vordergründig. Nietzsches Augenmerk ruht darauf, dass sich im Rahmen einer spezifischen historischen Konstellation ein neues Selbstverständnis manifestiert, ein Machtanspruch, der durch neue Modi der Reflexion erst einzuholen ist. Das plötzliche Ausgreifen auf ungeheure territoriale Räume war für Athen ein einmaliger Kraftakt: Etwa vierzigtausend männliche, erwachsene und freie Bürger, die auf einem Gebiet von zweitausend Quadratkilometern lebten, beherrschten einen -
Politik, Sophistik und Philosophie im Zeitalter der athenischen Demokratie
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Großteil des Mittelmeergebietes. Athen führte seit 480 v. Chr. mehr oder minder immer Krieg, ein Drittel der Bürgerschaft war zu jeder Zeit mit der Flotte in Kriegszügen unterwegs. Der außenpolitischen Großräumigkeit korrelierte die Öffnung des Raumes der Mitbestimmung für die Klasse der Theten, die, weitgehend mittellos, als unverzichtbarer Bestandteil der Flotte nun entsprechend politisch partizipierten. Nach den Invektiven des Ephialtes gab es endgültig kein gegenüber der Volksversammlung privilegiertes Gremium mehr: alle noch so folgenreichen Entscheidungen wurden nach der öffentlichen Diskussion von Anträgen, die ihrerseits agonal strukturiert waren, durch einfache Mehrheit der Bürgerschaft gefallt. Demokratie als Ideologie verstand sich in diesem Sinne als gezielte Machtausübung des Demos im Hinblick auf potentiell machtausübende Institutionen, die zur Begrenzung personaler Machtausübung konzipiert sind. Als Verfassungstyp versteht sie sich kratistisch, nicht nomistisch.2 Nietzsche kennt „kein zweites Beispiel einer so furchtbaren Entfesselung des politischen Triebes" (KSA, CV/GS, 1,771). Was aus institutionalistischer, von moderner Staatsbegrifflichkeit gedachter Perspektive als „unbedingte Hinopferung aller anderen Interessen im Dienste dieses Staatsinstinktes" (ebd.) erscheint, lässt sich auch anders perspektivieren. Demokratie als konkrete, medial unvermittelte und interindividuell ausgeübte politische Praxis einer face to face-Gesellschañ lässt sich nicht auf ein Verfassungsmodell bloß formaler politischer Theorie reduzieren. Auch sie ist zuletzt der vielleicht differenzierteste Ausdruck jener „hellenischen Wettkampf-Vorstellung", den Nietzsche in Homers Wettkampf als Abscheu vor den Gefahren der Alleinherrschaft bestimmt hatte (KSA, CV/HW, 1, 789). Der junge Basler Professor registrierte gleichzeitig mit kaum verschleierter Bewunderung die „außerordentliche Stärke des gegenwärtigen Gefühls in den griechischen Volksversammlungen" (KSA, NF, 7, 407). Für Athen gilt der Befund politischer Gegenwärtigkeit in besonderem Maße. leder Athener disputierte in den Demenversammlungen, war Entscheidungsträger der etwa 40mal jährlich tagenden Volksversammlung, durch das Los wurde er besoldetes Ratsmitglied, Inhaber bestimmter Ämter und Teil der permanent stattfindenden Dikasteriengerichte, partizipierte zudem an der umfangreichen von der Polis ausgerichteten Festkultur. Er lebte mit der kratistischen Erfahrung des Ausübens einer Regierungstätigkeit und war insofern habituell „Staatsmann, Soldat, Beamter, Kaufmann in einer Person" (KGW, II 3, 20).3 Aus dieser Anmerkung wird ersichtlich, dass das Politische kein bloßes Moment der Existenz des Individuums war, sondern dass sich unter den Bedingungen einer Ubiquität des Politischen eine spezifische Form von Individualität ausprägt. Ein Individuum entstand, das sozial in einer Weise konfiguriert war, dass es nicht umhin kam, alles was ihm begegnete „als politisch zu verstehn" (ebd., 18). Spätestens mit der nochmaligen Verschärfung der Bürgerrechtsbestimmungen unter Perikles hatte sich endgültig diese neue Form der Identität etabliert, ein Typus Mensch, der sich sowohl im Hinblick auf innenpolitische Machtausübungspraktiken als auch Dazu Christian Meier, Die Entstehung des Begriffs Demokratie ", Frankfurt/M. 1970, 44-49. Zum demokratischen Habitus der Athener gegenüber dem modernen Bürgerbegriff in repräsentativen Demokratien: Moses Finley, Antike und Moderne Demokratie. Mit einem Essay von Arnaldo Momigliano, Leipzig 1987. „
1
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außenpolitische Ansprüche
als exponiert begreift, verschieden nicht nur von den sondern allem auch vor von anderen Griechen.4 „Die Verfassung, nach der Barbaren, wir leben", heißt es im Epitaphios des Perikles, „vergleicht sich mit keiner der fremden."5 Mit der berühmten Leichenrede auf die Gefallenen des ersten Kriegsjahrs, ein für Nietzsches Verständnis athenischer Demokratie zentraler Text, macht der hellsichtige Thukydides die herausragende Persönlichkeit jener Zeit nicht nur zum Sprachrohr einer neuartigen politischen Identität. Er inszeniert ihn als Anwalt und Exponenten eines gesteigerten, sich ,höher' fühlenden und verstehenden Menschentums, als exemplarisches Individuum einer Stadt, die, wenn sie sich überhaupt ins Verhältnis zum übrigen Griechenland setzt, unverhohlen den Anspruch erhebt, als rcaiôevata tt|ç EM.aôoç, als „die Schule von Hellas" aufzutreten.6 Zugleich aber lässt er nach Nietzsche das Bild einer Kultur „unmittelbar bevor die Nacht über Athen kommt (die Pest und der Abbruch der Kultur), noch einmal wie eine verklärende Abendröthe aufleuchten, bei der man den schlimmen Tag vergessen soll, der ihr vorangieng" (KSA, MA I, auf
2, 308f).
Aggressive Expansionspolitik und demokratische Praxis sind in Athen nicht ohne einander vorzustellen, sie dynamisierten sich gegenseitig. Was die Volksversammlungen in Atem hielt, waren zum größeren Teil Abstimmungen über konkrete außenpolitische Themen. Je umgreifender die Thalassokratie Athens wurde, je repressiver die Bündnispolitik, desto umfangreicher wurde das Konfliktpotential, die Möglichkeit prestigeträchtiger Interventionen. Die mit dem neuen Selbstverständnis artikulierten Ansprüche wuchsen unverhältnismäßig schnell, wurden aber immer wieder eingelöst, um neuen Ambitionen zu weichen. Die durchgehende Angespanntheit der Bürger, ihr Wille zu immer neuen Herausforderungen, ihre Bereitschaft zu Entscheidungen, deren Konsequenzen mitunter unabsehbar waren, all dies hat Nietzsche wie Burckhardt fasziniert: inwieweit das Wissen um den alsbaldigen Untergang dieses Lebensmodells die Klarheit des Blicks beeinträchtigt, bleibt unentscheidbar und ist zudem eine Frage, die auch den heutigen, ernüchterten Interpreten betrifft. Das politische Individuum Athens formierte und erfuhr sich maßgeblich durch sein Handeln. Es erfuhr die Ausmaße und die Intensität dieses Handelns, als neu, als anders. Mit den zunehmenden Handlungsoptionen und den immer weitreichenderen Konsequenzen eigenen Tuns stellt sich zwangsläufig die Frage nach den Möglichkeiten der Konzeptualisierung. Wer immerfort nur handelt, wird zuletzt zum Spielball selbstgeschaffener unüberschaubarer Handlungszusammenhänge. Athen hatte fundamental neue Verhältnisse geschaffen und dabei, wie Nietzsche betont, die polyzentrischen archaischen Verhältnisse „vor allem ethisch" (KSA, NF, 7, 79) hinter sich gelassen. Die angesichts neuer Bedürfnisse unzureichend angelegte nomologische Selbstregulierung ermöglichte jene Risikobereitschaft und Aktionsfreudigkeit, mit der die Polis zu höchster Machtentfaltung gelangte, „unvergängliche Denkmale sich überall im Guten und im Schlimmen aufrichtend" (KSA, -
5 6
Dazu Christian Meier, Christian, Die Entstehung des Politischen bei den Griechen, Frankfurt/M. 1980, 28: „Insofern vollzog sich hier nicht nur ein Wandel im Verhältnis zwischen den Schichten der Bürgerschaft, sondern zugleich eine Veränderung in der anthropologischen Dimension." Thukydides, Historiae, II 37. Ebd., 41.
Politik Sophistik und Philosophie im Zeitalter der athenischen Demokratie
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GM, 5, 11). Einmal im Zentrum ,großer Politik' befindlich, erwies sich das Nichtvorhandensein einer praktikablen Selbstauslegung als folgenreiches Defizit an Konflikt-
bewältigungskompetenz .7 Im Aphorismus 356 der Fröhlichen Wissenschaft (KSA, FW, 3, 595ff.) findet sich die Welt des perikleischen Athens als historisches bzw. anthropologisches Experiment ins Medium des Ästhetischen übersetzt. Die Erfahrungsstruktar, die Christian Meier als ,Könnens-Bewusstsein' gekennzeichnet und entfaltet hat, wird hier als Übergang vom ,Rollen-Glauben' zur ,wirklichen Schauspielerei' gedeutet und auf ihre Grenzen befragt: In dauerhaften Gesellschaftsordnungen spielt das Individuum seine Rolle gleichsam authentisch. Die Unmöglichkeit, sich angesichts fest etablierter Verhaltens- und Verständnismuster adäquat im Blick zu behalten, zu sehen, welche Rolle, bzw., dass man überhaupt eine Rolle spielt, führt zu deren Internalisierung. Zuletzt ist „aus der Rolle wirklich Charakter geworden, aus der Kunst Natur" (ebd.). Athen steht demgegenüber als ,umgekehrtes Zeitalter' da, in dem die Geborgenheit im Bestehenden brüchig, die alte Rolle als unangemessen erachtet. Weil angesichts gewandelter und unabgeschlossener Verhältnisse außer der Abgrenzung zum Vergangenen keine weitergehenden Möglichkeiten der Selbstwahrnehmung existieren oder wahrgenommen werden, ist es nun das Funktionieren in Rollen, der „Rollen-Glauben", der fragwürdig wird. Wo er verlernt ist, tritt ein „Glaube und Gesichtspunkt des Gegentheils in den Vordergrund", als Zeichen „eigentlich demokratischer Zeitalter": Jener AthenerGlaube, der in der Epoche des Perikles zuerst bemerkt wird, [...] wo der Einzelne überzeugt ist, ungefähr alles zu können, ungefähr jeder Rolle gewachsen zu sein, wo Jeder mit sich versucht, improvisiert, [...], wo alle Natur aufhört und Kunst wird" (ebd.). Die paradoxe Struktur der Wieder-Verkünstlichung der Natur gewordenen Kunst insinuiert eine Kulturtheorie, die das Aufkommen der interessantesten Zeitalter als Zusammenspiel von Instabilität und Improvisationsfahigkeit beschreibt, ihnen aber eines abspricht: Dauerfähigkeit. War die Idealform des Griechentums als Agonalität bestimmt, die ihre eigenen Korrektive hervorbringt, so lässt Nietzsche die athenische Demokratie als Imperium an der Unfähigkeit scheitern, dem eigenen Handeln Grenzen zu setzen. Die Kehrseite des demokratisch engagierten Individuums wird offenbar: ,Bedürfnisse' werden zu Fähigkeiten uminterpretiert, die Heteronomie konkreter Handlungszwänge als Souveränität ausgelegt. Der Nachricht vom katastrophalen Ausgang der sizilischen Expedition schenkten die Bürger keinen Glauben.
Dazu Egon Flaig, Ödipus, 48: „In Athen stoßen wir [...] auf eine Ungewissheit über die verbindlichen Handlungsmaximen und eine erstaunliche Instabilität der Maßstäbe [...] Das ist die Kehrseite der Experimentierfreudigkeit, welche die griechischen Poleis unentwegt bewiesen, insbesondere die über hohe Handlungspotentiale verfügende athenische Polis. Diese Offenheit für Neues, diese Bereitschaft, .Überkommenes' über Bord zu werfen, wenn es durch .Besseres' ersetzt werden kann, ein gefährlicher Hang zum Utilitarismus alles für erlaubt zu halten, wenn es bloß nützt ist die Kehrseite einer normativen Unterbestimmtheit der Handlungsmaximen; das eine kann man nicht bewundern, ohne das andere in Kauf zu nehmen." -
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2. Situativer und konzeptioneller Logos: Zum Verhältnis von Philosophie und Sophistik im politischen Leben Athens
gewandelte Ethos und das Defizit an Vergegenwärtigungsmöglichkeiten des Handelns im Athen des fünften Jahrhunderts ist damit hingewiesen. Dieses Vakuum galt es zu besetzen, den neuen Bedürfnissen eine Sprache zu verleihen. Die politische Praxis der Zeit lebte von der Allgegenwart und Allmacht des gesprochenen Wortes. Politische Gleichheit (Isonomie) war im wesentlichen gleiches Recht auf Rede vor der Volksversammlung (Isegorie), Freiheit vor allem dadurch bestimmt, alles sagen zu können (Parrhesia).8 Im Hinblick auf die Macht der Rede kristallisieren sich zu jener Zeit im politischen Raum Athens drei intellektuelle Pole aus, die in je eigener Weise bestrebt sind, die Fundierung des gesprochenen Wortes als das ihnen eigene Metier auszuweisen: Rhetorik, Sophistik und Philosophie sind, um Nietzsches Metaphorik aufzunehmen, jene drei Rollen, die den Logos für sich monopolisieren wollen und dem Athener Bürger als neue Lebensformen offeriert werden. Hatte Nietzsche bereits die frühgriechische Philosophie im ,Kampf zwischen Wissenschaft und Weisheit' situiert, so wird die ,klassische' Philosophie für ihn ihr Selbstverständnis und ihre Begrifflichkeit im Kampf mit der Sophistik, Rhetorik und Politik entfalten. Nietzsches Umwertungen sind drastisch und für die Philosophie wenig schmeichelhaft. Wie sich zeigen wird, ist es kein Zufall, dass sie sich erst nach den Erfahrungen des Peloponnesischen Krieges endgültig in Athen etablieren wird. In der Rolle einer neuen Form der Aufklärung wird sie im Medium eines auf Allgemeinheit angelegten Vernunftbegriffs „ein der Erkenntniß und dem nil admirari geweihtes Leben" repräsentieren und dem Menschen eine fundamental neue SinnDimension eröffnen. Sie konnte dies nur durch Wertungen leisten, von denen aus die bestehende Kultur tendenziell in Frage gestellt wird und ist damit zugleich eine Erscheinung der .Dekadenz': „mit dieser Paradoxie führte sich die Philosophie in Athen ein [...] Man kann die Seltsamkeit dieser Thatsache nicht lange genug ansehen" (KSA, NF, 9, 641f). Wenn Nietzsche im Zusammenhang einer ,Kritik der griechischen Philosophie' das ,Erscheinen des Philosophen' als ,Symptom der décadence' beschreibt und den Philosophen als ,Reaktion' auf den authentischen Sophisten begreift, gilt es festzustellen, dass auch diese Umwertung das Werk eines Philosophen ist. Nietzsche hat sich stets als einen solchen, trotz aller Sympathiebekundungen aber nirgendwo als Sophist thematisiert. Die Tatsache, dass die Sophisten des fünften Jahrhunderts v. Chr. ihr Denken weitgehend ohne Polemik gegen ,die Philosophen' entfalteten, Sokrates, Piaton und Aristoteles ihre Positionen aber maßgeblich in Auseinandersetzung mit ,den Sophisten' gewinnen, rechtfertigt den Gebrauch der Termini ,aktiv' und ,reaktiv'. Die Wolken des Aristophanes, Piatons Sophistes und nicht zuletzt das fragwürdige Todesurteil gegen Sokrates signalisieren gleichermaßen, unter welchen Schwierigkeiten die Emanzipation der Philosophie in Athen vor sich ging. Vorzugsweise die existentielle Atmosphäre im Sophistes verdeutlicht eindrucksvoll, dass sich hinter folgenreichen Auf das
eigenen
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Exemplarisch in der attischen Komödie, für die Nietzsche Angriffs" konstatierte (KSA, NF, 7, 405).
chen
eine „unendliche Freiheit des
persönli-
Politik, Sophistik und Philosophie im Zeitalter der athenischen Demokratie
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philosophischen Unterscheidungen Entscheidungen im Kampf um Abgrenzung verbergen. Erst bei Aristoteles scheint das agonale Pathos verschwunden, die pejorative Bedeutung des Wortes Sophist' hat sich bereits versachlicht. Ohne den performativen Aufwand seines Lehrers konstatiert er: „Der Sophist ist Verkäufer scheinbarer Weisheit, ,
nicht aber wirklicher."9 Die Nähe zwischen Sophisten und Philosophen bleibt wie bei Piaton auch bei Nietzsche ein kardinales philosophisches Problem. Während sich die antike griechische Philosophie gegen ihre Kontrahenten abzugrenzen und von dieser Abgrenzung her zu profilieren hatte, wird Nietzsche diese Nähe anders problematisieren. Ausgehend von einer Ununterscheidbarkeit der Rollen siedelt er die Philosophie im Horizont der Sophistik an, um Distanz zu ihrem antisophistischen Selbstverständnis der zu gewinnen. Der philosophische „Kampf gegen die Sophisten" ist anfänglich auch für Nietzsche „psychologisch schwer zu fassen: es ist eine Abtrennung nöthig, um nicht mit ihnen verwechselt zu werden (wozu Alles einlud, weil sie nämlich sich verwandt fühlten)"
(KSA, NF, 12, 302f).
Die problematische Verwandtschaft ist auch in der Semantik ersichtlich. EocpiaTrjç, und cpiXóaoípoc sind dem Wortsinn nach auf die Verbindung zum oocpov ausgerichtet und angewiesen. Die Rolle des oo(póc galt es in den gewandelten Verhältnissen neu zu interpretieren. Die im Hinblick auf die politische Praxis erkennbare Unterbestimmtheit tradierter Maximen machte konkretere Formen vermittelbarer Lebensweisheit unersetzlich. Dies Vakuum füllt der Sophist als „der höhere Lehrer des Altertums" (KSA, CV/HW, 1, 790) aus. Es ist für die soziale und intellektuelle Realität Athens bezeichnend, dass kein Vertreter der so heterogenen Bewegung Athener war, ihre Bedeutung ist für keine andere Polis ähnlich groß gewesen. Die aufgeregte Anspannung der jungen aristokratischen Oberschicht bei der Ankunft eines Sophisten beschrieb Piaton in drastischen Farben für den Fall des Protagoras. Trotz offenkundiger platonischer Ironie wird gegen die intentio auctoris eines deutlich: In den gesellschaftlichen Verhältnissen Athens waren Orientierungsangebote von außen notwendig und ungemein attraktiv. Erst die ihnen eigentümliche Wanderexistenz ermöglichte es nach Nietzsche den Sophisten, „die Mehrheit (die lokale Bedingtheit) der moralischen Werthurteile neben einander" zu stellen (KSA, NF, 13, 292). Die damit verbundene Erfahrung der Pluralität geltender Werten verschaffte ihnen jenen Reflexionsspielraum, von dem aus sie praxisnahe Bildungsangebote unterbreiteten. Als „vivendi praeceptores"10 lehrten sie nicht die eine Lebensform, sondern Lebensstrategien in den von ihnen angetroffenen Verhältnissen. Prominentestes Schlagwort in dieser Hinsicht ist sicher das der eußooMa, der Wohlberatenheit in politischen und häuslichen Angelegenheiten. Dass solche Konzepte weitgehend ohne Allgemeinheitsansprüche und normative Implikationen, jenseits der jeweilig exemplarischen Kontexte auskamen, wird ihnen zwar in den sokratischen Argumentationspraktiken der frühen platonischen Dialoge oft zum Verhängnis, ist jedoch kein Einwand gegen ihre praktische Relevanz." Die von 9 10 11
Aristoteles, Sophistische Widerlegungen, 165a. Cicero, De oratore, III, 57. Thomas Buchheim unterscheidet in Die Sophistik als Avantgarde des normalen Lebens, Hamburg 1986, zwischen einem .praktischen Denken' der Sophistik und dem .poietischen Denken' platoni-
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Sokrates unterstellte sachliche Unkenntnis der Gegenstände, deren Vermittlung Angelegenheit des Sophisten ist, zeigt sich in der Perspektive Nietzsches lediglich als Verzicht der Sophisten auf eine sitaationsunabhängige Thematisierung von Verhaltensmustern. In der Anerkennung bestehender Verhältnisse im Gegensatz zu deren prinzipieller Erörterung erweist sich die .Kultur der Sophisten' als realistisch', um das am häufigsten gebrauchte Attribut Nietzsches aufzunehmen. Piaton hat die, diesem Ansatz inhärente, ethische Indifferenz anhand der Positionen des Thrasymachos und besonders des Kallikles im Gorgias und in der Politeia tax hemmungsloser Machtideologie gesteigert, Nietzsche sie demgegenüber auf ihre jeweilige Leistungsfähigkeit im konkreten gesellschaftlichen Umfeld ausgelegt. Die Sophistik offeriert aus dieser nicht als Affirmation zu verstehenden Perspektive vor allem Handlungsoptionen für die von der Totalität des Politischen geprägte Bürgerschaft, d. h.: „sie gehört zur Cultur der Perikleischen Zeit, so nothwendig wie Plato nicht zu ihr gehört" (ebd., 293). Erst mit dieser Anerkennungsleistang sieht Nietzsche sie, über den kulturellen Kontext hinaus, in die Nähe des eigenen Denkens gerückt. Während sein ,Immoralismus' auf die moralische Bedingtheit der europäischen Philosophie und die Selbsttabuisierung der europäischen Moral abzielt, scheint das Auftreten der Sophisten bereits von einem vergleichsweise souveränen Umgang mit der Moral, bzw. mit der Verschiedenheit der Moralen gekennzeichnet zu sein: „Der Augenblick ist sehr merkwürdig: die Sophisten streifen an die erste Kritik der Moral, die erste Einsicht in die Moral [...] sie geben zu verstehen, dass jede Moral sich dialektisch rechtfertigen [lasse], dass es keinen Unterschied mache: das heißt, sie errathen, wie alle Begründung der Moral notwendig sophistische sein muß" (ebd., 292). Die Stellung der griechischen Philosophie seit Sokrates zum politischen Leben ist demgegenüber von unübersehbarer Reserviertheit bestimmt. Die sich nach seinem Tod ausdifferenzierenden, einander heftig bekämpfenden sokratischen Schulen kultivieren Lebensformen, die durchgängig von tiefer Skepsis und Ignoranz gegenüber den jio>aTiKà Ttpáyuxa erfüllt sind. Sie grenzen damit an Apolitie und gefährden durch ihre Demonstrativität das Funktionieren einer Gesellschaft, die wie keine andere in der Geschichte, vom Engagement ihrer Bürger abhängig war. Eine Polis mag durch innenpolitische Fehden, Bürgerkrieg oder außenpolitische Fehler dem Untergang geweiht sein, -
scher Provenienz. Ersteres „beruft sich in Ansehung beliebiger Geschehnisse nicht auf einen exterFluchtpunkt seines Verlaufs [...] So aufgefasst ist ein Geschehen nicht auf begrifflich scharfe Verhältnisse abbildbar, vielmehr sind alle es kontrollierenden Instanzen in das Geschehen involviert und also permanent in Modifikation begriffen". Dieses Denken „reflektiert nicht über (den) Geschehnisse(n), sondern räsoniert in ihnen und ist in dieser Teilnahme den Wandlungen der Orientierung ebenso ausgesetzt". Poietisches Denken „extrapoliert aus jedem Prozess, den es zu erfassen sucht, einen Blickpunkt, der dem ganzen Vorgang äußerlich bleibt oder dessen Ende ist". Das jeweilige Geschehen steht „unter einer Kontrolle, deren Instanz durch es selbst nicht in Mitleidenschaft gezogen wird. Der Abstand, den eine solche kontrollierende Instanz in diesem Denkschema stets behält, ist Grundbedingung dafür, dass ein Vorgang in geschehensunabhängigen Termen beschrieben und so überhaupt als begriffliches Verhältnis aufgefasst werden kann" (132). Die „praktische Kompetenz" der Sophisten, die zugleich „Distanzlosigkeit zur Situation" impliziert (140), ist für Nietzsche darin .Realismus', dass sie auf einer Anerkennungsleistung gründet und auf eine überindividuelle, situationsabstrakte Konstruktion in Begriffen verzichtet. nen
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Apolitie ist sie es in jedem Fall: Dies war der Grundgedanke der solonischen Stasisgesetze. Im Epitaphios des Perikles wird der Bürger, der am Verfassungsleben keinen Anteil nimmt, nicht „still", sondern „schlecht" genannt.12 Die Philosophie muss sich einen solchen Vorwurf, zumindest aus dieser Perspektive, gefallen lassen. Ausgedurch
hend vom Charisma und intellektuellen Potential eines ,Meisters' etablieren und institutionalisieren sich im vierten Jahrhundert v. Chr. nacheinander Denk- und Lebensgemeinschaften jenseits des öffentlichen Raums. Bezeichnend ist, dass die sich der Öffentlichkeit entziehenden Schulen nach innen oft quasipolitisch strukturiert sind. Eigene Kulte und Versammlungsstätten, Hierarchisierung, die Differenzierung in esoterisches und exoterisches Lehrgut und heftige Polemik gegen alternative Unternehmungen kennzeichnen Akademie und Peripatos, Stoa und Skepsis, Kyniker und das epikureische ,Gärtchen'. Nietzsche hat dieses meist unterschätzte oder bagatellisierte Phänomen deutlich erfasst und soziologisch adäquat beschrieben, wenn er die Philosophen seit Sokrates gegenüber den Vorsokratikern und Sophisten als „Sektenstifter", die Schulen selbst als „Sekten" bezeichnet (KSA, PHG, 1, 810).13 Während ein Fremdling wie Protagoras den Athenern die Verfassung der Neugründung Thurioi bewerkstelligt, ist der Philosoph, „seit Plato [...] im Exil und conspirirt gegen sein Vaterland" (ebd.). Nicht Patriotismus wird mit dieser Formulierung eingefordert als vielmehr die Vermutung geäußert, dass die Philosophie tendenziell den Raum gefährdet, der den Ursprung ihrer eigenen Ermöglichung bedeutet, dass, mit Nietzsche, die philosophischen Richtungen in ihrer apolitischen Struktur auch „Oppositionsanstalten gegen die hellenische Cuitar und ihre bisherige Einheit des Stils waren" (ebd.). Der philosophischen Lebensform korrespondiert folgerichtig ein theoretischer Gestas, der die Relevanz des Politischen entweder leugnet (Antisthenes, Aristipp, die Cyniker) oder die Politik in großangelegten Gegenutopien und auf den zyklischen Wechsel der Verfassungen abhebender, politischer Theorien (Piaton, Aristoteles) konzeptualisiert. Das diesem Verfahren implizite Selbstverständnis beansprucht meta-politisch und ftindamentalpolitisch zu sein. Die gelebte Politik findet sich in der aus der Philosophie hervorgehenden politischen Theorie der Antike weitgehend zu einer Typologie der Staatsformen und deren Diskussion schematisiert. Zum anderen wird der interindividuelle Charakter des Politischen zunehmend von der ethisch zu legitimierenden Politikfähigkeit des Individuums, von der ap8if| des Einzelnen her gedacht. Der philosophische Begriff des Menschen als eines Individuums ist nach Nietzsche maßgeblich um den Preis seiner Entpolitisierung gewonnen: der autonome Einzelne trat da hervor, wo das Çcôov 7ioÀ,mKÔv zurücktreten müsste. Die massive Hinwendung auf den die Lebensführung betreffenden Schlüsselbegriff der euôaipovia, den jede Schule im vierten Jahrhundert v. Chr. auf ihre Weise interpretiert, ist Ausdruck eines die gesamte Philosophie prägenden neuen Existenzverständnisses. Ethik, die zugleich immer auch Asketik war,
Thukydides, Historiae, II, 40. Peter Scholz (Der Philosoph und die Politik. Die Ausbildung der philosophischen Lebensform und die Entwicklung des Verhältnisses von Philosophie von Philosophie und Politik im 4. und 3. Jh. v. Chr., Stuttgart 1998) hat den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Desintegration, betontem Außenseitertum und einhergehender Institutionalisierung aufgearbeitet und die Eigenart nachsokratischen Philosophierens aus althistorischer Distanz in neuer Weise sichtbar gemacht.
Enrico Müller
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wurde für jene Individuen notwendig, denen das den gesellschaftlichen Zusammenhang tragende Ethos verloren ging und die diesen Verlust in Denk- und Lebensgemeinschaften zu kompensieren hatten. Im Zusammenhang zwischen Desintegration, Apolitie und einer auf das Seelenheil des Individuums abzielenden ethischen Reflexion bildet sich für Nietzsche das ,reaktive' Moment der Philosophie: „Der Moralismus der griechischen Philosophen von Plato ab ist pathologisch bedingt; ebenso ihre Schätzung der Dialektik. Vernunft Tugend Glück heisst bloss: man muss es dem Sokrates nachmachen und gegen die dunklen Begehrungen ein Tageslicht in Permanenz herstellen das Tageslicht der Vernunft. Man muss klug, klar, hell um jeden Preis sein: jedes Nachgeben an die Instinkte, an's Unbewusste führt hinab" (KSA, GD, 6, 72). =
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Ole Schütza
Nietzsche und Thukydides
Thukydides' Herleitung des „Allgemein-Menschlichen" aus dem Besonderen seiner Geschichtsschreibung und deren Rezeption durch Nietzsche
Es geht in um das Menschenbild des Thukydides und seiner zeitlosen Bedeutung, Friedrich Nietzsches Stellung zu Piaton und Thukydides, die er als Antipoden gegenüberstellt, die Philosophie der Macht oder das Naturrecht des Stärkeren und den damit in Verbindung stehenden Ursprung der Gerechtigkeit. In der Poetik des Aristoteles heißt es im 9. Kapitel: „[...] daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was geschehen könnte, d. h. das nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche. Denn der Geschichtsschreiber und der Dichter unterscheiden sich [...] dadurch, daß der eine das wirklich Geschehene mitteilt, der andere, was geschehen könnte. Daher ist die Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit. Das Allgemeine besteht darin, daß ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut [...] Das Besondere besteht in den Fragen wie: was hat Alkibiades getan oder was ist ihm
zugestoßen" (1451b).1
Aristoteles nennt im gleichen Abschnitt Herodot, den Schöpfer der ethisch-narrativen Dieser verfasste sein Werk, „damit nicht, was die Menschen getrieben, was Griechen und Barbaren Großes und Bewundernswürdiges geleistet, und weshalb sie miteinander Krieg geführt, mit der Zeit verwischt und vergessen würde".3 Aristoteles nennt auch Alkibiades, einen brillanten Redner und Demagogen, genialen Strategen und Kriegsherren, der dennoch nur ein mittelmäßiger Politiker war. Über ihn schrieben die Zeitzeugen Thukydides und Xenophon. Xenophons Schaffen ist vielseitiger als das des Thukydides, aber nicht vielschichtiger. Er bleibt bei der Schilderung der historischen Ereignisse stehen, bei der bloßen Berichterstattung über die unterschiedlichsten Begebenheiten von Aer Anabasis über die
Geschichtsschreibung.2
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Aristoteles, Poetik, übersetzt von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1997, 29ff. Helmut Bachmaier, „Herodot", in: Oliver Schütze, Lexikon antiker Autoren, Stuttgart u. a., 305. Herodot, Das Geschichtswerk (Buch 1. Kleio), Proömium, übersetzt von Theodor Braun, Leipzig 1964, 7.
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Ole Schütza
Hellenika bis zur Reitkunst. Er setzt die Geschichte vom Peloponnesischen Krieg an der Stelle fort, an der Thukydides endete, ohne jedoch die literarische Erzählkunst des Vorgängers zu erreichen. Auf Xenophon und Herodot trifft Aristoteles' Kritik zu, da sie es nicht vermochten, von ihren Schilderungen des Besonderen zu einer abstrakteren, allgemeineren Bedeutung der von ihnen dargestellten Historie zu gelangen. Doch er übergeht Thukydides. Vielleicht weil dieser nicht in das Schema passte oder anders gesagt: da dieser aus der Art der anderen Historiker schlug und bis zu seiner Zeit und lange nach ihr einzigartig war. Ob Aristoteles Thukydides letztlich verkannt oder übergangen hat, dem soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Von Bedeutung ist hingegen das Geschichtswerk des Thukydides und dass Nietzsche Thukydides nicht verkannt, sondern ihn erkennend gewürdigt hat. Zeitlich trennen Thukydides und Nietzsche rund 2300 Jahre. Der griechische Historiker hat nach menschlichem Maßstab eines seiner Ziele erreicht: für die Ewigkeit zu schreiben. In seinem ersten Proömium steckte er dies Ziel: „Wer aber klare Erkenntnis des Vergangenen erstrebt und damit auch des Künftigen, das wieder einmal nach der menschlichen Natur so oder so ähnlich eintreten wird, der wird das Werk für nützlich halten, und das soll mir genügen. Als ein Besitz für immer, nicht als Glanzstück für einmaliges Hören ist es aufgeschrieben" (I, 22 (4).4 Was verbindet Nietzsche aus eigener Sicht mit Thukydides? Was bedeutet der antike Historiker dem modernen Philosophen?: „Ein Vorbild. Was liebe ich an Thukydides, was macht dass ich ihn höher ehre, als Plato? Er hat die umfänglichste und unbefangenste Freude an allem Typischen des Menschen und der Ereignisse und findet, dass zu jedem Typus ein Quantum guter Vernunft gehört: diese sucht er zu entdecken. Er hat eine grössere praktische Gerechtigkeit als Plato; er ist kein Verlästerer und Verkleinerer der Menschen" (KSA, M, 3, 150). Denn Thukydides erkennt u. a. Perikles in seiner Bedeutung für die Entwicklung Athens. Obwohl er dessen Politik kritisch betrachtete, setzte er ihm mit der Leichenrede ein literarisches Denkmal. Nicht so Piaton. Dieser zog es vor, Perikles und andere attische Staatsmänner in seiner Politeia und im Gorgias zu verlästern und zu verkleinern, indem er ihnen vorwarf, die unter ihrer Regierung stehenden Athener nicht zu besseren Menschen gemacht zu haben und sie aufgrund dessen für gering achtete. Piaton setzt seine ethisch-moralischen Ansprüche als absolute Messlatte an und über alles, so dass Nietzsche konstatiert: „ich finde ihn abgeirrt von allen Grundinstinkten des Hellenen, [...] dass ich von dem ganzen Phänomen Plato eher das harte Wort ,höherer Schwindel' gebrauchen möchte als irgend ein anderes" (KSA, NF, 13, 625). Nach Nietzsche stehen sich der Idealismus Piatons und der Realismus des Thukydides unversöhnlich gegenüber. Piaton war in dem hellenischen Kosmos ein Außenseiter, der es jedoch vermochte, das Antikebild der deutschen Rezeption nachhaltig zu prägen bzw. schönzufärben: „Meine Erholung, meine Vorliebe, meine Kur von allem Platonismus war jeder Zeit Thukydides. Thukydides und, vielleicht der principe Machiavellis, sind mir am meisten verwandt, durch den unbedingten Willen, sich nichts vorzuma-
4
Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, (V, 89, 105) übertragen von August Horneffer, 1957, 459, 463.
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chen und die Vernunft in der Realität zu sehn, nicht in der ,Vernunft', noch weniger in der ,Moral' [...] Von der jämmerlichen Schönfärberei, die der klassisch gebildete Deutsche als Lohn für seinen ,Ernst' im Verkehr mit dem Alterthum einerntet, kurirt nichts so gründlich als Thukydides. Man muß ihn Zeile für Zeile umwenden und sein Nicht-Geschriebenes so deutlich ablesen wie seine Worte: es giebt wenige so substanzreiche Denker. In ihm kommt die Sophisten-Cultar, will sagen die Realisten-Cultur zu ihrem vollendeten Ausdruck: diese unschätzbare Bewegung inmitten des eben allerwärts losbrechenden Moral- und Ideal-Schwindels der sokratischen Schulen. Die griechische Philosophie schon als die decadence des griechischen Instinkts: Thukydides als die große Summe aller starken, strengen, harten Thatsächlichkeit, die dem älteren Hellenen im Instinkt lag. Der Muth unterscheidet solche Naturen wie Plato und Thukydides: Plato ist ein Feigling folglich flüchtet er ins Ideal Thukydides hat sich in der Gewalt, folglich behält er auch die Dinge in der Gewalt" (KSA, NF, 13, 625f). Nietzsches Kritik an Piaton zielt neben dieser Politikerschelte auch auf dessen Kritik an den Sophisten, zu denen Nietzsche Thukydides zählt. Die Zuordnung Thukydides' zu den Sophisten ist trotz unterschiedlicher Definitionen der Sophisten nur bei Nietzsche belegt. Piaton urteilt über die Sophisten eindeutig negativ. Ob in Sophistes, Gorgias oder Protagoras, sie sind Menschenfänger, die Scheinwissen und rhetorische Fähigkeiten für Geld verbreiten. Nietzsche definiert die Sophisten hingegen wie folgt: „Die Sophisten sind nichts weiter als Realisten: sie formuliren die allen gang und gäben Werthe und Praktiken zum Range der Werthe, sie haben den Muth, den alle starken Geister haben, um ihre Unmoralität zu wissen [...] Die Sophisten waren Griechen: als Sokrates und Plato die Partei der Tugend und Gerechtigkeit nahmen, waren sie Juden oder ich weiß nicht was" (KSA, NF, 13, 331). Mit Nietzsche ist festzustellen, dass sich aber auch große Gemeinsamkeiten in den Werturteilen der beiden großen Griechen finden, dass Thukydides' Moral „die gleiche ist, die überall bei Plato explodiert" (KSA, NF, 11, 56). In der Gegenüberstellung des von Nietzsche hervorgehobenen Melierdialogs mit der Rede des Kallikles wird dies deutlich: „Athener: [...] Wissen wir doch beide nur zu gut, daß es bei Verhandlungen unter Menschen nur dann Gerechtigkeit gibt, wenn beide unter dem gleichen Zwange stehen, daß dagegen die Überlegenen unternehmen, was möglich ist, und die Schwachen es ihnen zugestehen" (Thukydides, V, 89) und „[...] Athener: Wir glauben, daß bei den Göttern vermutlich, ganz sicher aber bei den Menschen, überall aus einem Zwange der Natur heraus der Mächtige über das gebietet, dessen er Herr wird. Dieses Gesetz haben wir nicht gegeben, auch nicht als erste angewandt; wir wenden nur das vorgefundene an und hinterlassen es als ein künftiges für ewige Zeiten, wohl wissend, daß auch ihr und andere, wenn sie zu derselben Macht kommen sollten wie wir, wohl das gleiche tun würden" (Thukydides, V, 105).5 Bei Piaton steht: „Die Natur dagegen, glaube ich, beweist selbst, daß es gerecht ist, wenn der Bessere mehr hat als der Geringere, der Stärkere mehr als der Schwächere. Vielerorts zeigt sich uns, daß das so ist, bei den Tieren und bei den Menschen, in ganzen Städten und Geschlechtern, daß es das erklärte Recht ist, daß der Stärkere über den Schwächeren herrscht und mehr hat als -
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Thukydides, V, 89, 105, Übertragung August Horneffer, Bremen 1957, 459, 463.
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dieser. Mit welchem anderen Recht als dem der Natur ist Xerxes gegen Griechenland gezogen oder sein Vater gegen die Skythen? [...] Ich glaube aber, diese Menschen handeln der Natur des Gerechten gemäß und bei Zeus, führwahr auch gemäß dem Gesetz der Natur, wenn auch vielleicht nicht nach jenem, das wir willkürlich aufstellen. Wir nehmen ja die Besten und Stärksten unter uns von der Jugend an heraus und wollen sie [...] untertänig machen, indem wir ihnen sagen, es müsse Gleichheit herrschen, und das sei eben das Schöne und das Gerechte" (Piaton, Gorgias, 483c-484a).6 Wie gleichen sich die Argumente: das ewige Recht der Natur, dass der Stärkere über den Schwächeren zu herrschen habe. Während Kallikles seinem Dialogpartner Sokrates schon bald keine inhaltlichen Argumente mehr entgegenzusetzen hatte, so ließ das Scheitern des athenischen Machtanspruchs noch zwölf Jahre auf sich warten. Wenn im Melierdialog keine Namen genannt sind, sondern nur die Athener und Melier als Gruppen reden, so kaschiert dies nicht den Urheber der Worte der Athener. Die Historiker stimmen darin überein, dass Alkibiades selbst zu Worte kommt oder andere mit ihrer Rede ihm willfahren.7 Es ist der imperialistische Geist der von Alkibiades geführten Kriegspartei Athens, die sich expressis verbis auf das Recht des Stärkeren beruft. Hier wird die Fähigkeit Thukydides' vom Besonderen auf das Allgemeine zu schließen, erneut deutlich, wenn er trotz möglicher besonderer Namensnennung des einen Dialogpartners schlicht und allgemein von den Athenern spricht, deren zeitgenössischen Majoritätswillen der eine Athener verkörperte. Nietzsche stellt im Hinblick auf den zitierten Melierdialog fest: „Die Gerechtigkeit nimmt ihren Ursprung unter ungefähr gleich Mächtigen, wie diess Thukydides [...] richtig begriffen hat; wo es keine deutlich erkennbare Uebergewalt giebt und ein Kampf zum erfolglosen, gegenseitigen Schädigen würde, da entsteht der Gedanke sich zu verständigen und über die beiderseitigen Ansprüche zu verhandeln: der Charakter des Tausches ist der anfängliche Charakter der Gerechtigkeit" (KSA, MA I, 2, 89). Zurück zum Vergleich des antiken Historikers mit dem antiken Philosophen. Was und wen Piaton auch scharf verurteilt, von Thukydides als Historiker wird Realität zunächst lediglich dargestellt. Doch Thukydides urteilt auch. Bei ihm handelt es sich jedoch weniger um Verurteilungen als um Beurteilungen. Er skizziert die Genese der athenischen Krankheit, die Wurzeln der Selbstüberschätzung, der Hybris, und den Verlust von Sophrosyne, der Bedachtsamkeit und dem Wohlberatensein, und folglich, modern formuliert, den Verlust vernunftgemäßen Handelns. Thukydides hat es vermocht durch den Wechsel zwischen einfacher Darstellung, verhaltener Bewertung und Reden bzw. Dialogen, die moralische Entwicklung Athens nachzuzeichnen. Durch die Schilderung der Abfolge der Ereignisse wird er größtenteils der Notwendigkeit einer eigenen 6 7
Piaton, Die großen Dialoge, übertragen von Rudolf Rufener, München 1991. Vgl. Fritz Taeger, Alkibiades, Stuttgart 1925, 61 ff, Jean Hatzfeld, Alcibiade, Paris 1951, 124f. Schlüssig ist diese Ansicht insbesondere, da in Thuk. V, 84 Alkibiades als einziger Befehlshaber der Gesamt-Expedition genannt wird und Bengtson in seinem Vortrag Zu den strategischen Konzeptionen des Alkibiades dezidiert die Ansicht vertritt, Thukydides habe auch Alkibiades persönlich befragt, um die Quellenbasis für sein Geschichtswerk zu erweitern, da allein dieser ihm militärische Details über die athenische Strategie auf Sizilien darlegen haben konnte, die Thukydides in seinem Werk breit erörterte.
Nietzsche und Thukydides
227
Stellungnahme enthoben, da er die Ereignisse für sich sprechen lässt, besonders durch deren exemplarische Auswahl. Die Reden der in Sparta versammelten Abgesandten der rivalisierenden Poleis analysieren sowohl die Situation vor dem Beginn des Krieges als auch zwei allgemeinmenschliche Phänomene. Die Korinther über die Athener und Spartaner: „Sie sind die ewigen Neuerer, rasch im Planen und der Ausführung dessen, was sie erkannt haben; ihr aber (begnügt euch), das Bestehende zu wahren [...] Ferner sind sie über ihre Macht hinaus wagemutig, wider alle Vernunft draufgängerisch, auch in Gefahren voller Zuversicht; eure Art dagegen ist es weniger zu leisten, als in eurer Macht stünde [...] Und weiter: sie sind tatkräftig, ihr seid Zauderer, sie schweifen in der Ferne, ihr hockt zu Hause. Sie glauben nämlich, in der Ferne etwas zu gewinnen, ihr, durch ein Unternehmen auch das Bestehende zu gefährden [...] Haben sie etwas ins Auge gefasst, aber nicht erreicht, glauben sie, ihres Eigentums beraubt zu sein, haben sie etwas im Sturm gewonnen, es sei ihnen nur wenig im Vergleich zu ihren künftigen Taten geglückt [...] Wenn daher jemand zusammenfassend behauptete, sie seien dazu geschaffen, weder
selbst Ruhe zu halten noch die anderen Menschen in Ruhe zu lassen, so hätte er vollkommen recht" (Thukydides, I, 70). Mit je einem Wort werden die Athener durch polypragmosyne (Vielgeschäftigkeit), die Spartaner durch sophrosyne (Besonnenheit) charakterisiert. Den Athenern legt Thukydides folgende Worte als Erwiderung in den Mund: „So haben auch wir nichts verwunderliches getan, nichts wider menschliche Natur, wenn wir eine uns angebotene Herrschaft annahmen und nicht aufgeben wollen, von den drei stärksten Beweggründen getrieben: Ehre, Furcht und Nutzen. Wir haben auch nicht als erste damit angefangen, es gilt vielmehr seit jeher, daß der Schwächere vom Mächtigeren niedergehalten wird; und wir glaubten, der Herrschaft wert zu sein, auch in euren Augen bis ihr jetzt, auf euren Vorteil bedacht, von Gerechtigkeit redet; die hat noch nie jemand, wenn sich Gelegenheit zum gewaltsamen Erwerb bot, höher gestellt und sich seines Vorteils begeben" (Thukydides, I, 76). Bereits vor dem Kriege herrschte nach Thukydides in Athen die Grundtendenz des imperialen Machterhalts und der imperialen Machterweiterung. Der Melierdialog wird hier bereits angedeutet. Wassermann sah nach dem 2. Weltkrieg, anders als vor der Katastrophe, die dikaion-Theorie des Melierdialogs in Übereinstimmung mit dem so genannten aufgeklärten Imperialismus des Perikles. Der thukydideische Perikles würde die zur Unterwerfung der Insel vorgebrachten Gründe nicht missbilligen und das dargelegte Recht des Stärkeren sei eine natürliche Entwicklung des perikleischen Machtdenkens unter der Belastung von fünfzehn Kriegsjahren.8 Letzteres ist wohl eine eher unzulässige Übertragung eigener Kriegserfahrungen auf die Situation Athens zu einer Zeit, als durch den Nikais-Frieden und trotz des erfolgten Sonderbund-Krieges gegen Sparta kein drückender Dauerkriegszustand herrschte. Darüber hinaus hatte Perikles ausdrücklich vor einer Machterweiterung während des Krieges gewarnt (Thukydides, I, 144). Abgesehen von der Frage, ob es einen aufgeklärten Imperialismus geben kann, lässt sich sagen, dass in Anbetracht des fortgesetzten Dualismus zwischen Sparta und Athen unter Berücksichtigung der Schwäche der athenischen Landstreitkräfte eine Machter-
Dazu: Antonios Rengakos, Form und Wandel des Machtdenkens der Athener bei Stuttgart 1984, 13 f.
Thukydides,
228
Ole Schütza
See die einzige langfristige Strategie der athenischen Kriegspartei sein den konnte, Hauptrivalen zu zermürben. Es lässt sich hinzufügen, dass ein sich in seiner Machtfülle bedroht sehendes Imperium nach Kräften die Expansion der eigenen Einflusssphäre forciert. Gestern wie heute. Als Philosoph betrachtet Nietzsche die thukydideischen Schilderungen über ihre historische Faktizität hinaus; sie gewinnen zeitlose Deutungen der menschlichen Handlungsweise. Nicht, dass dieses nicht auch von Thukydides intendiert war, doch sein Anspruch als Historiker umfasste beides: eine wahrheitsgemäße Schilderung der historischen Ereignisse und die Psychogenese menschlichen Handelns. Der Mensch handele in gegebenen Situationen gemäß seinen von Natur aus bestehenden Veranlagungen, zu denen auch der Machttrieb gehöre, den Schwächeren zu unterdrücken. Nicht allein das Verhältnis von Macht und Ohnmacht, Gerechtigkeit und dem Recht des Stärkeren zwischen den Staaten findet das gemeinsames Interesse von Thukydides und Nietzsche. Das Allgemein-Menschliche findet sich auch in anderen Situationen wieder. So in der Situation des Bürgerkrieges, wenn Recht und Ordnung in einer Polis außer kraft sind und Nachbarn und Verwandte sich gegenseitig an Eigentum, Leib und Leben zu schaffen machen. Thukydides schildert (III, 69-81,) die Ereignisse eines Bürgerkrieges der Kerkyraier. Daran schließt sich die als ,Pathologie des Krieges bekannt gewordene Passage an, in der er auf die allgemeine Bedeutung des soeben angeführten zu sprechen kommt. Die Ereignisse auf Kerkyra sind ihm ein Beispiel und Muster für die später in ganz Hellas in Zwiespalt geratenen Poleis und das menschliche Verhalten in der Situation des Bürgerkriegs: „Und bei solcher Zwietracht brach viel Schweres über die Städte herein, wie es nun einmal ist und immer sein wird, solange das Wesen der Menschen gleich bleibt, manchmal heftiger, manchmal ruhiger (erschien es) und immer verschieden in den Erscheinungsformen, wie es eben die Wechselfalle der Ereignisse mit sich bringen; denn in Frieden und Wohlstand leben Städte und Menschen nach besseren Grundsätzen, weil sie nicht in ausweglose Not geraten. Der Krieg aber, der die Annehmlichkeiten des täglichen Lebens raubt, ist ein harter Lehrmeister und gleicht die Leidenschaften der Menge den Gegebenheiten des Augenblicks an" (Thukydides, III, 82 [2]). Im Sommer 1875 erkannte Nietzsche das zur selben Pathologie gehörende Kap. III, 84 als echt thukydideisch. Bereits in der Antike war es von Philologen als fremde Interpolation angesehen worden. Heute ist sich die Forschung weitgehend darüber einig, dass es sich um eine, aus einer früheren Bearbeitungsphase unverändert gebliebene, Passage des Thukydides handelt. Der die menschliche Natur analysierende Passus daraus lautet: „Weil das Leben in der Stadt bis zu diesem Grad in Verwirrung geriet, ließ die menschliche Natur erkennen, dass sie stärker geworden war als die Gesetze und dass sie ohnehin gewohnt, gegen die Gesetze Unrecht zu tun sich daran noch freute: unfähig, den Zorn zu beherrschen, machtvoller als das Rechtmäßige, feindselig gegenüber dem Hervorragenden. Sie hätten sonst nicht den Rechtspflichten die Rachsucht vorgezogen und der Vermeidung des Unrechts nicht die Selbstbereicherung, wodurch das Neidgefühl nicht seine verderbliche Wirkung gehabt hätte [...] Die Menschen ziehen es eben vor, die auch bei solchen Zuständen allgemein anerkannten Normen (nämlich Mitleid und Schonung), auf die sich für alle die Hoffnung gründet, im Falle der
Weiterung
zur
um
'
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-
Nietzsche und Thukydides
229
Niederlage auch selbst zu überleben, aufzuheben, um nur an anderen die Rachegelüste zu befriedigen und sie nicht bestehen zu lassen, auch für den Fall, dass man selbst in Gefahr geraten und auf eine solcher Normen angewiesen sein könnte" (Thukydides, III, 84). Nietzsche verortet in diesem Kapitel eine thukydideische Staatstheorie. Der Staat erscheine Thukydides als eine göttliche Institution, die höchste Verehrung der Nomoi blicke durch, Menschen könnten diese Institution nach ihrer Physis nicht stiften. Hierin muss man Nietzsche widersprechen. Der Weg vom Mythos zum Logos ist längst vollzogen. Denn der Aberglaube des Nikias wird von Thukydides als Ursache für das verheerende Ausmaß der Katastrophe der Sizilischen Expedition genannt; von wem die staatliche Ordnung herrührt, gibt die bereits erwähnte Leichenrede des Perikles Auskunft: „Die Staatsverfassung, die wir haben, richtet sich nicht nach den Gesetzen ande-
Vorbild, als daß wir andere nachahmten. Mit Namen heißt sie, weil die Staatsverwaltung nicht auf wenige, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist, Demokratie [...] Frei leben wir als Bürger im Staat und frei vom gegenseitigen Misstrauen des Alltags, ohne gleich dem Nachbarn zu zürnen, wenn er sich mal ein Vergnügen macht, und ohne unseren Unmut zu zeigen, der zwar keine Strafe ist, aber doch durch die Miene kränkt [...] Wie ungezwungen wir aber auch unsere persönlichen Dinge regeln, so hüten wir uns doch im öffentlichen Leben, allein aus Furcht, vor Rechtsbruch in Gehorsam gegen Beamte und Gesetze, hier vor allem gegen solche, die zum Nutzen der Unterdrückten erlassen sind, und die ungeschriebenen, deren Übertretung nach allgemeinem Urteil Schande bringt" (Thukydides, II, 37). Diese Passage widerlegt Nietzsches Vermutung einer göttlichen Herkunft der Nomoi in Thukydides' Weltbild. Thukydides ist hier aufgeklärter als Nietzsche. Zugleich zeichnet die Perikles von Thukydides in den Mund gelegte Rede ein Bild der athenischen Verfassung und Gesellschaft, ihrer Werte und Normen zu Beginn des Krieges. Wenn Thukydides auch schönfärbert und die Verhältnisse idealisiert darstellt, ist diese Überzeichnung philosophisch gesehen korrekt, da ein Bild der in Friedenszeiten herrschenden zwischenmenschlichen Harmonie und der Gerechtigkeit der Ordnung entworfen wird, um dieses später mit den durch den Krieg schlechter werdenden allgemein-menschlichen Verhältnissen zu kontrastieren. Wenn Thukydides in der Schilderung des Besonderen historische Genauigkeit verlässt, dann nur, um seinen Lesern das Allgemeine, auch im aristotelischen Sinne, aufzuzeigen. rer, viel eher sind wir selbst für manchen ein
-
Konstantin Broese
Nietzsche und die antike Aufklärung Nietzsches kritische Auseinandersetzung mit Demokrit in seiner Leipziger Studienzeit vor dem Hintergrund seiner Lange-Rezeption
1.
Einleitung
Der Begriff ,Aufklärung' schließt für Nietzsche antike Aufklärung mit ein.1 Dass für ihn im Anschluss an Arthur Schopenhauer und Friedrich Albert Lange im Kontext antiker Aufklärung Epikur von herausragender Bedeutung ist, ist mittlerweile bekannt,2 genauso wie die Tatsache, dass „Epikur und epikureisches Gedankengut [...] in Nietzsches Schriften so oft und so vieldeutig eingeflochten [sind], daß sie einer besonderen [...] Interpretation bedürfen".3 Weniger bekannt ist, dass für Nietzsche die antike Aufklärung auch in Gestalt Demokrits von großer Bedeutung ist und dass er sich während seiner, bisher erst unzureichend erforschten, Leipziger Studienzeit intensiv mit Demokrit als dem mit Abstand wichtigsten Vertreter antiker Aufklärung auseinandersetzt und dabei zu Einsichten gelangt, die für seine Erkenntniskritik wegweisend sind.4 Im folgenden wird diese Auseinandersetzung Nietzsches unter besonderer Beachtung seiner
Lange-Rezeption eingehend analysiert.
Henning Ottmann, „Nietzsches Stellung zur antiken und modernen Aufklärung", in: Josef (Hg.), Nietzsche und die philosophische Tradition, Bd. 2, Würzburg 1985, 13. ders., „Nietzsches Stellung", 13-17; Fritz Bornmann, „Nietzsches Epikur", in: NietzscheVgl. StudienBd. 13 (1984), 177-188. Fritz Bornmann, „Nietzsches Epikur", 178. Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit Demokrit im Kontext seiner Leipziger Studienzeit: Hans Gerald Hödl, Der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, Studien zur systematischen Bedeutung von Nietzsches Selbstthematisierungen im Kontext seiner Religionskritik, HabilitationsDazu:
Simon
schrift, Humboldt-Universität zu Berlin, 2001, 287-298; lology of the Future, Stanford 2000, 32-126.
James I.
Porter, Nietzsche and the Phi-
232
2. Der radikal-kritizistische Ansatz Nietzsches in im Anschluss an Lange
Konstantin Broese
Leipzig
Ausgangspunkt der philosophischen Reflexionen Nietzsches in seiner Bonner und Leipziger Studienzeit ist seine endgültige Abkehr von der Theologie bzw. dem Christentum bzw. sein allmählicher Wandel vom klassischen Philologen zum Philosophen.5 Grundlegend für Nietzsches gesamte philosophische Reflexionen während seines Studiums ist seine kritische Auseinandersetzung mit dem Kritizismus Immanuel Kants.6 Besonders bedeutsam ist hierbei seine in Leipzig erfolgte Beschäftigung mit der 1. Auflage der Geschichte des Materialismus von Friedrich Albert Lange.7 Lange expliziert in seinem Hauptwerk einen an Kants Kritizismus anknüpfenden und diesen zugleich radikalisierenden Kritizismus. Dieser umfasst zwei Aspekte, einerseits seine philosophische Kritik"*, die die in der Transzendentalen Ästhetik und Analytik der „unsterblichen Kritik der reinen Vernunft"9 explizierte Erkenntniskritik Kants entschieden radikalisiert10, andererseits seine an Kants Konzeption der regulativen Ideen anknüpfende Auffassung, es sei unvermeidlich, jenseits der sinnlich-anschaulichen Welt mittels „Kunst, Religion und Philosophie"11 ästhetisch-ethische „Ideen"12 zu entwerfen, die, im Einklang mit dem kritischen Standpunkt, nicht als Erweiterung unserer Erkenntnis, sondern als erkenntnisleitende und sinnstiftende Illusionen, als „Begriffsdichtang"13, „Architektur der Begriffe"14 oder „Begriffsfügung"15 gelten.16 Zur ,Begriffsdichtung' rechnet 5
Hierzu mein Aufsatz „Nietzsches Verhältnis zur antiken und modernen Aufklärung Aspekte ihrer Aneignung und Radikalisierung durch den frühen Nietzsche im Lichte unveröffentlichter Manuskripte", in: Renate Reschke (Hg.), Friedrich Nietzsche Radikalaufklärer oder radikaler Gegenaufklärer?, Nietzscheforschung, Sonderband 2, Berlin 2004, 231 f. Vgl. ebd., 234-238. Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Iserlohn 1866. Auf die fundamentale Bedeutung der Position Langes in der Geschichte des Materialismus für Nietzsche verweist Jörg Salaquarda in wegweisenden Studien: „Nietzsche und Lange", in: Nietzsche-Studien Bd. 7 (1978), 236-260; ders., „Der Standpunkt des Ideals bei Lange und Nietzsche", in: Studi Tedeschi, XXII, Napoli 1979; ders., „Das wahre Selbst über Dir", in: Eugen Biser (Hg.), Besieger Gottes und des Nichts, Nietzsches fortdauernde Provokation, Düsseldorf 1982, v. a. 30-39; ders., „Nietzsches Kritik der Transzendentalphilosophie", in: Matthias Lutz-Bachmann (Hg.), Über Friedrich Nietzsche, Eine Einführung in sein Denken, Frankfurt/M. 1985, 27-61; George J. Stack, Lange and Nietzsche, Berlin/New York 1983. Vgl. Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus, 250. Ebd. 237. Vgl. ebd., 233-278 u. 481-500. Ebd., 556. Ebd., 541. -
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15 16
Ebd., V u. VII. Ebd.,V. Ebd., 268.
Lange bezeichnet in der ersten Auflage seiner Geschichte des Materialismus diese Auffassung noch nicht als .Standpunkt des Ideals'. Dies wird von Salaquarda übersehen, wenn er schreibt, dass der Leipziger Nietzsche den „Standpunkt des Ideals" aus dem letzten Kapitel der Geschichte des Materialismus entnehme (Ders., „Der Standpunkt des Ideals", 139f.). Folgt man Salaquar-
Nietzsche und die antike Aufklärung
233
Lange sowohl den Idealismus als auch den Materialismus, insoweit sie dogmatisch sind, d. h. insoweit ersterer auf der Basis rein begrifflicher Erkenntnis17 und letzterer auf der Basis seines „naiven Glauben[s]"18 an die „scheinbare Objektivität der Sinneserscheinungen"19 bestrebt ist, eine „Gesamtanschauung des Weltganzen"20 mit Anspruch auf allgemeingültige Wahrheit zu entwerfen.21 Nietzsche erwirbt die 1. Auflage der Geschichte des Materialismus im August 1866 und arbeitet sie sehr schnell durch.22 Bereits kurz nach Beginn seiner Lektüre steht für ihn dessen herausragende Bedeutung fest;23 zugleich greift er zustimmend Langes entschiedene Radikalisierung der Erkenntniskritik Kants auf24 Darüber hinaus geht er mit ihm davon aus, dass es unverzichtbar und sinnvoll sei, erkenntnisleitende und sinnstiftende Ideen zu entwerfen, die im Einklang mit der radikalen Erkenntniskritik stehen bzw. nur als ,Begriffsdichtung' gelten. Wie Lange depotenziert der Leipziger Nietzsche vor diesem Hintergrund sowohl den Materialismus als auch den Idealismus als ,Begriffsdichtang', insoweit sie ein philosophisches Modell von der Welt im Ganzen mit Anspruch auf (allgemeingültige) Wahrheit entwerfen.25 Letzteres geht zum einen aus seiner Beschäftigung mit Demokrits Atomismus, zum anderen aus seiner kritischen Auseinandersetzung mit Schopenhauers Metaphysik hervor.26
3. Nietzsches kritische Studienzeit vor dem
Auseinandersetzung mit Demokrit in seiner Leipziger Hintergrund der Demokrit-Interpretation Langes
Für Lange steht fest, dass den Erkenntnissen der Materialisten im Rahmen radikalkritizistischer Erkenntniskritik große Bedeutung zukomme, insofern sie dem „Feuerbachdas
Darlegungen in Nietzsche und Lange (239ff.), kann Nietzsche auf diesen erst 1887 gestoßen er die vierte Auflage der Geschichte des Materialismus von 1882 bzw. 1887 erwirbt. (Vgl. Hans Gerald Hödl Der letzte Jünger, 359, Anm. 1313). Gleichwohl ist festzuhalten, dass Lange wesentliche Punkte dessen, was er in späteren Auflagen seiner Geschichte des Materialismus .Standpunkt des Ideals' nennt, bereits in der 1. Auflage darlegt (Geschichte des Materialismus, 545-557). Vgl. Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus, 346f. sein, als
17 18
19 20 21
22
23 24 5
26
Ebd., 483. Ebd., 345. Ebd., 60.
In der Geschichte des Materialismus kritisiert Lange am Materialismus die ihm eigene „gemüthlichef...] Zufriedenheit mit der Erscheinungswelt" (345) bzw. der sinnlich gegebenen Welt. Dadurch ist er aus seiner Sicht „conservativ" (346) bzw. behindert den Fortschritt der Erkenntnis. Vgl. Jörg Salaqurada, „Nietzsche und Lange", 236f. Vgl. KGB 1/2, 184 (Brief an seinen Freund Mushacke, November 1866). Vgl. KGB 1/2, 159f. (Brief an seinen Freund Gersdorff, August 1866). Wie Lange kritisiert Nietzsche während seiner Leipziger Studienzeit am Materialismus die .Zufriedenheit mit der sinnlichen Welt' bzw. die Tatsache, dass er das „conservativef ] Element in der Wissenschaft" ( KGW, NF, I, 4, 394) darstelle. Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit der Metaphysik Schopenhauers: KGW, NF, I, 4, 418— 427.
234
Konstantin Broese
sehen Imperativ"27 folgten, sich der strengen naturwissenschaftlichen Methodik als einer Methode bedienten, die vor „Irrthum und Phantasterei"28 schütze bzw. eine Rücksichtslose Consequenz der Schlussfolgerungen"29 impliziere und überdies die Teleologie, einschließlich ihrer theologisch-anthropomorphen Implikationen zurückwiesen.30 Nietzsche schließt sich der Auffassung an: Auch aus seiner Sicht spielen die Erkenntnisse der Materialisten im Rahmen der radikalkritizistischen Erkenntniskritik eine wichtige Rolle, insofern sie sich an der gegebenen Welt orientieren31, von der Bedeutung der Wissenschaftlichkeit bzw. ihrer Methodik ausgehen (vgl. KGW, NF, I, 4, 413) sowie antiteleologisch ausgerichtet sind (vgl. ebd., 483).32 Auf dem Hintergrund der oben dargestellten Zusammenhänge ist Nietzsches philosophische Auseinandersetzung mit Demokrits Materialismus in seiner Leipziger Studienzeit eingehend zu analysieren. Da diese wesentlich durch Langes Beschäftigung mit Demokrit bestimmt ist, gehe ich zunächst auf diese ein. Ausgangspunkt der Demokrit-Interpretation Langes ist seine Auffassung, dass das kritische Potential des Materialismus in hohem Maße in Demokrits Atomismus enthalten ist. Diese Auffassung begründet er damit, dass Demokrit seinen Blick ausnahmslos auf „die Erscheinungswelt selbst"33 richte und die „Gesetzmässigkeit und Nothwendigkeit des Weltganges [...] entscheidend zum Bewusstsein"34 bringe. Außerdem verweist er darauf, dass sich bei Demokrit im Anschluss an Empedokles35 eine „acht materialistische[...] Leugnung der Zweckursachen" zugunsten der „Annahme absoluter Causalität" 36 konstatieren lasse und damit eine entschiedene Frontstellung gegen die Theologie bzw. Religion und den Anthropomorphismus. Insofern Demokrits System aus der Sicht Langes ein hohes Maß an kritischer Rationalität eigen ist, charakterisiert er Demokrit als einen Denker, von dem eine nachhaltige ,,aufklärende[...] Wirkung"37 ausgehe; da für ihn Demokrit der erste Denker des Abendlandes überhaupt ist, der einen der Aufklärung verpflichteten Standpunkt bezieht, ist er für ihn denjenige, der mit dem mythisch-religiösen Weltbild als erster gebrochen38 bzw. den „Götter- und Dämonenspuk [...] mit einem einzigen
:
28 29 30
31
2
33 34 35
36 37 38
Dazu: Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus, 311. Der Imperativ lautet: „Diese Welt unsrer Vorstellungen, unsrer Interessen, unsrer Forschungen, ist unsre gegebene Welt. Begnüge dich mit derselben! Nichts Absolutes können wir uns vorstellen" (391). Ebd., 345. Ebd., 554f. Vgl. ebd., 402. Dazu seine Bemerkung: „.Begnüge dich mit der gegeben[en] Welt' ist der sittliche Kanon, den der Materialismus erzeugt hat" (KGW, NF, I, 4, 394). Hier ist zu betonen, dass nach Lange und Nietzsche bei aller Wertschätzung der Erkenntnisse der Materialisten dem transzendentalistisch-idealistischen Standpunkt Priorität zukommt ( Vgl. Jörg
Salaquarda, „Nietzsches Kritik", 37ff.).
Ebd., 68. Ebd. 33. Vgl. ebd. 44. Ebd., 8. Ebd., 67. Vgl. ebd., 4f.
Nietzsche und die antike Aufklärung
235
grossartigen Zuge beseitigt"39 und das System entworfen habe, mit dem sich im abendländischen Denken der Übergang vom Mythos zum Logos vollzogen habe. Da er nach Lange als erster einen der Aufklärung bzw. der kritischen Rationalität verpflichteten Standpunkt bezieht und somit der ,erste'40 ist, der von der ,Gesetzmässigkeit und Nothwendigkeit des Weltganges' ausgeht, lässt er sich als Urahn heutiger experimenteller Naturwissenschaften bezeichnen.41 Letzteres zeigt für Lange seine Modernität an.42
Besonderes
Augenmerk
im Hinblick auf Demokrits Atomtheorie richtet
Lange
auf
dessen, jede mythisch-religiöse Bezugnahme vermeidende, Erklärung der Entstehung der Welt durch eine Wirbelbewegung der Atome43 sowie auf die Auffassung von der Entstehung der Sprache: dass Sprache dem Menschen nicht „von Natur" gegeben, sondern ein Produkt menschlichen Übereinkommens sei.44 Demokrits Ethik erwähnt Lange nur beiläufig; sie sei eine Vorform der Ethik Epikurs, eine „mannhaftere Form der späteren
Hedonik".45
Bezeichnend ist für
Lange,
dass Demokrit
aufgrund
seines erkenntniskritisch-
aufklärerischen, besonders wegen seines antiteleologischen Standpunktes bereits beim
tiefsinnigen spekulativen Dichter'46 Piaton auf Ablehnung gestoßen ist. In diesem Zusammenhang verweist er im impliziten Anschluss an die Demokrit-Darstellung bei Diogenes Laertius auf die von Aristoxenus überlieferte „Sage, dass Plato in fanati-
schem Eifer alle Werke des Demokrit habe aufkaufen und verbrennen wollen".47 Diese entschiedene Ablehnung findet sich nach Langes Auffassung bei Aristoteles wieder und reicht über das vom Christentum geprägte Mittelalter, in dem ein „schwerer Schatten" auf den gesamten Materialismus gefallen sei und für das Demokrit sowie Epikur das schroffe „Gegenbild der christlichen Anschauung"48 darstellten, bis in unsere Tage, wie die Philosophiegeschichte von Heimich Ritter zeige.49 Lange versteht seine entschiedene Bezugnahme auf den Materialismus Demokrits (wie auf den Materialismus überhaupt) und sein aufklärerisch-kritisches Potential als dessen Rehabilitation. Deshalb stellt er am Ende des ersten Abschnittes rückblickend fest: „Es handelte sich darum zu zeigen, wie mit dem Materialismus nicht die geistige Nacht hereinbrach", sondern eine „Fülle von Licht" 50, d. h. Aufklärung. Im übrigen ist aus der Sicht Langes festzuhalten, dass das materialistische System Demokrits, so sehr es der Aufklärung und kritischen Rationalität verpflichtet ist, wie jedes materialistische System an einem 39
40 41
42 43 44 45 46 47
48 49
50
Ebd., 68.
Vgl. ebd., 33. Vgl. ebd., 33, 67f. Ders., ebd., 67f.
Vgl. ebd.
8.
Vgl. ebd.
66.
Ders., ebd., 15, 28ff. Ders., ebd. 9. Ders., ebd., 12. Vgl. Diog. Laert. IX, 40. Ebd., 80. In diesem Sinne stellt er fest: „In neuerer Zeit hat Ritter in seiner Geschichte der Philosophie ein volles Gewicht antimaterialistischen Grolles auf Demokrits Andenken Ebd., 64.
gehäuft [...]" (ebd., 12).
Konstantin Broese
236
bestimmten Punkt in Dogmatismus umschlägt, insofern auch für dieses der ,,naive[...] Glaube[...] an die Sinnenwelt"51 und eine auf dieser Grundlage stehende philosophische „Gesamtanschauung des Weltganzen"52 mit Wahrheitsanspruch charakteristisch
ist.53
Nietzsches Aufzeichnungen und Entwürfe zu Demokrit in seiner Leipziger Studienzeit stehen im Zusammenhang mit seiner Absicht, eine Demokrit-Abhandlung zu schreiben.54 Die hier in Rede stehenden Aufzeichnungen und Entwürfe sind zunächst philologischer Art und erwachsen aus seiner Beschäftigung mit Diogenes Laertius.55 Wichtige Anregungen für seine philologische Beschäftigung mit Demokrit erhält Nietzsche vor allem zu Beginn durch seine Lektüre der Arbeiten von Valentin Rose.56 Von entscheidender Bedeutung für den vorliegenden Aufsatz ist die von Barbara von Reibnitz festgestellte Tatsache, dass sich ,,[i]n das philologische Interesse [Nietzsches an Demokrit, K. B.] [...] sehr bald das philosophische" „mischt[ ]"57, dass hierbei Nietzsches Lektüre der Geschichte des Materialismus von Lange eine Schlüsselstellung zukommt.58 Diese und die der Lektüre Demokrits wird daran deutlich, dass Nietzsche in einem Brief an den Freund Carl von Gersdorff (16. 2. 1868) die Absicht äußert, Lange seine geplante „Demokritabhandlung als Zeichen meiner Dankbarkeit [zu] schicken" (KGB I, 2, 258) und im Leukipp und Demokrit gewidmeten §15 der Baseler Vorlesungsaufzeichnungen zu den „vorplatonischen Philosophen" ausdrücklich auf Langes Geschichte des Materialismus verweist (vgl. KGW II, 4, 335).59 Dem angesprochenen Interesse Nietzsches an Demokrit, wie es sich in seinen nachgelassenen Manuskripten
51
52 3
54
5
Ebd., 483. Ders., ebd., 60. Es liegt auf der Hand, dass Lange mit dieser Auffassung Demokrit nicht gerecht wird, wenn man dessen grundsätzlichen Zweifel am Wahrheitsgehalt jeder sinnlichen Wahrnehmung beachtet und den sich in diesem Zweifel andeuteten Skeptizismus berücksichtigt. Die Abhandlung kommt nicht zustande. Wie aus einem Brief an Erwin Rohde vom 3. 11. 1867 und einigen Notizen hervorgeht, verfolgt Nietzsche eine Zeitlang die Absicht, aus der geplanten Demokrit-Abhandlung einen Beitrag für eine geplante, jedoch nicht realisierte Festschrift zu Ehren seines Lehrers Friedrich W. Ritschi zu machen (vgl. KGB I, 2, 232; KGW, NF, I, 4,466,
537).
Zu Nietzsches Laertius-Studien: Marcello Gigante, „Friedrich Nietzsche und Diogenes Laertius", in: Tilman Borsche/Federico Gerrantana/Aldo Venturelli (Hg.), Centauren-Geburten ". Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin/New York 1994, 3-16; Jonathan Barnes, „Nietzsche and Diogenes Laertius", in: Nietzsche-Studien Bd. 15 (1986), 16-40. Vgl. James I. Porter, Nietzsche and the Philology, 32-81. Vgl. Barbara von Reibnitz, Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche, „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik" (Kap. 1-12), Stuttgart/Weimar 1992, 21. Vgl. dies., ebd., 21f. Außerdem: Paolo DTorio, „L'image des philosophes préplatoniciens chez le jeune Nietzsche", in: Tilman Borsche/Federico Gerrantana/Aldo Venturelli (Hg.), „CentaurenGeburten". Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, 384; James I. Porter, Nietzsche and the Philology, 32-62 u. 82-126; Hans Gerald Hödl, Der letzte Jünger, 287-294. Nietzsches Darstellung Demokrits, außer in PHG, ist stark an seinen Leipziger Studien zu Demokrit orientiert (dazu Hans Gerald Hödl, Der letzte Jünger, 291, Anm. 1024). „
56 7
58
59
Nietzsche und die antike Aufklärung
237
Leipziger Studienzeit niederschlägt, unter besonderer Berücksichtigung der Bedeutung Langes gilt jetzt das eingehende Interesse. Zunächst ist festzuhalten, dass Nietzsches Aufzeichnungen zu Demokrit anders als Langes Auseinandersetzung mit diesem zuweilen die Tendenz erkennen lassen, auf die Persönlichkeit Demokrits abzuheben. In diesem Sinne spricht er in dem genannten Brief
aus
seiner
an seinen Freund Gersdorff davon, dass es ihm darauf ankomme, „ein neues Gesammtbild der bedeutenden Persönlichkeit Demokrits" (ebd., 255) zu zeichnen. Dass Nietzsche im Gegensatz zu Lange verstärkt auf die Persönlichkeit Demokrits abhebt, ist Folge seiner Anknüpfung an die biographische Orientierung des Diogenes Laertius.60 Nietzsche geht mit Lange davon aus, dass sich das dem Materialismus eigene Potential an kritischer Rationalität besonders bei Demokrit findet. Letzteres macht er, ausgehend von Lange, daran fest, dass Demokrit auf die Welt der „Erscheinungen" (KGW, NF, I, 4, 413) Bezug nimmt, einen „wissenschaftlichen Charakter" (ebd.) hat, d. h. eine „[sjtrenge Wissenschaftlichkeit und Methodik" (ebd., 379; vgl. ebd., 413f.) verfolgt, „ohne in schwierigen Momenten einen deus ex machina herbei[zujziehn" (ebd., 413) sowie im Anschluss an Empedokles (vgl. ebd., 393) eine entschiedene Gegenposition zur Teleologie (vgl. ebd., 399) und der mit ihr verbundenen theologisch-anthropomorphen Implikationen bezieht.61 Dazu im Zusammenhang bestimmt Nietzsche ihn als eine Person, die mit „Hingabe" (ebd.), mit innerer Begeisterung der kritischen Rationalität folgt, und er kommt zu folgendem eindringlichen Resümee: „Demokrit eine schöne griechische Natur, wie eine Statue scheinbar kalt, doch voll verborgener Wärme" (ebd., 414). Insofern Demokrits Weltkonzeption aus der Sicht Nietzsches wie aus der Langes ein großes Potential an kritischer Rationalität involviert, begreift er ihn mit Lange als entschiedenen Verfechter antiker Aufklärung. Da Nietzsche analog zu Lange davon ausgeht, dass Demokrit der erste Denker des Abendlandes überhaupt ist, der einen durch kritische Rationalität bestimmten Standpunkt bezieht, kommt er wie dieser zu dem Ergebnis, Demokrit sei der „Vater aller aufklärenden, rationalistischen Tendenzen" (ebd., 504; vgl. ebd., 462) und der erste, der streng alles Mythische ausschließt (vgl. ebd., 416, 413), derjenige, in dessen Denken sich im Abendland der Übergang vom Mythos zum Logos vollzieht. Er macht im Anschluss an Lange deutlich, dass Demokrit der Urahn der heutigen experimentellen Naturwissenschaften ist (vgl. ebd., 413f). Deutlicher als Lange verweist Nietzsche auf die Modernität Demokrits (vgl. ebd., 461). Im Hinblick auf Demokrits Atomismus ist für Nietzsche wie für Lange (und Schopenhauer) dessen Theorie von der Entstehung der Welt aus einem Wirbel (vgl. ebd., 380) von besonderem Interesse; wichtig ist ihm unter explizitem Hinweis auf Lange, dass Demokrit über ihre Entstehung „völlig aufgeklärt" (ebd., 394), d. h. ohne Rekurs auf eine transzendent-mythische Dimension, denkt.62
61
62
Vgl. Barbara von Reibnitz, Ein Kommentar, a. a. O., 20. An Nietzsches Beschäftigung mit dem Themenkreis Teleologie im Rahmen seiner DemokritStudien schließen sich unmittelbar seine geplante philosophische Dissertation mit dem Titel „[D]er Begriff des Organischen seit Kant" (KSB I, 2, 269) bzw. seine mit Blick daraufgeschriebenen und von Lange beeinflussten Notizen Zur Teleologie an (vgl. KGW, NF, 1/4, 549-578). Nietzsche bezieht sich auf Friedrich Albert Lange, Geschichte des Materialismus, 390. Die Bezugnahme ist allerdings nur sehr mittelbar.
238
Konstantin Broese
Nietzsche
geht davon aus, dass in Demokrits Ethik die „Wurzel" (ebd., 469) oder der „Schlüssel" (ebd., 462) der Gesamtkonzeption Demokrits liege und diese dergestalt eine „ethische Wendung" (ebd., 416) impliziere.63 Zu dieser Akzentuierung der Ethik Demokrits kommt Nietzsche, insofern er von Epikurs Auffassung ausgeht, dass der Atomismus kein Selbstzweck sei, sondern unter einem übergeordneten Ziel stehe, dem der Eudaimonia.64 Dass Nietzsches (Re-)Konstruktion der Ethik Demokrits in erster Linie auf dem Hintergrund seiner Beschäftigung mit Epikur zu sehen ist, deutet er selber an, wenn er feststellt, dass ,,[m]an [...] Demokrits System aus Epikur wieder herstellen" (ebd., 393) müsse, und in demselben Fragment auf die Darstellung des „eth. Standpunktes] Epikur[s]" (ebd.) in Langes Geschichte des Materialismus verweist. Letzteres geht zudem aus seiner Bemerkung hervor, dass nach Demokrit „die eudaimonia in die furchtlose Betrachtung der Dinge: dh. wissenschaftliche Studien" (ebd., 378; vgl. ebd., 413) zu setzen sei.65 Die von Nietzsche (re-)konstruierte Ethik Demokrits lässt aus seiner Sicht sehr deutlich den Aufklärer Demokrit erkennen, insofern in ihr dessen Bestreben zum Ausdruck komme, den Menschen von allem Glauben an mythischtranszendente Instanzen und der Furcht vor diesen zu befreien (vgl. ebd., 413f.).66 Dass aus Nietzsches Sicht die ethischen Fragmente besonders auf den Aufklärer Demokrit verweisen, geht aus der Bemerkung hervor: „Die ethis[c]hen Fragm. haben zum Theil einen freien weltmännischen Ton u[nd] eine schöne Form. Sie riechen nicht nach Stoicismus, noch nach überfliegendem Piatonismus" (ebd., 385).67 Ähnlich wie Lange beklagt Nietzsche, dass Demokrit schon im Altertum wegen seines der Aufklärung verpflichteten Standpunktes auf entschiedene Ablehnung gestoßen sei. In diesem Kontext akzentuiert er wesentlich stärker als Lange die Gegnerschaft zwischen Piaton und Demokrit und die Sage, dass Piaton die Schriften Demokrits verbrennen wollte (vgl. ebd., 212). Piaton ist für Nietzsche ein exponierter Vertreter antiker Gegenaufklärung, wobei er diesen, verstanden als ,Begriffsdichter' im Anschluss an den Piaton-Verehrer Schopenhauer, (noch) positiver einschätzt als Lange, wie sein von Schopenhauer übernommener Ausdruck vom ,,göttliche[n] Piaton" (ebd.,
In Langes Reflexion auf die Ethik deutet sich die Auffassung zwar an, doch geht Nietzsche weit über sie hinaus und zugleich an Demokrit vorbei; andererseits macht er mit ihr auf etwas aufmerksam, was die neuere Demokritforschung (im Anschluss an Paul Natorp und G. Vlastos) betont, dass ein enger Zusammenhang zwischen seiner Atomlehre und den ethischen Schriften besteht. Sie ist nach Epikur durch Seelenruhe und körperliche Schmerzlosigkeit konkret bestimmt, wobei festzuhalten ist, dass der Mensch durch die Befreiung von der Götterfurcht, dem Tod bzw. allem Ungewissen zur Seelenruhe geführt werden soll. Nietzsche geht im Anschluss an seine Lektüre des Holbach-Kapitels der Geschichte des Materialismus von Lange davon aus, dass ,,[a]lle Materialisten glauben daß der Mensch unglücklich sei, weil er die Natur nicht kenne" (KGW, NF, I, 4, 386). Ein wichtiger Bezugspunkt des von Nietzsche akzentuierten aufklärerischen Potentials der Ethik Demokrits im Ausgang von Epikurs Ethik ist wiederum Lange, insofern dieser im ersten Abschnitt seiner Geschichte des Materialismus herausstellt, dass die „Befreiung [...] der Nerv des epikureischen Systèmes" (37) sei. Hans Gerald Hödl macht deutlich, dass in der Feststellung Nietzsches später gern angewandte Typologie nach Reinlichkeit, Sauberkeit, gutem Geruch anklingt (vgl. Der letzte Jünger, 292).
Nietzsche und die antike Aufklärung
239
504) zeigt. Bemerkenswert ist, dass Nietzsche, anders als Lange, auch die Gegnerschaft Demokrit und Sokrates betont (vgl. ebd., 399, 483).68 Hier wird deutlich, dass er
von
bereits in seiner Studienzeit Sokrates besondere Aufmerksamkeit schenkt und der negative Aspekt seines späteren Sokrates-Bildes schon vorhanden ist. Im übrigen stellt Nietzsche deutlicher als Lange die Gegnerschaft zwischen Demokrit und Sokrates bzw. Piaton heraus, indem er auf deren unterschiedliche Einschätzung der Teleologie verweist. Die Wurzel dieses Gegensatzes liegt aus seiner Sicht darin, dass Sokrates und Piaton ein Ideologisches, d. h. theologisch-anthropomorphes Weltbild vertreten, während Demokrit ein der Aufklärung verpflichtetes antiteleologisches, ein alle theologisch-anthropomorphen Bezüge negierendes Weltbild entwirft (vgl. ebd.). Ähnlich wie Lange prangert er die Ablehnung Demokrits und Epikurs durch das als Gegenaufklärung schlechthin verstandene Christentum an, wobei er darauf abhebt, dass dem Christentum beide „als das inkarnirte Heidenthum erscheinen" (ebd., 505) und es diesem gelungen sei, „den energischen Plan Piatos" zur Verbrennung der Schriften Demokrits „durchzuführen" (ebd., 504);69 in der späten Realisierung des Plans Piatons durch das Christentum sieht Nietzsche die „größte Bosheit des Supranaturalismus" (ebd., 461). Es wird deutlich, wie tiefgehend Nietzsches Distanz zum Christentum in seiner Leipziger Studienzeit ist.70 Für Nietzsche kommt es im Rahmen seines erkenntniskritischen Ansatzes mit Lange darauf an, sich gegen die seit der Antike festzustellende Verachtung des antiken Materialismus bzw. der antiken Aufklärung zu wenden und diesen zu rehabilitieren. Im Mittelpunkt steht dabei für ihn, stärker als bei Lange, Demokrit als Märtyrer der Wissenschaft' (vgl. ebd., 403) bzw. der Aufklärung: „Wir sind Demokrit noch viele Todtenopfer schuldig, um nur einigermaßen wieder gut zu machen, was die Vergangenheit an ihm verschuldet hat" (ebd., 504). Im übrigen ist festzuhalten, dass für Nietzsche ähnlich wie für Lange das materialistische System Demokrits zwar in hohem Maße der kritischen Rationalität bzw. der Aufklärung verpflichtet ist, jedoch in Dogmatismus umschlägt, wo es dem naiven Realismus verfallt und ein philosophisches Weltmodell mit Anspruch auf letzte Wahrheit entwirft. So wendet sich Nietzsche gegen Demokrits Gleichsetzung von Materie und Ding an sich (vgl. ebd., 381), wie er unter Zuhilfenahme Kantischer Termini sagt, und gegen dessen Glauben (vgl. ebd., 413), dass „das Räthsel der Welt gelöst" (ebd., 416) zu haben und „die letzte Erkenntniß erreicht" (ebd., 413) sei. Insofern Demokrit aus der Sicht Nietzsches diesen Glauben vertritt, ist er für ihn im Anschluss an Lange nur ein großartiger Poet' (vgl. ebd., 379f), jemand, für den ein „dichterische[r] Schwu[n]g" ,
Lange verweist im ersten Abschnitt seiner Geschichte des Materialismus nur darauf, dass „Socspiritualistische Richtung" (22) anbahnt, die „mannichfach modificirt, in den Systemen des Plato und Aristoteles das folgende Jahrhundert beherrscht" (22). Im selben Manuskript heißt es mit Blick auf Demokrit, dass die „Theologen und Metaphysiker [...] auf seinen Namen ihren eingewurzelten Groll gegen den Materialismus gehäuft" (KGW, NF, I, 4, 504) haben. Damit greift Nietzsche Langes Bemerkung zu Ritter auf. (Vgl. Hans Gerald Hödl, Der letzte Jünger, 290). Dazu Hans Gerald Hödl, Der letzte Jünger, 293. rates eine
240
Konstantin Broese
(ebd., 414) „auffällig" (ebd.) ist.71 Im übrigen stellt Nietzsche wesentlich stärker als Lange die Kehrseite der kritischen Rationalität Demokrits heraus, indem er feststellt, dass sich diesem in seinem unbedingten Vertrauen zu der Schlusskraft der ratio (ebd., 414) bzw. in seinem Glauben an die Unbegrenztheit rationaler Erkenntnis (ebd.) die „tieferen Probleme" (ebd., 413) verbergen, so dass er „mit dem Aufbau der Welt u. der Ethik zu schnell fertig" (ebd.) werde. Diese Charakterisierung Demokrits als eines eingefleischten Rationalisten' (ebd., 462) bezieht Nietzsche in seiner Baseler Zeit primär
nicht auf diesen, sondern auf Sokrates. Zusammenfassend, auch auf die Gefahr der Wiederholung, ist festzuhalten: Auf dem Hintergrund der dargestellten Zusammenhänge wird deutlich, dass sich Nietzsche in seiner Leipziger Studienzeit im Anschluss an Lange das erkenntniskritischaufklärerische Potential des Materialismus Demokrits erschließt bzw. aneignet und sich zugleich von dessen dogmatischen Zügen löst. Nietzsches Aneignung dieses Potentials ist für seine spätere Erkenntniskritik wegweisend; es enthält bereits viele ihrer zentralen Elemente, die Ablehnung einer metaphysischen Hinterwelt, die Befreiung von allen mythisch-transzendenten Instanzen, die Akzentuierung der strengen naturwissenschaftlichen Methodik sowie das Insistieren auf einem strikt antiteleologische Standpunkt.
Hier ist
anzumerken, dass Nietzsche in einem früheren Manuskript aus der Leipziger Studienzeit
(im Gegensatz zu Lange) den skeptizistischen Aspekt in Demokrits System akzentuiert. Im Manuskript heißt: „Man möge doch in Demokrit nicht den Idealisten verkennen. Sein Hauptsatz bleibt ,das Ding an sich ist unerkennbar' u. das trennt ihn von allen Realisten auf immer" (KGW, NF, I, 4, 222). An anderer Stelle des Manuskripts steht unter Bezugnahme auf die Darstellung Epikurs bei Cicero bzw. diejenige Demokrits bei Sextus Empiricus: „Die Sinne lehren nach Epikur durchaus die Wahrheit [...]. Nach Demokrit erkennen wir die Wahrheit überhaupt nicht" (ebd., 222). Auf diesen Aspekt kommt Nietzsche in seinen späteren Aufzeichnungen (wahrscheinlich unter dem sich verstärkenden Einfluss Langes) nicht mehr zurück.
Christian Wollek
Nietzsche und das Problem des Sokrates
1. Einleitung Auf den ersten Blick scheint die Zusammenstellung von Nietzsche und Sokrates nur die wiederholte Aufnahme von etwas zur Genüge Bekanntem zu sein: Jeder, der sich mit Nietzsche beschäftigt, weiß um die schwierige, von Polemik und Kritik gekennzeichnete Beziehung Nietzsches zu Sokrates, die sich seit den Vorstudien zur Geburt der Tragödie als roter Faden durch sein Werk zieht und ihren Gipfel in der Götzendämmerung, in dem mit Das Problem des Sokrates überschriebenen Kapitel findet. Auf der anderen Seite entspricht dem philosophischen Konsensus hinsichtlich der Bedeutung von Sokrates für Nietzsche eine nur geringe Anzahl von Schriften, die sich explizit mit diesem Verhältnis beschäftigen. Abgesehen von zahllosen Streiflichtern und Verweisen in wissenschaftlichen Periodika und tendenziösen Werken wie von Ernst Sandvoss,1 ist eigentlich nur die große Monographie von Hermann Josef Schmidt zu nennen, die das Verhältnis von Nietzsche zu Sokrates durch sein Gesamtwerk hindurch verfolgt.2 So ist bereits die Ausgangslage zwielichtig: Bekanntheit und anerkannte Wichtigkeit des Themas stehen in einem merkwürdig proportionierten Verhältnis zu Zahl und Aktualität wissenschaftlicher Publikationen (Schmidts Monographie datiert 1969). Dass es sich bei .Nietzsche und Sokrates' aber um ein Thema handelt, das einen Königsweg für das Verständnis Nietzsches weist, zeigt sich in seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit Sokrates: Wer so stark polemisiert wie er gegen Sokrates, ohne sich dabei von seinem Gegner lösen zu können, macht sich, dies würde er selbst so sehen, verdächtig, dass ihm insgeheim an der befehdeten Sache mehr oder anderes liegt, als er zu sagen bereit oder fähig ist. Nietzsche als Aufklärer der Ressentiments, als Entlarver der geheimen Gedanken des Piatonismus, des Christentums und der
Sandvoss, Sokrates und Nietzsche, Leiden 1966. Sandvoss spielt den idealistisch-platonischen .guten' Sokrates gegen den atheistisch-kranken Nietzsche aus.
Ernst 2
Hermann Josef Schmidt, Nietzsche und Sokrates, Meisenheim am Glan 1969. Schmidt vermag, bei aller deskriptiven Genauigkeit, Sokrates nicht als Selbstprojektion Nietzsches zu fassen.
Christian Wollek
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christlichen Moral ist bis auf wenige Momente auffällig blind für sein eigenes Verhältnis zu Sokrates.3 Anders ausgedrückt: Es könnte der interessante Fall eingetreten sein, dass Nietzsche als Bekämpfer des Ressentiments par excellence selbst einem Ressentiment erlegen ist, dass das ,Problem des Sokrates' auf ein zentrales Problem Nietzsches selbst verweist. Es deutet sich an, dass die Klärung seines Verhältnisses zu Sokrates eine vielleicht philosophisch ungebührliche Verschiebung der Untersuchung von einem philosophischen auf einen psychologischen Schwerpunkt erfordert. Auf jeden Fall soll Nietzsches Verhältnis zu Sokrates, so die These, wesentlich als projektives Verhältnis dargestellt werden.4 Es soll gezeigt werden, wie sich die Auffassung von Sokrates als Selbstprojektion Nietzsches im Frühwerk, namentlich in der Geburt der Tragödie, fassen lässt und welche Bedeutung dieses Denken des Sokrates für das weitere Werk Nietzsches hat.
2. Philosophisches und Psychologisches In der Nietzscheforschung gibt es eine lange Problemgeschichte, die das Verhältnis psychologischer und philosophischer Deutungsansätze zu Nietzsche betrifft und die sich heute noch in einem Unbehagen der Philosophie psychologischen Ansätzen gegenüber manifestiert. Doch könnte die Aufspaltung der Beschäftigung mit Nietzsche in philosophische und psychologische Ansätze dem Gegenstand des Forschens und Suchens gera-
de nicht angemessen sein: Wer Nietzsche fassen will, muss mit ihm denkerisch, d. h. vor allem methodisch, auf Augenhöhe bleiben. Dies bedeutet, dass man mit ihm immer auch psychologisch zu denken hat, psychologisch nicht in einem modern-wissenschaftlichen, sondern in ursprünglichem, .vorarbeitsteiligem' Sinne. Nietzsches Affinität zu Heraklit hat nicht nur in dessen Lehre von der ,Einheit der Gegensätze' und vom Fließcharakter des Seins eine Entsprechung, sondern im „eoiCnoaun euecouxov",5 wobei das „8iÇna0ai" Heraklits bei Nietzsche zur Vivisektion wird: „Hybris ist unsre Stellung zu uns, denn wir experimentieren mit uns, wie wir es mit keinem Thiere erlauben würden, und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf -
(KSA, GM, 5, 357). Bei der Beschäftigung mit Nietzsche verliert die Aufteilung der Philosophie in verschiedene Wissensgebiete und Disziplinen weitgehend ihren Sinn. Nietzsche denkt,
4
5
Eine dieser Stellen findet sich Nachlass aus dem Sommer 1875: „Socrates, um es nur zu bekennen, steht mir so nahe, dass ich fast immer einen Kampf mit ihm kämpfe" (KSA, NF, 8, 97). Soweit ich sehe, ist Nietzsches Denken als projektiv, d. h. als Selbstdarstellung explizit nur von Ernst Bertram gedeutet worden, in neuerer Zeit von Volker Gerhardt und Wiebrecht Ries (Ernst Bertram, Nietzsche, Berlin 1919, 308-341; Volker Gerhardt, „Nietzsches Alter-Ego. Über die Wiederkehr des Sokrates", in: Nietzscheforschung, Bd. 8 (2001), 315-333; bei Ries ist im weiteren Sinne von Projektion die Rede (Wiebrecht. Ries, Nietzsche für Anfänger. Die Geburt der Tragödie, München 1999,
31).
Heraklit: „Ich erforschte mich selbst"
(DK 22 B
101 ).
Nietzsche und das Problem des Sokrates
243
ideengeschichtlichen Anleihen, philosophisch ,ursprünglich'6 im Sinne der vorsokratischen Philosophen, bei denen sich Psychologie, Kosmologie, Erkenntnistheorie und Theologie noch in einem Mit- und Ineinander befanden.7 Eine Trennung von psychologischen und philosophischen Einsichten Nietzsches greift, so befruchtend sie für die Einzeldisziplinen sein mag, immer schon zu kurz, wenn es um ein Verständnis für Nietzsche als Philosophen und einer Deutung seiner Philosophie im Ganzen geht. So deutet Nietzsche, der sich als „Seelen-Errather" (KSA, JGB, 5, 222) und „Nussknacker der Seele" (KSA, GM, 5, 358) sah, in Jenseits von Gut und Böse die „Vorurteile der Philosophen" als psychologische Projektionen', als „Selbstbekenntnis ihre[r] Urheber[...] und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires" (KSA, JGB, 5, 19). .Psychologie' ist für Nietzsche, spätestens seit den aphoristischen Werken der mittleren Periode und besonders ausgeprägt im Spätwerk, eine Perspektive, der der Philosoph zur Selbstaufklärung bzw. zur Entlarvung von Irrtümern selbstverständlich bedarf.
trotz aller
3. Der
projektive
Charakter
von
Nietzsches Denken. Sokrates und das
Sokratische
Nietzsches psychologisches' Denken findet sich nicht nur in den Werken der mittleren Periode oder im Spätwerk, in denen er sich explizit als Psychologe zeigt, sondern indirekt, subtil und versteckt schon in den frühen Schriften. Die These vom projektiven Charakter von Nietzsches Denken soll, auf Sokrates angewendet, an der Geburt der Tragödie demonstriert werden, wo sich Nietzsche einem historischen Gegenstand, der Entstehung der attischen Tragödie und ihrem Untergang, auf unkonventionelle Weise
nähert.8
6
Nietzsches Fähigkeit zu „ursprünglichem Staunen" jenseits von „Schultraditionen" beschreibt Volker Gerhardt in: Pathos und Distanz. Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Stuttgart 1988, 9. „Will man sie [die Vorsokratiker, Ch. W.] als eine Art Prolog auffassen, dann sind sie der Prolog der abendländischen Philosophie überhaupt. Es sind die Denker der Frühzeit, und ihre Philosophie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie ebenso als Physik zu uns spricht, gesetzt freilich, man denkt diesen Begriff aus dem Wesen der griechischen