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German Pages [415] Year 2009
Nietzscheforschung Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft Band 7
Nietzscheforschung Jahrbuch der Nietzsche-Gesellschaft Herausgegeben Volker Gerhardt und Renate Reschke
von
in Zusammenarbeit mit
J0rgen Kjaer Jacques Le Rider Annemarie Pieper Robert B. Pippin und Vivetta Vivarelli
A
mm Akademie
Verlag
Band 7
Drucklegung erfolgte mit Unterstützung der Landesregierung Sachsen-Anhalt (Regierungspräsidium Halle) Die
Redaktion: Silke Erler
Einbandgestaltung unter Verwendung des Bildes von Rolf Xago Schröder:
Das Gerücht Friedrich N.
Die Deutsche Bibliothek CIP-Einheitsaufnahme -
Nietzscheforschung : ein Jahrbuch / hrsg. im Auftr. der Förder- und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche e.V. -
Berlin : Akad. Verl. Erscheint jährl.- Aufnahme nach Bd. 1
Bd. 1
(1994)
(1994)-
ISBN 3-05-003505-6
© Akademie Das
Verlag GmbH, Berlin 2000
eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706.
Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. -
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Satz: Dr. Frank Hermenau, Kassel Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Printed in the Federal
Republic of Germany
Langensalza
Inhalt
Siglenverzeichnis.9
I.
Vorträge
„Nietzsche und die Zukunft der Bildung". Internationale Tagung der Nietzsche-Gesellschaft, Naumburg
(16./17.10.1999)
Christian Niemeyer (Dresden) Wie wurde mit Nietzsche im 20. Jahrhundert Bildungspolitik gemacht? Ein Rückblick auf gut einhundert Jahre Rezeptionsgeschichte.13
Karol Sauerland (Warschau/Thorn) Der Bildungsgedanke des jungen Nietzsche .31 Erwin Hufnagel (Mainz) Nietzsche als Provokation für die Bildungsphilosophie Versuch, den Griechischen Staat zu lesen.37
Alfred Schäfer (Halle) Genealogie Macht Bildung -
.59
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Ullrich Michael Haase (Manchester) Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten in bedürftiger Zeit.71 Peter André Bloch (Mulhouse) Der Dichter als Lehrer Friedrich Nietzsches pädagogische
Berufung.89
6
Inhalt
IL Forum 8. Nietzsche-Werkstatt Schulpforta Nietzsches sprachkritischer Pragmatismus
(8.-11.9.1999)
Pirmin Stekeler-Weithofer (Leipzig), Volker
Caysa (Leipzig) Einleitung.109 Pirmin Stekeler-Weithofer (Leipzig) Nietzsches ontologiekritische Sprachpragmatik .111 Knut Ebeling (Berlin) Freud, die Archäologie, die Moderne Die archäologische Methode als Antwort auf Nietzsches Repräsentationskritik .127 Lukas Labhart (Basel)
pro ommáton poiein Nietzsches Teilübersetzung von Aristoteles' Rhetorik, Zur Lehre vom Stil und Also sprach Zarathustra .141
Christof Kalb (Berlin)
Das „Individuelle" Humboldt, Gerber und Nietzsche über den Zusammenhang von Sprache und Subjekt 159 Henning Hahn (Hildesheim) Piatons Kratylos -Dialog in der Sprachkritik Nietzsches.177 Djavid Salehi (München/Passau) .
Nietzsches Kritik der Sprache und Metaphysik und ihre moralischen Implikationen Ein Versuch, Nietzsche als ethischen Relativisten zu lesen .187 Hans Gerald Hödl (Wien) Der Gott der Grammatik Die sprachkritische Fundierung
von
Nietzsches
Religionskritik.197
Udo Tietz
(Berlin) Phänomenologie des Scheins Nietzsches sprachkritischer Perspektivismus.215 Tom Seidel (Berlin) Sprach- und Erkenntniskritik bei Friedrich Nietzsche.243
Andreas Hütig (Mainz) Zur Individualität der Praxis Aspekte der Sprache bei Nietzsche und Cassirer.257
Claus Zittel (Frankfurt a.M.) Die Aufhebung der Anschauung im Spiel der Metapher Nietzsches relationale Semantik .273
Inhalt
1
Kai-Michael Hingst (Hamburg) Nietzsches pragmaticus Die Verwandtschaft von Nietzsches Denken mit dem Pragmatismus von William James.287 Sandro Zanetti (Altschwil) Nietzsches Verhör der Gerechten Bemerkungen zur Kunst und zur Sprache der Rache in
einigen Texten Nietzsches
....
307
III. Aufsätze Jörg Salaquarda (posthum)
Friedrich Nietzsche und die Bibel
unter besonderer
Berücksichtigung von Also sprach Zarathustra .323 Günter Figal (Tübingen) Kein Grieche und kein tragischer Gott Nietzsches Zarathustra-Dichtung zwischen Piaton und Richard Wagner.335 Gilbert Merlio (Paris) Burckhardt éducateur.343
Dieter Thomä (St. Glück und Person
Gallen)
Eine Konstellation bei Nietzsche und Max Weber .357
IV. Berichte und Informationen Hans-Joachim Koch (Gladenbach)
Begegnungen im Herbst.383 Uschi Nussbaumer-Benz (Zürich) Bericht über die 7. und 8. Konferenz der englischen Friedrich-Nietzsche-Society, St. Andrews, 5.-8. September 1997: „Nietzsche and the German Tradition"; und Greenwich, 11.-13. September 1998: „Nietzsche and Religion" .393 Drei
V. Miszelle Roland Rittig (Halle), Rüdiger Ziemann (Langenroda) Nietzsche und Ortlepps dämonisches Lied.
403
8
Inhalt
VI. Rezensionen George Bataille, Wiedergutmachung an Nietzsche. Das Nietzsche-Memorandum und andere Texte (Knut Ebeling).411 Nietzsche in Frankreich. Neuerscheinungen im 2. Halbjahr 1999 (Jacques Le Rider).416
VIL Gesamtinhaltsverzeichnis Jahrgänge
1-5/6 der Nietzscheforschung.
(Index)
Autorenregister (Silke Erler).411
Personenverzeichnis.429 Autorenverzeichnis .439
S iglenverzeichnis
Werkausgaben Werkausgaben nach den Kritischen WerkTBriefausgaben von Giorgio
Colli und Mazzino
Montinari, Berlin/New York 1967 ff. und 1980. KGW KGB KSA KSB
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Kritische Gesamtausgabe, Werke Kritische Gesamtausgabe, Briefe Kritische Studienausgabe, Werke Kritische Studienausgabe, Briefe
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sowie nach der Historisch-Kritischen HKGW HKGB
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Historisch-Kritische Historisch-Kritische
Gesamtausgabe Werke bzw. Briefe, München
Gesamtausgabe, Werke Gesamtausgabe, Briefe
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Siglen einzelner Werke AC BA CV DD DS
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DW EH FW GD GG GM GMD GT HL
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Der Antichrist Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten
ungeschriebenen Büchern Dionysos-Dithyramben Fünf Vorlesungen
zu
David Strauss, der Bekenner und der Schriftsteller
(Unzeitgemäße Betrachtungen 1) Die dionysische Weltanschauung Ecce homo Die fröhliche Wissenschaft
Götzen-Dämmerung Die Geburt des tragischen Gedankens Zur Genealogie der Moral Das griechische Musikdrama Die Geburt der Tragödie
Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben
(Unzeitgemäße Betrachtungen 2)
1933 ff.
Siglenverzeichnis
10 IM JGB M MA NF NW PHG SE
Idyllen aus Messina -
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SGT ST VM WA WB
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WL WS ZA WzM
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Jenseits
von
Gut und Böse
Morgenröthe
Menschliches, Allzumenschliches (I und II) Nachgelassene Fragmente Nietzsche contra Wagner Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen
Schopenhauer als Erzieher (Unzeitgemäße Betrachtungen 3) Sokrates und die griechische Tragödie Sokrates und die Tragödie Vermischte Meinungen und Sprüche Der Fall Wagner Richard Wagner in Bayreuth
(Unzeitgemäße Betrachtungen 4) Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne Der Wanderer und sein Schatten Also sprach Zarathustra
Wille zur Macht
I.
Vorträge
„Nietzsche und die Zukunft der Bildung" Internationale Tagung der Nietzsche Gesellschaft,
Naumburg (16./17.10.1999)
CHRISTIAN NlEMEYER
Wie wurde mit Nietzsche im 20. Jahrhundert
Bildungspolitik gemacht? Ein Rückblick auf gut einhundert Jahre
Rezeptionsgeschichte
Bedeutung Nietzsches für das Thema unserer Tagung1 ergibt sich nicht zuletzt aus seiner Prognose, daß es „irgendwann einmal gar keinen Gedanken geben [werde] als Erziehung." (KSA, NF, 8, 45) Die Bedeutung Nietzsches für das Thema unserer Tagung ergibt sich aber auch aus dem Gegenwartsdiskurs um das von Peter Sloterdijk angeregte „Zarathustra-Projekt".2 Denn insofern Sloterdijk, teilweise unter Berufung auf Nietzsche, in Zukunft meint verstärkt nicht von Erziehung, sondern von Züchtung reden zu müssen, könnte man seinen Ansatz als den wohl letzten Versuch im 20. Jahrhundert deuten, mit Nietzsche gegen Nietzsche Politik zu machen dies jedenfalls dann, wenn gilt, daß Nietzsche an Erziehung und nicht an Züchtung interessiert war. Um hier einer Antwort näherzukommen, scheint es zunächst hilfreich, in einem kurzen chronologischen Abriß die verschiedenen Versuche, wie mit Nietzsche Bildungspolitik gemacht wurde, Revue passieren zu lassen.3 Am Ende kann ich natürlich nicht umhin, erneut des Namens Sloterdijk zu gedenken. Die
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I. Die Zeit bis 1914 ich beginne mit der Zeit von 1890 bis 19144 war Nietzsche der zentrale Hoffnungsträger der Jugend. Sie las ihn als Vertreter „des aufsteigenden Leben", als Gegner eines „abstrakten Ideals", eines „ertötenden Dogmas", einer „heimlich mordenden vampyrartig blutaufsaugenden Autorität".5 Hinter dieser Zustimmung zu Nietzsche und zu Sätzen wie „Nichts ist wahr, alles ist erlaubt" verbarg sich eine Bildungserfahrung, die sich exemplarisch in den zentralen Schülerdramen der Epoche gespiegelt findet. Denn ob nun Frank Wedekinds Frühlings Erwachen (1891), Herrmann Hesses Unterm Rad (1905), Heinrich Manns Professor Unrat (1905) oder Robert Musils Die Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) Zunächst
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Bei dem hier vorliegenden Text handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung eines Vortrages, der am 16.10.1999 unter dem Titel „Wie wurde mit Nietzsche in diesem Jahrhundert Bildungspolitik gemacht?" auf der dem ThemaNietzsche und die Zukunft der Bildung gewidmeten Internationalen Nietzsche-Tagung der NietzscheGesellschaft e.V. in Naumburg gehalten wurde.
Thomas Assheuer, „Das Zarathustra-Projekt", in: Die Zeit, Nr. 36, 1999, 31 f. Es muß wohl kaum betont werden, daß ein derartiges Unterfangen in Verpflichtung steht gegenüber den einschlägigen Vorarbeiten Richard Krummeis. 4 Vgl. auch ChristianNiemeyer, „Nietzsche als Jugendverfuhrer. Gefährdungslage und Pädagogigisierungsoffensive zwischen 1890 und 1914", in: Christian Niemeyer, Heiner Drerup, Jürgen Oelkers u. Lorenz v. Pogrell (Hg.), Nietzsche in der Pädagogik?, Weinheim 1998, 96-119. 5 Michael G. Conrad, „Jugend!", in: Die Gesellschaft, H. 11 (1895), 1. 2 3
Christian Niemeyer
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immer war Nietzsche der Stichwortgeber der hier sich aussprechenden bildungs- und erziehungskritischen Tendenz. So betrifft um nur ein Beispiel zu geben eine der Verwirrungen des Internatsschülers Törleß den Umstand, daß dieser meinte, in Zukunft „auf die Hilfe philosophischer Bücher" verzichten zu müssen.6 Dies war das Ergebnis seines Versuchs, einen Text Kants zu verstehen ein Text, der ihm das Gefühl eingab, „als drehe eine alte, knöcherne Hand ihm das Gehirn in Schraubenwindungen aus dem Kopfe."7 Wie auf einen Schlag schwand Törleß auf diese Weise die Gewißheit, „daß von Kant die Probleme der Philosophie endgültig gelöst seien" und „daß es sich nach Schiller und Goethe nicht mehr lohne zu dichten."8 Expressis -
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verbis ist hier von Nietzsche zwar nicht die Rede. Und doch war er es, der schon in seiner Historienschrift (von 1874) gefordert hatte, daß man nicht nur „Erbe[ ] und Epigone[ ]" sein dürfe, sondern „Erstling[ ] und Vorbild[ ] aller kommenden Culturvölker" (KSA, HL, 1, 333) werden müsse. Und das erforderte die Einsicht, daß es sich eben doch und weiterhin lohne zu denken und zu dichten und sei es auch für den Preis der Ignoranz gegenüber dem Bildungskanon der Epoche. Entsprechend auch hat man den von Nietzsche formulierten „obersten Satz aller Bildung" zu verstehen, nämlich „daß man nur dem, der Hunger danach hat, eine Speise -
gebe!" (KSA, M, 3, 168) Auch bei Pädagogen war diese Botschaft um die Jahrhundertwende mitunter populär etwa wenn einzelne Lehrer eine „Jugenderziehung in dem der Jugend allein angemessenen Jugendstil" forderten und gegen den „Greisenstil" der Gegenwart9 zu Felde zogen. Derartige Argumente unterminierten das Bemühen der älteren Pädagogengeneration, weiterhin Zustimmung zu stiften zu der bildungspolitischen Absicht, die der von ihr propagierten ,Askese selbstverleugnender Arbeit"0 zumal im Rahmen eines altphilologisch dominierten Lehrplans unterlag. Sehr viel weitergehendere Akzente setzte die reformpädagogische Gründergeneration. Denn wenn um nur ein Beispiel zu geben Ellen Key ihr epochemachendes Werk Das Jahrhundert des Kindes mit dem Zarathustra-Motiv überschrieb, wonach es gelte, das Kinderland zu entdecken, dann verbarg sich dahinter zugleich auch die bittere Botschaft Nietzsches, derzufolge man sich als aus allen Vater- und Urväterländern vertrieben betrachten müsse und, in einem sehr umfänglichen Sinne, zur Stiftung und Begründung des Neuen aufgefordert sei. Die eine Strategie des pädagogischen Mainstream ging angesichts dessen dahin, Nietzsche als ,Modeschriftsteller" ' abzuwerten, die Lektüre seiner Schriften möglichst unter Kuratel zu stellen und ansonsten hoffhungsfroh zu skandieren: „Wenn der ,Übermensch' und die Um-
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wertung der Werte' und das Getöse, das die Nietzsche-Trabanten mit diesen Plakatwörtern
treiben, genugsam die Ohren des deutschen Volkes geplagt haben und zur Ruhe gekommen sein werden [...], dann wird [...] auch [...] die anmaßliche Respektlosigkeit der Jugend [...] auf das übliche und erträgliche Maß zurückgehen."12 Die andere Strategie bestand darin, zumindest den späten, moralkritischen Nietzsche zu verwerfen. Ersatzweise wurden Nietzsches 6 Robert Musil, Die Verwirrungen des Zöglings Törleß, Hamburg 1959, 131. 7 Ebd., 113. 8 Ebd., 111. 9 Franz Schmidt, Jugenderziehung im Jugendstil, Wiesbaden 1902, 27. 10 Ulrich v. Wilamowitz-Möllendorff, 1872, „Zukunftsphilologie!", in: Der Streit um Nietzsches „Geburt der Tragödie", zusammengest. u. eingel. v. Karlfried Gründer, Hildesheim u. a. 1989, 55. 11 Paul Natorp, Sozialpädagogik (1899), Stuttgart41920, 86. 12 Friedrich Paulsen, Pädagogik (1911), Stuttgart/Berlin 6-71921, 75.
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Bildungspolitik mit Nietzsche
über viele Jahre hinweg unveröffentlicht gebliebenen Bildungsvorträge von 1872, die sich kaum der reformpädagogischen Thematik einfügen ließen, immer deutlicher ins Zentrum gerückt.13 Akzeptabel schien hier vielen Nietzsches Forderung nach strengem Gehorsam „unter dem Scepter des Genius" (KSA, BA, 1, 680) sowie seine Bestimmung, wonach die „wahre Bildung" diejenige sei, „welche an der aristokratischen Natur des Geistes festhält" und die insofern nicht „Bildung des Masse" beanspruche, sondern „Bildung der einzelnen ausgelesenen, für große und bleibende Werke ausgerüsteten Menschen" (KSA, BA, 1, 698). Diese Konzentration auf den frühen Nietzsche setzte desweiteren eine gewisse, sich in der Kunsterziehungsbewegung artikulierende Zustimmung frei zu Nietzsches Definition von 1872/73, Kultur sei „vor allem Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes" (KSA, DS, 1, 163). Dieser Slogan, der die Forderung nach einer „Wiedergeburt der Erziehung und des Unterrichts aus dem Geiste der Kunst"'4 zu unterstützen schien, sollte zugleich der Begründung einer kulturtradierenden, „durch geläuterten Geschmack beherrschten Lebensführung"15 dienlich sein, die sich der Forderung nach Entwicklung einer „vaterländischen Kunst" einfügen ließ.16 Allerdings wurde die Befundlage in der Hauptsache durch dieses im übrigen überaus fragwürdige Entgegenkommen in Einzelheiten nicht verändert. Und so konnte denn auch Ludwig Gurlitt am Vorabend des Ersten Weltkrieges nur voll Bitterkeit resümieren: „Friedrich Nietzsche [...] wird von Seiten der Berufserzieher in Schule und Kirche noch heute wie ein gefahrliches Subjekt behandelt, vor dem man die Jugend sorgsam zu wahren habe. Wenn ein junger Mann verbummelt, Gelder unterschlägt, mit den Gesetzen in Konflikt kommt oder sich das Leben nimmt, so ist man gleich mit der Erklärung bei der Hand: ein Nietzsche-Leser."17 Hiermit war der Gefahrdungsdiskurs an ein Ende gekommen. Wenige Monate später sagte man mehrheitlich ja' zum Krieg. Und man begann nun rasch zu merken, daß sich mit dem Zarathustra im Tornister des Weltkriegssoldaten Politik für Deutschland machen ließ. -
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II. 1914-1918 Reformpädagogisch folgenreiche Nietzscheanismen ich denke nun an die Zeit des Ersten Weltkrieges18 lassen sich auch noch nach Kriegsausbruch identifizieren. Dies waren aber eher Einzelstimmen im Vergleich zu dem zumal von Förster-Nietzsche forcierten Bemühen, ihren Bruder als ,Kriegsphilosophen' aufzubereiten. Zu diesem Zweck warf sie das Theorem vom Willen zur Macht' in die Debatte. Unmittelbar vor dem Krieg war sich Julius Bap noch sicher, daß dieses Theorem dem ,,imperialistische[n] Machtwiüe[n] eines Staates ganz fern" -
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14 15 16 17 18
Vgl. Christian Niemeyer, „Nietzsches Vorträge ,Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten' im Kontext. Kritische Anmerkungen aus rezeptionsgeschichtlicher Perspektive mit Schwerpunkt auf Wagner, Lagarde und Langbehn", in: Vierteljahresschrift für Wissenschaftliche Pädagogik 75 (1999), 173-207. Otto Ernst, „Zur Renaissance der Pädagogik (1904)", in: Laßt uns unsern Kindern leben, Leipzig 1912, 62. Ernst Weber, Kunsterziehung und Erziehungskunst, Leipzig 1914,32. Wilhelm Rein, Bildende Kunst und Schule, Langensalza 1905,14; vgl. auch: Wolfgang Schrüer, Sozialpädagogik und die soziale Frage Der Mensch im Zeitalter des Kapitalismus um 1900, Weinheim/München 1999, 93. Ludwig Gurlitt, „Friedrich Nietzsche als Erzieher", in: Dasfreie Wort 13 (1914), 131. Vgl. auch Christian Niemeyer, „.Plündernde Soldaten'. Die pädagogische Nietzsche-Rezeption im Ersten Weltkrieg", in: Zeitschriftfür Pädagogik 45 (1999), 209-229.
Christian Niemeyer
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lag." Andere Interpreten hatten es sogar verdächtigt, nur als triebanaloge Chiffre zu dienen
für die von Nietzsche propagierte „selbstsüchtige Willkür"20 des einzelnen. Nun aber schien es so, als habe Nietzsche nichts anderes im Sinn gehabt als eine Art Kriegsmetaphysik, die „nach ihrem tiefsten Gehalt für die Deutschen unserer Tage geschaffen scheint".21 Zumal in Pädagogenkreisen begann man sich der Überzeugung anzunähern, daß „der viel verkannte und verlästerte ,Uebermensch' [...] durchaus deutsche Züge [trägt]."22 Mit dieser Ausdeutung des Übermenschenkonstrukts wurde Nietzsche als Verkünder „einer Genesung des deutschen Volkes von fremdem Wesen"23 instrumentalisierbar und in Schulbüchern entsprechend vor-
geführt. Angesichts
des zunehmend
ungünstigeren Kriegsverlaufs,
verbunden mit extrem hohen
Verlusten, kannte man bei all dem kaum Hemmungen, Nietzsche gleichsam unter allen Um-
ständen als tröstlich in Anspruch zu nehmen. Informativ ist hier vor allem ein Kommentar zu einer Nietzsche-Edition aus dem Jahre 1916, in dem es heißt: „Die Erziehung durch Größe zum heroischen Menschen ist ja doch Nietzsches eigentliches Ziel [...]. Größe aber [...] tut in dieser Zeit uns allen not, und welch stärkerer Hauch könnte uns von den unzähligen Grabhügeln unserer gefallenen Jugend kommen, als das Wort des Zarathustra: ,Nur, wo Gräber sind, sind auch Auferstehungen'."24 Was Nietzsche mit diesem Satz gemeint hatte, spielte bei all dem keine Rolle mehr. Zu ausgeprägt war die Entschlossenheit, Nietzsche für eine den Kriegs verlauf begünstigende militärische Jugenderziehung in den Dienst zu nehmen und sei es nur in Gestalt der motivbildenden Kraft, die die Walter-Flex-Generation aus dem Zarathustra bezog. -
III. 1918-1933 Von dieser Entwicklung war auch das pädagogische Nietzschebild der Weimarer Epoche teilweise belastet. Dies gilt etwa dort, wo man meinte, daß Nietzsche kein ,Verzärtler' gewesen sei und, wenn er den „Weltkrieg und die deutsche Notzeit noch erlebt hätte, [...] zur deutschen Vaterlandsliebe zurückgefunden hätte".25 Andererseits wurden derartige Deutungen durch Versuche neutralisiert, Nietzsche als ,,deutsche[n] Republikaner"26 sowie „Europäer" und „Weltbürger"27 resp. als ,,Prophet[en] der Revolution und des Völkerbundes"28 zu feiern oder als einen „Helden" ins Bewußtsein zu heben, als einen ,,unerschrockene[n] gewaltige[n] Ringer um eine neue Kultur".29 Auf diese Weise sollte Nietzsche der politischen Linken unter den Reformpädagogen (erneut) schmackhaft gemacht werden. Ein Nietzschezitat wie das
19 Julius Bap, „Friedrich Nietzsche und die deutsche Gegenwart", in: Die Hilfe, Nr. 53 v. 31.12.1914, 873. 20 Hermann Türck, Der geniale Mensch, 3. stark vermehrte Aufl., Berlin 1898,314. 21 August Messer, „Nietzsche und der Krieg", in: Frankfurter Zeitung, Nr. 286 v. 15.10.1914, 1 f. 22 Ebd., 2. 23 Hermann Itschner, „Nietzsche und die großen Ereignisse unsrer Tage", in: Pädagogische Blätter für Lehrerbildung und Lehrerbildungsanstalten, 43 (1914), 495. 24 Karl Strecker, „Neue Nietzsche-Literatur", in: Das literarische Echo, 19 (1916/17), 613. 25 Richard Kötzschke, „Nietzsches Stellung zum Deutschtum", in: Geisteskampf der Gegenwart, 68 (1932), 96. 26 F. A. Zimmer, „Friedrich Nietzsche", in: Die Neue Erziehung, Heft 11, 1929, 881. 27 Ebd., 883. 28 Ebd., 880. 29 Peter Petersen, „Die Legende von Friedrich Nietzsche", in: Der Aufbau, 32 (1919), Beilage, 312.
Bildungspolitik mit Nietzsche
17
folgende erfüllte dabei fast schon die Funktion eines Schlachtrufs: „Deine wahren Erzieher und Bildner [...] vermögen nichts zu sein als deine Befreier" (KSA, SE, 1, 341). Wenn dieser Schlachtruf nun auf Widerhall stieß, dann, weil das Kriegsgeschehen eine Nachdenklichkeit freigesetzt hatte, die Nietzsche und den reformpädagogischen Ideen auf jeden Fall nicht abträglich war. Solche Bemühungen wurden begünstigt durch die Neueinrichtung von Pädagogikprofessuren bzw. einen Generationenwechsel auf Hochschullehrerebene, der zunehmend die Spuren eines sich Nietzsche gegenüber grundsätzlich versperrenden Denkens etwa ausgehend von Otto Willmann, Wilhelm Dilthey oder Friedrich Paulsen verwischte. So traten Nietzsche-Skeptiker wie etwa Friedrich Wilhelm Foerster, Wilhelm Rein oder Paul Natorp in den Hintergrund. Ersatzweise rückte eine Pädagogenelite wie etwa Eduard Spranger, Herman Nohl, Aloys Fischer, Peter Petersen oder auch Wilhelm Flitner ins Zentrum, deren geistige Prägung wesentlich beeinflußt worden war durch die nicht zuletzt in der Person Nietzsches Gestalt gewinnende Kultur- und Bildungskritik des auslaufenden 19. Jahrhunderts sowie der in Reaktion auf sie anhebenden bürgerlichen Jugendbewegung. Dies führte mitunter zu überraschend positiven Nietzschebildern, etwa bei Peter Petersen. Er rechnete Nietzsche jenen zu, die zusammen mit Ibsen, Hauptmann, Wedekind oder Strindberg das Bürgertum in seiner Sinn- und Selbstverständniskrise als erste begriffen. Damit hätte Nietzsche, wie am Weltkriegsmenetekel ablesbar, eine unverzichtbare Aufgabe erfüllt.30 In dieser seiner Eigenschaft als ,Zersetzer' war Nietzsche für Petersen allerdings noch längst nicht jemand, der „einen neuen gangbaren Weg", etwa in Richtung ,,eine[r] lebenskräftige[n] Sittlichkeit und wirklichkeitswarme[n] Weltanschauung",31 gewiesen habe. Immerhin war es dieser Hintergrund, der zur Profilierung Petersens als eines scharfen Kritikers der ,,alte[n] Pädagogik"32 ebenso beitrug wie zu einem Satz wie beispielsweise: „Alles radikale Böse in der Welt ist nichts anderes als verkehrte Erziehung"33 ein Satz übrigens, dem jene Passage aus dem Zarathustra folgt, in der es unter dem Stichwort ,Geist der Schwere' heißt: „Fast in der Wiege giebt man uns schon schwere Worte und Werthe mit: ,gut' und ,böse' so heisst sich diese Mitgift. Um derentwillen vergiebt man uns, dass wir leben. / Und dazu lässt man die Kindlein zu sich kommen, dass man ihnen bei Zeiten wehre, sich selber zu lieben: also schafft es der Geist der Schwere" (KSA, ZA, 4, 242). Andere Vertreter des pädagogischen Establishments suchten sich zumindest darauf zu verständigen, Nietzsche einer dem Fach gegenüber vermittelbaren bildungspolitischen Absicht sowie ideengeschichtlichen Einbettung einzufügen. Ein Beispiel hierfür ist der Versuch Herman Nohls, Nietzsche als Teil der sogenannte „Deutschen Bewegung" zu lesen. Dieser Begriff erlaubte Nohl eine Reihenbildung ausgehend vom ,Sturm und Drang' inklusive Pestalozzi über Nietzsche bis hin zur Jugendbewegung und Reformpädagogik. Das einheitstiftende Moment dieser Bewegung sah Nohl darin, daß sich hier „die deutsche geistige Welt gegenüber der Lebensform der westlichen Völker, wie sie die Aufklärung darstellte, selbständig macht und ihre eigene Gestalt herausarbeitet".34 Die Probleme dieser Setzung sind allerdings nicht zu übersehen. Denn die unstrittig frankophile und kosmopolitische Orientierung zumindest -
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30 Peter Petersen, Die Neueuropäische Erziehungsbewegung, Weimar 1926, 45 f. 31 Ebd., 46. 32 Peter Petersen, Allgemeine Erziehungswissenschaft, Berlin/Leipzig 1924, 204. 33 Peter Petersen, Der Ursprung der Pädagogik (II. Teil der .Allgemeinen Erziehungswissenschaft'), Berlin/Leipzig 1931, 151. 34 Herman Nohl, Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie (1933/35), Frankfurt a.M. 1988, 12.
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Christian Niemeyer
des
späten Nietzsche tritt auf diese Weise (wieder) ins Abseits. Und es mußte der Eindruck entstehen, Nietzsche sei (Mit-)Urheber der auch von dem antisemitischen Kulturkritiker
Lagarde gestellten „Schicksalsfrage an unsre nationale Pädagogik",35 die in der Herausstellung einer ihr eigenen, vornehmlich antifranzösischen geistigen Welt eine erste Antwort erfahren
habe. Aber nicht nur darin war eine für die Zwecke des Nationalsozialismus taugliche Weiterentwicklung Nietzsches angelegt. Auch die gleichfalls von Nohl vertretene Position, wonach man, zumal vor dem Hintergrund der Weltkriegserfahrung, die Ergänzungsbedürftigkeit der von Nietzsche vertretenen individualistischen Position zur Seite des Sozialen einklagen müsse oder jedenfalls doch als besonderes Merkmal der Nietzsche-Rezeption der Weimarer Epoche zu beobachten habe, war nicht unproblematisch. Denn die auf diese Weise eingeleitete „Wendung der pädagogischen Bewegung zur Gemeinschaft und zur Theorie der Gemeinschaftserziehung"36 implizierte für viele zugleich auch die „Unterstellung des Ich unter einen höheren Zweck und Willen" und rückte insofern ersatzweise den Willen zum Werk' an die Stelle von Nietzsches ,Willen zur Macht'.37 Um dieses Konzept mit der Weihe einer Nietzschedeutung zu versehen, galt es lediglich, die Brücke zum pädagogischen Nietzsche-Kenner Martin Havenstein und dessen These aus dem Jahre 1930 zu schlagen, wonach die Jugend nicht mehr frage, „wie es einstmals war, sondern wie es heute ist und morgen sein soll".38 Damit nämlich war der Wille zum Werk' gleichsam indirekt im Spiel, wenngleich Havenstein via Nietzsche zunächst nur einen formalen Bescheid zu geben vermochte, insofern er die Jugend in Sachen des von ihr erwarteten Beitrags auf das Zarathustra-^ ort verwies: „werdet hart! -" (KSA, ,
,
ZA, 4, 268).39
In dieser Logik wurden nun auch Perspektiven hoffähig, die sich im gleichen Jahr bei Siegfried Behn finden, wenn er mit Blick auf den seiner Meinung nach in der Logik der Herrenmoral Nietzsches liegenden Versuch zu sprechen kam, „die menschliche Erziehung auf Züchtung und Zucht zu reduzieren", um, gleichsam als Ausweis auch seiner eigenen Position, anzufügen: „In einer hygienisch umhegten Zeit, wo der Tod die mißratenen Geburten nicht mehr ohne weiteres ausmerzt, muß es schon die Vernunft durch Entsagung tun, soll der Entartung der Rasse vorgebeugt werden."40 Dies war zwar nicht neu, wenn man an Ellen Key denkt.41 Aber es war, am Vorabend des Nationalsozialismus gesprochen, natürlich ungleich fataler und gibt einen weiteren Hinweis auf die von Hubert Steinhaus schon vor Jahren -
35 Herman Nohl, „Die Deutsche Bewegung in der Schule" (1925), in: Pädagogik aus dreißig Jahren, Frankiiirt a.M.
1949,40.
36 Erich Weniger, „Zur Geistesgeschichte und Soziologie der pädagogischen Fragestellung" ( 1936), in: Ausgewählte Schriften zur geisteswissenschaftlichen Pädagogik, ausgew. u. m. einer edit. Notiz vers. v. Bruno Schonig, Bd. 6, Weinheim/Basel 1990, 120. 37 E. Günther Gründel, Die Sendung der jungen Generation. Versuch einer umfassenden revolutionären Sinndeutung der Krise, München 1932, 437. 38 Martin Havenstein, „Die wissenschaftliche Erziehung in den Geistes- und Kulturwissenschaften", in: Hermann Nohl u. Ludwig Pallat (Hg.), Handbuch der Pädagogik, Bd. 3, Berlin/Leipzig 1930, 342. 39 Vgl. Martin Havenstein, „Das Recht zur Kritik an der modernen Erziehung. Erwiderung an Erich Weniger", in: Die Erziehung, 5 (1929/30b), 320. 40 Siegfried Behn, „Philosophie der Werte als Grundwissenschaft der pädagogischen Zieltheorie", in: Handbuch der Erziehungswissenschaft, hg. v. Franz X. Eggersdorfer, München 1930, 130. 41 Vgl. Ellen Key, Das Jahrhundert des Kindes, Berlin 1902,12 f.; vgl. auch: Tobias Rülcker, „Das Jahrhundert des Kindes? Ellen Key, die deutsche Pädagogik und die widersprüchliche Realität von Kindheit im 20. Jahrhundert", m Jahrbuch für Pädagogik, 1999, 17-32.
19
Bildungspolitik mit Nietzsche aufgelisteten Gründe
für die
„sich
unerwartet rasch vermehrende Schar der
Nationalsozialisten unter den Erziehungswissenschaftlern".42
begeisterten
IV. 1933-1945 wie es nun hieß „pädaman nach 1933 vergleichsweise rasch über Nietzsche, den gogischen Klassiker der völkischen Bewegung",43 lesen konnte: „Es darf keine Prima mehr zur Entlassung kommen, die nicht wie zu Goethes ,Faust' so auch an das Werk Nietzsches herangeführt worden ist",44 so war dies sicherlich auch Folge dieser Vorgeschichte. Aber es Wenn
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auch Effekt des von zahlreichen Nationalsozialisten unternommenen Versuchs, die von ihnen repräsentierte Bewegung insgesamt durch Bezugnahme auf einen ,,Philosoph[en] wirklich großen Stils"45 eben Nietzsche zu nobilitieren.46 In Sachen der Pädagogik wird man dabei als erstes an Alfred Baeumler zu denken haben,47 der nach 1933 zu einem der führenden nationalsozialistischen Bildungsideologen aufsteigen sollte und 1931, offenbar in Vorbereitung auf diese seine Aufgabe, Nietzsche vor allem als Politiker sowie als Ideologen des Willens zur Macht aufbereitet hatte, mit der Folgerung, der Wiederkunftsgedanke sei, von Nietzsches eigentlichem ,JSystem aus gesehen, ohne Belang".48 Entsprechend dieser Vorgabe rückte nach 1933 Nietzsches vermeintliches .Hauptwerk' Der Wille zur Macht (erneut) ins Zentrum einer auf Werkeinheitlichkeit abstellenden Rezeptionsstrategie.49 Sie meinte endgültig die aus der Zeit vor 1933 heraus bekannte Praxis abwehren zu können, Nietzsche als einen unsystematischen Aphoristiker vorzustellen, angesichts dessen jedermann „zu beliebigem Zweck, zu beliebiger Zeit und in jedweder Tendenz Aussprüche zitieren [kann]."50 Gleichsam als Gegenpol Baeumlers wird man noch Ernst Krieck zu berücksichtigen haben. Seine Autorität als „Führer[ ] der völkischen Erziehung"51 stand zunächst außer Frage.52 Dies gab seinen Bedenken gegenüber der Instrumentalisierung Nietzsches für die nationalsoziawar
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Steinhaus, „Blut und Schicksal. Die Zerstörung der pädagogischen Vernunft in den geschichtsphilosophischen Mythen des Wilhelminischen Deutschland", in: Ulrich Herrmann u. Jürgen Oelkers (Hg.), Pädagogik und Nationalsozialismus (= Zeilschriftfür Pädagogik, 22. Beiheft), Weinheim/Basel 1988, 88. A. Hager, „Friedrich Nietzsche, der Erzieher des deutschen heroischen Menschen", in: Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung, 62 (1933), 573. Franz Schmitz, „Nietzsche im Deutschunterricht der Prima", in: Die deutsche höhere Schule, 5 (1938), 600. Otto Friedrich Bollnow, „Rez. v. F. Giese: Nietzsche. Die Erfüllung", in: Die Literatur, 36 (1934/35), 273 Vgl. auch Rudolf E. Kuenzli, „The Nazi Appropriation of Nietzsche", in: Nietzsche-Studien 12 (1983), 430, und Steven E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults, Stuttgart/Weimar 1996, 266 f. Detlef Piecha, ,„Nietzsche und der Nationalsozialismus'. Zu Alfred Baeumlers Nietzsche-Rezeption", in: Christian Niemeyer u. a. (Hg.), Nietzsche in der Pädagogik, 132-195. Alfred Baeumler, Nietzsche der Philosoph und Politiker, Leipzig 1931, 80. Vgl. etwa Fritz Giese, Nietzsche. Die Erfüllung, Tübingen 1934,26; Richard Oehler, Friedrich Nietzsche und die deutsche Zukunft, Leipzig 1935,29; Kurt Kaßler, „Nietzsche über Staat und Volk", in: Deutschlands Erneuerung, 20 (1936), 463; Hans Endres, Rasse, Ehe, Zucht und Züchtung. Bei Nietzsche und heute, Heidelberg 1938, 6; Balduin Noll, Das Wesen von Friedrich Nietzsches Idealismus, 4 Vorträge, Köln21941,171 f. ; Hans Wenke, „Zur Philosophie des totalen Kriege", in: Hans Wenke (Hg), Geistige Gestalten und Probleme. Eduard Spranger zum 60. Geburtstag, Leipzig 1942, 285. Fritz Giese, Nietzsche. Die Erfüllung, Tübingen 1934, 25. Josef Dolch, „Hochschulerneuerung", in: Deutsches Bildungswesen, 1 (1933), 226. Vgl. auch: Richard Oehler, Friedrich Nietzsche und die deutsche Zukunft, Leipzig 1935, 36.
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listische Bildungsideologie einiges Gewicht. Auf Resonanz traf vor allem sein Hinweis auf Nietzsches Plädoyer für ,gutes Europäertum',53 aber auch sein Einwand gegen die Gefahr eskapistischer Selbstvergottung, die dem Übermenschenkonstrukt innewohne und die es gelte, durch Beibehaltung religiöser Sinnstiftungsperspektiven hin auf die geschichtliche Aufgabe abzugelten.54 Über diese Fragen kam es anläßlich einer Festschrift zu Hitlers 50. Geburtstag zum Streit, in dem Krieck unterlag.55 Damit hatte er letztlich ein Beispiel gegeben für die Entschlossenheit der politischen Führung, Nietzsche nur jene Motive zu entlehnen, die der von ihr verfolgten bildungspolitischen Absicht dienlich waren.56 Dazu gehörte auch die Ansicht, Nietzsche sei deswegen aktuell, weil die „Demokratie der Vergangenheit" nichts mit seinem „Ideal heldenhafter Gesinnung"57 habe anfangen können. Ein Exempel schien Nietzsches Historienschrift aus dem Jahre 1874 zu bieten, die noch der Nohl-Lehrer Friedrich Paulsen wegen der von Nietzsche hier zum Ausdruck gebrachten „Verachtung der Vergangenheit"58 verworfen hatte. Nun jedoch schien alles anders, und verantwortlich dafür war die Sympathie Nietzsches für den von ihm herausgearbeiteten Typus der ,monumentalischen' Geschichtsbetrachtung. Der Nohl-Schüler Erich Weniger jedenfalls kannte 1938 im erkennbaren Einvernehmen mit dem damaligen Mainstream59 keine Bedenken, die volkserzieherisch-nationalsozialistische Nutzanwendung der Historienschrift vorzubereiten, etwa mit Sätzen wie: „Die monumentale Geschichtsbetrachtung ist eines der großen Mittel der Erziehung und Bildung der Glieder der Volksgemeinschaft, der Träger des Volkswillens, der Führer der Volkskraft."60 Dieser Zurichtung Nietzsches in volkserzieherischer Absicht entsprach auch das Bemühen Herman Nohls, die schon in der Kunsterziehungsbewegung der Vorkriegszeit bemühte Stileinheitsprogrammatik Nietzsches einem Kulturbegriff einzufügen, der „nicht mehr an die einzelnen .privaten' Genießer, das ,Publikum' [denkt], sondern an das Volk, das hier werden soll und an dem der Künstler durch sein Werk mitschafft und bildet."61 „Wir suchen", so Nohl weiter, „die neue Existenzform unseres Volkes und damit die neue Form seiner Städte, Häuser und Wohnungen bis zu Stuhl und Tisch, Schrank und Bett. Wir suchen vor allem die neue Form seiner Menschen und wollen in unserer Ausstellungen nicht nur halb bekleidete Modelle, Masken und Harlekine sehen [...], auch nicht mehr das Proletarierelend und die Haßgebilde der Zeitkritik [...], sondern die Leitbilder unseres wieder aufsteigenden Geschlechts."62 Klartext in dieser Sache hatte Hans-Joachim Falkenberg gesprochen: „Und nehmen wir -
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53 Ernst Krieck, Leben als Prinzip der Weltanschauung und Problem der Wissenschaft, Leipzig 1938, 24. 54 Edgar Weiß, „Kontinuität und Wandel Ernst Kriecks und seiner Erziehungstheorie", in: Kieler Berichte aus dem Institut für Pädagogik der Christian-Albrechts-Universitätzu Kiel, Rote Reihe Nr. 25, Kiel 1992, 31 f. 55 Vgl. Helmut Heiber, Universität unterm Hakenkreuz, Bd. I, München u. a. 1994; Detlef Piecha, „Nietzsche und der Nationalsozialismus", 132-195. 56 Vgl. auch: Hans Langreder, Die Auseinandersetzung mit Nietzsche im Dritten Reich, Diss. Kiel 1970, 63. 57 A. Hager, „Friedrich Nietzsche, der Erzieher", 573. 58 Friedrich Paulsen, Pädagogik, Stuttgart/Berlin 671921, 98. 59 Vgl. Heinz Nicolai, „Die Bildungsidee des jungen Nietzsche", in: Zeitschriftfür deutsche Bildung, 13 (1937), 5 f. 60 Erich Weniger, „Wehrmachtserziehung und Kriegserfahrung" (1938), in: Lehrerbildung, Sozialpädagogik, Militärpädagogik. Politik, Gesellschaft, Erziehung in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, ausgew. u. komment. v. Helmut Gaßen, Bd. 5, Weinheim/Basel 1990, 248.; vgl. auch: Wilhelm Hehlmann, Pädagogisches Wörterbuch, dritte, durchges. u. erg. Aufl., Stuttgart 1942, 307. 61 Herman Nohl, Die ästhetische Wirklichkeit. Eine Einführung (1935), Frankfurt a.M. 1961, 215. 62 Ebd.
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Nietzsche als geistigen Führer zu einer neuen Kultur, so dürfen, ja müssen wir sagen: Die deutsche Kultur sei eine Einheit; das heißt alle Teile müssen deutsch sein."63 Entsprechend konsequent geriet die Absage gegenüber der reformpädagogischen NietzscheNutzung. Nicht umsonst etwa brachte Walter Otto ebenso wie Heinrich Weinstock64 (erneut) Nietzsches Bildungsvortrage aus dem Jahre 1872 in Erinnerung und hob dabei die Passagen heraus, die dazu auffordern, das Individuum in strengste Zucht zu nehmen, weil es so Otto lernen solle, „das Erhabene zu verehren und dadurch zu seiner Erscheinung und Förderung [...] mitzuhelfen."65 Angespielt war damit zugleich auf Ellen Key oder Ludwig Gurlitt. Sie, so lautete das Argument etwa von Günther Voigt, hätten Nietzsche in entscheidender Hinsicht mißverstanden, denn „ihr Einzelner kennt nur noch das Freisein wovon?, nicht aber auch das Freisein wozu?"66 Indem Voigt das dahinter verborgene Zarathustra-Motiv in Erinnerung rief, fiel es ihm leicht, den Lehrer dem Zögling gegenüber (wieder) in sein Recht einzusetzen. Es paßte zu diesem antireformpädagogischen Geist, wenn man ersatzweise ein NietzscheSchlagwort ins Zentrum rückte wie „Gelobt sei, was hart macht!" (KSA, ZA, 4, 194). Diese Formel, die 1936 vom ehemaligen Wandervogelführer Edmund Neuendorff zum zentralen Motiv des modernen Leistungssports erhoben wurde,67 konnte nun breitester Zustimmung sicher sein,68 und dies zumal nach 1939, als sie der offiziellen Integration Nietzsches in die kriegsverherrlichende Ideologie des Staates förderlich war.69 Dabei bezog man diese Zustimmung wahlweise auch auf Zarathustra-Sätze wie: „Wirf den Helden in deiner Seele nicht weg!", „Der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt" oder auf Nietzsche als Typus bzw. den -
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63 Hans-Joachim Falkenberg, „Nietzsche und die politische Wissenschaft", in: Volk im Werden, 2 (1934), 457; vgl. auch: Christian Niemeyer, „Volkserziehung und Popularisierung. Zum merkwürdigen Verhältnis von Freude und Zorn des Pädagogen gegenüber dem Populären am Beispiel Nietzsches und der Nietzscherezeption", in: Heiner Drerup u. Edwin Keiner (Hg.), Popularisierungwissenschaftlichen Wissens inpädagogischen Feldern, Weinheim 1999, 225. 64 Vgl. auch: Maria Zapata Galindo, Triumph des Willens zur Macht: zur Nietzsche-Rezeption im NS-Staat, Hamburg 1995, 110 f. 65 Walter F. Otto, Der junge Nietzsche, Frankfurt a.M. 1936, 20. 66 Günther Voigt, „Nietzsches Gedanken über Bildung und Erziehung", in: Neue Jahrbücher für deutsche Wissenschaft, 13 (1937), 567 f. 67 Vgl. Edmund Neuendorff, Geschichte der neueren deutschen Leibesübung vom Beginn des 18. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Bd. 4, Dresden o. J. (1936), 251,692 f.; Hajo Bernett, „Das Kraftpotential der Nation", in: Ulrich Herrmannu. Jürgen Oelkers (Hg), Pädagogikund Nationalsozialismus (= Zeitschriftfür Pädagogik,22.Beiheft), Weinheim/Basel 1988, 178. 68 Vgl. u. a. Hermann Knust, „Grimms ,Volk ohne Raum' als Schullektüre", in: Deutsches Bildungswesen, 1 (1933), 266; Richard Oehler, Friedrich Nietzsche und die deutsche Zukunft, Leipzig 1935, 5 u. 76; Walther Spethmann, Der Begriff des Herrentums bei Nietzsche, Berlin 1935, 64; Walter Gross, „Künder des Dritten Reiches: Nietzsche", in: Neues Volk, 2 (1935/36), 14 f.; Kurt Kaßler, „Nietzsche über Staat und Volk", in: Deutschlands Erneuerung, 20 (1936), 462; Heinrich Härtle, „Friedrich Nietzsche. Der unerbittliche Werter des 19. Jahrhunderts", in: Der Schulungsbriefder NSDAP 4 (1937), 299; Fritz Schmitz, „Nietzsche im Deutschunterricht der Prima", in: Die deutsche höhere Schule, 5 (1938), 603 f.; Wilhelm Arp, „Nietzsches Menschenideal in unserem Erziehungsethos", in: Nationalsozialistisches Bildungswesen, 4 (1939), 425 f.; Friedrich Albert Beck, „Der Philosoph der politischen Existenz: Friedrich Nietzsche", in: Der deutsche Erzieher, 8 (1939), 313. 69 Vgl.: Gerhard Hennemann, „Friedrich Nietzsche", in: Zeitschrift für Deutsche Geisteswissenschaften, 3 (1940) 135 f.; Hans Wenke, „Zur Philosophie des totalen Krieges", in: Hans Wenke (Hg), Geistige Gestalten und Probleme, Leipzig 1942, 285; Hubert Cancik, „Der Nietzsche-Kult in Weimar (II). Ein Beitrag zur Religionsgeschichte der nationalsozialistischen Ära", in: Peter Antes u. Donate Pahnke (Hg), Die Religion von Oberschichten, Marburg 1989, 96; Steven E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen, 265 f.
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Nietzscheverehrer Mussolini, für den der Imperativ „Gefährlich leben!" aus Die fröhliche Wissenschaft verpflichtend war.70 Forciert werden sollte auf diese Weise jenes bildungspolitische Leitbild, das Walter Otto in den deutlich noch unter dem Einfluß Wagners verfaßten Worten Nietzsches meinte identifizieren zu können, die da lauten: „Wer anders als der deutsche Jüngling wird die Unerschrockenheit des Blicks und den heroischen Zug in's Ungeheure haben, um allen jenen schwächlichen Bequemlichkeitsdoktrinen des liberalen Optimismus in jeder Form den Rücken zu kehren und im Ganzen und Vollen ,resolut zu leben'?" (KSA, NF, 7, 356)71 Bei aller Distanz in Einzelfragen dominierte aus nationalsozialistischer Sicht desweiteren die Überzeugung, daß in Nietzsches Werk „die arische Rasse als der Prototyp [...] der Herrenrasse"72 diente und daß Nietzsche „auch die beste Erziehung nicht über die Vererbung"73 gestellt74 sowie eine „Ausmerze des Entarteten"75 gefordert und „häufig erstaunlich gegenwartnahe[ ] züchtungspolitische[ ] Vorschläge" sowie „klare rassenhygienische Einsichten]"76 vertreten habe.77 Die Kritik an derlei Indienstnahme Nietzsches kam in der Regel aus dem Exil, von wo aus man voller Hohn auf Nietzsches beharrliche Kritik an Deutsch-
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Vgl. Walther Linden, „Nietzsche als Vorkämpfer des neuen heroischen Menschen", in: Der Türmer, 36 (1934),
66, Kurt Kaßler, Nietzsche und das Recht, München 1941, 103. 71 Nietzsches dem angefügte Frage an Wagner: „Mein edler Freund, ob ich wohl bis hierher mich auch in ihrem Sinne geäußert habe?" (KSA, SE, 1,356), eine Frage, der sogleich ein bestätigendes Zitat aus Wagners Beethoven nachfolgt, läßt fraglich werden, ob Nietzsche hier, in dieser nicht veröffentlichten Fassung, überhaupt seine Meinung ausspricht oder nicht eher ein Zeugnis gibt filr eine nur noch psychologisch zu erklärende Abhängigkeit von den Gunstbeweisen seines Ersatzvaters. 72 Wolfgang Schlegel, Nietzsches Geschichtsauffassung, Würzburg 1937, 51. 73 Hans Endres, Rasse, Ehe, Zucht und Züchtung, 24. 74 Endres denkt hier an jene Passage aus Jenseits von Gut und Böse, in der Nietzsche unter dem Einfluß erbbiologischer Lektüre feststellt: „Es ist gar nicht möglich, dass ein Mensch nicht die Eigenschaften und Vorlieben seiner Eltern und Altvorderen im Leibe habe: was auch der Augenschein dagegen sagen mag. Dies ist das Problem der Rasse." (KSA, JGB, 5,219) Endres beachtet allerdings nicht, daß Nietzsche hier auch von sich selbst und seinen Eltern spricht, was die beispielhafte Auflistung jener unerwünschten, aber nun einmal als Erbe der Eltern in Kauf zu nehmenden Eigenschaften zumindest sehr wahrscheinlich macht: „widrige Unenthaltsamkeit", „Winkel-Neid", „plumpe Sich-Rechtgeberei" oder „verderbtes Blut" (KSA, JGB, 5,219). Dabei ist es natürlich vor allem der letzte Punkt, der, zusammen mit dem erstgenannten, deutlich auf Nietzsches Phantasien über die Krankheit seines Vaters sowie deren Zusammenhang mit seinen eigenen Krankheitssymptomen hinweist. Dies auch erst würde Nietzsches Defaitismus im Blick auf Erziehung und Bildung verständlich machen. Beide nämlich, so erfahren wir nun, seien im wesentlichen zu definieren als „die Kunst, zu täuschen", und zwar „über die Herkunft" und „den vererbten Pöbel in Leib und Seele" (KSA JGB, 5,219). Damit schien aber auch Nietzsche Überlegung aus Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben endgültig aus der Diskussion zu sein. So hatte Nietzsche hier noch die Überlegung angestellt, wie es wohl wäre, „sich gleichsam a posteriori eine Vergangenheit zu geben, aus der man stammen möchte, im Gegensatz zu der, aus der man stammt" (KSA, HL, 1,270). Damals hatte Nietzsche noch resignierend kommentiert, daß, „da wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter sind", nichts an der Einsicht vorbeiführe, „auch die Resultate ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrthümer, ja Verbrechen" (KSA, HL, 1, 270) zu sein. 75 Wilhelm Arp, „Nietzsches Menschenideal in unserem Erziehungsethos", in: Nationalsozialistisches Bildungswesen 4 (1939), 394. 76 Oskar Becker, Gedanken Friedrich Nietzsches über Rangordnung, Zucht und Züchtung, Bonn 1942,21. 77 Becker heftete dieses Urteil vor allem an das folgenden Zitat aus dem Nachlaß vom Oktober 1888: „Die Gesellschaft soll in zahlreichen Fällen der Zeugung vorbeugen; sie darf hierzu, ohne Rücksicht auf Herkunft, Rang und Geist, die härtesten Zwangs-Maaßregeln, Freiheits-Entziehungen, unter Umständen Castrationen in Bereitschaft halten. Das Bibel-Verbot ,du sollst nicht todten!' ist eine Naivetät im Vergleich zum Ernst des Lebens-Verbots an die décadents: ,ihr sollt nicht zeugen!'..." (KSA, NF, 13, 599 f.) -
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tümelei und Antisemitismus verwies78 oder herausstellte, daß Nietzsche an keiner Stelle „das Mächtige mit der unschöpferischen Brutalität" oder „den Begriff der Rasse mit einem bornierten Blutmythos gleichgesetzt"79 habe. Diese Kritik blieb in Deutschland selbst natürlich unbekannt. Sie unterstreicht allenfalls, daß die Preise, die der Nationalsozialismus für die Einfügung Nietzsches in seine Ideologie zu zahlen bereit war, nicht von allen übersehen wurden. Diesem Hintergrund gehorcht offenbar auch der Umstand, daß Peter Petersen in seiner 1937 erschienenen Führungslehre des Unterrichts ausgerechnet das Nietzschewort zitierte: „Man muss lieben lernen, gütig sein lernen, und diess von Jugend auf; wenn Erziehung und Zufall uns keine Gelegenheit zur Uebung dieser Empfindungen geben, so wird unsere Seele trocken und selbst zu einem Verständnisse jener zarten Empfindungen liebevoller Menschen ungeeignet." (KSA, MA I, 2, 342)
V. 1945 bis heute Dies freilich half denen kaum, deren Nietzschebild aufgrund des nationalsozialistischen Nietzschemißbrauchs im ,Dritten Reich' dauerhaft Schaden genommen hatte. Damit begann sich das, was sich zum Kriegsende hin im Ausland abgezeichnet hatte, nämlich die Zuschreibung der Verantwortung für das Geschehene an Nietzsche,80 nach 1945 auch in Deutschland sowie der deutschen Pädagogik durchzusetzen. Mitunter geschah dies mit einiger Ignoranz gegenüber dem eigenen Anteil an der nationalsozialistischen Zurichtung Nietzsches, so wie bei Weniger, der 1938, wie gesehen, Nietzsches Historienschrift nationalsozialistisch
aufbereitet hatte und gleichwohl keine Bedenken kannte, 1948 unter Bezug auf diese Schrift und so, als gehe es nun an das große Aufräumen, zu schreiben: „Eine Wurzel des nationalsozialistischen Mythos finden wir, wie zu erwarten, bei Nietzsche".81 Auch Spranger, der im ,Dritten Reich', ähnlich wie Weniger, volkserzieherische Absichten unter Berufung auf Nietzsche popularisiert hatte, las Nietzsche nun als einen Einflußgeber von Faschismus wie Nationalsozialismus sowie als einen „Ideologienlehrefr] mit stark politischer Intention",82 der keinen Platz mehr gelassen habe für Ideale, „die rein geistigen Ursprungs wären"83 und dem folglich kein Platz mehr für die Zukunft zu lassen sei. Entsprechend traf man bald auf Sätze wie: „Der Übermensch ist tot; nun wollen wir, daß Gott lebe!"84 oder aber auch, bei Thomas Mann, auf Bekennmisse zum Guten in Gestalt der Anrufung solch „trivialer Begriffe und Leitbilder [...] wie Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit."85 „Die ,Herrenmoral' des Machtmenschen", so auch Albert Reble 1951 in einer immerhin -
78 Vgl. Max Horkheimer, „Bemerkungen zu Jaspers'.Nietzsche'", in: ZeitschriftfürSozialforschung VI (1937), 413. 79 Armin Kesser, „Elemente zur Beurteilung Nietzsches. Nietzsches Stellung in der deutschen Wissenschaftsgeschichte", in: Neue Schweizer Rundschau 4 (1937), 541. 80 Steven E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen, 301 f. 81 Erich Weniger, „Geschichte ohne Mythos" (1948), in: Erziehung, Politik, Geschichte. Politik, Gesellschaft, Erziehung in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, ausgew. u. komment. v. Helmut Gaßen, Bd. 4, Weinheim/ Basel 1990,259. 82 Eduard Spranger, „Wesen und Wert politischer Ideologien" (1954), in: Gesammelte Schriften VIII, Tübingen 1970, 58. 83 Eduard Spranger, „Der Ertrag der Geistesgeschichte für die Politik" (1946), in: Gesammelte Schriften VIII, 49. 84 Johannes Hessen, Existenzphilosophie, Essen M 948, 31. 85 Thomas Mann, „Nietzsche's Philosophie im Lichte unserer Erfahrung" (1947), in: Gesammelte Werke, Bd. IX, Frankfurt a.M. 1990,710.
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Studentengenerationen beeinflussenden Geschichte der Pädagogik zum Stichwort
Nietzsche, „besteht darin, daß er rücksichtslos alles das als ,gut' setzt, was seiner Macht und Lebensentfaltung dient, und daß er sich dabei weder um ,Wahrheit' noch um andere objektive Werte, noch um schwächere Menschen kümmert."86 Dies so niederzulegen meinte zugleich,
daß die Pädagogik von Fragen nach Nietzsche nicht mehr belästigt werden wollte. Erst in den 60er und 70er Jahren, bedingt wohl auch durch das allmähliche Hervortreten einer neuen Generation von Erziehungswissenschaftlern, die sich durch den Nationalsozialismus weitgehend unbelastet wähnte, wurde Nietzsche allmählich wieder zu einer gewissen Adresse, die man allerdings nur in Maßen und in aller Vorsicht nutzte. Exemplarisch hierfür ist Groothoff,87 der seinem Kanon empfehlenswerter Schriften zum Themenbereich ,Philosophie in der Lehrerbildung' allein noch Nietzsches Unzeitgemässe Betrachtungen zurechnete. Auch Nietzsches Bildungsvorträge aus dem Jahre 1872 konnten mit einer gewissen, auch editorisch folgenreichen Aufmerksamkeit rechnen, dies zumeist im Zusammenhang mit der Klärung von Nietzsches Stellung im Rahmen der Kulturkritik und deren Bedeutung für die Reformpädagogik, aber auch in bildungspolitischer Absicht. Dies gilt etwa für Egon Schütz, der 1977 eine „philosophische Wende" einzuklagen suchte unter Verweis auf Nietzsches Bildungs vortrage und die über sie begründbare These, daß überall dort, „wo die Kernfrage der Bildung [...] reduziert wird auf funktionale Rolleneinweisungen", der Blick „für den wahren Ursprung der Bildungskrise" verlorengehe und nur ein „schleichender Bildungsdarwinismus" die Folge sein könne.88 Durchaus in diesem Zusammenhang darf man auch die vielfältigen Versuche der Aktualisierung der Historismuskritik Nietzsches für die Pädagogik und deren Geschichtsschreibung sehen. Denn einerseits war es sicherlich kein Zufall, daß beispielsweise Ulrich Herrmann gerade auf dem Höhepunkt der realistischen Wendung' in der Erziehungswissenschaft Nietzsches Historienschrift und die hier gestellte Frage, „bis zu welchem Grade das Leben den Dienst der Historie überhaupt brauche" (KSA, HL, 1, 257), zum Abstoßpunkt seines Versuchs erkor, die „Geschichte des historischen Denkens" und dessen systematischen Ort „zur Beantwortung aktueller pädagogischer Fragen" fruchtbar zu machen.89 Andererseits aber wurde, und zwar wiederum von Nietzsche her, bald auch geltend gemacht, daß sich die Geschichtsschreibung und -didaktik nicht von aller Philosophie der Geschichte lösen dürfe, wenn sie denn mehr leisten wolle als bloß die Darbietung chronologischer Kontinuitäten.90 Wie fragwürdig allerdings die damit freisetzbaren geschichtsphilosophischen Optionen im Blick auf ihre Rechtfertigungsfähigkeit durch eine seriöse Nietzsche-Philologie sein können, wird bei Wolfgang Brezinka deutlich. Er las die von Nietzsche in der Historienschrift unter dem Stichwort ,überhistorisch' angepriesenen Sinnstiftungsmächte Kunst und Religion gleich-
86 Albert Reble, Geschichte der Pädagogik, Frankfurt a.M. I21975, 254. 87 Hans-Hermann Groothoff, „Über die Philosophie in der Lehrerbildung", in: Zeitschriftfür Pädagogik, 7 (1961), 66. 88 Egon Schütz, „Friedrich Nietzsches Bildungs- und Schulkritik und die Krise der Identität", in: Vierteljahresschrift für Wissenschaftliche Pädagogik, 53 (1977), 496. 89 Ulrich Herrmann, „Historismus und geschichtliches Denken", in: Zeitschriftfür Pädagogik 17 (1971), 224; vgl. auch Hans-Jürgen Ipfling, „Über Bedeutung und Methode der Geschichte der Pädagogik", in: Vierteljahresschrift für Wissenschaftliche Pädagogik 43 (1967), 147. 90 Herwig Blankertz, „Geschichte der Pädagogik und Narrativität", in: Zeitschriftfür Pädagogik 29 ( 1983), 4.
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sam als aktualisierte Heilmittel für die Erziehung in einer wertunsicheren Gesellschaft.91 Nietzsches spätere Kunst- und dies vor allem natürlich Religionsskepsis fiel hiermit allerdings der Mißachtung anheim. Dies verhält sich schon etwas anders bei der sich vor allem auf Nietzsches Spätwerk konzentrierenden pädagogischen Nietzsche-Rezeption im Zusammenhang mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Aber auch hier ist der Befund in der Regel negativ. Dies gilt etwa für Karl-Hermann Schäfers Anfang der 80er Jahre zusammen mit Klaus Schaller entwickeltes Konzept kommunikativer Pädagogik und Didaktik, das auf den „Wertefn] gemeinschaftlichen Lebens" sowie der „verpflichtende^] Kraft von Kommunikation und Interaktion" aufbaut und von dem ausgehend Schäfer meint, eine grundsätzliche Unvereinbarkeit mit Nietzsches Plädoyer für die „Macht des einsamen Subjekts und die physische Kraft des starken Einzelnen"92 identifizieren zu müssen. Gleichwohl wird nicht von allen Vertretern Kritischer Theorie übersehen, daß sich mit Nietzsche „Konformität, Herrschaft, Anpassung, Unselbständigkeit, falsches Bewußtsein" "entlarven lassen, ja: daß, vermittelt über die schon von Nietzsche vorweggenommenen Einsichten um die ,Dialektik der Aufklärung', „ein versteckter Nietzsche zumindest in der ,Kritischen Pädagogik' schon seit geraumer Zeit haust".94 Zu nennen wäre schließlich noch die These, Nietzsche sei der „Vater" (Welsch) der Postmoderne und habe als solcher auch dem postmodernen Krisenbewußtsein der Pädagogik vorgearbeitet. Im Zentrum des Interesses steht dabei Nietzsches Infragestellung der Illusion eines handlungsmächtigen intentionalen Subjekts mit ihren Folgerungen für Bildungsphilosophie und Erziehungstheorie,95 aber auch die von Nietzsche in seiner Historienschrift diagnostizierte historische ,Krankheit', und dies mit dem Befund, daß „Nietzsches Gegengifte gegen die Wissenschaft" unübersehbar gedeihen: „das ,Unhistorische' manifestiert sich im Praktizismus der Anti- und Alternativpädagogen, das ,Überhistorische' bezeugt sich in der Rehabilitation der erklärenden und verklärenden archaischen Kräfte des Mythos und seiner aktuellen Gestaltung sowie in der damit einhergehenden Neubewertung der Vormoderne".96 Nietzsche, so zeigt sich hier, droht damit allerdings erneut mit einem sehr eng gefaßten Teil seines Werkes zum Stichwortgeber für die allerneuesten ,Philosopheme' jedweder Provenienz zu werden, und dies, wo doch schon Reinhard Löw allen Grund für sein Argument hatte, nur eine „Einbeziehung des ganzen Opus"97 könne für eine Interpretation Nietzsches als Erzieher tragfähig sein. -
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Wolfgang Brezinka, Glaube, Moral und Erziehung, Konstanz 1992,56 f. ; Wolfgang Brezinka, Erziehung in einer wertunsicheren Gesellschaft, München 1986, 105 f. ; vgl. auch Karl Dienelt, „Pädagogische Anthropologie als ein Aspekt der Wissenschaftstheorie der Pädagogik", in: Vierteljahresschriftfür Wissenschaftliche Pädagogik, 72 (1996), 353. Karl-Hermann Schäfer, „Vernunft und Erfahrung. Bildungsgeschichtliche Grundlagen der kommunikativen Pädagogik und Didaktik", in: Vierteljahresschrift für Wissenschaftliche Pädagogik 62 (1986), 119 f. Heinrich Kupffer, Jugend und Herrschaft. Eine Analyse der pädagogischen Entfremdung, Heidelberg 1974, 95. Andreas v. Prondczynsky, „Historische Konstruktionen: Zur Rezeption Nietzsches in .Geschichten der Pädagogik'", in: Christian Niemeyer u.a. (Hg), Nietzsche in der Pädagogik?, 76. Vgl. Michael Wimmer, „Zerfall des Allgemeinen Wiederkehr des Singulären. Pädagogische Professionalität und der Wert des Menschen", in : Amo Combe u. Werner Helsper (Hg), Pädagogische Professionalität, Frankfurt a.M -
1996,444. 96 Heiner Ullrich, „Erziehung durch Kult. Anmerkungen über die postmoderne Wiederentdeckung des Mythos und über die Waldorfpädagogik als Neo-Mythologie", in: Vierteljahresschrift für Wissenschaftliche Pädagogik 65 (1989), 152. 97 Reinhard Löw, Nietzsche. Sophist und Erzieher, Weinheim 1984, 150.
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Dies nun erlaubt den nahtlosen Anschluß an die eingangs erwähnte Sloterdijkdebatte. Sloterdijks Argument daran ist zunächst zu erinnern nährt sich aus der These, daß die „alltägliche Bestialisierung des Menschen"98 durch Erziehung (und Ethik) nicht länger oder jedenfalls nur für den (schon von Nietzsche als zu hoch empfundenen) Preis zu kontrollieren -
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sei, daß der Mensch zu einer Art Haustier werde. Deshalb müsse eine andere und mit dem Namen ,Anthropotechnik' belegte Option bedacht werden, mit der sich auseinanderzusetzen Sloterdijk schon deshalb für geboten hält, weil „gentechnische Menschenzüchtung keine Science-Fiction mehr ist"99 und insoweit der philosophischen Aufsicht bedarf. Ich will im folgenden gar nicht dieses Argument diskutieren, sondern nur in Abrede stellen, daß sich Sloterdijk mit Fug und Recht auf Nietzsche beruft ein Eindruck, den auch Sloterdijk-Kritiker verbreiten oder jedenfalls nicht stören: Letzteres, indem sie das dahinter verborgene Problem beiseitesetzen;100 ersteres, indem sie, wie gesehen, vom ,Zarathustra-Projekt' reden, Sloterdijk einen „Neo-Zarathustra"101 oder „Züchter des Übermenschen"102 heißen bzw. mutmaßen, er wolle zur Jahrhundertwende einen Paradigmenwechsel à la „Nietzsche 2000 statt Adorno anno '68'"03 durchsetzen. Tatsächlich aber macht es sich Sloterdijk mit Nietzsche über die Maßen einfach. Dies gilt schon für Sätze wie den, daß die „Verhaustierung des Menschen" Nietzsches .überspannter' Auffassung zufolge ,,vorbedachte[s] Werk eines pastoralen Züchterverbandes" sei, der gegen jedwede Eigenwilligkeit des Menschen seine „Ausmerzungs- und Verstümmelungsmitte 1" einsetzt.104 Denn das Reizwort ,Ausmerzung' in diesem Kontext lenkt von dem erziehungs- und bildungstheoretischen sowie psychologischen Kern von Nietzsches Kritik an ,pastoraler' Gesinnungsbildung ebenso ab wie das Reizwort Züchterverband', mit der Folge, daß Nietzsches Gegenmittel gleichsam automatisch unter dem Begriff einer Art Gegenzüchtung zugunsten des ,Raubtiers' Mensch abspeicherbar scheinen und gleichfalls um ihr im Kern erziehungsund bildungstheoretisches Motiv gebracht werden. Dies meint nicht, ein Nietzscheexperte könne sich Sätzen aus dem Antichrist entziehen wie: „Die Schwachen und Missrathenen sollen zu Grunde gehn: erster Satz unsrer Menschenliebe" (KSA 6, 170). Ebensowenig zu übersehen ist das, was Nietzsche in der Götzen-Dämmerung unter dem Zwischentitel Moral für Ärzte anbot. Hier nämlich finden sich Formulierungen wie: „Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft", gefolgt von der Forderung, man müsse eine „neue Verantwortlichkeit" des Arztes schaffen „für alle Fälle, wo das höchste Interesse des Lebens, des aufsteigenden Lebens, das rücksichtloseste Nieder- und Beiseite-Drängen des entartenden Lebens verlangt zum Beispiel für das Recht auf Zeugung, für das Recht, geboren zu werden, für das Recht, zu leben ..." (KSA, GD, 6, 134). Derlei Reflexionen, die, wie gesehen, zwischen 1933 und 1945 immer wieder bemüht wurden und in denen man folglich nach 1945 „die geistigen Wurzeln so vieler grauenhafter Verbrechen des Dritten -
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98 99 100 101 102 103 104
Ebd., 31. Thomas Assheuer, „Das Zarathustra-Projekt", 31 f. Walter Zimmerli, „Die Evolution in eigener Regie", in: Die Zeit, Nr. 40 (1999), 35. Lutger Lütkehaus, „Der Denker fällt vom Hochseil", in: Der Spiegel, Nr. 38 (1999), 256. Reinhard Mohr, „Züchter des Übermenschen", in: Der Spiegel, Nr. 36 (1999), 268 f. Reinhard Mohr, „Fatwa aus Starnberg", in: Der Spiegel, Nr. 38 (1999), 256 f. Peter Sloterdijk, „Regeln für den Menschenpark", in: Die Zeit, Nr. 38 (1999), 20.
Bildungspolitik mit Nietzsche
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identifizierte,106 lassen sich nicht durch den Verweis darauf ausräumen, daß man hier mit bloßen Exzerpten zu tun habe, so daß der „Einbruch des Medi-zynischen"107 in des späten Nietzsche Denken der Lektüre zweifelhafter nervenärztlicher Literatur geschuldet sei. Auch biographisch orientierte Überlegungen108 können nur begrenzt zur Entlastung Nietzsches Reiches"105 es
beitragen.
In einem allerdings hat eine so argumentierende Nietzscheverteidigung Recht: Die erwähnten sozialdarwinistischen Positionen des späten Nietzsches sind verzichtbar, sie sind ohne Bedeutung für die Theoriearchitektur und ohne Vorbild in der vornehmlich die Psychologie als Aufklärungsinstanz nutzenden Spätphilosophie Nietzsches. Anders verhält es sich mit der damit eng zusammenhängenden, allein dem Reich reiner Theorie zugehörenden Frage nach der Begründbarkeit des Tötungsverbots in einer Ordnung der Dinge ohne Gott. Diese Frage nämlich ist unabweisbar: Wer den Tod Gottes erklärt, kann diese Frage nicht vermeiden; und er muß sie all denen vorhalten, die diese letzte Konsequenz angstvoll umgehen. „Wer soll der Erde Herr sein? Das ist der Refrain meiner praktischen Philosophie" (KSA, NF, 11, 76), äußert Nietzsche denn auch, zum Ausdruck bringend, daß ihm nun, weil um den Tod Gottes wissend, daran gelegen ist, die moralfreie Selbstläufigkeit des geschichtlichen Ablaufs mittels der Geschichtsmächtigkeit eines moralischen Subjekts zu konterkarieren. Und hier nun scheint mir nicht unwichtig, daß Nietzsche ausgerechnet dort, wo er, im Nachlaß vom Herbst 1887 und expressis verbis im erziehungstheoretischen Zusammenhang, über die „Züchtung einer stärkeren Rasse" (KSA, NF, 12, 425) nachdenkt, zugleich auch betont, es gehe ihm nicht nur um eine regierende „Herren-Rasse". Sein Ziel sei vielmehr eine „bejahendef ] Rasse" „mit eigener Lebenssphäre", „mit einem Überschuß von Kraft für Schönheit, Tapferkeit, Cultur, Manier bis ins Geistigste [...], stark genug, um die Tyrannei des Tugend-Imperativs nicht nöthig zu haben, reich genug, um Sparsamkeit und Pedanterie nicht nöthig zu haben" (KSA, NF, 12, 426). Ähnliches nämlich findet sich auch im Zarathustra in Gestalt der Forderung nach einem „neuen Adel[ ], der allem Pöbel und allem GewaltHerrischen Widersacher ist und auf neue Tafeln neu das Wort schreibt ,edel'." (KSA, ZA, 4, 254) Ganz in dieser Logik und die Rede von einer regierenden Herren-Rasse nun ganz beiseitesetzend stellte Nietzsche im Nachlaß vom Frühjahr 1888 gar die Frage, ob nicht im Sieg der Schwachen und Mittleren „eine größere Garantie des Lebens" läge als im Sieg der Starken bzw. ob eine Welt der Starken eigentlich „wünschenswerth" sei, wenn man bedenke, daß dann auch „die Nachwirkung der Schwachen, ihre Feinheit, Rücksicht, Geistigkeit, Biegsamkeit" (KSA, NF, 13, 323 f.), fehle. Die These läßt sich von hier aus besehen kaum noch abweisen, daß Nietzsche den Rassebegriff häufig nur als Metapher nahm und bis zuletzt der humanistisch orientierten Programmatik verpflichtet blieb, die er mittels der im Zarathustra vorgelegten Sozialutopie skizziert hatte. Dafür spricht auch Nietzsches Umgang mit der ihm gegenüber geäußerten Hoffnung seines antisemitischen Schwagers, auch er vertrete einen „Enthousiasmus für .deutsches Wesen'" oder hege den Wunsch, „diese ,herrliche' Rasse gar rein zu erhalten"; Nietzsche nämlich -
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105 Konrad Algermissen, Nietzsche und das Dritte Reich, Celle 1947, 23. 106 Vgl. auch Edgar Weiß, „Nietzsche und seine pädagogikhistorische Problematik. Theoretische und rezeptionsgeschichtliche Bemerkungen zu einer provokanten Bildungsreflexion", in: Christian Niemeyer u. a. (Hg.), Nietzsche in der Pädagogik?, 268. 107 Mazzino Montinari, „Nietzsche lesen: Die Götzen-Dämmerung", in: Nietzsche-Studien, 13 (1984), 76. 108 Vgl. auch: Christian Niemeyer, Nietzsches andere Vernunft. Psychologische Aspekte in Biographie und Werk, Darmstadt 1998, 83 ff.
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Christian Niemeyer
antwortete im März 1885 via
Naumburg nur mit einem vornehmen: „Im Gegentheil, im Gegentheil -" (KSB, NF, 7,23). Wie ernst es Nietzsche mit dieser Bemerkung war, zeigte sich ein Jahr später, als er Jenseits von Gut und Böse vorlegte. Denn auch hier zielte er nicht auf Reinhaltung des ,deutschen Wesens' ab, sondern, unzeitgemäß und provokant genug, auf dessen Niveauhebung unter Zuhilfenahme der jüdischen Rasse. Sie nämlich war es, die Nietzsche nun, zumal vor dem Hintergrund der von ihr erfolgreich bewältigten Anfeindungen, als ,stärkste', ,zäheste' und ,reinste' Rasse Europas ausmachte und entsprechend dem an
sich extrem antisemitisch eingestellten märkischen Junkertum mit deutlich ironischem Unterton anempfahl. Dabei ragt aus Nietzsches „Festrede" in dieser Sache jener Satz hervor, in dem davon die Rede ist, daß es von vielfachem Interesse wäre zu sehen, „ob sich nicht zu der erblichen Kunst des Befehlens und Gehorchens in Beiden ist das bezeichnete Land heute klassisch das Genie des Geldes und der Geduld (und vor allem etwas Geist und Geistigkeit, woran es reichlich an der bezeichneten Stelle fehlt -) hinzuthun, hinzuzüchten Hesse" (KSA, JGB, 5, 194 f.) eine, wie man zugestehen muß, durchaus „heitere Deutschthümelei" (KSA, JGB, 5, 195), die im ,Dritten Reich' denn auch sogleich mit dem alles andere als heiteren Urteil abgefertigt wurde, Nietzsche habe Jüdischer Blutmischung"109 das Wort geredet. Auch von einer Zucht des Übermenschen hat Nietzsche, entgegen zahlreicher Unterstellungen,110 nie gesprochen, sondern allenfalls davon, daß die Aussicht auf ewige Wiederkunft für den sich selbst bestimmenden Übermenschen seinen Schrecken verlöre bzw., als der „großef ] züchtende[ ] Gedanke" (KSA, NF, 11, 73), seine erzieherische Wirkung entfalten könne. Ganz in diesem Sinne meinte schon Josef Spindler vor nun bald neunzig Jahren, daß es Nietzsche nicht um „irgendwelchef ] direkten tätigen Eingriffef ]"'" zuungusten der Schwachen ging, sondern um das Popularisieren einer nun mit Nietzsche gesprochen „Lehre, stark genug, um züchtend zu wirken: stärkend für die Starken, lähmend und zerbrechend für die Weltmüden." (KSA, NF, 11, 69) Diesem anti-biologischen Züchtungsbegriff korrespondiert, daß Zarathustra als Lehrer konzipiert ist, der seine Hauptaufgabe in der Beförderung der Idee des Übermenschentums erblickt und in dieser seiner Eigenschaft betont, daß der Mensch „eine Brücke" sei und „kein Zweck" (KSA, ZA, 4, 248), daß er etwas sei, „das überwunden werden soll" (KSA, ZA, 4, 14), daß er lernen müsse, den „Pfeil seiner Sehnsucht" (KSA, ZA, 4, 19) über sich hinauszuwerfen, daß er „das noch nicht festgestellte Thier" (KSA, JGB, 5, 81) sei. Der Übermensch, so denn auch Heidegger, ist „derjenige Mensch, der -
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109 Karl Justus Obenauer, „Nietzsche und das Dritte Reich", in: Zeitschriftfür deutsche Bildung 12 (1936), 183. 110 So meinte beispielsweise Ulrich Irion, daß die freilich unbiologische „Züchtungsidee des Übermenschen vor allem daran [krankte], daß sie jene aufklärerische Überschätzung normativer Setzungen fortschrieb, deren schärfster Kritiker Nietzsche selbst war." (Ulrich Irion, Eros und Thanatos. Nietzsche und Freud als Vollender eines anti-christlichen Grundzugs im europäischen Denken, Würzburg 1992, 77) Und Margot Fleischer kündigte an, daß „sich der ,Zauber' des Übermenschen als des Sinns der Erde" für (von ihr!) informierte „zivilisierte oder (im traditionellen Verständnis) humane Leser in nichts auflösen [dürfte]." (Margot Fleischer, Der „Sinn der Erde" und die Entzauberung des Übermenschen, Darmstadt 1993, 152) Vor dem Hintergrund dieser düsteren Bilder und suggestiven Posen hat man allen Anlaß, Nietzsche ein Selbstmißverständnis zu bescheinigen und allenfalls einen Nietzsche ohne Übermenschen für eine ersprießliche Gestalt zu halten, die man dann auch der radikal aufklärungskritischen Gegenwart anempfehlen kann. Tatsächlich begegnet einem gerade in neuerer Zeit mit auffälliger Häufung die Kultivierung Nietzsches als eines Kritikers der Moderne. Nietzsches Übermensch hingegen erscheint immer wieder unter dem Kapiteljener Menschenverbesserungsprogrammatiken, die sich, zumal vor dem Hintergrund nationalsozialistischer Perversionen, hinlänglich als verhängnisvoll erwiesen haben und die entsprechend auszusortieren sind. 111 Josef Spindler, Nietzsches Persönlichkeit und Lehre im Lichte seines „Ecce homo", Stuttgart/Berlin 1913, 54. -
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Bildungspolitik mit Nietzsche
über den bisherigen Menschen hinausgeht, einzig um den bisherigen Menschen allererst in sein noch ausstehendes Wesen zu bringen und ihn darin fest zu stellen.""2 Die Pädagogik, spätestens seit Kant an das hiermit umschriebene Projekt der Menschwerdung des Menschen gebunden, hat also nach wie vor allen Anlaß, Nietzsches Übermenschen nicht züchtungstechnischen Großphantasien einzufügen, sondern in bildungsphilosophische Sicht zu nehmen und Nietzsches eingangs gegebenes Zitat, nämlich daß es .irgendwann einmal gar keinen Gedanken geben [werde] als Erziehung', als Teil ihrer eigenen Programmatik zu lesen.
VI. Fazit Die zusammengetragenen Ergebnisse offenbaren eine hohe Selektivität im Umgang der Pädagogik mit Nietzsches Werk, was für die Zeit zwischen 1890 und 1914 meint: Der späte, moralkritische Nietzsche rückte insbesondere für die Vertreter einer Jugendgeneration ins Zentrum, die von ruinierenden Bildungs- und Erziehungserfahrungen betroffen war. Das sich Nietzsche gegenüber zunächst noch versperrende pädagogische Establishment hingegen brachte allenfalls den frühen Nietzsche der Bildungsvorträge zur Geltung, der sich kaum in derartiger Absicht instrumentalisieren ließ, sondern noch dem Ideal einer wahren, auf Selbstzucht bauenden Bildung verpflichtet blieb. Erst in den Jahren 1914 bis 1918 entdeckte dieses Establishment Nietzsche in größerem Umfang als staatszuträglichen Bildungsphilosophen, dessen Wille-zur-Macht-Konzeption dem Ideal einer deutsch-nationalen, militärischen Jugenderziehung zuführbar war. In der Weimarer Epoche hingegen nahm man das gemeinschaftsstiftende Kriegserleben als Anlaß, dem vermeintlich radikalen Individualismus Nietzsches Adieu zu sagen, um ihn auch im Blick auf jene Passagen seines Werkes als wirkmächtig zu erproben, in denen der Gemeinschaftsgedanke zumindest in verdeckter Form haust. Der pädagogische Nietzsche des Nationalsozialismus schließlich erweckt fast den Eindruck, als sei es Nietzsche um nichts anderes gegangen als um die Zelebrierung eines heroischen Jugendlichentypus arischer Wesensart, der durch Züchtung erzeugt und durch Selektion verhindert werden könne. Und wenn Sie mir nun erlauben, die vielen Facetten, die die pädagogische Rezeption in der Nachkriegszeit an Nietzsche herantrug, nicht erneut Ihnen im Detail vor Augen zu führen, bleibt als Bilanz nur, daß man offenbar nur dann mit Nietzsche Bildungspolitik machen kann und machen konnte, wenn man ihn nicht in seiner Ganzheit in Betracht zieht, sondern nur in dem, was einem nützlich ist. Dies aber ahnte schon Nietzsche: „Dem Staat", so schrieb er in Schopenhauer als Erzieher, „ist es nie an der Wahrheit gelegen, sondern immer nur an der ihm nützlichen Wahrheit" (KSA, SE, 1, 422). Für uns Wissenschaftler heute folgt daraus der Auftrag, dem Staat dort mit Skepsis entgegenzutreten, wo er uns verpflichten will zur Teilhabe an der Produktion nützlichen bildungspolitischen Wissens. Denn unser Auftrag kann immer nur der der Wahrheitsannäherung durch Ausschaltung des Falschen sein und sei es nur dadurch, daß man den ganzen Nietzsche in Erinnerung hält und nicht nur, wie dies Sloterdijk tut, einen halbierten präsentiert. -
Heidegger, „Wer ist Nietzsches Zarathustra?" (1954), sophische Nietzsche-Rezeption, Frankfurt a.M. 1991, 76.
112 Martin
in: Alfredo Guzzoni
(Hg),
100 Jahre
philo-
Karol Sauerland
Der Bildungsgedanke des jungen Nietzsche
Für den jungen Nietzsche ist Bildung Zucht, durch die der Mensch zum rechten Geschmack, zu Überdurchschnittlichkeit im Ausdruck und zum Hinterfragen von bemerkten, nicht unbedingt bemerkenswerten Erscheinungen gelangt. Im Zeitalter der Massenmedien für ihn war es das der Zeitungen und Journale wird eine solche Bildung verunmöglicht, vor allem durch die scheinbar leichte Zugänglichkeit und das überreiche Angebot an Wissen. Es ist ein Übermaß, das „ohne Hunger, ja wider das Bedürfnis aufgenommen wird" (KGW, 111/1, 268), wie Nietzsche in der Zweiten Unzeitgemäßen schreibt, und das sich als unverdaulich erweist. Es läßt sich nicht in Etwas verwandeln, das auf die Außenwelt zurückstrahlt, zu ihrer Umgestaltung dienen könnte, sondern bleibt „in einer gewissen chaotischen Innenwelt verborgen, die jener moderne Mensch mit seltsamen Stolze als die ihm eigentümliche ,Innerlichkeit' bezeichnet" (KGW, III/l, 269). Nietzsche gebraucht hier das Wort Innerlichkeit so, daß wir unwillkürlich an Innereien denken müssen. Tatsächlich hat er Magen und Gedärm im Sinn, in denen er eine „unerhörte Menge von Wissenssteinen" stecken sieht. Bei „Gelegenheit" würden sie „ordentlich im Leibe rumpeln, wie es im Märchen heißt" (KGW, III/l, 268). Wenn das Innere nicht funktioniert Marx würde vom Stoffwechsel sprechen -, ist es auch schlecht um das Äußere bestellt. Die Einheit ist verlorengegangen, das „lebendige Eine", wie es bei Nietzsche heißt, zerfallt „elend in Inneres und Äußeres, in Inhalt und Form [...]" (KGW, III/l, 270). Diese Zerrissenheit könnte u. a. „durch Vernichtung der modernen Gebildetheit zu Gunsten einer wahren Bildung" überwunden werden. Was soll da vernichtet werden und was heißt wahre Bildung? Streng genommen müßte all das vernichtet werden, was den modernen Menschen hervorbringt. Das wäre zum einen die allgemeine Zugänglichkeit zu den Bildungsanstalten,1 womit Nietzsche in erster Linie die Gymnasien meint, welche die Grundlage für den späteren Bildungsweg schaffen, zum anderen die Erleichterung der Ausbildung durch Minimalisierung der wegen der Praxisferne nicht einsehbaren Anforderungen, was nicht nur, wie Nietzsche befürchtete, zur Verflachung, sondern am Ende zur Abschaffung von Latein und Griechisch als Unterrichtsfächer geführt hat, und zum dritten das „allgemeine Gewährenlassen der sogenannten ,freien Persönlichkeit'", was „wohl nichts anderes als das Kennzeichen der Barbarei sein möchte" (KGW, III/2, 175). Dieses Gewährenlassen würde man heute Vertrauen in den jungen Menschen nennen, daß er bereits im frühen Alter zu Allgemeinurteilen fähig sei, er experimentierend zu alten oder neuen Einsichten gelangen könne. -
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1
In der Tendenz ist für Nietzsche allgemeine Bildung „nur ein Vorstadium des Communismus: die Bildung wird auf diesem Wege so abgeschwächt", heißt es in einer Notiz, „daß sie gar kein Privilegium mehr verleihen kann. Am wenigstens ist sie ein Mittel gegen den Communismus. Die allgemeinste Bildung, d. h. die Barbarei ist eben Voraussetzung des Communismus" (KGW, III/3, 253).
Karol Sauerland
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Wahre (oder auch höchste) Bildung bedeutet wenn wir die Notiz übergehen, daß sie etwas Unnützes sei (KSA, NF, 7, 380), von dem man nicht leben könne erst einmal sprachliche Bildung. Obwohl es Nietzsche um die rechte Beherrschung der deutschen Sprache geht, glaubt er, daß dies nur über das Erlernen des Griechischen und Lateinischen erreichbar sei. Dort bekäme der junge Mensch den Sinn für den exakten Gebrauch von Worten, die Bedeutung grammatischer und stilistischer Formen, und die Wichtigkeit von Satzzeichen werden ihm eingeprägt, ja eingebrannt. Parallel dazu wären die Werke anerkannter deutscher Autoren Winckelmann, Lessing, Schiller und Goethe wie die klassischer Autoren zu behandeln, damit der junge Mensch das richtige „Gefühl für die Größe unserer Klassiker" erhalte (KGW, III/2,175). Wer durch diese Schule gegangen ist, wird nicht mehr dem modernen Geschmack anhängen: -
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„Erst durch eine solche Zucht bekommt der junge Mensch jenen physischen Ekel vor der beliebten und
gepriesenen ,Eleganz' des Stils unsrer Zeitungsfabrik-Arbeiter und der gewählten Diktion' unserer Literaten, und ist mit einem Schlage Romanschreiber, und endgültig über eine ganze Reihe von recht komischen Fragen und Skrupeln hinausgehoben, zum Beispiel ob Auerbach oder Gutzkow wirklich Dichter sind; man kann sie einfach vor Ekel nicht mehr lesen damit ist die Frage entschieden." (KGW, III/2, 176) so
so
vor
Nietzsche hätte ebenso sagen können: Damit ist die Frage der Vernichtung der „modernen Gebildetheit" bzw. Ungebildetheit entschieden. Modern verbindet Nietzsche auch mit dem Kosmopolitischen, das für ihn eine „Entartung" darstellt. So sei das, „was sich jetzt mit besonderem Dünkel ,deutsche Kultur' nennt, ein kosmopolitisches Aggregat, das sich zum deutschen Geiste verhält, wie der Journalist zu Schiller, wie Meyerbeer zu Beethoven: hier übt den stärksten Einfluß die im tiefsten Fundamente ungermanische Civilisation der Franzosen, die talentlos und mit unsicherem Geschmack nachgeahmt wird und in dieser Nachahmung der deutschen Gesellschaft und Presse, Kunst und Stilistik eine gleißnerische Form giebt." (KGW, III/2, 182) So gleißnerisch seien nicht einmal die Formen in Frankreich und Italien trotz aller Modernität und die der Russen, bei denen Nietzsche höchstwahrscheinlich an Turgenjew und Tolstoj dachte. Zur unerwünschten Entwicklung der deutschen Kultur in der Jetztzeit führt Nietzsche jedoch ein Gegengewicht an, das für heutige Ohren unangenehm klingt: -
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so fester halten wir an dem deutschen Geiste fest, der sich in der deutschen Reformation und in der deutschen Musik offenbart hat und der in der ungeheuren Tapferkeit und Strenge der deutschen Philosophie und in der neuerdings erprobten Treue des deutschen Soldaten jene nachhaltige, allem Scheine abgeneigte Kraft bewiesen hat, von der wir auch einen Sieg über jene modische Pseudokultur der Jetztzeit' erwarten dürfen. In diesen Kampf die wahre Bildungsschule hineinzuziehen und besonders im Gymnasium die heranwachsende neue Generation für das zu entzünden, was wahrhaft deutsch ist, ist die von uns erhoffte Zukunftsthätigkeit der Schule: in welcher auch endlich die sogenannte classische Bildung wieder ihren natürlichen Boden und ihren einzigen Ausgangspukt erhalten wird. Eine wahre Erneuerung und Reinigung des Gymnasiums wird nur aus einer tiefen und gewaltigen Erneuerung und Reinigung des deutschen Geistes hervorgehn."
„Um
(KGW, III/2, 183)
Dieser Stelle kann man gewiß den einleitenden Absatz in der Ersten halten:
Unzeitgemäßen entgegen-
Der
Bildungsgedanke des jungen Nietzsche
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„Die öffentliche Meinung in Deutschland scheint es fast zu verbieten, von den schlimmen
und gefährlichen Folgen des Krieges, zumal eines siegreich beendeten Krieges zu reden: um so williger werden aber diejenigen Schriftsteller angehört, welche keine wichtigere Meinung als die öffentliche kennen und deshalb wetteifernd beflissen sind, den Krieg zu
preisen und den mächtigen Phänomenen seiner Einwirkung auf Sittlichkeit, Kultur und Kunst jubilirend nachzugehen. Trotzdem sei hier gesagt: ein grosser Sieg ist eine grosse Gefahr. Die menschliche Natur trägt ihn schwerer als eine Niederlage; ja es scheint selbst leichter zu sein, einen solchen Sieg zu erringen, als ihn so zu ertragen, dass daraus keine schwere Niederlage entsteht. Von allen schlimmen Folgen aber, die der letzte mit Frankreich geführte Krieg hinter sich drein zieht, ist vielleicht die schlimmste ein weitverbreiteter, ja allgemeiner Irrthum: der Irrthum der öffentlichen Meinung und aller öffentlichen Meinenden, dass auch die deutsche Kultur in jenem Kampfe gesiegt habe und deshalb mit Kränzen geschmückt werden müsse, die so ausserordentlichen Begebnissen und Erfolgen gemäss seien. Dieser Wahn ist höchst verderblich: nicht etwa weil er ein Wahn ist denn
die heilsamsten und segenreichsten Irrthümer sondern weil er im Stande ist, unseren Sieg in eine völlige Niederlage zu verwandeln: in die Niederlage, ja Exstirpation des deutschen Geistes zu Gunsten des .deutschen Reiches '." (KGW, III/l, 155 f.) es
giebt
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Es ist anzunehmen, daß Nietzsche diese Worte mit Blick auf sein Lob des Sieges über Frankreich ein Jahr zuvor gleich an den Anfang seiner Ersten Unzeitgemäßen gesetzt hat. Er verläßt aber nicht das Denkschema des Nationalen, das allerdings durch Kritik an der eigenen Nation, Relativierung und Verwerfung der Identifizierung von Staat und Nation abgeschwächt wird. Wenn er vom „deutschen Geist" spricht, meint er eindeutig die Kulturnation (ein Begriff, der sich übrigens kaum ins Polnische übersetzen läßt). Nur als solche überragt sie die französische Zivilisation, denn der deutsche Geist ist eine Fortführung des griechischen. Zur Relativierung gehört, daß Staat und Journalismus Gegner des „deutschen Geistes" sind, ja sein müssen (KGW, III/2, 199 f.), weil sie das Außerordentliche fürchten und hassen. Unter Bildung versteht der junge Nietzsche eine nationale Aufgabe. An den Transfer von Gebildeten aus anderen Ländern und in andere Länder, an internationalen Wettbewerb scheint er nicht zu denken. Er braucht es nicht zu tun, weil er die Ausbildung von Wissenschaftlern als kontraproduktiv zur wahren Bildung erachtet. Sie verengen den geistigen Horizont infolge enger Spezialisierung und Beschränkung auf oberflächliches Allgemeinwissen. Sie sind zwar aus unserem Leben nicht wegzudenken, doch zu ihrer Ausbildung brauche man einen neuen Typ von Unterrichtsstätten wie die Real- und Fachschulen oder das Polytechnikum. Dort ist Latein nicht vonnöten. Insgesamt scheint es das beste zu sein, wenn die Bildung insgesamt auf ein Minimum beschränkt bleibt, man den „heilenden Gesundheitsschlaf des Volkes" nicht unterbricht (KGW, III/2, 191), denn nicht
„Bildung der Masse kann unser Ziel sein: sondern Bildung der einzelnen ausgelesenen, für große und bleibende Werke ausgerüstete Menschen: wir wissen nun einmal, daß eine gerechte Nachwelt den gesammten Bildungsstand eines Volkes nur und ganz allein nach jenen großen, einsam schreitenden Helden einer Zeit beurtheilen und je nach der Art, wie dieselben erkannt, gefördert, geehrt oder sekretirt, mißhandelt, zerstört worden sind, ihre Stimme abgeben wird." (KGW, III/2, 190 f.) Nietzsche reflektiert nicht, daß es einmal, vom 16. bis zum beginnenden 18.Jahrhundert ein europäisches Netzwerk von Gelehrten mit „wahrer Bildung" gab, deren gemeinsame Sprache
Karol Sauerland
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das Latein war. In den Notizen zwischen 1871 und 1872 sagt er lediglich, daß die „lateinische Schule die unnationale Bildungsschule der Gelehrten" war (KSA, NF, 7, 381). Es geht ihm zu sehr um das Deutsche, das tatsächlich eine große Zukunft vor sich hatte und sich international durchgesetzt hätte, wenn die Deutschen weniger ungeduldig gewesen wären. Heute sind sie wieder wenngleich in umgekehrter Weise ungeduldig, indem sie ihr eigenes Bildungssystem, insbesondere das universitäre, in Bausch und Bogen verurteilen, so daß man im Ausland auf dessen Erfolge nicht verweisen kann, ohne sogleich zu vernehmen, die Deutschen würden ja selber nichts davon halten. Das Dilemma des Humboldtschen Systems, das das deutsche Bildungssystem so geprägt hat, erkannte bereits Nietzsche, ohne jedoch in den Vorlesungen von 1872 auf den Namen zu verweisen. Für Humboldt standen Lehrende und Lernende in gleicher Weise vor den Problemen der Wissenschaft, die er als ein immer „nicht ganz aufgelöstes Problem, etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes" bezeichnete. Der Lehrende gibt seine Erfahrungen an den Lernenden mitsamt dessen, was er nicht weiß, aber gern wissen möchte, weiter. Er präsentiert sich als ein Suchender und fordert als solcher die anderen zum Mitsuchen auf. Humboldt setzt natürlich gut ausgebildete und interessierte Lernende voraus, die nicht bereits zu Beginn des Studiums den zukünftigen Beruf im Auge haben. Er glaubt, aufgewachsen im Geist der Aufklärung, dieses System sei so anziehend, daß es auch die Passiven und anfänglich Uninteressierten mitreißen wird, womit er so Unrecht nicht hat. Nietzsche erkennt dagegen die wunden Punkte, auf die er den Finger legt. Wie kann, fragt er, ein Schüler ein freies Aufsatzthema wählen, wenn er sich zuvor nie in literarischer bzw. essayistischer Produktion geübt hat, oder abschätzen, welches Seminar ihm gut täte, wenn er von den Gegenständen, die dort behandelt werden, kaum eine Ahnung hat, wenn ihm die Zucht fehlt. Diesem logischen Argument läßt sich wenig entgegenhalten. Aber Nietzsche treibt die Logik weiter, indem er die nicht wahr Gebildeten aus dem wahren Bildungsgang ausschließen möchte und aus dem Lehrenden einen Weisen, ja Führer macht. In den Vorlesungen Über die Zukunft der Bildungsanstalten ist es der Philosoph, der wie später Zarathustra voller autoritärer Gesten ist. Er zürnt, verläßt den Schüler, kehrt zurück, sagt, was man zu denken habe, stellt sich geheimnisvoll entfernt von den anderen hin, womit er in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit rückt etc. Er ist der einsame Genius und muß es bleiben, insbesondere in einer Zeit, in der der Genius oder besser dessen Rechte demokratisiert, womit Nietzsche nivelliert meint, werden sollen. Das wäre das Ende der „wahren Bildung". Man könnte einwerfen, Nietzsches Modell entspräche der heutigen Idee der Eliteschulen bzw. eines Bildungswegs für Ausgewählte, die von Kind auf in Zucht gehalten werden wie musikalische Wunderkinder. Die Zucht gelingt selbstredend nur, wenn auch die Lehrer und Lehrerinnen höchste Qualifikationen aufweisen. Es ist eine nicht abzuweisende Alternative zu der derzeitigen weltweiten Vergeudung von jungen Talenten, weswegen es sich lohnt, zumindest um den Erhalt von Oxford, Cambridge und ähnlichen Bildungsanstalten zu kämpfen, die Anhängern einer Demokratisierung des Bildungssystems ein Dorn im Auge sind. Die Reinheit der Demokratie scheint durch deren Existenz gestört. Dem Staat ist daran gelegen, was Nietzsche immer wieder unterstreicht, die Bildungsanstalten für sich in Anspruch zu nehmen. Sie sollen ihm gefügige Beamte ausbilden, was er „durch übermäßig anstrengende Examina" zu erreichen sucht (KGW, III/2, 155).2 Gleichzeitig läßt er das Außergewöhnliche -
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In seiner Kritik an der Unterordnung der Bildung unter staatliche Interessen findet sich Nietzsche in Übereinstimmung mit Zeitgenossen, u. a. mit Karl Ludwig Roth, wie Jörg Schneider in seinem Artikel „Nietzsches
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nicht mehr zu. In den Vorlesungen Über die Zukunft der Bildungsanstalten wird Preußen als die extreme Verkörperung einer solchen Tendenz hingestellt. Das sei bedrohlich und bekomme „für den wahren deutschen Geist gefährliche Bedeutung [...]" (KGW, III/2, 199).3 Insgesamt gesehen könne es dem Staat nie um „wahre Bildung" gehen. Diese wäre für ihn eher etwas Störendes. Die geistige Aristokratie müsse sich daher Freiheit vom Staate verschaffen, wie Nietzsche in seinen Notizen bemerkt. Und an Schopenhauer lobt er, daß er sich separierte, „Unabhängigkeit von Staat und Gesellschaft" erstrebte (KGW, III/l, 347). Da Nietzsche eine Demokratisierung des Staates nicht ins Auge faßt, vermochte er auch nicht den Gedanken zu denken, daß Demokratie ohne den an den Bildungsanstalten erlernten freien Austausch von Gedanken nicht oder schlecht funktionieren kann. Man erkennt es derzeit, wenn man die Beamten der neuen Demokratien mit denen der alten bzw. älteren ver-
gleicht.
Zur Bildung gehören Wissensaneignung, das Erlernen von Fertigkeiten und Methoden sowie die Entwicklung von Fähigkeiten. Nach Nietzsche wird der moderne Mensch mit unnützem Wissen überhäuft, während seine Fähigkeiten so gut wie gar nicht geweckt und gefördert werden. Beim letzteren hat er im Grunde genommen einerseits das genaue Lesen von alten Texten, die ihm bei der Lektüre wie neu erscheinen, andererseits das Vermögen zu schreiben im Sinn. Wenn man Hannah Arendt Glauben schenken darf, war es Heidegger, der ersteres in den Universitätsunterricht eingeführt hat. Zu seinem 80. Geburtstag schrieb sie 1969, daß sie nach ihrem externen Abitur den Entschluß gefaßt hatte, nach Marburg zu gehen, denn einem Gerücht zufolge gab es dort einen Privatdozenten,
„der die Sachen, die Husserl proklamiert hatte, wirklich erreicht, der weiß, daß sie keine akademische Angelegenheit sind, sondern das Anliegen von denkenden Menschen, und zwar nicht erst seit gestern und heute, sondern seit eh und je, und der, gerade weil ihm der Faden der Tradition gerissen ist, die Vergangenheit neu entdeckt. Technisch entscheidend war, daß nicht über Plato gesprochen und seine Ideenlehre dargestellt wurde, sondern daß ein Dialog durch ein ganzes Semester Schritt für Schritt verfolgt und abgefragt wurde, bis es keine tausendjährige Lehre mehr gab, sondern nur eine höchst gegenwärtige Problematik. Heute klingt das vermutlich ganz vertraut, weil so viele es jetzt so machen; vor Heidegger hat es niemand gemacht. Das Gerücht sagt es ganz einfach: Das Denken ist wieder lebendig geworden, die totgeglaubten Bildungsschätze der Vergangenheit werden zum Sprechen gebracht, wobei sich herausstellt, daß sie ganz andere Dinge vorbringen, als man mißtrauisch vermutet hat. Es gibt einen Lehrer; man kann vielleicht das Denken lernen."4
Hannah Arendt
folgte diesem Gerücht und erfuhr, daß
Basler Vorträge Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten im Lichte seiner Lektüre pädagogischer Literatur" gezeigt hat (in: Nietzsche-Studien 21 [1992], 316). Übereinstimmungen gibt es auch in der Kritik an dem Journalismus und der Gesamtbildung (ebd., 315). 3 Über Preußens Schulwesen hatte Nietzsche sich bereits in einem Brief an Carl von Gersdorff am 7.11.1870 kritisch geäußert (KGB, n/1, 155). 4 Hannah Arendt, „Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt", in: Merkur, Heft 10, 1969, 893-902; zitiert nach Walter Biemel, Martin Heidegger in Selbstzeugnissen und Dokumenten, Reinbek 1973, 12 f.
„Denken als reine Tätigkeit, und das heißt weder vom Wissensdurst noch vom Erkenntnis-
drang getrieben, zu einer Leidenschaft werden kann, die alle anderen Fähigkeiten und Gaben nicht so sehr beherrscht als ordnet und durchherrscht. Wir sind so an die alten Entgegensetzungen von Vernunft und Leidenschaft, von Geist und Leben gewöhnt, daß uns die Vorstellung von einem leidenschaftlichen Denken, in dem Denken und Lebendigsein eins werden, einigermaßen befremdet."5 Das war gewiß im Geiste von Nietzsche. Mit dem Schreiben ist es dagegen nach wie vor schlecht bestellt. Die europäischen Universitäten sind immer noch Anstalten vom Mund ins Ohr, wie es Nietzsche witzig beschreibt. Niemand ahmt das englische System in Cambridge und Oxford nach, wo jeder Student allwöchentlich seine Gedanken zu Papier bringt und dies dem Lehrer übergibt. Dort ist es unmöglich, daß die Diplom- oder Magisterarbeit die erste schriftliche Leistung des/der Studierenden darstellt (in Deutschland gibt es immerhin noch die Semesterarbeiten). Es braucht nicht betont zu werden, daß Nietzsche seine Wirkung im großen Maße seiner Schreibkönnerschaft zu verdanken hat. Wer hat schon so treffend formuliert und wer wagte schon, um des Schreibens willen, der wahren Bildung willen, aus dem Wissenschaftsbetrieb auszuscheiden, die Einsamkeit des Meisters und Sehers zu wählen, ohne von Zeit zu Zeit vor Lernenden Jüngern wie bei Zarathustra zu erscheinen, um ihnen den rechten Weg zu weisen, so zu leben, wie er es von Schopenhauer sagte: ganz und gar als Einsiedler (KGW, 111/1, 349). Oder als freier Philosoph und Künstler zugleich. Es war ihm nicht einmal vergönnt, ein Kloster zu gründen.6 Der Satz im Brief vom 14./15. Juli 1870 an Erwin Rhode: „Wir werden wieder Klöster brauchen. Und wir werden die ersten fratres sein",7 sollte Wunschtraum bleiben. -
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Hannah Arendt, „Martin Heidegger ist achtzig Jahre alt", 14. „Organisationen der intellektuellen Kasten" (KSA, NF, 7, 413) schwebten Nietzsche schon immer vor. Friedrich Nietzsche, Briefwechsel mit Erwin Rohde, Leipzig 1923, 151.
ERWIN HUFNAGEL
Nietzsche als Provokation für die Bildungsphilosophie Versuch, den Griechischen Staat zu lesen Die Pädagogik hat sich bislang der grundstürzenden Bildungsphilosophie Nietzsches nicht in hinreichendem Maße und mit der notwendigen gedanklichen Radikalität gestellt. Statt dessen wurden weltanschauliche, rationalistisch-aufklärerische oder romantisch-lebensphilosophische Orientierungen manchmal eigentümlich und spannungsreich miteinander verwoben perpetuiert. An der Möglichkeit von mehr oder weniger umfänglichen S innVerwirklichungen hielt fundamentale Ängste abwehrend aus Daseinsnot und mit uneingestandener Feigheit man fest. Die in den sechziger Jahren théorie- und traditionslos forcierte Transkription der Pädagogik zu einem sozialwissenschaftlichen Subsystem und deren damit einhergehende Abkoppelung von der Philosophie kam dieser Rezeptionshermetik entgegen. Selbst in der Kritischen Erziehungswissenschaft wurden in verschiedenen Nuancierungen die Wertungen, Kategorien und Sinnhoffnungen der Aufklärung mit teilweise diffusen ideologiekritischen Einsprengseln tradiert. Zu einer kategorial-axiologischen Kritik kam es in diesem pädagogischen Kritizismus eben nicht.1 Josef Leonhard Blaß hat in seinem historisch-systematischen Grundlagenwerk Modelle pädagogischer Theoriebildung2 Nietzsches Pädagogik-Konzept einer äußerst subtilen und kritischen Analyse unterzogen. Dabei stellt er die antiplatonischen, die transzendente Idee des Guten negierenden und ideologisch entlarvenden Tendenzen in Nietzsches (pädagogischen) Schriften ebenso heraus wie die fatale, auf totalitäre theoretische und praktische Wirklichkeiten verweisende antiplatonische Koinzidenz von Metaphysik, Politik und Pädagogik.3 So verdienstvoll es ohne Zweifel ist, Nietzsches Bildungsphilosophie aus dem Kontext der abendländischen pädagogischen Theorietradition zu interpretieren, so unzulänglich bleibt dennoch die im wahrsten Sinne fragwürdige Bezugnahme auf für verbindlich erachtete metaphysische Vorgaben unserer europäischen Geistesgeschichte. In solchem Bezug muß Nietzsches Philosophie als Destruktion, als Nivellierung und Umkehrung metaphysischer und empirischer Differenzierungen erscheinen. Die innovative, den zum globalen Schicksal gewordenen Nihilismus überwindende Potenz des Nietzscheschen Denkens verschwindet aus dem Blick. -
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Eine verständnisvolle Gesamtdarstellung der Nietzscheschen Philosophie unter vorrangig pädagogischer Perspektive hat Rainer Kokemohr (in: Hans Scheuert (Hg.), Klassiker der Pädagogik, Bd 2, München 1979,34-45) vorgelegt. Es versteht sich von selbst, daß die entscheidenden axiologischen und kategorialen Probleme, die sich aus der Nietzscheschen Philosophie für die Pädagogik ergeben, in einem solchen Übersichtsreferat nicht behandelt werden können. Eine Wirkung auf die pädagogische Grundlagendiskussion läßt sich dementsprechend nicht
feststellen. 2 Josef Leonhard 3
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Blaß, Modelle pädagogischer Theoriebildung, Wissenschaft, Stuttgart u. a. 1978, 13-44. Ebd., 39 ff.
Bd. 2:
Pädagogik
zwischen
Ideologie
und
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Erwin Hufnagel
Man läßt sich nicht in den Wirbel der Perspektiven und Wertungsmöglichkeiten alles wagend hineinziehen. Schon die auf die Frühphase beschränkte Auswahl der Schriften {Die Geburt der Tragödie, Der griechische Staat, Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen) verhindert eine fruchtbare Konfrontation mit Nietzsches destruktiv-konstruktivem, versuchendem ernsten Spiel. Sie werden denn auch weitgehend dogmatisch interpretiert und letztlich für eine Abkehr von den Nietzscheschen Irritationen genutzt. An der Blaßschen Exegese einiger Frühschriften zeigt sich, wie schwierig die alle bisherigen Positionen überschreitende hermeneutische Grundhaltung ist, die wir den Nietzscheschen Schriften gegenüber einnehmen müssen. Selbst ein neuer Modus der hermeneutischen Kritik müßte in diesem Zusammenhang entwickelt werden. Nietzsche fordert auch die hermeneutische Tradition heraus: Interpretation als unendlich variables Spiel, das mit willkürlicher, ideenflüchtiger Spielerei freilich nichts zu tun hat. In der Nietzsche-Exegese muß die Hermeneutik aus der Tradition Diltheys, Schlegels und Schleiermachers im Hegeischen Sinne aufgehoben werden. Nietzsches Denken fordert und das wird in der Nietzsche-Forschung nicht genügend beachtet einen neuen Stil der Interpretation, in dem Philosophie und Kunst, wie es Herder glücklicheren Epochen erhoffte, sich zur Deutungsbestimmtheit vermählen. Im Rahmen der kategorial festgezurrten akademischen Philosophie und Pädagogik hat Nietzsches Denken strenggenommen kein Publikum. Es geht nicht an, Nietzsche unter bestimmten Fragestellungen oder gar Modegesichtspunkten einfach zu interpretieren, sondern es bedarf einer Metatheorie der Interpretation. Sie gewinnt erst im Rückgriff auf das Nietzschesche Gesamtwerk und dessen fundamentale Intentionen verläßliche Konturen. Die interpretative Versenkung in einzelne Schriften oder Epochen läßt sich nur so legitimieren. Wesentlich jedenfalls ist, daß der unerhörten Neuheit des Nietzscheschen Philosophierens, in dem auch nicht einfach, wie eine resistente Nietzsche-Deutung glauben machen will, die Abdankung der Metaphysik durch eine Gegenmetaphysik erzwungen werden soll, ein neues exegetisches Procederé entspricht. Dilettierende Journalisten und sich philosophisch gerierende Künstler stellen sich offensichtlich dieser hermeneutischen Herausforderung ebensowenig wie die alten wahrheitsund eindeutigkeitsbezogenen hermeneutischen Modelle. Wir werden diese neue Hermeneutik nicht deduktiv, d. h. als prinzipielle Systematik entwickeln, obwohl eine solche theoretische Möglichkeit sicher besteht und auch erstellt werden müßte. Wir gehen einen anderen Weg, nämlich den der indirekten hermeneutischen Mitteilung. In der Interpretation einzelner bildungsphilosophisch relevanter Schriften wollen whims an einer monadologischen Hermeneutik als dem Gegenentwurf zur tradierten Entscheidbarke itshermeneutik orientieren, wohlwissend, daß monadische Momente seit Schlegels und Schleiermachers Grundlegung der Hermeneutik in deren Verfahren integriert wurden. Dennoch besteht eine kaum zu überschätzende Kluft zwischen dieser Hermeneutik-Tradition mit ihrem latenten Piatonismus qua Eindeutigkeitsorientierung und sei sie auch nur regulativ und der monadologisch-vieldeutigen Hermeneutik, die bei Nietzsche aufscheint und allerdings manchmal auch in Gefahr ist, in einem oberflächlichen Dogmatismus verraten zu werden. Jedenfalls ist es völlig unzulänglich, als hermeneutische Reflexion in der NietzscheExegese auf das Perspektivismus-Theorem relativierend oder totalisierend zu rekurrieren. Der Nietzschesche Perspektivismus sei er nun das letzte Wort oder nicht muß endlich in den systematischen Kontext einer hermeneutischen Reflexion eingefügt werden.4 -
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Vgl. zum Problem des Perspektivismus Volker Gerhardt, Friedrich Nietzsche, München 1992. Hilfreich für eine Gesamtwürdigung sind u. a. Günter Figal, Nietzsche. Eine philosophische Einführung, Stuttgart 1999; Eugen Fink, Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1960; Karl Jaspers, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines
Nietzsche als Provokation für die Bildungsphilosophie
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Unter den Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern befindet sich ein Text, dem J. L. Blaß besondere Aufmerksamkeit schenkt, nämlich die problematische, zu Fehlinterpretationen geradezu einladende Skizze Der griechische Staat (KSA, CV, 1, 764-777). Der Sinn dieses Textes erschließt sich erst dann in seiner vollen Tiefe, wenn man ihn akzentuiert von seinem platonischen Ende her interpretiert, worauf Blaß verzichtet. Nietzsche nutzt Piatons regulative Utopie der ideenbestimmten und ideenbezogenen Polis, um selbstverständliche aufklärerisch-neuzeitliche Wertungen, die sich in mannigfachen Institutionen sozial-kulturell sedimentieren und einen neuen, von Nietzsche beargwöhnten und bemitleideten Typus des Menschen schaffen und reproduzieren, kontrastierend in Frage zu stellen. Es gilt, axiologische Verkrustungen, die im Laufe der Geschichte sichernd-entlastend und immer auch deformierend-vereinseitigend Gestalt gewinnen, im tiefsten Sinne historisierend aufzubrechen. Geschichtliches Bewußtsein diese Überzeugung teilt Nietzsche mit den Protagonisten des Historismus befreit vom Maulwurfsblick der Gegenwart. Als emanzipatorische Haltung läßt sich das geschichtliche Bewußtsein rechtfertigen. Ohne geschichtliches Bewußtsein bleibt der Mensch gefangen in den sich zur Vernünftigkeit aufspreizenden Vorurteilen und wertenden Willkürlichkeiten der jeweiligen Gegenwart. Kritik und Legitimation des historischen Bewußtseins gehören für Nietzsche die Zweite unzeitgemäße Betrachtung (KSA, HL, 1, 243-334) wird dies detailliert erweisen unlösbar zusammen. Nietzsche spielt im Griechischen Staat die historisierende Emanzipation geradezu genüßlich provozierend durch. Der Text ist (auch) ein Dokument der Selbstbefreiung. Er ist in seinem Kern durchaus persönlich; in ihm manifestiert sich Arbeit an sich selbst. Eine dogmatische Mitteilung für andere, für mögliche Gefolgsleute oder Widersacher, ist überhaupt nicht beabsichtigt. Nietzsche spricht mit sich selbst; er sucht seine denkerische Identität im Durchspielen extremer Möglichkeiten. Insofern müssen wir den Text als ersehnte, möglicherweise auch gefürchtete Selbstherausforderung Nietzsches lesen. Auf diese Weise nehmen wir den Text ernst, ohne ihn jedoch als Programmschrift mißzuverstehen. Nietzsche beginnt seine gedankliche Befreiung mit einer axiologischen Rückbesinnung: die Vita contemplativa wurde in der Aufklärung durch die Vita activa in der Wirklichkeit und in der Wertung marginalisiert bzw. verdrängt. Die Leistungsgesellschaft, die als politisch-soziale Einlösung der Gerechtigkeitsidee gefeiert wurde, wertet Kontemplation als Müßiggang, als aller Laster Anfang. In den popularisierenden Schriften der Aufklärungspädagogen besonders deutlich bei Joachim Heinrich Campe5 tritt diese antike Wertungen bedenkenlos auf den -
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Kopf stellende Zentrierung des neuzeitlichen Denkens auf Arbeit und Herstellen als neue bürgerliche Identität besonders deutlich hervor. Für Nietzsche stellt sich die Leistungsgesellschaft als Universalisierung des Sklaventums heraus. Eine humane Gesellschaft ist nicht einfach in der bürgerlichen, durch Rechtsgleichheit gesicherten Leistungsgesellschaft verwirklicht. Die aufklärerisch inthronisierte, als Emanzipation gefeierte und schrittweise realisierte Leistungsgesellschaft kann zutiefst inhuman sein. Erhoffte politische Befreiung kann so lautet seine zeitkritische Diagnose in mentaler Versklavung enden. Nichts Geringeres als die -
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Philosophierens, 3., unveränderte Aufl., Berlin 1950; Karl Löwith, Nietzsche, Stuttgart 1987; Hermann Josef Schmidt, „Friedrich Nietzsche: Philosophie als Tragödie", in: Josef Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen. Philosophie der Neuzeit III, Göttingen 1983,198-241. Zur Problematik der Nietzsche-Interpretation vgl. Hermann Josef Schmidt, „Mindestbedingungen nietzscheadäquaterer Nietzscheinterpretation oder Versuch einer produktiven Provokation", in: Nietzsche-Studien, Bd. 18 (1989), 440-454. Vgl. Joachim Heinrich Campe, Robinson der Jüngere, zur angenehmen und nützlichen Unterhaltungfür Kinder, Stuttgart 1981.
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Erwin Hufnagel
späterhin von Adorno und Horkheimer durchgespielte Dialektik der Aufklärung sieht Nietzsche als prinzipielles geschichtsphilosophisches und mentalgeschichtliches Problem.6 Die axiologische Zentralstellung der Arbeit und des Menschen, die sich in der Rede von deren Würde unzweideutig bekundet, begreift Nietzsche als leicht zu durchschauende Rationalisierung eines primitiven Lebenstriebes, als ideologische Überformung elementarer, unendliches Leid erzeugender Daseinsnot. Das Zeitalter der Vernunft ist bei Licht besehen eine Epoche der Rationalisierung im psychoanalytischen Sinne, also der systematisierten Abwehr von als irritierend peinlich erachteten Motiven, Wertungen und Gefühlen. Die Vernünftigkeit erschöpft sich in Kohärenz und Systembestimmtheit; vor der Tiefendimension des Erlebens macht sie halt. Angst auslösende Wirklichkeiten werden in vernünftig-unvernünftigen ScheinWelten zum Verschwinden gebracht. Es gibt eine Pathologie des Systems, des privaten Denkens ebenso wie des philosophisch-öffentlichen. Jedwede Rationalisierung weicht der Wirklichkeit des Lebens aus. Und diese Wirklichkeit ist, wie Nietzsche betont, zutiefst grausam. Nietzsche bricht auf der ganzen Linie mit den ideologischen Überzuckerungen der Natur und des Lebens, in denen sich Angst vor dem Leben kaschierte. Schon in der normativen Auszeichnung des Naturbegriffs, die für die Aufklärung, stoische Traditionen übernehmend, kennzeichnend ist man denke beispielsweise an die europaweit wirkenden Preisschriften Rousseaus7 -, verrät sich angstgeborener Reduktionismus. In den logischen und axiologischen Kunstbauten der Aufklärung manifestieren sich fundamentale Lebensblindheit und Lebensfeindlichkeit. Das Zeitalter der Vernunft und der Perfektibilität versucht Nietzsche als Zeitalter pathologischer Künstlichkeit zu entlarven. Der Bruch mit den Sichtungen und Wertungen der Aufklärung scheint ihm ein Gebot der intellektuellen Redlichkeit zu sein. Während die neuzeitliche (Philosophie und) Pädagogik bei aller Kritik und Transformation im einzelnen an der epochemachenden Valenz des Aufklärungsdenkens festhält, fordert Nietzsche den radikalen Bruch mit den perspektivischen Verkürzungen der Aufklärung. Es gilt, die antiken Sichtweisen und Wertungen kontrastierend zu vergegenwärtigen. Deshalb wählt er den Titel Der griechische Staat. Historiographische Exaktheit und Authentizität wird überhaupt nicht erstrebt. Mit historiographischen Kriterien darf deshalb die kurze Abhandlung auch nicht gemessen werden. Für Nietzsche steht 1872 das „Projekt der Aufklärung" auf dem Prüfstand.8 Die in den Unzeitgemäßen Betrachtungen9 geübte Kritik des Geistes und der Wirklichkeit der Zeit erhält erst aus diesem Kontext ihre fügende Sinnrichtung. Die zentrale zeitkritischkategoriale Problematik wird durch Problemfacetten konkretisiert. Die Aufklärungswertungen erscheinen im Griechischen Staat als Umwertungen eines erkrankten, seine Krankheit verleugnenden Lebens. Mit metaphysischer Romantik hat das nichts zu tun, wohl aber mit der die mittlere Schaffenszeit dominierenden Transformation der Philosophie in entlarvende Psychologie. Aber es wird eben nicht nur entlarvt, sondern mögliche axiologische Alternativen werden durchgespielt. Der philosophische Impetus bleibt. Es ist an der Zeit, diesen axiologischen Horizonterweiterungen ohne vorschnelle Fixierungen an neuzeitliche Weitungstraditionen nachzugehen. Die Pädagogik hat sich dieser möglicherweise grundstürzenden Aufgabe bisher nicht gestellt. Insofern gibt es keine zeitgenössische -
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Vgl. Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam 1947.
Jean-Jacques Rousseau, Preisschriften und Erziehungsplan, hg. v. Hermann Rohrs, Bad Heilbrunn 1967. 8 Die „Vorrede" Homer's Wettkampf (KSA, CV, 1, 783-792) stellt ebenfalls die Grundorientierungen der Aufklärung in Frage. 9 Vgl.: KSA, DS, 1, 157-242, HL, 1, 243-334, SE, 1, 335-427, WB, 1, 429-510. 7
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nietzscheanische Ausformung des pädagogischen Denkens. Weder die Geisteswissenschaftliche Pädagogik noch die empirisch-sozialwissenschaftliche noch die Kritische oder psychoanalytische Pädagogik haben ihre aufklärerische Wertbasis in einer unvoreingenommenen axiologischen Reflexion jemals in Frage gestellt. Die Würde des Menschen, neuzeitlich zugespitzt zur Würde des Individuums, wurde, christliche Überzeugungen von der Unsterblichkeit der Einzelseele in aufklärerisch-säkulare Zusammenhänge integrierend, für sakrosankt erklärt und zum Gemeinplatz herabgestuft.10 Die transzendentalphilosophischen Begründungen der Würde des Menschen erreichten nur eine Minderheit und waren zutiefst umstritten. Interessegeleitete, metaphysische Ursprünge vergessende ideologische Setzungen von der Würde des Menschen und der Würde seiner (lebens)geschichtlichen Selbsterzeugung im anthropologischen Grundphänomen der Arbeit wurden als Selbstverständlichkeiten populär. Und gerade an diesen Selbstverständlichkeiten setzt Nietzsches kritisches Fragen an. Die in der Aufklärungsbewegung gefeierte Vernünftigkeit des Common Sense erweist sich als brüchig und als Symptom kollektiven Wirklichkeitsverlustes.11 Bezeichnenderweise wählt Nietzsche für die experimentierende Distanzierung von den axiologischen Zentralpositionen der Aufklärung und ihren alltäglichen Sedimentierungen und Reproduktionen nicht den Weg einer philosophischen Auseinandersetzung. Kants ethische Bestimmung des Menschen als „Zweck an sich selbst" wird nicht einmal erwähnt, geschweige denn diskutiert. Auch die zentrale epistemische und soziale Funktion des Begriffs der Leistung Synthesis ist die Urform aller Leistung im Kantschen Transzendentalismus bleibt völlig unthematisiert. Er will eben keine philosophische Abhandlung für Gelehrte schreiben, sondern Wertungsmöglichkeiten durch einen prinzipiellen geschichtlichen Rekurs aufzeigen resp. durchspielen. Er nutzt so auf seine Art das geschichtlich aufgestiegene historische Bewußtsein. Mit historischer Forschung im narrativen oder gar positivistischen Sinne hat dieses Procederé nichts gemein. Es handelt sich vielmehr um ein Philosophieren im Modus eines vage historisierenden Spiels. Die Philosophie nähert sich der Kunst; sie wird zum Spiel, dem es Ernst ist; es ist ein existentiell bedeutsames Spiel. Dazu bedarf es eines axiologischen Schwebezustandes. Methodologische Kriterien dürfen dieses Spiel nicht beengen. In exakt diesem Sinne ist Nietzsches Griechischer Staat (und anderes mehr) Dilettantismus. Die Absage an die wissenschaftliche Analyse und Argumentation hat ihren Sinn. In ihr eröffnen sich (von den Wissenschaftlern rigide sanktionierte) Spielräume des Denkens und Wertens. Wer sich auf den wissenschaftlichen Modus der Argumentation einläßt, begibt sich, ob er es weiß oder nicht, der Freiräume des Denkens, was natürlich nicht heißt, die wissenschaftliche Kultur gering zu achten oder gar geschichtlich preiszugeben. Nietzsches (direkte oder indirekte) Wissenschaftskritik schlägt niemals in Wissenschaftsfeindüchkeit um. Jedenfalls sind die aufklärerische Selbstdeutung des Menschen nach dem Homo faberParadigma und die Koppelung von wissenschaftlicher Theorie und Technologie Indikatoren für eine veränderte Weltstellung des Menschen, die ihre Historizität und Partikularität in Generalisierungsideologien verdrängt und vergißt. Ein neuer Typus des Menschen, der Arbeiter, der „Sklave", und eine neue Form der Wissenschaft, die Arbeits- und Leistungswissenschaft, ziehen am geschichtlichen Horizont auf. Die Selbstinterpretation des Menschen -
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Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, Werke, Bd. 7, Frankfürt a.M. 1970. Johann Gottlieb Fichte hat z. B. in seinen Jenaer Vorlesungen „Ober die Bestimmung des Gelehrten" (1794) die Commonsense-Ideologie sozialphilosophisch aus den Angeln gehoben. In: Fichtes Werke, Bd. 6, hg. v. Immanuel Hermann
Fichte, Berlin 1971, 289-346.
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trägt die Züge einer Selbstrechtfertigung. An die Stelle des Artistenideals tritt das Sklavenresp. Arbeiterideal. Welt erschließt sich nicht mehr im Medium der Kunst, sondern in progressionsorientierter Arbeit. Die Werdensperspektivität wird universal, und zwar in einem
anthropozentrischen Modus. Selbstermächtigungsideologien sind die Folge.12 Künstlerische
Bedürfnisse sollen die Abdankung der Kunst als Welterschließungsform verbrämen; sie sind durch und durch reaktiv; sie sind Phänomene der Scham. Es versteht sich von selbst, daß diese Substitution der Ideale nicht wissenschaftlich nachgewiesen werden kann. Fundamentale Einsichten eröffnen sich in der Intuition, in der die strukturelle Affinität mit dem allumgreifenden göttlichen Verstand gewahrt ist. In der Intuition koinzidieren Einsicht und Vollendung der Kunst. Nietzsche verbleibt im Griechischen Staat in der durch Die Geburt der Tragödie (KSA, GT, 1, 9-156) als fundamentale, der Wissenschaft überlegene Erkenntnisform gewählten Welthaltung der Intuition. In dieser Intuition verbindet Nietzsche höchst heterogene Momente zu einer epochalen Gesamtschau, in der die Bezüge auf die konstruierte griechische Wirklichkeit des Lebens und Werfens gegenwärtig sind. Ideal- und Realfaktoren werden darin aufeinander bezogen. Die Würde-Ideologie des Menschen und der Arbeit wird als Epiphänomen einer technologisch bestimmten Werdensperspektivität gedeutet. Die Grundwertungen einer Epoche lassen sich nur im Kontext mit einer geschichtlichen Positionalität, mit einer eigentümlichen Bestimmung der Welt resp. des Seins angemessen interpretieren. Nietzsche entdeckt das letztlich nicht in Begriffen faßbare geheime Zentrum einer Weltstellung und deren geschichtliche Pluralität. Der griechische Staat wird in solcher Sichtweise zu einem Synonym für eine spezifische, in der historischen und philologischen Forschung nicht adäquat gedeutete, für das moderne Bewußtsein befremdliche Weltstellung. Über eine faktenorientierte Zeitkritik und axiologische Konfrontation geht Nietzsche durch eine solche Philosophie der Weltanschauung bzw. des weltanschaulichen Wandels deutlich hinaus. Er gibt uns geradezu ein Muster einer philosophischen Zeitkritik. Wilhelm Dilthey wird diesen weltanschaulichen Historismus mit den gediegenen Mitteln stupender Gelehrsamkeit in Richtung auf eine glückliche hermeneutische Resignation und Selbsterlösung in Szene setzen. Den resignativen Kurs schlägt Nietzsche allerdings nicht ein. Dieser vielgeschmähte und bis zum Letzten abgewertete frühe Text Nietzsche entfaltet, wie
sieht, hermeneutisch-geschichtsphilosophische Einsichten ersten Ranges. Hier tobt gerade kein totalitär-dogmatisches Bewußtsein. Nietzsche nutzt lediglich die emanzipatorischen Möglichkeiten des Historismus. Daß er dies auf seine polarisierend-zuspitzende, vermeintliche Selbstverständlichkeiten in Frage stellende Art tut: wer wollte es ihm verdenken, statt ihm dafür zu danken?! Der Wille zum Leben ist das geheime Movens hinter den geschichtlichen Wertungen und Umwertungen. Was sich als lebenstranszendente, absolute Wertigkeit, nämlich als Würde gibt, ist bei Licht besehen nur ein Mittel zum Überleben, zum Bewahren der Selbstachtung in einer Situation insgeheimer Verachtung. Die neuzeitliche Würde-Ideologie ist im Kern defensiv. Man will das Bewußtsein der Würdelosigkeit nicht zulassen. Nietzsche begreift das aufklärerische Würde-Pathos nicht abstrakt axiologisch, sondern dynamisch. Damit übt er nicht er nur eine zersetzende, individuelle und kollektive Vorspiegelungen zersetzende Kritik schafft auch die Voraussetzungen für eine neue Fassung des Würdebegriffs. Seine ideologische Kritik zielt auf Läuterung der Epochen bestimmenden Begrifflichkeit. Nietzsche
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Vgl. Theodor Ballauff, Systematische Pädagogik. Eine Grundlegung, 3., umgearbeitete Aufl., Heidelberg 1970.
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radikalisiert den Begriff der Würde zur Selbst- und Lebenstranszendierung. Offenbar ist für ihn dabei die Unterscheidung von Lebensbedeutsamkeit und Lebensunabhängigkeit axiologisch leitend. Der zeitgenössischen Amalgamierung von Würde und (uneingestandener) Lebensnützlichkeit wird eine klare Absage erteilt. Die Vermengung von Nützlichkeit und Würdigkeit ekelt Nietzsche an. Anders gewendet: für Nietzsche wird die pragmatisch-utilitaristische Orientierung des Aufklärungsdenkens zu einem mit der Würde-Philosophie konfligierenden Moment. Utilität und absolute Dignität bilden eine antagonistische Konstellation. Lebensdienlichkeit und Lebensunabhängigkeit lassen sich, worauf er nicht eingeht, möglicherweise philosophisch widerspruchslos verbinden der Kantische Kritizismus hat eine solche Versöhnung im Rückgriff auf die hypothetischen Imperative und die Idee der Sittlichkeit, also anhand der Prinzipien der Geschicklichkeit, Klugheit und Sittlichkeit, angestrebt und im Grunde auch erreicht -, aber in der psychologisch-lebensweltlichen Dimension droht die Pervertierung des Würdegedankens zu einem strategischen individuellen und politisch-sozialen instrument. Gegen ebendiese Instrumentalisierung wehrt Nietzsche sich durchaus idealistischen Grundüberzeugungen folgend im Griechischen Staat. Wenn wir sagen, daß er sich gegen die ideologischen Deutungs- und Wertungsmuster der Aufklärung wendet, so bewegen wir uns auf dieser psychodynamischen Argumentationsebene. Hier entfaltet Nietzsche sein ideologisches Potential, ohne jedoch die fundamentale axiologische Differenz der idealistischen Ethik zwischen Lebensdienlichkeit und Lebenstranszendenz in Frage zu stellen. Im Gegenteil: aus dieser Differenz speist sich seine axiologische Polemik gegen Geist und Wirklichkeit der Zeit. Im Griechischen Staat wird die Leistungsgesellschaft im Kontext ihrer leitenden Ideen zum Problem. Faktisch vernichtet die Leistungsgesellschaft die zur Alibifunktion herabsinkende Würde des Menschen. Die Leistungsgesellschaft ist im Wesentlichen würdelos und insofern zutiefst inhuman. Nietzsche träumt von einer anderen alten-neuen Gesellschaft und von einem Nicht-Arbeiter-Menschen, während in der Bildungstheorie seiner Zeit daran hat sich bis heute nichts geändert eine radikale Infragestellung der Leistungsgesellschaft unter dem Gesichtspunkt der Humanität ausblieb oder marginalisiert wurde. Bestenfalls wurden Mischformen, die eine geheime Legitimierung der Leistungsgesellschaft involvierten, anvisiert. Auffallend ist, daß eine Würde-Diskussion in der neuzeitlichen Pädagogik außerhalb der bald geschichtlich wirkungslos werdenden idealistischen Ausformungen des pädagogischen Denkens unterblieb. Mehr oder weniger simple und willkürliche „subjektstheoretische" Behauptungen treten an die Stelle einer solchen unerläßlichen Diskussion. Lediglich die neukantianischen Pädagogiken13 und deren monadologische Radikalisierungen und Transformierungen14 stellen sich diesem grundlagentheoretischen Problem. Nietzsches Bildungsphilosophie koppelt die Würde-Diskussion mit einer Genealogie des Wertens resp. der Ideale. Beide Aspekte gehören für ihn untrennbar zusammen. Nietzsche nimmt die Perspektive ab inferiori in der genetischen Rekonstruktion der Ideale ein, um ein Bewußtsein für das qualitativ Andere, die unverkürzt begriffene Würde des Menschen vorzubereiten. Das Ziel der Genealogie ist ein neues Bewußtsein von der lebensjenseitigen Würde des Menschen. -
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13 Als äußerst
wirkungsvoll erwies sich die philosophische Pädagogik Paul Natorps. Vgl. Paul Natorp, Sozialpädagogik. Theorie der Willensbildung aufder Grundlage der Gemeinschaft, hg. v. Richard Pippert, Paderborn 1974.
14
Vgl. Richard Hönigswald, Über die Grundlagen der Pädagogik. Ein Beitrag zur Frage des pädagogischen Universitäts-Unterrichts, 2., umgearbeitete Aufl., München 1927. Femer: Erwin Hufhagel, RichardHönigswalds Pädagogikbegriff, Bonn 1979.
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Da die Leistungsgesellschaft nur die höchste Ausformung von Daseinsnot und Lebensinteressen darstellt, fordert sie Nietzsches Verachtung heraus. Nietzsche gibt uns keine präzise Beschreibung der Leistungsgesellschaft; an die Stelle der wissenschaftlichen Deskription tritt, wie auch sonst in seiner Philosophie, die entschiedene Wertung. Die Herabstimmung des Bildungsbegriffs zu einem funktionalen Moment der Leistungsideologie lehnt er ab. Bildung und Leistung lassen sich nicht schlicht ineinander fügen. Die Aufklärung hat letztlich den Begriff der Bildung verraten. Und sie hat durch die axiologische Auszeichnung der Reflexivität, durch die personale und sachliche Universalisierung der Erkenntnis den Nährboden für mächtige, distanzlos geglaubte, alle Kulturdimensionen durchziehende Ideologien geschaffen (KSA, CV, 1, 765 f.). Die Rede von der Gleichberechtigung und den Grundrechten der Menschen interpretiert Nietzsche als Reaktionsphänomen reflektierender, am Leben leidender Sklaven. Erkenntnis ist kein unbedingter, allen Menschen zu eröffnender Wert. Der Schlaf der Vernunft kann heilsam sein, kann Leiden ersparen, wie schon in der Rousseauschen Kulturkritik, die Nietzsche durchaus gegenwärtig ist, gegen den Rationalitätswahn vorgebracht wurde. Nietzsche nutzt wie Rousseau die biblische Metaphorik, um kulturelle Selbstverständlichkeiten als höchst problematisch zu erweisen: die aufklärerische Fetischisierung der Rationalität erhält den Status eines menschheitsgeschichtlich fatalen Sündenfalls (KSA, CV, 1, 766). Die Pädagogik der Neuzeit ahnt im Grunde davon nichts. Ihre maßgeblichen bildungstheoretischen Konzepte folgen dem dialektisch-reflexiven Paradigma. Die pädagogische Welt wird, Hegeische Vorgaben umkreisend, logizistisch. Ein Recht auf rationalbestimmte (letztlich wissenschaftliche) Bildung wird postuliert. Institutionen der „Rationalisierung" der Bildung resp. von Bildungsgeschichten werden geschaffen. Alle dürfen und sollen sogar über alles reflektieren, wie es schon in der sozialkritischen Comenianischen Didaktik eingeklagt wurde.15 Die reformatorischen Bewegungen des Christentums und die bildungstheoretischen und bildungspolitischen Forderungen der Aufklärung gehören für Nietzsche (wie übrigens auch für Paul Natorp16) zusammen. Nietzsches Rückgriff auf ein antikes Kultur- und Bildungskonstrukt will ebendiesen Jahrhunderte bestimmenden logozentrisch-demokratischen Prozeß als Problem sehen lassen. Und seine im Griechischen Staat angedeutete Lösung dieses Problems, die ja trotz aller vorgeblichen Dogmatik auch nur eine spielerische Variante der Befreiung sein soll, trägt durchaus keine menschenverachtenden oder inhumanen Züge, es sei denn wir setzten Humanität mit universaler Reflexivität gleich. Nietzsche tritt im Griechischen Staat ebensowenig wie Piaton in der Politeia als Faschist auf. Ihm geht es vielmehr um die Grenzen einer universalen Logos-Kultur, und zwar in sachlich-dimensionaler wie politisch-sozialer Hinsicht. Eine totale Regression in vorreflexive Bewußtseinshaltungen oder eine Reaktualisierung mythischer Denkformen liegt Nietzsche völlig fern. Zentral ist für ihn die Frage nach der Möglichkeit „großer", d. h. blanke Lebensinteressen übersteigenden Kunst, in der sich seine idealistische Sehnsucht bekundet. Schon in dieser frühen Schrift hofft Nietzsche auf den sich selbst in großer Kunst übersteigenden, sich selbst im Medium des Schaffens (nicht des Arbeitens und Herstellens) befreienden, erlösenden Menschen. Die zum Wesen des Menschen gehörende Möglichkeit der Selbsttranszendierung umfaßt Nietzsches Begriff des Übermenschen. Um die Bestimmung ebendieses Begriffs ringt Nietzsche schon in diesem frühen Dokument philosophischer Selbstvergewisserung, wenn auch der Terminus noch nicht auftaucht.
15 16
Vgl. Vgl.
Johann Arnos Comenius, Große Didaktik, hg. v. Andreas Flitner, 6., unveränderte Aufl., Paul Natorp, Deutscher Weltberuf. Geschichtsphilosophische Richtlinien, Jena 1918.
Stuttgart
1985.
Nietzsche als Provokation für die Bildungsphilosophie
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daran, den Begriff der Selbsttranszendierung, des Über-sich-hinaus-Gehens (vgl. KSA, CV, 1, 766), zu differenzieren. Neben einer anthropologischen BedeutungsdimenWir tun gut
sion involviert er eine normativ-axiologische. Und gerade letztere ist für Nietzsches Polemik gegen die nivellierende Aufklärungsideologie maßgebend. Die Rede von der Gleichberechtigung aller und von den Grundrechten des Menschen als Menschen verführt dazu, das Menschsein als solches, unabhängig von der Selbstgestaltungspotenz und -höhe, als letztrangigen Wert zu begreifen. Die vermeintlich menschenverachtenden Invektiven Nietzsches gegen die aufklärerische absolute Wertung des Menschen qua Menschen zielen lediglich darauf ab, das Bewußtsein normativ-humaner Differenzierung zu resensibilisieren. Für Nietzsche ist die Aufklärungsbewegung ein Symptom globaler Entdifferenzierung, des Verrates jahrtausendelanger Differenzierungsarbeit. Deshalb postuliert er ein antiaufklärerisches „Vive la différence", das in der Wirklichkeit großer Kunst eine mögliche Entsprechung findet. Andere Formen der Entsprechung sind denkbar. Die ideenbestimmte Polis, auf die hin der Text komponiert ist, gehört dazu. Ja, im Grunde läßt der Text keinen Zweifel, daß die Lebensnot und Ideenbestimmtheit versöhnende Platonische Polis das Fundamentum für alle anderen Selbsttranszendierungsmodi bildet. Aus dieser fundierenden Valenz des Staates ergibt sich für Nietzsche die Notwendigkeit einer im tiefsten Sinne politischen Argumentation. Ihm genügt es eben nicht, diverse beklagenswerte kulturelle Niedergangs- resp. Entdifferenzierungsphänomene durch mehr oder minder willkürliche bildungsbürgerliche Wertungen ins Visier zu nehmen, wie es weitverbreitete Mode auch in der Kulturkritik des 20. Jahrhunderts geworden ist. An die Stelle einer solchen partikular-privatistischen Kritik tritt bei ihm die These vom Verlust des Staates in seiner Ideenbestimmtheit, also die These von der Mundanisierung des Staates und deren axiologisch-ideologischen Folgen. Alle großen Kulturphänomene tragen ein Janus-Gesicht: sie entwerfen eine neue (Sichtmöglichkeit der) Welt als eigene nicht-naturale Wirklichkeit und bleiben dennoch dem Kontext naturaler Brutalität und Sinnlosigkeit verhaftet. Die kulturelle Überformung der Natur ist interimistisch und tragisch; sie ist darüber hinaus und das ist für Nietzsche noch bedeutsamer als Überformung zwangsläufig in mehrfacher Hinsicht gewaltsam, nämlich strukturell und als soziales Phänomen. Strukturell meint in diesem Zusammenhang: Kultur ist ihrem Wesen nach immer auch Destruktion, Verformung und Vernichtung einer eigengesetzlichen naturalen Welt. Nietzsche dramatisiert, ja tragisiert die Kultur. Mit Rousseau, dessen Kulturkritik Nietzsche unausgesprochen in diesem Text wie auch sonst über weite Strecken folgt, sieht er die prinzipielle Ambivalenz der Kultur: sie ist immer zugleich Progression und Destruktion, Selbstgestaltung und Selbstverlust. Nietzsche begnügt sich nicht damit, einzelne „kulturelle" Verfallserscheinungen hart, ja geradezu unerbittlich zu kritisieren, er macht vielmehr die Wirklichkeit der Kultur zum Problem. Kultur ist ihrem Wesen nach grausam, irreparable Vernichtung präkultureller, naturaler Bestimmtheiten, die ihrem eigenen Logos, nicht dem vom Menschen zurechtgestutzten, folgen. Auf seine Weise reformuliert Nietzsche die biblische Sündenfall-Metaphorik. Wie Adam und Eva sich schämten, nachdem sie vom Baum der Erkenntnis gegessen hatten, so überfällt den Kultur zeugenden Genius Scham ob der die Natur umformenden Gewaltsamkeit seines Werkes. Scham fungiert als Indikator, als unbewußte Erkenntnis eines originären Unrechtes. Der mit der Möglichkeit der Selbsttranszendierung versehene Mensch ist wegen dieser Möglichkeit das Wesen der Scham. Er ist in eins das Wesen der Kultur und der Scham. Im kulturellen Getriebe versucht er seine Scham -
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vergessen. Auch die Bildungsinstitutionen verdrängen das Bewußtsein der Scham. Kultur tritt in ihnen als differenziertes Angebot zur Potenzierung der Selbstmächtigkeit in Erscheinung. Die Urzu
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sprungsgeschichte der Kultur bleibt gänzlich im Verborgenen. Kultur wird heiter; bestenfalls
assimilieren. Ihr brutal-artifizieller Charakter, ihre zerstörerische innovative präsent. Die Kulturpädagogik unseres Jahrhunderts und ihre geisteswissenschaftlichen Verwandten huldigen einem solchen um seine tragischen Implikationen reduzierten Kulturbegriff. Durch die Orientierung an der Hegeischen Philosophie des Geistes bekommt dieser bürgerlicher Borniertheit entsprungene Reduktionismus noch ein gutes Gewissen. Bildung und Kultur sind, wenn wir Nietzsche folgen, im Kern problematisch. Nietzsche stellt ihnen gegenüber die Legitimationsfrage, die im interessegeleiteten Optimismus des Bildungsbürgertums geflissentlich ungestellt bleibt. Bildung als Unrecht, als möglicherweise durch nichts zu entschuldigende die Menschheitsgeschichte belastende Untat größer kann die Provokation für die Bildungsphilosophie nicht sein. Zwar leiden Generationen am kulturellen Anspruch, der ihnen in pädagogischen Institutionen, wie Nietzsche behauptet: zunehmend abgeschwächt, gestellt wird, aber sie leiden nicht an der essentiellen Gewaltsamkeit der Kultur. Die Tragödie der Kultur ist kein Spätphänomen übervoller Scheuern, deren Reichtum wir nicht mehr bergen können,17 sondern die Kultur ist eo ipso die Geburt der Tragödie, die dennoch von Nietzsche gewollt wird. Während Rousseau den humanbestimmten Aspekt der Entfremdung ins Zentrum seiner Gesellschafts- und Kulturkritik rückt, sieht Nietzsche den Mensch selbst als (mögliches) Verhängnis für die eigenlogische Natur. Nietzsche bricht schon in den Frühschriften mit der anthropomorphen und anthropozentrischen Sichtung der naturalen Welt. Alle teleologischen, der menschlichen Handlungsorientiertheit entstammenden Implikationen werden aus dem Naturbegriff gestrichen. Die Natur erscheint wieder als das ganz Andere, Geheimnisvolle, Sphinxartige, den menschlichen Konstruktionen Entzogene. Der normative Bezugscharakter wird eliminiert. Im Schöße der Natur kann man sich nicht geborgen fühlen. Der Naturbegriff wurde in der abendländischen Geistesgeschichte ideologisiert. Es ist an der Zeit, mit dieser anthropozentrischen Ideologisierung zu brechen. Erst dann können wir die tragische Grundbestimmtheit jedweder hohen kulturellen Leistung (wieder) begreifen und die Spannung zwischen Kultur und Natur in der genialen Schöpfung schaudernd-schamvoll genießen. Die Rechtfertigung der Kultur gelingt nur im Werke des Genius, des künstlerischen, des militärischen, des philosophischen. Als technologischer Fortschritt und als Alphabetisierung im engeren und weiteren Sinne der Massen bleibt sie immerfort ungerechtfertigt. In dieser Exklusivität liegt Nietzsches Provokation. Aus dieser legitimationstheoretischen Zuspitzung auf das geniale Werk ergeben sich politisch-soziale Folgerungen. Wenn wir die letztrangige Legitimation der Kultur als schaffend-zerstörendes Zwitterwesen wollen, so müssen wir rigide soziale Differenzierungen und Hierarchisierungen wollen. Man kann auf eine solche Legitimation verzichten und das größte Glück der größten Zahl als Stimulans und Rechtfertigung der Kultur erachten. Nietzsche hat für sich eine solche egalitäre Form der Rechtfertigung zurückgewiesen. Er verweigert sich der hedonistischen Verengung des Kulturbegriffs aus sehr persönlichen, wenn man will, äußerst arbiträren Motiven. Wer wollte es ihm verdenken?! Er entwirft kein politisches Programm; er braucht sich deshalb auch nicht in der Öffentlichkeit zu verantworten. Kritik und Zurückweisung verfehlen den Status der von Nietzsche vollzogenen Reflexion: sie dient der Selbstvergewisserung in der menschlichen
schwierig
zu
Potenz wird nicht einmal mehr im Modus der Scham
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17
Vgl. Georg Simmel, „Der Begriff und die Tragödie der Kultur", in: ders., Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais, Berlin 1983, 183-207.
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Grundproblematik der Legitimation der Kultur. Läßt sie sich durch unabsehbar viele oder durch einige wenige große Leistungen rechtfertigen? Je nachdem wie die Antwort auf diese fundamentale Frage ausfallt, gestaltet sich die Welt der Bildung in ihrer institutionellen
Verfaßtheit anders. Nietzsche operiert mit einem emphatischen Kulturbegriff. Er will „große", das Leben übersteigende kulturelle Schöpfungen. Voraussetzung für solche neue Wirklichkeiten schaffenden Werke ist die auf die Idee der Gerechtigkeit bezogene und durch sie bestimmte Polis. Es ist ein Irrglaube zu meinen, Nietzsche sei in der Frühphase seines Schaffens vor allem durch die Bindung an Richard Wagner im Horizont einer Artistenmetaphysik eingeschlossen. Er ist vielmehr ab origine ein eminent politischer Denker. In der Polis koinzidieren die Ideen des Guten, Wahren und Schönen. Sie ist keine bloße Anstalt der Lebensnot und elementarer Bedürftigkeit, sondern die höchste und umfängliche Transzendierung des naturalen Kontextes, der in ihr allerdings immer gegenwärtig bleibt. Für die Wiederentdeckung der Ideenbestimmtheit des Staates setzt sich Nietzsche in diesem verkannten Text ein. Es geht ihm um eine (Selbst-)Sensibilisierung für die Platonische Idee der Gerechtigkeit in ihren individualen und sozialen Bezügen. Von dem emphatischen Kulturbegriff unterschieden ist der elementare, der auf die exzentrische, mittelbar-unmittelbare Verfaßtheit des Menschen verweist. Auf diesen elementaren Kulturbegriff geht Nietzsche eigentümlicherweise nicht ein. Das hat beachtliche Folgen. Nietzsche stellt nämlich die Reflexivität für die meisten Menschen zur Disposition bzw. fordert eine nicht-exzentrische Weise der Existenz, die durch die Aufklärung leider verlorengegangen sei. Offenbar sieht Nietzsche diesen Typus des Menschen als geschichtliche Möglichkeit und als zeitgeschichtliche Notwendigkeit an. Da er keine eigene anthropologische Systematik entwirft und begründet, glaubt er an sein Konstrukt eines reflexionslosen Sklaventums. Der Sklave ist nach Nietzsches Bestimmung der nicht-exzentrische „Mensch", also strenggenommen der Nicht-Mensch. Er ist keine Wirklichkeit, sondern eine von Nietzsche konstruierte Hoffnung. Man tut Nietzsche Unrecht, wenn man dieses Sklaven-Konstrukt mit wirklichen Menschen verwechselt und in Nietzsches Argumentation bloße Menschenverachtung wittert. Gewiß, Nietzsche hebt den Konstrukt-Charakter seines Sklavenbegriffs nicht deutlich genug hervor. Die leidenden, ihr Leiden ideologisch kaschierenden Arbeitsmenschen seiner Zeit etikettiert er ebenso als Sklaven wie den anvisierten geschichtlich erhofften reflexionslosen „Mensch", der letztlich in seinem Frondienst nicht mehr leidet und deshalb auch keiner ideologischen Überhöhung bedarf. Dieses Oszillieren zwischen Konstrukt und Wirklichkeit ist in der Tat gefährlich und politisch mißbräuchlich. Dennoch bedarf es keiner besonderen hermeneutischen Potenz, um Nietzsches wesentliche Intentionen klar zu erkennen: Universale Reflexionskultur produziert unendliches Leiden und verunmöglicht weltenentbergende, weltensetzende Kunst. Ein Fundament ungebrochener Naivität ist für die höchst artifiziellen Schöpfungen großer Kunst unerläßlich. Wo alles künstlich ist, verschwindet der Nährboden der Kunst. Nietzsche übersetzt also in personale Kategorialität (Sklave und Genius), was im Grunde als strukturelle Eigentümlichkeit, nämlich als bis ins Extrem getriebene Spannung von Natur und Kultur begriffen werden muß. Eine jedwede Naivität tendenziell eliminierende Kultur versandet in banausenhafter Mediokrität. Wer geniale Schöpfungen will, muß auch deren Voraussetzungen (die Naivität resp. den Sklaven) wollen. Reflexionskulturen töten den Genius und berauben damit die Menschheit um den Sinnreichtum neuer kategorialer (perspektivischer) Welten. Einen höheren Reichtum gibt es für den sich selbst transzendierenden Mensch nicht. -
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Wenn Nietzsche behauptet, zum Wesen einer Kultur gehöre das Sklaventum (KSA, CV, 1, 767), so rückt er den unverbrüchlichen Zusammenhang von genialer Transzendierung und („sklavischer") Nicht-Transzendierung des naturalen Kontextes ins Bewußtsein. Ihm geht es um eine Klärung des Kultur- und Bildungsbegriffs, also letztlich um eine strukturelle, nicht aber um eine sozialpolitische Analyse. In diesem Lichte muß auch seine Behauptung, das „Elend der mühsam lebenden Menschen [müsse] noch gesteigert werden" (KSA, CV, 1, 767), gesehen werden. Es geht um eine Minderung der Reflexivität und Individualsensibilität, um eine schrittweise Erlösung von der aufklärerisch propagierten Ichbezüglichkeit, die in der Kantischen Idee der Autonomie ihren unüberbietbaren Ausdruck findet. Nietzsche verschmäht die Diktion und Argumentation des Philosophen; er wählt die metaphysische Sprache der Kunst, deren Polysemantik sich essentiell von der präzisen vereindeutigenden philosophischen Analyse unterscheidet. Die Metaphorik verbleibt in diversen, unterschiedlich akzentuierten Bezüglichkeiten. Ebendeshalb hat Nietzsche sich für diese Denk- und Darstellungsform entschieden. Die Interpretation muß diese Entscheidung bedenken und durch den Verzicht auf die Übersetzung in eindeutige Aussagen beachten. Sie muß die Polysemantik wahren und rekonstruieren. Für die Bildungsphilosophie eröffnet Nietzsche mit seinem antagonistische Strukturen radikalisierenden Kulturbegriff bislang ungeahnte Dimensionen. Das fruchtbare Verhältais zwischen Naivität und Reflexivität, Individualisierung und werkbezogener Selbstlosigkeit, zwischen Hoch- und Basiskultur gilt es zu bestimmten. Eine wie auch immer im einzelnen ausgestaltete, (verborgenen) Hegelianismus in sich tragende reflexive, genauer: reflexionszentrierte Bildungstheorie unterläuft das von Nietzsche gestellte Problem. Die Aufklärung endet durch die institutionelle Übersetzung in „kulturelle" Wirklichkeit in der Katastrophe der Pseudokultur. Sie ist der Totengräber des tragischen Bewußtseins als der höchsten Möglichkeit im tiefsten Sinne humaner Erkenntnis. Sie zerschlägt die Erkenntnis im Medium der Kunst und inthronisiert den Fetisch der wissenschaftlichen Erkenntnis. Sie destruiert dadurch auch die „Religiosität" des Menschen, nämlich das Bewußtsein einer absoluten Bindung. Die einzelwissenschaftliche Grundorientierung der aufklärerischen und modernen Kultur hat auflösende Rückwirkungen in die Sphäre der Normativität. Arbiträre Dezisionen und kollektive ideologische Manipulation sind Epiphänomene des Szientismus. Es ist ein folgenschwerer Fehlgriff, den Begriff der Kultur szientistisch zu bestimmen. Ebendeshalb rückt Nietzsche die spezifische Erkenntaismächtigkeit der Kunst in den Frühschriften ins Zentrum des Bewußtseins. Wissenschaft, Kunst und Religion erscheinen als eigentümliche Wirklichkeitshorizonte. Deren Hierarchisierung ist möglich. Und Nietzsche zögert nicht, den Primat der (genialen) Kunst zu verkünden. Aufs Ganze gesehen legt Nietzsche also die Vorurteilsstruktur des aufklärerischen Bewußtseins frei. Die Bildungstheorie hingegen übernimmt und multipliziert im Kleinen und im Großen epochale Einseitigkeiten und Vorentschiedenheiten. Sie ist zutiefst unkritisch. Hegelianische Geistphilosophie und (kantischer) Kritizismus gehen diverse, aber strukturell identische Bündnisse ein. Man denke etwa an die geisteswissenschaftlichen Pädagogiken Theodor Litts und Eduard Sprangers, deren Hegelianismus über Jahrzehnte hinweg die deutsche Universitätspädagogik beherrschte. Sie rangen, wenn auch nicht in der Radikalität Nietzsches, um die Gefügtheit des Kulturbegriffs. Ihre bildungstheoretischen Nachfahren setzen so fundamental gar nicht mehr an. Selbst die theoretisch anspruchsvolle Theorie der kategorialen Bildung, die Max Scheler18 in Grundzügen zu Beginn des 20. Jahrhunderts 18
Vgl. Max Scheler, „Die Formen des Wissens und die Bildung", in: Gesammelte Werke, Bd. 9, hg. v. Manfred S. Frings, Bern/München 1976, 85-119.
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entwarf und die, Schelers
Konzeption nicht berücksichtigend, Wolfgang Klafki19 als sein bildungstheoretisches Konzept Ende der fünfziger Jahre vorlegte und zwischenzeitlich durch eine politisierende historisch-perspektive Pädagogik im Hegelschen Sinne aufhob, verzichtet auf eine Klärung des Kulturbegriffs und propagiert insofern einen halbierten Kritizismus. Wenn schon das Herzstück der Pädagogik so wenig radikal bedacht und bestimmt wird, mag man an das Reflexionsniveau der pädagogischen Subsysteme nicht mehr denken. Nietzsche hingegen spielt in bildungsphilosophischer Absicht den Begriff der Kultur als erstes
Unnatur in wesentlichen Facetten durch. Er nimmt die Rousseausche Einsicht in die Ambivalenz der Kultur aufklärungskritisch wie jener wieder auf. Seine philosophische Leistung besteht darin, die Rousseausche These von der Parallelität von Wissenschaft und Kunst20 in einer Theorie eigentümlicher, irreduzibler Weltzugänge differenziert zu haben. Sie sind für Nietzsche eigenständige und dennoch aufeinander verweisende Weltentwurfsmodi, deren Verhältais sich kulturgeschichtlich verwandelt. Mit der Aufklärung tritt das szientifische Ideal mit globalem Anspruch monopolistisch in Erscheinung. Das hat gravierende Folgen für die Kunst, wertend gesprochen: für die gesellschaftliche Marginalisierung der Kunst und deren Rang. Im Gegensatz zu Rousseau, der seine denkerische Existenz ethisch fokussiert, folgt Nietzsche dem Ideal einer „ästhetischen", die Welt im Medium der Kunst erlebenden Existenz. Im Griechischen Staat differenziert Nietzsche seinen Kulturbegriff, indem er dessen üblicherweise unterschlagene antagonistische Strukturen ins grellste Licht zieht. Kultur ist kein einheitliches Phänomen. Kultur spiegelt lediglich Einheit vor. Wir lassen uns durch diese Vorspiegelung von Einheit, von bruchloser Versöhnung von Natur und Geist zunehmend täuschen. Wir glauben an die alles beherrschende, neue Qualitäten schaffende Macht der Vernunft. Für resistente, wesensmäßig unbezwingbare naturale Einsprengsel jedweder kulturellen Überformung gehen uns nach und nach der Blick und das irritierende Gefühl verloren. Wir werden seichte „Idealisten". Die Stunde bildungsphilosophischer Narzißmen ist gekommen. Wir sollen uns in der allseitigen oder, etwas vorsichtiger, in der vielseitigen Entfaltung unserer „Anlagen" (wie schon Fichte wußte, ist dies ein höchst problematischer Begriff21) als Kunstwerk genießen. Und selbst der für die Aufklärung und das moderne (pädagogische) Bewußtsein so zentrale Begriff der Perfektibilität suggeriert leidlose individuelle und kulturelle Progression. Immer noch glauben wir platonisch an das Reich des Lichts in seiner das Böse, das Dunkle zermalmenden Herrlichkeit. Diesem bildungstheoretischen Optimismus sagt Nietzsche im Griechischen Staat den Kampf an. Nietzsche geht hinter Piatons Logos-Ideologisierungen zurück. Er nimmt alte dualistische Konzeptionen wie sonst niemand wieder ernst. Das für die abendländische Kulturentwicklung charakteristische Bündnis von Piatonismus und Christentum wirkt nach Nietzsches Bekenntnis letztlich kulturzersetzend; es bedeutet keinen Aufstieg, sondern Verfall. Durch die zunehmende Sensibilisierung und Interiorisierung des Menschen gehen die Grundlagen großer Kultur verloren. „Humanisierung" ist, wie schon -
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Vgl. Wolfgang Klafki, Neue Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, Weinheim 1985. Wolfgang Klafki, Das pädagogische Problem des Elementaren und die Theorie der kategorialen Bildung, 3./4., durchgesehene und ergänzte Aufl., Weinheim/Berlin 1964. Wolfgang Klafki, Studien zur Bildungstheorie und Didaktik, 5/7. .durchgesehene Aufl., Weinheim 1965.
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Vgl. Jean-Jacques Rousseau, „Erste Preisschrift", in: Preisschriften und Erziehungsplan, 23-46. Vgl. Johann Gottlieb Fichte, „Über die Bestimmung des Gelehrten".
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der junge Herder erkannte,22 höchst ambivalent. Von dieser Ambivalenz weiß die neuzeitliche Bildungsphilosophie nichts. Vorplatonische Antike und christlicher Geist lassen sich nicht zu einem Bildungsideal stimmig zusammenfügen. Die christliche Caritas-Idee, die sich (nach)aufklärerisch zum Solidaritätsgedanken resp. zum Brüderlichkeitspathos säkularisierte, formte sich geschichtlich zu einem Mitleidsethos aus, das sich auch in politischen Grundüberzeugungen sedimentierte. In den aufklärerischen Postulaten der Freiheit, Rechtsgleichheit und Brüderlichkeit waltet christlicher Geist. Nietzsche sieht, wiederum wie Herder, den er in diesem Kontext nicht erwähnt, in der Aufklärung nicht den einfachen Bruch mit der metaphysisch-christlichen Tradition, sondern deren Selbstaufhebung im Hegeischen Sinne. Die Aufklärung ist Frucht des Christentums, dessen höchste humane Ausgestaltung. Die Nietzschesche Kritik des einen impliziert deshalb immer die Kritik des anderen. Seit ungefähr zweieinhalbtausend Jahren schwinden die Grundlagen großer, tragischen Geist atmender Kultur. Christentum und Aufklärung haben ebenso wie die Platonische Licht- resp. Logos-Metaphysik das tragische Bewußtsein zerstört (oder bestenfalls situativ marginalisiert).23 Hat sich die Pädagogik je mit dieser metaphysischen Fehlentscheidung und Jahrtausende bestimmenden Gewalttätigkeit auseinandergesetzt? Sie ist, ohne es zu ahnen oder gar zu wissen, von platonisch-christlich-aufklärerischen Vorurteilen bei aller Varietät der Bildungsideale durchtränkt. Sie reproduziert ebendiese arbiträre Sichtung der Welt und stürzt sich auf immanente Differenzierungen und Abgrenzungen. Sie überschlägt sich in Phrasen über Bildung und Kultur, obwohl bzw. gerade weil sie der Grundbestimmtheiten der Kultur nicht mehr ansichtig ist. Wer könnte übersehen, daß Nietzsches im Griechischen Staat kulturphilosophisch ausgezeichneter Antiplatonismus selbst noch platonischen Vorurteilen verhaftet bleibt. In der Lehre vom Genius nimmt Nietzsche Piatons Ideal des höchsten Menschen, des Philosophen, mehr oder weniger bewußt auf. Beide operieren mit einem hierarchisierenden Anlagen-Modell, das, nebenbei bemerkt, bis in die Pädagogik des 20. Jahrhunderts Wirkungsgeschichte geschrieben hat. Es sei nur an die theoretische Leitfigur der deutschen Reformpädagogik, Georg Kerschensteiner, erinnert. Die Platonische Hierarchisierung ist für Nietzsche zu einer Selbstverständlichkeit des Werfens, der Zuneigung und des Ekels geworden. Der Genius resp. die Philosophie sollen die kulturelle Wirklichkeit prägen und beherrschen. Nietzsches Menschenbild ist gänzlich von Wertgesichtspunkten bestimmt. Der höchste Mensch, der Genius, schafft im Bewußtsein tragischer Nichtigkeit eine neue Welt. Die mediokren Existenzen leben und funktionieren in solchen artifiziellen Welten. Aus dieser Würdelosigkeit formen sie sich ihr Ideal der Würde. Weil sie sich selber als im Prinzip austauschbare Funktionsträger definieren, wird der Mensch als solcher, ohne differenzierende axiologische Kriterien, zu einem absoluten Wert mit korrespondierenden Rechtsgarantien. In der christlichen Religion wurde diese Universalisierung humaner Würde geschichtlich vollzogen. Gegen diese Universalisierung opponiert Nietzsche. Hinter dieser Ablehnung steht freilich nicht, wie man vorschnell vermuten könnte, eine pathologische Abwertung des Menschen. In Nietzsches Schriften aus dieser Zeit vibriert ein mitleidvolles Herz (vgl. KSA, SE, 1, 337 ff). Wer spürt nicht in den prima facie gewaltsam erscheinenden Sehnsüchten und Forderungen Nietzsches nach großer Kunst die Scham vor der Verletzung unzähliger Menschenseelen?! (Vgl. zum Beispiel KSA, CV, 1, 768) Nietzsche selbst hat die religiöse Universalisierung des Menschenwertes unwiderruflich
22 23
Vgl. Johann Gottfried Herder, Journal meiner Reise im Jahr 1769, hg. v. Katharina Mommsen, Stuttgart 1992. Vgl. Eugen Fink, Metaphysik der Erziehung im Weltverständnis von Plato und Aristoteles, Frankfurt a.M. 1970.
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internalisiert. Auch er ist ein Kind der Aufklärung und des christlichen Geistes. Seine Größe aber besteht darin, die kulturellen Folgen dieser Universalisierung, die eine hohe selbsttranszendierende Leistung des Menschen ist, ohne ängstliche, mildernde Retuschierungen zu durchdenken. Dabei wird ihm klar, daß humane Universalisierung kulturell-axiologische Nivellierung involviert, daß die abendländischen Fortschritte im Bewußtsein der Humanität den Nährboden großer Kunst als Gestaltung des tragischen Bewußtseins zerstören. Jedes heilsgeschichtliche System tötet hohe Kunst, weil es das Bewußtsein deformiert: es nimmt der Faktizität und Geschichtlichkeit des Menschen die unübersteigbare tragische Qualität. Und die Aufklärungsbewegung ist nichts anderes als profanisiertes heilsgeschichtliches, mundan progress istisches Denken. Nietzsche will im Griechischen Staat keinen faschistischen Staat und keinen epochalen Totalitarismus; er will vielmehr das seit Jahrtausenden in der abendländischen Tradition verdrängte tragische Bewußtsein im beherrschten Modus der Kunst aus den Tiefen der Vergessenheit hervorholen. Mit Ästhetizismus hat dieses eine neue Geschichtlichkeit eröffnende Projekt nicht das Mindeste zu tun. Nietzsche redet nicht der Substitution des aufklärerisch-rationalen Bildungsideals durch das ästhetische Bildungsideal das Wort. Solche Trennungen und Antagonismen liegen seinem Denken fern. Er intendiert, dem unterschlagenen und aufklärerisch für alle Zukunft eliminierten tragischen Bewußtsein eine Heimstätte zu geben. Das vermag allein die geniale Kunst, in der tiefste Einsicht in den tragischen, Gestalten zeugenden und zerstörenden, dionysisch-apollinischen Weltgrund im schönen interimistischen Schein erträglich wird. Die Philosophie denkt im Medium der Kunst ihren unergründlichen abgründigen Gedanken, ohne daß der Mensch zerbricht. Nichts anderes als dieses Denken-Können meint nunmehr der Begriff der Bildung. Ideologisierungen sind wirkungsmächtige Gegenspieler des tragischen Bewußtseins. Nietzsche sieht seine Epoche als Sammelbecken diverser den Wirklichkeitsverlust verschleiernder und verfestigender Ideologien. Er fühlt sich von der unverstümmelten Erfahrung des Lebens in seiner Schönheit, Brutalität und alles durchwebenden Tragik durch fiktionale Vorgaben mit universalem Geltungsanspruch abgeschnitten. Er sucht neue alte Wege zur unverkürzten, dem Menschen möglichen Erfahrung. Er findet zurück zur Perspektivität der tragischen Kunst. Und er fragt sich im tiefsten Sinne bildungspolitisch, wie die Empfänglichkeit der Menschen für den Gedanken der tragischen Kunst gegen den seichten untragischen Geist der Zeit wieder errungen werden kann. Eine Antwort ist: ermöglicht jedem einzelnen die ideologiefreie, irritierende, gefährdende, möglicherweise zerbrechende Erfahrung der immerfort gegebenen Tragik des menschlichen Daseins. Grade in der Bildung sind Differenzierungen eben dieses Bewußtseins. Der gebildete Mensch ist durch ein tragisches Bewußtsein ausgezeichnet, das im Genius seine höchste Ausformung erfahrt. Der Gebildete ist dem Genius verwandt. Insofern trägt er elitäre Züge. Auf diesem Hintergrund erhält Nietzsches zunächst erschreckend inhumane Forderung, das „Elend der mühsam lebenden Menschen" (KSA, CV, 1, 767) noch zu steigern, um „olympischen Menschen" (KSA, CV, 1, 767) die Schöpfung genialer Werke zu ermöglichen, einen humanen Sinn. Voraussetzung dafür ist allerdings, daß man die hilflose, aus Verzweiflung geborene Härte dieser Formulierung hermeneutisch durchbricht. Daß Nietzsche ein zweifellos gefährliches, durch Ideologen, Halbdenker und Diktatoren mißbrauchbares Vokabular verwendet, steht außer Frage. Nietzsche schreibt nicht für ein solches Publikum. Er schreibt in erster Linie für sich; er führt sich selbst durch Gedankenspiele in Versuchung und damit zu seinen eigensten Möglichkeiten. Er spielt hier mit dem Gedanken, den Menschen tiefere, gefährlichere Erfahrungen mit der grundtragischen Verfaßtheit des Menschenlebens zu ermöglichen. Finanzielle Not und körperliche Gebrechen und Gefährdungen sind, bei aller
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Tragik im einzelnen, nur Oberflächenphänomene der Conditio humana. Deren tragische Tiefe auszuloten bedarf es der Erfahrung der fundamentalen Sinnlosigkeit eines jeden einzelnen, aller Menschen, aller kulturellen Leistungen und geschichtlichen und heilsgeschichtlichen Hoffnungen. Jeder einzelne Mensch ist nur eine grundlose Laune des weltgründigen Spiels, das seine eigenen Gestalten lustvoll-leidend wieder verschlingt. Steigerung des Elends soll diese perspektivische Weitung des Denkens, und sei es auch nur im Modus der Ahnung, vorbereiten. So werden die Menschen für die Erfahrung der tragischen Kunst sensibilisiert, in der es letztlich nicht um das tragische Schicksal des einzelnen geht, sondern um die Tragik des Menschen in seiner ephemeren Geworfenheit, die in der Tragik des einzelnen sich nur monadisch bricht. Steigerung des Elends bedeutet in diesem Kontext Ermöglichung von Dezentrierung, von Einsicht in die Abgründigkeit des Weltgrundes. Man muß nicht als Sklaventreiber und Menschenschinder auftreten, um diese entgrenzende Einsicht gewinnen zu lassen. Die unverhohlene Gewalttätigkeit der Nietzscheschen Diktion manifestiert auch eine bildungstheoretische Schwäche. Die Erfahrung der fundamentalen Tragik des Menschendaseins kann im Kunsterlebnis sich ereignen. Zur Aufgabe der Bildungsphilosophie gehört, Möglichkeiten der Differenzierung des tragischen Bewußtseins zu entwerfen und zu begründen. Vor dieser Aufgabe hat sich die Bildungsphilosophie bislang erfolgreich kaum einer hat es bemerkt gedrückt. Nietzsche argumentiert nicht primär in diese bildungsphilosophische Richtung. Er sucht gleichsam den archimedischen Punkt für die Erfahrung der menschlichen Tragik; insofern argumentiert er psychologisch. Beide Perspektiven ergänzen sich jedoch letztlich. Es ist bezeichnend, daß Nietzsche in der wichtigen Passage über die Steigerung des Elends der schon durch tägliche Frondienste beladenen Menschen und die Notwendigkeit des Sklaventums den „absoluten Werth des Daseins" (KSA, CV, 1, 767) als absoluten Unwert begreift. Das Dasein des Menschen, seine Selbsterzeugung in der Geschichte ist absolut nichtig. Aus dieser tragischen Grunderkenntais folgert Nietzsche, daß es zur Würde des Menschen gehört, diese seine bestürzende Nichtigkeit erfahren zu können. So paradox es klingen mag: in der Steigerung des Elends kann der Mensch ebendiese Würde gewinnen; wer das Elend steigert, kann einem höheren Menschentum sich verpflichtet fühlen, wie beispielsweise der Pädagoge, der tragische Erfahrungswelten für den Edukanden antizipiert und ihn solchen Erfahrungen aussetzt. Der Bildungstheoretiker à la Nietzsche denkt in tragischen, die Nichtigkeit des Menschen gestaltenden Welten und deren Kontext. Jede Konfrontation mit einer solchen Welt ist in wohlbestimmtem Sinne einer Steigerung des Elends gleich zu erachten. Man verfalle also nicht in den naheliegenden Fehler, Nietzsches Elendpostulat politisch-äußerlich zu interpretieren. Diese bildungstheoretische Interpretation des Elendpostulates hat natürlich auch Folgen für Nietzsches Fassung des notwendigen Sklaventums in jeder hohen, tragische Einsichten wahrenden und bewahrenden Kultur. Zum tragischen Bewußtsein sollen alle gelangen, aber Gestalter tragischer, zugleich artifizieller und wirklichkeitshaltiger Welten sollen nur die -
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Genien sein. Dieser Unterschied darf nicht verwischt werden, da sonst Kriterien für hohe Kunst schwinden und uneingelöst bleiben. Nicht jeder vermag exemplarisch und vorbildlich für kommende Jahrhunderte tragische Bewußtseinswelten zu gestalten. Vom Pathos der Distanz zum Genius lebt eine Kultur im emphatischen Sinne Nietzsches. Das Wissen um die eigene Inferiorität adelt noch den geringsten nicht-genialen, auf diese Weise dem genialen Werk verbundenen „sklavischen" Menschen. Die ideologische Gleichsetzung des Schöpfertums aller Menschen schafft mit einem Gewaltstreich, der alle jahrtausendelangen Erfahrungen des Menschen mit sich selbst und seinen höchsten Exemplaren ungeschichtlich-
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gewaltsam für null und nichtig erklärt, die Gräßlichkeiten der Kulturindustrie und (post)mo-
dernes Banausentum. Nietzsches schlichte und im Grunde zutiefst menschliche Botschaft lautet: Vive la différence! Wo anders als in der pädagogischen Welt der kulturellen Initiation ließe sich dieser fundamentale Sinn für Größe pflegen und verfeinern?! Wohlgemerkt: es geht um Differenzierungen nicht im funktional-kognitiven, sondern künstlerisch-tragischen, im tiefsten Sinne philosophischen Bewußtsein. Es geht um Differenzierungen im Bedenken der Nichtigkeit des Menschen im ephemer-interesselosen Gefüge der Kunst. Leidvoll irritierte, verzweifelnde Ahnung (Sklaventum) und trotzig-selbstbewußte, lineare Zeitschemata suspendierende Bejubelung der ewigen Wiederkunft des Gleichen (Genius) sind die Endpunkte solcher Differenzierungen. Jede Erfahrung des setzend-vernichtenden Spieles des Weltgrundes ist eine ästhetische Erschließung der Wirklichkeit. Nietzsche entwickelt im Griechischen Staat komplementär eine Philosophie des Lebens, des Werdens und eine Philosophie der Kultur auf dem Fundament einer Philosophie der Nichtigkeit. Die Begriffe des Lebens und der Kultur erhalten dadurch eine tragische Grundtönung. Sie sind nichts sinnhaft Letztes, und sie können sich nicht selbst legitimieren. Sowohl das Leben wie die Kultur sind brutal, ja geradezu mörderisch. Über alle Gegensätzlichkeit sind sie durch radikale Destruktivität miteinander verwandt. Vernichtung gehört zu ihrem Wesen. Nietzsche überträgt die elementare Vernichtungsstruktur des Lebens in die Welt der Kultur. Er denkt vom Begriff des Lebens her. Seinen Begriff der Kultur kennzeichnet strukturelle Identität mit dem Begriff des Lebens. Schon aus diesem Umstand kann man ersehen, daß seine Argumentation im Tiefsten nicht willkürlicher Menschenverachtung und ebenso arbiträrer
Olympifizierung einiger weniger entspringt.
Obwohl die Kultur in bestimmter Hinsicht mit dem Leben strukturell identisch ist, muß sie auch als artifizielle Transzendierung des Lebenszusammenhanges, als Produktion neuer Bedürfniswelten verstanden und gewürdigt werden. Insofern koinzidieren in der Sphäre der Kultur zwei heterogene Dimensionen; das Natürliche und das Unnatürliche gehen in ihr ein prekäres Verhältnis ein. Unsere christlich-aufklärerischen Begriffe von Freiheit, Mitleid und Gerechtigkeit sind in ebendiesem Sinne unnatürlich; sie sind lebenstranszendent. Ihre höchstmögliche Verfeinerung stellt genau besehen die größtmögliche Lebensferne dar. In rigiden Kulturen wird Lebensferne auf Dauer gestellt. Die Zeit soll gleichsam stehen bleiben.24 Zwischen der Zeitlichkeit des Lebens und der Zeitlichkeit der Kultur wird künstlich eine Kluft geschaffen. Für diese kulturelle Distanzierung gibt es, wie Nietzsche betont, eine von befehdeten, überformten Leben her gezogene Grenze. Das unterjochte, artifiziell deformierte Leben fordert seine strukturellen Bestimmtheiten zurück. Es kommt zu vitalen Gegenbewegungen. Versteinerte kulturelle Daseinsformen werden verwandelt oder gar aufgelöst. Die höchste kulturelle Überformung des Lebens fordert unabwendbar ihren eigenen Niedergang heraus.25 Die Aufklärungsbewegung ist für Nietzsche exakt dieser geschichtsphilosophischen Logik gemäß ein gegen die mittelalterlichen Ordo-Systeme gerichteter Prozeß kultureller Zersetzung. Die Aufklärung erscheint Nietzsche als Aufbegehren, und zwar als ein solches, das in den 24 Piaton hat in den Nomoi (in: Sämtliche Dialoge, Bd. 7, hg. v. Otto Apelt, Hamburg 1988) ein solches Kulturparadigma entworfen. Rousseaus Theorie des jusle milieu resp. l'âge d'or de l'humanité enthält ein analoges Zeitmodell. Vgl. dazu seinen „Zweiten Discours", in: Jean-Jaques Rousseau, Preisschriften und Erziehungsplan, 47-137. 25 Johann Gottfried Herder hat schon in seinem frühen Journal meiner Reise im Jahr 1769, 90, die Dialektik von kultureller Differenzierung und Entdifferenzierung klar bezeichnet.
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christlichen Ordo-Zusammenhängen ihren eigenen Intentionen zuwider vorbereitet wurde. In der Aufklärung (und im Christentum) bahnt sich das eingekerkerte Leben seinen Weg. In genau diesem Sinne ist sie kulturfeindlich. Das brüchige Bündnis von Leben und Kultur beginnt zu zerbrechen. Was nunmehr als Kultur in Erscheinung tritt, tilgt alle Brutalitäts- und Destruktionsmomente des Lebens aus ihrem Gefüge. Sie wird zum Zeitvertreib verharmlost; sie wird in mehrfachem Sinne dekorativ. Der Bildungs-Bürger kann sich mit ihr schmücken, ohne von ihr zermalmt oder zumindest verändert zu werden. Die Kultur wird eindimensional, im schlechtesten Sinne bloß artifiziell. Der Zusammenhang mit der brutalen Welt des Lebens ist zerbrochen. Und in ebendieses Zerrbild der Kultur werden die nachwachsenden Generationen massenhaft -
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eingeführt!
Nietzsches Griechischer Staat ist ein leidenschaftliches Votum für die Erhaltung der Komplexität des Kulturphänomens. Kultur begreift Nietzsche als lebensgebundene, auf das Leben verweisende Lebensüberformung. Sie ist Leben und Nicht-Leben zugleich. Ihre Bezüge zur Dimension des Lebens variieren geschichtlich. Diese Variation unterliegt, wie Nietzsche andeutet, einer geschichtsphilosophischen Logik, die Nietzsche im Anschluß an den Deutschen Idealismus als Dialektik faßt. Kulturelle Versteinerungen Nietzsche nimmt als Veranschaulichungsobjekt hierfür „mächtige" (KSA, CV, 1, 768) Religionen werden durch modifizierende, destillierende Gegenbewegungen, in denen sich Ansprüche des Lebens kundtun und in Umwertungen niederschlagen, nach und nach aufgelöst. Jede hohe Kultur unterliegt dieser destruktiven Logik. Die Überwältigung des Lebens kann zwar auf Dauer gelingen, aber nicht in Ewigkeit. Es gehört zu den Vorzügen der Nietzscheschen Argumentation, daß sie an einen differenzierten Begriff des Lebens gebunden bleibt. Das Leben, das sich gegen kulturelle Versteinerungen emanzipatorisch wendet, ist keine bloße Vitalität, sondern selbst schon Resultat kultureller Überformung. Strenggenommen kämpft ein bestimmter Modus kultureller Lebensformung mit einem anderen, ein Modus von Selbst- und Weltdeutung mit einem anderen, der die Lebenseinseitigkeit bis zum Extrem vermeintlicher Geschichtslosigkeit gesteigert hat. Freiheit, Mitleid und Gerechtigkeit sind sozialbezügliche Leitideen einer individualitätsorientierten Geschichtlichkeit, die sich gegen andere Definitionen von Geschichtlichkeit (Piaton, Mittelalter) zur Wehr setzt. Mit Vitalität im ursprünglichen Sinne hat dieses „Leben" nur metaphorische Gemeinsamkeit. Das darf man nicht aus den Augen verlieren, zumal Nietzsche von der metaphorischen zur originär-naturalen Ebene ohne besondere Hinweise wechselt. Freiheit und Gerechtigkeit sind künstliche normative Setzungen des Menschen. Er geht zur Natur auf Distanz. Gleichzeitig wendet sich der Mensch mit diesen aus einer langen Sensibilisierungs- und Verinnerlichungsgeschichte die Pädagogik spricht von einer cultura animi stammenden Imperativen gegen eine Wohl und Wehe des einzelnen nicht berücksichtigende, geschichtlichen Wandel tendenziell ausschließende politisch-ideologisch zentrierte „hohe", in funktionalen Eliten fundierte Kultur. Der „Schrei des Mitleidens" (KSA, CV, 1, 768), das Postulat universaler Liebe und die Perspektive höchstmöglicher Gerechtigkeit, die noch über die Idee des Rechtsstaates hinausgeht, all diese Phänomene sind als Ausdruck eines Zeitgeistes und einer kulturellen Ausformung ineins Kultur und Kulturzerstörung. An dieser Ambivalenz leidet Nietzsche, während Denker des Christentums und der Aufklärung sie als Indizien heraufdämmernden menschheitlichen Glücks begrüßen und verabsolutieren. Christentum und Aufklärung, so lautet Nietzsches These, sind blind für normative Ambivalenzen und für die Tragik der Conditio humana. -
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Solche Ambivalenzen stehen üblicherweise nicht im Zentrum bildungsphilosophischer Reflexion. Im Grunde ist letztere platonisch determiniert: sie glaubt blindlings an normative Entscheidbarkeiten. Der Umgang mit in der Tat irritierender axiologischer Ambivalenz ist ihr weitestgehend fremd. Axiologische Alternativen spielt sie nicht durch. Folgegeschichten normativer Dezisionen geht sie nicht nach. Ihre Zeitperspektive ist selbst im Entwerfen globaler Utopien eigenartig begrenzt. Inwieweit beispielsweise die aufklärerisch-christlichen Wertungen von Nächstenliebe und Mitleid, von Freiheit und Gleichheit, von Brüderlichkeit und Solidarität, von der Würde eines jeden Menschen bestimmte Modi menschlicher Selbsterzeugung geschichtlich verdrängen oder gar ausschließen, bleibt für die moderne Bildungsphilosophie eine ungestellte Frage. Ihre Argumentationen verlaufen innerhalb einer als verbindlich erachteten normativen epochalen Dimension. Bestenfalls werden partikulare Theoreme nebst implizierten Wertungen resp. Grundhaltungen aus voraufklärerischen Denkund Handlungswelten übernommen.26 Niemand denkt in den weiten Perspektiven Nietzsches, der hierin selbst die Hegeische Geschichtsphilosophie überbietet. Am nächsten steht Nietzsches Philosophie der geschichtlich-normativen Ambivalenz offensichtlich der kühnen, vor allem durch Kant zu Unrecht ins Abseits gedrängten Herderschen Geschichtsphilosophie, in der allerdings noch eine geheime teleologische Hoffnung mitschwingt und die in der ersehnten Beförderung der Humanität im Gegensatz zu Nietzsche ein absolutes axiologisches Bezugssystem hat. Dadurch reicht sie an Nietzsches normative Offenheit und dessen spielerischen Umgang mit Alternativen nicht heran. Mehr oder weniger säkularisierte heilsgeschichtliche Vorentschiedenheiten limitieren Herders geschichtsphilosophischen Entwurf. Nietzsche zieht der Bildungsphilosophie das vermeintlich selbstverständliche normative Fundament unter den Füßen weg. Er macht sich einen Spaß daraus, Zeitperspektiven über das gewöhnliche Maß zu dehnen (vgl. KSA, MA I, 2, 65). Sein Rekurs in eine konstruierte vorintellektualistische, vorindividualistische griechische Kunst- und Staatswelt gehört zu diesem rochierenden Spiel. Vermeintlich überzeitliche Kategorien des bildungsphilosophischen Denkens (Individualität resp. Monadizität, Mündigkeit, Selbstbestimmung, Verantwortung, Charakter, Einheit der Person etc.) zerstäuben in Nichts. Die Bildungsphilosophie muß ein bislang nicht gekanntes geschichtsphilosophisches Bewußtsein entwickeln, in dem auch die versucherisch-experimentelle Transzendierung von Jahrtausendzeiträumen ihren Platz hat. Unsere (bildungstheoretischen) Kategorien und Zieldiskussionen hängen von einem als fix gesetzten Zeithorizont ab. In allen Wertungen und Begrifflichkeiten lebt eine bestimmte bislang nicht vergegenwärtigte Zeitlichkeit. Zeit stiftet Sein. Im Griechischen Staat entfaltet Nietzsche eine polemische, gegen den Kantschen Transzendentalismus gewandte Philosophie der Zeit. Leben und Kultur sind Modi einer alles durchdringenden, alles verschlingenden, alles ermöglichenden Zeitlichkeit. Während in Kants Kritik der reinen Vernunft21 die Zeit als eine apriorische Form der Anschauung, also eine primär innere und sekundär äußere Gegenstände ermöglichende Ordnungsstruktur des transzendentalen Bewußtseins bestimmt wird, gibt Nietzsche der „Form der Zeit" (KSA, CV, 1, 768) in der Bindung an das Lebenwollen ihre voluntative Realität, ihre wert-lose spielerisch-
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26 Ein eindrucksvolles Beispiel liefert die Rezeptionsgeschichte der Comenianischen Pansophia im 20. Jahrhundert Vgl. Klaus Schaller, Comenius, Darmstadt 1973. 27 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Akademie-Textausgabe, Bd. 4, Berlin 1968.
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brutale Dynamik des Werdens zurück.28 Nietzsche kappt die Leinen zum Platonischen Idealismus ebenso wie zum Kantischen Transzendentalismus. Dabei nimmt er die voluntaristische Tradition des 19. Jahrhunderts auf. Die Schopenhauersche Willensmetaphysik wird im weitesten Sinne empirisch transformiert. Zeit und Wille sind universal. Zeit, Wille und Leben verschmelzen zu einer dynamischen, Selbstwiderspruch hervorbringenden, ewig Leiden gebärenden Einheit. Nietzsche schematisiert nicht wie Kant in der Vernunftkritik durch kategorialen Anschluß die Zeit in ihrer Idealität, er pathologisiert sie durch die Identifikation mit dem Pater Seraphicus, also durch die Einnahme einer extramundanen Position.29 Wer in der Innenperspektive der Welt und kultureller Konventionen resp. Ausblendungen und Marginalisierungen verbleibt, der durchschaut das widersprüchlich-leidvolle Wesen der Zeit und des Lebens nicht. Nietzsche gibt die Philosophie der Zeit den himmlischen Mächten zurück, indem er sie an die heilige dichterische Intuition bindet. Er spricht als Dichter in diesem Text zu uns. Und wir müssen diesem Modus der Erkenntnis entsprechen. Die Grenzen wissenschaftlicher und historischer Argumentation werden von Nietzsche bewußt, selbstbewußt, überschritten. Dahinter steht das Bekenntnis zur göttlichen, zur höchsten Form der Erkenntnis im Medium der Gestalten entwerfenden, Konstellationen sehenden künstlerischen Intuition. Der im höchsten Sinne Gebildete ist demgemäß der Homo intuitivus, der Äonen durchmessende gottgleiche Genius. Zur Bildung gehört die letztlich nicht zu lernende Fähigkeit, über den Rand der Welt hinauszuschauen, von der Ebene des Intellectus ectypus zu der in der metaphysischen Spekulation Gott vorbehaltenen Bestimmtheit des Intellectus archetypus aufzusteigen. Diese Selbsttranszendierung ist die höchste Form der Menschlichkeit. In ihr wird das göttliche Denken zur Kunst. Gegen Kant reklamiert Nietzsche im Einklang mit nachkantischen idealistischen Positionen (Schelling) das „Vermögen" der „intellektuellen Anschauung" für den menschlichen Verstand. Lebensweltliche und wissenschaftliche Diskursivität werden nicht diffamiert, aber auf das Niveau von Präliminarien herabgedrückt. Im modernen Bildungsdenken finden wir eine völlig andere Gewichtung. Diskursive Rationalität, kausalanalytische Logik und bereichsspezifische Legitimationsstrategien gelten wie selbstverständlich als normative Zielpunkte. Intuition ist bestenfalls vorwissenschaftlich; bis in das Alltagsbewußtsein hinein hält man sie für defizitär. Eine Logik der Intuition hat neuzeitlich gegen eine Logik der Induktion30 oder eine Logik der Forschung31 keine Chance. In mehr oder minder verachteten „Nebenfächern" darf man gleichsam zur Entspannung von diskursiver Rationalität seinen intuitiven Einfallen folgen. Der philosophische Geist der intellektuellen Anschauung ist selbst in der Nietzsche-Kritik verkommen. Nietzsche nimmt die extramundane Position des Pater Seraphicus in der Haltung des Mitleids und Erbarmens ein. Er durchschaut nicht nur die unaufhebbar antagonistische Grundstruktur des Lebens, er weiß vielmehr seinen Schmerz über die nichtende Nichtigkeit des Lebens nur in der Hoffnung auf die große Kunst und den ideenbestimmten Staat interimistisch zu beherrschen. Kein menschliches Leiden bleibt diesem die apollinisch-dionysische Struktur 28 29
Vgl. Josef Leonhard Blaß, Modelle pädagogischer Theoriebildung, 14 f. Diese eindringliche Analyse bietet bildungsphilosophische Anschlußmöglichkeiten. Goethe, Faust II, 11907, „weit- und erdgemäß Organ" (KSA, CV, 1, 768) wird von Nietzsche für diese Sichtung der Zeit und des Lebens herangezogen. Vgl. Goethe, Faust, hg. und kommentiert von Erich Trunz, München 1991, 358.
30 31
Vgl. John Stuart Mili, A System of Logic. Ratiocinative and Inductive, London 1843. Vgl Karl R. Popper, Logik der Forschung, 4., verbesserte Aufl., Tübingen 1971.
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des Lebens erschauenden Auge fremd. Die menschlich-geschichtliche Welt ist Not nicht wendendes Abbild des in sich zerrissenen Weltgrundes. Er entäußert sich in seinem heillosen Urschmerz und in seiner selbstbezüglichen Urlust in der zerschmetternden Heillosigkeit der menschlichen Geschichte und Lebensgeschichte. Die Welt der Geschichte, des Gestaltens und menschlichen sich selbst Erzeugens, wird undurchbrechbar dominiert von der antagonistischen Gesetzlichkeit des Weltgrundes, des Ureinen. Menschliche Geschichte ist ein Schein, ein determiniertes Produkt der Emanation. Nietzsches frühe Welt- und Geschichtssicht ist plotinisch bestimmt. Seine Emanations lehre löst Autonomie und Geschichtlichkeit auf. Humane Faktizität wird zur Fatalität. Der Mensch wird zu einem freiheitslosen funktionalen Moment der Emanation des Weltgrundes. Sein Schicksal ist es, in einem sinnlosen gestaltend-vernichtenden Spiel ephemer mitspielen zu müssen. Selbst sein Lebenwollen ist, ohne daß er es ahnt, metaphysisch, nicht physiologisch-natural, bedingt. Nicht einmal die „unersättliche Gier zum Dasein" (KSA, CV, 1, 768) ist sein Ureigenstes. In ihm waltet die Gestaltungsgier des Weltgrundes. Bei allem, was der Mensch betreibt, ist er ein Getriebener und in Kürze Zermalmter. Die vom Menschen vermeintlich entworfene Zeitlichkeit, die Welt des Werdens ist metaphysisch geweitet und gezeitigt. Nicht die menschliche Vernunft konstituiert ihrer Gesetzlichkeit gemäß in Zeit, Raum und Grundsätzen die Welt der Erscheinungen, die menschliche Vernunft und ihre zeitlich-mundanen Entwürfe sind selbst Erscheinung des Weltgrundes. Der den Menschen in seiner weltsetzenden Mächtigkeit feiernde Transzendentalismus hat seinen metaphysischen Grund unter den Füßen verloren. Die Ideologie der Letztbegründung ist ein Kulminationspunkt philosophischer Grundlosigkeit. Kant muß Nietzsche in dieser frühen Selbstfindungsphase seines Denkens bei aller beteuerten Hochschätzung als Verhängnis erscheinen. In der Zeit entäußert sich der Weltgrund. Zeit ist keine reine Anschauung, sondern Werden im Sinne des Gestaltet- und Vernichtetwerdens. Zeit ist Leben. Die Zeitlichkeit des Menschen ist seine potenzierte Tragik, weil sie die Tragik des Absoluten, des Weltgrundes ist. Selbst die nur uns gehörende Tragik wird uns genommen. Nietzsche sieht die Zeit als Leviathan, als alles verschlingendes Ungeheuer. Er reaktualisiert die Mythologie der Zeit, um die modernen Philosophien der Zeit aus den Angeln zu heben. Sein Schritt zurück ist ein Schritt nach vorn. Geburt und Tod sind nicht nur das Anfangs- und Endstadium einer Lebensgeschichte; Geburt und Tod sind auch unlöslich aneinander gekoppelt: jede Lebensbestimmtheit verdankt sich in mehrfacher Hinsicht der Vernichtung von Leben. Jedes einzelne Leben ist in diesem Sinne Schuld, für die es keine Sühne gibt. Eine unverschuldete Schuld: dies ist die Tragik der Zeit, des Lebens, des Werdens. Wer diese Sichtung der Welt errungen, der weiß sich in dieser Tragik allem Leben und allen Menschen durch Mitleid verbunden, der hat Kultur und Bildung von den Fesseln der Welt- und Selbstbemächtigung erlöst, der hat sich der Tragik der Welt
entwunden.32
32 Pointiert formuliert Nietzsche diese Grundhaltung in der Geburt der Tragödie: „alles, was wir jetzt Cultur, Bildung, Civilisation nennen, wird einmal vor dem untrüglichen Richter Dionysus erscheinen müssen." (KSA,
GT, 1, 128)
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Genealogie Macht Bildung -
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I. Mensch und Bildung Adorno schreibt in seiner „Theorie der
Halbbildung",1 daß die Idee der Bildung schon zum
Zeitpunkt ihrer Formulierung gegen Ende des 18. Jahrhunderts bereits ihren Zerfall in sich getragen habe. Inspiriert vom Gedanken der freien und gemeinsamen Gestaltung der eigenen Lebensverhältnisse auf der Grundlage vernünftiger Einsicht, habe diese Idee mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise ihre Realisierungsmöglichkeit nur noch im Bereich der Geisteskultur gefunden. Als von der Härte der sozialen Reproduktionsbedingungen abgeschlossener aber bilde dieser Bereich zugleich ein Refügium der Gestaltungsideale des Bürgertums wie auch die ideologische Legitimation für jene Bereiche, in denen sich längst die ,instrumentelle Vernunft' durchgesetzt habe. Es ist wohl die dialektische Perspektive, die immer schon nach der Vermitteltheit von Sichtweisen fragt und die damit die Idee der Bildung selbst noch auf ein soziales Selbstverständnis zurückführt, mit der eine bedeutsame Differenz zu den Selbstthematisierungen der Bildungstheoretiker jener Zeit eingezogen wird. Diese gingen von der Konzeption eines Menschen aus, der als solcher jenseits sozialer Vermittlungen zur kritischen Instanz gegenüber der Gesellschaft verselbständigt wurde. Die Autonomisierung des Individuums gegenüber der Gesellschaft hatte dabei eine doppelte Stoßrichtung. Zum ersten sollte sie die Möglichkeit vorführen, daß ein Individuum sich als Person jenseits der gesellschaftlichen Zerrissenheit und arbeitsteiligen Fragmentierung konstituieren kann als eine Person, die nicht immer schon nach gesellschaftlichen Imperativen zurechtgebogen ist. Diese (neuhumanistische) Stoßrichtung wendet sich direkt gegen die philanthropische Perspektive, nach der das Glück des Einzelnen mit seiner gesellschaftlichen Brauchbarkeit Hand in Hand gehe: ,Ausbildung' und Bildung fallen auseinander. Zum zweiten richtet sich eine solche bildungstheoretische Option aber -
auch gegen die
pädagogische Phantasie der Steuerbarkeit und Verantwortbarkeit eines Er-
ziehungsprozesses durch einen Erzieher, der nicht nur schon immer als den gesellschaftlichen Einflüssen entzogen gedacht wird also das angestrebte Resultat immer schon vorstellt -, sondern der damit gleichsam in die Gottesfunktion rückt. Von der unterschiedlichen Ausgangsposition her ist es daher kein Zufall, wenn Adorno (demgegenüber) noch in der Negativen Dialektik2 die Möglichkeit eines kritischen Standpunktes gegenüber den eigenen -
1 2
Vgl. Theodor W. Adorno, „Theorie der Halbbildung (1959)", in: Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, Sociológica. Reden und Vorträge, Frankfürt a.M. 1984, 168-192. Vgl. Theodor W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfürt a.M. 1966.
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der dem Kritisierten schon entronnen sei, bezweifelt. Es ist dies der Zweifel daran, ob es denn den ,Menschen' jenseits des ,Bürgers' geben könne. Es ist dies auch der Zweifel daran, ob es denn so etwas wie die .bildende Erfahrung', in der das Individuum (nach der hegelschen Figur über das Andere) zu sich selbst findet, unter diesen Bedingungen überhaupt geben kann.3 Mit dieser als Alternative formulierten Differenz aber hatte bei Rousseau das moderne bildungsphilosophische Denken eingesetzt. Dieses Denken kreist wie ich nun im Anschluß an die Untersuchungen Bucks4 kurz erläutern möchte um die Konzeption einer ,formalen Identität': einer Identität mit sich selbst. Rousseau hatte die Grundfigur der Aufklärung, die Befreiung des Denkens aus gesellschaftlichen Vermittlungen, noch gegen die Aufklärung selbst gewendet: Auch diese bastle noch mit an einem neuen gesellschaftlichen Verblendungszusammenhang, in dem die Eitelkeit der vernünftelnden Subjekte diese davon abhalte, sich auf sich selbst zu besinnen. Mit Rousseau wird die Aufklärung selbstreflexiv darin, daß man nun nicht mehr einfach von einem voluntaristischen Autonomiekonzept ausgehen kann. Selbstaufklärung führt nicht automatisch zur Autonomie, sondern kann selbst einer ,entfremdenden Logik' gehorchen. Rousseaus Problem bestand nun darin nachzuweisen, inwieweit nicht seine Kritik der Aufklärung selbst wiederum nur ein Moment in jenem Zirkus der Eitelkeiten darstellt, den er kritisiert hatte.5 Seine Antwort auf diese Frage nach der Möglichkeit eines Standpunktes jenseits des Kritisierten hieß ,Natur'. Der Naturzustand ist jener Zustand, in dem von allen sozialen Vermittlungen abstrahiert ist, in dem der Mensch als vorsoziales Wesen unmittelbar mit sich identisch ist. Auch wenn Rousseau weiß, daß dieser Zustand ein tierischer Zustand ist, hält er doch daran fest, daß damit ein Maßstab gesetzt ist, der auch unter sozialen Bedingungen soweit als möglich einzuhalten ist. Das Problem besteht also darin, wie jemand unter gesellschaftlichen Bedingungen, d. h. unter den Bedingungen der Vermittlung, dennoch jene Unmittelbarkeit bewahren kann, jene nicht-vermittelte Identität mit sich selbst, wie sie eben den Naturzustand auszeichnet. Inwieweit das vorstellbar ist, versucht Rousseau in seinem Erziehungsroman Emile, einem bewußt als kontrafaktisch angelegten fiktiven Gedankenexperiment, zu zeigen.6 Darin führt Rousseau einen Bildungsprozeß seines fiktiven Zöglings vor, der so perfekt arrangiert ist, daß er beim Heranwachsenden die Vorstellung der Unmittelbarkeit seines Weltverhältnisses als Selbstverhältnis auslöst. Emile wird zum Menschen und nicht zum Bürger erzogen: In einem
Lebensbedingungen,
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Hans-Hartmut Kappner hat in Die Bildungstheorie Adornos als Theorie der Erfahrung von Kunst und Kultur, Frankfürt a.M. 1984, einer äußerst präzisen Untersuchung der Bildungsphilosophie Adornos, daraufhingewiesen, daß dann letztlich nur noch die Erfahrung verhinderter Erfahrung bleibe, eine Figur, die analog zu denken ist mit jener Solidarität mit der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes, die Theodor W. Adorno in der Negativen Dialektik postuliert. Aber auch die Erfahrung verhinderter Erfahrung ist als solche dem Problem der Sicherheit des erfahrenden Subjekts, in seiner Erfahrung ,bei sich' sein zu können, noch nicht entronnen (vgl. dazu Alfred Schäfer, Aufklärung und Verdinglichung. Reflexionen zum historisch-systematischen Problemgehalt der Bildungstheorie, Frankfürt a.M. 1988). 4 Vgl. Günther Buck, Rückwege aus der Entfremdung. Studien zur Entwicklung der deutschen neuhumanistischen Bildungsphilosophie, Paderborn/München 1984. 5 Vgl. Alfred Schäfer, Rousseau Pädagogik und Kritik, Weinheim 1992. 6 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Emile oder über die Erziehung, Stuttgart 1963. Rousseau weiß um den fiktiven Charakter seines pädagogischen Traums. Das unterscheidet ihn von vielen seiner Nachfolger, für die eben dieser pädagogische Traum zum Paradigma pädagogischer Theoriebildung geworden ist ohne daß dessen fiktiver Charakter, der mit Determinationshypothesen spielt, die Möglichkeit einer eindeutigen Bedeutungsübertragung suggeriert und etwa auch das Machtproblem neutralisiert, als solcher in den Blick rückt. 3
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Genealogie
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Macht -Bildung -
Prozeß, in dem sich seine soziale Vermittlung unsichtbar macht, in dem sich auch das soziale
Verhältnis zum Erzieher als eines zur sozial unvermittelten Widerständigkeit der Welt zeigt, in dem sich also die pädagogische Steuerung als Selbstbildungsprozeß zeigt, in dem Emile sein Verhältnis zum Erzieher (bis zur Pubertät) gar nicht als soziales zu begreifen vermag, gewinnt er auf unterschiedlichen Entwicklungsstufen ein Gleichgewicht seiner Wünsche und seiner Fähigkeiten. Er bleibt durch diese verschiedenen Stufen hindurch mit sich identisch, scheinbar nicht überformt von gesellschaftlichen Forderungen.7 Wenn man auch sagen kann, daß in einem solchen Fall Natürlichkeit, die scheinbar nicht sozial vermittelte Einheit von Wünschen und Fähigkeiten, und das, was einen Menschen auszeichnet, verstanden als das auch in der eindeutigen Sprache mögliche unmittelbare Beisich-selbst-Sein, zusammenfallen, so ist doch auf zwei Aspekte in einem solchen Konzept hinzuweisen. Zum ersten ist damit gerade keine Substanz des Menschlichen angegeben. Es ist die Formalität des Konzepts der Identität mit sich selbst, die den Menschen auszeichnet: Inhaltliche Maßstäbe für eine Identität des Menschen sind von hier aus nicht legitimierbar. Genau insofern bildet das Konzept der formal gedachten Identität mit sich selbst eine radikale Option gegen jede gesellschaftliche Bevormundung auch wenn diese sich in pseudoanthropologische Behauptungen darüber kleiden mag, was denn nun ,dem' Menschen als Wesen eigen sei. Zum zweiten impliziert das Konzept einer solchen formalen Identität den Abweis von teleologischen Entwicklungsverläufen. Rousseau betont daher immer die Eigenwertigkeit der Entwicklungsstufen: Diese gewinnen ihren Sinn nicht daraus, daß sie auf vollendete Formen vorbereiten. Allerdings wirft das Konzept der formalen Identität als Medium der Bildung des Menschen ein Problem auf. Wenn man den Menschen gegen den Bürger definiert, seine Identität mit sich als nicht sozial vermittelte begreift, dann erhebt sich die Frage, inwieweit auf dieser Grundlage ein akzeptables Zusammenleben der Menschen möglich sein kann. Rousseau kann diese Frage nicht im Sinne einer Sozialvertragstheorie beantworten, die die Selbstunterwerfung unter einen Gesellschaftsvertrag zur Bedingung individueller Autonomie macht. Sein Modell ist nur eine Variante der Identität mit sich selbst. Der Gesetzgeber als Subjekt muß mit denjenigen, die dem Gesetz unterworfen sind, identisch sein. Wie die mit sich selbst identischen Subjekte aber -
7 Auch wenn sich aufden ersten Blick hier Korrespondenzen zum folgenden Nietzsche-Zitat ergeben mögen, so sind diese wie wohl die weiteren Ausführungen zeigen werden, allenfalls oberflächlicher Art. Friedrich Nietzsche schreibt in Aus dem Nachlaß der achtziger Jahre, in: Band III, 415-926: „Ein Erzieher sagt nie, was er selber denkt: sondern immer nur, was er im Verhältnis zum Nutzen dessen, den er erzieht, über eine Sache denkt. In dieser Verstellung darf er nicht erraten werden; es gehört zu seiner Meisterschaft, daß man seiner Ehrlichkeit glaubt. Ein solcher Erzieher ist jenseits von Gut und Böse; aber niemand darf es wissen" (NL, III, 469). Nietzsches Werke werden nach der Ausgabe zitiert, die von Karl Schlechta herausgegeben wurde: Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, München 1966. Eine solche Position ist in pädagogischer Hinsicht einerseits konservativ, als sie die Möglichkeit einer pädagogischen Entscheidung vom Standpunkt einer antizipierten Zukunft des Edukanden postuliert. Jenseits von Gut und Böse ist diese Option andererseits nicht schon durch die gelungene Verstellung, die allenfalls dazu dient, das virulente Legitimationsproblem nicht aufkommen zu lassen, das sich aus dem Anspruch ergibt, stellvertretend für den Anderen entscheiden zu wollen, was denn nun für dessen Zukunft .nützlich' sei. Jenseits von Gut und Böse anzusiedeln ist diese Position allenfalls dann, wenn man davon ausgeht, daß es für die Ehrlichkeit des Erziehers gar keinen anderen Bezugspunkt als den Schein gibt. Hinter der Maske des Erziehers befindet sich nicht dessen .wahrer Charakter', sondern nur eine andere Maske. Wenn man das aber ernst nimmt, dann wird auch die stellvertretende Verantwortungsübernahme und damit die Rede von Erziehung im angeführten Zitat zum Problem ebenso wie jede Intersubjektivität. Mit der Möglichkeit von Intersubjektivität aber ist ein grundsätzliches Problem angesprochen, das im Hinblick auf Nietzsche weitgehend unerforscht sein dürfte. -
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den Schritt zur Sozialität machen, wird im Gesellschaftsvertragi wie auch in der moralischen Auflösung der möglichen ,asozialen' Folgen einer formalen Identitätskonzeption an eine apriorische Konzeption gebunden: dort an den Gesetzgeber', der als solcher die voraussetzungslose Voraussetzung des Gesellschaftsvertrags bildet, und hier an die Vorstellung eines angeborenen, jeder Identität mit sich selbst immer schon vorausliegenden Gewissens. Es ist dann die Identität mit sich selbst, die es dem Menschen erlaubt, die ,göttliche' Stimme seines Gewissens zu vernehmen. Die soziale Sprengkraft der Identität mit sich selbst als eines ,außermoralischen Standpunktes' wird so neutralisiert durch eine dieser formalen Identität vorausliegende moralische Substanz. Wenn Nietzsche Rousseau als „Moral-Tarantel"9 bezeichnet, dann ist damit genau diese Zurücknahme der Radikalität des eigenen Ansatzes, der das Nihilismusproblem aufgeworfen hätte, gemeint. Der bildungstheoretische Ansatz Humboldts verschärft das Problem eher noch. Humboldt verzichtet auf die Vorstellung, daß sich die Identität mit sich selbst gleichsam auf der praktischen Ebene herstellen läßt. Vielmehr geht er (mit Bezug auf den deutschen Idealismus) davon aus, daß diese Identität das Produkt einer Selbstbestimmung ist, in der der Mensch als Bestimmender und Bestimmter immer schon auseinanderfällt.10 Die Authentizität als Zielvorstellung Rousseaus bildet von hier aus keine einsehbare Perspektive. Geschuldet ist diese Blickveränderung einer Radikalisierung des Freiheitsgedankens in der Selbstbestimmung. Dieser wird bei Humboldt nicht mehr an ein vorgängiges Gewissen gebunden, das der Freiheit des Individuums ähnliche Grenzen setzen könnte wie eine gesellschaftliche Überformung. Humboldt weigert sich auch, die kantische Unterscheidung von empirischer und intelligibler Welt für seine Bildungstheorie fruchtbar zu machen. Eine reine praktische Vernunft, die an das Universalisierbarkeitskriterium gebunden ist, faßt Humboldt als Beschränkung des Gedankens der Freiheit auf. Diese Freiheit ist immer eine (und das unterscheidet ihn von Rousseau wie Kant) des empirischen Individuums. Die Freiheit des empirischen Individuums ist das, was nicht nur gesellschaftliche Imperative, sondern auch eine apriorische Gewissenskonstruktion und das Konzept der Vernunftautonomie als für die Bildung problematisch erscheinen läßt. Wenn wie Humboldt in den „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen" (1792) schreibt der „wahre Zweck" des Menschen „die höchste und proportionirlichste Ausbildung seiner Kräfte zu einem Ganzen"11 ist, dann muß dies immer als bezogen auf das Individuum gedacht werden. Zu dieser Bildung ist einerseits dessen Freiheit erfordert: also der Abweis jeder Art von Bevormundung. Zum zweiten ist die Mannigfaltigkeit von Situationen notwendig, damit das Individuum in der Auseinandersetzung mit diesen erfahre, wer es ist. Diese Identität liegt weder vorab in ihrem Inhalt fest, noch kann sie jemals festgelegt werden, weil eben die Differenz von sich selbst bestimmendem Individuum und bestimmtem Individuum nicht aufhebbar ist. Der Prozeß der Bildung ist daher endlos: Es ist seine Form als Prozeß gelingender Erfahrung, in dem das Individuum sich in der Auseinandersetzung mit der Welt verliert, um sich zu gewinnen, die es dem Individuum -
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8 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Der Gesellschaftsvertrag, Stuttgart 1974. 9 Vgl. Friedrich Nietzsche, Morgenröthe (1881), in: Band I, 1013. 10 Vgl. Clemens Menze, Wilhelm von Humboldts Lehre und Bild vom Menschen, Ratingen 1965, 95. 11 Wilhelm v. Humboldt, „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen" ( 1792), in: Wilhelm von Humboldt Werke in 5 Bänden, hg. v. Andreas Flitner u. Klaus Giel, Darmstadt 1960 ff., hier Bd. 1: Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Darmstadt 1969, 64.
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schließlich erlaubt, sich selbst Maßstäbe zu setzen, in deren Rahmen es sich als mit sich selbst Identisches begreifen will. Die unhintergehbare Freiheit des Individuums bedeutet nicht nur den Abweis äußerer Überformungsversuche, sondern auch eine Vorstellung der Menschheit als Totalität, die sich nur in ihren individuellen Ausprägungen zeigt. Je vielfaltiger diese Ausprägungen, desto mehr zeigt sich von dem, was menschlich ist. Humboldt schreibt: „Das höchste Ideal des Zusammenexistirens menschlicher Wesen wäre mir dasjenige, in dem jedes nur um sich selbst, und um seiner selbst willen sich entwickelte".12 Wenn Humboldt dieser individuellen Ausgestaltung von Identitäten ruhig zusehen kann, dann muß er sich auch von einer anderen Vorstellung Rousseaus verabschiedet haben: jener der perfectibilité, in die die Ambivalenz menschlicher Möglichkeiten eingeschrieben ist. Humboldt scheint davon auszugehen, daß die mit sich selbst identischen, sich im Spannungsfeld ihrer Maßstäbe ihr Selbst entwickelnden Individuen dies immer schon auf eine Weise tun, die zum gedeihlichen Erblühen der Humanitas führt. Daß die Vervollkommnung des Individuums nicht die eines ,sich perfektionierenden Verbrechers' ist, sondern immer schon in Einklang mit der Vervollkommnung der Menschheit steht, dieses Problem des ,außermoralischen Standpunktes' des Individuums löst auch Humboldt apriorisch: sei es durch Rückgriff auf die Leibnizsche Vorstellung einer ,prästabilisierten Harmonie der Monaden'13 oder Anleihen bei der platonischen Ideenlehre, sei es durch eine ästhetisierende Darstellung oder durch eine Sprachphilosophie, in der Sprache und Sprechen immer schon aufeinander verweisen.14 Auch bei Humboldt ist Bildung immer schon das, was sie sein soll: eine Einheit von individueller und menschheitlicher Vervollkommnung, die immer schon in Differenz zu gesellschaftlichen und normativen Vermittlungsprozessen gesehen werden muß. Und auch hier ist das sich selbst bestimmende Humanum von der Ausgangsposition her ,außermoralisch' und dennoch dem anderen ungefährlich, ja es harmonisch ergänzend. Mit dieser Zuspitzung ist zugleich eine Markierung erreicht, die die nachfolgenden Überlegungen über .Genealogie und Macht' im Anschluß an Nietzsche nicht nur anschlußfähig erscheinen, sondern auch in ihrer provokativen Bedeutung einsichtig werden läßt.
Genealogie und Macht In der
vorgestellten Bildungskonzeption steht die Differenz von Ich und Welt als Ausgangspunkt für die Möglichkeit einer Identität mit sich selbst. Rousseau ging dabei davon aus, daß es gerade die (scheinbar nicht sozial vermittelte) Widerständigkeit der Welt sei, die die Ausbildung einer ,ursprünglichen Sprache' erlaube, in der sowohl die Welt wie auch das diese bezeichnende Ich eine Eindeutigkeit, eine Identität mit sich finden. Mit der Betonung der Individualität durch Humboldt kompliziert sich die Sache. Aber auch hier ist die Befangenheit im Außen der Welt die Bedingung dafür, daß das Individuum aus der ,Entfremdung' zu sich zurückkehrt. Aus der Differenz von Selbst und Welt wird in beiden Konzeptionen die Einheit des Ich mit sich selbst, die vom Anderen gestützt, aber nicht in Frage gestellt wird. Das Andere wird nicht Teil des Ich, zerteilt dieses nicht: Es wird zum bloßen Gegenüber des Ich,
12 Wilhelm v. Humboldt, „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen", 67. 13 Vgl. Clemens Menze, Wilhelm von Humboldts Lehre und Bild vom Menschen. 14 Vgl. Alfred Schäfer, Das Bildungsproblem nach der humanistischen Illusion, Weinheim 1996.
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nicht zu dessen konsumtivem Bestandteil. Es wird zur angeeigneten Repräsentanz, die die Souveränität oder den Selbstausdruck des Repräsentierenden hervorbringt. Um den Einsatzpunkt Nietzsches in das skizzierte Verhältnis von Freiheit und Vervollkommnung zu begreifen, ist es bedeutsam, sich seine Kritik des Repräsentationsgedankens zu vergegenwärtigen. Diese trifft nicht nur die Möglichkeit einer an der Welt prüfbaren Repräsentation, sondern damit auch den Repräsentierenden selbst. Die Kritik an der Möglichkeit der Repräsentation einer von ihr unterschiedenen Wirklichkeit bedeutet nicht nur, den subjektiven Charakter des Objektiven zu problematisieren, sondern stellt auch die ,objektive' Legitimationsgrundlage dieses Subjektiven in Frage: Subjektivität und Objektivität werden zu Münzen in einem letztlich rhetorischen Spiel. Daß es für dieses Spiel keinen souveränen Dirigenten geben kann auch nicht den Autor Nietzsche, der das Spiel nicht konstituiert, sondern letztlich selbst immer schon spielt -, versteht sich dann ebenso wie die Schwierigkeiten, die sich von hier aus mit Konzepten wie Identität und ihrer Vervollkommnung ergeben müssen. Wenn man wie Nietzsche im unveröffentlichten Manuskript „Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne" von 1873 davon ausgeht, daß Wahrheiten „Illusionen" sind, „von denen man vergessen hat, daß sie welche sind",15 daß es sich bei der Erkenntnis von Welt um metaphorische, metonymische und anthropomorphe Projektionen handelt, dann könnte man versucht sein, jenen Vorwurf des performativen Selbstwiderspruchs zu erheben, den die kommunikative Moral gegen die Skeptiker in Anschlag zu bringen pflegt. So als ob die Skepsis gegenüber Wahrheitsansprüchen für die eigene Behauptung den Wahrheitsanspruch, den sie bezweifelt, immer schon selbst erhebt. Aus dieser Sicht scheint es dann auch um die Lernfähigkeit Nietzsches nicht besonders gut bestellt zu sein, spricht er doch im Nachlaß der achtziger Jahre davon, daß Idee, Gesetz, Form, Zweck und Gattung,16 aber auch Substanz, Prädikat, Subjekt, Objekt und Aktion17 Merkposten einer metaphysischen Wirklichkeitsauffassung sind. Von wo aus so wird man daher fragen müssen ist eine solche Kritik, die von der unaufhebbaren Differenz von Sprache und Wirklichkeit ausgeht und daher jede Überprüfbarkeit von Begriffen wie auch ihrer Kritiken an der Wirklichkeit ausschließt,18 möglich? Wenn die Wirklichkeit nur eine ,für uns' ist und wenn man nicht mehr auf die subjektive Objektivität eines verstandesmäßigen Sicherungsmediums im Sinne Kants vertrauen kann, dann gilt nicht nur, daß Wahrheits- und Irrtumsbehauptungen nichts sind, was sich an einer von ihnen unabhängigen Wirklichkeit überprüfen ließe; es gilt vor allem auch, daß das Subjekt der Erkenntnis nicht mehr als ein Ort vorgestellt werden kann, in dem die Wirklichkeitsauffassungen derart zur Einheit gebracht werden könnten, daß intersubjektiv über ihre Wahrheit entschieden werden könnte. Ich möchte die sich damit ergebende Problematik (und so auch die daraus folgende bildungstheoretisch relevante Antwort auf die eben aufgeworfene Fragestellung) in drei Schritten knapp skizzieren: der Kritik des Repräsentationsgedankens, seiner nur scheinbar möglichen Verankerung in vorausliegenden Wertungen, zu deren Kritik die Genealogie dient, und schließlich mit Bezug auf die sich daraus ergebende Konsequenz für das, was Subjektivität zu nennen wäre. Was diese Subjektivität betrifft, so bilden bereits die ersten beiden Schritte Momente dessen, was man ihre Dezentrierung nennen könnte. -
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15 Friedrich Nietzsche, 16 Vgl. NL, III, 525. 17 Vgl. ebd., 538. 18 Vgl. WL, III, 312.
Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn (1873), in: Band III, 314.
Genealogie
Macht -Bildung
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A. Wenn die Welt (aufgrund der Differenz von Sprache und Wirklichkeit) eine systematisch notwendige Fälschung bildet, so kann eine solche Perspektive für sich keinen anderen Wahrheitsanspruch erheben. Kritisch ist sie insofern, als sie auch für sich selbst an der Unmöglichkeit der Repräsentation der Welt in einem Sinne festhält, der es auch für sie undenkbar macht, diese Welt adäquat wiederzugeben. Auch sie ist mithin eine Fälschung. Der objektive Sinn der Welt ist für sie ebensowenig zugänglich wie für die von ihr kritisierte Perspektive. Die Welt als solche ist sinn- und zwecklos. Aus einer solchen Sicht ergeben sich (zumindest) zwei mögliche Konsequenzen. Zum ersten erscheint die Auseinandersetzung um die Erfassung von Wirklichkeit eher der Logik einer rhetorischen Überzeugungsarbeit zu gehorchen einer Logik der Durchsetzung und Stabilisierung von Sichtweisen, deren Notwendigkeit man quasi-anthropologisch einsichtig machen könnte. Demgegenüber könnte man dann die Vorgehensweise Nietzsches so verstehen, daß mit ihr die Gewißheit solcher Stabilisierung in Frage gestellt werden soll. Ohne Anspruch darauf, eine neue Sichtweise als verbindlich vorzuschlagen, könnte man ihren Sinn in der Wiedereröffnung der rhetorischen Auseinandersetzung um Sinnbestimmungen sehen. Die Widerlegung von Wahrheitsansprüchen würde dann selbst keinen Wahrheitsanspruch erheben, sondern ihren Sinn in der Vorführung von Alternativen, in der Widerlegung von Selbstimmunisierungen finden in der Neueröffnung des Spiels. Dies wiederum und das ist die zweite angedeutete Konsequenz hat Auswirkungen auf das erkennende Subjekt. In einer ersten Lesart könnte man davon ausgehen, daß mit einer solchen Position die Souveränität des Subjekts gegenüber seinen Weltentwürfen wiederhergestellt werde. Gemäß der Entfremdungstheorie hätten sich seine Entwürfe dadurch, daß ihr Konstruktionscharakter vergessen wurde, ihm gegenüber verselbständigt. Diese Entfremdung wird durch die Kritik wieder aufgehoben: Das Erkenntaissubjekt kann mit seinen Konstruktionen wieder anfangen. Gegen eine solche Lesart, die gleichsam von einer absoluten Freiheit und Souveränität des Subjekts gegenüber der Welt ausgeht, aber spricht, daß für Nietzsche auch das Subjekt eine Kategorie der Erkenntnis und mithin ebenfalls eine „Fiktion" ist.19 Auch das Ich ist keine Instanz, die einer amorphen, für uns nicht als geordnet und sinnhaft zugänglichen Welt ihre Einheit geben könnte: „Wir haben ,Einheiten' nötig, um rechnen zu können: deshalb ist nicht anzunehmen, daß es solche Einheiten gibt. Wir haben den Begriff der Einheit entlehnt von unserm ,Ich'-Begriff- unserm ältesten Glaubensartikel. Wenn wir uns nicht für Einheiten hielten, hätten wir nie den Begriff ,Ding' gebildet".20 Eine solche Aussage hat eine doppelte Implikation: Zum einen deutet sich mit ihr die These einer anthropomorphen Projektion der Einheitsfiktion des Selbst in die Welt an. Deren Zentrum sieht Nietzsche in der Unterscheidung von Täter und Tun.21 Diese Unterscheidung verweist für ihn nicht nur auf diejenige von Substanz und Akzidenz, sondern gleichsam qua Analogie auf die von Ursache und Wirkung: Der Glaube an die Kausalität ergibt sich durch „unsere Unfähigkeit, ein Geschehen anders interpretieren zu können als ein Geschehen aus Absichten".22 Daß jede Wirkung als Resultat einer Tätigkeit wahrgenommen wird, liegt für Nietzsche schon im grammatikalischen Glauben an die Unterscheidung von Subjekt und -
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19 20 21 22
Vgl. NL, III, 540. NL, III, 777. Vgl. ebd., 767. Ebd., 501.
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Prädikat begründet. Auch ideologische Erklärungen stellen nur nachgereichte Interpretationen dar,23 die ein Geschehen auf einen intendierten Ordnungszusammenhang beziehen. Zum zweiten bildet die Kritik am ,Ich' als ältestem Glaubensartikel den Verweis darauf, daß auch die Vorstellung eines mit sich identischen und möglicherweise über Rationalität zentrierten Subjekts eine (falschende) Sinnstiftung ist. Nietzsche wendet sich nachdrücklich gegen jeden Versuch, das Bewußtsein zur Einheit des menschlichen Selbstverhältnisses zu stilisieren: Für seine Bildung sei immer schon das Bedürfnis maßgebend gewesen.24 Der Leib als jenes Ensemble unendlicher Bedürfnisse und Affekte gilt ihm als jene ,große Vernunft', von der er im Zarathustra die „kleine Vernunft" des Bewußtseins unterscheidet.25 Das eigentliche Subjekt der Auslegung von Welt bilden die nur dezentral angebbaren Affekte.26 Es ist davon auszugehen, „daß ein Gedanke kommt, wenn ,er' will, und nicht wenn ,ich' will; so daß es eine Fälschung des Tatbestandes ist zu sagen: das Subjekt ,ich' ist die Bedingung des Prädikats ,denke'. Es denkt".27 Die Dezentrierung des Subjekts am Leitfaden des Leibes stellt die Konzeption einer Identität mit sich selbst auf den Kopf: „Die Sphäre des Subjekts: beständig wachsend und sich verändernd, der Mittelpunkt des Systems sich beständig ver-
schiebend".28
Wenn man mit Nietzsche davon ausgeht, daß Bedürfnisse und Affekte auf Verständigung und Berechnung der Welt zielen,29 dann ergibt sich von hier aus eine Sicht auf das Konzept des ,Willens zur Macht'. Obwohl es bei Nietzsche auch naturalisierende Aussagen gibt, so wird man gerade durch den Rückbezug auf die Pluralität der Affekte und Bedürfnisse in einem dezentrierten Subjektverständnis auch dieses Konzept an eben diese Pluralität binden müssen.30 Dann aber ist es wenig sinnvoll, den .Willen zur Macht' gleichsam als vorausliegende Grundlage aller Affekte und Bedürfhisse metaphysisch zu hypostasieren ihn also als etwas anzunehmen, was entgegen der bisherigen Aussagen das Individuum nun doch zur Einheit bringen könnte: Vielmehr erscheint es sinnvoller, den Willen zur Macht' als einen Begleiteffekt jeder Sinnkonstruktion zu verstehen, die immer schon auf Illusionen beruht und dennoch Geltung beansprucht. Mit Deleuze könnte man sagen, daß der Wille zur Macht das différentielle (und gerade nicht Einheit-stiftende) Moment der Kräfte ist, die zu Sinnstiftungen -
,
führen.31
B. Man könnte
nun
davon
ausgehen,
daß auch die Affekte keine bloßen
Naturgewalten
sind, sondern daß man sie immer schon verstehen muß als gebunden an etwas für jeweils wert-
voll Gehaltenes. Dieses Wertvolle wäre dann das die Sinnstiftungen des Individuums Legitimierende, indem es erlaubt, die Affekte zu rationalisieren. Dies würde allerdings voraussetzen, daß die Wertungen als von der ,großen Vernunft' des Leibes unabhängig gegeben unterstellt werden, daß es so etwas wie einen von diesen unabhängigen Kosmos des Guten und Bösen geben würde. Wenn aber die Welt an sich sinnlos ist, so ist sie auch wertlos: Auch moralische
Vgl. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral (1887), in: Band II, 818. Vgl. NL, III, 729. Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra (1883), in: Band II, 300. Vgl. NL, III, 480. 27 Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (1886), in: Band II, 580. 23 24 25 26
28 NL, III, 537. 29 Vgl. NL, III, 729. 30 Vgl. Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die sophie, Berlin/New York 1971, 23 ff. 31 Vgl. Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Frankfurt a.M. 1985, 11.
Gegensätze seiner Philo-
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Genealogie
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Wertungen stellen menschliche Sinnstiftungen dar und unterliegen somit der Logik des Leibes: „Der Mensch, ein vielfaches, verlogenes, künstliches und undurchdringliches Tier [...] hat das gute Gewissen erfunden, um seine Seele einmal als einfach zu genießen; und die ganze Moral
ist eine beherzte lange Fälschung".32 Auch hier wird man wiederum berücksichtigen müssen, daß der FälschungsVorwurf keinen gleichsam objektiven Geltungsanspruch erhebt, sondern dazu dient, für selbstverständlich Gehaltenes vor dem Hintergrund der Sinnlosigkeit der Welt in Frage zu stellen. Genau dazu dient auch das genealogische Verfahren. Der Genealogie geht es nicht um die Konstruktion der Wahrheit. Sie enthält sich jeden ontologischen Anspruchs, vielmehr entlarvt sie Wahrheitsbehauptungen, die selbst Ergebnis einer Wertung sind, und andere Wertungen als Projektionen. Die Genealogie bildet eine Kampftaktik und nicht einen Königsweg, auf dem das kritisierende Subjekt zu sich selbst kommt. So geht es etwa in der Strategie der Verkehrung scheinbar lauterer Motive in egoistische, strategische oder asoziale Strebungen nicht darum, die Wahrheit in Form einer asozialen Natur des Menschen zu konstruieren: Ziel ist eher, jene Täuschung zu entlarven, die darin besteht, daß etwas, das man hoch schätzt, auch hoch einzuschätzende Gründe haben müsse. Und auch eine zweite Form der Genealogie, die moralische Wertungen auf ihre Funktion für die Reproduktion des Lebens hin befragt, dient nicht einer präfaschistischen Lobpreisung der Funktionalisierung von Moral für eine metaphysische Lebenskonzeption, sondern der Relativierung eben jener moralischen Wertungen. Und auch die dritte Strategie, jene der historischen Rekonstruktion, wie sie in der Genealogie der Moral durchgeführt wird, zielt nicht auf die nun endliche wahre Geschichte, sondern auf die Verkehrung einer für selbstverständlich gehaltenen Lesart: auf die Umwertung von Werten. Sie verfolgt einen rhetorischen Zweck, der als solcher alles ist, was noch bleibt. C. Die Konsequenzen, die sich aus diesen Darlegungen für das, was Subjektivität dann noch meinen kann, ergeben, sind bei Nietzsche nicht eindeutig. Nur eines scheint deutlich: Ein Rückweg in die Aufklärung, der darin bestehen könnte, daß das Subjekt sich seiner Lage nun bewußt werden könne und auf ihrer Basis souverän handeln könne, scheidet aus: „Wir wissen, daß die Zerstörung einer Illusion noch keine Wahrheit ergibt, sondern nur ein Stück Unsicherheit mehr".33 Wohl aber ergibt sich die Möglichkeit einer Perspektive, die jenseits von Gut und Böse' liegt und sich in jener Vorstellung von Vornehmheit äußert, die darin besteht, konsequent und ohne jede Rücksicht auf vorgegebene und von anderen anerkannte Wertungen, seine eigenen Optionen zu verfolgen, da diese doch auf keinen Fall unrealistischer' und ,unbegründeter' sind als die der anderen. Nietzsches Lob eines solchen vornehmen Menschen krankt daran, daß er hierzu jenes Schema der Lebenstauglichkeit als Begründung annimmt, das der Genealogie nur als Widerlegungsinstrument diente, dort aber keinen Wahrheitsanspruch erhob. Die Tauglichkeit des Vornehmen für die Höherentwicklung der Gattung bildet selbst nur eine metaphysische Konzeption. Ihr zur Seite steht dann auch ein anderes Modell, das sich stärker an die Dezentrierung des Subjekts anlehnt. Der Betonung der Stärke tritt die der Weisheit zur Seite, der Hervorhebung der integrierten Stärke die der Bejahung der Differenz, die man selbst ist. „Der weiseste Mensch wäre der reichste an Widersprüchen".34 Ein solcher Mensch wäre bescheiden, weiß er doch nicht nur um die endlose Differenz der Perspektiven, sondern auch um die Unmöglichkeit einer subjektzentrierten Verfügbarkeit über die eigenen Sinnentwürfe.
32 33 34
JGB, II, 752. NL, III, 451. NL, III, 441.
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Beide Konzeptionen erscheinen kaum vereinbar.35 Andererseits aber sind auch diese beiden Ansätze nur Sinnstiftungen: Auch sie verweisen nur den dezentrierten Menschen wiederum auf sich selbst und damit auf seine Grundlosigkeit zurück. Der souveräne Umgang mit den Illusionen zerfallt, sobald man die Dezentriertheit des Subjekts ernstaimmt. Es bleibt eine tragische Situation, für die das Leiden an der Unverfügbarkeit der eigenen verabsolutierten Autonomie steht. Es bleibt ein Lob der Oberflächlichkeit aus Tiefe, das Nietzsche den Griechen spendet,36 oder der Bezug auf jenes Dionysische, verstanden als „verzücktes Jasagen zum Gesamtcharakter des Lebens, als dem in allem Wechsel Gleichen, Gleich-Mächtigen, Gleich-Seligen; die große pantheistische Mitfreudigkeit und Mitleidigkeit, welche auch die furchtbarsten und fragwürdigsten Eigenschaften des Lebens gutheißt und heiligt; der ewige Wille zur Zeugung, zur Fruchtbarkeit, zur Wiederkehr; das Einheitsgefühl der Notwendigkeit des Schaffens und Vernichtens".37 Die Akzeptanz der ewigen Wiederkehr bezeichnet keine deterministische Struktur der Wiederholung gleicher Ereignisse, sondern die Akzeptanz der Unaufhebbarkeit nicht-determinierter Singularitäten.38 Schwer zu ertragen ist dieser Gedanke, weil dem nun nur auf sich zurückverwiesenen Menschen jedes Kriterium einer Emanzipation im Sinne des Subjektmodells der Aufklärung entzogen wird. Es kann nun allenfalls noch darum gehen, das Chaos, das man ist, in eine (ästhetische oder kohärente) Form zu bringen39 eine Form, deren Autor um ihre Oberflächlichkeit, ihren Schein von Identität, weiß. Auch die zur Kohärenz gebrachte Identität bildet nur eine Maske, hinter der nicht die wahre Identität steht, die man aus strategischen Gründen zu verbergen trachtet, sondern allenfalls andere Masken.40 Auch die kohärente Identität bildet eine Fälschung und darum kann der weise
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35 Vgl. Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche, 123. 36 Vgl. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (1882), in: Band II, 15. 37 NL, III, 791. 38 Vgl. Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, 52. 39 Vgl. Hans Freier, ,Die Macht und ihre Kultur. Nietzsches Kritik der europäischen Décadence", in: Philipp Rippel (Hg), Der Sturz der Idole. Nietzsches Umwertung von Kultur und Subjekt, Tübingen 1985, 64. 40 An dieser Stelle erscheint es vielleicht sinnvoll, an die Problematik der Intersubjektivität anzuknüpfen, die oben in Fußnote 3 angesprochen wurde. Weiterführend könnte hier der Verweis aufdie .absurde Soziologie' von Erving Goffman (vgl. Erving Goffman, Wir alle spielen Theater, München 1969, und Erving Goffman, Rahmen-Analyse, Frankfurt a.M. 1977) sein. Goffman entwirft, ausgehend davon, daß ich mich selber nur aus der Perspektive des anderen zu identifizieren vermag, mir diese aber immer nur als Eindruck gegeben ist, der mit dem Ausdruck des anderen nicht identisch ist, eine Identitätstheorie, die keine mehr ist. Ob mein Eindruck der an mich gerichteten Identitätserwartungen stimmt, erfahre ich erst aus der Reaktion des anderen auf meine im Lichte meiner Vermutungen getätigte Aktion. Aber auch diese Bestätigung im Nachhinein, die nur bestätigt, was ich gewesen bin, nicht aber, was ich bin, ist nur eine in meinen Augen: Identität ist damit nicht nur das, was mir zeitlich immer schon entgleitet, sondern auch das, dessen ich nachträglich niemals sicher sein kann. Dem entsprechen nicht nur soziale Umgangsformen, die auf der Aufhebung der Trennung von Sein und Schein beruhen, sondern auch ein sozialer Umgang, der mit unterschiedlichen Sicherheiten in der Identitätszuschreibung arbeitet also mit Zuschreibungen von wahrer und vorgespiegelter Identität, wobei Goffman aber betont, daß auch die ,wahre Identität' nichts anderes ist als eine Zuschreibung, die sich typisierender Merkmale bedient, deren .Wahrheitsanspruch' aber den gleichen prekären Bedingungen unterliegt, wie sie für jede Identität gelten: Zwischen Maske und Identität kann auch bei Goffman nicht unterschieden werden. Es ist schon eigentümlich, daß diese Konzeption Goffmans von der deutschen Rezeption zur Grundlage von Sozialisationstheorien (Habermas, Krappmann, Oevermann) gemacht wurde, die davon ausgingen, daß das Individuum im Laufe seiner Vergesellschaftung zum souveränen Subjekt gerade dadurch werde, daß es zwischen sozialen Erwartungen und persönlichen Wünschen, zwischen sozialer und personaler Identität, aufder Basis eines einsichtigen Urteils eine,gesunde Balance' herstellen könne. Ich habe diese eigentümliche Rezeptionsgeschichte an anderer Stelle nachzuzeichnen versucht (vgl. Alfred Schäfer, Vermittlung und Alterität. Zur Problematik von Sozialisationstheorien, erscheint Opladen 2000). -
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Mensch wissen: „Wir sind von vorneherein unlogische und daher ungerechte Wesen und können dies erkennen".41 Statt der rationalen Souveränität bleibt auch hier nur die rational nicht integrierbare dezentrierte Agonalität des Individuums.
Zurück zur Bildungstheorie? Vor dem
Hintergrund der einleitenden Bemerkungen zur Bildungstheorie könnte
man
die
Überlegungen Nietzsches einerseits als eine Radikalisierung der Stellung des Individuums
gegenüber der Welt verstehen. Diente dort die Identität des Individuums mit sich selbst dazu, ihm einen Standort jenseits der gesellschaftlichen Vermittlung zu sichern, so bildet der Standort jenseits von Gut und Böse' so etwas wie einen Standort diesseits der Welt, der dem Individuum jede Freiheit gegenüber dieser Welt gibt. Andererseits aber besteht gleichsam der Preis dafür darin, daß dem Individuum jede Grundlage für die Bestimmung seines Selbst entzogen wird. Man könnte meinen, daß dies auch schon mit der Konzeption einer formalen Identität gegeben war; jedoch hatte die Bildungstheorie sich bemüht, dies als Gefahr auszuschließen, ohne das Konzept der formalen Identität zu konterkarieren. Dabei handelte sie sich allerdings bedeutsame Probleme ein. An Rousseau wurde zu zeigen versucht, daß die formale Identität metaphysisch durch das Konzept eines apriorischen Gewissens in ihren möglichen ,negativen' Auswirkungen korrigiert wurde. Die Identität mit sich selbst bildet für ihn die Bedingung dafür, daß die Menschen in der Lage sind, die Stimme ihres Gewissens zu vernehmen. Auch Humboldt stützt die Möglichkeit des Selbstausdrucks über die Rückkehr aus der Befangenheit an das Andere, die Möglichkeit der Selbst-Einheit des Individuums mit metaphysischen Annahmen, um eine (moralisch) akzeptable Einheit von Identitätsbildung und Vervollkommnung annehmen zu können. Nun wird man die bildungstheoretische Perspektive (die selbst noch einmal im Plural zu verhandeln wäre) wohl als eine différentielle Perspektive verstehen müssen, die selbst wiederum aus einem Willen (zur Macht) entspringt, die Jenseitigkeit des Menschen gegenüber sozialen Überformungen so etwa gegenüber der im 18. Jahrhundert definierten Bedeutung von Erziehung anzugeben. Vielleicht könnte man sie allerdings nicht bei Rousseau als den genealogischen Versuch einer Umwertung der Werte der Erziehung verstehen. Inkonsequent erscheint sie aus der Perspektive Nietzsches, weil sie als Umwertung noch den Werten der Erziehung verpflichtet bleibt, weil sie mit der Betonung der Selbst-Bildung nur die Paradoxien der Erziehung, zur Freiheit bei dem Zwange (Kant) erziehen zu müssen, aufhebt. -
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Sie bleibt aber an den Gedanken der individuell anverwandelten Wirklichkeit und damit an die Möglichkeit eines über seine Repräsentationen verfügenden Subjekts gebunden. Eine solche Perspektive vermag vielleicht ganz im Sinne der historisch-genetischen Variante der Genealogie, die Foucault42 aufgenommen hat, ein historisches Apriori zu bestimmen; sie verweist auf die Möglichkeit, diskursive Formationen auf kontingente Herkünfte zurückzuführen, die als solche Geltungskriterien und Subjektivierungsformen festlegen. Solche Subjektivierungsformen vermögen zu bestimmen, unter welchen Umständen und mit welcher Bedeutung die Menschen das Wort ,ich' verwenden. Eine solche genealogische Rekonstruktion folgt den Intentionen Nietzsches dann, wenn sie die Kontingenz und den Entwurfs41 42
Vgl. Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches, in: Band I, 471 (Hervorhebung im Original). Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfürt a.M. 1976.
Charakter des als geworden Vorgestellten aufzeigt, nicht aber ihre Perspektive als Wahrheit zu verabsolutieren trachtet. Sie hat aber gleichzeitig einen Nebeneffekt. Der Verweis auf diskursive Formationen, in denen die Menschen die Verwendung des Prädikators ,ich' lernen, ist zugleich als Hinweis auf die Nichtbeliebigkeit des Neuanfangs zu verstehen. Die Umwertung der Werte lebt noch von diesen. Die Befreiung von Illusionen führt vielleicht nicht wie die letzten Anmernur in die Unsicherheit, sondern zugleich in neue Illusionen. Das ist Neues: Es zu nichts bedeutet Nietzsche für diesen nur, daß der Standpunkt zeigten kungen sondern und selbst kein absoluter nur jene ,rhetorische Gut Böse' von ist, Standpunkt jenseits Bedeutung' aufweist, die jede teleologische Schließung unmöglich machen will. Diese rhetorische Bedeutung' verweist auf den Willen, Verstrickungen aufzulösen und damit auf jene radikalisierte Autonomie des vornehmen Subjekts; sie verweist aber zugleich auf jene Weisheit, die in der Einsicht besteht, daß hinter dem rhetorisch eröffneten Spielraum der Differenzen nichts ist als jene den unterschiedlichen Perspektiven inhärente Machtoption. Sie verweist darauf, daß es weder (wie Gamm sagt) ein transzendentales Signifikat als ontologische Sicherung noch einen transzendentalen Signifikanten in Form eines mit sich identischen und Bedeutung-stiftenden Subjekts gibt.43 Wenn auch die (neuhumanistische) Bildungstheorie mit ihrem ateleologischen Konzept einer Identität mit sich selbst Korrespondenzen zu jenem Standpunkt jenseits von Gut und Böse' zu haben scheint, so scheint doch noch das Signifikat, die Welt, eine transzendentale Funktion für die Bildung eines dann individuellen transzendentalen Signifikanten übernehmen zu sollen. Inwieweit die bildungstheoretische Reflexion eine Perspektive zu übernehmen vermag, die nicht nur der Krise der Repräsentation Rechnung trägt, sondern auch der damit verbundenen Dezentrierung des Subjekts, der Zerstreuung jener Instanz, die doch mit sich selbst identisch sein sollte, das bildet eine offene Fragestellung. Ob die Kohärenz einer ästhetisch inszenierten individuellen Existenz ohne den pädagogisch wie bildungstheoretisch sich unmittelbar aufdrängenden Gedanken an die notwendige Berücksichtigung und Formung der unter dieser Oberfläche liegenden ,wirklichen Individualität' akzeptabel ist, ob das Verhältnis von Individuum und Welt genealogisch und nicht begründungstheoretisch gedacht werden kann diese im Anschluß an Nietzsche angebbaren Irritationspotentiale sind von einer immer noch dem Neuhumanismus verpflichteten Bildungstheorie bisher nicht aufgenommen worden. Ansätze wie die Philosophie des Nichtidentischen und der Verstrickung des Kritikers in das von ihm Kritisierte in der Theorie Adornos oder die Theorie der Alterität von Welt und Anderem gegenüber der subjektiven Intentionalität in der phänomenologischen und poststrukturalistischen Traditionslinie (wofür die Namen Levinas und Derrida stehen mögen) haben jedenfalls bisher so gut wie keine Beachtung gefunden. -
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43
Vgl. Gerhard Gamm, „Die Unausdeutbarkeit des Selbst. Über die normative Kraft des Unbestimmten in der Moralphilosophie der Gegenwart", in: Wolfgang Luutz (Hg), Das .Andere der Kommunikation. Theorien der Kommunikation, Leipzig 1997, 125-139, hier 128. '
Ullrich Michael Haase
Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten in bedürftiger Zeit
Der vorliegende Essay beschäftigt sich mit der Schwierigkeit, sich in der heutigen Zeit auf den Gedanken der Bildung zurückzubesinnen, welcher zugunsten einer immer mehr auf die Existenzsicherung beschränkten Schulausbildung in Vergessenheit zu geraten droht. Das Thema der Bildung scheint kein erfreuliches zu sein und wird häufig mißbraucht, um sich über den Verfall der Gegenwart zu beklagen. Um so auswegloser erscheint die Lage, wenn man feststellt, daß schon Schiller und Nietzsche sich über diese Situation beklagen, in Worten, die oft eine überraschende Aktualität aufweisen. Hat sich also in bezug auf das Verständnis des Bildungsgedankens während der letzten 200 Jahre doch nichts verändert? Die folgenden Gedanken werden versuchen klarzumachen, daß wir uns immer mehr von der Idee der Bildung entfernt haben, so weit, daß wir heute kaum noch verstehen, was es denn heißen soll, daß wir keine Bildungsanstalten haben. Während Schiller und Nietzsche ihrer Zeit noch vermitteln konnten, welchen Wert man der Bildung einräumen sollte, hat sie in unserer Zeit ihre Stimme verloren. Natürlich hätte dieser Essay gerne auch noch etwas Neues geboten und vielleicht einige hoffnungsvolle Töne angestimmt. Doch je mehr ihr Autor sich in sein Thema vertiefte, je
mehr er sich, um den ewigen Klagen über die Unbildung unseres Zeitalters zu entkommen, auf andere Autoren warf, desto mehr drängte sich ihm die Einsicht auf, daß sich hier, im Bereich der Bildung, weder etwas Neues, noch viel Hoffhungsfrohes sagen läßt. Unfroh und sein Scheitern verstecken wollend, hätte er dem Leser auch so gerne einen alten Philosophen vorgeführt, der ihn mit seiner Erfahrung von der Bildung erbaute und der uns vielleicht noch einmal hätte sagen können:
„Wie lange [glauben Sie] wohl, daß das auf [Ihnen] so schwer lastende Bildungsgebahren
in der Schule unsrer Gegenwart noch dauern werde? Ich will [Ihnen] meinen Glauben darüber nicht vorenthalten: seine Zeit ist vorüber, seine Tage sind gezählt." (KSA, BA, 1, 673)
Wenn dieser Essay jedoch in der Lage gewesen wäre, hier, vor Ihnen, einen ähnlich weisen und vortrefflichen Philosophen auferstehen zu lassen, wie er uns in Nietzsches Text Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten begegnet, so hätte uns dieser Philosoph doch hier etwas ganz Neues zu sagen, damit er dann in der Lage wäre, die Tatsache einer Welt widerzuspiegeln, die sich besonders in bezug auf den Gedanken des Sinnes und der Notwendigkeit der Erziehung grundlegend gewandelt hat. Wollte man also diesen Philosophen wieder auferstehen lassen, müßte er mit einer so veränderten Stimme sprechen, daß es fragwürdig würde, ob er denn überhaupt noch Nietzsches Philosoph wäre und ob nicht in dieser Wandlung uns deutlich werden müßte, daß auch Nietzsche uns über die Bildung nichts Neues mehr
Ullrich Michael Haase
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sagen hat, weil der Gedanke der Bildung sich laut Nietzsche auch gerade gegen die Ideologie des ewig Neuen richtet, insofern sich in dieser die Zeit verliert. Und doch, sobald wir von einer Wandlung reden, reden wir auch über den lebendigen Grund der Gegenwart, welche diese in ihrer Geschichte vorfindet. Insofern wir hiermit zu einem tatsächlichen Gehalt des Bildungsgedankens Nietzsches zurückkommen, finden wir hier zumindest einen negativen Gehalt dieses Textes, indem er unserer Zeit dazu verhilft, sich in ihrer geschichtlichen Befremdung daran zu erkennen, daß Nietzsches Besinnung über die Bildung ihr von allen seinen Begriffen heute vielleicht am fremdartigsten ist. Und er ist um so fremdartiger, gerade weil wir heute jeglichen Text zuerst einmal auf seine „aktuelle Brisanz", auf seinen Wert für unsere Gegenwart befragen, bevor wir uns überhaupt von ihm ansprechen lassen. Es spricht hieraus das Bedürfnis nach Autonomie, daß wir uns nur von uns selbst anreden lassen wollen und uns in unserer Gegenwart zu finden glauben. Nicht nur Nietzsches Diskurs über die Bildung wird uns so aus zu großer Distanz ansprechen, der Gedanke der Bildung selbst, in seiner notwendigen Anknüpfung an das Erbe Europas, ist uns so fremd, daß die letzten humanistischen Gymnasien Deutschlands diesen Namen nur noch aus Gesinnungsgründen tragen. Diese Fremdartigkeit wirft uns auf den unsicheren Boden zurück, von dem aus wir beginnen, im Düsteren unserer jüngsten Geschichte relativ unbedarft
zu
herumzustochern. Und tatsächlich stochern wir hier herum wie in einem inzwischen erkalteten Essen, an welchem wir schon vor der näheren Beschäftigung das Interesse verloren haben. Eigentlich sollten also wir und unsere Welt jene Zukunft der Bildung darstellen, von der Nietzsche spricht, so daß wir nun versuchen könnten, mit seiner Bildungsvorhersage abzurechnen und zu sehen, ob wir denn nun in der zur Gegenwart gewordenen Zukunft endlich wahre Bildungsanstalten unser eigen nennen, ob wir also in einer besseren Nachwelt leben, welche, wie Nietzsche hofft, über das Lächeln der Unbildung des ausgehenden 19. Jahrhunderts errötete (vgl. KSA, BA, 1, 678). Wahrscheinlicher ist es jedoch, daß wir in der Betrachtung dieser Vorhersage in dasselbe Loch verfallen, welches Nietzsche nach Verfassen eben jener Vorträge folgendermaßen beschreibt: -
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„Nun werden sie die Vorträge gelesen haben und erschreckt worden sein, wie die Ge-
schichte plötzlich abbricht, nachdem so lange präludiert war und in lauter negativis und manchen Weitschweifigkeiten der Durst nach den wirklichen neuen Gedanken und Vorschlägen immer stärker sich eingestellt hatte. Man bekommt einen trockenen Hals bei dieser Lektüre und zuletzt nichts zu trinken." (Brief an Malwida v. Meysenbug, 20. Dez. 1872, KSB
4, 104)
Und doch, wie so häufig im philosophischen Diskurs, so sehen wir auch hier schnell ein, daß die Frage der Zukunft und jene der Bildungsanstalten in einem wesentlichen Verhältais zueinander stehen, daß also die Zukunft der Bildung niemals zur Gegenwart werden kann. Die Zukunft von Etwas ist gerade niemals einfach eine zukünftige Gegenwart, so wie auch die Zukunft des Menschen niemals in diesem gegenwärtigen Sinne bei ihm ankommt. In der meditado generis futuri zeigt sich zugleich, inwieweit wir von Nietzsches Denken über die Geschichte der Philosophie gelernt haben, die Zeit nicht zu vereinheitlichen und zu meinen, daß eine Zukunftsvorhersage es auf die korrekte Erfüllung einer zukünftigen Gegenwart abgesehen hat. Das läßt sich gerade anhand des Beispiels der Bildung besonders leicht zeigen, wenn es Nietzsche auch bekanntermaßen deutlicher an Hand des Übermenschen und des Gedanken der Ewigen Wiederkehr des Gleichen entwirft. Ein Problem stellt dieser Zusammenhang zuerst in seinem Umfang dar, auf den ich mich hier nicht einlassen kann. Trotzdem sollte es ein
Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten
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sein, die Wesensbindung von Bildung, Ewiger Wiederkehr des Gleichen, Überzur Macht und dem Gedanken von Zucht und Züchtung in Nietzsches Text zu Wille mensch, finden. Um über die Zukunft der Bildung zu sprechen, muß davon ausgegangen werden, daß es so etwas wie Bildung schon gibt. Wir sprechen also über die Zukunft von etwas, was schon bei uns ist. Vielmehr sprechen wir über etwas, das uns droht der Vergangenheit zu verfallen, so daß es dann von sich aus uns mit der Frage bedrängt, ob es denn noch eine Zukunft habe. Eine gesicherte Zukunft haben das heißt, die Frage nach der Zukunft noch gar nicht aufwerfen bedeutete, einen festen Platz in der Gegenwart einnehmen. Die Frage nach der Zukunft von Etwas ist daher niemals eine gleichgültige Frage, welche etwa an ein unparteiisches oder „objektives" Wissen appellierte. Daß die Frage auftritt, verweist uns schon auf die Notwendigkeit, mit welcher dieses Etwas sich wandeln muß, wenn es denn noch einen Platz in der Gegenwart beanspruchen will, so daß wir ihm eine Zukunft einräumen. Daß wir von dieser Frage überhaupt angesprochen werden, weist schon daraufhin, daß uns an dieser Zukunft gelegen ist. Von hier aus wird die Frage der Interpretation, wie Nietzsche in diesen Vorträgen und in seinem Spätwerk immer wieder betont, eine des Handelns, die Frage der Zukunft notwendig eine der Entschlossenheit und damit der Gedanke der Vergangenheit der Bildung notwendig eine Frage nach ihrer Zukunft. Soweit wir überhaupt von Zukunft reden können, verstehen wir diese nicht als eine Zeit, welche sich aus der Vergangenheit hochrechnen läßt. Die Zukunft kommt vielmehr auf uns zu und überwältigt alles, was ihr entgegensteht, ohne ihr entgegenzukommen. Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten fragt also, auf welche Weise wir einen Ausgleich finden können zwischen unserer Vergangenheit und der Zukunft, und zwar so, daß wir den damit eröffneten Zeitspielraum zu bewohnen vermögen. Die Frage ist also, wie man der Zukunft entgegenkommen kann, dergestalt, daß man dabei eine Zukunft gewinnt, ohne sich selbst zu verlieren. Die im Alltag häufigste Form eines solchen Entgegenkommens besteht darin, daß der Mensch sich selbst als die Aktivität dieses Entgegenkommens versteht, um sich von der Zukunft zuspielen zu lassen, was immer diese zu bringen scheint. So eine Antwort kann man auch als Fortschrittswahn bezeichnen, welcher dieses Entgegenkommen als Anpassen und daher als Verlangen nach dem ganz Neuen, nicht so sehr aus Neugier oder Vorfreude, sondern aus Notwehr, versteht. Man behauptet, die Zukunft zu kennen, aber doch nur negativ, denn erschließen läßt sie sich nur mit dem Neuen. Von dieser Warte aus hat nur das eine Zukunft, was eigentlich in sich nichts ist, außer daß es sich ständig zu verneinen vermeint und sich daher als die Freiheit der Negation gegenüber der Zeit versteht. Diese Freiheit besteht darin, daß der Mensch sich mit der Fähigkeit der Negation in den Besitz der Zeit zu bringen glaubt, während die Geschichte der Moderne uns gezeigt hat, daß durch den so verstandenen Besitz das Problem der Zeit eher verdeckt wird und es so zu dem Paradox kommt, daß dieser Begriff der Freiheit einerlei ist mit dem der mechanischen Weltanschauung. Wir sehen hier den Versuch, sich die Zeit Untertan zu machen. Aber beherrschen kann man die Zeit nur, wenn man sie dem Menschen unterschlägt und ihn daher weit über seine Fähigkeiten hinaushebt. Was die Geschichte der Moderne uns gezeigt hat, ist also, um mit Martin Heidegger zu sprechen, daß „das Riesending Mensch je riesiger um so kleiner wird",1 wobei der Verlust der Bildung dazu führt, daß wir diesen Prozeß nur noch theoretisch verfolgen. Leichtes
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Martin
Heidegger, Beiträge zur Philosophie, Gesamtausgabe, Bd. 65, Frankfurt a.M. 1989, 278.
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Ein solcher Fortschrittsglaube bedarf, wie man mit Nietzsche sagen könnte, nicht nur einer ihm zugeneigten Zukunft da er ja selber gar keinen Einfluß auf sie zu nehmen gewillt ist (und das obwohl sich diese Politik oft als die im besonderen Sinne „schaffende" anzupreisen weiß, da sie ja immer wieder Neues will und neue Programme aufstellt) -, sondern auch des christlichen Gottes, insofern nur dieser etwas ständig Neues zu schaffen in der Lage ist. Ich will hier auf Nietzsches Kritik des Gedankens des Neuen hinaus, wie er ihn im Gedanken der Ewigen Wiederkehr des Gleichen formuliert. Hierbei ist das Problem des Neuen nicht, daß es schon einmal dagewesen ist; wie dann alles immer „wiederkehrt", sondern daß es eine Zeitlichkeit ohne Horizont voraussetzt, daß es sich also in sich widerspricht. Es sollte damit auch deutlich werden, daß Nietzsche dem Neuen nicht etwa das ewig Alte entgegenstellt, sondern das im wesentlichen Sinne Zeitliche. -
Dieser moderne Wunsch nach dem ständig Neuen ist vielleicht auch schon der Grund aus welchem hier kein alter und weiser Philosophen mehr auftreten kann, aus welchem Grunde heraus überhaupt die alten, weisen Philosophen seit einiger Zeit für ausgestorben gelten, da im Zeichen der Zeit der heutige Philosoph nicht nur jung sein muß wie es ja auch Nietzsche hier selbst noch war -, sondern seine Stimme nur dann zu erheben hat, wenn er auch etwas radikal Neues zu sagen hat oder sich zumindest mit den Kräften der Erneuerung zu verbinden weiß. Der Gedanke des Neuen ist jedoch der einer Abschaffung der Zeit. Wäre die zeitliche Welt „ewig neu werdend, so wäre sie damit gesetzt als etwas an sich wunderbares und Frei- und Selbstschöpferisch-Göttliches" (KSA, NF, 9, 553). Das radikal Neue gibt es ja gerade deshalb nur durch den lieben Gott, da es selbst durch eine zeitliche Flachheit ausgezeichnet ist, paradoxer Weise also nur durch die Voraussetzung einer ewigen Präsenz möglich ist, wie sie sich ausschließlich dem unendlichen Wesen eröffnet; dieses jedoch kennt nichts Neues, da es dazu der Zeit bedürfte, zu der es noch nicht war. Und doch, das wirklich Neue kann es nur da geben, wo es gar keine Zeit gibt, weshalb man, das wirklich Neue suchend, auch nach Ideen Ausschau hält, welche bekanntlich von der Zeit unabhängig sind. Aus diesem Grunde findet man das richtig Neue oft auch im Kramkasten der Geschichte, sobald man dieser die Zeit subtrahiert hat und sie daher in Ideen aufgelöst erscheint. Diese Ideen haben weder Zeit noch Raum, sie gehören nirgendwo hin und erscheinen auch immer unpassend, sobald man sie der Realität überstülpen will. Sie gehören halt zu dem -
„Zustand eines Volkes [...], das die Treue gegen seine Vorzeit verloren hat und in einem rastlosen kosmopolitischen Wählen und Suchen nach Neuem und immer Neuem gegeben ist" (KSA, HL, 1, 266),
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wie Nietzsche dies zur selben Zeit in der Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung ausdrückt. Aus demselben Grunde erscheinen diese „neuen Ideen" auch in der Politik immer unter dem Mantel des unbedingten Wissens. Wer immer weiß, wie unsere Bildungsanstalten privatisiert werden sollen, wie sie mehr und mehr auf Gelder der Wirtschaft zurückgreifen sollen, um die Staatskasse zu schonen; wer vorschlägt, wie die Universitäten rationalisiert werden können und wie man endlich der Faulheit von Lehrern und Professoren beikommen kann, der weiß dieses auch je mit jener absoluten Sicherheit, die jegliche Gegenstimme sofort zu verurteilen geneigt ist nicht etwa aus persönlicher oder gar politischer Gegnerschaft, sondern weil man weiß, wie man allein der Zukunft entgegenkommen kann. Erst wenn von Seiten des Gegners bessere Einsicht verweigert wird, wird dieser zu den „Ewiggestrigen" verbannt, er wird romantisch genannt was so viel heißt wie wohlwollend, jedoch nicht ernst zu nehmen -
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wenn diese Gegner sich doch Gehör zu verschaffen wissen, wird der aufgeklärte Politiker sie mit mahnender Stimme den Konservativen oder gar Schlimmeren zuordnen. Was solch absolutes Sehen der Zukunft gar nicht kennt, ist der Zweifel, da sich ihm die Zukunft oder eher gesagt, die Notwendigkeit der Zukunft in unbedingter Form gezeigt hat, was soviel heißt, wie unter dem Zeichen einer unmittelbaren Gegenwart. Deshalb weiß ein solchermaßen in die Gegenwart eingelassener Mensch auch immer, daß diese Zukunft seine Zukunft ist, wenn er sie nur gleich ergreift und sich mit seinen radikalen Ideen nach vorne drängt. Diese müssen sich unmittelbar in Handlungen umsetzen lassen, anderweitig man als untätig erscheint. Daß diese Ideen mit solcher Überzeugung vorgetragen werden müssen, liegt also schon daran, daß sie ohne jeglichen Inhalt sind; denn die Absolutheit des Gesehenen verweist ja gerade auf eine unmittelbare Gegenwart das jedoch heißt, auf nichts anderes als ein Hirngespinst, das heißt, auf eine Meinung von der Gegenwart. Daß dem so ist, kann man leicht daran sehen, daß der Anspruch, die Zukunft gesehen zu haben, nichts daran ändert, daß man meint, die Zukunft nur mit Ideen erschließen zu können. In solcher Manier droht ein solcher Bildungspolitiker sich immer dann zu verlieren und seine Position einzubüßen, falls er einmal über keine neuen Ideen mehr verfügen sollte. Denn aus obiger Charakterisierung der ungefügten Zeit folgt, daß der Wert einer Idee sich proportional zu ihrem Neuigkeitswert verhält. Das gilt zumal, insofern es etwas Neues ja gar nicht geben kann, so daß jede „neue Idee", einmal geäußert, sich sogleich entwertet. Etwas Neues könnte es halt erst dort geben, wo man sich nicht so sehr der Zeit verweigerte, daß man gar keine Zeit mehr hat. Lassen Sie mich hier zwei Beispiele geben: auf der einen Seite ist die Philosophie und Sie mögen das an der heftigen Auseinandersetzung zwischen Peter Sloterdijk und Jürgen Habermas beobachten, welche letztes Jahr durch die deutsche Presse verheizt wurde seit dem 19. Jahrhundert zunehmend dem Journalismus verfallen. Das heißt hier soviel, als daß der Druck des Neuen und seine Zeitlosigkeit sich ausdrückt als ständige Erneuerung der gegenwärtigen Intensität. Es gibt daher nicht mehr das geringste Verständnis einer geschichtlichen Tiefe, aus welchem Grunde Sloterdijk Nietzsches Äußerungen über die Bildung nicht nur vollkommen verzerrt,2 sondern sogar als hysterisch bezeichnet. Allerdings ist auch schon Heidegger, wie er versichert, hysterisch gewesen. Man könnte genauso gut sagen, daß die gesamte Geschichte unverständlich geworden ist, da man hier die Wahrheit nur im Zeitgemäßen finden kann, und daß heißt, für Sloterdijk, in einer aufgeklärten Verbindung von Kybernetik, Philosophie und genetical engineering. Tatsächlich läßt sich jedoch mit dem Pathos des Neuen weder Philosophie betreiben, noch das Problem der Bildung in den Griff bekommen. Zumal ja gerade die moderne Bedeutung des Wortes im Sinne der Affektiertheit verbirgt, daß hier keinerlei Affekt als Grund füngiert. Man läßt sich halt nur noch vom Aktuellen ansprechen, man läßt sich nur noch mit sich selbst ein; und daß, ohne jegliches Gefühl dafür, wie überflüssig und vor allem lächerlich der Gedanke eines zeitgemäßen Philosophen ist zumal zur Auswahl der guten Gene brauchte man
oder,
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2 Zum Beispiel in der absurden Behauptung, Nietzsche sei zu kurz getreten, wenn er die Genealogie des Menschen auf die letzten 2000 Jahre des Christentums ansetze, während man von der Evolution her gedacht von weitaus größeren Zeiträumen auszugehen habe. Nun kann man dieses Argument aus besseren Gründen heraus bei Nietzsche selber finden, ohne daß dieser solche Äußerungen mit dem Pathos der Allwissenheit unterlegte. Sloterdijks Behauptung ist also nicht nur philologisch gesehen unwahr, er verpaßt auch alles, worum es in einem solche Argument geht, nämlich nicht um einen „Glauben" an die Evolution, sondern gerade um die Überwindung solchen naiven Positivismus in der Erkenntnis der geschichtlichen Endlichkeit des Menschen.
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ihn nun einmal gar nicht. Die Bildung dagegen bildet den Menschen in die geschichtliche Zeit hinein. Eine von Nietzsches „hysterischen" Bemerkungen, nämlich jene über den Deutschaufsatz, gewinnt so ihre tiefere Bedeutung: in diesem bereitet sich die Wertschätzung der Gegenwart vor; die völlige Überschätzung der eigenen Erlebnisse, welche einen dann doch immer wieder genügend langweilen, als daß man sofort etwas Neues forderte, was natürlich wieder einmal nicht zu haben ist. Hierin liegen Niedergang und Verzweiflung des Erlebnisses und des „Deutschaufsatzes", von welcher Stimmung der Journalismus lebt, der ja auch nicht durch Zufall von Nietzsche hier als das ausschlaggebende Symptom der Krankheit auf die Bühne gestellt wird. Mit diesem droht ein immer stärkerer Einschluß in die Gegenwart und ein Verlust des Gedächtnisses. Aus diesem Grunde sollten Bildungsanstalten in jeder Zeit „Werkstätten des Kampfes gegen die Gegenwart" (KSA, NF, 7, 262) sein. Als zweites Beispiel möchte ich den Anblick der heutigen Ideen zur Verbesserung der Bildung vorlegen, welche, zumindest in Großbritannien, alle Jahr neu erfunden werden müssen. Wenn Sie sich diese Ideen anschauen, so wird Ihnen schnell auffallen, daß man jene auch zu Nietzsches Zeiten schon „hatte", so daß zumindest hierdurch seinem Text eine unheimliche zeitgenössische Brisanz verliehen wird. Die Verallgemeinerung der Hochschulzulassung (KSA, BA, 1, 717); die Tabellenfreunde (KSA, BA, 1, 648), welche unablässig bemüht sind, die Bildung zu katalogisieren und sich ihrer Erfolge d. h. ihrer Investitionsgewißheit zu versichern; der Versuch, die Bildung zu mathematisieren und zu quantifizieren; die zunehmende Flucht vor dem Menschen, die sich in diesen Bemühungen widerspiegelt: all diese modernen Themen, und insbesondere das Thema der „kritischen Bildung", finden wir in Nietzsches Text Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten wieder. -
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Diese Mißstände bezüglich unseres Verständnisses der Bildung können wir schon an der Idee der Interpretation verfolgen, und tatsächlich haben wir sie hier auch schon aufgeworfen, nämlich mit der Frage der Gegenwartsbezogenheit eines Textes, an welcher wir gewohnt sind, den Sinn einer Auseinandersetzung mit diesem Text zu messen. Diese Frage stimmt überein mit der nach der Zukunft, welche sich in Nietzsches Text ausdrücklich stellt. Eine Zukunft haben heißt aber für Nietzsche, in diese durch Selbstüberwindung eingehen. Die Bildung, durch welche sich dem Menschen zuerst eine zeitliche Existenz eröffnet, ist daher seine Selbstschöpfung, und als solche will der Mensch durch sie über sich hinaus. Dieses Wollen bestimmt das Schreiben und soll auch das Lesen des Textes bestimmen. Die Bildung wird daher von Nietzsche auf den Gedanken des Willens zur Macht bezogen. Nietzsche sagt daher in der Einleitung zu seiner Schrift: „Seid wenigstens Leser dieses Buchs, um es nachher, durch eure That, zu vernichten und vergessen zu machen!" (KSA, BA, 1, 650) An die Bildung denken daher zuerst jene Lieblinge Zarathustras, die ihren eigenen Untergang wollen.
„Mir besteht das Leben jetzt in dem Wunsche, daß es mit allen Dingen anders stehen möge, als ich sie begreife; und daß mir Jemand meine ,Wahrheiten' unglaubwürdig mache." (Brief an Overbeck, 2. Juli 1885, KSB, 7, 63) Insofern Nietzsche das Ideal der Wissenschaft durch die Einheit von
Philologie und Medizin
bestimmt, besteht diese Aktivität im Falschmachen, im Zerreißen und im Unglaubwürdigmachen. Diese Tugenden erinnern wir zwar heute noch in unserem Ideal der „kritischen Bildung", doch sieht diese es auf eine so beschränkte Idee der Wahrheit ab, daß sie sich meist in einem Für und Wider bewegt, welches dann wahrlich in ein „akademisches Problem"
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ausläuft. In diesem Sinne bleibt uns, in bezug auf die Hoffnung, Nietzsches Wahrheiten unglaubwürdig zu machen, nur die Einsicht in unser Scheitern, welches sich in der „aktuellen Brisanz" der Nietzscheschen Kritik widerspiegelt. Hieraus gewinnen wir eine erste Antwort auf die Frage, warum uns denn Nietzsches Diskurs über die Bildung noch viel fremdartiger erscheinen sollte als jener über den Willen zur Macht oder gar über so seltsame Gedanken wie den der Ewigen Wiederkehr des Gleichen. Während man diese je mit neuem Sinn versehen und auch gar als radikal neue Ideen verkaufen kann, so erscheint seine Idee der Bildung doch als sehr konservativ" und heutzutage, wie man in Neudeutsch sagt, als „outdated". Es scheint hier aber auch gar nichts Neues drin zu stecken, vielmehr scheint er von unserer Position des Neuen aus gesehen alle möglichen konservativen Meinungen aufzufrischen und aufzutischen, welche uns nicht nur weltfremd vorkommen (was soviel heißt, wie dem Neuen gegenüber nicht aufgeschlossen), sondern sogar -
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politisch höchst verdächtig. Nein, Nietzsche will so wenig etwas Neues sagen, daß er, was er zu sagen hat, von einem alten, weisen Philosophen sagen läßt. Denn schon zu Nietzsches Zeit ist das, was es über die Bildung zu sagen gibt „unzeitgemäß". Und dies im doppelten Sinne der geschichtlichen Tiefe der Zeit: die Bildung kommt aus der Vergangenheit, denn sie ist ihrem Gehalt nach klassische Bildung und ihrer Form nach die des frühen humanistischen Ideals; und doch gibt es diese Bildung für uns nur dann, wenn sie aus der Zukunft auf uns zu kommt, denn, wie der alte Herr sich beeilt festzustellen, so haben wir ja noch gar keine Bildungsanstalten. Die Frage nach einer Zukunft unserer Bildungsanstalten ist daher die Frage nach der Zeit, auch der Zeit, die wir uns noch geben können in Anbetracht des verallgemeinerten Zukunftsnotstandes -; die wir uns geben können, gerade durch die Bildung, welche als höchstes Ziel die Schaffung eines Menschen hat, der sich versprechen kann, das heißt, der Zeit hat. Wir stehen also vor einem -jedem Philosophen bekannten Problem, dem Zirkelschluß. Insofern es sich hier um den Denker der Ewigen Wiederkehr des Gleichen handelt, sollte es uns nicht verwundern, daß es sich bei der Frage um die Zukunft unserer Bildungsanstalten um einen wesentlichen Zusammenhang zwischen dem Begriff der Bildung und einer durch die Zukunft bestimmten Zeit handelt. Mit anderen Worten, Bildungsanstalten sind auch immer schon Zukunftsanstalten. Um eine Zukunft unserer Bildungsanstalten zu ermöglichen, müssen wir die Bildung schon voraussetzen, die uns jene Anstalten ermöglichen sollen. Da es sie noch nicht gibt, wird es sie auch nicht geben können, denn der Mangel an Bildung ist zuerst einmal der Mangel an einem Gefühl der Notwendigkeit der Bildung, bevor er Mangel an Bildung selbst ist. Vielleicht sollte ich besser sagen, der Mangel an Sehnsucht nach dem Menschen selbst, welcher sich als solcher, der als Notstand verstandenen Notwendigkeit, entzieht. Es ist dieser Mangel an Sehnsucht, welcher nicht nur dazu führte, daß wir es mit diesem „Nothstaat"3 zufrieden sind, sondern sogar gar keine andere Möglichkeit mehr anerkennen können. Daß Erziehung sich nur mehr auf den Notstand des komfortablen Überlebens richtet und daher ausschließlich der Ökonomie untergeordnet wird, dies zeichnet die Not im Bereich der heutigen Bildungspolitik aus. Daß uns Nietzsches Besinnung auf die Zukunft unserer Bildungsanstalten so fremd ist wie vielleicht kein anderer Inhalt seines Denkens, hängt also mit diesem Zustand zusammen, welchen sowohl Nietzsche als auch Heidegger die Not der Notlosigkeit nennen. -
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Vgl. Friedrich Schiller, Ueber die Ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, Nationalausgabe Bd. XX, Philosophische Schriften, Erster Teil, Weimar 1962, 313.
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Um jedoch zu diesem Punkte zu gelangen, müßte der Leser mir erst einmal zustimmen, daß wir nicht nur schon lange der Bildung unsere Zustimmung entzogen haben, sondern daß wir sogar schon so weit mit dieser Abkehr gegangen sind, daß wir ein Zeugnis von der Bildung nur mehr als eine ferne, historische Stimme hören können. Um diese Zustimmung zu erreichen, bedarf es also erst einmal einer Bestimmung des Begriffs der Bildung. Hier möchte ich besonders auf jenes in diesem Begriff hinaus, was uns heute an ihm befremdet: daß Bildung an einen Raum gebunden ist; daß sich in der Bildung das Problem der Zeit ausspricht; daß also in der Bildung von der Zukunft des Menschen ausdrücklich die Rede ist, und daß dementsprechend Bildung nicht Selbsterhaltung ist, sondern der Mensch in ihr Vergangenheit werden soll; daß also die Bindung des Willens an die Zeit zur Frage von Zucht und Züchtung wird; daß Bildung dem Gleichsein widerspricht und damit ausdrücklich elitär ist, oder, wie Nietzsche und Jaspers dies nennen, dem aristokratischen Ideal entspricht. -
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Bildung und Raum Wenn in Goethes Wilhelm Meister Thérèse zu unserem Helden spricht: „Hier [...] unter diesem deutschen Baume will ich Ihnen die Geschichte eines deutschen Mädchens erzählen",4 so wird wohl kaum jemand auf den Gedanken kommen, eine solche Äußerung als nationalistisch motiviert aufzufassen. Ein wenig altertümlich mag uns ein solcher Ausspruch wohl erscheinen, und doch wird uns schnell klar, daß der Sinn dieses Satzes zuerst einmal der ist, nicht Behauptungen über „das Mädchen an-sich" aufzustellen; nicht einmal über „das deutsche Mädchen an-sich", sondern über eines von diesen, nämlich der Erzählerin selbst. Das Attribut „deutsch" drückt hier also einen Wesenszug der Erzählerin aus. Und doch ist auch dieser Wesenszug etwas ganz anderes als eine einfache Ortsbestimmung. Wenn dagegen Nietzsche sich in der Bildung „das Erwachen des deutschen Geistes" wünscht, so ist heute nicht so klar, was wir dabei eigentlich unmöglicher finden: daß er vom Geist spricht, oder vom deutschen Geist. Wenn wir dann noch dem deutschen Geist das Erwachen beifügen, dann weiß jeder Deutsche, wovon hier die Rede ist. Die Vorlesungen Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten stellen in mehrerer Hinsicht einen gefährlichen Text dar, gerade wenn man ihn bejaht oder verneint: man kann ihn von der Hand weisen und dabei den Gedanken der Bildung gänzlich verlieren;5 man kann ihn ernsthaft erwägen und läuft dabei an allen Fallen der Fehlauslegung vorüber, die aus der zukünftig bedingten Handlung eine Reaktion machen. Dieser Text beunruhigt jegliche „demokratische Pädagogik" oder „linke Politik" zutiefst, zumal es auch wahr ist, daß der Geist dieses Textes „den finsteren Losungen des Nationalsozialismus als eine ,Sprache' hat dienen können",6 um dies, der Vorsicht halber, in den Worten eines Franzosen auszudrücken. 4 Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, München 1977, "1984, 480. 5 So wird oft behauptet, Nietzsche habe ihn ja gar nicht ernst gemeint, sonst hätte er ihn ja veröffentlicht; nun hat er ihn zwar veröffentlicht, handelt es sich doch hierbei um Manuskripte öffentlicher Vorträge, aber es gehtja auch mehr darum, den Text und seine Schwierigkeiten loszuwerden, und verstehen kann man das schon, angesichts der Komplikationen, die entstehen, will man ihn dann in eine zeitgemäße Erziehungspolitik umsetzen und somit Argumente für seine aktuelle Brisanz vorführen. 6 Jacques Derrida, „Nietzsches Otobiographie oder Politik des Eigennamens", in: Fugen deutsch-französisches Jahrbuchfür Textanalytik, Bd. 1, Olten/Freiburg i. Br. 1980, 85. -
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In diesen Bereich spielt die Frage der politischen Ebene von Nietzsches Vorlesungen. Es ist ja nicht von ungefähr, daß Nietzsche so viele unbequeme Worte benutzt, Worte, deren Unbequemheit gerade in jener Zeit nach Nietzsche gewachsen ist, welche man oft mit seiner „großen Politik" identifiziert hat und welche noch heute den politischen Instinkt Deutschlands bestimmt. Seit dieser Zeit haben wir uns daran gewöhnt, aus Abwehr gegen das „Böse" in das Allgemeine zu flüchten. Wir haben den Diskurs über das Land, den Ort, den Raum, alles jenes, was das Dasein betrifft, dem Faschismus angekreidet, als sei es an sich ein Makel, etwas Bestimmtes zu werden oder sich selbst zu etwas zu bestimmen. Seit jener Zeit haben wir unter dem Deckmantel der Toleranz und Weltoffenheit jegliche Kultur und jegliches Dasein auf die Form des allgemeinen und gleichgültigen Menschen reduziert.7 Seit jener Zeit haben wir uns also auch unter dem Deckmantel der Liberalität der Aufgabe der Bildung zur Freiheit entzogen. Gerade wenn es in Nietzsches Denken, welches sich von Anfang an gegen die Reaktion und das Ressentiment richtet, um die Bestimmung der Zukünftigkeit geht, wird man uns eine Antwort abverlangen auf die Frage, wie es denn angehen kann, „daß die reaktive Entartung dieselbe Sprache, dieselben Wörter, dieselben Aussagen, dieselben Losungen ausbeuten kann wie die aktiven Kräfte, denen sie entgegentritt".8 Aber diese Frage stellt sich nicht in Hinblick auf die bloße Identifikation der „bösen Rede" und der möglichen Denunziation des „bösen Redners", sondern vielmehr in bezug auf die Fähigkeit, jene Weltbereiche nicht zu verlieren, welche man anderweitig dem Ressentiment überläßt. Es erweist sich als unmöglich, diesem Seiltanz, wie Nietzsche die Bildung des Menschen zum Übermenschen nennt, auszuweichen. Die Bildung läßt sich ebensowenig verrechnen wie die Zukunft des Menschen. Und wahrscheinlich muß man für so eine Bildung wohl auch eine Generation wagen, anstatt zu behaupten, man könne jene auf mathematischem Wege an ihren Bestimmungsort verbringen. Was meint dann wohl Nietzsche, wenn er das „Wesen der Deutschen" der Unbildung seines Zeitalters entgegenstellt (KSA, BA, 1, 647). Wir alle wissen, daß Nietzsche sein Urteil über die Deutschen sehr bald revidieren wird, aber daraus kann nicht gefolgert werden, daß er hier, noch an der Seite Wagners den Kulturkampf gegen Frankreich kämpfend, behaupten wolle, daß das „Deutsche" das Beste oder Übergeordnete im Bereich des Allgemeinen des Menschen sei. Wer hier sofort von Nationalismus reden will, zieht unberechtigter Weise den Schluß auf die Verallgemeinerung dieser Aussage. In anderen Worten spricht Nietzsche mitnichten davon, das dieses „deutsche Wesen" anderen Völkern entgegengestellt werden sollte oder daß gar das Wesen des Menschen durch das Deutschsein bestimmt werden sollte. Es wird also nicht etwa im Rahmen des Allgemeinen das Deutsche dem Kosmopolitischen entgegengestellt, sondern dem Allgemeinen das Besondere. Dieses ist für uns das Deutsche, das heißt, jenes, was wir in der Endlichkeit unseres Horizontes vorfinden. Dieser Befund ist Wesen des In-derWelt-Seins. Wir Deutschen mögen, wie Nietzsche sagt, an sämtlichen Kulturverbrechen der letzten 400 Jahre schuldig sein (vgl. KSA, EH, 6, 359), wir tauschten unsere Bildung gegen politischen und nationalen Wahnsinn (vgl. KSA, M, 3, 163), ohne daß dieses an der Notwendigkeit des Ortes etwas ändert, ohne welchen es so etwas wie Bildung gar nicht geben
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Man braucht sich dafür nur den multikulturellen Unterricht betrachten, in dem um Verständnis des Anderen gebeten wird, indem dieser dargestellt wird als ein Mensch wie wir auch, der sich nur durch Kulturanhängsel unwesentlich unterscheidet. Unter jeglicher Hülle und Hautfarbe also nur ein anderes Ich-bin-Ich und kein Verständnis des Anderen. Jacques Derrida, „Nietzsches Otobiographie", 89.
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kann. Das Wort „deutsch" drückt hier zuerst einmal das endliche Verhältnis des Nahen und Fernen aus. Es setzt also den Horizont einer geschichtlichen Entfernung. Der Tendenz der „tatsächlichen" Bildung stellt Nietzsche das Wesen des Deutschen entgegen. Gegen diese Tendenz streitet jene des kosmopolitischen in der Erziehung, „in dem Glauben, daß es möglich sei, sich den heimischen Boden unter den Füßen fortzuziehen und dann doch noch fest stehen zu können" (KSA, BA, 1, 689). Hier haben wir nun die deutlichste Herausforderung Nietzsches an die heutige Bildungspolitik: ist es wirklich notwendig, das Kosmopolitische mit den zukunftsweisenden Tendenzen gleichzusetzen und alles, was vom Heimischen spricht, als konservativ abzutun? Die Unmöglichkeit dieser Gleichung ist offensichtlich: verliert man doch mit der Nähe auch die Ferne, mit der Heimat auch die Fremde, mit dem Einen auch die Differenz. Dem widerspricht auch nicht Nietzsches Überzeugung, daß ein guter Deutscher Europäer ist (vgl. KSA, NF, 11,261). Denn das ist schließlich der Gehalt der klassischen Bildung, daß sie die Menschwerdung des geschichtlichen Raumes vermittelt, den wir Europa nennen. Um das Erbe dieses Raumes geht es dann ja auch im genannten „Kulturstreit" und nicht um irgendwelche nationalistischen oder rassistischen Parolen. Soweit Nietzsche von diesem Zeitspielraum spricht, umgreift er den Anfang bei den Griechen bis zu jenem Zeitpunkt, an dem wir über die Zukunft meditieren. In unserem Augenblick geht es dann also um die Entschlossenheit, vom Anfang bestimmt und von der Zukunft angesprochen „die Wiedergeburt Griechenlands aus der Erneuerung des deutschen Geistes" (KSA, NF, 7, 408) anzustreben. Der Ort der Bildung ist daher niemals das Allgemeine, und es liegt nicht zuletzt hieran, daß das griechische Altertum „die rechte und einzig Bildungsheimat" (KSA, BA, 1, 686) ist und daß die Bildung im Zwiespalt mit der Wissenschaft liegt. Ein solcher „deutscher Geist" hat eine Verbindung zur „Deutschtümelei" höchstens insofern, als er in seiner Geschichte öfter zu solchen Verwesungen neigte und damit den Gedanken der Bildung von sich warf. Die Gefahr des heutigen Denkens liegt darin, daß es sich vom rechtsradikalen Diskurs oktroyieren läßt, worüber es sprechen darf und worüber nicht. So scheint uns seit Heideggers Rektoratsrede heute das Wollen selbst schon ein notwendiger Bestandteil des reaktionären Denkens zu sein. Schon wenn man das Wort „Entschlossenheit" hört, fangen die professionellen Warner an zu schreien. Seit dem III. Reich liegt es den Deutschen im Instinkt, daß jegliches Reden bezüglich der Besonderung des Ortes Ausdruck reaktionärer Überzeugung ist.
Bildung und Natur Wie kann man also über die Zukunft unserer deutschen Bildungsanstalten reden, ohne entweder das „Deutsche" hier nur als unwesentliche Ortsangabe zu benutzen oder sich gar zur Bestimmung der Bildung durch das Wesen des Deutschen aufzuschwingen? Wie kann man die geschichtliche Tatsache verstehen, das die Idee der Universität eine abendländische, übernationale und hellenisch-deutsche Idee ist?9 Merkwürdigerweise taucht dieselbe Frage auf, wenn wir die Entscheidung suchen zwischen der Idee der Bildung auf der einen Seite und ihrer Aktualität auf der anderen; denn beides Mal sehen wir das Verhältnis der beiden Seiten als das vom Allgemeinen und Besonderen.
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Vgl. Karl Jaspers, Die Idee der Universität, Berlin/Heidelberg/New York 1980, 70.
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entscheiden? Zwischen dem, was als Wesen der Gegenwart und jenem, welches durch seine Aktualität ein Recht erworben zu entgegengestellt wird, haben scheint? Wie kann man das Attribut „deutsch" denken, ohne noch einmal die Bildung gegen nationalen Wahnsinn einzutauschen? Nietzsches Antwort wird uns zumal völlig verwirren. Das wahrhaft Deutsche, so sagt Nietzsche, ist auch das Natürliche. In der Entwicklung der wahren Bildung „spricht die Natur ihr Wort" (KSA, NF, 7, 379). Und anscheinend muß dann die Bildung auch als Ziel haben, daß die Gebildeten der Natur ein Ohr zu leihen verstehen. Daher haben auch beide dasselbe Ziel: denn Glaube an die Natur ist auch Glaube an den Genius (vgl. KSA, NF, 7, 380). Und umgekehrt ist das Ziel der Bildung, als „Erzeugung des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen in uns und außer uns", Arbeit an der Vollendung der Natur (KSA, SE, 1, 382). Ein solcher Sachverhalt läßt sich nur dadurch erklären, daß der Begriff der Natur hier an den des Ortes gebunden ist und daher im hergekommenen Sinne als jenes verstanden wird, was sich der Verallgemeinerung verweigert. Natur ist demnach principium individuationis des Geistes. Da die Natur Einheit von Geist und Körper bedeutet, jedoch in der reinen Notwendigkeit entspringt, zieht Nietzsche aus ¡Judie Begründung der Bildung. Die Entfremdung von der Bildung ist also auch Entfremdung von der Natur. Und wie soll
man nun
„Gedrückt und halb zerquetscht durch hochmütige Kasten, erbarmungslosen Reichthum,
durch Priester und schlechte Erziehung verderbt und vor sich selbst durch lächerliche Sitten beschämt, ruft der Mensch in seiner Noth die „heilige Natur" an und fühlt plötzlich, dass sie von ihm so fern ist wie irgendein epikurischer Gott. Seine Gebete erreichen sie nicht: so tief ist er in das Chaos der Unnatur versunken." (KSA, SE, 1, 369) Das Recht der Bildung gegen den Staat wird also aus dem Naturgesetz abgeleitet, so daß man es dem Staate abfordern kann. Aus dem Gegensatz von Bildungsanstalten und Anstalten zur Bekämpfung der Lebensnot kann man dann eine natürliche und moralische Verpflichtung des Staates zur Bildung ableiten, gerade weil hiermit der Gedanke der Bildung den Hoheitsbereich des Staates überschreitet, während die Erziehung im landläufigen Sinne nur der Erhaltung des Staates gilt. Der Staat muß also hinter der Bildung zurücktreten. Dies gilt auch im modernen Zusammenhang, welcher den Staat zugunsten der globalen Ökonomie abzuschaffen gedenkt, insofern hier ja gar keine Wertänderung vorgenommen wird, sondern nur der Überzeugung Ausdruck verliehen wird, daß der freie Welthandel ein besserer Haushälter ist als der politische Staat, worin sich zeigt, daß die Idee der Politik, welche seit Piaton mit der Bildung zusammenhängt, längst aufgegeben ist. Die Gefahr der Universität besteht gerade darin, daß ihre Ziele dem Staate untergeordnet werden, wie Nietzsche sagt (KSA, BA, 1, 647), oder daß der Staat sie nicht mehr will. Ein Staat, der die Wahrheit nicht ertragen kann, wird die Universität langsam zerstören, aber ein Staat, der sich für die Wahrheit gar nicht erst interessiert, wird dasselbe Zerstörungswerk noch rückhaltloser zu Stande bringen. Wie Karl Jaspers ausführt, führt ein längerer Unwille des Staates zum Tode der Universität. Dies kann gerade auch durch den Doppeltrieb einerseits „nach möglichster Erweiterung der Bildung, andererseits [...] nach Verminderung und Abschwächung derselben" (KSA, BA, 1, 647) bewerkstelligt werden, indem man alle weiterführenden Schulen kurzfristig in Universitäten umbenennt und so nicht nur statistisch die Durchschnittsbildung aufwertet, sondern obendrein noch den Gedanken der Bildung und die Idee der Universität vernichtet, ohne daß noch ein Hahn nach ihnen krähte.
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Bildung und Zeit Was macht man, wenn man über die Zukunft spricht? Wie Nietzsche deutlich macht, geht es hier weder um das Planen einer kommenden Gegenwart, noch um einfache Prophétie. Mit anderen Worten geht es hier weder um eine Steuer- und Regeltechnik für die erfolgreiche Bedarfsbewältigung noch um eine anschauliche Vorhersage noch nicht eingetroffener Ereignisse. Vielmehr besteht solch ein Sprechen über die Zukunft darin, der Bildung aus ihr selbst heraus eine Zukunft zu verleihen, sie über sich hinaustreiben, so daß dem Menschen in ihr eine Zukunft wird. Das Ziel der Bildung ist daher notwendig d. h. hier laut Nominaldefinition der Übermensch. Der Lehrer des Übermenschen ist aber zugleich der Lehrer der Ewigen Wiederkehr des Gleichen. Der Wesenszug dieses Zusammenhangs besteht darin, festzustellen, daß das Ziel der Bildung nicht verfügbar ist. In anderen Worten ist der Übermensch uns weder in exemplarischer Form noch als Idee gegeben. Sobald der Übermensch also, laut Nietzsches Forderung, der Sinn der Welt wird, eröffnet sich dem Menschen in der Überschreitung der Historie die geschichtliche Zeit. In der Zusammengehörigkeit der Lehre vom Übermenschen und des Gedankens der Ewigen Wiederkehr des Gleichen drückt sich das Wesen der Bildung aus. Die Zeitlichkeit der Bildung ist also Eröffnung der Zeitlichkeit des Menschen. Die Einsicht dieses größten „Bildungsromans" der deutschen Philosophie besteht in dem Zusammenhang von Bildung und Zeit als Ausdruck der Selbstzucht des Menschen. Bildung ist daher ein Sich-Entwerfen auf die Zeit, eine creado ex nihilo, die ihre Orientierung aus dem Hören auf die Natur gewinnt. Das Leben wird also ein sich-selbst-züchten aus dem Affekt. Höchster Ausdruck der Bildung ist dann, in den kräftigsten und fruchtbarsten Momenten, die meditado generis futuri (KSA, BA, -
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1,762).
Bildung und Zukunft: Wille zur Macht gegen das Prinzip der Selbsterhaltung Bildung liegt der höchste Ausdruck des Willens zur Macht, insofern als Wille zum Sich selbst überwinden ist. Sich selbst als endliches und daher zeitein Bildung liches Wesen wollen ist Grundlage des Menschseins. In der Bildung bildet der Mensch seine Existenz in die Zeit hinein. Diese existierende Zeitspanne ist daher zugleich Konzentration der Zeit und ihre Verendlichung. Die Zukunft bedeutet daher die eigene zukünftige Unverfügbarkeit und die Bildung liegt demnach im Bereich des authentischen Seins-zum-Tode. Bildung ist daher im eigentlichen Sinne niemals, wie Jaspers dies historisch schildert, Selbsterhaltung einer Klasse diese will sich ja gerade nicht bilden -, sondern Selbstaufgabe als Selbstüberwindung des Willens zur Macht. Erst von hier aus wird Nietzsches Referenz zu Schillers Aesthetischer Erziehung des Menschengeschlechts verständlich. Daher ist Bildung die innerste Sehnsucht des Willen zur Macht; wie Zarathustra in Von alten und neuen Tafeln diesen Sinn der Bildung in den folgenden Worten verkündet: „Was Vaterland! Dorthin will unser Steuer, wo unser Kinderland ist! Dorthinaus, stürmischer als das Meer, stürmt unsre große Sehnsucht! -" (KSA, Z, 4, 267 f). Im Gedanken der
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Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten
83
Bindung des Willens an den Zeitspielraum: Zucht und Züchtung nun in der Lage, die beiden „anstößigen" Themen in Nietzsches Bedenken der Bildung anzugehen, nämlich den Zusammenhang zwischen Bildung und Züchtung und die Frage nach dem aristokratischen Ideal der Bildung. Es ist nun nicht mehr so überraschend, daß Nietzsche den Gedanken der Züchtung, insofern er an die Bildung als der allerzartesten Technik (vgl. KSA, BA, 1, 674) gebunden ist, ausgerechnet gegen den Biologismus ins Feld führt. Denn der Gedanke der Zucht verlangt eine Rückwirkung der Erfahrung auf das Sein und eröffnet damit den Gedanken des Werdens. Dieser Entwurf der Züchtung richtet sich also zugleich gegen den Idealismus wie auch den Materialismus, da er die Freiheit ermöglicht, indem er sie der Utopie entkoppelt. Das Paradox der Züchtung führt also jenseits des Idealismus: das Ziel der Züchtung ist nicht gegeben; zumindest nicht als Idee: das Ziel der Bildung ist daher auch nicht absolut formulierbar. Aus diesem Grunde kann die Bildung nicht der Mathematik das heißt, der allgemeinen Lehre untergeordnet werden. Es gibt hier keine
Wir sind
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mathesis universalis. In dieser Offenheit besteht die geschichtliche Tiefe der Bildung. Der Begriff der Züchtung setzt voraus, daß der Geist sich nicht selbst fundiert: Er weiß also, daß seine Entscheidung hinsichtlich der Zuchtwahl selbst wiederum unterlaufen wird er trifft seine Entscheidung aus der Position einer aufzuhebenden Lage er weiß im besten Falle, daß jene Entscheidung sich nichtigen muß: um weiterleben zu können, muß er seinen eigenen Untergang wollen. Der Gedanke der Züchtung integriert also die Ambivalenz des Bildungsbegriffs zwischen Körper und Bewußtsein. Denn die Züchtung ist gerade Ansatz des Geistes auf den Körper hin, als dem, welcher eine Vergangenheit und eine Zukunft hat, wie Merleau-Ponty das ausdrückt,10 während das Ideal des abstrakten Denkens die Zeitlosigkeit ist. In dieser gibt es keine Bildung. Schon aus dem Begriff der Natur, wie ich ihn oben dargelegt habe, wird der Gedanke der Züchtung hier notwendig: denn diese ist nicht das Vorgegebene in jedem Einzelwesen, sondern der geschichtliche Boden des Werdens. Dieser dem Individualismus unterliegende Fehlgriff, als Fehlinterpretation und Verflachung der Sokratischen Erziehung, liegt an der Basis nicht nur des Unverständnisses gegenüber diesem Thema, sondern auch gegenüber der Bildung als solcher. -
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Züchtung und Humanismus Man braucht nur an die oben erwähnte Debatte zwischen Peter Sloterdijk und Jürgen Habermas denken, um sich klarzumachen, worum es in diesem Streit nun eigentlich geht, nämlich um das vermeintliche Ende des Humanismus. Beendet Heideggers Brief über den Humanismus wirklich auch den Gedanken der humanistischen Bildung? Muß man die aristokratische Natur der Bildung und Zucht wirklich als Trennung verstehen, welche Züchter und Gezüchtete gegenüberstellt; als wären die Züchter bewußt bei der Sache der Genlese? Als 10 Maurice
Merleau-Ponty, L'Œil et l'Esprit, Paris 1964,
18.
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Ullrich Michael Haase
könne man sich die Arbeit sparen und statt Bildung Genmanipulation betreiben? Tritt wirklich die Steuer- und Regeltechnik, kurz, die Kybernetik, das Erbe der Bildung an? Nur ist diese Trennung von Züchter und Gezüchtetem in bezug auf den Menschen völlig unsinnig. Man kann halt nur Gott spielen, wenn man von guter Zucht ist. Die Frage in diesem Diskurs ist also wirklich, wie man sich vom Humanismus trennt; nicht daß man meint, genau zu wissen, was nach ihm kommen muß, nachdem man abgeklärt das Zeitalter des Buches ausgeläutet hat. Tatsächlich ist das Zeitalter des Humanismus vorüber, weil es sich gerade durch seine Ontologie selbst abgeschafft hat und damit, wie Heidegger das ausdrückt, gegen die humanitas des Menschen verstößt. Denn es ist der Humanismus, welcher letztendlich den Wert des Menschen auf sein immer-schon-Vorhandensein reduziert hat, so daß aus ihm nichts mehr werden kann. Insofern die Bildung nichtsdestotrotz den Zeitspielraum der europäischen Geschichte zwischen ihrem griechischen Anfang und der deutschen Gegenwart zu eröffnen versucht, verfolgt sie die geschichtliche Differenzierung zwischen dem „Feuer vom Himmel" und der „Klarheit der Darstellung" als den beiden Flügeln Europas. Dieses Ziel hat die Renaissance verfolgt; auch die humanistische Bildung hat sich auf die Suche nach diesem Ausgleich gemacht; und die Zukunft unserer Bildungsanstalten ist an diese Frage gebunden. Ein solches, geschichtliches Ziel ist mit Genmanipulation nicht verfügbar und läßt sich auch mit ausdrücklichen Verweisen auf die uneinholbare Zukunft nicht reduzieren.
Die Bildung als Aristokratisches Ideal Wenn der Mensch nicht immer schon vorhanden
ist,
sondern sein Sein eine
Möglichkeit
bleibt, dann wird auch deutlich, daß der Versuch, diese Möglichkeit in die Welt eingehen zu lassen, notwendig eine Ungleichheit der Menschen aufwirft. Doch ist hiermit kein Grund für
eine Ungleichgerechtigkeit gelegt. Während der Haß gegen die Bildung auch aus einer Intoleranz gegenüber verschiedenen Lebensformen innerhalb einer Gesellschaft erwuchs, strebt das Ideal der Bildung nicht eine Gleichförmigkeit der Gesellschaft an. Tatsächlich basiert die Gleichmacherei der „demokratischen" Bildung auf einem ähnlich törichten Mißverständnis, als glaubte man, auf Grund des kategorischen Imperativs nicht Bäcker werden zu dürfen denn was würde geschehen, wenn alle Menschen Bäcker würden? Es ist ein offenes Geheimnis, daß in den heutigen Industriegesellschaften immer mehr von Differenz, Toleranz und Vielfalt der Lebensformen die Rede ist, um zu verbergen, daß jene Differenzen von ihnen immer mehr unter Beschüß genommen werden, daß es mit ihrer Toleranz nicht mehr auf sich hat, als daß sie all jenem gegenüber, was außerhalb ihres ökonomischen Interesses liegt, eine absolute Indifferenz an den Tag legen, oder es aber als Handelsform sich einverleiben, und daß die Folge hiervon die vollständige Vereinheitlichung des menschlichen Lebens auf der Erde ist. Ein kleiner Teilbereich dieser Entwicklung spiegelt sich auch in der heutigen Erziehungspolitik wieder. Man kann es nicht gelten lassen, daß es in einer Gesellschaft verschiedene Lebensformen geben sollte. Die Bildung muß sich daher in den Dienst einer anderen Lebensform stellen, nämlich der des Handels und der Industrie. Die Erweiterung der Bildung gehört demnach
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„unter die beliebtesten nationalökonomischen Dogmen der Gegenwart. Möglichst viel Erkenntnis und Bildung daher möglichst viel Produktion und Bedürfnis daher möglichst viel Glück:
so -
lautet etwa die Formel. -
[...]
und
gerade
das müsse die Absicht der -
85
Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten modernen
,courant'
Bildungsinstitute sein,
zu
sein." (KSA, SE
u.
Jeden
so
weit
zu
BA, 1, 387 u. 667)
fördern als
es
in seiner Natur
liegt
Tatsächlich gibt es verschiedene Gesetze für die Führung des Haushaltes, für die Leitung der Industrie und für die Fundierung des Menschseins in der Bildung. Insofern als die Bildung das Streben zur Selbstüberwindung ist, organisiert sie sich als eine Hierarchie der Besten, das heißt, nach dem aristokratischen Ideal. Dir wirkliches Problem besteht in der Unterminierung dieses Ideals durch seine Institutionalisierung. Nur, aus welchem Recht gibt es dann Bildung? Wir haben oben mit der Natur argumentiert und mit dem Werden des Menschen selbst, aber all diese Argumente scheinen zu verblassen, angesichts dieses aristokratischen Ideals. So ist denn das eigentliche Bildungsgeheimnis, Nietzsche zufolge, daß wenn er wüßte, wie unglaublich klein die Zahl der wirklich Gebildeten zuletzt ist und überhaupt sein kann. [...] [so] daß nämlich zahllose Menschen scheinbar für sich, im Grunde nur, um einige wenige Menschen möglich zu machen, nach Bildung ringen, für die Bildung arbeiten." (KSA, BA, 1, 665)
„kein Mensch nach Bildung streben [würde],
Und
Jaspers verdeutlicht diesen Ausspruch:
„Die geistige Auslese ist daher an die Universität selbst verlegt. Das Wichtigste, der Wille zur Objektivität und das unbezähmbare, opferbereite Drängen zum Geiste, sind gar nicht vorher, es direkt feststellend erkennbar. Diese Anlage, die nur bei einer Minorität von Menschen unberechenbarer Verteilung durch Schichten und Klassen vorhanden ist, kann
indirekt bevorzugt und zur Wirksamkeit gebracht werden. Die Lehre an der Hochschule hat sich der Idee der Universität nach auf diese Minorität einzustellen. Der echte Student vermag unter Schwierigkeiten und unter Irrtümern, die für die geistige Entwicklung nötig und unausweichlich sind, in dem reichen Angebot der Universität seinen Weg durch Auswahl und Strenge seines Studiums zu finden. Es ist in Kauf zu nehmen, vielleicht sogar erwünscht, daß die anderen in Ratlosigkeit, wie sie es anfangen sollen, aus Mangel an Leistung und Vorschrift möglichst gar nichts lernen. Die künstlichen Gängelbänder, die Studienpläne und alle die anderen Wege der Verschulung widersprechen der Universitätsidee und sind aus Anpassung entstanden. Man sagte sich: die Masse der Studenten, die zu uns kommt, muß etwas lernen, jedenfalls so viel, daß die Examina bestanden werden können. Dieser Grundsatz ist für die Schule ebenso trefflich, wie er für die Universität [...] verderblich ist."" Wem nützt denn dann die allgemeine Bildung? Dies ist eine der schwierigeren Fragen, insofern sie auf ein Nebeneinander von Bildungsanstalten und Erziehungsinstituten hinausläuft. „Hilft" es einem Volke, wenn sein allgemeiner Bildungszustand gehoben wird? Oder meint man damit heute nur noch die gezielte Ausbildung einer ausreichenden Zahl von Fachleuten für jedes Fach also die Erziehung? Diese gereicht dem Reichtum des Volkes; doch hatte früher der Reichtum immer einen Sinn jenseits der reinen Erlebniserfüllung. Man war reich um sich etwas leisten zu können. Was will man sich leisten? Unsterblichkeit: -
11 Karl
Jaspers, Die Idee der Universität, 57.
Ullrich Michael Haase
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„wir wissen nun einmal, daß eine gerechte Nachwelt den gesammten Bildungsstand eines
Volkes nur und ganz allein nach jenen großen, einsam schreitenden Helden einer Zeit beurtheilen und je nach der Art, wie dieselben erkannt, gefördert, geehrt oder sekretiert, mißhandelt, zerstört worden sind, ihre Stimme abgeben wird." (KSA, BA, 1, 698f)
Natürlich kann man hier nicht von Nutzen reden, da eine solche Aufgabe über das Verhältnis des Nutzens hinausgeht. Es ist daher nicht von Ungefähr, daß der Staat in ihr häufig die Produktivität vermißt, denn von der Sicht des Staates kann es sich bei der Bildung nur um einen Teilbereich seiner Haushaltsführung handeln, so wie er auch die Kultur in erster Linie als Werbemittel in Anspruch nimmt. Dies ist die größte Gefahr der Demokratie, daß in der Identifikation von Volk und Staat jener Impuls abgeschafft wird, der das Leben über den Staat hinausträgt. Aber schon darin, daß wir die Beschreibung Deutschlands als dem „Land der Dichter und Denker" heute nur noch mit einiger Unruhe zur Kenntnis nehmen, oder sie sogar noch als Schmuckstück wahrnehmen, spricht sich das Ende der Bildung aus. Daß die Bildung also notwendig elitär ist, folgt schon aus dem Gedanken der Selbstüberwindung. Da sie im Grunde schon das sich-wollen im Anderen voraussetzt, heißt das aber nicht, daß in ihr die Suche nach persönlichem Vorteil für die Mehrheit in Enttäuschung endet. Sich durch die Bildung als Volk der Dichter und Denker entwerfen setzt voraus, daß der Wille sich von dem Notstand des persönlichen Vorteils befreit hat und sich der bedingungslosen Suche nach der Wahrheit, als „Anspruch des Menschen als Menschen"12 verschreibt. Solange das nicht geschehen ist, kann die Bildung nur als Krankheit erscheinen, insofern sie sinnlos Kräfte verschleudert und gegen die einfachsten Regeln des Human Resource Managements
verstößt. Da die wahre Bildung unberechenbar ist und immer Glücksfall bleibt, kann, was sie anstrebt, gar nicht jedem versprochen werden. Und trotzdem wirken sich die Ziele der Bildung, soweit sie denn erreicht werden, auf die gesamte Gesellschaft aus. Denn sie schafft einen Menschen, der sich selbst versprechen kann und der daher Zeit hat.
Bildung geht also auf eine absurde Ontologie des Menschen zurück, in welchem er sich jeweils als schon Geschaffenes versteht. Jeder Mensch ist gleich gültig, weil sein Wert durch sein reines Vorhandensein bestimmt wird. Von solcher Warte aus scheint jegliche Bildung überflüssig, solange nur der Mensch genügend Fertigkeiten mit auf den Weg bekommt, um nicht zu hungern und ein produktives Mitglied der Volkswirtschaft zu werden. Unsere Hilflosigkeit und unser Unverständnis gegenüber der Bildung sind also Ausdruck der Geschichte ihres Niedergangs, der zum Zeitverlust der modernen Journalistik geführt hat. Das Mißverständnis der modernen
„Die Fähigkeit einen Menschen aufzuziehen ist sehr selten. Aber auch hier wird alles gleichgemacht und die Basis dieser Gleichmacherei besteht in dem Sophismus, daß jeder,
der Kinder produzieren kann sich auch auf die Aufzucht von Menschen versteht. Es gibt vielleicht keinen anderen Bereich und keine andere Entwicklung, in der die Verwirrtheit unseres Zeitalters lächerlicher erscheint als in unseren Bildungsanstalten. Wahrscheinlich
12
Ebd., 9.
87
Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten werden die Eltern der nächsten Generation Aufzucht bedürfen."13
so
durchschnittlich sein, daß sie selbst noch der
Wahrlich absurd ist dabei, daß je reicher unsere westlichen Industrienationen werden, sie desto mehr Gewicht auf die Institutionen zur Bekämpfung der Lebensnot legen. Während die Zeit unserer bedarf, denken wir nur an unsere Bedürfhisse, für die uns dann die Zeit fehlt. Vielleicht sollten wir uns also eingestehen, daß wir gar keine Bildung mehr wollen. Was wir unsere Bildungsanstalten nennen, hat mit Bildung nur so viel zu tun, als der Mensch sich trotzdem bildet und aus Instinkt etwas werden will; daß er sich als Nichts vorfindet, um Etwas werden zu müssen. Dann jedoch trifft er auf unsere „Bildungsanstalten", die beherrscht werden von der Ideologie der letzten Menschen. Also schallt dem jungen Weltbürger ständig entgegen, daß er schon ein vollkommener Mensch ist, daß wir alle bleiben wollen, wer wir sind, und jeglicher wahren Anstrengung um unser Wesen aus dem Wege gehen. Und zur gleichen Zeit wird ihm deutlich, daß also der Mensch auf immer ein Nichts bleiben soll. Und so stirbt sie schnell, unsere große Sehnsucht nach dem Menschen.
13 Soren Kierkegaard,
Papirer, VIIIA 258, 1847; relativ freizügige Übersetzung der englischen Ausgabe.
Peter André Bloch
Der Dichter als Lehrer Friedrich Nietzsches pädagogische Berufung Für Jörg
Nietzsche
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Salaquarda
Begründer moderner Denkstrukturen
Nietzsche hat viele Gesichter: Die einen verstehen ihn als Religionsstifter, die andern als Gottesleugner und Zerstörer überkommener Denk- und Verhaltensstrukturen, als den Philosophen des Absoluten in Auseinandersetzung mit dem Nihilismus; früher mißverstanden ihn viele auch ich als Vordenker des Nationalsozialismus, heute halten ihn ebenso viele wiederum für den Entwerfer des Europa-Gedankens, wieder andere als den übernational denkenden, künstlerischen Begründer der Postmoderne. Was alle diese Positionen im Grunde vereint, ist der Gedanke Nietzsches an ein Publikum, das beeinflußbar ist und an das er sich mit seinem Werk wendet, und zwar immer in einer Rolle: als Priester, Professor, Prophet und visionärer Künstler und Lehrer: als großer Veränderer und Begründer moderner Denkstrukturen. -
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Dichter als Erzieher Viele deutsche Autoren haben sich vor allem in der Nachfolge Rousseaus als Erzieher verstanden und darin eine Hauptlegitimation ihres Schreibens und Wirkens gesehen. Lessing und Schiller sprachen von der Bühne als einer moralischen Anstalt, mit deren Hilfe das Menschengeschlecht zu erziehen sei, Pestalozzi und auch Gotthelf setzten sich in ihrem Werk eindringlich mit Erziehungsfragen auseinander, die sie auch in Kalendern und Zeitungsbeiträgen möglichst wirksam behandelten. Selbst Gottfried Keller verfaßte in seiner Eigenschaft als Zürcher Staatsschreiber öffentlich zu verlesende Bettagsmandate. Später wird Brecht diese Tradition der anzustrebenden Bewußtseinsveränderung des Lesers oder Zuschauers wieder aufnehmen, in seinen Theaterstücken parabelhaft ideologiegeprägtes Verhalten aufzeigend und kritisch denunzierend. Ob es sich nun um historische Tragödien, um realistische Erzählungen, Märchen oder Kinderbücher, Erziehungs- und Bildungsromane, religiöse oder direkt politische Schriften handelt, immer stellen die Autoren grundsätzlich die Frage nach dem menschlichen Glück, wie sich der Mensch realisieren könne, welches seine Chancen und seine Grenzen seien und welche Kriterien für die Erfüllung seiner Wünsche und Ziele gelten. Erziehung setzt voraus, daß man an eine Veränderung des Menschen glaubt und darin auch einen Sinn sieht. Der Erziehende übernimmt Verantwortung für den andern, dessen Lebensvoraussetzungen er durch seinen Einfluß zu verändern versucht. Dabei ist selbstverständlich entscheidend, mit welchen Inhalten sich seine erzieherische Absicht verbindet: ob es um Anpassung geht, um die Übernahme von Vorbildern und Idealen, um das Vermitteln -
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90
Peter André Bloch
moralisch-ethischen Kategorien, um das Schaffen eines eigenen Bewußtseins für selbständige Entscheidungen, im Wissen der Möglichkeiten eigener Freiheit; um die Annahme vorgegebener Voraussetzungen oder um deren Veränderung durch eigene Kraft. Dazu braucht es Einsicht, gewachsene Selbständigkeit und Verantwortung für sich und für andere; allenfalls auch Mut zum Widerstand, zur tragischen Opferbereitschaft. von
Nietzsches Erziehungsgedanken im Kampf gegen Dekadenz D. h. es gibt verschiedene Stufen des Selbstverständnisses, das sich mit der eigenen Reife, aber auch aufgrund wechselnder persönlicher Situationen und Einflüsse wandelt, was sich im eigenen Verhalten zu sich selbst und zu den andern spiegelt, nicht zuletzt auch im Bild, das die andern von einem haben. Ich möchte Nietzsches Persönlichkeit aufgrund seines pädagogischen Selbstverständnisses in seiner Wirkung auf die Umwelt untersuchen, in bezug auf die von ihm vermittelten Wertvorstellungen und deren Vermittlung, gegenüber Familie und Freundeskreis, aber auch gegenüber Schülern, Studenten und Leserschaft, im praktischen Umgang mit Menschen, aber auch in den entsprechenden Möglichkeiten seines Schreibverhaltens. In seinen Briefen und Aussagen, in Werk und Nachlaß kommt er wieder auf die Grundfigur des Lehrenden zurück. Es gibt Zitate, die seine Verantwortung umschreiben, kritisierend in Frage stellen, oft in direkten Aussagen, dann wieder in rollenhaft-indirekten Parodien, ja provokant wirkenden Urteilen. Es kommt dabei auch darauf an, an wen Nietzsche bei der Erziehungsfrage denkt: an das einfache Volk, das er auf sich selbst bezogen sieht und in einfacheren Verhaltensstrukturen beläßt, oder an den großen Einzelnen, den er als Genius bezeichnet und als Teil einer neuen Aristokratie versteht, verantwortlich für das kulturelle Erbe und dessen Weiterentwicklung, im Sinne einer zutiefst patriarchalischen Verpflichtung. Dabei gibt es Äußerungen, die einen zutiefst erschrecken, weil das Vokabular durch den späteren Nationalsozialismus rassistisch und ideologisch verengt wurde, das von Nietzsche selbst im Zusammenhang mit der Diskussion Darwinscher Thesen immer wieder argumentativ verwendet wird, oft tatsächlich in provokativ-undemokratisch-elitärer Sehweise, wie immer man es dreht und wendet: so die „Ünwörter" Züchtung, Rasse, Sklavenmoral, Untermensch, Inferiorität etc. Vor allem im Nachlaß gibt es viele Nótate, die in sich mehrdeutig sind, weil ihnen als Gedankensplitter der Kontext einer Gedankenentwicklung fehlt, wie sie von Nietzsche in seinen Werken sorgfältig, in dialektischer Verdichtung, angelegt ist: Hier zwei Beispiele aus dem Bereich der Erziehung, bei denen man aufgrund ihrer Pointiertheit geneigt ist, spontan zuzustimmen oder aufgrund ihrer unverhüllten Grausamkeit entsetzt abzulehnen: „Auf Verengerung der Bildung führt jetzt die Arbeitstheilung der Wissenschaft und die Fachschule. Bis jetzt ist allerdings die Bildung nur schlechter geworden. Der fertig gewordene Mensch ganz abnorm. Die Fabrik herrscht. Der Mensch wird Schraube." (KSA, NF 7, 298) „Wenn ein inferiorer Mensch seine alberne Existenz, sein viehisch dummes Glück als Ziel fasst, so indignirt er den Betrachter; und wenn er gar andere Menschen zum Zwecke seines Wohlbefindens unterdrückt und aussaugt, so soll man so eine giftige Fliege todtschlagen." (KSA, NF 11, 101) Es geht mir nicht etwa um eine Nietzsche-Apologie, sondern um die Darlegung einiger grundsätzlicher Ideen und Vorschläge, die er nicht nur als reine Theorie erfand, sondern aufgrund persönlicher Erfahrungen und existentieller Krisen entwickelte, mit dem Ziel einer
Der Dichter als Lehrer
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Veränderung und Modernisierung des Erziehungssystems im Kampf gegen Dekadenz und Langeweile, gegen Vermassung und die Instrumentalisierung des Einzelnen, gegen unkon-
trolliertes Machtdenken und konsumhaft-passive Selbstgenügsamkeit. Dafür brauche ich den direkten Bezug zu seinen Lebenserfahrungen, weil er sich selber als Opfer eines ganz bestimmten Erziehungssystems verstand und aus seinen Erkenntnissen für sich und sein Werk persönlich die Konsequenzen zog.
Erfahrungen in Kindheit und Jugend Nietzsches Berufung als Lehrer wurde ihm gleichsam in die Wiege gelegt: Sein Vater war Pfarrer, erteilte Religionsunterricht und war als Anhänger der pietistischen Erweckungstheologie fest überzeugt, daß es seine unbedingte Aufgabe sei, die Mitmenschen durch seine Lehr- und Predigertätigkeit wie auch durch sein persönliches Vorbild zu gottesfürchtigen, glücklichen Menschen zu machen.' Er erzog seinen ersten Sohn in christlicher Strenge zu selbstkritischer Gewissensforschung und einer möglichst harmonischen Integration in seine Umwelt. Nicht Auffallen und durch Intelligenz, Fleiß und Ausdauer öffentliche Anerkennung erwerben, war seine Devise. „Was, meinst Du, soll aus diesem Kindlein werden?" So lautete der Taufspruch, den er nach Lukas I, 66 für Friedrich Wilhelm auswählte, um von Anfang an die Bestimmung dieses sehnlichst erwarteten Sohnes zu erfragen, dem er bereits im fötalen Zustand stundenlang Beethoven und Mozart vorspielte, um ihm möglichst früh die Prinzipien von Schönheit und Harmonie, von Maß und Ordnung zu vermitteln, bevor ein eigentliches persönliches Selbstbewußtsein vorhanden war. Er erwartete in ihm einen lenksamen und fleißigen Menschen, dem es um ein tüchtiges, sinnvolles Leben gehe.2 Sein Tod bedeutete für den fünfjährigen Sohn einen unvergeßlichen Einschnitt, machte aus ihm, dem kleinen Halbwaisen, etwas Besonderes. In Traumbildern wurde er von besonderen Angst-Visionen heimgesucht, die sich später tatsächlich wie ein zweites Gesicht erfüllten.3 Er wußte nun in seinem pietistischen Glauben, daß er für ganz außerordentliche Aufgaben vorgesehen war, glaubte sogar, selbst Gott gesehen zu haben, als den Stellvertreter seines Vaters, seinen Lenker und Fürsorger. Früh stand für alle fest, daß er wie sein Vater Pfarrer werden würde, und man nannte ihn hinter seinem Rücken bereits „den kleinen Pastor". Als Musterkind hatte er Vorzeigecharakter: an Familienfeiern selbstgemachte Gedichte vortragend, selbstkomponierte Werklein vorspielend, Erinnerungen an seinen Vater zelebrierend.4 Fast immer erschien er in Begleitung der kleinen Schwester Elisabeth, die er unablässig freundlich schulmeisterte; er entwarf Kinderspiele für sich, seine Schwester und seine Freunde, gefiel sich am Aufstellen eigener Spielregeln, die er für alle schriftlich festhielt.5 Früh war ihm ...
1 2
Vgl. Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie. Bd. I, München 1978,43 f. Vgl. Peter André Bloch, ,„Aus meinem Leben'. Der Selbstporträtcharakter von Nietzsches frühen Lebensbeschreibungen: Selbstdialog als Selbstbefragung", in: Nietzscheforschung, Bd. 2, Berlin 1995,61-94; vgl. dazu auch Mazzino Montinari, „Nietzsches Kindheit und Jugend", in: Friedrich Nietzsche. Eine Einführung, Berlin
1991, 14 ff. 3 Peter André Bloch, ,„Aus meinem Leben'", 72 ff. 4 Vgl. Johann Figl, „Geburtstagsfeier und Totenkult. Zur Religiosität des Kindes Nietzsche", in: Nietzscheforschung, Bd. 2, Berlin 1995, 21-34. 5 Vgl. die Sammlung authentischer Erinnerungen an Nietzsche, in: Begegnungen mit Nietzsche, hg. v. Sander L. Oilman, unter Mitwirkung von Ingeborg Reichenbach, Bonn 1981, 4 f.: Elisabeth Förster-Nietzsche erzählt in ihren Erinnerungen, wie sehr sich ihr Bruder in der damaligen Knabenbürgerschule von seinen Kameraden
Peter André Bloch
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bewußt, daß er in sich mehrere unterschiedliche Bewußtseinsschichten besaß, mit denen er denkend und träumend, vor allem auch schreibend, spielen konnte. Besonders Großvater Oehler pries die Begabungen seines ältesten Enkels; er sei das „ungewöhnlichste und begabteste Kind, das" ihm in seinem „ganzen Leben vorgekommen" sei.6 Auch sein Jugendfreund Wilhelm Pinder ist voller Bewunderung für die außerordentlichen Grundzüge seines Charakters:
„Von frühster Kindheit an liebte er die Einsamkeit und hing da seinen Gedanken nach, er mied gewissermassen die Gesellschaft der Menschen und suchte die von der Natur mit erhabener Schönheit ausgestatteten Gegenden aus. Er hatte ein sehr frommes, inniges Gemüth und dachte schon als Kind über manche Dinge nach, mit denen andere Knaben seines Alters sich nicht beschäftigten [...] So leitete er auch alle unsere Spiele, gab neue Methoden darin an und machte dieselben dadurch anziehend und mannigfaltig [...] Ausserdem besass er einen sehr lobenswerthen, gleichmässigen Fleiss und diente mir auch darin wie in allem andren zum Muster [...] Schon von Jugend aufbereitete er sich auf den Stand vor, den er später einnehmen wollte, nämlich das Predigeramt [...] Er hatte immer ein sehr ernstes, und dabei doch freundliches und sanftes Wesen und ist mir bis jetzt ein sehr treuer und liebevoller Freund gewesen [...] wenn er etwas that, so hatte er immer einen bestimmten, wohlbegründeten Grund. Dies äusserte sich besonders bei den Arbeiten, die wir zusammen anfertigten, und wenn er etwas hinschrieb und ich mit ihm darin nicht gleich übereinstimmen konnte, so wüsste er es mir stets auf eine klare, fassliche Weise auseinander zu setzen".7 In Anwesenheit Nietzsches
Schul-Referendar in seinen
getrauten sich Kameraden kaum zu fluchen, hält ein ehemaliger
Erinnerungen fest:
„Einmal habe sich ein Junge auf den Mund geklopft und ausgerufen: ,Nein, das kann man vor Nietzsche nicht sagen !' ,Was thut er Euch denn?' habe er gefragt. ,Ach, er sieht Einen so
an, da bleibt Einem das Wort im Munde stecken.'
...
Nietzsche sei ihm wie der zwölf-
jährige Jesus im Tempel erschienen; und er sei fest überzeugt gewesen, dass aus ihm noch einmal etwas ganz Grosses würde ..."8
Frühe Übungen in
Selbstbetrachtung
er zum Verfasser eigener Lebensdarstellungen, im Sinne einer pietistischen Selbstbetrachtung. Über sich selber geneigt, gab er sich Rechenschaft über die bedeutungs-
Früh wurde
unterschied, die durch den strömenden Regen nach Hause rannten, während er selbst um das Schulgesetz zu erfüllen; „ruhig und gesittet nach Hause" schritt und deshalb völlig durchnäßt daselbst ankam. Sie beschreibt ihre gemeinsamen Kinderspiele, vor allem Fritzens außerordentliche Phantasiehaftigkeit und Begabung, z. B.: „Zu Weihnachten schenkte er Grossmütterchen eine kleine, selbst componirte Motette, die wir heimlich in der Kinderstube geübt hatten und nun sogleich am Weihnachtsabend vortrugen. Der Text, der dieser Composition zu Grunde lag, war der Bibelvers: ,Hoch thut Euch auf, ihr Thore der Welt, dass der König der Ehren einziehe.' Worte und Musik rührten sämmtliche Familienmitglieder zu Thränen." (S. 5-6). 6 Sander L. Gilmann (Hg.), Begegnungen mit Nietzsche, 8. -
7 8
Ebd., 14 f. Ebd., 30 f.
Der Dichter als Lehrer
93
volle Andersartigkeit seines Lebens,9 erfuhr sich als erlebendes und sich und seine Erfahrungen beschreibendes und seine Möglichkeiten entwerfendes d. h. mehrdimensionales Ich. Mit 17 Jahren hatte er bereits mehrere autobiographische Aufsätze verfaßt, schließlich sogar ein umfangreiches Schriftwerk, das er zum Abschied von Schulpforta der Schulleitung übergab, mit der Angabe seiner Berufswünsche und Lebensziele.10 In ihnen kommt zum Ausdruck, wie bewußt der junge Nietzsche dachte, wie zielgerichtet er sein Leben einrichtete, welches seine Lern- und Lebensziele waren und wie sehr er sich für sich selber, für seine Freunde und Verwandte verantwortlich fühlte. In kritischer Selbstbefragung entwickelte er eigentliche Verhaltens- und Denkmodelle, die er methodisch seinem ganzen künftigen Studium und Schaffen zugrundelegen wollte und später tatsächlich, in weit tieferem Ausmaß, als hier angedeutet, realisierte, indem sich sein entworfener Lebensplan systematisch zum künstlerischen Programm verdichtete. Sein Ziel ist es, über das Anschauliche hinweg das Wesentliche zu begreifen. Bestand seine bisherige Lebenshaltung in der wissensdurstigen Suche nach seinem Selbst im Verhältnis zum Göttlichen und zur Gesellschaft, durch Lernen und eigenes schöpferisches Schaffen und Denken, so wandelt sich sein theologischer Standpunkt nun zu einem philologischen: Durch genaue Wissenschaftlichkeit glaubt er seine Persönlichkeit zur vollen Entfaltung zu bringen, auf dem Weg zur Wahrheit des Erkennens, was den Menschen zu einem denkenden, selbstverantwortlichen und wissenden Wesen macht, in voller Kenntnis der eigenen Geschichte und seiner Abhängigkeiten von Denk- und Verhaltensmechanismen, in die er hineingeboren wird. -
-
Ansprüche an sich und die andern Nietzsche schien keinen Zweifel an seinen universitären Vorhaben zu haben; er vertrat sein neues Selbstverständnis mit großer Selbstsicherheit; allerdings zeigen Krankheitssymptome, wie stark er noch zwischen Theologie und Philologie schwankte und wie sehr er durch eigene Schöpferkraft, durch Gedichte und Kompositionen, eine ausgleichend-kreative, synthetische Selbstbestätigung suchte und auch fand. Die Rigorosität der Ansprüche an ihn selbst spiegelt sich auch in seinem selbstbewußt-kritischen Auftreten gegenüber Freunden und Kollegen, besonders gegenüber den Mitgliedern des wissenschaftlich-künstlerischen Freundesbundes „Germania", Wilhelm Pinder und Gustav Krug. Indem er ihnen in seinen Besprechungen fehlende Begabung und mangelnden Eifer vorwirft und von ihnen stärkeren Fleiß und größere Leistungen fordert, weckt er in ihnen bald Desinteresse und Mutlosigkeit, so daß sie bewußt darauf ausgehen, ihren schulmeisterlichen Freund zu rühmen und zu weiteren Werken anzuspornen, um ihn mit sich selber zu beschäftigen und in seinem Windschatten ihre Ruhe zu haben." Fast alle späteren Freunde an der Universität singen das Lied des treuen, liebevollen Freundes, der sich ihnen gegenüber von größtem Interesse zeigt, aber in seinen Urteilen über sie oft verletzend-aggressiv wirkt: Sowohl Erwin Rohde wie Peter Gast, Franz Overbeck, vor allem auch Richard Wagner werden einesteils mit Lob überhäuft, und Nietzsche läßt 9 Peter André Bloch, ,„Aus meinem Leben'", 80 und 88. 10 Ebd., 87 ff. 11 Vgl. Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie. Bd. I, München 1978, 108; auch: Martin Havenstein, Nietzsche als Erzieher, Berlin 1922, 16 ff. ; ferner mit Kritik an Havenstein: Reinhard Löw, Nietzsche als Sophist und Erzieher, Weinheim 1984, 148 ff; Mazzino Montinari, „Die Basler Zeit", in: Friedrich Nietzsche. Eine Einführung, Berlin 1991, 51 ff.
Peter André Bloch
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nichts unversucht, sie an sich zu binden, bis er in plötzlicher Ernüchterung und Distanz ihre Unzulänglichkeiten in scharfen Formulierungen und Vorwürfen denunziert: Von seiner imperativ-zurechtweisenden Art weiß auch sein Studienfreund Paul Deussen zu berichten, nach sechsjährigem Zusammensein in Schulpforta und Bonn; vor allem über Nietzsches Ungehaltenheit, ihm nicht nach Leipzig zu folgen, sondern nach Tübingen zu gehen:
„Als ich eines Abends im August 1865 Nietzsche zum Nachtdampfer geleitete, auf dem er
seine Abreise antrat, da beschlich mich ein schmerzliches Gefühl der Vereinsamung. Daneben aber atmete ich erleichtert auf, wie einer, von dem ein schwerer Druck genommen wird. Nietzsches Persönlichkeit hatte in den sechs Jahren unseres Zusammenlebens einen mächtigen Einfluss geübt. Er hatte meiner Lage stets ein aufrichtiges Interesse gewidmet, zeigte aber eine Neigung, mich überall zu korrigieren, zu hofrneistern und gelegentlich recht sehr zu quälen, wie sich dies bei unserem weiteren brieflichen Verkehr vielleicht noch deutlicher herausstellte. Da er fürchtete, ich möchte in die Theologie zurückfallen, so setzte er mir in den ersten Briefen unablässig zu, nach Leipzig zu kommen, das theologische Bärenfell abzustreifen, wie er sich später einmal ausdrückte, und mich als jungen philologischen Löwen zu gebärden".12
Nietzsches kompromißlose Wahrhaftigkeit ließ ihn seine Urteile unbestechlich fallen, seine Gedanken unentwegt weitertreiben, bis in seine so endgültig wirkenden Formulierungen und persönlich irreversiblen Lebensentscheidungen hinein, auf wissenschaftlicher, literarischkünstlerischer, aber auch persönlich-privater Ebene, und dies mit endgültiger Konsequenz. So hielt er es im Studium, so beim Formulieren seiner wissenschaftlichen Arbeiten, so im Umgang mit Menschen auf der Ebene von Kunst und Wissenschaft. Diese Stringenz beeindruckte seine Mitstudenten und Professoren; und diese beeindruckende geradezu charismatische Sicherheit war es auch, die Professor Ritschi bewog, ihn der Universität Basel als große wissenschaftliche Hoffnung zur Berufung zu empfehlen. -
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Wirkungskreise Jeder Erzieher, jeder Kritiker und Veränderer, braucht ein genau definiertes Wirkungsfeld, an das er sich wendet und dessen Reaktionen er einschätzen und berechnen kann. Nietzsche brauchte in der Tat stets einen Kreis um sich, um sich in der Diskussion mit jemandem und im Arbeiten für jemanden zu engagieren. Wußte er sich als Jugendlicher ganz natürlich im kleinen Kreis seiner Familie und einigen wenigen Freunden aufgehoben, so umgab er sich in Schulpforta bewußt mit Gleichgesinnten und kulturell-künstlerisch Interessierten, an der Universität Bonn neben dem eher mißglückten Versuch mit der Burschenschaft Franconia vor allem mit den für ihn beglückenderen Gesangvereinsmitgliedern, in deren Gegenwart er das Gefühl geistig-musischer Zusammenarbeit empfand. In Leipzig gründete er auf Anraten Prof. Ritschis den „Philologischen Verein", in Basel schuf er um sich wiederum einen Freundeskreis von innovativ denkenden Kollegen und Studenten, von Brieffreunden und Wandergefahrten. Und immer wieder liebäugelte er mit der Gründung einer einer neuen griechischen Akademie, einer eigenen Bildungsanstalt, wenn möglich in einer kleinen Schloßanlage in der -
12 Sander L. Gilmann
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(Hg), Begegnungen mit Nietzsche, 60 f.
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Der Dichter als Lehrer
Nähe Italiens, im Sinne einer Bruderschaft von Auserwählten, die sich vor allem mit Fragen der Bildung und Erziehung befaßten, im Sinne der Turmgesellschaft in Goethes Wilhelm Meister; im Mai 1873 dachte er dabei vor allem an eine freundschaftliche Zusammenarbeit mit Erwin Rohde, Carl von Gersdorff, Paul Deussen, Franz Overbeck, Richard Wagner, Cosima, Prof. Ritschi, Malwida von Meysenbug, Jacob Burckhardt.13 Bis zuletzt hielt er am Gedanken einer solchen Bildungsgemeinschaft fest, pflegte einen intensiven Briefkontakt mit entsprechenden Persönlichkeiten, vor allem mit ehemaligen Schul- und Universitätsfreunden, Künstlern, auch ehemaligen Schülern. Es gab Zeiten, in denen er für den Postversand mehr Geld ausgab als für den eigenen Unterhalt! Nietzsche dachte unablässig an seinen geistigen Bildungsauftrag; lange hoffte er neben seiner Universitätstätigkeit -, im Kreise von Richard Wagner die ihm entsprechende, lang ersehnte gemeinschaftsstiftende Kunstgemeinde zu finden, was sich indessen wegen deren Theatralik, d. h. wegen ihrer veräußerlichenden, ihm reaktionär scheinenden Wirkungsbewußtheit, zerschlug. Wohl ging es auch ihm um Wirkung, aber um eine prospektive, das Bewußtsein befreiende und damit den Menschen in die Unabhängigkeit und Selbsttätigkeit führende Persönlichkeitsentfaltung, nicht um passives Erleiden göttlich-mythischer Fremdbestimmung. Wahre Wissenschaft, d. h. Wissen und Reflektieren in Freiheit, im Sinne einer möglichst umfassenden philosophischen Standortbestimmung, bildete für Nietzsche die geistig notwendige Grundlage für das eigene schriftstellerisch-künstlerische Schaffen. Dabei sollte es nicht etwa nur bei der wissenschaftlichen Selbsterkenntnis bleiben, sondern zu deren Vermittlung für andere kommen. Es geht ihm um das Durchschauen von Grundgesetzen, um das Erlernen von Denk- und Erkenntaismethoden, mittels derer man die eigene Situation begreifen und verändern kann. In dieser Überzeugung sah er sich vorerst im Kreis seiner Nächsten wie auch später in zunehmendem Masse im größeren Kreis seiner Zeitgenossen aufgerufen, seine Erkenntnisse weiterzugeben, im Kampf gegen überholtes, schädliches, den Menschen in die Dekadenz führendes politisches, philosophisches, gesellschaftliches wie künstlerisches Fehlverhalten. Für ihn wurde es zur immer größer werdenden, geradezu zwanghaften Verpflichtung, daß sich in ihm neben der reflexiv-lehrhaften Tätigkeit ganz selbstverständlich auch eigenes kreativ-künstlerisches Schaffen entfalte. Wissenschaft und Kunst sollten gemeinsam den Menschen zu sich selbst, zur Wahrheit der eigenen Individualität, führen, jenseits aller Hierarchien und Traditionen, die ihn mitbestimmend zu paralysieren versuchen. -
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Satirisches Reflektieren über das Bildungswesen Im
Übergang vom Schüler zum Studenten und dann wiederum vom Studenten zum Lehrenden
legte sich für Nietzsche eine Folie des Wahrnehmens über die andere; und jedesmal gab er sich in entsprechenden Niederschriften davon Rechenschaft: so tagebuchhaft-autobiographisch in den bereits erwähnten frühen Lebensbeschreibungen; so dann wieder in Basel in rasch sich folgenden Vorträgen und Veröffentlichtungen, die im Grunde nichts anderes sind als Selbstreflexionen über Bildung und Selbsterkenntnis in den unterschiedlichen Formen von kreativem Umgang mit Kunst und Reflexion, auf dem Weg des Menschen zu sich selbst. Welche Rolle spielen dabei die Universität, welche die Kirche oder der Staat, für die ihnen auferlegte 13 Ebd., 199.
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Peter André Bloch
Emanzipation des Menschen zu sich selbst? Er begriff, daß ihnen das Prinzip der Selbsterhaltung und Machterhaltung wichtiger war als die Befriedung des menschlichen Bedürfnisses nach Bildung und Entwicklung eigener kultureller Tätigkeiten. Er dachte in seinen Vorträgen über das Problem von Bildung und Erziehung nach, z. B. in Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten (1872 verfaßt, Nachlaß), setzte sich mit zunehmender Entrüstung mit den entwicklungshemmenden Erziehungseinflüssen in den Unzeitgemässen Betrachtungen auseinander, wobei es ihm vor allem um die Ergründung der Behinderung der kreativen Selbsttätigkeit des jungen Menschen ging, durch falsche Belehrung infolge permanenten Zurückbückens in die Vergangenheit, durch einseitige Beeinflussung durch Vorbilder der Vorzeit, durch Manipulation des Studierenden mittels ethischer und ästhetischer Vorurteile, vermittelt durch bewußt die natürlichen Anlage behindernde Erziehungsmethoden der bestehenden hierarchischen Institutionen. Den versprochenen 6. Vortrag zur Bildung und Erziehung, der die Unzeitgemässen Betrachtungen hätte abschließen sollen, erschien indessen
nie, und auch der letzte Teil der zweiten Unzeitgemässen, in welcher er vor allem den Geschichtsunterricht an Universität und Schule in Anlehnung an Jacob Burckhardt untersuchte und in satirischen Auführungen in Frage stellte, kam über die Kritik kaum hinaus. Als Vorschläge blieb es beim Gnoti sauton, beim proklamierten Blick in die Zukunft, jedoch ohne genaue weitere praktische Anweisungen; es sei denn, man denke an Schillers Definition der Satire als negativer Darstellung des Ideals. Man muß sich die positiven Vorschläge in einzelnen Nebenausführungen zusammensuchen, auch in Briefen und vor allem in den andern vor allem wissenschaftspublizistischen Veröffentlichungen. Der junge Mensch sollte sich wieder wie früher bei den Griechen unvermittelt den Wirkungen existentieller Kunstwerke aussetzen können, nicht nur durch abgeleitetes Wissen und Analysieren, sondern durch unmittelbar-ungebrochenes geradezu visionäres Nachvollziehen in Körper und Geist. So wie er es selber in seinem zum Teil sehr angefeindeten, als unwissenschaftlich verschrieenen Werk Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik entwickelte; Malwida von Meysenburg beschrieb in ihren Erinnerungen die Wirkung dieses spannungsvollen, avantgardistischen Wurfs aufgrund eigener Anschauung und gemeinsamer Diskussionen mit Wagner und Cosima -
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wie
folgt:
„Was uns Alle aber noch mehr anzog als die Gelehrsamkeit des gründlich mit dem Alterthum Vertrauten, war die Geistesfülle und Poesie in der Auffassung, das errathende Auge des dichterischen Menschen, welcher die innere Wahrheit der Dinge mit seherischem Blicke begreift, da, wo der pedantische Buchstabengelehrte nur die äussere Schale fasst und für das Wesentliche hält."14
Bildung bedeutete für Nietzsche nicht Reproduktion von auswendig gelerntem Wissen, nicht Wiederholung von angepaßt Übernommenem, sondern bedeutete für ihn Mut zu eigener Kreativität, zum aktiven Erarbeiten eines eigenen Kunstverstandes und damit zur eigenen Verwirklichung in der Geschichte durch die selbständige Durchsetzung eigener Vorstellungen und Ideale. Durch befreiend-verpflichtende Selbsterkenntnis und durch den konsequenten Bruch mit der Übermacht der Tradition, durch die Überwindung seiner selbst. In der Theorie war Nietzsche also ein Vertreter von neuen Erziehungsmethoden in klarer Absage an die einseitigen Lern- und Paukschulen, wie er sie selbst am eigenen Leib erfahren hatte, ergänzt 14 Sander L. Gilmann
(Hg.), Begegnungen mit Nietzsche,
188 f.
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Der Dichter als Lehrer
allerdings in bewußter Gegenläufigkeit durch künstlerische Selbsttätigkeit, Infragestellung und persönlichen Gedankenaustausch.
kritische
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Zwischen Theorie und Praxis In Basel stellte er als Professor und als Erzieher in der Tat eine Art Doppelfigur dar, wie sie in den Erinnerungen seiner Kollegen, Studenten und Schüler festgehalten ist.15 Einige begriffen ihn in der traditionellen Rolle des Schulmeisters, die andern begriffen, daß sie einen außerordentlichen Künstler vor sich hatten. In den Äußerungen seiner Schüler und Studenten gab er sich selbstbewußt-gewandt, agil, wirkte mit sich eins, jugendlich-engagiert, überzeugend, begabt, genial; andere bemerkten seine Unbeholfenheit durch seine Sehbehinderung und Umständlichkeit; sie empfanden seinerseits eine gewisse Hemmung ihnen gegenüber, die er durch Freundlichkeit und Verständnis aufzuheben suchte. Allen fiel seine betont modehaftelegante Kleidung auf, und man mokierte sich etwas über seine sorgfältige Körperpflege. Er wirkte als unentwegter Wanderer, orientierter Kunstkenner, bekannter Publizist. Man begriff, daß man eine ich-hafte, begabte, in sich genialische Persönlichkeit vor sich hatte, oft leidend an Migräne, Krankheiten und Überforderungen aller Art, was sich im Lauf der Jahre steigerte, so daß er einen jährigen Urlaub nahm, was schließlich zu seiner völligen Beurlaubung führte. Als Lehrer am Pädagogium litt Nietzsche unter der Mittelmäßigkeit seiner Schüler, unter der Anforderung des Vermitteins einfacher Grundlagen; nie aber verteilte er Strafen oder gar extreme Zensuren: Er versuchte das Selbstbewußtsein seiner Untergebenen zu fördern, interessierte sich für ihren Fortgang, lud sie gerne zu einem Tee zu sich nach Hause ein oder zu gemeinsamen Spaziergängen, was ihn auch aufgrund seiner Jugend zu einer beliebten, manchmal etwas belächelten Lehrerpersönlichkeit machte. Eine kleine Anekdote mag seine ambivalente Wirkung auf seine Schüler verdeutlichen und auf die große Spannung zwischen Theorie und Praxis hinweisen, die in seiner weltfremden Freundlichkeit gegenüber den Schülern gründet, in seinem blinden und daher auch mißbrauchten Vertrauen. Es handelt sich um die unbekannten Erinnerungen eines seiner Maturanten, die dem Nietzsche-Haus in SilsMaria letzthin geschenkt wurden und bisher noch in keiner Dokumentation erschienen16 und die zweifellos jedem Pädagogen ein Lächeln abgewinnen. Viel zahlreicher sind indessen die wirklich rührenden Zeugnisse von Anhänglichkeit und Treue gegenüber einem Menschen, der den Schüler ernst genommen hat und alles tat, um ihn zur Selbstverantwortung zu führen. Man denke an die Lieder für Freundinnen und Freunde in Naumburg und Schulpforta, an die parodistischen Kompositionen für die Franconia in -
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Vgl. Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, 327 ff, 515 ff. sowie Sander L. Gilmann (Hg), Begegnungen mit Nietzsche, 138 ff. 16 Alfred Brüstlein, „Nietzsche am Pädagogium", in: Basler Nachrichten, 14. Mai 1961. „Welchem Lehrer wäre es noch nie so ergangen, wenn vielleicht auch nicht ausgerechnet in einer so entscheidenden Abiturprüftmg? Kann man daran nicht auch etwas von Nietzsches Ambivalenz erkennen: seine redliche Überzeugung, auf die Idealität des Menschen zählen und mit seinem inneren Antrieb zu Höherem, Besserem rechnen zu können; auf der andern Seite: der spielerische Wille der Schüler zur Umgehung der Anstrengung, ihr Wille zur guten Note auf leichtem, wenn auch illegalem Weg. Was bleibt, ist das schlechte Gewissen; das Bewußtsein, die Gutgläubigkeit des Lehrenden betrogen zu haben [...] Interessant vollends Nietzsches Bemerkung, daß ausgerechnet die Dummen Demosthenes am nächsten kamen, allerdings ohne zu bemerken, daß sie im Gegensatz zur Vereinbarung nicht einmal fähig gewesen waren, ihren eigenen Text von der Vorlage abzuheben und mit Fehlern und bewußten Missverständnissen zu versehen." 15
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Bonn, für seine Freunde in Leipzig und schließlich für die Basler Theologen, in welchen es
Anspielungen und lustigen Einfallen nur so wimmelt, wo These und Antithese contrapunktisch-humoristisch aufeinander prallen und wo im gemeinsamen Gelächter, denke ich, ein von
wirkliches Einverständnis zwischen Lehrer und Studenten zustande kam, im gemeinsam Engagement miteinander zu arbeiten und zu feiern, so wie er es von zu Hause aus auch
gewöhnt war.17
Patria In die Basler Zeit fällt auch das kummervolle Kapitel von Nietzsches freiwilligem Militärdienstzeit, wo er das Rektorat der Universität um Urlaub ersuchte, um nach Religio und Scientia noch den dritten Appell seiner Jugenderziehung in Wirklichkeit umzusetzen: Patria. Wie wir wissen, komponierte er unterwegs wie er Cosima schrieb sogar ein Soldatenlied in der Begeisterung des Aufbruchs, glaubend, daß es im Sinne von Jacob Burckhardt wichtig sei, sich in einer Gemeinschaft zu integrieren, mit Vorbildcharakter und in leitender Funktion. Auch hier allerdings wieder der ernüchternde Gegensatz: seine unpraktisch-weltfremde Art, seine Untauglichkeit im Gewalttätigen, sein eigenes Krankwerden in der Begegnung mit Leid und Gewalt, seine Schuldgefühle wegen begangener Kulturfeindlichkeit.18 -
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Aufgabe der Professur Mir geht es darum, Nietzsche in seiner gespannten Beziehung zur damaligen Umgebung zu zeigen; wie sehr er allen Eindrücken und Verpflichtungen verbunden blieb, sich damit aus-
einandersetzend, ernsthaft, literarisch und auch berufsmäßig, so etwas wie Ganzheitlichkeit anstrebend, zu Konzessionen bereit, darunter leidend, immer wieder zurückfallend in Krisen und Krankheit, in Selbstvorwürfe und Fluchtversuche durch Wanderungen, Reisen, Ausbrüche, im Versuch, daraus hinauszuwachsen, um sich selber zu werden. Ich denke, diese Bereitschaft, Schwankungen auszuhalten, für sich zu reflektieren und in immer stärkerem Maße zu verabsolutieren, entspricht in hohem Maße der Entwicklungsphase der Pubertät, die Nietzsche suchenderweise und tabulos durchlebte, weshalb er mit seinen Problemen in den ihm umgebenden Jugendlichen auf großes Echo und mit seinen Krisen auf verständnisvolle
Teilnahme stieß. Martin Havenstein wie auch Mazzino Montinari sprechen von Nietzsche als einer geborenen Lehrerpersönlichkeit, bei dem auch „die ,Faulsten fleissig' waren, ohne dass er je eine Strafe zu verhängen nötig hatte",19 während Reinhard Löw (Nietzsche als Sophist und Erzieher2") mit Nachdruck daraufhinweist, daß sich Nietzsche in Praxis und Theorie vor allem für die Ausbildung von Eliteschülern, von besonders Begabten und großen Einzelnen interessierte, für große Führergestalten und politisch Verantwortliche und Künstler, die ihre
Vgl. Friedrich Nietzsche, Der musikalische Nachlaß, hg. im Auftrag der Schweizerischen Musikforschenden Gesellschaft von Curt Paul Janz, Basel/Kassel 1976. 18 Vgl. dazu Nietzsches Brief an Carl von Gersdorff vom 21. Juni 1871 über die Frage der persönlichen Schuld im Kampf gegen die „Cultur", anläßlich des Deutsch-Französischen Krieges. 17
19 Martin Havenstein, Nietzsche als Erzieher, 15 f. 20 Vgl. Reinhard Löw, Nietzsche als Sophist und Erzieher, 167 ff.
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Zeit vorwärts bringen. In der Tat geht es Nietzsche immer wieder um die Auswahl der Besseren, der Gebildeten und Fähigen, mit dem Ziel ihrer vollkommenen, idealen Selbstfindung und Entfaltung in einer nicht-idealen Wirklichkeit, die es zu überwinden gilt. So entschied er sich denn selbst mit der Aufgabe der Lehrtätigkeit an Pädagogium und Universität für die Herausforderung an seine ihm am wichtigsten scheinende eigene Begabung. Und wie er in einem ersten Schritt die Theologie und die Heimatlichkeit hinter sich gelassen hatte, so nun in einem zweiten auch Schule und Wissenschaft, um fortan ganz seiner Kunst zu leben, um sich nicht mehr bloß mit Ausschnitten und Teilwerk zu befassen, sondern mit dem Ganzen: mit der Situation des geistigen Menschen in der entgötterten Welt der Materie, in der Überwindung der relativierenden Kräfte durch das Absolute. Es geht um den Schritt ins reine Künstlertum, in welchem Philosophie und Dichtung zusammenfallen: um die Umstilisierung des Relativen ins Absolute, um den Kampf gegen die Begrenzung durch Lüge, durch Betrug, durch einen falsch verstandenen relativierenden, im Dienste der traditionellen Hierarchien stehenden Moralbegriff. Parodistisch hat Nietzsche das Thema des verdummenden Universitätsbetriebs später in der Götzendämmerung, in der Satire der „Doctor-Promotion", Steifzüge eines Unzeitgemässen 29, wieder aufgegriffen, welche deutlich macht, mit wieviel Selbstironie und Sarkasmus er an diesen Lebensabschnitt zurückdachte: -
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Was ist die Aufgabe alles höheren Schulwesens?' Aus dem Menschen eine Maschine machen. ,Was ist das Mittel dazu?' Er muss lernen, sich langweilen. ,Wie erreicht man das?' Durch den Begriff der Pflicht. ,Wer ist sein Vorbild dafür?' Der Philolog: der lehrt ochsen. ,Wer ist der vollkommene Mensch?' Der Staats-Beamte. ,Welche Philosophie giebt die höchste Formel für den Staats-Beamten?' Die Kant's: der StaatsBeamte als Ding an sich zum Richter gesetzt über den Staats-Beamten als Erscheinung. -" (KSA, GD 6, 129 f.) „,
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zu
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„Werde, der du bist" Zwischen Weltsinn und Zeitgeist -
Mit Nietzsches Aufgabe der Basler Professur und seiner Tätigkeit als Schriftsteller kommt es in seinem Denken zu einer starken Individualisierung der Fragestellungen. Selbstverständlich bleibt er in seiner Argumentation immer noch zeitbezogen, versucht aber immer stärker zwischen Zeitgeist und Weltsinn zu unterscheiden, d. h. die Besonderheiten aktueller Probleme vor dem Hintergrund der großen philosophischen Entwicklung zu sehen, die auf die Individuation des großen, für sich selbst verantwortlichen Menschen, des Typus des Übermenschen, hinzielt. In kühner Umkehrung seines Taufspruchs „Was soll aus diesem Kindlein werden?" formuliert er für sich ein neues Lebensziel, das die Passivität des Erziehungsprozesses in sein Gegenteil verkehrt zugunsten der Selbsttätigkeit des zu Erziehenden, der sich nun aufgrund seiner Selbsterkenntnis aktiv, im selbständigen Denken, Fühlen, Handeln, Entscheiden, entfaltet. Diese Gegenposition heißt „Werde, der du bist" und setzt programmatisch Selbsterkenntnis in Selbstverantwortung und Selbsttätigkeit um. „Ich lechze nach mir selbst", schrieb Nietzsche am Ende seiner Basler Zeit an Marie Baumgartaer, auf seinem Weg zu sich selbst in die Einsamkeit von Sils-Maria, wo er hoffte, den Diskurs über den Weltsinn gegen die Oberflächlichkeit des Zeitgeists zu führen. Er sehnte sich nach Selbstflndung, nach dem Glück der stillen Selbsterfahrung, nach Erkenntnis der wahren Dimensionen seiner Denkkraft. Wobei er das in den Jugendschriften und in seinem
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Peter André Bloch
Universitätsunterricht
angedeutete
dialektische Denkmodell
von
Selbstverantwortung und
Fremdbestimmung weiterführte, bis hin zum Zarathustra und noch deutlicher, weil tragischscheiternd, im Ecce homo, wo er im Vorwort provokativ vom „Missverhältais [...] zwischen der Grosse meiner Aufgabe und der Kleinheit meiner Zeitgenossen" (KSA, EH 6,257) spricht.
Von der Gefahr einer offenen Interpretierbarkeit von Nietzsches Thesen Tatsächlich könnte sich mit solchen Aussagen auch die Vorstellung eines totalen Egoismus, der ungebremsten Macht über andere und alle verbinden: die Ideologie einer elitären, aristokratischen und auch rassistischen Überlegenheit über andere: das Ideal des Übermenschen, der sich kraft seiner Machtintelligenz über die andern erhebt, die Schwächeren beherrschend, manipulierend, ausmerzend. Ideen, wie sie sich in der nationalsozialistischen Herrschaft durchsetzten und in den Kämpfen um Marktanteile im kapitalistischen System zumindest andeuten, wo immer es wegen Macht um eine Beschränkung und Unterdrückung von Freiheit und Menschenrechten geht. Zur Klärung solcher Konsequenzen möchte ich abschließend Nietzsches Hauptwerk Also sprach Zarathustra analysieren, in einer thesenhaft untersuchenden Befragung seiner thematischen und auch formalen Grundstrukturen:
Also sprach Zarathustra
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Ein Buch für Alle und Keinen21
In Also
sprach Zarathustra entwirft Nietzsche auf literarischer Ebene eine visionäre Propheten- oder Lehrerfigur, die gewisse Erfahrungen mit ihm teilt und daraus wie er die Konsequenzen zieht: Rückzug ins Alleinsein, Konzentration auf das eigene Denken, Suche nach Erkenntnis, nach Lebenssinn. In einer Art Traumbühne läßt Nietzsche diese Figur in wechselnden Einzelbildern auftreten, in welchen ihre Erfahrungen inszeniert und dem Leser in feierlichen Berichten vermittelt werden, einem Oratorium vergleichbar, das sich auf rezitativartigen Handlungs- und Begegnungsbeschreibungen und arienhaften Monologen und Gesprächen sowie Kommentaren aufbaut, die alle um das Werden des Übermenschen kreisen. Punkt für Punkt wird der Weg des Menschen zu sich nachgezeichnet, werden alle möglichen Widerstände und kritischen Infragestellungen abgehandelt, wird ein permanenter Denk- und Erfahrungsprozeß vorgeführt. Es geht um die Erreichung eines absoluten Selbstbewußtseins, in dem sich der Prozeß der eigenen Entfaltung mit der Substanz der Persönlichkeit verbindet, -
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im Bild eines vollkommenen Kreises vollendet, in der Überwindung des Menschen in seiner Idealität, d. h. in der postulierten Wirklichkeit des Übermenschen. Es geht in diesem Werk also um es mit einem fast paradoxen Wortspiel zu formulieren um Verwandlung: um den Wandel des Menschen im Übergang von der zeitlich-begrenzten Innerweltsexistenz in die geistige Erfüllung eigener Transzendenz. -
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Textgrundlage: KSA 4,
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12 ff.
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Als Beispiel: die beschreibende Analyse des Anfangs „Als Zarathustra dreissig Jahr alt war, verliess er seine Heimat und den See seiner Heimat und gieng in das Gebirge. Hier genoss er seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde. Endlich aber verwandelte sich sein Herz, und eines Morgens stand er mit der Morgenröthe auf, trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr also" -
(KSA, ZA 4,
12
ff.).
Diese Zeilen sind rein orientierend, zusammenfassend gehalten, ganz auf die Person Zarathustras bezogen, was sich in den mehrmaligen Wiederholungen des Personalpronomens sein/seiner zeigt: seine Heimat, See seiner Heimat, er genoß seines Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahren nicht müde. Selbstbezug, Selbstkonzentration, Selbstgewinn. Und schon wird der Wandel gestaltet, mit der Verwandlung seines Herzens, als Ort der Sinnesentschlüsse und der eigenen Überzeugungskraft, wobei das Ganze vollständig in Außensicht vorgestellt wird, in rezitativartig-hinweisender Sprachgestik, nur das Wichtige nennend, alles Nebensächliche als bekannt voraussetzend und somit verschweigend: Endlich aber verwandelte sich sein Herz, worauf die Hauptfigur im eigentlichen Sinn des Wortes ins aufgehende Licht gesetzt wird: [eines Morgens stand er mit der Morgenröthe auf, trat vor die Sonne hin ...] Mit der Helligkeit erscheint die Morgenröthe, gemeint als Wortkörper, der die Sache nennt und gleichzeitig sinnlich vorstellt als Sonne in ihrem alles rötenden Aufgang, was den anschließenden arienhaften Sprechtext hintermalt, wie es die mittelalterlichen Altartafeln bei den Heiligen und deren verkündenden Worten tun. Aus der Farblosigkeit der Stille heraus wandelt sich der Text als Partitur von der Röte des Anfangs ins Gold des Morgenlichts, dem Zarathustra entgegenspricht, sich und die ihn begleitenden Tiere (Adler und Schlange) in ihrer Wartehaltung formulierend, umkreist von Licht, dem sie segnend Sinn und durch ihre Wahrnehmung Existenz verleihen: „Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest." Von Anfang an gibt es also die Welt als eine in sich kreisende, die sich aber erst als wahrgenommene im sehenden Ich punktuell vollendet, im sehenden Wir ihren Sinn des Leuchtens realisiert, wo der Kreis sich an einem Punkt definiert und damit von der Ewigkeit in der Zeitlichkeit konkretisiert. Es entwickeln sich Bilder für Aufsteigen, Kreisen, Niedersinken einerseits, für Leuchten und Geben sowie Teilhaben und Nehmen andererseits, für das überirdisch Große, überzeitlich Zyklische einerseits und das innerweltlich Wahrnehmende, sich selbst Konstituierende andererseits. Der Überfluß der Sonne, der sich in ihren Strahlen konkretisiert und auf die Wahrnehmenden übermittelt, wird zu einer Art Grundvorstellung, aus der heraus sich eine neue Bildrealität entwickelt: Der ihren Überfluß an Honig abgebenden Biene vergleicht sich das seiner Weisheit übervolle Ich, welches der Hände bedarf, die sich ausstrecken, damit sich alle beschenkt ihrer Situation bewußt werden. Nochmals wird die im Kreisen der Sonne inhärente Abwärtsbewegung übernommen im Vergleich des Hinabsteigens zu den Menschen. Wie selbst die Unterwelt mit Licht beschenkt wird, so will das Zarathustra-Ich untergehen, um zu den Menschen zu gelangen. Parallel zur Wahrnehmung der Sonne durch das innerweltliche Ich und dessen Segensspendung in der lichten Vereinigung im Sehen ruft nun das Ich das ruhige Auge zur Segnung auf, auf daß sein Glück sich mehre. Wie die Sonne durch den Wahrnehmenden sich konstituiert, so erlebt er nun sein Werden in der Verklärung des Lichts. Nach den überfließenden Sonnenstrahlen, dem überquellenden Honig der Weisheit nun noch das Bild des -
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überströmenden Bechers des Glücks, in welchem sich das Wasser mit dem Gold des Sonnenlichts vereint als Abglanz deiner Wonne. D. h., das Wasser verwandelt sich in flüssiges Gold, die Grundelemente von Feuer und Wasser gehen eine Synthese ein, werden zu einer neuen Qualität, zu einem neuen Wert, der sich nach oben richtet: Man beachte überfliessen, überall hin, was seine Gegenbewegung findet im entsprechenden antithetischen Leerwerden einerseits und dem Untergang Zarathustras zu den Menschen hin. Als Antithesen halten wir an der Auf- und Abwärtsbewegung fest, an der Hell-Dunkel/Licht-Nacht-Metaphorik, am Überfließen und Versiegen, an der Verwandlung von Rot in Gold, des Anfangs in die Vollendung, an der Welt der Höhe und der Tiefe, an der Möglichkeit gegenseitiger Vereinigung in der Wahrnehmung, wie es sich symbolhaft auch in der Vergoldung des Wassers als neuem Wert zeigt, im Ausgleich von Weisheit und Torheit, von Reichtum und Armut. Nietzsche malt anschauliche Wortbilder, indem er verschiedene Perspektiven und Sinne ineinander vermischt, um eine Art mehrdimensional-plastische Darstellungsform zu erreichen, die den Leser umfaßt, anspricht, auf allen möglichen Stufen der Wahrnehmung, als ob er vor seinem geistigen Auge einen Film sehe, Wirklichkeit und gleichzeitig Traum, außen und innen, bildhaft und abstrakt zugleich. Im nachfolgenden Gespräch mit dem greisen Heiligen geht es um den Unterschied zwischen dessen Gottesliebe, von der sich Zarathustra abwendet, und Zarathustras Zuwendung zur Erde, zu den Menschen, im Bewußtsein, daß „Gott todt ist"; was sich in seiner Rede auf dem Markt zu den Sätzen verdeutlicht: „Ich lehre euch den Uebermenschen. Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll" (KSA, ZA 4, 14).Wobei auf die verschiedenen Entwicklungsstufen der menschlichen Entwicklung hingewiesen wird, auf den Weg vom Wurm, über den Affen, zum Menschen und dessen Überwindung im Übermenschen. Die Antithesen verdeutlichen sich im Gegensatz zwischen dem schmutzigen Strom" als Prozeß und der Reinheit des Meers als dem anzustrebenden Zustand oder der Klarheit des aufleuchtenden goldenen Blitzes, in dem sich der Übermensch zeigt. Angesichts des Seiltänzers veranschaulicht Zarathustra später die Situation des sich suchenden, Sehnsucht habenden Menschen mit dem Bild des Seils,22 das „zwischen Thier und Übermensch" (KSA, ZA 4, 16) geknüpft ist, oder der Brücke, das Übergang, aber auch Untergang, Verwandlung zu etwas Neuem bedeutet. Mit allen möglichen Eigenschaften wird der neue Mensch mit dem alten verglichen und umschrieben, wobei wieder mit dem verdeutlichendem Gegensatz zwischen Hell und Dunkel gearbeitet wird, zwischen Zukunft und Vergangenheit, wobei wieder die Farbe des Goldes auftaucht in den goldenen Worten", die den Taten vorausgehen, vor allem aber im Phänomen des Blitzes selbst. Das Ziel ist Freiheit, Wärme, Glück der Untergang des alten Menschen: „Ich sage euch, man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können" (KSA, ZA 4, 19). Allein, noch fehlt die vermittelnde Substanz der Kommunikation, des Begreifens. Es wimmelt von Bildern für Übergänge; es erscheinen Seile, Brücken, Treppen, Stege, Wortfolgen, Wolken, Strahlen, fliegenden Pfeile etc., die alle den Weg vom Menschen zum Übermenschen versinnbildlichen; und darüber erscheint immer wieder eine alles überspannende Metapher: der bunte Regenbogen, der in sich alle Farben in allen ihren Dimensionen, Verbindungen und Übergängen enthält, jede in sich und für sich leuchtend und doch in einem Ganzen -
aufgehoben.
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Vgl. Annemarie Pieper, „Ein Seil geknüpft zwischen Tier und Übermensch". Stuttgart 1990.
Nietzsches erster
„Zarathustra",
Der Dichter als Lehrer
Ein Gang durch das
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Labyrinth der Erkenntnis
In dieser bildhaften, anspielungsreichen Sprachsinnlichkeit zieht sich der Weg des Ichs zu sich selber labyrinthisch über vier Bücher hinweg, nicht nur von unten nach oben, sondern auch an Gegensätzlichkeiten und Widersprüchen, an Versuchungen und Gefährdungen vorbei. Denn sich selber sein heißt auch: sich selber überwinden, sich selber besitzen, indem man über sein zeitliches Ich hinauswächst. Macht haben heißt eben nicht: Macht brauchen, sondern über der Macht stehen. Die Wahrheit besitzen heißt eben nicht: den andern ins Unrecht versetzen, sondern ihm kommunikativ aufklärend zur Wahrheit verhelfen, durch Aufklärung, durch eigene Vorbildlichkeit, durch die ästhetische Überzeugungskraft innerer Schönheit. Zarathustra ist eine verwirrend einfache und gleichzeitig komplexe Verkündigungsfigur, die vom Übermenschen spricht, seine Eigenschaften beschreibt, in Gleichnissen beispielhaft erklärt und von allen Perspektiven her durch Abgrenzungen mit musterhaften Beispielen feierlich, Punkt für Punkt, aufbaut und schließlich auch verkörpert. Dabei hat er sich wiederum in gleichnishafter Manier mit allen möglichen Identifikations- und Führergestalten auseinanderzusetzen und differenzierend von ihnen abzuheben. Was er will, wird in Kontrast zu vielen Gegenfiguren negativ-ablehnend vordemonstriert, durch sein positiv-exemplarisches Verhalten. Es wird klar: im Laufe der Geistesgeschichte hat sich diese Idealfigur wie ein Naturphänomen entwickelt, in tausend Facetten, die sich weiterentwickelnd überholt haben, in einem unendlich langen Prozeß, wie eine Verheißung, die sich notwendigerweise einmal erfüllt: im Übermenschen, in der Überwindung des Menschen zu sich selber, durch einen permanenten Befreiungsakt: antithetisch, sich erweiternd und wachsend, parodistisch, paradox und rätselhaft-mehrdeutig. -
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Selbstfindung als Selbstüberwindung Im Grunde handelt es sich um eine Anleitung zur Selbsterziehung, in Überwindung des zeitlichen Ego im Hinblick auf seine Substanz. Werde, der du bist. Es gibt für dieses Ich nur eine Wahl: die Wahl, sich zum Über-Ich zu wandeln oder untergehen, vergessen werden, substanzlos bleiben. Diese Wahl heißt aber auch: sich zurückziehen, sich selber ins Wesentliche vertiefen, im Verzicht auf alles Zufällige. Die Satire vermischt sich mit der Zelebrierung des Ideals, das Leben wird zur Selbstbeobachtung, zum Schreibakt, zum Kunstwerk. Auf dem Weg zur Auserwähltheit gibt es einzelne Stationen, die es stichwortartig festzuhalten gilt, weil sie auf die nun überwundene Problematik des früheren Nietzsche zurückweisen: die Versuchung durch die Macht, durch die Erziehung der andern. Es erscheinen das Kinderland mit den glückseligen Inseln, Lehrstühle, Kanzeln, die Heimat der Bildung mit allen möglichen Masken, Lügen und Verkleidungen zur Tarnung der Wahrheit; es wird von Freiheit an der Stelle von falscher Würde gesprochen, von Alpträumen, Sehnsüchten, Krankheit; auch am Defizit kann man das Ideal erkennen: an der Krankheit die Gesundheit, am Leiden die Lust, an der Lüge die Wahrheit, am Unrecht die Gerechtigkeit, an der Tiefe die Höhe, am Narren den Weisen. D. h., die Welt wird zum Paradox; ein Teil auch sein Gegenteil. Als Beispiel dafür die Erzählung Zarathustras vom „Räthsel, das ich sah, das Gesicht des Einsamsten. -" (KSA, ZA 4,197) In der Begegnung mit dem Zwerg (KSA, ZA 4, 199 ff.), durch „leichenfarbne Dämmerung" schreitend, sieht er, in beide Richtungen des Thorwegs, der zwei Gesichter hat, blickend, „zwei Wege hier" zusammenkommen, die noch -
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Niemand zu Ende ging: Unbegrenztheit wird sichtbar. „Diese lange Gasse zurück: die währt eine Ewigkeit. Und jene lange Gasse hinaus das ist eine andre Ewigkeit." Der Name des Thorwegs wo sie zusammenkommen, heißt „Augenblick". Da sieht er, was er nie sah: „Einen jungen Hirten sah ich, sich windend, würgend, zuckend, verzerrten Antlitzes, dem eine schwarze schwere Schlange aus dem Munde hieng." Im Schlaf hatte sich ihm die Schlange im Schlünde festgebissen. „Wer ist der Mensch", so das Rätsel, „dem also alles Schwerste, Schwärzeste in den Schlund kriechen wird?" Auf den Rat Zarathustras hin beißt der Hirt den Schlangenkopf ab und wird zum Verwandelten, vom Entsetzten zum Lachenden und überträgt die Sehnsucht nach diesem erlösten Lachen dem sehenden Ich Zarathustras. Auf der Fahrt über das Meer, vier Tagesreisen fern von den glückseligen Inseln und von den Freunden, überwindet er den Schmerz, ,grünen" ihm seine Kinder, seine Hoffnungen KSA, ZA 4, 204). Er wird zum Ja-Sagenden, möchte in den Himmel hinein fliegen. Sein Ziel ist es: „über jedwedem Ding als sein eigener Himmel stehn, als sein rundes Dach, seine azurne Glocke und ewige Sicherheit." (KSA, ZA 4, 209): Er hat es gelernt, sich und über sich zu sein, als ein scheinbares Paradox, dessen Spannung nur im Willen des Ichs zu sich selbst, sich selbst zu sein, lösbar ist: hell und dunkel; oben und unten; lachend und weinend; ewig und im Augenblick zeitlich. -
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Von der ästhetischen Rechtfertigung ,des Lebens' durch die Kunst Die Gleichzeitigkeit von erinnerter Vergangenheit und Gegenwart und eingeholter Zukünftigkeit in der Sprache und im Klang bietet Nietzsche die Möglichkeit, verschiedene Vorstellungswelten zu verbinden, in denen sich die höchste Lust, die Einheit mit sich selbst, andeutet, sich steigert und schließlich rauschhaft realisiert, im Gleichnis, im Klang und schließlich in der lyrisch-hymnischen Inkantation: Im Schlußkapitel „Das Zeichen" (KSA, ZA 4, 405-408) tritt Zarathustra sonnengleich vor seine Höhle: „kam heraus aus seiner Höhle, glühend und stark wie eine Morgensonne, die aus dunklen Bergen kommt." Nochmals spricht er die anfänglich gesprochenen Worte der Realität schaffenden, partizipierenden Wahrnehmung. Da erscheinen die verkündeten Zeichen des Übermenschen: die weisse Taube der Liebe, die sein weisses Haar liebkosen zum Zeichen des Friedens und der Versöhnung, und „als es helle vor ihm wurde, da lag ihm ein gelbes mächtiges Gethier zu Füssen und schmiegte das Haupt an seine Knie und wollte nicht von ihm lassen vor Liebe und that einem Hunde gleich, welcher seinen alten Herrn wiederfindet. Die Tauben aber waren mit ihrer Liebe nicht minder eifrig als der Löwe; und jedes Mal, wenn eine Taube über die Nase des Löwen huschte, schüttelte der Löwe das Haupt und wunderte sich und lachte dazu" (KSA, ZA 4, 406). Das große Glück des Übermenschen stellt in neuer Paradoxie die Frage nach der Wirklichkeit dieses erreichten Glücks: „Trachte ich denn nach Glücke?" Und sich selbst spontan die Antwort gebend: „Ich trachte nach meinem Werkel" (KSA, ZA 4, 408) In Verklärung verläßt er seine Höhle, „glühend und stark wie eine Morgensonne, die aus dunkeln Bergen kommt" Im Vergleich wenigstens erscheint er, in der Entfernung, wie eine goldene Erscheinung, wie seine Lieblingsfarbe selbst: golden, sich selbst, das sich selbst gewordene, zum Bild verklärte Über-Ich. Erziehung ist in ihm Selbst-Erziehung, SelbstEntdeckung geworden, im ekstatisch-seherischen Wissen um Idealität, die man befolgen kann oder nicht. Nietzsche glaubt, daß der begabte Mensch, der Genius, diese Kraft in sich spürt "
Der Dichter als Lehrer
105
und ihr folgt. Wie der Künstler sein Werk schafft, ohne Zwang, so erfüllt er sein Leben als ein Kunstwerk, den andern als Vorbild dienend und sich selbst zur Freude: wie es der Untertitel des Werks andeutet: Ein Buch für Alle und Keinen. Eines muß am Schluß klar festgehalten werden: Nietzsches Konzept ist und bleibt elitär, allerdings nicht restaurativ, sondern prospektiv, nicht alte Geschlechter und Amtsinhaber mit Erbberechtigung stützend, sondern als Aufruf zur Weiterentwicklung an Begabte gedacht, an deren Selbstüberwindung und Selbstbeschränkung, als Erziehung zur Selbst-Erziehung mit Kompetenz und Bewußtsein, in mystischer Transzendierung der eigenen Persönlichkeit. Er dachte an diejenigen, die die Jahrhunderte mit ihrem Charisma geistig und kulturell prägen, im Kampf gegen die Vermassung und Dekadenz; obwohl er auch da und dort positive Worte findet für das damals typisch demokratische Erziehungsland Schweiz, mit seinen großen Bemühungen der Volksschule um die Erfassung und Förderung aller Jugendlichen. Sein Herz schlug indes wie wir wissen nicht für Mehrheitsentscheidungen, sondern für den einsamen Entschluß des großen Einzelnen. -
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IL Forum 8. Nietzsche-Werkstatt Schulpforta Nietzsche sprachkritischer Pragmatismus
(8.-11.9.1999)
Volker Caysa/Pirmin Stekeler-Weithofer
Einleitende Bemerkungen zur 8. Nietzsche-Werkstatt in Schulpforta vom 8.\p=n-\11.09.1999
Pragmatismus
zum
Thema: Nietzsches
sprachkritischer
Obwohl schon 1965 Arthur C. Dantos bedeutende Studie Nietzsche as Philosopher erschien, kann man doch feststellen, daß sich das Gros der analytischen Philosophen nicht nur in vornehmer Zurückhaltung gegenüber Nietzsche übte, sondern seine Philosophie als schlichtweg „irrational" ablehnte. Diesen Abstand der analytischen Philosophie gegenüber einer der wirkungsmächtigsten Philosophien des 20. Jahrhunderts zu verringern, war eines der Hauptziele der 8. Nietzsche-Werkstatt. Denn betrachtet man die Geschichte der analytischen Philosophie selbst, insonderheit im Zusammenhang der Geschichte des Pragmatismus, dann gibt es schon bei den Gründungsvätern wie William James eine direkte Rezeption und vor allem thematische Fortsetzungen von Nietzsches Philosophie. Die Teilnehmer der Werkstatt gingen davon aus, daß für Nietzsche die Bedeutung der Sprache für die Entwicklung der Kultur darin besteht, daß der Mensch durch die Sprache nicht nur seine eigene Welt neben die andere, vorgefundene stellt, sondern daß er sich durch die Sprache zum Herren der übrigen Welt macht. Die Menschen als Sprachbildner zur Beförderung ihrer Zwecke sind aber für Nietzsche nicht so bescheiden zu glauben, daß sie neben die Dinge ihre Worte stellen. Die Menschen glauben vielmehr, sie drückten das „höchste Wesen" über die Dinge an sich mit ihren Worten aus. „Sehr nachträglich jetzt erst", so Nietzsche, „dämmert es den Menschen auf, daß sie in einem ungeheuren Irrtum in ihrem Glauben an die Sprache propagiert haben", der darin bestehe, daß ihre Bedeutungen „Dingen an sich", „Tatbeständen an sich", „Bedeutungen an sich" entsprechen. Man glaubt, die Logik beruhe auf Voraussetzungen, denen irgend etwas in der wirklichen Welt an sich entspreche. Aber es gibt keinen Sinn an sich, es gibt keine Bedeutung an sich, es gibt keinen Tatbestand an sich, sondern der Sinn, die Bedeutung wird immer erst durch uns, und zwar in einem Interessenbezug erzeugt. Nur dadurch gibt es für uns bestimmte Tatsachen als bestehende Sachverhalte, die als solche a fortiori sinnvoll, eben immer schon von Interesse sind, sonst würden wir sie nicht voneinander unterscheiden. Hier schon findet sich bei Nietzsche ein impliziter Bezug auf,Macht'. In der Diskussion um Nietzsches sprachkritischen Pragmatismus stellt sich heraus, daß sich gegen seine überschwenglich-skeptische Kritik am Begriff der Wahrheit und Objektivität zahlreiche Einwände formulieren lassen. Immerhin kann Nietzsches Kritik an dem neuen .Glauben an die Sprache' auch so aufgefaßt werden, daß die Identifizierungen, die man durch den Gebrauch von Namen und Bezeichnungen macht, alles andere als selbstverständlich und alles andere als folgenlos sind. Eine Kritik an der Unterstellung, diese Identifizierungen seien ,natürlich' oder .objektiv wahr' wird nötig, weil durch sie (handlungsund gesellschaftlich relevante) Irrtümer aufdeckbar sind. Es ist eine Illusion zu meinen, durch Sprache und Wissenschaft eine Welt ,wie sie ist' beschreiben zu können. Ein -
Volker Caysa/Pirmin Stekeler-Weithöfer
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solcher Sprachrealismus ist verhängnisvoll, wenn man bedenkt, daß solche Auffassungen insbesondere auch moralische und gesellschaftliche Folgen hatten und haben. Im Rahmen von Weltbildern wirken sie bis in die Moral- und Rechtsphilosophie hinein. Nietzsches Deutung des Willens zur Wahrheit als Wille zur Herrschaft ist daher nicht von seiner Sprachkritik zu trennen. Die wesentliche Kritik ist nicht etwa die an einem üblichen Sprachgebrauch, sondern an einem ,ontischen' Mißverständnis dessen, was im Sprachgebrauch geschieht so ein Ergebnis der Diskussion der 8. Nietzsche-Werkstatt. -
PlRMIN STEKELER-WEITHOFER
Nietzsches ontologiekritische
Sprachpragmatik
„Der realistische Maler ,Treu die Natur und ganz!'
Wie fängt er's an: Wann wäre je Natur im Bilde abgetan? Unendlich ist das kleinste Stück der Welt! Er malt zuletzt davon, was ihm gefällt. Und was gefallt ihm? Was er malen kann!" (KSA -
-
1.
FW, 3, 365)
Genauigkeit und Invarianz
Die folgende Überlegung orientiert sich an einer Auswahl von bekannten Kernsätzen im wesentlichen aus dem Korpus der veröffentlichten Texte Nietzsches. Sie wird entwickelt über Kommentare und Nachfragen. In Menschliches, Allzumenschliches schreibt Nietzsche:
„Unsere gewohnte ungenaue Beobachtung nimmt eine Gruppe von Erscheinungen als eins
und nennt sie ein Faktum: zwischen ihm und einem anderen Faktum denkt sie sich einen leeren Raum dazu, sie isoliert jedes Faktum." (KSA, MA II, 2, 546) einer ,ungenauen' Beobachtung unterstellt einen Vergleich zu einer genaueren' Nun ist in der Tat jede auf Wahrnehmung gegründete Unterscheidung verfeinerbar. In jeder Beobachtung von etwas wird das beobachtete Etwas über eine entsprechende Unterscheidung von anderem und durch eine Nichtunterscheidung verschiedener ,unwesentlicher' Aspekte ,desselben Etwas' als solches bestimmt: Ich beobachte einen Baum. Im jetzigen Licht erscheint er anders als vorher. Dir erscheint er noch anders. Wesentlich ist vielleicht, daß ich ihn nicht mit dem Strauch verwechsle, den jene dort beobachten. Die Wörter „wesentlich" und „Wesen" beziehen sich hier auf nichts hinter den Phänomenen, sondern auf die jeweilige Relevanz, welche eine bestimmte Unterscheidung notwendig macht und eine gewisse Nichtunterscheidung oder Identifizierung erlaubt (oder auch fordert). Die Tatsache, daß die Möglichkeit der Verfeinerung von Unterscheidungen immer besteht, könnte man eine praktische Tautologie nennen. Der Verweis auf die uralte Differenzierung zwischen dem ineffablen Kontinuum der Phänomene und einem Feld fester Unterscheidungen und Identifizierungen ist vor dem Hintergrund dieser Tautologie schlicht so zu verstehen: Kontinua sind selbst nur als Möglichkeiten verfeinerbarer Unterscheidungen definiert. Es ist daher ebenfalls eine Tautologie, wenn Nietzsche in Fortführung seiner Überlegung sagt: „In Wahrheit aber ist all unser Handeln und Erkennen keine Folge von Facten und leeren Zwischenräumen, sondern ein beständiger Fluss." (KSA, MA II, 2, 546) Da das Kontinuierliche und Indefinite als Möglichkeit verfeinerbarer Schematisierungen aufzufassen ist, verliert auch die Rede von der Nichtidentität, die bei Adorno so klingt, als sei Die Rede
von
Beobachtung.
Pirmin Stekeler-Weithofer
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sie unmittelbar aus Nietzsches berühmten Text „Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn" genommen worden, ihre scheinbare Tiefe und Bedeutsamkeit. Dort steht: „Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen." (KSA 1, 875-890, hier: 880) Über begriffliche Unterscheidungen und Identifizierungen wird einem zunächst kontinuierlichen' Bereich etwa des Wahrnehmbaren oder Erfahrbaren eine Art diskrete Struktur aufgeprägt. Jede fix gewählte Unterscheidung oder Klassifikation zerlegt den Wahrnehmungsraum in diskrete Klassen so hoffen wir insbesondere dann, wenn wir an der Übereinstimmung der Klassifikation durch unterschiedliche Beobachter und Sprecher interessiert sind. Nietzsches Rede vom leeren Raum zwischen den Fakten artikuliert eben dies in metaphorischer Weise. Die Rede vom Fluß weist Nietzsche als ,Herakliteer' aus und signalisiert eine empiristische Kritik an der Tradition des Piatonismus. Die darin enthaltene Kritik an einer Ontisierung der inneren Gegenstände unserer Reden, wie sie durch Namengebräuche konstituiert sind, ist als solche aber durchaus zu verteidigen. Es handelt sich um eine pragmatische' Kritik am Aberglauben, unsere Sprache und unsere wissenschaftlichen Theorien könnten eine Wahrheit vermitteln im korrespondenztheoretischem Sinn korrekter Abbildung dessen, was ist. -
2.
Metaphysikkritik und Sprachkritik
Nietzsche geht es insgesamt um die Einsicht, daß die christliche Theologie und die naturwissenschaftliche Weltanschauung Zwillingskinder des Pythagoreismus und Piatonismus sind. Das naturwissenschaftliche Weltbild der Moderne gleicht in der Tat dem vorsäkularisierten Christentum in folgendem wesentlichen Punkt: Beide glauben an eine Wahrheit oder Wirklichkeit hinter den im Leben erfahrenen und erfahrbaren Phänomenen und jenseits unserer Lebenspraxis. Dieser Glaube an eine abstrakte Hinterwelt und an ein Jenseits je gegenwärtigen Lebens wird als transzendente Metaphysik mit vollem Recht angegriffen. Sprachkritik ist ein wichtiger Teil dieser Kritik. Das Problem ist die Abgrenzung transzendenter Metaphysik von der Reflexion auf wichtige Formen und Ideen humaner Lebenspraxis. Denn es gibt einen überschwenglichen Metaphysikverdacht, der mit dem Aberglauben auch den Versuch verwirft, eine Übersicht über sinnbestimmende Formen und Ideen zu artikulieren. Dies ist der Grund, warum es bei Kant, Hegel oder dann auch noch bei Heidegger (und, in anderer Form, dann auch noch bei Popper oder Strawson) neben einem kritischen Begriff transzendenter Metaphysik eine ,positive' Metaphysik in transformierter, säkularisierter Gestalt gibt. Damit wird die Aufgabe des Erhalts von Einsichten der Tradition der Metaphysik anerkannt. Die Kritik an der Metaphysik richtet sich also immer nur gegen einen bestimmten ,Teil', ein bestimmtes (Fehl)Verständnis der Tradition der Metaphysik so daß der Ausdruck „Metaphysikkritik" und die Verwandlung des Wortes „Metaphysik" in eine Art Schimpf-Wort selbst überschwengliche Konnotationen mit sich führt. Das Problem einer positiv-metaphysischen Klärung der Begriffe der Objektivität und Wahrheit in Abwehr von transzendenten Verständnissen ist, inhaltlich gesagt, dieses: Es gilt, das Verhältnis zwischen dem Diesseits unseres Handelns und unserer Entwicklung von Sprachen und Theorien zur Erweiterung gemeinsamer Handlungsmacht und dem Jenseits einer objektiven und wahren Natur so auszulegen, daß der intern wichtige Begriff der Wahrheit und Objektivität nicht zugunsten einer rein solipsistisch-subjektivistischen oder gruppenrelativistischen Beliebigkeit einfach aufgegeben wird. Das Problem der Gegnerschaft Nietzsches gegen den Piatonismus besteht daher darin, daß es zunächst eines positiven Verständnisses dessen -
Nietzsches
ontologiekritische Sprachpragmatik
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bedarf, warum, mit welchem guten Recht, sich schon Parmenides gegen einen Empirismus des „alles fließt" und damit inhaltlich gegen Heraklits Pythagorasschelte stellt und Piaton gegen
Protagoras. Protagoras scheint zumindest einen kruden Subjektivismus und Relativismus befürwortet zu haben, welcher Kritik verdient. Und es ist nicht einfach falsch, wenn sich Piaton mit den Pythagoreern und Eleaten für die Idee ewiger, statischer, situationsinvarianter, mathematisch artikulierbarer und damit sprachlich lehr- und lernbarer Wahrheiten einsetzt. Der Streit um die Demarkation einer transzendenten von einer positiven Metaphysik wird damit zum Streit um eine Unterscheidung zwischen den erhaltenswerten, wenn auch neu zu deutenden, und den zu kritisierenden, abzulegenden, Ansichten des Piatonismus. Dabei ist es insgesamt keineswegs eine absolut neue Einsicht des linguistic turn der Philosophie, daß es hier immer schon um das Verhältnis von Sprache, Bedeutung und Welt, von Logos, Eidos und Physis (bzw. Kosmos) geht. Die sprachtheoretische Wende ist eher ein neuer, durch die Artikulationstechnik von Freges Begriffsschrift vermittelter, Zugriff auf dieses Verhältais und damit auf den Begriff der Wahrheit und Wirklichkeit. Worum es geht, läßt sich im Anklang an die seit Parmenides virulente Debatte um das, was etwas ist, im Unterschied zu dem, was etwas zu sein scheint, erläutern. Eine situationsinvariante Wahrheit wird ausgedrückt durch einen wahren Satz, der als solcher seinen Wahrheitswert nicht ändert, sondern schlechtweg sagt, daß etwas so ist und nicht anders. Das Problem der Ewigkeit der Wahrheit tritt vorzugsweise auf im Kontext der lehrenden und lernenden Überlieferung wortgetreuer Sätze. Ein Problem der Schriftsprache hängt daher eng mit deren Vorzug zusammen. Denn hier geht der unmittelbare Situations- und Gesprächsbezug zumindest zum Teil verloren, während das reale Gespräch und die orale Kommunikation allein schon aufgrund des Mediums performativ gegenwartszentriert ist. Ich nenne diese Gegenwartszentrierung „performativ", da der Bezug oraler Rede durchaus gegenwartstranszendent sein kann: Ich kann auf andere Orte, Zeiten und abwesende Dinge verweisen, wie schon Parmenides in seinem Lehrgedicht betont. Der Vorzug der Schrift besteht in der medialen Unabhängigkeit der Sätze von ihrer Äußerung hier und jetzt. Das Problem besteht darin, daß im schriftlichen Fall der performative Kontext und Situationsbezug des Autors und Hörers in der Regel differiert, während in der oralen Performation (vor Etaführung des Rundfunks und der verschiedenen Formen von Tonkonserven) ein gemeinsamer Situationsbezug von Sprecher und Hörer und auch die Möglichkeit der Nachfrage des Hörers in der Regel von selbst mitgegeben ist. Damit ergeben sich wichtige Differenzen zwischen der Vollständigkeit oder ,Gesättigtheit' situationsbezogener Äußerungen und situationsunabhängiger Sätzen. „Es regnet" ist z. B. ein Satz, der keine ,ewige' Aussage artikuliert, sondern nur eine situationsbezogene Prädikation. Das „es" ist in gewissem Sinn eine Situationsanapher. Ein transsituativer Satz, der eine situationsunabhängig wahre oder falsche Aussage artikuliert, entsteht erst dann, wenn man hinzufügt, wer den Satz „es regnet" wann und wo bzw. in welcher Bezugnahme, d. h. in bezug auf welches Hier und Jetzt äußert, worauf sich also, sozusagen, das ,es' bzw. die implizite Situationsanapher
bezieht. Das Formziel der „Episteme", des beständigen Wissens der Wissenschaft, ist entsprechend nicht bloß eine örtlich und zeitlich eng begrenzte, vergängliche, sondern eine situationsinvariante Verläßlichkeit und Wahrheit. Für die Verfolgung dieses Ziels müssen die impliziten Bezüge situationsabhängiger Sätze, so weit dies notwendig ist, explizit gemacht werden. Dabei ist diese Notwendigkeit relativ zu einem Interesse, wie zuvor schon die situationsbezogenen Unterscheidungen relativ zu einem praktischen Interesse standen, nämlich insofern sie als Prämissen für weitere, am Ende praktische, Schlüsse fungieren. Zu wissen, ob es regnet, reicht
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Pirmin Stekeler-Weithofer
es etwa um die Frage geht, ob ein Regenschirm mitzunehmen ist. Um zu wissen, ob man nach langer Trockenheit den Garten sprengen soll, sollte man vielleicht wissen, wie stark und wie lange es regnen wird. Eine Möglichkeit der absoluten Situationsinvarianz oder Objektivität völlig unabhängig von jedem Interesse gibt es nicht. Das Ziel der Artikulation transsituativer und daher „objektiver" Aussagen durch situationsunabhängig verfügbare Sätze ist also immer nur relativ zu einem Interesse und immer nur als relative Entgrenzung von Situationsbezügen zu erreichen. Die relative Situationsinvarianz der Sätze als solche läßt sich dabei durch wörtliches Memorieren gebundener Rede oder eine Schrift sichern. Im Grunde ist es daher wiederum eine Tautologie, daß es keine Situationsinvarianz und keine Wahrheit gibt, die nicht längst schon implizit Bezug nimmt auf ein Interesse, auf die Lösung von konkreten Problemen, auf die Erfüllung von konkreten Bedingungen, die hinreichende Abwendung konkreter Nöte. Kurz, es ist eine begriffliche Tatsache, daß jeder Wahrheitsanspruch und jede Beurteilung seiner zureichenden Erfüllung eine pragmatische Komponente enthält. Diese wiederum ist als Notwendigkeit der Beurteilung der Relevanz der Unterscheidungen und deren Körnigkeit oder notwendige Feinheit zu lesen. In diesem Sinn behält Nietzsche Recht, wenn er einen recht verstandenen Wahrheitswillen mit einem Willen zur Handlungsmacht identifiziert und eine rein abstrakte Wahrheitssuche als ebenso sinnlos wie utopisch ausweist. Auf der anderen Seite sind die bekannten Thesen aus „Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn" schöner, als daß sie wahr wären:
aus, wenn
„Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die [...] übertragen [...] wurden, und die nach langem Gebrauche einem Volke fest, canonisch und verbindlich dünken [...] Münzen, die ihr Bild verloren haben". Der Mensch „lügt [...] unbewußt [...], er stellt [...] sein Handeln als vernünftiges Wesen unter die Herrschaft der Abstractionen". (KSA, WL, 1,880-881) Freilich läßt sich dieser Folge von Metaphern ein guter Sinn geben. Aber dieser präsentiert sich nicht von selbst. Ohne weitere Differenzierung ist die Rede von einer unbewußten Lüge ebenso schief wie die Rede davon, Wahrheit sei ein Heer von Metaphern oder von menschlichen Relationen. Daß bildhafte Ausdrücke in einem üblichen Gebrauch schematisiert werden und dann nicht mehr als bildhaft empfunden werden, das ist schön ausgedrückt im Bild von der abgegriffenen Münze. Doch was das bedeutet, was aus dieser Tatsache genau folgt und wie sie in strenger Reflexion auf ihre Bedeutsamkeit zu werten ist, das ist keineswegs schon klar und deutlich.
3. Der Zweckbezug von
Objektivität
Sprache und die Illusion der
„Die Bedeutung der Sprache für die Entwicklung der Kultur liegt darin, daß in ihr der Mensch eine eigene Welt neben die andre stellte, einen Ort, welchen er für so fest hielt, um
von ihm aus die übrige Welt aus den Angeln zu heben und sich zum Herren derselben zu machen. Insofern der Mensch an die Begriffe und Namen der Dinge als an aeternae veritates durch lange Zeitstrecken hindurch geglaubt hat, hat er sich jenen Stolz angeeignet,
Nietzsches
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ontologiekritische Sprachpragmatik
mit dem er sich über das Tier erhob: er meinte wirklich in der Sprache die Erkenntnis der Welt zu haben. Der Sprachbildner war nicht so bescheiden zu glauben, daß er den Dingen eben nur Bezeichnungen gebe, er drückte vielmehr, wie er wähnte, das höchste Wesen über die Dinge mit den Worten aus [...]" „[...] jetzt erst dämmert es den Menschen auf, daß sie in einem ungeheuren Irrtum in ihrem Glauben an die Sprache propagiert haben" „die Logik beruht auf Voraussetzungen der Gleichheit von Dingen, der Identität derselben Dinge in verschiedenen Punkten der Zeit" „Ebenso steht es mit der Mathematik, welche gewiß nicht entstanden wäre, wenn man von Anfang an gewußt hätte, daß es in der Natur keine exakte gerade Linie, keinen wirklichen Kreis, kein absolutes Größenmaß gebe." (KSA, MA I, 2, 30 f.) Die
Argumente
sind uralt und
gehören
in die Trickkiste der
empiristischen
Kritiker
an
Parmenides, Piaton und der Idee der mathematisierten Wissenschaft, wie sie etwa schon bei Protagoras, Sextus Empiricus oder Hume zu finden ist. Die Kritik an einem möglichen und
wirklichen Selbstmißverständnis ist durchaus angemessen. Allerdings ist die einsichtige Artikulation des bedeutsamen Unterschieds zwischen den idealen Gegenständen modellartiger, theoretischer, mathematischer, invarianter Rede und den realen, hier und jetzt wahrnehmbaren, flüchtigen Phänomenen gerade die Kernleistung von Parmenides und Piaton selbst. Der Streit geht nur darum, wie sich der Begriff der unmittelbaren Realität der Erfahrung und des Lebens zum Begriff des kommunizierbaren Wissens, wie sich die Begriffe des individuellen Wahrnehmens, Meinens und Verhaltens zu den Begriffen der überindividuellen Wahrheit und des übertadividuellen Sinns bzw. der überindividuellen Begründung verhält. Überindividuelle Bewertungen von Richtigkeiten und Falschheiten sind als solche weder ,absolut' an die Erfahrungsrealität angepaßt, noch sind sie ohne pragmatische Bewertungen der durchschnittlichen Verläßlichkeit bzw. Orientierungsrichtigkeit im Rahmen einer gemeinsam organisierten Praxis möglicher Kommunikation und Koordination von Handlungen und Lebensvollzügen angemessen verstehbar. Bei Nietzsche ist diese Sphäre der gemeinsamen Tradition und Praxis durchaus unterbelichtet. Er bleibt dem erkenntnistheoretischen Paradigma verhaftet, das seit Descartes danach fragt, was ich weiß und ob ich mich in meinen Gewißheiten nicht täuschen, sogar selbst belügen kann. Die grundlegendere Frage Piatons oder Hegels, was die Grundform oder Grundidee der gemeinsamen Praxis der Wissenartikulation und Wissenskontrolle ist, wird dabei ausgeklammert. Ausgeklammert bleibt auch die Einsicht, daß wir selbst es sind, die darüber reden und urteilen, was es im Blick auf diese Idee idealiter, aus dem Blick eines kontrafaktisch vollkommen gedachten Wesens, heißen würde oder könnte, etwas absolut zu wissen, und daß wir aufgrund unserer eigenen Kriteriensetzung wissen, daß und warum diese idealen und absoluten Kriterien realiter nie vollkommen erfüllbar sind. Ich belasse es hier bei der Nennung dieses tiefsitzenden Subjektivismus jeder Erkenntnistheorie, welche nicht als Teil einer Wissenstheorie und einer Theorie kontrafaktischer Ideale dargestellt ist. Nietzsche stellt die unmittelbare, subjektive Zweckverfolgung und den unmittelbaren Willen zur Macht des einzelnen Menschen ins Zentrum seiner Überlegungen. Er folgt damit Schopenhauers subjektivistischer, naturalisierter und eben damit tendenziell schon evolutionärer' und ,konstruktivistischer' Theorie des Erkennens und des Wollens.
„Das, was wir jetzt die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irrtümern und Phantasien, welche in der gesamten Entwicklung der organischen Wesen allmählich entstanden, ineinander verwachsen sind und uns jetzt als
aufgesammelter Schatz der ganzen Vergan-
Pirmin Stekeler-Weithofer
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genheit vererbt werden, als Schatz: denn der Wert unseres Menschentums ruht darauf. Von dieser Welt der Vorstellungen vermag uns die strenge Wissenschaft tatsächlich nur in geringem Maße zu lösen wie es auch gar nicht zu wünschen ist -, insofern sie die Gewalt uralter Gewohnheiten der Empfindung nicht wesentlich zu brechen vermag: aber sie kann die Geschichte der Entstehung jener Welt als Vorstellung ganz allmählich und schrittweise aufhellen und uns wenigstens für Augenblicke über den ganzen Vorgang hinausheben. Vielleicht erkennen wir dann, daß das Ding an sich eines homerischen Gelächters wert ist: daß es so viel, ja alles schien und eigentlich leer, nämlich bedeutungsleer ist." (KSA, MA -
-
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I, 2, 37)
Nietzsches Rede von einem „Ding an sich" verweist grob auf den irrtümlichen Glauben, unseren Wörtern und Sätzen, Namen und Prädikaten korrespondierten in einer erfahrungstranszendenten Hinterwelt objektive Gegenstände, Sachverhalte oder Eigenschaften. Nietzsche weist hier zu Recht auf eine Doppeldeutigkeit von Welt, Wirklichkeit und Wahrheit hin, aber ohne uns darauf aufmerksam zu machen, daß seine eigene Rede von Irrtümern und Phantasien selbst eine ,wahre' Welt unterstellt. Hegel hatte dieses Problem schon reflektiert aber davon weiß nicht nur Nietzsche nichts. Für Hegel nämlich ist jede Kritik an einem Irrtum in der Zeit angesiedelt. Er ist als Vorschlag zu einer .besseren' (sprachlichen) Darstellung von Welt zu begreifen. Als solcher ist er längst schon situiert in einem gemeinsamen Projekt der Verbesserung der anerkennungswürdigen und zu empfehlenden Groborientierungen im (gemeinsamen) Leben. Als bloßer Erkenntnisthsoretiksr, dem die Sphäre des gemeinsamen Projektes der Formung des Lebens und dessen Teilprojekt der gemeinsamen Erfindung, Kontrolle und Tradition sprachlich artikulierter Wissenschaft aus dem Blick fällt, wird Nietzsche selbst, ähnlich wie moderne evolutionäre Erkenntnistheoretiker, zu einem naturalisierenden Metaphysiker des Erkennens, dessen Aussagen über das Erkennen und Wissen angeblich rein erfahrungsgestützt sind und doch zugleich in der gemeinsamen Praxis der Bewertung guter bzw. schlechter Orientierungen nach Anerkennung heischen. Eben damit unterstellen sie schon eine gemeinsame Kultur-Praxis. Dabei wissen sie aber von der besonderen Entwicklung humaner Traditionen im Unterschied zu rein natürlichen' Evolutionen durchaus nichts bzw. wollen nichts davon wissen. -
„Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist aufgrund des ursprünglich schon herrschenden Irrtums gemacht, daß es mehrere gleiche Dinge gebe (aber tatsächlich gibt es nicht Gleiches), mindestens daß es Dinge gebe (aber es gibt kein ,Ding'). Die Annahme der Vielheit setzt immer schon voraus, daß es etwas gebe, was vielfach vorkommt: aber gerade hier schon waltet der Irrtum, schon da fingieren wir Wesen, Einheiten, die es nicht gibt. Unsere Empfindungen von Raum und Zeit sind falsch, denn sie führen, konsequent geprüft, -
auf logische Widersprüche. Bei allen wissenschaftlichen Feststellungen rechnen wir unvermeidlich immer mit einigen falschen Größen: aber weil diese Größen wenigstens konstant sind, wie z. B. unsere Raum- und Zeitempfindung, so bekommen die Resultate der Wissenschaft doch eine vollkommene Strenge und Sicherheit in ihrem Zusammenhange miteinander; man kann auf ihnen fortbauen bis an jenes letzte Ende, wo die irrtümliche Grundannahme, jene konstanten Fehler, in Widerspruch mit den Resultaten treten, z. B. in der Atomlehre. Da fühlen wir uns immer noch zu der Annahme eines ,Dinges' oder stofflichen ,Substrats', das bewegt wird, gezwungen, während die ganze wissenschaftliche Prozedur aber die Aufgabe verfolgt hat, alles Dingartige (Stoffliche) in Bewegung aufzulösen: wir scheiden auch hier noch mit unserer Empfindung Bewegendes und Bewegtes und -
Nietzsches
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ontologiekritische Sprachpragmatik
kommen aus diesem Zirkel nicht heraus, weil der Glaube an Dinge mit unserem Wesen von alters her verknotet ist. Wenn Kant sagt ,der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor', so ist dies in Hinsicht auf den Begriff der Natur völlig wahr, welchen wir genötigt sind mit ihr zu verbinden (Natur Welt als Vorstellung, das heißt als Irrtum), welcher aber die Aufsummierung einer Menge von Irrtümern des Verstandes ist. Auf eine Welt, welche nicht unsere Vorstellung ist, sind die Gesetze der Zahlen gänzlich unanwendbar: diese gelten allein in der Menschen-Welt." (KSA, MA I, 2, 40) -
=
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(damit auch Locke oder Hume) und Kant haben das Konstruktive unserer wissenschaftlichen Theorien, Modelle, Großanalogien, Bilder und der in sie eingelassenen Erklärungen und Prognosen zwar schon im Grundsatz erkannt. Aber dies blieb immer noch zweideutig. Sind diese Konstruktionen angeborene oder erworbene Operationsweisen des individuellen menschlichen Geistes (bzw. dann sogar des Gehirns)? Sie mit Kant als apriorische Formen der Welterfahrung aufzufassen, heißt noch nicht, sie als Formen einer gemeinsam verfaßten, artikulierten und kontrollierten Praxis zu verstehen. Nietzsche folgt, so scheint es, den erkenntnistheoretischen ,Konstruktivisten' gewissermaßen als Autodidakt bis in ihre Zweideutigkeiten was aufgrund des Einflusses von Schopenhauer auch nicht erstaunlich ist. Dies zeigt sich auch an den weiteren Stellen. Während im folgenden Text das Lob der Sinne überzeugen mag, erstaunt die Unterschätzung der Sprache, der Artikulation, der invarianten Notation für eine lehr- und lernbare Wissenschaft:
Descartes
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„Und was für feine Werkzeuge der Beobachtung haben wir an unsern Sinnen! Diese Nase zum Beispiel, von der noch kein Philosoph mit Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat,
ist sogar einstweilen das delikateste Instrument, das uns zu Gebote steht: es vermag noch Minimaldifferenzen der Bewegung zu konstatieren, die selbst das Spektroskop nicht konstatiert. Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugnis der Sinne anzunehmen als wir sie noch schärfen, bewaffnen, zu Ende denken lernten. Der Rest ist Mißgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft: will sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnistheorie oder Formal-Wissenschaft, Zeichen-Lehre: wie die Logik und jene angewandte Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem; ebensowenig als die Frage, welchen Wert überhaupt eine solche Zeichen-Konvention, wie die Logik ist, hat." (KSA, GD, 6, 75 f.) -
Es ist hier nicht der Ort, den Wert von „Zeichen-Konventionen" im einzelnen zu zeigen. Es reicht zu sagen, daß der Zweifel, ob sie ,überhaupt' einen Wert haben, selbst bezweifelt zu werden verdient. Die oben ,evolutionistische' Sicht Nietzsches auf humane Praxis bestätigt sich gerade in seiner Betrachtung der „Herkunft des Logischen":
„Woher ist die Logik im menschlichen Kopfe entstanden? Gewiss aus der Unlogik, deren Reich ursprünglich ungeheuer gewesen sein muß. Aber unzählig viele Wesen, welche anders schlössen, als wir jetzt schliessen, gingen zugrunde: es könnte immer noch wahrer gewesen sein! Wer z. B. das ,Gleiche' nicht oft genug aufzufinden wußte, in betreff der Nahrung oder in betreff der ihm feindlichen Tiere, wer also zu langsam subsumierte, zu vorsichtig in der Subsumtion war, hatte nur geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als der, welcher bei allem Ähnlichen sofort auf Gleichheit riet. Der überwiegende Hang aber, das Ähnliche als gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang ,denn es gibt an sich -
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nichts Gleiches' -, hat erst alle Grundlage der Logik geschaffen. Ebenso mußte, damit der Begriff der Substanz entstehe, der unentbehrlich für die Logik ist, ob ihm gleich im strengsten Sinne nichts Wirkliches entspricht, lange Zeit das Wechselnde an den Dingen nicht gesehen, nicht empfunden worden sein; die nicht genau sehenden Wesen hatten einen Vorsprung vor denen, welche alles ,im Flusse' sahen. An und für sich ist schon jeder hohe Grad von Vorsicht im Schließen, jeder skeptische Hang eine große Gefahr für das Leben. Es würden keine lebenden Wesen erhalten sein, wenn nicht der entgegengesetzte Hang, lieber zu bejahen als das Urteil auszusetzen, lieber zu irren und zu dichten als abzuwarten, lieber zuzustimmen als zu verneinen, lieber zu urteilen als gerecht zu sein außerordentlich stark angezüchtet worden wäre. Der Verlauf logischer Gedanken und Schlüsse in unserem jetzigen Gehirn entspricht einem Prozesse und Kampfe von Trieben, die an sich einzeln alle sehr unlogisch und ungerecht sind; wir erfahren gewöhnlich nur das Resultat des Kampfes: so schnell und so versteckt spielt sich jetzt dieser uralte Mechanismus in uns -
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ab."(KSA, FW, 3,471 f.)
4. Die radikale Gegenwärtigkeit des Realen und die Bedeutung der Zeichen Nietzsches Gegenüberstellung der Welt des invarianten, daher abstrakten Wissens gegen die Welt des realen, phänomenalen Lebens dient einer Verteidigung des grundsätzlichen Primats der Gegenwart gegen die Vergangenheit und gegen die Zukunft, aber auch gegen andere Orte und Perspektiven. Wir leben immer hier und jetzt. Diese These oder Einsicht hat, wie wir noch genauer sehen werden, wichtige ethische Konsequenzen. Denn auch wenn wir mit anderen Menschen solidarisch sind, etwa indem wir ihnen helfen, finden die Sinnerfüllungen immer in einem Hier und Jetzt statt. Das Gute, das einer anderen Person getan wird, muß von ihr als Gutes erfahren werden. Auch Wahrheit gibt es nicht ohne die Erfüllungen in einem Hier und Jetzt, selbst wenn diese Erfüllungen an anderen Orten oder zu anderen Zeiten oder bei anderen Personen stattfinden. Eben hierin sehe ich Nietzsches Einsicht in die am Ende nie ganz aufhebbare Perspektivität jedes Wissen, jedes Erkenntnisanspruchs, aber auch jedes moralischen Urteils. Aus dieser Sicht kritisiert Nietzsche das Selbstmißverständnis der abstrakten Wahrheitssucher, bei aller Anerkennung ihrer asketischen Selbstverleugnimg, die aber als solche nur unter ästhetisch-moralischen Hinsichten gelobt wird, da das Illusionäre nicht zu vergessen ist: es ist kein Zweifel und hiermit lasse ich meine .fröhliche Wissenschaft' zu Worte kommen, vgl. deren fünftes Buch: ,der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, bejaht damit eine andre Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese ,andre Welt' bejaht, wie? muß er nicht eben damit ihr Gegenstück, diese Welt, unsre Welt verneinen? [.,.] Es ist immer noch eine metaphysischer Glaube, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch wir nehmen unser Feuer noch von jenem Brande, den ein jahrtausendealter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Piatons war, daß Gott die Wahrheit ist, daß die Wahrheit göttlich ist [...] Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird, wenn nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrtum, die
„[...] Ja,
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Nietzsches
ontologiekritische Sprachpragmatik
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Blindheit, die Lüge wenn Gott selbst sich als unsre längste Lüge erweist?' An dieser Stelle tut es Not, haltzumachen und sich lange zu besinnen. Die Wissenschaft selber bedarf nunmehr einer Rechtfertigung (womit noch nicht einmal gesagt sein soll, daß es eine solche -
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für sie gibt). Man sehe sich auf diese Frage die ältesten und jüngsten Philosophen an: in ihnen allen fehlt ein Bewußtsein darüber, inwiefern der Wille zur Wahrheit selbst erst einer Rechtfertigung bedarf, hier ist eine Lücke in jeder Philosophie woher kommt das? Weil das asketische Ideal über alle Philosophie bisher Herr war, weil Wahrheit als Sein, als Gott, als oberste Instanz selbst gesetzt wurde, weil Wahrheit gar nicht Problem sein durfte. Versteht man dies ,durfte'? von dem Augenblick an, wo der Glaube an den Gott des asketischen Ideals verneint ist, gibt es auch ein neues Problem: das vom Werte der Wahrheit. Der Wille zur Wahrheit bedarf einer Kritik bestimmen wir hiermit unsere eigene Aufgabe -, der Wert der ,Wahrheit' ist versuchsweise einmal in Frage zustellen ..." (KSA, -
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FW, 3, 577.)
William James' Frage nach der Bedeutung, ja der Bedeutsamkeit der Wahrheit und seine Kritik an einem rein formalen, abstrakten Wahrheitsbegriff, der auf viele verschiedene Weisen als angeblicher Korrespondenzbegriff in bezug auf eine Welt an sich mißverstanden werden kann, ist zumindest streng analog. Gleiches gilt für den radikalen Empirismus von James, der sich von einem sogenannten Empirismus wohltuend unterscheidet, der nur dem Wortlaut nach die reale Erfahrung und das reale Leben zur Basis der Beurteilung von Erkenntnis- und Wissensansprüchen macht, inhaltlich dagegen an die abstrakten Gegenstände naturwissenschaftlicher Theorien als das Reich der eigentlich wirklichen Gegenstände glaubt und den formalen, den technischen bzw. den pragmatischen Charakter unseres Sprach- und Wissenschaftsbetriebs als solchen gar nicht zur Kenntnis nimmt. Und sogar der Gedanke von einem impliziten Bewußtseinsstrom und einer Differenz zwischen Unbewußtem und Bewußtem ist bei Nietzsche vorgebildet:
„[...] der Mensch, wie jedes lebende Geschöpf, denkt immerfort, aber weiß es nicht; das bewußt werdende Denken ist nur der kleinste Teil davon, sagen wir: der oberflächlichste, der schlechteste Teil denn allein dieses bewußte Denken geschieht in Worten, das heißt in Mitteilungszeichen, womit sich die Herkunft des Bewußtseins selber aufdeckt. Kurz gesagt, die Entwicklung der Sprache und die Entwicklung des Bewußtseins (nicht der Vernunft, sondern allein des Sich-bewußt-werdens der Vernunft) gehen Hand in Hand. Man nehme hinzu, daß nicht nur die Sprache zur Brücke zwischen Mensch und Mensch dient, sondern auch der Blick, der Druck, die Gebärde; das Bewußtwerden unserer Sinneseindrücke bei uns selbst, die Kraft, sie fixieren zu können und gleichsam außer uns zu stellen, hat in dem Maße zugenommen, als die Nötigung wuchs, sie andern durch Zeichen zu übermitteln. Der zeichenerfindende Mensch ist zugleich der immer schärfer seiner selbst bewußte Mensch; erst als soziales Tier lernt der Mensch seiner selbst bewußt zu werden er tut es noch, er tut es immer mehr." (KSA, FW, 3, 592) -
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Die Semiotik (Nietzsche selbst verwendet das Wort schon) wird deswegen so bedeutsam, weil Zeichen etwas, das nicht anwesend ist, vertretungsweise gegenwärtig machen was im Grunde auch schon Parmenides in seinem Gedicht sagt. Nietzsche betont dabei aber zu Recht, daß Zeichen etwa Reales immer nur grob und schematisch vertreten können, so wie der realistischste Maler eben nur das darstellen kann, was er malen kann: nur
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Pirmin Stekeler-Weithofer
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„Dies ist der eigentliche Phänomenalismus und Perspektivismus, wie ich ihn verstehe: die Natur des tierischen Bewußtseins bringt es mit sich, daß die Welt, deren wir bewußt werden können, nur eine Oberflächen- und Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt daß alles, was bewußt wird, ebendamit flach, dünn, relativ-dumm, generell, Zeichen, Herden-Merkzeichen wird, daß mit allem Bewußtwerden eine große gründliche Verderbnis, Fälschung, Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist. Zuletzt ist das wachsende Bewußtsein eine Gefahr; und wer unter den bewußtesten Europäern lebt, weiß sogar, daß es eine Krankheit ist. Es ist, wie man errät, nicht der Gegensatz von Subjekt und Objekt, der mich hier angeht: diese Unterscheidung überlasse ich den Erkenntnistheoretikern, welche in den Schlingen der Grammatik (der VolksMetaphysik) hängengeblieben sind. Es ist erst recht nicht der Gegensatz von ,Ding an sich' und Erscheinung: denn wir .erkennen' bei weitem nicht genug, um auch nur so scheiden zu dürfen. Wir haben eben gar kein Organ für das Erkennen, für die ,Wahrheit': wir ,wissen' (oder glauben oder bilden uns ein) gerade so viel, als es im Interesse der Menschen-Herde, der Gattung, nützlich sein mag: und selbst, was hier Nützlichkeit' genannt wird, ist zuletzt nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene verhängnisvollste Dummheit, an der wir einst zugrunde gehen." (KSA, FW, 3, 593) „Der ganze Erkenntniß-Apparat ist ein Abstraktions- und Simplifikations-Apparat nicht auf Erkennmiß gerichtet, sondern auf Bemächtigung der Dinge [...]." (KSA, NF, 11, 164) -
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gehören in die Reihe der Überlegungen, welche Nietzsches Abkehr von Schopenbegründen bzw. dokumentieren. Dieser hatte Kants Transzendentalphilosophie, grob gesagt, so gelesen: Hinter den Erscheinungen gibt es eine unerkennbare Welt an sich. Diese identifiziert Schopenhauer mit dem durch Naturwissenschaft angeblich erkannten egoistischen Streben jedes Lebens nach Macht. Schopenhauer faßt nach Art von Volksevolutionstheoretikern den Kampf ums Dasein und den Willen zur Macht als natürliches und metaphysisch wirksames Prinzip hinter den Kulissen der reinen Wahrheitsliebe auf. (Das metaphysische Postulat eines Willens zum Leben und zur Macht, das im Rahmen einer Metaphysik des Daseinskampfes jedes Lebendigen steht, ist nicht zu verwechseln mit der Methodologie Darwins, der auf ideologische Erklärungen in seiner Darstellung der Entstehung der Arten zugunsten einer evolutiven Ausbreitungslehre und Überlebenslehre von Arten unter Berücksichtigung der Erfahrung von Züchtungen und naturgeschichtlichen Beobachtungen des Einflusses von Umweltbedingungen bei gegebenen Reproduktionsraten gerade Diese Sätze hauer
verzichtet.)
Nietzsche kehrt im Grunde Schopenhauers Wertungen schlicht um. Seine Umwertung aller' Werte ist damit am Ende nur eine Ablehnung der Grundkriterien christlicher Nächstenliebe und damit auch Benthams und Schopenhauers utilitaristischer Mitempfindungsethik. Sein Argument geht aus von der Unaufhebbarkeit der Ich-Perspektive im Lebensvollzug. Der Ausgangspunkt ist damit Schopenhauer selbst, den es zu entmetaphysizieren gilt. Gegen diesen in Stellung gebracht werden folgende Argumente: Es ist falsch, den Willen zum Leben und zur Macht ,an sich' als böse oder schlecht zu erklären. Es ist mehr oder minder scheinheilig, wenn auch verbalpolitsch korrekt, für einen diffusen Massennutzen einzustehen. Jedes Wissen ist aufgrund der Artikulationstechnik abstrakt, und damit schon partiell abgehoben von der Realität des Lebens. Und dennoch ist es immer schon zweckorientiert. Jede Erfüllung von Geltungsansprüchen ist außerdem perspektivisch, findet in einem Hier und Jetzt und einem Bei-Mir oder Bei-Dir oder Bei-Uns statt. Reine Transubjektivität, rein objektives Wissen, absolute Wahrheit gibt es nicht es sei denn als Ideal, als verbal bestimmte Ziel,
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Nietzsches
ontologiekritische Sprachpragmatik
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an der wir selbst Interesse nehmen und die wir autonom hinreichend und unserer selbst bewußt, entwickeln. selbst, hoffentlich
Vorstellung der Verbesserung einer Praxis,
Metaphysik des (freien) Willens und die (utilitaristische) Ethik
5. Die
Die Metaphysikkritik Nietzsches will nicht anders als die Mauthners oder Wittgensteins hinführen zu einer .richtigeren' Sicht auf uns selbst und hat daher eine wesentliche ethische Komponente. Als erstes betrachten wir die Kritik an einem ontisch-realistischen Verständnis der Rede von einem ,Willen':
die Freiheit des Willens gerade mit der Vorstellung eines beständigen, einartigen, ungeteilten, unteilbaren Fließens unverträglich: es setzt voraus, daß jede einzelne Handlung isoliert und unteilbar ist; er ist eine Atomistik im Bereiche des Wollens und Erkennens." (KSA, MA II, 2, 546)
„Nun ist der Glaube
an
Der Glaube an die Freiheit des Willens läßt sich allerdings durchaus auch anders deuten, nämlich als die verbal kurz und zusammenfassend formulierte Überzeugung, daß es möglich und wichtig ist, zwischen willensfreien (absichtlichen) Handlungen und unfreien Verhaltungen in der Welt des Tuns wenigstens grob zu unterscheiden. Auch folgende These ist bestenfalls eine Warnung vor allerlei naheliegenden Fehlverständnissen unserer Ausrucksweisen und
Unterscheidungen :
„Es liegt eine philosophische Mythologie in der Sprache versteckt, welche alle Augenblicke wieder herausbricht, so vorsichtig man sonst auch sein mag. Der Glaube an die Freiheit des Wollens, das heißt der gleichen Fakten und der isolierten Fakten hat in der Sprache seinen beständigen Evangelisten und Anwalt." (KSA, MA II, 2, 547) -
Nietzsche versteht die Rede von der Freiheit des Willens nicht einfach als vagen Titel, gesetzt über eine Praxis des Urteilens, sondern deutet sie substanzlogisch. Er selbst redet in ähnlicher Sprachform von ,der' Intelligenz, ,dem' Menschen, ,der' Herde etc., bemerkt dabei allerdings durchaus einige Probleme:
„Gerade so, wie wir Charaktere ungenau verstehen, so machen wir es mit den Fakten: wir sprechen von gleichen Charakteren, gleichen Fakten: beide gibt es nicht. Nun loben und
tadeln wir aber nur unter dieser falschen Voraussetzung, daß es gleiche Fakta gebe, daß eine abgestufte Ordnung von Gattungen der Fakten vorhanden sei, welcher eine abgestufte Wertordnung entspreche: also, wir isolieren nicht nur das einzelne Faktum, sondern auch wiederum die Gruppen von angeblich gleichen Fakten (gute, böse, mitleidige, neidische Handlungen usw.) beide Male irrtümlich." (KSA, MA II, 2, 547) -
Dies ist eine der vielen Stellen, in denen Nietzsche diagnostiziert, daß wir etwas „irrtümlich" Die zentrale Frage, was es denn heißt, etwas irrtümlich zu tun, d. h. was der Maßstab zur Differenzierung zwischen irrtümlichem und nicht irrtümlichem Tun ist oder sein soll, dies ist es gerade, was Nietzsche nicht näher bedenkt. Hier bleibt er negativer Kritiker mit bloß unter-
tun.
122
Pirmin Stekeler-Weithofer
stelltem Kriterium des Richtigen und Falschen. Eben damit bleibt seine eigene Sprach- und Moralkritik zumindest teilweise dogmatisch und metaphysisch. Die metaphysische, d. h. nicht näher reflektierte Voraussetzung der Kritik Nietzsches zeigt sich besonders deutlich an seiner doppelten Gebrauchsweise der Wörter „wahr", „Wahrheit", „richtig" und „irrtümlich". Die eine ist objektstufig: Er erklärt die üblichen Wahrheiten für nützliche Irrtümer. Die zweite ist metastufig. Er redet von einem Irrtum, der eine eigentliche Wahrheit unterstellt, die Wahrheit, daß alles fließt, die Wahrheit der unmittelbaren Phänomene hier und jetzt. Wegen der diesseitigen, immanenten, immer auch lokal-begrenzten Perspektivität jeder Sinn- und Zweck- und Wahrheitsbestimmung gibt es auch kein reines .Mitleiden'. Ja, jede Behauptung reinen Mitleidens ist verlogen, weil in sich selbst widersprüchlich: der Mitleidende meint zu wissen, was für den anderen, etwa auch für andere Lebewesen, gut ist und nimmt die anderen eben aufgrund seines wohlmeinenden Paternalismus nicht ernst. Nietzsche entdeckt damit auf seine Weise, warum der Utilitarismus in jeder seiner Formen eine heteronome und damit metaphysische Moraltheorie ist, welche das Problem der Autonomie, der Anerkennung der moralischen Wertekriterien durch uns als Personen, als Kriteriensetzer, einfach aus dem Blickfeld der Untersuchung verschwinden läßt es sei denn, die ,Argumente' und Begründungen' der Fürsprecher utilitaristischer Ethiken werden bloß als (zunächst subjektive!) Aufrufe zur Teilnahme an einer Fortführung oder Revision einer gegebenen Urteilspraxis gedeutet, und nicht etwa als Basiskriterien mit höherem Geltungs- oder Rationalitätsanspruch -
ausgegeben.
Falsch am Utilitarismus ist nicht etwa, daß die Basis aller transubjektiven Weitungen subjektive Präferenzen sind. Falsch ist die selbstgerechte Vorstellung eines uninteressierten Ur-
teils. Genauer, es wird übersehen, daß es nicht bloß auf die Inhalte der ethischen und moralischen Urteile ankommt, sondern noch wesentlicher darauf, wer es ist, der sie anerkennt, und was es heißt, für ihre Anerkennung zu werben, ihre Anerkennbarkeit oder Vernünftigkeit' zu ,begründen'. Dies ist das Problem der immanenten Autonomie der Moral und, allgemeiner, aller Sollenssätze und Normen. Es ist das Problem, daß auch der Utilitarist, nicht anders als der Christ, in der Gefahr steht, Normen einfach dogmatisch zu setzen bzw. als allgemein anerkennbar auszugeben, nur weil er sie für vernünftig hält. Dies ist im Blick auf die Freiheit der angesprochenen Personen, ihre Autonomie gerade in bezug auf die faktische Anerkennung von Urteilskriterien, ein transzendentes und zugleich heteronomes Verfahren, nicht anders als der unreflektierte Appell an eine Intuition oder an ein moralisches Sentiment. Schopenhauers Ethik ist ähnlich wie die Benthams formal säkularisiertes Christentum. Diese Ethik sagt: Schlecht ist der Egoismus des individuellen Willens zur Macht, der Zweckrationalismus des rein egoistischen Individuums. Gut ist das leidenschaftslose Erkennen und Schauen und die mitleidsvolle Aufopferung für das allgemeine Gute der generellen Schmerzverhinderung und der möglichst allgemeinen und fairen Präferenzerfüllung. In der neutralen Perspektive einer uninteressierten Schau, einer visio beatifica, und eines reinen Dienstes sieht Schopenhauer das Heil. Zum ersten Punkt sagt Nietzsche: ,
„Es gibt sehr viele gleichgültige Wahrheiten; es gibt Probleme, über die richtig zu urteilen nicht einmal Überwindung, geschweige denn Aufopferung kostet. In diesem gleichgültigen und ungefährlichen Bereiche gelingt es einem Menschen wohl, zu einem kalten Dämon der Erkenntnis zu werden; und trotzdem!" (KSA, HL, 1, 288) Der kalte Dämon ist bei lebendigem Leibe fast schon tot, gerade weil er ohne Leidenschaft ist. Gegenüber dem Altruismus ist Nietzsche schärfer. Er attestiert nämlich Schopenhauer und
Nietzsches ontologiekritische Sprachpragmatik
123
dem Christentum einen bösen Blick auf das eigene Leben und damit einen Ekel und Überdruß am Leben überhaupt, einen heimlichen Insttakt der Vernichtung, kurz, er sieht Depression und Dekadenz. Was Nietzsche verborgen bleibt, ist wieder die Ambivalenz der Tradition. Das Christentum war immer auch ein Projekt der Schaffung eines einheitlichen moralischen Universums humanen Lebens, ein Versuch der Durchsetzung der politischen Vision Piatons im Weltmaßstab, allerdings über freiwillige Assoziation und mit zunächst nur partiellem Zugriff auf die staatlichen Institutionen der Herrschaft und des Rechts. Nietzsche, der sonst überall Funktionen sieht, sieht diese Funktion religiöser Traditionen kaum; erst recht nicht deren Polyfünktionalität. Er bleibt fixiert auf die eine Perspektive der antitraditionalistischen Metaphysikkritik und auf das Ideal individueller Autonomie. Auf der anderen Seite erkennt Nietzsche das Problem der Schematisierung unseres Lebens in einer Massengesellschaft und reagiert damit auf das auch bei Marx thematisierte Problem der Entfremdung der Personen im starren Gehäuse traditionaler Institutionen. Diese Entfremdung ist immer auch ein Nicht-Begreifen humaner Institutionen und ein Nicht-Mit-Bestimmen, wenn es um ihre Einhaltung, Tradition oder Revision geht. Ontisierende, transzendente Metaphysik erweist sich damit am Ende als Apologetik der Heteronomie. Nietzsches Ruf nach einem ,Übermenschen' ist dabei nur die unglückliche Artikulation der Forderung nach einer emanzipierten Menschengemeinschaft, die ihre eigene Gegenwart selbstbewußt in die Hand nimmt und weiß, was sie tat, wenn sie Wissenschaft betreibt oder Rechte setzt oder Kunst macht oder ästhetisch oder moralisch urteilt. Nietzsche kritisiert die selbstgewisse Haltung der .letzten' Menschen, der ach so aufklärungsstolzen Europäer des 19. Jahrhunderts, die vor lauter Kritik an den Traditionen des Christentums und der Metaphysik nicht bemerken, wie ihre eigene wissenschaftliche oder moralische Weltanschauung nichts ist als formell umgedeutete Metaphysik der Tradition. Daher plädiert Nietzsche auch für eine ,Große Politik' im Sinne der bewußten Übernahme der Verantwortung der Menschen für die Erde nach der Übernahme der Herrschaft der Menschen über die Erde. Dies kann und wird durchaus auch die Verantwortung für alle Tiere und Pflanzen (und mehr) einschließen, aber nicht einfach aus Gründen einer metaphysischen Verantwortung vor Gott, der Natur oder auch nur vor zukünftigen Generationen. Die Verantwortung ist eine solche vor uns selber und wird in ihrer Erfüllung oder Nichterfüllung immer auch von uns selbst hier und heute bewertet.
6. Die nihilistische Dezentrierung menschlicher Selbstverständnisse Das gute, sinnerfüllte Leben liegt nicht in der animalischen Sucht nach Fortpflanzung der Gattung. Die modische Rede vom Egoismus der Gene ist ohnehin nichts anderes als eine Neuauflage von Schopenhauers Metaphysik des Willens (zur Macht). Was aber gehen uns die Gene bzw. die Behauptungen über sie und was geht uns Schopenhauers Metaphysik an? Nun, sie würden uns etwas angehen, wenn es sinnvoll wäre, ,an sie zu glauben', auf sie zu setzen, das Handeln und Urteilen an ihnen zu orientieren. Doch wie ein religiöser Glaube an die Allmacht Gottes das eigene Tun entwertet, besteht auch hier die Gefahr des Nihilismus. Die Gefahr besteht darin, daß die Einzel-Existenz im Rahmen des naturwissenschaftlich geprägten (nicht notwendigerweise materialistischen) Weltbildes als sinnlos erscheint.
124 Das wirklich Unerhörte
Pirmin Stekeler-Weithofer
Nietzsche ist freilich
weniger
seine
der allzu ist die Attacke gegen die altruistische Moral als säkularisiertes Christentum. Er stellt diese gesamte Tradition unter seinen Nihilismusverdacht. In der Tat ist es sinnlos, wenn jeder meint, für andere dasein zu sollen, aber niemand für sich da ist. Die Dezentrierung des Daseins, die Entmächtigung der Gegenwart zugunsten einer angeblich schönen Zukunft, die Desubjektivierung zugunsten eines angeblich allgemeinen Guten in der einen oder anderen Form des utilitaristischen Sozialismus sind alles säkularisierte Eschatologien, die nicht weniger transzendent und sinnleer, daher nihilistisch sind wie ihre theologisch-metaphysischen Urbilder. Wenn authentischer Sinn nicht im Leben hier und jetzt gefunden wird, sondern immer in einem anderen Leben, nach unserem Leben oder neben unserem Leben, dann gibt es am Ende gar keinen Sinn. Dieser Gedanke ist der einfache Gedanke von Nietzsches sogenannter Lebensphilosophie. Dabei hilft auch kein museales Ideal des Kontemplativ-Ästhetischen, der reinen Schau des wachen Schlummers. Auch die Kunst verliert ihren Sinn, wenn sie ihren Bezug zum Leben und zur Feier des Daseins verloren hat. Diesen Gedanken versucht Nietzsche durch seine Forderung eines Zurück zum Dionysischen auszudrücken: Wirklich säkularisierte Religion wird zur ekstatischen Feier des gegenwärtigen Lebens. Ohne sie verliert die Kunst ihren Ort, wird museal, vitrinisiert und am Ende selbst sinnleer. Im Bild von der ewigen Wiederkehr des Gleichen versucht Nietzsche, die richtige Haltung zur Welt zu artikulieren, nämlich als Ideal des ,amor fati', der gelassenen Anerkennung des Unabänderlichen einerseits, der ,ernsten' Authentizität im je gegenwärtigen Handeln andererseits. Die Vorstellung einer ewigen Wiederkehr der Gegenwart gibt eben dieser Gegenwart das größte Schwergewicht. Auch der Ausdruck „Wille zur Macht" ist nur Titel für die Anerkennung der grundsätzlichen Gegenwartszentriertheit von Sinn im Dasein. Es handelt sich um eine Haltung zur Tatsache der Zielgerichtetheit aller Wissensansprüche und jeder Wahrheit. Die Ziele unterstellen zwar eine Zeitstruktur, aber eine solche, die grundsätzlich in der Gegenwart fundiert ist. Die Haltung auf ein Ziel hin ist eine gegenwärtige. Unsere Verantwortung für uns und für unsere Urteile kann also nicht auf einen Gott oder eine Natur oder sonst eine Hinterwelt verschoben werden, zumal jede solche Verschiebung eine Selbstermächtigung der Hohepriester der jeweiligen Hinterwelt, des Gottes oder der Natur bedeuten kann und in der Regel auch bedeutet. Im Fall der naturwissenschaftlichen Weltanschauung ist der Hohepriester der sich als Kosmologe betätigende Wissenschaftler. Er erzählt uns eine Rahmengeschichte, in die wir uns als Objekte angeblich einzubetten haben, wenn wir unsere Lage richtig, wahr, objektiv einsehen wollen. (Das Medium der Verbreitung dieses Weltbildes ist nicht mehr die Predigt, sondern die Presse. Die neue Morgenandacht ist, wie Hegel schon bemerkt, die Zeitungslektüre.) Die Hohepriester der Wissenschaft setzen allgemeine Kriterien des Richtigen und Wahren, ohne daß sie sich in allen Details für diese Setzungen verantworten müßten oder könnten. Das Problem ist, daß sie vom arbeitsteiligen Ort ihrer eigenen Tätigkeit und vom begrenzten Zweckbezug ihrer Wissensansprüche und Wissenskontrolle abstrahieren. Damit verstecken sie die Verantwortlichkeit für die Anerkennbarkeit ihrer Kriterien hinter einer hinterweltlich aufgefaßten Natur, gerade so, wie Theologen sich und ihre Urteilskriterien hinter ihrem Gott versteckt haben. Die Kritik an der Transzendenz dieser Hinterwelten ist daher immer auch Kritik am paternalistischen Expertenwesen selbsternannter Funktionäre der Vernunft und der Wahrheit. Dabei fungieren die Leistungen der Priester, die lebenspraktischen der Seelsorger und die technischen der Wissenschaftler, allzu oft als Werbematerial in einer missionierenden Überredung, welche die Ansprüche der Experten über das arbeitsteilig kontrollierte Können an
Ironisierung
zweckfrei, absolut, aufgefaßten Erkenntnisansprüche der ,reinen' Wissenschaft,
es
Nietzsches ontologiekritische Sprachpragmatik
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hinaus auf ein angebliches Wissen über das Ganze ausdehnt. Die neue Transzendenz besteht in einer allzu euphorischen Haltung zu den Leistungen der Wissenschaft. Sie verführt uns, davon abzusehen, daß alle Wissenschaft von Menschen gemacht ist und eben damit den Vollzug des Daseins voraussetzt. Dieses selbst kann nicht einfach von außen, rein objektiv, begriffen werden. Als Hauptanliegen Nietzsches erweist sich damit die Rettung eines gegenwarts- und lebenszentrierten Verständnisses menschlichen Daseins, samt der dieses Dasein prägenden Institutionen wie der Sprache, der Wissenschaft, der Kunst, der Moral. Es geht um das Primat der Gegenwart und des Ich, des je einzelnen Lebens, gerade auch in der Gemeinschaft mit anderen und im System der Gesellschaft. Das Denken Nietzsches liegt daher keineswegs so weit ab von den Grundgedanken des Liberalismus, wie man gemeinhin glauben mag. (Die Beziehung von Max Weber zu Nietzsche bestätigt diesen Befund.) Nietzsches Ablehnung des Anti-Egoismus von Christen, Sozialisten und Utilitaristen wurde weitgehend als Plädoyer für einen rücksichtslosen Egoismus abgetan. Seine immer wütender werdenden Angriffe gegen die bornierte Dekadenz der Deutschtümelei und des Antisemitismus gerade auch bei Richard Wagner und im Wilhelminismus wurden und werden bis heute geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Diese fast unglaubliche Verwandlung vehementer Kritik in eine Apologetik der Gegner wurde nicht zuletzt durch argumentativen Mißbrauch seiner Geisteskrankheit möglich. Vielleicht ist Nietzsche aber gerade durch die Radikalität seines Nachdenkens und durch die Erfindungskraft in seiner Sprachbildung, nicht durch Ausgewogenheit, Klarheit oder Deutlichkeit, ein großer Philosoph „für Alle und Keinen", wie der Untertitel von Also sprach Zarathustra ahnungsvoll sagt. -
Knut Ebeling
Freud, die Archäologie, die Moderne1 archäologische Methode als Antwort auf Nietzsches Repräsentationskritik Die
Einleitung Beim Blättern in neuerer, sich kulturwissenschaftlich gebärdender Literatur begegnete mir zuweilen die wundersame Abwesenheit einer philosophisch fundierten Methode für diese neuformierte und sich allseits großer Beliebtheit erfreuenden Disziplin.2 Sei es, daß diese Abwesenheit einer Methode selbst Methode hat und damit methodische Abwesenheit wäre, wie einige Verfechter der operationalen Leerstellen meinen.3 Oder sei es, daß die Beliebtheit der Cultural Studies sich eben dieser Abwesenheit einer Methode verdankt und die Kulturwissenschaftler sich lieber methodenlos vergnügen philosophisch befriedigend ist diese Fröhliche Wissenschaft keinesfalls. Es ließe sich die Aufgabe formulieren, dem Vergnügen des Frohsinns ein Ende zu bereiten und für eine philosophische Fundierung kulturwissenschaftlicher Analyse zu sorgen. Denn diese Analyse existiert in der Tat. Sie funktioniert zum Erschrecken des Philosophen auch ohne ihn.4 Und sie bringt, das muß man sagen, einigermaßen haarsträubende Ergebnisse zustande, wobei darunter weniger die tatsächlichen Erträge gemeint sind als vielmehr die neuen wissenschaftlichen Schnittflächen und Vernetzungen, die sich allerorten ergeben, die differenten Rhythmisierungen und unerwarteten Gliederungen des Materials, wie sie durch eine neue Anordnung des wissenschaftlichen Instrumentariums erzielt -
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Es handelt sich hier offenbar um eine Paraphrase des Aufsatzes von Michel Foucault, „Nietzsche, la généalogie, l'histoire", in: Hommage à Jean Hippolyte, Paris 1971; dt: „Nietzsche, die Genealogie, die Historie", hg. und übers, von Walter Seitter, in: Michel Foucault, Von der Subversion des Wissens, Frankfurt a.M. 1974. 2 Ein Zeichen der Popularität ist sicher die Fülle an Neuerscheinungen zum Thema Cultural Studies oder Kulturwissenschaft. Vgl. Christina Lutter und Markus Reisenleiter (Hg), Cultural Studies. Eine Einführung, Wien 1998 ; David Chaney, The Cultural Turn. Scene-Setting Essays on Contemporary Cultural History, London/New York 1994; Roger Bromley u. a., Cultural Studies. Grundlagenbegriffe zur Einführung, Lüneburg 1999; sowie von kulturwissenschaftlicher Seite: Hartmut Böhme und Klaus R. Scherpe, Literatur und Kulturwissenschaft. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek 1996; Klaus P. Hansen (Hg.), Kulturbegriff und Methode, Der stille Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften, Tübingen 1993. 3 Vgl. Graham Murdoch, „Thin discriptions: Questions of method in Cultural Analysis", in: Jim McGuigan (Hg), Cultural Methodologies, London 1997,178-192; Texte zur Kunst. Cultural Studies, September 1999, 8; Hannelore Bubitz, Andrea D. BUhrmann, Christine Hanke und Andrea Seier (Hg.), Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults, Frankfurt a.M. 1999, 14. 4 „Die Beiträge [des vorliegenden Bandes] zeigen, daß die Diskursanalyse in den verschiedensten wissenschaftlichen Feldern für die Untersuchung gesellschaftlicher Prozesse fruchtbar gemacht werden kann [...]." Hannelore Bubitz, Andrea D. Bührmann, Christine Hanke und Andrea Seier, „Diskursanalyse (k)eine Methode? Eine Einleitung", in: Hannelore Bubitz, Andrea D. BUhrmann, Christine Hanke und Andrea Seier (Hg.), Das Wuchern der Diskurse, 15. 1
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Knut Ebeling
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werden. Den Prototyp dieses heilsamen wissenschaftlichen Schocks stellt jene „gewisse chinesische Enzyklopädie" von Borges dar, die Foucault zu Beginn seiner Ordnung der Dinge^ zitiert. Begnügen wir uns zu diesem Zeitpunkt mit einer anderen Beschreibung dieser Veränderung, die bei Freud beispielsweise ihren Ausgang nimmt: „Weit davon entfernt zu verschwinden, ändert der Diskurs daraufhin seine Funktion und Würde. Seine Lage wird bestimmt, er wird umringt, (in allen Bedeutungen des Wortes) besetzt und konstituiert."6 Die besagte Veränderung der Versuchsanordnung tritt in meinem Zusammenhang d. h. im dispersen Zusammenhang der Bücher, in denen ich blätterte zumeist unter dem Stichwort Diskursanalyse auf.7 Auch der Diskursanalyse kann man weitgehende Funktionstüchtigkeit ohne philosophisch ersichtlichen Grund bescheinigen.8 Man könnte, als Philosoph oder nicht (denn zu den Eigenheiten des hier dargelegten Diskurses gehört die vehemente Abgrenzung von allem Philosophischen ebensosehr wie eine brenzlige Nähe zum Ontologischen), man könnte also, ob Philosoph oder nicht, auch angesichts dieser höchst unerfreulichen Abneigung, auf die Idee kommen, das nebulöse Verfahren der Diskursanalyse ein wenig aufzuhellen und es philosophisch oder, wie man in diesem Zusammenhang besser sagt, theoriegeschichtlich zu fundieren. Wie man weiß, wird die Methode der Diskursanalyse gemeinhin auf Michel Foucault zurückgeführt,9 d. h. auf sein berühmtestes und philosophischstes Buch: Und zwar auf die Ordnung der Dinge von 1966.10 Dort wird, um es kurz zu sagen, ein anderes Analysemodell vorgeschlagen, das nicht Sprache, sondern Diskurse analysieren will. Wie man weiß, ist der Diskurs und nicht die Sprache in diesem Modell für die Bedeutungskonstitution zuständig; und man weiß auch, daß sich Foucault in diesem veritablen discoursive turn Nietzsche verpflichtet sieht. Zwei Jahre nach der Ordnung der Dinge spricht Foucault in dem Aufsatz „Nietzsche, Freud, Marx"" davon, daß es jene drei Autoren gewesen seien, die durch die Erfindung neuer Sprachen das Wesen der Interpretation verändert hätten. Die Besonderheit dieser Sprachen bestehe darin, daß sie nicht mehr unmittelbar auf die Welt referierten. Nietzsche, Freud und -
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5 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M. 1971, 17. 6 Jacques Derrida, „Freud und der Schauplatz der Schrift", in: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1972, 332. 7 Hannelore Bubitz u. a. (Hg.), Das Wuchern der Diskurse; Harold Woetzel, „Diskursanalyse in Frankreich", in: Das Argument (1980), Heft 126, 511 ff; Friedrich A. Kittler und Horst Turk (Hg), Urszenen, Literaturwissenschaftals Diskursanalyse und Diskurskritik, Frankfurt a.M. 1977; Charles Lebert und Garth Gillan, „The new alternative in critical sociology: Foucault's discursive analysis", in: Cultural Hermeneutics 4 (1977), 309 ff. 8 „Diskursanalytisch orientierte Forschung sieht sich seit geraumer Zeit mit einem interessanten Phänomen konfrontiert: Zwar erfreuen sich ihre zentralen Begriffe wie z. B. Diskurs, Genealogie und Archäologie in den aktuellen Diskussionen der Geistes- und Sozialwissenschaften einiger Beliebtheit. Gemessen an der Popularität
des diskursanalytischen Vokabulars scheint jedoch eine forschungspraktische Anwendung und methodologische Reflektion der diskursanalytischen Methode im (engeren) Sinne Foucaults eher marginal zu bleiben." Hannelore Bubitz u. a., „Diskursanalyse (k)eine Methode? Eine Einleitung", 14. 9 Vgl. Hartmut Böhme u. Klaus R. Scherpe, Literatur und Kulturwissenschaft, 13; Rainer Winter, „Spielräume des Vergnügens und der Interpretation", in: Jan Engelmann (Hg.), Die kleinen Unterschiede. Der Cultural Studies Reader, Frankfurt a.M./New York 1999, 37 ff.; sowie Uwe Göttlich, „Unterschiede durch Verschieben. Zur Theoriepolitik der Cultural Studies", in: Jan Engelmann (Hg.), Die kleinen Unterschiede, 58. 10 Michel Foucault, Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1966; dt: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaft, Frankfurt a.M. 1971. 11 Michel Foucault, „Nietzsche, Freud, Marx", in: Nietzsche. Colloques de Royaumont, hg. von Gilles Deleuze, Paris 1967, 183-202. -
Freud, die Archäologie, die Moderne
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Marx hätten mit der sprachlichen Referenz gebrochen. Dire Sprache repräsentiere nach diesem Bruch nicht mehr die Welt, sondern nur noch spezifische interne Mechanismen. Es spricht in ihren Texten nicht mehr ein Ausdruck von Welt, sondern nur noch das Kapital (im Falle von Marx), das Unbewußte (im Falle Freuds) oder die Physis (im Falle Nietzsches). Die Sprache sei seither nur noch ein Effekt dieser neuen Referenten, die Nietzsche, Freud und Marx
inauguriert hätten.12
Der
Begriff der Archäologie
Ein erster Hinweis auf Freud war also seitens Foucault gegeben; das Werk, das er in seinem Referat angibt, ist Freuds Traumdeutung von 1900.'3 Ein zweiter Hinweis betrifft den Begriff, dem meine eigentliche Arbeit gilt, und zwar den Begriff der Archäologie. Nun ist Foucaults Begriff der Archäologie ja hinlänglich bekannt: Man weiß, daß die Ordnung der Dinge den Untertitel Archäologie der Humanwissenschaften trägt, und man weiß auch, daß Foucault hinterher, zur Rechtfertigung seiner methodischen Probleme, die in diesem ebenso glanzvollen wie problematischen Buch en masse auftraten, noch ein zweites, ebenso funkelndes nachschob, das allein auf das Methodenproblem einer Archäologie der Humanwissenschaften rekurriert: Und zwar die Archäologie des Wissens von 1969.14 Die Archäologie des Wissens läßt jedoch jede Herleitung ihres titelgebenden Stichworts vermissen; Foucault vermeidet jeden Rekurs auf die begriffsgeschichtliche Tradition seines Archäologiebegriffs. Als ultimative Provokation an die Klassische Archäologie übernimmt Foucault einige ihrer Termini, ohne deren Herkunft auch nur zu erwähnen. Strafrechtlich ausgedrückt hieße das: Foucault verletzt das Recht auf geistiges Eigentum. Er hantiert mit den Begriffen Monument und Dokument^ um ein zentrales Beispiel aus der Archäologie des Wissens zu nennen so freimütig, als seien sie sein geistiges Eigentum. Dabei verschweigt er, daß er die Begriffe von Erwin Panofsky übernimmt, der sie 1939 ta Studies in Iconologie. Humanistic Themes in the Art of the Renaissance16 einführt ein Werk, das von Foucault -
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12 Friedrich Kittler faßt den angemerkten Paradigmenwechsel in der schlichten Feststellung zusammen: „Die Leserfrage ist nicht mehr, was die Wörter tun, sondern was der dem Schöpfer gleiche Schöpfer mit ihnen gemeint hat." (Friedrich Kittler, „Liebe und Autorschaft", in: Friedrich Kittler [Hg], Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften, Paderborn 1980, 150) 13 „Chez Freud, on sait bien comme s'est faite progressivement la découverte de ce caractère structuralement ouvert de 1 interprétation, structuralement béant. Elle fut faite d'abord, d'une manière très allusive, très voilée à elle-même dans la Traumdeutung, lorsque Freud interprète ses propres rêves, et qu'il invoque des raisons de pudeur, ou de non-divulgation d'un secret personnel pour s'interrompre." Michel Foucault, „Nietzsche, Freud, Marx", 188. 14 Michel Foucault, L'archéologie du savoir, Paris 1969; dt: Die Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1972. 15 Paul Zumthor, „Document et Monument. A propos des plus anciens textes de langue française", in: Revue des Sciences Humaines, fase. 97, Jan-März 1960, 5-20. 16 Erwin Panofky, Studies in Iconologie. Humanistic Themes in the Art of the Renaissance, New York 1939. Panofsky unterscheidet 1932 zwischen Phänomensinn (Gestaltungsgeschichte), Bedeutungssinn (Typengeschichte) und Dokumentsinn (Allgemeine Geistesgeschichte); in: Erwin Panofsky, „Zum Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst", in: Ikonographie und Ikonologie, Theorien, Entwicklung, Probleme. Köln 1979, 203. „Vereinfacht man die Definitionen, so darf man sagen, daß Stufe I auf Form- und Stilbetrachtung zielt, Stufe II auf Inhaltserklärung und Stufe III auf geistesgeschichtliche Verankerung. In den ersten beiden Stufen wird das Kunstwerk als ,Monument' gesehen, in der dritten als,Dokument'. Mit,Monument' meint Panofsky, daß das Werk als primärer Gegenstand forschender Betrachtung vor uns steht, mit Dokument, daß es sekundär als Ausdruck von etwas anderem, das erforscht werden soll, genommen wird. [.. .1 Jetzt werden '
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1967 (also zwei Jahre vor Erscheinen seiner Archäologie) ins Französische übersetzt wird.17 Nun weiß man zwar, daß die Foucaultsche Archäologie von der französischen Historikerschule Annalesx% beeinflußt sein soll, und man hat bislang vermutet, daß Foucault von dieser Schule d. h. von dem Mediävisten Jacques Le Goff19- die zentrale Unterscheidung zwischen Dokument und Monument übernommen hätte. Doch wie Foucault auf die Idee kommt, seinen nietzscheanischen Sprachzweifel methodisch als Archäologie durchzuführen, ist bis auf die Entdeckung seiner Lektüre Panofskys20 ziemlich unbekannt. Ich befinde mich also in der glücklichen Lage, die noch ungeschriebene Theoriegeschichte des Archäologiebegriffs schreiben zu können, um einige Hinweise darauf zu erhalten, wie man mit dem -
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Nietzscheschen tabula rasa der
Die
Sprache umgehen könnte.
Repräsentationskritik Nietzsches
Damit wäre ich auch schon bei der These, die ich heute vertreten möchte: Und zwar bin ich der Auffassung, daß die Methode der Archäologie d. h. die Neubesetzung eines klassischen Begriffs durch Freud, Benjamin und Foucault eine Weise ist, der Sprachkritik Nietzsches zu begegnen. Die Archäologen der Moderne, als die ich im folgenden nicht nur Foucault, sondern eben auch Freud und Benjamin verstehen werde, parieren mit ihrem methodisch differenten Vorgehen die hemmungslose Repräsentationskritik Nietzsches. Und damit ist auch schon gesagt, wie ich die Sprachkritik Nietzsches lese: nämlich als erste allgemeine Verunsicherung in Sachen sprachlicher Abbildung, also als radikale Repräsentationskritik. Wenn der Zweifel an der repräsentierenden Funktion der Sprache der abendländischen Tradition eigen ist man kann Kants Zweifel an den regulativen Ideen Gott, Welt und Ich als Repräsentationskritik lesen, genauso gut wie Hegels Einsicht in die Unübersetzbarkeit der „sinnlichen Gewißheit" auf den ersten Seiten seiner Phänomenologie des Geistes -, wenn der Zweifel an der repräsentierenden Funktion der Sprache nun auch nichts absolut Neues ist, so war Nietzsche sicher der erste, der diese Kritik derart radikal formulierte: Die Sprache repräsentiert nichts, keine Wahrheit, keinen Gott und wahrscheinlich auch kein Subjekt; die Sprache repräsentiert nichts als ihr eigenes Gesetz. -
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demnach die Kunstwerke zu .Dokumenten', d. h. zu sekundärem Material, das einem anderen Forschungsziel dient, nämlich dem Erkennen der Weltanschauung einer Epoche." Erik Forssman, „Ikonologie und allgemeine Kunstgeschichte", in: Ikonographie und Ikonologie, 270,278. Die „bedeutsame einleitende und verbindende Methodenreflexion" Panofskys dürfte Foucault als Leitfaden für seine Archäologie des Wissens gedient haben, die zwei Jahre nach der Übersetzung durch Foucault, also 1969, erstmals erscheint: „Von Panofsky hatte ich bis zum letzten Monat nichts gelesen. Nun erscheinen gleichzeitig zwei französische Übersetzungen: die Essais d'iconologie, deren Original vor fast dreißig Jahren herauskam und die fünf Studien mit einer bedeutsamen einleitenden und verbindenden Methodenreflexion enthalten [...]." Michel Foucault, „Die Wörter und die Bilder", in: Michel Foucault und Walter Seitter (Hg.), Das Spektrum der Genealogie, Bodenheim 1996; frz. „Les mots et les images", in: Michel Foucault, Dits et Ecrits 1954-1988, tome I, París 1994, 620-623. Annales d'histoire économique et sociale, Paris 1929. Zur Annales-Rezeption Michel Foucaults, vgl. Michel Foucault, Dits et Ecrits, tome I 1954-1969, 666 f; Didier Eribon, Michel Foucault, Frankfurt a.M. 1993, 255 f. Zu den Annales im allgemeinen, vgl. François Dosse, Geschichte des Strukturalismus, Band I: Das Feld des Zeichens 1945-1966, Frankfurt a.M. 1999, 269 ff. Jacques Le Goff, Geschichte und Gedächtnis, Frankfurt a.M./New York/Paris 1992; Jacques Le Goff (Hg), Die Rückeroberung des historischen Denkens. Grundlagen der neuen Geschichtswissenschaft, Frankfurt a.M. 1994. Hier ist der Kunstwissenschaftlerin Carolin Meister für den Hinweis auf Panofsky zu danken.
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Freud, die Archäologie, die Moderne
Das wäre, in aller Kürze, meine Lektüre von Nietzsches Sprachkritik, die ich vor allem (wie einige andere Teilnehmer dieser Veranstaltung sicher auch) in der kleinen Schrift namens Über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne von 1873 entdecke. Ich nehme es mir hier ausdrücklich nicht zur Aufgabe, diese Lektüre zu bestätigen und den repräsentationskritischen Befund zu untermauern; dieser Aufgabe werden sich sicherlich andere Tagungsteilnehmer besser annehmen, als ich es vermag. Ich werde mich statt dessen der methodischen Frage zuwenden, die sich aus der angedeuteten Lektüre Nietzsches ergibt. Ich verlasse also das Feld der Interpretation Nietzsches und begebe mich in den freien Raum von dessen Applikation. Diese besteht für mich, ich wiederhole, vor allem in der Frage, wie man mit einer Sprache umzugehen hat, die nichts außer sich selbst repräsentiert. Das Wie spricht man darüber? ist der Leitsatz jeder Philologie nach Nietzsche. Dies ist eine Frage, die mir nicht nur für den literaturwissenschaftüchen Diskurs relevant scheint, sondern ich erwähnte dies eingangs auch für den fröhlichen kulturwissenschaftlichen. Dessen Frage lautet: Wie sind kulturelle Artefakte zu analysieren, wenn sie nichts repräsentieren? Eine Antwort auf die Frage war, wie gesagt, die Diskursanalyse Foucaults gewesen. Doch nicht nur, weil diese in konzeptionellen Belangen unbefriedigend ist,21 sondern auch, weil die Herkunft des Begriffs der Archäologie keineswegs geklärt ist, war ein Weiterfragen angebracht. Da kam der Hinweis gerade recht,22 daß der Begriff der Archäologie auch bei Sigmund Freud eine kapitale Rolle spielte vor allem deshalb, weil dieser unter Foucaults sprachlichen Neuerern der Moderne vertreten war. Das missing link war also gefunden: Selbst wenn im besagten Text Foucaults von Archäologie noch nicht die Rede war, so konnte man doch beginnen, eine Archäologie der Moderne nicht allein ausgehend von Foucault zu formulieren. In der Tat war bereits in der Ordnung der Dinge von der Psychoanalyse als einer Ausnahmewissenschaft die Rede, die nicht dieselben Fehler begehe wie die anderen Humanwissenschaften.23 Die Notwendigkeit einer Kontextualisierung der Foucaultschen Archäologie und damit die Möglichkeit, dessen Konzept auf ein zweites Beta zu stellen ergibt sich also nicht allein aus Foucaults quellentechnischer Unberedtsamkeit, sondern ebensosehr aus dessen eigenen Hinweisen.24 Es ist in der Tat an der Zeit für eine archäologische Lektüre Freuds (wie auch Benjamins25), gewissermaßen einer Archäologie der Archäologie, die das Modell Foucaults blasphemisch auf dessen eigenes Werk zurückwendet, um das Ungedachte von Archäologie und Diskursanalyse zu denken womit ich zum Ende meiner etwas ausgedehnten Einleitung komme. -
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konzeptionellen Problemen einer Wissensarchäologie vgl. Axel Honneth, Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M. 1985 ; Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1985; Manfred Frank, Was ist Neostrukturalismus, Frankfurt
21 Zu den
a.M. 1983. 22 Dank an Prof. Dr. Klaus R. Scherpe. 23 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, 447-461. 24 Foucault unterstreicht ausdrücklich die Möglichkeit von Archäologien auf verschiedenen Wissensgebieten: „Die archäologischen Gebiete können ebenso durch ,literarische' oder philosophische' Texte gehen wie durch .wissenschaftliche' Texte." Michel Foucault, Archäologie des Wissens, 261. 25 Vgl. Christine Buci-Glucksmann, „Der Engel der Geschichte. Eine Archäologie der Moderne", in: Christine BuciGlucksmann, Walter Benjamin und die Utopie des Weiblichen, Hamburg 1984, 39-88.
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Die
„Archäologie der Seele" Freuds
Nun zu dem eigentlichen Thema des Vortrags, zur Archäologie Sigmund Freuds. Ich beziehe mich im folgenden auf das erste theoretische Hauptwerk Freuds, die Traumdeutung von 1900, die bereits von Foucault als proto-archäologisches Werk angesprochen wurde. Die These ist, daß dieses Werk implizit ein Modell von Sprach- und auch Kulturanalyse enthält, das der Sprachkritik Nietzsches entspricht oder, genauer gesagt, die Traumdeutung vertritt die Auffassung, daß eine Sprache nur dann adäquat betrachtet wird, wenn man das von ihr Ungedachte, Verdrängte, Ausgeschlossene mitbetrachtet, d. h. wenn man den Übergang von der Sprachanalyse zur Diskursanalyse vollzieht.26 Es geht nun darum, eine Verbindung zwischen der Analyse eines Traumes und der einer Kultur gangbar zu machen, d. h. einen glaubhaften link zwischen Traumanalyse und Kulturanalyse zu installieren. Denn sofern es der Kulturwissenschaft darum zu tun ist, das Ungedachte der Kultur zu denken, läge es nahe, diejenigen Entschlüsselungstechniken für diese Aufgabe zu mobilisieren, die von Freud, Benjamin und Foucault entwickelt wurden. Ich werde diese Techniken im folgenden unter dem Stichwort der -
Archäologie beschreiben. In bezug auf Freud wird die Verbindung mit dem Terminus der Archäologie keineswegs überraschen. Freud ist ein überaus dankbarer Archäologe; seine archäologische Leidenschaft ist weithin bekannt,27 seine Faszination für verschüttete Stätten, seine Sehnsucht nach Rom als dem Ort der Simultaneität von Vergangenheit und Gegenwart. Der schreibende Arzt war seit seiner Kindheit rombegeistert, so daß er selbst über einige Schichten archäologischer Ablagerungen in seinem Gedächtnis verfügte. So sagt Freud von seinen eigenen Träumen: „Es handelt sich hier um eine Reihe von Träumen, denen die Sehnsucht, nach Rom zu kommen, zugrunde liegt. Ich werde diese Sehnsucht wohl noch lange Zeit durch Träume befriedigen müssen [...]."* Freuds Leidenschaft ist durch eine unübersehbare Fülle von Briefbemer-
26
Vgl. Friedrich Kittler und Horst Turk (Hg),
kritik, Frankfurt a.M. 1977. 27
Urszenen:
Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurs-
Vgl. Anna Lucia d'Agatha, „Sigmund Freud and Aegean Archeology. Mycenaen and Cypriote Material from his Collection of Antiquities", in: Studi micenei ed egeo-anatolici 34 (1994), 7-42; Erica Davies, ,„Eine Welt wie im Traum'. Freuds Antikensammlung", in: Lydia Marinelli (Hg.), Meine alten und dreckigen Götter. Aus Sigmund Freuds Sammlung, Sigmund Freud-Museum 1998, 94-101; EricGubel, Le Sphinx de Vienne. Sigmund Freud, l'art et l'archéologie, Bruxelles 1992; Helga Jobst, „Freud and Archeology", in: Sigmund Freud House Bulletin, 2 (1978), 46 ff; Lynn Gamwell und Richard Wells (Hg), Sigmund Freud and Art. His Personal Collection of Antiquities; John Forrester, „Freudsches Sammeln", in: Lydia Marinelli (Hg), Meine alten und dreckigen Gölter, 20-35 ; Michael Molnar, „Die Abenteuerlust des Sammlers", in: Lydia Marinelli (Hg), Meine alten und dreckigen Götter, 36-45; William G. Niederland, „Die Philippsonsche Bibel und Freuds Faszination für die Archäologie", in: Psyche ¿2(1988)465-470; Rita Ransohoff, „Sigmund Freud. Collector of Antiquities, Student of Archeology", in: Archeology 28 (1915), 102-111 ; Nicholas Reeves (Hg), Freud as Collector. A loan exhibitionfrom the Freud Museum London, Tokyo 1996; August Ruhs, „Die Untiefen der Seele", in: Lydia Marinelli (Hg), Meine alten und dreckigen Götter, 72-79; Christfried Tögel, Berggasse Pompeji und zurück. Sigmund Freuds Reisen in die Vergangenheit, Tübingen 1989; Carina und Heinz Weiß, „Dem Beispiel jener Forscher folgend... Zur Bedeutung der Archäologie im Leben Freuds", in: Luzifer-Amor 3 (1989), 47; Carina u. Heinz Weiß, „Eine Welt wie im Traum Sigmund Freud als Sammler antiker Kunstgegenstände", in: Jahrbuch der Psychoanalyse 16 (1984), 189-213 ; Harald Wolf, „Archäologische Freundschaften. Emanuel Löwys und Ludwig Pollaks Bedeutung für den Sammler Freud", in: Lydia Marinelli (Hg), Meine alten und dreckigen Götter, 60-71. Vgl. Sigmund Freud, Die Traumdeutung [1900], Frankfurt a.M. 1991, 204. -
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Freud, die Archäologie, die Moderne
kungen und Beschreibungen, Analogien und Metaphern bestens belegt.29 Doch so unüberschaubar die Belegmasse archäologischen Fundmaterials im Falle Freuds ist, so übersichtlich stellt sich deren Inhalt dar. Die Grundfigur der archäologischen Leidenschaft Freuds bildet stets eine Analogisierung zwischen Archäologie und Psychoanalyse: So wie sich die Archäologie der baulichen oder monumentalen Frühzeit des Menschen zuwendet, beschäftigt sich der Psychoanalytiker mit der seelischen Frühzeit des Menschen, in der das Unbewußte seine
Prägung erfährt und die stets in der Form des Traumes wiederkehrt. Der Traum bewahrt die „seelischen Altertümer des Menschen"30 daher liegt es nahe, seine Analyse als eine Art „Archäologie der Seele" zu betreiben. Das heißt, Freud übernimmt sein berühmtes Schichtmodell des Bewußtseins aus der Archäologie: So wie sich die alten, inaktuellen Zeiten in -
älteren Gesteinsschichten ablagern, und das aktuelle Leben buchstäblich auf dem Schutt der Vergangenheit' aufbaut Benjamin würde sagen: auf der „Asche der Geschichte" so lagern die aktuellen Schichten des Bewußtseins auf dem inaktuellen Unbewußten: „Nun machen wir die phantastische Annahme, Rom sei nicht eine menschliche Wohnstätte, sondern ein psychisches Wesen von ähnlich langer und reichhaltiger Vergangenheit, in dem also nichts, was einmal zustandegekommen war, untergegangen ist, in dem neben der letzten Entwicklungsphase auch alle früheren noch fortbestehen."31 Insofern als Freud das Schichtmodell des Bewußtseins aus der Archäologie übernimmt, und dergestalt die Schichtung der Bewußtseinsstruktur anhand der Schichtung veranschaulicht, auf die der Archäologe stößt, wundert es kaum, daß die Archäologiemetapher bei Freud zu den zentralen im gesamten Werk gehört.32 Die Analogie liegt auf der Hand: Psychoanalytiker wie Archäologe gehen mit unsichtbarem weil verschütteten Material um. In ihrer Arbeit befassen sie sich mit der Herstellung von Sichtbarkeiten.33 Um die Arbeit des Archäologen in diesem Sinne zu definieren, müßte man die gesamte Masse der Gesetzmäßigkeiten zwischen sichtbarem und unsichtbarem Material durchkreuzen, denen die Sichtbarkeit unterliegt. Wie wird ein Objekt sichtbar? Auf welche Weise werden Räume und Ereignisse in Flächen codiert? Wie werden sie gespeichert, verarbeitet und übertragen? Das sind die Fragen des zeitgenössischen Archäologen, des Archäologen der Moderne?* Doch zurück zur Analogie zwischen Psychoanalyse und Klassischer Archäologie (aus der sich jedoch die Positionierung eines Archäologen des Zeitgenössischen ergibt). Eine weitere Analogie besteht darin, daß beide, Analytiker wie Archäologen, mit Fragmenten umgehen, ,
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29 Die reichhaltigste Sammlung von Belegen für die Freudsche archäologische Leidenschaft findet sich in: Lydia Marinelli (Hg), Meine alten und dreckigen Götter. Aus Sigmund Freuds Sammlung, Wien 1998. 30 Sigmund Freud, Die Traumdeutung, 539. 31 Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt a.M. 1972, 69 f. Und an Wilhelm Fließ schreibt Freud am 20.10.1895 : „Du weißt, ich arbeite mit der Annahme, daß unser psychischer Mechanismus durch Aufeinanderschichtung entstanden ist, indem von Zeit zu Zeit das vorhandene Material von Erinnerungsspuren eine Umordnung nach neuen Beziehungen, eine Umschrift erfährt." Briefe an Wilhelm Fliess, Frankfurt a.M. 1962, Brief32. 32 Karl Stockreiter, „Am Rand der Aufklärungsmetapher. Korrespondenzen zwischen Archäologie und Psychoanalyse", in: Lydia Marinelli (Hg.), Meine alten und dreckigen Götter, 80-93; Donald Kuspit, „A mighty metaphor. The analogy of Archeology and Psychoanalysis", in: Lynn Gamwell und Richard Wells (Hg), Sigmund Freud and Art. His Personal Collection of Antiquities, London 1989. 33 Siehe auch Gilles Deleuze, „Die Schichten oder historischen Formationen: Das Sichtbare und das Sagbare (Wissen)", in: Gilles Deleuze, Foucault, Frankfurt a.M. 1987, 69-98. 34 „Ce qui s'indique là, c'est la nécessité d'une archéologie de notre époque [...]." Jean-Louis Déotte, Le Musée, l'origine de l'esthétique, Paris 1993, 14.
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d. h. mit einem ausschnitthaften Versatzstück eines verschwundenen Vergangenen ganz gleich, ob dieses Vergangene in einer abgelaufenen Epoche oder einer abgelaufenen Etappe des psychischen Prozesses besteht. Vom Traum ist beim Erwachen nur ein Bruchstück überliefert, ebenso wie der Archäologe stets nur Teile der Vergangenheit ausgräbt.35 Und noch ein weiteres Problem neben der Unvollständigkeit der Quellen verbindet den Archäologen der Monumente mit seinem Kollegen, dem „Archäologen der Seele": Das Material ist nicht nur unvollständig und mangelhaft überliefert; sein fragmentarischer Charakter muß zu allem Überfluß auch noch gedeutet werden. Und dies kann auf richtige oder fehlerhafte Weise geschehen. Zu dem archäologischen Problem der Restauration tritt also das philologische Problem der Interpretation. Und genau das ist der Punkt, wo das Problem des Archäologen, der Seele oder des Monumentes, nicht nur auf die kulturwissenschaftliche Methodensuche, sondern darüber hinaus auch auf den Sprachzweifel Nietzsches trifft: Alle finden sich in der Situation, etwas interpretieren zu müssen das ist das erste Problem der Philologie -; doch niemand hat direkten oder privilegierten Zugang zum Interpretierten. Das ist die Kondition der Moderne, und das ist zugleich das Arbeitsfeld des Archäologen der Moderne. -
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Die
Archäologie der Moderne
Postulat, der Beginn der Arbeit des Archäologen der Moderne lautet: Das Interpretierte ist etwas, das weil es verborgen ist (und hier trennt man sich bereits von der Philologie, die ihren Gegenstand sicher vor Augen zu haben glaubt, und geht unmerklich zur Archäologie über) selbst der Interpretation bedarf. Der Referent des Traums ist ebenso verborgen wie der Referent des archäologischen Fundstücks. Und beide zusammen sind so verborgen wie der Referent der Sprache Nietzsches, Freuds und Marx', um mit Foucault zu Das erste
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sprechen.36
Man sieht
also, was den Archäologen der Moderne zum Sprachkritiker werden läßt, be-
ziehungsweise inwiefern der Text Foucaults das sprachkritische Grundprogramm der neuen Archäologien artikuliert: Alle diese Archäologien haben gemeinsam, daß das erste, primäre Material verschwunden ist. Alle müssen zu sprechen anfangen, ohne zu wissen wovon.37 Oder, habermasischer ausgedrückt: Alle Archäologen verbindet dieselbe nachmetaphysische Kondition, von der einen Wahrheit, dem echten und sichselbstgleichen Dokument verlassen zu sein. Eine Einheit mit dem verschollenen Ausgangsort seiner Interpretation wird ihnen „Mithin weiß die wissensarchäologische Beschreibung mit Fragmenten und Lücken, Diskontinuitäten und Leerstellen, kurz: Schweigen zu rechnen, statt sie zugunsten einer kontinuitätsverbürgenden Historie narrativ zu überbrücken." Wolfgang Ernst, Im Namen von Geschichte: Sammeln Speichern (Er)Zählen. Infrastrukturelle Konfigurationen des deutschen Gedächtnisses (1806 bis an die Grenzen zur mechanischen Datenverarbeitung), Univ.habil. Berlin 1998,237. 36 „Il n'y a rien d'absolument premier à interpréter, car au fond, tout est déjà interprétation, chaque signe est en luimême non pas la chose qui s'offre à l'interprétation, mais interprétation d'autres signes. [...] En effet, l'interprétation n'éclaire pas une matière à interpréter, qui s'offrirait àelle passivement; elle ne peut que s'emparer, et violemment, d'une interprétation déjà là, qu'elle doit renverser, retourner, fracasser à coups de marteau." Michel Foucault, „Nietzsche, Freud, Marx", 189. 37 Eine schöne Variation dieser Figur findet sich in den Frankfurter Vorlesungen Peter Sloterdijks: „Poetik des Anfangens", in: Peter Sloterdijk, Zur Welt kommen Zur Sprache kommen. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1988,31-59.
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nicht mehr möglich sein. Alle Interpretation wird zur „Deutungs-Kunst"38 oder vielmehr ist die archäologische Deutungs-Kunst erst dadurch wirkliche Kunst, weil und seitdem sie von diesem Ort verlassen ist oder weil der Archäologe ihn selbst verließ. Sichselbstgleichheit und Indifferenz werden dem Archäologen der Moderne nicht mehr möglich sein, sondern nur noch Verschiebung und Differenz. In dieser Situation wird der Mensch zur Fläche von Verschiebungen, faltet sich die conditio humana als Topographie39 auf, deren Eigenheit es ist, daß ihre Präzision in umgekehrtem Verhältnis steht zur Verlorenheit des vermessenen Vermessenden.40 Und es wird deutlich, weshalb die Situation des Archäologen ziemlich exakt die Kondition der Moderne beschreibt. Der sich als Traumdeuter beschäftigende „neue Kartograph" Freud steht vor demselben Ausgangsdilemma wie der Rest des philosophierenden Jahrhunderts: daß ohne die synthetisierende Funktion des Verstandes kein Verstehen möglich ist; und daß aber dieses Verstehen, weil es nichts erstes zu verstehen gibt, zugleich auch immer ein Mißverständnis sein muß.41 Freud macht deutlich, daß wenn wir die Wirklichkeit des Traums nicht als solche wahrzunehmen und zu repräsentieren vermögen die Forderung nach dessen Verständlichkeit geradewegs zu dessen Mißverständnis führt: „Es ist also wohl keine andere psychische Instanz als unser normales Denken, welche an den Trauminhalt mit dem Anspruch herantritt, er müsse verständlich sein, ihn einer ersten Deutung unterzieht und dadurch das volle Mißverständnis desselben herbeiführt."42 Das unwidersprochene Verlangen nach Verständlichkeit der Träume führt geradewegs zu deren Mißverständnis, der Wunsch, die Träume direkt und das heißt bei Freud: symbolisch zu deuten, führt schnurstracks zu verheerenden Fehlern. Was also tun? Gibt es tatsächlich keinen Weg zu einer adäquaten Repräsentation, genausowenig wie es einen Weg gibt zu der Wahrheit, die der Traum offenbar sagen will? Gibt es wirklich keinen Zugang zur Bedeutung, leben wir tatsächlich in einer bedeutungsverlassenen Welt? Bevor die Archäologen aufgrund der Unzugänglichkeit der ursprünglichen Bedeutung in metaphysischem Zweifel versinken, gilt es, einen Moment innezuhalten und aus der Not der metaphysischen Verlorenheit die Tugend der archäologischen Analyse zu machen. Daß dies möglich ist, zeigt die Arbeit des Archäologen, der ohne vorgängiges Material zu deuten versteht. Um die Operalisierbarkeit der archäologischen Verlegenheit zu verdeutlichen, führt Freud das Beispiel Aristoteles' an, nach dessen Auffassung derjenige der beste Traumdeuter sei und damit der fähigste Archäologe -, der Ähnlichkeiten am besten erfasse: „Denn die Traumbilder seien, wie die Bilder im Wasser, durch die Bewegung verzerrt und der treffe am besten, der in dem verzerrten Bild das Wahre zu erkennen vermöge."43 -
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Wolfgang Loch, Deutungs-Kunst. Dekonstruktion und Neuanfang im psychoanalytischen Prozeß, Tübingen 1993.
Dank an Claus Zittel ftlr diesen Hinweis. 39 Derrida bringt Freud mit einem Begriff von Topographie in Verbindung, wenn er das FreudscheVerfahren beschreibt als „das hartnäckig verfolgte Projekt [...] über das Psychische mit Hilfe einer Topographie der Spuren und einer Karte der Bahnungen Rechenschaft zu geben; ein Projekt, das das Bewußtsein oder die Qualität in einem Raum situieren will, dessen Struktur und Möglichkeit neugedacht werden müssen [...]." (Jacques Derrida, „Freud und der Schauplatz der Schrift", in: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a.M. 1972, 315) 40 Vgl. Gilles Deleuze, „Ein neuer Kartograph", in: Foucault, 39-68. 41 Zu der Analogie zwischen Denken und Traumdeuten vgl. folgende Stelle: „Unser waches Denken benimmt sich gegen ein beliebiges Wahrnehmungsmaterial ganz ebenso wie die in Frage stehende Funktion gegen den Trauminhalt. Es ist ihm natürlich, in einem solchen Material Ordnung zu schaffen, Relationen herzustellen, es unter die Erwartung eines intelligiblen Zusammenhangs zu bringen." Sigmund Freud, Die Traumdeutung, 492. 42 Sigmund Freud, Die Traumdeutung, 493. 43 Vgl. Sigmund Freud, Die Traumdeutung, 111.
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Mit Aristoteles ist gesagt, daß die Arbeit des Archäologen in gewisser Hinsicht substrahierend vorgeht: Wenn die Sprache des Traums eine Lüge und eine „Entstellung" ist, wie Freud sagt also das, was man im breitesten kulturwissenschaftlichen Konsens eine „Konstruktion" zu nennen pflegt44 dann muß man sie auch als solche behandeln. Um zu erkennen, was die Sprache repräsentiert, wenn sie schon die Wirklichkeit oder das Wahre nicht abbildet, müßte man den genauen Vorgang der Verkennung studieren. Um Zugang zum verschütteten Realen zu erhalten, muß der Archäologe eine Theorie der Verschüttung aufstellen und die Verzerrung vom Gegenstand substrahieren, um die vom Bewußtsein kolonialisierten Territorien zu dekolonialisieren. Der Archäologe muß wie ein Detektiv die Spur zurückverfolgen, die der Traum bei seiner Bildung im Bewußtsein legte.45 Mit Freuds Worten: Er müßte den Weg zurückverfolgen, den der Traum bei seiner verzerrenden Bildung ging: „Wir machen ja beim Deuten im Wachen einen Weg, der von den Traumelementen zu den Traumgedanken rückläuft. Die Traumarbeit hat den umgekehrten Weg genommen [.. .]."46 Das heißt nichts anderes, als daß der Traum nur auf topographischem Wege zu entschlüsseln ist: „Im folgenden wird also die topische, zeitliche und formale Regression des Traumes als Rückweg in einer SchriftLandschaft gedeutet werden müssen."47 Man kann also sagen, daß der primäre Gegenstand des Archäologen nicht der primäre Gegenstand ist, sondern die Zeichen seiner Verzerrung. Der Gegenstand des Archäologen ist dessen Abwesenheit. In der Weise, wie sich der Detektiv nicht mit dem Täter beschäftigt, sondern mit den Zeichen, die jener hinterlassen hat, arbeitet der Archäologe mit den Zeichen der monumentalen Vergangenheit, die er als „monumentaler Philologe"48 (Eduard Gerhard) bearbeitet. Die Arbeit des Archäologen ist also nicht das Reale, sondern das Imaginäre, das heißt die substrahierende Ergänzung dessen, was präsent ist durch das, was abwesend ist also das „Wegnehmen dessen, was der Geist den Dingen hinzugefügt hat", wie ein anderer Archäologe unseres Jahrhunderts, nämlich Georges Bataille einmal formulierte. -
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Die Logik der Codierung Diese Behandlung dieses Verfahren, diese Methode, diese Archäologie ist das, worauf ich hinaus will. Und sie ist es auch, von der ich glaube, daß sie der Sprach- und Repräsentationskritik Nietzsches, jedenfalls in Ansätzen, entspricht. Bevor man jedoch ein forsches und sich auf Nietzsche berufendes Programm der Archäologen der Moderne aufstellt, sollte man vielleicht deren Korrespondenzen klären. Zunächst ist es die Thematik der Repräsentationskritik, die die Archäologen der Moderne von Nietzsche übernehmen. Freud beispielsweise folgt Nietzsches Sprachkritik darin, daß der Traum, wie die Sprache, in seiner Darstellung keine getreue Wiedergabe des Wirklichen leistet. Die Sprache des Traums wird von Freud nicht als Repräsentation von etwas gelesen, sondern als eine Konstruktion, die spezifischen, genau zu beschreibenden Gesetzen unterliegt. Er schreibt, der Traum sei „nicht eine ge-
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44 Vgl. Ian Hacking, Was heißt .soziale Konstruktion '?, Frankfurt a.M. 1999. 45 Zum Bild des Defektives vgl. Walter Benjamin, Das Passagen-Werk Band 1, Frankfurt a.M. 1983, 549 ff. 46 Vgl. Sigmund Freud, Die Traumdeutung, 524. 47 Jacques Derrida, „Freud und der Schauplatz der Schrift", 316 f. 48 Vgl. Detlef Rößler, „Eduard Gerhards .Monumentale Philologie'", in: Henning Wrede (Hg), Dem Archäologen Eduard Gerhard 1795-1867 zu seinem 200. Geburtstag, Winckelmann-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin 1997, 55-61.
Freud, die Archäologie, die Moderne
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treuliche Übersetzung oder eine Projektion Punkt für Punkt der Traumgedanken, sondern eine höchst unvollständige und lückenhafte Wiedergabe desselben [...]."49 Zwischen den beiden Größen, dem Repräsentierten und der Repräsentation, geschehe eine fundamentale Umorganisation des Materials, die Freud in nietzscheanischem Duktus beschreibt: „Es findet zwischen Traummaterial und Traum tatsächlich eine ,Umwertung aller psychischen Werte' statt."50 In dieser wuchtigen Formulierung wird der Rückgriff Freuds auf Nietzsche sicherlich am deutlichsten. Die Sprache verwandelt sich im Prozeß dieser „Umwertung" vom Grund ihrer evidenten Bedeutung in den Abgrund ihrer beliebigen Bespielbarkeit.51 Mit anderen Worten: Freud behandelt die Sprache, die der Traum ist, nicht wie eigentlich alle Philosophen vor ihm in bezug auf Wahrheitswerte, sondern in bezug auf Möglichkeiten der Verfälschung. Das heißt, die Sprache wird von Freud als etwas verstanden, das unverständlich ist und das man entschlüsseln, decodieren muß. Daher kann man sagen, Freud geht ganz ähnlich wie Wittgenstein im Übergang vom Tractatus zu den Logischen Untersuchungen von einer Logik der Repräsentation über zu einer Logik der Codierung. Die Sprache, die der Traum ist, gehorcht einem verborgenen Code, den der Traumdeuter entschlüsseln muß. Der Traumdeuter fragt nicht unmittelbar, was der Traum bedeutet wir hatten gesehen, wie die Unmittelbarkeit der Frage ins Wölkenkuckucksheim der Deutung führt; sondern er fragt, wie diese Bedeutung zustande kommt, welcher Code sie hervortreibt. Das heißt, die Frage nach dem bedingenden Code ersetzt das Lesen des Codes: Denn „die psychische Schrift, zum Beispiel die des Traums [...] läßt sich nicht vermittels eines Codes lesen."52 Die Sprache ist nach Nietzsche, Freud und Marx, um noch einmal mit der Foucaultschen Trinität zu kommen, nach diesen Erfindern der philosophischen Subcodes nichts als eine Geheimschrift, die man mit unterschiedlichen Agenten des Diskursiven knacken kann, wie wir bereits sahen: Laut Foucault sei bei Marx das Kapital das codierende Element der Sprache, bei Nietzsche sei es die Physis und bei Freud sei es schließlich, wie sollte es anders sein, das Unbewußte. Als allen Autoren gemein kann die Entdeckung der Möglichkeit der sprachlichen Codierung, d. h. die Erfindung der Eigengesetzlichkeit der sprachlich-diskursiven Subsysteme betrachtet werden. Um das Gesagte noch einmal schematisch auszudrücken: Der Archäologe kippt die vertikale Struktur von Wahrheitswerten und setzt zwischen ihre beiden Teile Wahrheit und Falschheit, Repräsentiertes und Repräsentation, ursprüngliches Material und fragmentarisches Fundstück, Traumgedanke und Traum die Theorie von deren Umwandlung. Die dualistische Ordnung wird durch eine Reflexion auf deren Zustandekommen ersetzt: sie wird verwandelt.53 Die Verwandlung der Analyse durch den Archäologen besteht darin, daß er nicht mehr direkt fragt, was sein Fundstück bedeutet so wie der Traumdeuter nach Freud nicht fragen sollte, was unmittelbar sein Traum bedeutet. Der Archäologe fragt, wie der Traum oder das Fundstück funktionieren, d. h. wie das konkrete Traumgebilde zustande kam. Er fragt nach den -
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49 50 51
Sigmund Freud, Die Traumdeutung, 288.
Ebd., 333. „Man darfsich über die Rolle, welche dem Worte bei der Traumdeutung zufällt, nicht wundern. Das Wort, als der Knotenpunkt mehrfacher Vorstellungen, ist sozusagen eine prädestinierte Vieldeutigkeit, und die Neurosen benützen die Vorteile, die das Wort so zur Verdichtung und Verkleidung bietet, nicht minder ungescheut wie der Traum." (Ebd., 343) 52 Jacques Derrida, „Freud oder der Schauplatz der Schrift", 320. 53 „Die Rangordnung der beiden Welten [...] wird nicht nur umgekehrt. Eine neue Rangordnung und eine neue Wertsetzung behaupten sich. Die Neuheit besteht nicht darin, den Inhalt der Rangordnung oder die Substanz der Werte zu erneuern, sondern den Wert der Rangordnung selbst zu verwandeln." Jacques Derrida, „Sporen Die Stile Nietzsches", in: Werner Hamacher (Hg), Nietzsche aus Frankreich, Frankfurt a.M./Berlin 1986, 145. -
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Knut Ebeling
Formationsregeln, die dem Untersuchungsgegenstand ihre Bedeutung verleihen, nach den Formatierungsgesetzen, die für sein Format sorgen er fragt nach dem Gegenstand als
Monument und nicht als Dokument.54 Bedeutung stellt sich für den „monumentalen Philologen"55 nicht dadurch her, daß er das Bedeutete betrachtet, sondern dadurch, daß er dessen Konstitutionsbedingungen untersucht. Die metaphysische Theorie der Bedeutung wird durch die archäologische Theorie von deren Zustandekommen ersetzt. Auf diese Weise dringt der Archäologe ein in das geheimnisvolle Gewebe der Verfertigung der Dinge, so wie Freud, der als Entdecker der Aktivität der Sprache des Traums gelten kann, eindrang in das Gewebe der Verfertigung der Nachtgespinste.56 -
Die Verfahren des Imaginären Die
Archäologie untersucht nicht die Sinneinheiten eines diskursiven Zusammenhangs, die
Zeichen, in denen er sich selbst repräsentiert, sondern die Verfahren, aufgrund derer diese
Sinneinheiten und Repräsentationen möglich wurden. In der Ordnung der Dinge beispielsweise beschreibt Foucault die Verfahren, die ein kultureller Zusammenhang anwendet, um zu seinem spezifischen Zeichenverständnis und damit zu seinen spezifischen Repräsentationsformen zu gelangen. Die Unterscheidung zwischen der Analyse von Verfahren oder von Sinnstrukturen ist fundamental für die Methode, die ich mit Foucault die archäologische nenne. Archäologie meint also in diesem Zusammenhang die Freilegung verschütteter, d. h. unverständlicher diskursiver Systeme. Sie setzt mit ihrer Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Bedeutung eine Stufe tiefer an als die klassische Bedeutungslehre wobei zu fragen wäre, ob der Begriff der Archäologie (und mit ihm die Metapher des tiefer, an-derWurzel-ansetzens57) nicht einfach nur eine andere Beschreibung eines proto-strukturalistischen Projektes ist. Wie dem auch sei: In jeden Fall beschäftigt sich der Archäologe mit einer Mittelwelt heiße sie nun „Traumarbeit" oder „Diskurs"58 -, die in der metaphysischen Theorie nicht enthalten war. Freud nennt diese Mittelwelt ein „mittleres Gemeinsames".59 Dieses „mittlere Gemeinsame", diese Mittelwelt, die der Archäologe herstellen muß, erscheint auf halbem Wege zwischen den himmlischen Paradiesen der Ideen und deren Sturz in die lapidaren Verliese der gegenständlichen Realität als Möglichkeitsbedingung dieser einigermaßen -
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Vgl. Michel Foucault, Die Archäologie des Wissens, 14 ff. Vgl. Detlef Rößler, „Eduard Gerhards ,Monumentale Philologie'", 55-61. „Nicht jede Hierarchie ist zu beseitigen, denn die An-archie festigt stets die bestehende Ordnung, die metaphysische Rangordnung; nicht die Termini einer gegebenen Hierarchie sind zu verändern oder umzukehren; es ist vielmehr die Struktur des Hierarchischen selbst, die verwandelt werden muß." Jacques Derrida, „Sporen Die Stile Nietzsches", 145. 57 Habermas beschrieb das Projekt Foucaults mit dieser Trope, indem er schrieb, daß Foucault „eine Diskurspraxis mit ihren Wurzeln ausgräbt". Vgl. Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1985,296. 58 „Als Elemente in strategischen Machtfeldern stellen Diskurse Verbindungen zwischen Aussageformationen, sozialen Milieuformationen, Alltagsethiken und institutionellen Praktiken her. Sie können als eine,Mittelordnung' zwischen Wissens- und Denkformen, als normativ geregelte Vorgaben des Alltagshandelns und einer wissenschaftlichen .Ordnung der Dinge' begriffen werden." Hannelore Bubitz u. a., „Diskursanalyse- (k)eine Methode? Eine Einleitung", 12. 59 Sigmund Freud, Die Traumdeutung, 301. 54 55 56
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Freud, die Archäologie, die Moderne
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obskuren Unterscheidung: „Indem wir der Analyse des Traumes folgen, bekommen wir ein Stück weit Einsicht in die Zusammensetzung dieses allerwunderbarsten und allergeheimnisvollsten Instruments [...]."60 Es ist diese Mittelwelt, die für das Aussehen des Gegenstandes der Sprache verantwortlich ist. Das heißt, Sprache wird nicht mehr als von ihrer Bedeutung geprägt verstanden, sondern weil diese nicht mehr vorhanden ist und laut Nietzsche vielleicht nie vorhanden war als durch spezifische Gesetze gebildet. Die Analyse des Zustandekommens des Traums zeigt also, daß dieser wie jedes kulturelle Artefakt kein Ganzes ist, sondern ein heterogenes Mischwesen, ein Imaginäres. Der Traumdeuter behandelt die Träume als so imaginär wie der Archäologe die untersuchten Artefakte einer Kultur entlarvt. Es ist dieses Imaginäre der Kultur, mit dem der Archäologe umgeht. Er weiß, daß das, was die Kultur als kohärent betrachtet und aussieht wie Wirklichkeit, rein imaginärer Natur ist. Der übersetzende Archäologe übernimmt also die Aufgabe, die Benjamin in seinem Übersetzeraufsatz61 dem Übersetzer zuspricht: die Teile des imaginären Kulturganzen auseinanderzunehmen, um sie kenntlich zu machen und sie zu beschreiben. Der übersetzende Archäologe oder der archäologische Übersetzer muß den Zusammenhang, in dem sein Gegenstand fälschlicherweise erscheint, als imaginären Schein entlarven und ihn ohne seinen Zusammenhang neuen Gruppierungen und Klassifizierungen zugänglich machen. Das heißt nichts anderes, als daß der Archäologe das Ganze der kulturellen Prozeduren durch seinen methodischen Dreh in denjenigen bereits angekündigten Taumel versetzt, den jene „gewisse chinesische Enzyklopädie" bei Borges verursacht, die Foucault zu Beginn seiner Ordnung der Dinge62 zitiert und die vor allem eines zeigt: „Die Grenze unseres Denkens: die schiere Unmöglichkeit, das zu denken." -
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60 Sigmund Freud, Die Traumdeutung, 595. 61 Walter Benjamin, „Die Aufgabe des Übersetzers", in: Gesammelte Schriften, Bd. 4.1., Frankfurt a.M. 62 Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, 17.
1972,9-21.
LUKAS LABHART
pro ommáton poiein Nietzsches Teilübersetzung von Aristoteles' Rhetorik, Zur Lehre vom Stil und Also sprach Zarathustra was voran steht, daß seine [sc. Wagners] Sache und meine Sache nicht verwechselt werden wollte, und daß es ein gutes Stück Selbst-Überwindung bedurfte, ehe ich dergestalt ,Sein' und ,Mein' mit gebührendem Schnitte zu trennen lernte. Daß ich über das außerordentliche Problem des Schauspielers zur Besinnung gekommen bin ein Problem, das mir vielleicht ferner liegt als irgend ein andres, daß ich den Schauspieler aus einem schwer aussprechbaren Grunde im Grunde jedes Künstlers entdeckte und wiedererkannte, das TypischKünstlerhafte, dazu bedurfte es der Berührung mit jenem und es scheint mir, daß ich von Beiden höher und schlimmer denke als frühere Philosophen." (Sommer 1887: 2 [34], KSA 12, 80 f.)
„Vorangestellt,
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I. 1995 ist im Rahmen der KGW erstmals Nietzsches Übersetzung von Teilen der Rhetorik des Aristoteles publiziert worden.1 Nietzsche verfaßte diese im Zusammenhang mit seiner Lehr-
tätigkeit am Basler Pädagogium, wo er im Sommersemester
1874 unter dem Obertitel „Griechische Prosa" Teile der Rhetorik des Aristoteles sowie des platonischen Dialogs Gorgias behandelte, und einem zweisemestrigen Kurs über erstere an der Universität Basel vom Wintersemester 1874/75 bis zum Sommersemester 1875.2 Entsprechend dem späten Erscheinen ist Nietzsches Übersetzung von der Nietzscheforschung noch kaum zur Kenntnis genommen worden.3 Es handelt sich dabei um die Übertragung des Beginns des ersten wie desjenigen des dritten Buches der Rhetorik.
1 2
KGW, II/4, 521-611 (hinfort zitiert als „Aristoteles: Rhetorik"). „KGW, II/4" in Verbindung mit einer Seitenangabe bezieht sich im Text immer auf Nietzsches Ä/ie/oni-Übersetzung. Vgl. Curt Paul Janz, „Nietzsches akademische Lehrtätigkeit in Basel 1869-1879", in: Nietzsche-Studien 3 ( 1974), 192-203, v. a. 199 f. sowie Curt Paul Janz, Friedrich Nietzsche. Biographie, zweite, revidierte Auflage, 3 Bde., München/Wien 1993, Bd. 1, 524-528 (die Rhetorik des Aristoteles war vielleicht zusätzlich noch Gegenstand eines Kollegs im Wintersemester 1877/78; vgl. Nietzsche an Hermann Siebeck aus Ragaz am 8.6.1877, KSB 5, 243 f. und KGW, H/4, 521). Vgl. als (unmittelbares) Dokument von Nietzsches Übersetzungstätigkeit in demselben Heft wie Nietzsches Übersetzung der Rhetorik- Ende 1874: 37 [4], KSA 7, 829 f. Vgl. aber Fritz Bornmann, „Anekdota Nietzscheana aus dem philologischen Nachlaß der Basler Jahre (1869-1879)", in: Tilman Borsche, Federico Gerratana u. Aldo Venturelli (Hg.) .Centauren-Geburten '. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin/New York 1994 (= Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung, Bd. 27), 67-80, hier 75-80 zu Nietzsches, demjenigen Aristoteles' sich anpassenden, Stil, zu möglichen Gründen für die Beschäftigung mit diesem und den philologischen Bezugstexten für Nietzsches Übersetzung (Spengels Ausgabe der Rhetorik; Aristotelesstudien von Vahlen). -
3
Lukas Labhart
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Beschäftigt man sich mit Stilfragen, der Form von Nietzsches Werken, und zumal von Also sprach Zarathustra, wird der neu zu Verfügung stehende Text vor allem über einen Umweg
Interesse. Nietzsche verfaßt Juli/August 1882 also ein halbes Jahr vor der Niederschrift des ersten Teils von Also sprach Zarathustra Notizen zum Stil, die er in einem Brief an Lou von Salomé aus Tautenburg vom 8./24. August unter dem Titel „Zur Lehre vom Stil" in die Form von zehn Regeln bringt:4 von
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„Zur Lehre vom Stil. 1. noth ist thut, Leben: der Stil soll leben. Erste, 2. Der Stil soll dir angemessen sein in Hinsicht auf eine ganz bestimmte Person, der du dich mittheilen willst. (Gesetz der doppelten Relation.) 3. Man muß erst genau wissen: ,so und so würde ich dies sprechen und vortragen' bevor man schreiben darf. Schreiben muss eine Nachahmung sein. Das
was
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4
1882: 1 [45], KSA 10, 22 f. unter der Überschrift „Stil". In einer Liste behandelter oder zu behandelnder Themen (vgl. KSA 14, 661; Komm. z. St.) kommt „Stil" erstmals vor in Juli-August, 1 [19], KSA 10, 13. Die letzte Fassung (oder die Abschrift?) des Briefes an Lou findet sich (auch) in den „Tautenburger Aufzeichnungen für Lou von Salomé", Juli-August 1882, 1 [109], KSA 10, 38 f. (Nietzsche hatte freilich schon im Sommer 1875 noch während oder kurz nach der Vorlesung über Aristoteles Rhetorik mithin den Plan, „mit [s]einen Schülern Baumgartner und Brenner die Vorstudien zu einer Lehre vom Stil" in Angriff zu nehmen [8[4], KSA 8, 130].) In denselben Zusammenhang der Notizen zum Stil gehört im übrigen auch ein Gedicht was das kreative Potential der Stillehre für Nietzsche bezeugt: ,J)as Wort. Lebend'gem Worte bin ich gut: Das springt heran so wohlgemuth, Das grüßt mit artigem Genick, Ist lieblich selbst im Ungeschick, Hat Blut in sich, kann herzhaft schnauben, Kriecht dann zum Ohre selbst den Tauben, Und ringelt sich und flattert jetzt, Und was es thut das Wort ergetzt. Doch bleibt das Wort ein zartes Wesen, Bald krank und aber bald genesen. Willst ihm sein kleines Leben lassen, Mußt du es leicht und zierlich fassen, Nicht plump betasten und bedrücken, Es stirbt oft schon an bösen Blicken Und liegt dann da, so ungestalt, So seelenlos, so arm und kalt, Sein kleiner Leichnam arg verwandelt, Von Tod und Sterben mißgehandelt. Ein todtes Wort ein häßlich Ding, Ein klapperdürres Kling-Kling-Kling. Pfui allen häßlichen Gewerben, An denen Wort und Wörtchen sterben! (1 [107], KSA 10, 36) 1882 (vgl. auch die Vorstufen in KSA 14, 664 f.) ist immer noch (s. u.) die Sprache der Presse der Gegensatz
Vgl. Juli-August
'
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zu
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,,[l]ebend'gem Worte".
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pro ommáton poiein
4. Weil dem Schreibenden viele Mittel des Vortragendenfehlen, so muß er im Allgemeinen eine sehr ausdrucksvolle Art von Vortrag zum Vorbild haben: das Abbild davon, das Geschriebene, wird schon nothwendig viel blässer ausfallen. 5. Der Reichthum an Leben verräth sich durch Reichthum an Gebärden. Man muß Alles, Länge und Kürze der Sätze, die Interpunktionen, die Wahl der Worte, die Pausen, die Reihenfolge der Argumente als Gebärden empfinden lernen. 6. Zur Periode haben der Periode! nur die Menschen ein Recht, die einen langen Vorsicht vor Athem auch im Sprechen haben. Bei den Meisten ist die Periode eine Affektation. 7. Der Stil soll beweisen, daß man an seine Gedanken glaubt, und sie nicht nur denkt, sondern empfindet. 8. Je abstrakter die Wahrheit ist, die man lehren will, um so mehr muß man erst die Sinne zu ihr verführen. 9. Der Takt des guten Prosaikers in der Wahl seiner Mittel besteht darin, dicht an die Poesie heranzutreten, aber niemals zu ihr überzutreten. 10. Es ist nicht artig und klug, seinem Leser die leichteren Einwände vorwegzunehmen. Es ist sehr artig und sehr klug, seinem Leser zu überlassen, die letzte Quintessenz unsrer Weisheit selber auszusprechen." (KSB 6, 243 ff.) -
Es handelt sich bei „Zur Lehre von Stil" um die „Dekalogisierung" von „Regeln", die Nietzsche schon in anderen Werken formuliert hatte.5 Die Stillehre ist selber durch den
5
Vgl. zum Verhältnis von „Poesie" und „Rhetorik" schon Nietzsches Versuch einer Begriffsbestimmung von „Beredsamkeit" im Notât vom Herbst 1873-Winter 1873/74:30 [10], 734 ff, das mit „Im Grunde ist Dichter und Redner eins" (ebd., 735) schließt, sowie Anfang 1874-Frühjahr 1874: 32 [14], KSA 7,757 f. Deutlich unter dem Eindruck der aristotelischen „Rhetorik" entstanden ist die Aufzeichnung zum Zusammenhang von Schriftsprache und Rede wohl vom Frühjahr 1876 (15 [27], KSA 8, 285 f.), vielleicht im Umkreis von RB entstanden, wo Nietzsche auf das Verhältnis von Schreib- und Sprechstil in Wagners Schriftstellerei eingeht (vgl. RB 10, KSA 1, 502: „denn alle diese Schriften sind im Sprechstyl, nicht im Schreibstyl geschrieben, und man wird sie viel deutlicher finden, wenn man sie gut vorgetragen hört", und Sommer 1875: 11 [32], KSA 8, 221 f.). Frühling-Sommer 1878: 27 [15], KSA 8, 489, notiert Nietzsche: „Lebendige Steinform die Holzform nachahmend als Gleichniss für Rede- und Schreibstil (Lesestil)." Das Gleichniss" entnimmt Nietzsche, nicht zufälligerweise (s. u), Burckhardts Vorlesung über „griechische Kulturgeschichte" vom Sommersemester 1878, die Nietzsche nochmals als Hospitant besuchte (vgl. KSA 14, 608, Komm. z. St.)! Vgl. v. a. dann WS, Nr. 110, KSA 2, 600: ,£chreibstil und Sprechstil. Die Kunst zu schreiben, verlangt vor Allem Ersatzmittel für die Ausdrucksarten, -
„
Gebärden, Accente, Töne, Blicke. Desshalb ist der Schreibstil ein ganz Schwierigeres: er will mit Wenigerem sich ebenso verständlich machen wie jener. Demosthenes hielt seine Reden anders, als wir sie lesen; er hat sie zum Gelesenwerden erst überarbeitet. Cicero's Reden sollten, zum gleichen Zwecke, erst demosthenisirt werden: jetzt ist viel mehr römische Form in ihnen, als der Leser vertragen kann." In der Vorstufe zu diesem Aphorismus heißt es kurz und bündig: „Der Stil ist der Ersatz der Gebärde und des Tones, in der Schrift." (KSA 14,191; Komm. z. St.) Vgl. zum „Stil" auch die Aphorismen Nr. 88 und 96 von WS (KSA 2, 593 und 596) sowie Aph. 375 von M und Aph. 226 der FW (KSA 3, 245 und KSA 3, 511).
welche
nur
der Redende hat: also für -
anderer, als der Sprechstil, und
etwas viel
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Lukas Labhart
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„Reichthum an Gebärden" charakterisiert, den sie vorschreibt, außerdem erfolgt sie in einem
Brief- einer „doppelten Relation" in eminentem Maße mithin.6 Fritz Martini ist fast der einzige, der 1954 im Rahmen seiner Analyse des Zarathustra einige dieser Regeln zitiert und feststellt: „Kein deutsches Sprachwerk [seals Also sprach Zarathustra] ist mit solcher Entschiedenheit als Rede gebaut, vom Rhetorischen her konzipiert, das die Gebärde einschließt."7 Martini hat die Stilregeln nicht datiert (er zitiert noch aus Die Unschuld des Werdens), also auch nicht einen zeitlichen Zusammenhang zu Also sprach Zarathustra festgestellt. Nach ihm hat sich, so weit ich sehe, nur Hans Martin Gauger in einem Aufsatz näher mit der „Stillehre" befaßt und in „Nietzsches Stil am Beispiel von ,Ecce Homo'" den „Parlandostil" und die „Lebendigkeit" des Stils aufgrund von dessen „Sprechnähe" im Ecce Homo wiedergefunden.8 Gauger schließt den Aufsatz über „Zur Lehre vom Stil" mit der Aufforderung, die „Filiation" der darin ausgedrückten Gedanken aufzuspüren und das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit überhaupt zu reflektieren.9 In Nietzsches Übersetzung des 1. Kapitels des 3. Buches der Rhetorik von Aristoteles ist nun u. a. Folgendes zu lesen (1403b 18-1404a 39):10
„Zuerst also wurde [sc. in der Rhetorik] das untersucht, was auch von Natur das erste ist, die Dinge selbst, auf denen die Wirkung beruht; zu zweit wird nun gelehrt, wie man dies
sprachlich zur Darstellung bringe; drittens aber wäre Anleitung über etwas zu geben, was den allerhöchsten Einfluss ausübt, was aber noch niemand versucht hat abzuhandeln, ich meine die Kunst des Vortrags. [...] Wenn es nun eine Kunst des Vortrags für die Poesie giebt [...] so sollte es doch etwas Entsprechendes auch für die Rhetorik geben. Jenes lehrt man [sie], wie die Kunst des Vortrags auf der Stimme beruht, wie man diese nämlich anwendet, um jede Leidenschaft auszudrücken, wann laut, wann schwach, wann mit mittlerer Stärke zu sprechen ist, wann hoch, wann tief, wann in der Mittellage, endlich in welchem Tacte und Tempo. Denn dreierlei kommt in Betracht: Kraft des Klanges, Tonlage und Zeitmaass. Wer sich darauf versteht, der erlangt in den künstlerischen Wettkämpfen fast sicherlich den Preis, ja ein guter Schauspieler und Vortragskünstler bedeutet jetzt mehr 6
„Wirkung auf den Glauben heisst doch Wirkung auf den Glauben einer gewissen Person" (KGW, II/4, 543; Rhet. 2, 1356b 26 f.) Vgl. auch in den Vorlesungsnotizen zu „Geschichte der griechischen Beredsamkeit" (von nun an „Geschichte"), KGW, II/4,363-411,379: „Berühmt und mit vollem Bewußtsein geschrieben waren auch seine [sc. Lysias'] Briefe (bei den Alten gehören diese in's Rednerische)". Vgl. auch MA I, Sechstes Hauptstück: Der Mensch im Verkehr, Nr. 374, KSA 2,261 f. : Zwiegespräch. Das Zwiegespräch ist das vollkommene Gespräch, weil Alles, was der Eine gesagt, seine bestimmte Farbe, seinen Klang, seine begleitende Gebärde in strenger Rücksicht auf den Anderen, mit dem gesprochen wird, erhält [...]". Fritz Martini, Das Wagnis der Sprache. Interpretation deutscher Prosa von Nietzsche bis Benn (1954), Stuttgart 61970, Friedrich Nietzsche Also sprach Zarathustra, 7-55, hier 13. Siegfried Vitens, Die Sprachkunst Friedrich Nietzsches in Also sprach Zarathustra, Bremen-Horn 1951, zitiert S. 60 auch eine der Stilregeln; deren Inhalt bleibt ohne Folgen für die darauffolgenden Analysen. Hans Martin Gauger, „Nietzsches Stil am Beispiel von ,Ecce Homo'", in: Nietzsche-Studien 13 (1984), 332-355, I
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hier 339. 9 Hans-Martin Gauger, „Nietzsches Auffassung vom Stil", in: Hans Ulrich Gumbrecht und K. Ludwig Pfeiffer (Hg), Stil. Geschichte und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt a.M. 1986,200-214, hier 212. 10 Nietzsches Übersetzung von Aristoteles' „Rhetorik" hat mehrere stilistische Überarbeitungen erfahren und ist auch sonst keineswegs „fertig"; erst der Apparatband zu KGW, II/4 wird die verschiedenen Überarbeitungen mitteilen (vgl. Fritz Bornmann und Mario Carpitella, Vorbemerkung, in: KGW, II/4, V f., hier V).
pro ommáton poiein
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als ein Dichter und Erfinder. Genau so steht es nun leider auch im politischen Wettkampfe; Schuld daran ist aber die Verderbniss der Staatsverfassungen. Doch darüber giebt es noch keine Kunstlehre; ist doch die Lehre vom Stil spät genug hinzu gekommen. Und, recht verstanden, ist die Hypocrisie eine gemeine und niedrige Sache. Da aber die gesammte Redekunst auf den Schein Rücksicht nimmt, so muss man sich auch mit dieser Kunst des Scheins, mit der Lehre vom Vortrag abgeben, nicht als ob es eine rechtmässige Sache sei, sondern weil sie leider nothwendig ist. [...] Aber thatsächlich macht das doch sehr viel aus; Grund ist, wie angedeutet, aber die Verderbniss der Zuhörer." Hat doch selbst der Stil überall wo eins [sie] gelehrt wird, nur eine ganz geringe Nothwendigkeit; denn so oder so zu sprechen, das macht wenn es nur auf Deutlichkeit ankommt, nicht gar so viel aus.12 Sondern alle jene Stilkünste wollen den Zuhörer nicht belehren, sondern blenden. Deshalb braucht sie keiner, der wirklich etwas lehren will z. B. Geometrie. Entsteht aber auch einmal eine Kunstlehre des Stils (rednerischen Vortrags?), so werden ihre Wirkungen gleichartig mit der Kunst des Vortrags (Schauspielkunstlehre) sein. [...] Jedenfalls aber kann es eine Kunstlehre des Stils geben; während es kaum eine des Vortrags geben wird, da der Vortrag mehr Sache der Natur ist. Thatsächlich steht es hier wie dort: wie die Meister des Vortrags mit ihren Reden Glück machen, so die Meister des Stils mit ihren Schriften: denn bei Schriften liegt jetzt die Wirkung mehr in der Form als in den Gedanken. Wie es nun natürlich ist, fingen die Dichter damit an, auf Wort und Ausdruck Werth zu legen; denn ihr Handwerkzeug sind die Worte, denn sie suchen mit Worten nachzuahmen; und es giebt nichts an uns, was mehr zur Nachahmung geschickt wäre als Stimme und Wort. Deshalb entstanden auch, eben um nachzuahmen, noch andre Künste ausser der des Stils, nämlich die des epischen und des dramatischen Vortrags. Nun bewunderte man, dass die Dichter vermöge ihres Stils sich solchen Ruf verschafften, nämlich mit lauter ungewöhnlichen Sachen; und deshalb war die erste Manier des rednerischen Stils poetisch, wie die Manier des Gorgias. Auch jetzt noch meint die Masse der Ungebildeten, der welcher so sich ausdrückt, rede am schönsten. So steht es aber nicht, sondern rednerischer und poetischer Stil sind etwas Verschiedenes. [...] und daraus ergiebt sich, dass wir nicht mit allem, was sich auf Stil bezieht hier zu thun haben, sondern nur mit dem rednerischen Stil; über den dichterischen ist in der Poetik gehandelt." (KGW, 11/4, 597-600) Vor allem diese Stelle von Nietzsches Übersetzung der Rhetorik scheint eine große, prägende Bedeutung für alle weitere Beschäftigung Nietzsches mit Fragen des Stils zu haben.13 Für
von Borchmeier/Salaquarda, ob 1874 das Thema oder Motiv der „decadence" in Nietzsches Wagnerkritik schon vorliegt, ist also unberechtigt (vgl. Anm. 18)! Vgl. aber auch „Aristoteles: Rhetorik", KGW, 11/4,604 f.; Rhet. III2, 1405b 9-13: ,,[E]s ist nämlich nicht so wie Bryson sagt „niemand spricht hässlich, wenn anders so anstatt so zu reden dieselbe Sache ausdrückt." Das ist nämlich eine Lüge, dass man eine Sache ebenso gut so wie so ausdrücken könne; denn ein Ausdruck ist characteristischer und adäquater als der andre, und mehr geeignet eine Sache deutlich vor die Augen zu stellen." (Es ist diese die einzige Stelle, wo in Nietzsches Übersetzung Aristoteles' „Vor-Augen-Stellen" wörtlich vorkommt). Vgl v. a. die Aphorismen Nr. 246 und vor allem 247 von JGB (als Vorstufe zu beiden Aphorismen vgl. April-Juni 1885: 34 [102], KSA 11, 454, nur zu Nr. 247 Herbst 1885: 44 [3], KSA 11, 705) und den 4. Abschnitt von „Warum ich so gute Bücher schreibe" in EH, in dem sich Nietzsche zur „Kunst des Stils" äußert (KSA 6, 304 f.). Die Bedeutung der „Öffentlichkeit" für die Kunst der Rede, die in JGB, Nr. 247, KSA 5, 190, betont wird, hat Nietzsche von Burckhardt übernommen; vgl. Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, in: Gesamtausgabe, 10. Bd.: Griechische Kulturgeschichte, 3. Bd., hg. v. Felix Stähelin und Samuel Merian, Basel 1930, z. B.
11 Der Zweifel 12
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Lukas Labhart
„Stil" hatte sich Nietzsche besonders seit seiner Bekanntschaft mit Schopenhauers „Über
Schriftstellerei und Stil"14 sowie mit Lichtenberg interessiert;15 diese Beschäftigung mit Stilfragen war dann in die erste Unzeitgemäße Betrachtung David Strauss der Bekenner und Schriftsteller eingegangen. Nun kommen Aristoteles und Burckhardt als „verborgene" Autoritäten für Nietzsches Theorie und Praxis des „Stils" hinzu.16
II. Zunächst fällt auf: Im zitierten Abschnitt aus der Übersetzung der Rhetorik ist von den Schauspielern, der Kunst des Vortrags oder „Hypocrisie" (der späteren „actio" oder „pronuntiatio"17) die Rede. Die erste Verbindung Richard Wagners mit dem Begriff des „Schauspielers" fällt nun in die Zeit von Nietzsches Beschäftigung mit Aristoteles' Rhetorik- 1874.'8 321 (die „Beredsamkeit der Auftretenden [...], die, wie alles Öffentliche, kunstgerecht sein sollte [...]"; der Gedanke wird in der Griechischen Kulturgeschichte häufig angesprochen). 14 Arthur Schopenhauer, Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften, Kap. 23: „Über Schriftstellerei und Stil", in: Sämtliche Werke, textkritisch bearb. u. hg. v. Wolfgang Frhr. von Löhneysen (1965), 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1994, Bd. V, 589-650. 15 Vgl. als Dokument des Moments, in dem Nietzsche seine „stilistische Unschuld" verliert, Nietzsche an Carl von Gersdorff am 6.4.1867, KSB 2,208 f. Zur frühen Beschäftigung mit „Stil" vgl. Martin Stingelin, Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs ". Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption im Spannungsfeld zwischen Sprachkritik (Rhetorik) und historischer Kritik (Genealogie), München 1996 (= Figuren, Bd. 3), „4.1. Physiognomik des Stils", 79-91 (mit Anm). Vgl. das für Nietzsches Stilkritik wichtige Notât von Sommer 1872-Anfang 1873:19 [232], KSA 7, 493: „Die redenden Künste! Da liegt's, weshalb die Deutschen keine Schriftsteller werden können!" Auch dieser Gedanke dürfte im Zusammenhang mit Burckhardts Vorlesung im Sommersemester 1872 stehen! 16 Das griechische lexis mit Stil und nicht, wie heute, mit „sprachlicher Ausdruck" zu übersetzen, ist im 19. Jahrhundert üblich; vgl. etwa Aristoteles, Werke, Erstes Bändchen: Schriften zur Rhetorik und Poetik, uebers. v. Karl Ludwig Roth, Stuttgart 1833 (BN), passim. 17 Vgl. Quint. XI3, 1 (zitiert wird im folgenden nach Marcus Fabius Quintilianus, Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher, hg. u. übers, v. Helmut Rann, dritte, gegenüber der zweiten unveränderte Auflage, Darmstadt 1995). 18 Vgl. Anfang 1874 bis Frühjahr 1874: 32 [8], KSA 7, 756, und Dieter Borchmeier und Jörg Salaquarda, „Nachwort: Legende und Wirklichkeit einer epochalen Begegnung", in: Nietzsche und Wagner. Stationen einer Begegnung, hg. v. Dieter Borchmeier u. Jörg Salaquarda, Frankfurt a.M./Leipzig 1994, 1271-1386, hier 1308 f.: „In seinen [sc. Nietzsches] Aufzeichnungen aus dieser Zeit [sc. von Anfang 1874] darf man seinen bedeutendsten Beitrag zur Wagner-Kritik sehen [... ] Sie enthalten (mit Ausnahme allenfalls der Décadence-Analyse) schon nahezu alle Argumente der späteren polemischen Schriften. [...] Da wird er bereits als musikalischer Rhetor und „versetzter Schauspieler" charakterisiert (freilich konzediert Nietzsche hier noch, daß er es ,/iie im persönlichen Leben sei") [...]". In der Aufzeichnung, aus der Borchmeier/Salaquarda zuletzt zitiert haben, steht danach: „Als Schriftsteller ist er [sc. Wagner] Rhetor, ohne die Kraft zu überzeugen." (Anfang 1874-Frühjahr 1874: 32 [41], KSA 7, 766) Zu Wagners Stil vgl. auch RB (und Sommer 1875: 11 [32], KSA 8,221 f.) sowie Sommer 1878: 30 [115], KSA 8, 543. Es gilt festzuhalten, daß Wagner auch auf andere Weise mit dem Begriff des „Schauspielers" assoziiert ist, nämlich durch die eigene Theorie, die sich v. a. in „Über die Bestimmung der Oper" (1871) sowie „Über Schauspieler und Sänger" (1872) artikuliert. Hier deutet Wagner u. a. das „Shakespear'sche Drama als eine fixirte mimische Improvisation von allerhöchstem dichterischen Werthe" (Richard Wagner, „Ueber die Bestimmung der Oper", in: Gesammelte Schriften und Dichtungen, Leipzig 1873, Neunter Band, 153-187, hier 172 [BN]). An diesen Aspekt der „Schauspielerei" Wagners schließt Nietzsche zweifellos auch an (vgl. Giuliano Campioni, „Wagner als Histrio. Von der Philosophie der Illusion zur Physiologie der décadence", in: .CentaurenGeburten'. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, 461-488) etwa in dem Notât vom Sommer 1875: 11 [29], KSA 8,218 f.; dieser Aspekt der „Schauspielerei" aber scheint mir (nicht nur quantitativ) gegenüber dem Gegensatz zur „Kunst des Stils" von geringerer Bedeutung zu sein. „
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Diese Verbindung bleibt bekanntlich bis zuletzt man lesen:
bestehen;19 in Der Fall Wagner etwa kann
„Wagner war nicht Musiker von Instinkt. Dies bewies er damit, dass er alle Gesetzlichkeit und, bestimmter geredet, allen Stil in der Musik preisgab, um aus ihr zu machen, was er nöthig hatte, eine Theater-Rhetorik, ein Mittel des Ausdrucks, eine Gebärden-Verstärkung, der Suggestion, des Psychologisch-Pittoresken. [...]" (KSA, WA, 6, 30; „Stil" von mir
hervorgehoben, L. L.)20
Entgegensetzung von Wagners Nicht-Stil, „Unvermögen zum Stil überhaupt" (KSA, WA, 6, 28),21 und dem „grossen Stil" in der Spätzeit ist bekannt.22 Die Gegenüberstellung von Die
Kunst des Vortrags und Kunst des Stils in Nietzsches Übersetzung des 1. Kapitels des 1. Buches der aristotelischen Rhetorik ist freilich kein absoluter Ursprung.23 Vielmehr hat die Differenz von agonistiké und graphiké um die einschlägigen Termini im von Nietzsche nicht mehr übersetzten 12. Kapitel des 3. Buches der Rhetorik des Aristoteles zu verwenden strukturierende Wirkung für alle, griechische Literatur behandelnden Vorlesungen Nietzsches: sowohl für „Geschichte der griechischen Beredsamkeit" und für „"24 wie auch und ganz besonders für „Geschichte der griechischen Litteratur", -
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19 Auch Nietzsches Vergleich von Wagner mit Demosthenes in WB gehört in diesen Zusammenhang (vgl. WB 9, KSA 1,195; vgl. aber Sommer 1878:30 [15], KSA 8, 525): „[...] Demosth. gefragt, was bei der ganzen Aufgabe des Redners die Hauptsache sei, hat gesagt 1) der Vortrag 2) der Vortrag 3) der Vortrag. [...] Wichtig die richtige Vertheilung des Athems. [... ] Nie singen, was aber die Asianer thaten [...]" („" [von nun an ], KGW, 11/4,413-502,501 f.) Zum Schauspielertum (v. a.) des Demosthenes vgl. aber (neben „Gesch. der gr. Litt", 3. T., 162) vor allem „Geschichte", KGW, 11/4,390-94, wo auch (schon) steht, daß solche „Schauspieler" „leicht bei ihren Zeitgenossen den Eindruck von Naturalisten oder Virtuosen oder gar Dilettanten machen" (394), ein topischer Vorwurf gegen Wagner, den sich dieser sogar zu eigen machte (vgl. Ein Wagner-Lexicon. Wörterbuch der Unhöflichkeil [...] gegen den Meister Richard Wagner [...] gesammelt von Wilhelm Tappert, Leipzig 1877, Art. Dilettant, 8 ff). Wagner steht auch in den „Rhetorik"-Vorlesungen immer 20
„im Hintergrund". Vgl. auch ebd., Nr. 11, 38. Im Abschnitt „Wo ich Einwände mache" von NW gibt es nicht immer in KSA 14, 523 verzeichnete Änderungen gegenüber FW, 5. Buch, Nr. 368: „Der Cyniker redet", KSA 3, 616 ff., das es ansonsten kopiert: Hier spricht Nietzsche vom „Theatermensch[en] und Schauspieler" ,/ieben dem Wagner, der die einsamste Musik gemacht hat, die es giebt" (KSA 6,418 ff., hier419). Vgl. neben M, Viertes Buch, Nr. 255: „Gespräch über Musik", KSA 3, 206 ff. und ebd., Viertes Buch, Nr. 324: „Philosophie der Schauspieler" (231) ebd., Fünftes Buch, Nr. 533: „Wir Anfänger!" (305). Die Vorstufe zu „Der Cyniker redet" sowohl wie zu WA ist unter der Überschrift „Neue unzeitgemässe Betrachtung" Herbst 1885-Herbst 1886: 41 [2], KSA 11, 669-678. Vgl. zur „Gebärde" auch WA 10, KSA 6,35: „Nochmals gesagt, Wagner konnte nicht aus dem Ganzen schaffen, er hatte keine Wahl, er musste Stückwerk machen, „Motive", Gebärden, Formeln, Verdopplungen und -
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Verhundertfachungen, er blieb Rhetor als Musiker er musste grundsätzlich deshalb das ,es bedeutet' in den Vordergrund bringen." 21 Vgl. auch ebd., „Zweite Nachschrift", KSA 6,48, der Gegensatz: „Brahms ist kein Schauspieler." 22 Vgl. v. a. GD, Nr. 11, KSA 6, 118 f. Auch den Begriff des „grossen Stils" übernimmt Nietzsche von Burckhardt. 23 Der Einzige, der bisher auf Burckhardts Einfluß auf Nietzsche in diesem Bereich hingewiesen hat, scheint Charles Andler gewesen zu sein; vgl. Charles Andler, Nietzsche, sa vie et sa pensée, vol. 1 : Les précurseurs de Nietzsche, Deuxième édition, Paris 1920,312-21 ; ,,[a]ucune littérature [sc. als die griechische], a dit Nietzsche, ne fut moins livresque, mais cette pensée est de Burckhardt. [...]" (313) 24 Vgl. v. a. „§ 3 Verhältniß des Rhetorischen zur Sprache", 425: „Im Allgemeinen erscheint uns, die wir rohe Sprachempiriker sind, die ganze antike Litteratur etwas künstlich u. rhetorisch, zumal die römische. Das hat auch darin seinen tieferen Grund, daß die eigentliche Prosa des Alterthums durchaus Widerhall der lauten Rede ist u. an deren Gesetzen sich gebildet hat: während unsere Prosa immer mehr aus dem Schreiben zu erklären ist, unsere -
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welche Vorlesung Nietzsche parallel zu der über Aristoteles' Rhetorik hielt (deren dritten Teil ein Semester später).25 Diese strukturierende „Leitdifferenz" hat Nietzsche aus Burckhardts Vorlesung über „Griechische Kulturgeschichte" übernommen. Im Sommersemester 1872 besuchte er diese gelegentlich,26 im Sommer 1874 erhielt er eine erste Mitschrift seines Schülers Adolf Baumgartner (im Sommer 1875 eine zweite von Louis Kelterborn).27 Da konnte er hören und lesen:
„Mit der vollen Ausbildung der Polis zur Demokratie, als Volksversammlung und Volksgericht die Schicksale entschieden, mußte dann die Rede alles und die jetzt plötzlich zum Gegenstand methodischer Lehre gewordene Redekunst eine Sache der größten Anstrengung werden, die man bald im ganzen griechischen Leben als großes Hauptelement pflegte, und hier ist nun die Stelle für diejenige Parallele, wodurch das vollständigste Licht auf die Sache fällt, nämlich für die mit der modernen Presse. Freilich war die Wirkung der griechischen Rede an die Stelle und an die Person und trotz aller zeitweiligen Vorbereitung an den Moment gebunden und duldete so gut wie keine Übertragung in die Ferne; einer mußte dastehen, und jetzt und in Gegenwart oft von unzähligen Zuhörern; er mußte bei einer bestimmten Sache bleiben, um derentwillen er und seine Gegner da waren; vom Stimmungmachen pro und kontra in die Ferne und aus der Ferne, vom Aufregen weit entlegener Massen, ja entfernter Völker war keine Rede, überhaupt nicht von einem unsichtbaren Druck von außen, wie ihn die Presse übt. Aber gleichwohl entspricht bei den Hellenen nichts sosehr die Macht unserer Presse wie die Macht ihrer gesprochenen Rede. Wir mögen uns wohl einmal die müßige Frage stellen, wie es gegangen wäre, wenn die alten Athener plötzlich nur noch hätten Zeitungen lesen müssen, anstatt Reden zu hören."28 -
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Stilistik sich als eine durch Lesen zu percipirende giebt. Der Lesende und der Hörende wollen aber eine ganz andre Darstellungsform u. deshalb klingt uns die antike Litteratur .rhetorisch': dh. sie wendet sich zunächst ans Ohr, um es zu bestechen. Außerordentliche Ausbildung des rhythmischen Sinnes bei den Griechen u. Römern, im Hören des Gesprochenen, bei ungeheurer fortwährender Übung. Es steht hier ähnlich, wie bei der Poesie wir kennen Litteraturpoeten, die Griechen wirklichen Poesie ohne Vermittlung des Buches. Wir sind viel blasser und abstrakter." (Das „blasser" kommt im Zusammenhang mit Schreiben wörtlich auch in „Zur Lehre vom Stil" vor.) Friedrich Nietzsche, „Geschichte der griechischen Litteratur", in: Friedrich Nietzsche, Werke, Bd. XVIII, Dritte Abtheilung: Philologica, Bd. II: Unveröffentlichtes zur Litteraturgeschichte, Rhetorik und Rhythmik, hg. v. Otto Crusius, Leipzig 1912, 1-198. Vgl. dazu Barbara von Reibnitz, „Vom ,Sprachkunstwerk' zur,Leseliteratur'. Nietzsches Blick auf die griechische Literaturgeschichte als Gegenentwurf zur aristotelischen Poetik", in: Centauren-Geburten '. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, 47-66. Vgl. die in Anm. 15 zitierte Notiz von Sommer 1872 bis Anfang 1873. Vgl. Nietzsche an Overbeck am 30.5.1875, KSB 5, 58 und Felix Stähelin, „Einleitung des Herausgebers", in: Jacob Burckhardt, Gesamtausgabe, 8. Bd.: Griechische Kulturgeschichte, 1. Bd., XV-XL, hier XXVIII. Möglicherweise kann der Nachweis des Einflusses Burckhardts die Lösung der Frage um die Datierung von „Geschichte" resp. „" (und von „Abriß der Geschichte der Beredsamkeit" [KGW, II/4, 503-520]) auf Wintersemester 1872/3 resp. Sommersemester 1874 mitbestimmen (vgl. Fritz Bornmann, „Zur Chronologie und zum Text der Aufzeichnungen von Nietzsches Rhetorikvorlesungen", in: Nietzsche-Studien 26 [1997], 491500; Ernst Behler, „Nietzsches Studium der griechischen Rhetorik nach der KGW", in: Nietzsche-Studien 27 [1998], 1-12 und Glenn Most und Thomas Fries, „: Die Quellen von Nietzsches Rhetorik-Vorlesung"). Jacob Burckhardt, Griechische Kulturgeschichte, 3. Bd., 304 f. Vgl. auch ebd., 324: Alkidamas mache „darauf aufmerksam, daß die Verfasser gerichtlicher Rede den Stegreifstil nachahmen und dann am besten zu schreiben glauben, wenn ihre Reden am wenigsten den geschriebenen gleichen. Überhaupt ist die Geringschätzung jedes Schreibens merkwürdig, die damals noch möglich gewesen sein muß; denn was Alkidamas gegen das Redenschreiben vorbringt, gilt zum Teil gegen jede Autorschaft." Interessant ist in diesem Zusammenhang daß Burckhardt selber „gewiß nicht für ein Buch, sondern für einen akademischen Kurs ,vom Geist der Griechen'" -
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Die dadurch gegebene Distanz zu den Griechen (bis Aristoteles), daß der Vortrag, Mündlichkeit gegenüber der „Litteratur" bei diesen vorherrschend und bestimmend war, strukturiert alle drei Vorlesungen Nietzsches. So heißt es deutlich die eben zitierte Stelle in Burckhardts Vorlesung „wiederholend" zu Beginn von „Geschichte der griechischen Beredsamkeit": -
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„Im Reden-können concentrirt sich allmählich das Hellenische und seine Macht [...] Die maaßloseste Überhebung, als Rhetoren und Stilisten alles zu können, geht durch das ganze Alterthum, in einer für uns unbegreiflichen Weise. Sie haben die .Meinung über die Dinge' und dadurch die Wirkung der Dinge auf die Menschen in der Hand, das wissen sie. Dazu
ist freilich nöthig, daß die Menschheit selbst rhetorisch erzogen war. Im Grunde ist jetzt auch in der höheren ,klassischen' Erziehung ein guter Theil dieser antiken Auffassung erhalten: nur daß nicht mehr die mündliche Rede, sondern mehr das abgeblaßte Bild derselben, das Schreibenkönnen als Ziel hervortritt. Wirkung durch Buch und Presse als das durch Erziehung zu Erlernende ist das am meisten Alterthümliche ta unserer Bildung. Nur ist unser Publikum unglaublich tiefer vorgebildet [und] als in der hellenistisch-römischen Welt: nur so sind die Wirkungen durch viel plumpere Mittel zu erreichen; und alles Feine wird entweder abgelehnt oder erregt Mißtrauen: bestenfalls hat es seinen engen Kreis." („Geschichte", KGW 1174, 367 f.)
II. Es ist sicher kein Zufall, wenn wir im Zusammenhang des Gegensatzes von Kunst des (Schauspieler-)Vortrags und Kunst des (Schrift-)Stils bei Nietzsche auf Richard Wagner stoßen; steht
sich in den 60er Jahren mit dem „Hellenentum" intensiv zu beschäftigen beginnt; vgl. Burckhardts Brief an Otto Ribbeck vom 10. Juli 1864, zit. in Felix Stähelin, „Einleitung des Herausgebers", XVI; daß Burckhardt auch später von einer Veröffentlichung seiner Vorlesungen in einem Buch nichts wissen wollte, ist bekannt. In dem Abschnitt „Die Redekunst", aus dem die Burckhardt-Zitate stammen, ist auch Folgendes zu lesen: „Von den magischen Wirkungen des Perikles und davon, wie er als Olympier donnern und blitzen und Hellas durcheinanderrühren konnte, oder auch, wie eine Göttin der Beredsamkeit auf seinen Lippen thronte und er den Stachel in den Seelen der Hörer zurückließ, erzählen alten Quellen. [...] daß ihm [sc. Perikles] aber anderseits die leidenschaftlichen Formen der Rede, wie sie Demosthenes hat, noch fehlten; auch stand er regungslos, im Mantel eingehüllt, da, und die Stimme behielt stets gleiche Höhe und Tiefe." (Ebd., 309 f.; vgl. PHG 19, KSA 1, 870 f. und WL 2, KSA 1, 890). Vgl. mit all dem „Geschichte", „§ 3: Verbindung der sprachlichen Kunstwerke mit anderen Künsten", 12: „Endlich die Hypokrisis. Echt antik ist selbst die nähere Verwandtschaft von Gesang und mimischem Tanz mit der Kunst des Redners, zwar so, dass die ausgeartete Kunst am meisten damit verwandt ist; doch bis zu einem Grade auch die classische, und jedenfalls viel mehr, als wir uns vorstellen. Dies liegt im Begriff hypokrisis, man verlangt eine Art Schauspielerkunst vom Redner. Welcher Unterschied zwischen Perikles und Demosthenes. [... ] Demosthenes hingegen bezeichnet die hypokrisis als das Erste, Zweite und Dritte in der Beredsamkeit [... ]". Ebd., 17 f.: „Die geschriebenen Reden seien eigentlich gar keine Reden [lautet das Programm der Gorgianer gegen die Isocrateer in Isokrates' Rede gegen die Sophisten], sondern Nachbilder von solchen und erinnerten in ihrer Starrheit an die Bildsäulen im Gegensatz zu lebendigen Körpern. [...]- Also in summa: Die Prosaliteratur hat ihre Feinde gehabt, ihre Schätzung ist, ganz abgesehen von der Schätzung der Autoren, eine schwankende gewesen. Ihr Gebiet ist erst sehr eng gewesen, dann erst wollte man nur die Kunstprosa gelten lassen; Aristoteles bezeichnet eine Wendung, denn er hält den künstlerischen Stil der Prosa für etwas Geringes, phortikon, und meint, Deutlichkeit sei genug. [...]"
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doch Nietzsches Beschäftigung mit Rhetorik ebenso wie mit der Metrik und Rhythmik der Griechen immer auch in einem Bezug zu diesem.29 Sowohl bei Wagner wie bei Nietzsche und gemäß Nietzsche bei jedem Künstler ist das Problem der Mitteilung ein entscheidendes.30 Bei Nietzsche gilt dies ganz besonders für Also sprach Zarathustra, diesem „Buch für Alle und Keinen", dessen „Grundconception", wie es in Ecce homo heißt, der „Ewige-Wiederkunfts-Gedanke" ist (KSA, EH, 6, 335). „Gedanke" aber ist Nietzsches etymologisch richtige31 Übersetzung von „enthymema" im ersten Buch der Rhetorik: neben dem Beispiel eines der zwei Beweismittel, über welches die Rhetorik nach Aristoteles verfügt.32 -
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Vgl. Fritz Bornmann, „Anekdota Nietzscheana aus dem philologischen Nachlaß der Basler Jahre ( 1869-1879)", 70: „Seit der Veröffentlichung der Geburt der Tragödie gingen Nietzsches Hauptinteressen in eine ganz andere Richtung [sc. als die philogische im traditionellen Sinn]", und Glenn Most und Thomas Fries, „: Die Quellen von Nietzsches Rhetorik-Vorlesung", 3 8 ff. : „Am Anfang von Nietzsches Beschäftigung mit Rhetorik steht, nebst der gegebenen Lehrtradition, ein genuines Interesse an der Frage, wie man öffentliche Wirkung erzielen, wie man durch Reden und Schreiben etwas bewirken kann. [...] Die Tatsache, daß Nietzsche Aristoteles' Rhetorik sorgfältig übersetzte und eine schöne Reinschrift erstellte, mag auf die Bedeutung dieses Textes für Nietzsche hinweisen: nämlich als wichtigster (und vielleicht einziger) Gegenspieler, dessen wissenschaftliche Fundierung der Rhetorik Trennung von Sprache und Sprachbetrachtung alle früheren und späteren Darstellungen überragt. In diesem Sinn könnte man die Beschäftigung mit Aristoteles als Korrelat oder Korrektiv zur .Abhandlung über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne' sehen, und zwar im Interesse von Nietzsches eigener Lehrtätigkeit, die er damals keineswegs als abgeschlossen ansah. Doch das ist, wie gesagt, reine Spekulation." Vgl. RB 9-11, KSA 1, 484-510, und „Gesch. d. griech. Litt.", 3. T., „3. Das ursprüngliche Publikum jeder Gattung", 145 f. : „Alle Künstler wollen sich mittheilen, alle ihre Mittel dazu sind bewusst oder unbewusst darnach gewählt, wem sie sich mittheilen wollen. Es ist eine grosse Unnatur, für ein .gemischtes' Publikum zu schreiben, weil die Anschauung davon vag ist und dem Autor kein Maass giebt. Aber schon jede Bestimmung für Leser einer gewissen Bildung, eines gewissen Standes ist noch sehr allgemein; wer sehr genau weiss, ,der und der Leser ist mein Maass, ihm will ich mich mittheilen', schreibt gewöhnlich am besten: wesshalb wohl relativ in keiner Gattung so viel Vollkommnes (relativ!) geleistet worden ist als im Briefe (Zwiegespräch). Dagegen wie unsicher ist die Anschauung vom Publikum, welche jetzige Dichter haben können! Einige Gattungen nun, z. B. die Rede, haben ihr Maass in einer ganz bestimmten Absicht, der Redner will bei dem Publikum etwas erreichen (Ueberzeugung erwecken), sein Vortheil oder Schaden, selbst Leben oder Tod hängt vom Erfolg ab. Im Durchdenken aller Mittel der Rede, in ihrer Anpassung aufgegebene Verhältnisse sind die Alten unerreicht, es ist das, was sie vor allen Barbaren hervorhebt, zugleich das einzige Mittel, wie Einer über Viele die Herrschaft erlangt; jedes Ding erscheint bei dem Publikum so, wie es der Redner haben will. Diese unbedingte Rücksicht auf dieses Erscheinen-Sollen, auf den Erfolg der Rede mag man vielleicht anderweitig für schädlich halten, das griechische Wesen ist allmählich vielleicht dadurch ganz Coulisse und bemalte Leinwand geworden. Aber dies nothwendige Sich-Entsprechen von rednerischer Absicht und von ganz bestimmtem Publikum, die Unfehlbarkeit im Griff und Gegriffenwerden hat uns z. B. Demosthenes geschenkt und mit ihm ein gutes Stück Athen: immer muss man das Publikum nachfühlen, an welches Demosthenes sich richtete, man muss die stürmische Luft der attischen Demokratie athmen, die noch vorhandene Fähigkeit zur Begeisterung, so dass er sich nicht als Don Quixote vorzukommen brauchte. Von der Rede abgesehen, ist die Hauptursache dafür, dass jeder Künstler der Sprache, Epiker, Lyriker, Tragiker, Komiker so genau seinem jedesmaligen Publikum entspricht und immer für eine bestimmte Gelegenheit dichtet, wohl die, dass sie agonistisch waren und um einen Preis wetteiferten." Auch -
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hier ist Burckhardts Einfluß unübersehbar. Vgl. Wolfram Groddeck, Reden über Rhetorik. Zu einer Stilistik des Lesens, Basel/Frankfurt a.M. 1995, 50. Vgl. auch „", 424: „Zur euresis gehört nun enthymema u. parádeigma." Im Sommer 1875, also zur gleichen Zeit wie die Lehrveranstaltung über die Rhetorik, schreibt Nietzsche über Wagner: „Hervorragend ist Wagner's Trieb zur Mittheilung und seine Erfindsamkeit im Mittheilen. Ein Gedanke, wie der seinige, in der höchsten Kraft empfangen und zur Schönheit geboren, würde verurtheilt erscheinen, ein Hirngespinst zu bleiben, wenn Wagner nicht diese biegsame und unersättliche Mittheilbarkeit besäße. Er denkt seinen Gedanken in die jedesmaligen Umstände und Zeiten hinein, und erscheint dann der Ausdruck desselben verkümmert, so ist er trotzdem selbst in Wagner's Kopf und Herz rein und groß geblieben. Wo eine kleine oder bedeutende Gelegenheit -
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Eben dieses Problem der Mitteilung aber steht auch im Mittelpunkt von Aristoteles' Rhetorik wie auch, so scheint es, des Interesses von Nietzsches Teil-Übersetzung davon.33 Entsprechend steht im ersten Satz des zweiten Kapitels des dritten Buches in Nietzsches Übertragung, die „Tugend des Stils" sei die „Deutlichkeit", die saphéneia (was die Römer mit -
perspicuitas übersetzten).
„Lassen wir nun diese Betrachtung und definieren wir zuerst einmal als Tugend des Stils die Deutlichkeit. Der Beweis dafür liegt darin, dass eine Rede gar nicht diese Aufgabe lösen wird, wenn sie ihren Gegenstand nicht deutlich macht. Zweitens: er soll nicht niedrig und nicht übertrieben sein, sondern geziemend: was z. B. der poetische Stil für die Rede nicht ist, ob er schon nicht niedrig ist." (KGW, II/4, 600 f.; Rhet. III 2, 1404b 1-5) Ebenso soll sich gemäß der 9. Distanz halten.34
Stilregel die Prosa zugunsten der Deutlichkeit zur Poesie auf
von Ferne zeigte, seinen Gedanken durch ein Beispiel zu zeigen, war er bereit; wo eine halbwegs empfängliche Seele sich aufthat, warf er seinen Samen hinein. [... ] Man überlege nur, und schaudere bei dieser Überlegung: was stand auf dem Spiele, wenn Wagnerjenen Gedanken nie durch ein solches Beispiel hätte zeigen können, wie er es jetzt in Bayreuth zeigt!; und wie groß war selbst die Wahrscheinlichkeit, daß ein Gedanke, von dem die anderen Menschen sich nicht träumen ließen, auch nur ein Traum im Kopfe dessen geblieben wäre, der ihn erdachte, und daß an Stelle von Bayreuth man von einem .Utopien' spräche. [...] Hier ist der Schatz fast übergroß: um ihn zu heben, mußte Wagner auch seine Kraft, sein Vertrauen, sein Wagen, sein blitzartiges Erfassen, sein treues Benehmen auf uns Alle übertragen [...] Und so, wie Wagner sich den Musikern mittheilt, wird sich der Geist und Rhythmus seines Bayreuther Werkes den Schauern und Hörern mittheilen müssen, so daß ihre Seele ausgeweitet, ihre Bogen schon ausgespannt sind, wie nie zuvor [...]" (11 [35], KSA 8, 224-27). Vgl. KGW, 11/4,538, Rhet. 11; 1355a20-29: „Rhetorik istalsoerstens von Nutzen als Vertreterin von Recht und Wahrheit; zweitens aber als ihre Vertreterin vor gewissen Zuhörerschaften, bei der die Form der strengen Belehrung unmöglich ist: dann wenn es auch trotz der genannten Kenntnisse der Sache nicht leicht ist, seinen Zuhörern, eben bei einer gewissen Beschaffenheit derselben, eine Sache glaublich zu machen; wo es vielmehr nöthig wird, aus allgmeineren Gesichtspuncten seine Gründe und Beweise zu nehmen, so wie wir das auch in der Topik ausgeführt haben, nämlich bei der Frage, wie man mit der Masse zu verkehren habe." Das steht so nicht bei Aristoteles. Eine genauere Analyse von Nietzsches Übersetzung wäre wünschenswert. Vgl. dazu noch deutlicher schon FW, Nr. 92 (kurz vor der Stillehre für Lou mithin), KSA 3,447 f.: ,frosa und Poesie. Man beachte doch, dass die grossen Meister der Prosa fast immer auch Dichter gewesen sind, sei es öffentlich, oder auch nur im Geheimen und für das .Kämmerlein'; und fürwahr, man schreibt nur im Angesichte der Poesie gute Prosa! Denn diese ist ein ununterbrochener artiger Krieg mit der Poesie: alle ihre Reize bestehen darin, dass beständig der Poesie ausgewichen und widersprochen wird; jedes Abstractum will als Schalkheit gegen diese und wie mit spöttischer Stimme vorgetragen sein; jede Trockenheit und Kühle soll die liebliche Göttin in eine liebliche Verzweiflung bringen; oft giebt es Annäherungen, Versöhnungen des Augenblickes und dann ein plötzliches Zurückspringen und Auslachen; oft wird der Vorhang aufgezogen und grelles Licht hereingelassen, während gerade die Göttin ihre Dämmerungen und dumpfen Farben geniesst; oft wird ihr das Wort aus dem Munde genommen und nach einer Melodie abgesungen, bei der sie die feinen Hände vor die feinen Öhrchen hält und so giebt es tausend Vergnügungen des Krieges, die Niederlagen mitgezählt, von denen die Unpoetischen, die sogenannten Prosa-Menschen, gar Nichts wissen: diese schreiben und sprechen denn auch nur schlechte Prosa! Der Krieg ist der Vater aller guten Dinge, der Krieg ist auch der Vater der guten Prosa! Vier sehr seltsame und
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wahrhaft dichterische Menschen waren es in diesem Jahrhundert, welche an die Meisterschaft der Prosa gereicht haben, für die sonst diess Jahrhundert nicht gemacht ist- aus Mangel an Poesie, wie angedeutet. Um von Goethe abzusehen, welchen billigerweise das Jahrhundert in Anspruch nimmt, das ihn hervorbrachte: so sehe ich nur Giacomo Leopardi, Prosper Mérimée, Ralph Waldo Emerson und Walter Savage Landor, den Verfasser der Imaginary Conversations, als würdig an, Meister der Prosa zu heissen." Im Anschluß an den Satz, der später die neunte Stilregel bildet, steht in der ersten Fassung der Stillehre (Juli-August 1882: 1 [45], KSA 10,22 f., hier 23) noch der einzige in der Endfassung weggelassene Satz, der einen noch deutlicheren Bezug zu diesem Aphorismus -
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Der Deutlichkeit, der Lebendigkeit des Schreib-Stils der Name leitet sich bekanntlich von dem Schreibgerät her35 dient für Nietzsche die stilistische Anlehnung an die Situation der mündlichen Rede, des Vortrags („Schreiben soll eine Nachahmung sein" nicht der „Natur" also, sondern des Sprechens/Vortragens des Mimen). Nietzsche erhebt damit die von Burckhardt diagnostizierte „Pragmatik" der griechischen Dichter zur Stilnorm: -
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„Wenn die Griechen später eine massenhafte Litteratur für Leser hatten, so wurden Auto-
und Leser doch immer durch die ungeheure rhetorische Schulung und Geübtheit disziplinirt. Wesshalb der antike Schreibstil nie in dem Maasse in der Luft schwebte wie der unsrige; auch selbst bei verschrobenen Maniren war der Schreibstil doch nur die Abspiegelung des Sprechstils. Wegen dieses natürlichen Verhältnisses von Rede zu Schrift bleiben sie vorbildlich." („Gesch. d. griech. Litt.", 3. T., 136) ren
Wie sehr das durch Burckhardt und die Rhetorik des Aristoteles geprägte „Zur Lehre vom Stil" für den Stil von Also sprach Zarathustra bestimmend ist, zeigt sich daran, daß dieses Werk seinem Titel entsprechend zu einem großen Teil aus von der Hauptfigur Zarathustra gehaltenen Reden besteht.36 Diese scheinen in Redesituationen nur eingebettet, um eben jenem „Gesetz der doppelten Relation" zu entsprechen, von dem „Zur Lehre des Stils" spricht. Die Rahmenerzählung erschöpft sich gleichsam darin, mündliche Redesituationen des „Vortrags" zu schaffen.37 Dies hat Anke Bennholdt-Thomsen schon 1974 bemerkt, als sie auf die Bedeutung des „kommunikativen" Aspektes resp. der Bezogenheit des Gesagten auf den Zuhörer in Also sprach Zarathustra hinwies, welchen traditionelle textlinguistische Verfahren nicht gerechtzuwerden vermöchten.38 -
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III. „Je abstrakter die Wahrheit ist, die man lehren will, um so mehr muß man erst die Sinne zu ihr verführen", lautet(e) die achte Regel von „Zur Lehre vom Stil". Auch der Zarathustra und gerade er, mit seiner sehr abstakten „Wahrheit" der „ewigen Wiederkunft des Gleichen", soll dies bewirken. Dessen stilistische „Lebendigkeit" ist neben -
FW hat: haben." aus
„[...]
Ohne das feinste Gefühl und
Vermögen im Poetischen selber kann
man
diesen Takt nicht
35 Vgl. Jacques Derrida, „La question du style", in: Nietzsche aujourd'hui?, vol. 1 : „Intensités", 235-287, hier 238. 36 Im Zarathustra wird im Übrigen häufig von Zarathustras „Ausdruck" gesprochen: dem seines Ganges, seines Blickes usw. (vgl. schon ZA I, „Vorrede", 2, 12) wie bei einem Schauspieler. 37 Das erinnert an die Unterscheidung der ,,legendenhafte[n] Art dieses Büchleins [sc. des ersten Teils von Also sprach Zarathustra]" von Nietzsches „tiefstefmj Ernst" und ,ganzefr] Philosophie" in Nietzsches Brief an Carl von Gersdorff von Ende Juni 1883, KSB 6, 386. 38 Anke Bennholdt-Thomsen, Friedrich Nietzsches .Also sprach Zarathustra als literarisches Phänomen, Frankfurt a.M. 1974, v. a. 23-39, wo sie im Rahmen ihres Rückgangs auf das res-verba-auditor-Modell 26 auch ausdrücklich folgende Stelle aus Aristoteles' Rhetorik zitiert, ohne von Nietzsches Übersetzung Kenntnis zu haben (ich zitiere aus dieser): „Dreierlei gehört nämlich zur Rede, der Redende selbst, sein Gegenstand und seine Zuhörerschaft; in ihr liegt das Ziel des Redners." (KGW, H/4, 545; Rhet. I 3, 1358a 37-1358b 2) -
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pro ommáton poiein
153
Wortspiel, welches ebenfalls ein sprachliches Oberflächen-Phänomen darstellt39 das auffälligste Merkmal dieser „Dichtung" (Nietzsche an Schmeitzner am 13.2.1883 aus Rapallo, KSB 5, 327.). Entsprechend lautet die erste der zehn Regeln oder „Gebote" zum Stil: „Das
dem
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Erste, was noth thut, ist Leben: der Stil soll leben." Ich will jetzt versuchen, Hinweise zu finden dafür, daß Nietzsche auch den Teil des dritten Buches der aristotelischen Rhetorik die Kapitel 5-14 „rezipiert" hat, den er nicht mehr -
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übersetzt hat: Seine Übertragung bricht mit der Ankündigung des 5. Kapitels ab. Immerhin verweist Mazzino Monttaari in seiner Erläuterung des Ausdrucks „rechtwinklig" im letzten Vers der ausgerechnet der Destruktion der „Metaphysik" gewidmeten Zarathustra„Rede" „Von den Hinterweltlern": -
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„Redlicher redet und reiner der gesunde Leib, der vollkommne und rechtwinklige: und er redet vom Sinn der Erde" (KSA, ZA, 4, 38)40 genau auf die Stelle, in der Aristoteles jenes Stilmittel erläutert, in welchem ich jenes
Nietzschesche Leben des Stils wiederzufinden meine: das Stilmittel des „pro ommáton poiein", des Vor-Augen-Stellens.41 Tatsächlich ist die Stiltugend, die Aristoteles in der energeia der lexis erblickt und von uns als „Lebendigkeit" übersetzt wird,42 mit jenem Stilmittel assoziiert, das von Aristoteles neben der „Metapher" und der, Antithese" aufgeführt wird als eine der drei Weisen, in denen sich der Esprit oder Witz (asteia) des Redners zeige.43 "
„
Vgl. dazu Martin Stingelin, „Nietzsches Wortspiel als Reflexion auf poet(olog)ische Verfahren", in: NietzscheStudien 17 (1988), 336-349, und Wolfram Groddeck, Vom Gesicht und Räthsel'. Zarathustras physiognomische Metamorphosen", in: Physiognomie und Pathognomie. Zur literarischen Darstellung von Individualität, Festschrift für Karl Pestalozzi zum 65. Geburtstag, hg. von Wolfram Groddeck u. Ulrich Stadler, Berlin/New York 1994, 301-323, darin 320 ff. 40 Vgl. KSA 14,286 („rechtwinklig an Leib und Seele" kommt auch in ZA I, „Von Kind und Ehe", KSA 4,90, vor). Vgl. auch die erste Vorstufe zu WA, Frühjahr 1888:15 [6], KSA 13,403 f. Hier heißt es im ersten Abschnitt: „Der typische Wagnerianer, ein in jedem Betreff viereckiges Wesen, glaubt an Wagner: ersichtlich auch an einen viereckigen Wagner... aber Wagner war Alles Andere als viereckig: Wagner war .Wagnerisch'. Ich habe mich gefragt, ob überhaupt schon Jemand dagewesen ist, modern, morbid, vielfach und krumm genug, um als vorbereitet für das Problem Wagner zu gelten." 41 Vgl. zu diesem Stilmittel schon Wolfram Groddeck, Reden über Rhetorik, 55, 72 und 189 f. sowie Rüdiger Campe, „Vor Augen Stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung", in: Poststrukutralismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, hg. v. Gerhard Neumann, Stuttgart/Weimar 1997 (= Germanistische Symposien. Berichtsbände, Bd. XVIII), 208-225. 42 Vgl. Sieveke, 191/ Rhet. 110,1410b35 f.: „Diese drei Aspekte hat man also zu berücksichtigen: metaphorischer, antithetischer und lebendiger (energeias) Ausdruck." Verständlicherweise ist dieser Ausdruck auch deshalb von Interesse, weil er einen Grundbegriff der aristotelischen Philosophie bezeichnet. 43 Vgl. vorige Anmerkung. In der den Schauspielern und dabei auch Wagner gewidmeten Rede „Von den Fliegen des Marktes" im ersten Teil von Also sprach Zarathustra scheint von eben dieser asteia zu Nietzsches Zeit durch „Geist" übersetzt die Rede zu sein: „Geist hat der Schauspieler, doch wenig Gewissen des Geistes. Er glaubt immer an Das, womit er am stärksten glauben macht, glauben an sich macht!" (ZA I, „Von den Fliegen des Marktes", KSA 4,65). Vgl. auch ZA II, „Von der Menschen-Klugheit", KSA 4,184: „Gute Schauspieler fand ich alle Eitlen: sie spielen und wollen, dass ihnen gern zugeschaut werde, all ihr Geist ist bei diesem Willen." „Glauben" erwecken aber ist das Ziel der „Rhetorik": „Die wahre Kunstlehre der Rhetorik hat es also, wie jetzt wohl klar ist, nur mit der Methode zu tun, Glauben zu finden. Nun ist aber das Hauptmittel der sogen. Beweis; denn dann findet eine Sache am meisten bei uns Glauben, wenn wir meinen, sie sei bewiesen worden. Die rhetor. Art des Beweises nennen wir ,Gedanken'; und in diesen liegt, einfach zu sprechen, die wesentlichste Macht, um jemanden zum Glauben zu bringen. Der Gedanke aber gehört zu den Schlüssen, von denen bekanntlich die Dialektik handelt welche selber entweder ganz oder zu einem guten Theile eben Schlusslehre ist." (KGW, II/4, 537; Rhet. I 1, 1355a 3-10) 39
,„
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Lukas Labhart
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Vor-Augen-Stellen als das, „was Wirksamkeit zum Ausdruck bringt" 141 lb 26), und charakterisiert es danach so: „Sagt man z. B." ich (energounta semainei; zitiere aus Franz Sievekes Übersetzung von 1980 „ein rechtschaffener Mann sei ein Würfel (in der griechischen Antike Ausdruck für geometrische Vollkommenheit), so ist das eine Metapher. Beides [sc. der rechtschaffene Mann und der Würfel] bezeichnet nämlich etwas Vollkommenes, aber nicht die Wirksamkeit (energeia). Anders dagegen der Ausspruch: „dessen Manneskraft in ihrer Blüte steht", er drückt Wirksamkeit aus."44 Man könnte hier „Wirksamkeit", interpretierend, durch „Werden" ersetzen und erhielte dadurch etwas, dem in „Auf den glückseligen Inseln" einer weiteren für die Metaphysikkritik im Zarathustra zentralen Rede Gesagten sehr Ähnliches, wo nach „Gleichnisse des Werdens" anstelle derjenigen eines nunmehr selber „gleichnishaften" Seins gerufen wird: Aristoteles definiert das
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„Alles Unvergängliche45 das ist nur ein Gleichniss! Und die Dichter lügen zuviel-
Aber von Zeit und Werden sollen die besten Gleichnisse reden: ein Lob sollen sie sein und eine Rechtfertigung aller Vergänglichkeit!" (ZA II, „Auf den glückseligen Inseln", KSA 4, HO)46 -
Folgezeit ist das „pro ommáton poiein", das dann Ciceros Übersetzung des Aristoteles als sub oculos subiectio, evidentia oder hypotyposis bezeichnet worden ist,48 gerade aufgrund seiner „Deutlichkeit"49 auf ambivalente Weise beurteilt worden. Quintilian meint, daß „diese Figur etwas gar zu Handgreifliches hat (manifestius aliquid): es ist nicht, In der
folgend47
44 45 46
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Sieveke, 193; Rhet. I 10, 1411b 26ff. Interpretierbar als das „Eigentliche", den Begriff, den es in übertragener Rede nur zu „schmücken" gilt. Vgl. auch ZA I, „Von der schenkenden Tugend", 1, KSA 4, 98 f. Ricoeur einer der wenigen, der auf die(se) „änigmatischste Stelle der Rhetorik" aufmerksam ist (54, vgl. 290 f.) deutet das „pro ommáton poiein" als „mimesis" von (für die Griechen noch „lebendiger") „physis" (Paul Ricoeur, Die lebendige Metapher, mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe, aus dem Französischen von Rainer Rochlitz, München 1986 (= Übergänge, Bd 12), 43 f., 54 f. und 290-95). Die Grenze von Ricoeurs Interpretation liegt darin, daß er nicht berücksichtigt, daß Aristoteles das „vor Augen Stellen" neben der Metapher und der Antithese als etwas von diesen Verschiedenes einführt. Die Metapher ist, wie man sagen könnte, bei Aristoteles eine durch die „Analogie" disziplinierte Form des Vor-Augen-Stellens. Ricoeur reklamiert also in Die lebendige Metapher eine Eigenschaft für die Metapher, die nicht mehr oder: noch nicht „metaphorisch" ist! Cicero, De oratore 3, 53,202 (orat. 139). Zur Geschichte dieser Stilfigur vgl. auch Heinrich Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, München 1960, Bd. 1,399-407 sowie A. Kemmann, „Evidentia, Evidenz", in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. v. Gert Ueding, Bd. 3: Eup-Hör, Tübingen 1996, 33-47. Vgl. Quint. IV 2,64: „[... ] Anschaulichkeit [evidentia] ist zwar, wenn ich recht sehe, in der Erzählung ein großer Vorzug, indem etwas Wahres nicht nur ausgesprochen, sondern gewissermaßen vorgeführt zu werden verdient [cum quid veri non dicendum, sed quodammodo etiam ostendendum est], doch kann man sie zur Deutlichkeit [perspicuitati] rechnen." Vgl. auch „", 437 f.: „Die allgemeinen Eigenschaften des ornatus beschreibt Quintil. VIII c. 3, 61: ornatum est, quod perspicuo ac probabili plus est also eine Steigerung (oder Modifikation) der Eigenschaften des Deutlichen u. des Angemessenen. [...] Die Deutlichkeit zu steigern durch Anwendung von Bildern und Gleichnissen, oder ausdrucksvolle Kürze oder Amplification. [... ] Der Schmuck also verlangt die Übertragung des Angemessenen in eine höhere Sphäre von Schönheitsgesetzen [...] Er ist höhere Natur, im Gegensatz zu einer gemeinen Natürlichkeit, Nach- und Umbildung, im Gegensatz zur Nachahmung u Nachäffüng." Das Verhältnis der Forderungen nach perspicuitas und aptum zum ornatus wurde folgendermaßen charakterisiert: „Es ist ein Spiel auf der Grenze des Ästhetischen u. des Moralischen: jede Einseitigkeit vernichtet den Erfolg. Die aesthetische Bezauberung soll zu dem moralischen Zutrauen hinzukommen, beide sollen sich nicht aufheben" (434) -
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pro ommáton poiein
Dinge erzählt (non enim narrari res), sondern als ob sie aufgeführt würden (sed agi videtur)".50 (Hier meint man das Paradigma aller moralisierenden Kritiken am Stil des Zarathustra zu erblicken.) Dies erinnert an das „Incipit tragoedia", mit dem der letzte Aphorismus des vierten Buchs und damit der ersten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft überschrieben ist, und an Nietzsches Tragödientheorie, die sich von der „am Lesetext orientierente[n]"sl des Aristoteles als ob die
abgrenzt;52 noch in WA heißt es:
„Auch im Entwerfen der Handlung ist Wagner vor Allem Schauspieler. Was zuerst ihm aufgeht, ist eine Scene von unbedingt sichrer Wirkung, eine wirkliche Actio*) mit einem hautrelief der Gebärde, eine Scene, die umwirft diese denkt er in die Tiefe, aus ihr zieht er erst die Charaktere." (KSA, WA, 6, 32) -
Eine
Anmerkung zu „Actio" hält fest:
„*) Anmerkung. Es ist ein wahres Unglück für die Aesthetik gewesen, dass man das Wort Drama immer mit ,Handlung' übersetzt hat. Nicht Wagner allein irrt hierin; alle Welt ist noch im Irrthum; die Philologen sogar, die es besser wissen sollten. Das antike Drama hatte grosse Pathosscenen im Auge es schloss gerade die Handlung aus (verlegte sie vor den Anfang oder hinter die Scene). Das Wort Drama ist dorischer Herkunft: und nach dorischem Sprachgebrauch bedeutet es ,Ereignis', .Geschichte', beide Worte in hieratischem Sinne. Das älteste Drama stellte die Ortslegende dar, die ,heiüge Geschichte', auf der die Gründung des Cultus ruhte (- also kein Thun, sondern ein Geschehen: dran heisst im Dorischen gar nicht ,thun')." (KSA, WA, 6, 32)53 -
IV. geht also um „Pathosscenen". Die vielleicht pathetischste und evidenteste „Scene" im Lehrgedicht Also sprach Zarathustra ist nach dem Gesagten nicht erstaunlich die Rede Vom Gesicht und Räthsel" (meine Kursivsetzung), die von einem „Räthsel, das ich sah",
Es
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„
50 Quint. IX, 2, 43; vgl. auch IX, 2, 40. 51 Barbara v. Reibnitz, „Vom .Sprachkunstwerk' zur.Leselitteratur'", 63 (vgl. überhaupt 59-63). 52 An der sich Gadamer hingegen noch zu orientieren scheint; vgl. Hans Georg Gadamer, „Nietzsche der Antipode. Das Drama Zarathustras" (1984), in: Gesammelte Werke, Bd. 4: Neuere Philosophie II; Probleme Gestalten, Tübingen 1987, 448-462. 53 Vgl. GT 12, KSA 1, 85 f. Vgl. auch die von Claus Zittel in seinem Beitrag in diesem Band ebenfalls zitierte Stelle in RB, 9, KSA 1, 485 f.: „Das Dichterische in Wagner zeigt sich darin, dass er in sichtbaren und fühlbaren Vorgängen, nicht in Begriffen denkt, das heisst, dass er mythisch denkt, so wie immer das Volk gedacht hat. Dem Mythus liegt nicht ein Gedanke zu Grunde, wie die Kinder einer verkünstelten Cultur vermeinen, sondern er selber ist ein Denken; er theilt eine Vorstellung von der Welt mit, aber in der Abfolge von Vorgängen, Handlungen und Leiden. Der Ring des Nibelungen ist ein ungeheures Gedankensystem ohne die begriffliche Form des Gedankens. [...] [S]o lange man im Banne des Dichters ist, denkt man mit ihm, als sei man nur ein fühlendes, sehendes und hörendes Wesen; die Schlüsse, welche man macht, sind die Verknüpfungen der Vorgänge, die man sieht, also thatsächliche Causalitäten, keine logischen." -
156
Lukas Labhart
berichtet (KSA, ZA, 4, 197-202, hier 197).54 Sie reflektiert ein Verfahren, das für den Stil von Also sprach Zarathustra insgesamt charakteristisch, ja bestimmend ist.55 Im bekannten „Thorweg"-Gleichnis des zweiten Abschnitts derselben Rede wird durch das Mittel der „evidentia" ein „Beweis" („evidence", wie es im Englischen lautet) für die Glaub/za/rmachung der „ewigen Wiederkunft des Gleichen" konstruiert:
„In Kürze wiederholt,
so nennt man es Induction also hier, in der Rhetorik, Beispiel ähnlichen Dingen zeigt, dass es so oder so für uns steht; dagegen nennt also hier Gedanken, wenn man zeigt, es sei etwas so und so und etwas anderes müsse deshalb eintreten geschehen weil dasselbe entweder im Ganzen oder im Grossen ebenso sei. [...] Um etwas glaublich zu machen, dazu dienten die Beweise wohl ebensogut; aber mit Gedanken erreicht man das Ziel freilich bedeutend effectvoller." (KGW, II/4, 543; Rhet. I 2, 1356b 13-24)56
wenn
einer
an vielen man es Schluss
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Zum Behuf der Darstellung des „Gedankens" wird in „Vom Gesicht und Räthsel" der „Thorweg" vor Augen geführt („Es war aber gerade da ein Thorweg, wo wir hielten." KSA, ZA, 4, 199): in „Wirksamkeit" insofern gezeigt, als „hier" (also sprach Zarathustra) zwei Wege zusammenkommen, sich „widersprechen", sich gerade vor den Kopf stoßen etc. (vgl. ebd., 199 f.) Die Gleichnisrede „lebt' hier aber, wie Zarathustras Reden immer von denen die dithyrambischen „Lieder" zu unterscheiden sind von der inszenierten mündlichen Redesituation (in diesem Fall: vom „Zwiegespräch" zwischen Zarathustra und dem Zwerg), aus der die Gleichnisse ihre „Evidenz" erst beziehen und Burckhardt und Nietzsches Vorlesungen sowohl wie „Zur Lehre vom Stil" vor-geschrieben hatten. Der „Thorweg" ist im „Gleichniss" keine Metapher, so daß der Zwerg nur ihren „eigentlichen" Gehalt auszusprechen hätte,57 sondern im lit(t)erarischen Redegeschehen „gerade -
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54 visio ist ein weiterer Ausdruck für evidential. 5 5 In dessen Zeichen, scheint mir, erfolgt die Aufhebung der Metaphysik. Zum Zusammenhang von Metaphysik und Metapher vgl. Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, Stuttgart 1957, 86-89. 56 Den „Gedanken" gilt es zu „errathen", nicht nur wie den Beweis wörtlich zu erschliessen" (vgl. ZA III, „Vom Gesicht und Räthsel", 1, KSA 4, 197). Der Gegensatz von erraten/erschließen verweist auf die anderen von Rhetorik/Dialektik sowie Beispiel/Enthymem innerhalb der Beweistechnik der Rhetorik selber. Das zeigt sich schon in Nietzsches Übersetzung der ersten Kapitel der Rhetorik (vgl. KGW, II/4, 537). Zu Erraten bei Nietzsche vgl. Stefan Brotbeck, „Nietzsche erraten", in: Nietzsche-Studien 19 (1990), 143-175. Bei Longinus, Vom Erhabenen, Griechisch/Deutsch, übers, und hg. v. Otto Schönberger, Stuttgart 1988, 49 15.9, heißt es, durch diephantasia (Pseudo-Longinus' Wort für das Vor-Augen-Stellen; häufig durch Vergegenwärtigung übersetzt), werde der Hörer nicht nur „überzeugt", sondern „überwältigt". Daß aber Nietzsche die „erhabenen Gebärden" als Mittel verwendet um „Gedanken" auszudrücken, die „ab-gründlich" sind, nicht aber um „Gründe" zu ersetzen, zeigt die Notiz von Juni-Juli 1883: 11 [6], KSA 10, 380: „Wagner wendet sich an die, welche man mit Gründen mißtrauisch macht, aber mit erhabenen Gebärden überzeugt", die über dem Notât von Winter 1884-85: 31 [44], KSA 11, 380 (vgl. „dazwischen" noch Frühjahr 1884: 25 [14], KSA 11, 15, Gedichte und Gedichtfragmente Herbst 1884: 28 [23], KSA 11, 308 sowie Herbst 1884-Anfang 1885: 29 [1], KSA 11, 333): ,ßezauberersolche, die man mit erhabenen Gebärden überzeugt, aber mit Gründen mißtrauisch macht" in „Der Zauberer" aus dem „4. Teil" des Zarathustra eingeht, dessen „Vorbild" Wagner zu sein scheint (ZA IV, „Der Zauberer", 1-2, KSA 4, 313-320). Es ließe sich auch eine Einteilung von „Vom Gesicht und Räthsel" in Eingang (prooimion, Einleitung), Darlegung des Sachverhaltes (próthesis), Glaubhaftmachung (pistis) und Redeschluß (epílogos) ablesen (vgl. die taxis-Lehre in Rhet. III 13, 1414b 8 f.; Sieveke, 203). 57 Z III, „Vom Gesicht und Räthsel", 2, KSA 4, 200; vgl. zur „Abstraktheit" der begrifflichen Übersetzung des Zwergs Jörg Salaquarda, „Die Grundconception des Zarathustra", in: Nietzsche und die Schweiz, hg. v. David Marc Hoffmann, Zürich 1994, 85-95, hier 91 f. „
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da" ist er „gegenwärtig" und „vor Augen".58 Diese „Gegenwart" wird dadurch ewig wiederkommen gemacht zugleich: in sich gespalten -, daß der „Thorweg" die Aufschrift „Augenblick" trägt. Durch die Verdoppelung durch die Aufschrift kommt der performa(n)tive „Augenblick" ewig wieder.59 Die Kunst des Schrift-Stils ermöglicht jene „ewige Wiederkunft des Gleichen", die in der einfachen Kunst des Vortrags des Mimen nicht „möglich", wirklich sein, werden kann nur in dessen „Nachahmung", in der mimesis. -
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58 Auf vergleichbare Weise ist dies auch in ZA I, „Vom Baum am Berge", KSA 4, 51-54, der Fall, wo der Jüngling „an einen Baum gelehnt sass" und Zarathustra „den Baum anffasste], bei welchem der Jüngling sass" (51), der Baum dann 51 als Gleichniss wiederkehrt. Auf besonders auffällige Weise „vor Augen geführt" wird die „Tarantel" im „Gleichniss" von ZA II, „Von den Taranteln", KSA 4, 128-131, hier 128. 59 Vgl. Hillis J. Miller, The Linguistic Moment. From Wordsworth to Stevens, 431 f.: „The final turn knotting together Nietzsche's thought of the eternal return, turning that thought back on itself, is the peculiar hollowing out of the very moment of that thought which results from seeing it too this moment here and now, the Augenblick with all its trivial details, the spider crawling in the moonlight, the moonlight itself- as eternally recurring and as doubled within itself. The moment is, so to speak, its own image." Ebd., 431, spricht Miller von der „eternal repetition of the moment as image". -
CHRISTOF KALB
Das „Individuelle" Humboldt, Gerber und Nietzsche über den
Zusammenhang von Sprache und Subjekt
Seit einigen Jahren erst nimmt die Nietzsche-Forschung zur Kenntnis, welche Bedeutung Gustav Gerbers Die Sprache als Kunst im Hinblick auf Nietzsches sprachphilosophische Gedankengängen zukommt. Durch die Lektüre von Gerbers Werk hat sich Nietzsche zum einen auf die Höhe der sprachtheoretischen Forschung des 19. Jahrhunderts gebracht; zum anderen hat er sich Gerbers erkenntniskritisch gewendete These vom rhetorischen Wesen der
Sprache zu eigen gemacht.
Das von Gerber transportierte Material findet indessen noch auf eine weniger auffallige, dafür aber viel innovativere Weise Eingang in Nietzsches Überlegungen. In der Tat löst Nietzsche eine zentrale These Gerbers aus dem Reflexionshorizont heraus, in den Die Sprache als Kunst eingebettet ist, und bringt deren Potential in einem gegenüber Gerber erheblich umgestalteten kategorialen Rahmen zu einer überraschend produktiven Entfaltung. Die Transformation des Gerberschen Gedankens durch Nietzsche läßt sich folgendermaßen rekonstruieren: Gerber erkennt der Sprache nicht nur eine Darstellungs-, sondern auch und vor allem eine Bildungsfunktion im Hinblick auf das leibliche Selbst zu; das Argument wird in einem Bezugssystem entwickelt, das Subjektivität reflexionsphilosophisch faßt. Nietzsche teilt mit Gerber das Argument, nicht aber die theoretischen Vorannahmen; er koppelt den Gedanken einer sprachlichen Selbstbildung von den reflexiven Leistungen des Subjekts ab und führt auf diese Weise den von Gerber bemerkten Verlust an leiblicher Individualität im Zuge der Selbstausdifferenzierung einer systematischen Deutung zu: Eine Vielzahl von Überlegungen Nietzsches in der mittleren und späten Phase seines Werks ist auf den Umstand zugespitzt, daß Selbstverneinung ein konstitutives Element in Prozessen der Selbstbildung ist.1 Ich werde diesen Gedanken ausführen, indem ich zunächst an Wilhelm von Humboldts Theorie der Sprache als eines individuellen Allgemeinen erinnere. Von einer solchen Konzeption lassen sich Nietzsches Gedanken zum Individuellen systematisch abheben: Anders als Humboldt hält Nietzsche die allgemeine Sprache für so übermächtig, daß sich ihr gegenüber und in ihr das Individuelle nicht zur Geltung zu bringen vermag (1). Nietzsches Anliegen, die von Humboldt erläuterte sprachliche Dialektik von Individuellem und Allgemeinem zu problematisieren, wird nachvollziehbar, wenn man es auf Gustav Gerbers Theorie einer Selbstbildung am Leitfaden der Sprache bezieht. Mit Gerber lassen sich die Medien des Tons, der artikulierten Sprache und der Schrift als Etappen eines Entwicklungsprozesses begreifen, in dessen Verlauf das Subjekt sich selbst durchsichtig wird (2).
1
Das Argument habe ich weiter ausgeführt in: Christof Kalb, Desintegration. Studien zu Friedrich Nietzsches LeibundSprachphilosophie, Frankfurt a.M. 2000.
160
ChristofKalb
In seiner Rezeption von Gerber hebt Nietzsche freilich den Umstand hervor, daß sich das Subjekt im Medium der Sprache nur unter der Bedingung zu konstituieren vermag, daß es den individuell-leiblichen Grund seiner Existenz von sprachlich ausdifferenziertem Selbstbewußtsein abspaltet. Sprachlicher Selbstgewinn und sprachlicher Selbstverlust sind so gesehen die zwei Seiten desselben Entwicklungsvorgangs (3). Nietzsches These einer sprachlichen Verdrängung des Individuellen aus den Zusammenhängen des Allgemeinen ist von einer zwingenden Logik; gleichwohl ruht sie auf der problematischen individualistischen Prämisse, daß das Subjekt in der allgemeinen Sprache allein die Grenzen seiner Freiheit erfahrt (4).
1. Wilhelm von Humboldts Konzeption der
individuelles Allgemeines
Sprache als
In verstreuten Bemerkungen charakterisiert Nietzsche das Individuelle2 dahingehend, daß es in den Status eines Erkenntnisgegenstandes im Grunde niemals erhoben werden kann: Aus der
Ordnung des Denkens systematisch unableitbar, entzieht es sich als dessen irreflexives Anderes jeder Definition. „Sobald wir den Zweck des Menschen bestimmen wollen, stellen wir etaen Begriff vom Menschen voran. Aber es giebt nur Individuen, aus den bisher bekannten kann der Begriff nur so gewonnen sein, daß man das Individuelle abstreift, also den Zweck
des Menschen aufstellen hieße die Individuen in ihrem Individuellwerden verhindern und sie heißen, allgemein zu werden." (KSA, NF, 9,237) Wenn sich das Individuelle unter den allgemeinen Begriff nicht subsumieren läßt, so hat das seinen Grund darin, daß es „als etwas ganz Neues und Neuschaffendes" (KSA, NF, 10, 663) keine Identität besitzt. Das Individuelle ist nicht das Neue, das sich in seiner Neuheit erschöpfen und altbekannt werden könnte; es ist das Neue par excellence, „ein eigenes, nur einmaliges Ding [...], das zu allen anderen Dingen eine neue, nie dagewesene Stellung einnimmt." (KSA, MA I, 2, 233) Nietzsche faßt den Mangel an Identität in einem verständigungslosen „Anderssein" (KSA, NF, 13, 498): „Zwischen wirklichen ,Individuen' giebt es keine gleiche Handlung" (KSA, NF, 13, 584). Dabei unterbricht die „Unmittheilbarkeit" (KSA, NF, 13, 498) des Individuellen nicht nur die Verständigung mit dem anderen Individuum, sondern auch die Kontinuität des subjektiven Lebenszusammenhangs: „Ich und Mich sind immer zwei verschiedene Personen." (KSA, NF, 10, 96) Vom Individuum, „unerkennbar und taeffabile" (KSA, NF, 9, 328), gilt, „daß im kleinsten Augenblick es etwas Anderes ist als im nächsten und daß seine Existenzbedingungen die einer Unzahl Individuen sind: der unendlich kleine Augenblick ist die höhere Realität und Wahrheit, ein Blitzbild aus dem ewigen Flusse." (KSA, NF, 9, 502) Nun hätte Nietzsche das Individuelle sehr leicht als die Zeitlichkeit von sprachlicher Bedeutung interpretieren können. Auf diese Weise wäre rasch einsichtig zu machen, warum die Geschichte eines Dings „eine fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen" (KSA, GM, 5, 314) ist. „Alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Definition; definirbar ist nur Das, was -
2 Zum Begriff des Individuellen vgl. die „dekonstruktive" Nietzsche-Lektüre von Werner Hamacher, „.Disgregation des Willens'. Nietzsche über Individuum und Individualität", in: Nietzsche-Studien 15 (1986), 306-336, sowie Rudolf Fietz, Medienphilosophie. Musik, Sprache und Schrift bei Friedrich Nietzsche, Würzburg 1992, 144-164.
Das Individuelle
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(KSA, GM, 5, 317). Es ist kein Zweifel: Schon die sprachhistorische Betrachtung spricht dafür, „alle Begriffe als geworden, viele als noch werdend" (KSA, NF, 11, 613) zu verstehen. Daß die sprachlichen Zeichen ihre Bedeutung nicht identisch durch die Zeit retten können, ist ja unmittelbar einsichtig warum das so ist, hätte sich Nietzsche klar machen können, wenn er das Individuelle nicht vor der Sprache, sondern als ein bedeutungskonstitutives Element in der Sprache in Rechnung gestellt hätte. Überzeugende Argumente für eine Konzeption der Sprache als individuelles Allgemeines
keine Geschichte hat"
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hätte Nietzsche bei Humboldt finden können.3 In der Tat nimmt Humboldt zwei dialektisch aufeinander bezogene Elemente als konstitutiv für Sprache an. „Zwei Principe treten bei dem Nachdenken über die Sprache im Allgemeinen und der Zergliedrung der einzelnen, sich deutlich von einander absondernd, an das Licht: die Lautform und der von ihr zur Bezeichnung der Gegenstände und Verknüpfung der Gedanken gemachte Gebrauch."4 Der Laut, insofern
Die Forschung streitet sich über die Frage, wie der Einfluß von Humboldt und Gerber aufNietzsche zu bewerten ist. Klar ist zunächst, daß Nietzsche Gustav Gerbers Werk Die Sprache als Kunst, Bd. 1, Bromberg 1871, gelesen und ausführlich aus ihm exzerpiert hat. Vgl. dazu Anthonie Meijers u. Martin Stingelin, „Konkordanz zu den wörtlichen Abschriften und Übernahmen von Beispielen und Zitaten aus Gustav Gerber: Die Sprache als Kunst (Bromberg 1871) in Nietzsches Rhetorik-Vorlesung und in ,Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne'", in: Nietzsche-Studien 17 (1986), 350-368. Borsche stellt fest, daß sich von einer direkten HumboldtLektüre in Nietzsches Werk nur sehr schwache Spuren finden lassen (vgl. Tilman Borsche, „Natur-Sprache. Herder Humboldt-Nietzsche", in: Tilman Borsche, Federico Gerratana und Aldo Venturelli (Hg.), .CentaurenGeburten '. Wissenschaft, Kunst und Philosophie beim jungen Nietzsche, Berlin/New York 1994, 112-130). Um einen Einfluß Humboldts aufNietzsche zu behaupten, müßte man also von einer über Gerber vermittelten Wirkung ausgehen. In diesem Sinne hält Meijers Humboldt für den entscheidenden Gewährsmann Gerbers (vgl. Anthonie Meijers, „Gustav Gerber und Friedrich Nietzsche. Zum historischen Hintergrund der sprachphilosophischen Auffassungen des frühen Nietzsche", in: Nietzsche-Studien 17 (1988), 369-390). Fietz betrachtet Gerber als „missing link", über welches Nietzsche mit der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts in Zusammenhang gebracht werden kann (vgl. Rudolf Fietz, Medienphilosophie, 136). Ebenso wie Borsche hat sich Crawford kritisch gegen die These eines prägenden Einflusses von Humboldt und Gerber auf Nietzsche gewandt (vgl. Claudia Crawford, The Beginnings of Nietzsche 's Theory ofLanguage, Berlin/New York 1988, 199 ff). Ganz unabhängig von der Frage nach einem möglichen Einfluß sollen die folgenden Überlegungen Nietzsches Sprachphilosophie systematisch gegen Humboldt profilieren. Zu den sprachphilosophischen Überlegungen Humboldts und Nietzsches vgl. Josef Simon, „Grammatik und Wahrheit. Über das Verhältnis Nietzsches zur spekulativen Satzgrammatik", in: Nietzsche-Studien 1 (1972), 1 -26; Jochen Hennigfeld, „Sprache als Weltansicht. Humboldt-Nietzsche- Whorf', in: Zeilschriftfür philosophische Forschung 30 (1976), 435-452; Jörn Albrecht, „Friedrich Nietzsche und das Sprachliche Relativitätsprinzip'", in: Nietzsche-Studien 8 (1979), 225-244; Rainer Thurnher, „Sprache und Welt bei Friedrich Nietzsche", in: Nietzsche-Studien 9 (1980), 38-60. Zu Gerber vgl. Jörg Villwock, „Gustav Gerbers Beitrag zur Sprachästhetik", in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 31 (1981), 52-73. Zu Nietzsches Rezeption von Gerber vgl. auch Friedrich Nietzsche, Rhétorique et langage, textes traduits, présentés et annotés par Philippe Lacoue-Labarthe et Jean-Luc Nancy, in: Poétique 2/5 (1971), 99-142; Martin Stingelin, „Nietzsches Wortspiel als Reflexion auf poet(olog)ische Verfahren", in: Nietzsche-Studien 17 (1988), 336-349; Glenn Most und Thomas Fries, ,„